Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Rechtsverordnungen der Bundesregierung auf den Drucksachen
17/13308 und 17/13309 federführend an den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie mit der Bitte, den Bericht dem Plenum bis spätestens 12. Juni 2013 vorzulegen, sowie zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innenausschuss, den Rechtsausschuss und
den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierzehnter Bericht zur Entwicklungspolitik
der Bundesregierung- Weißbuch - Drucksache 17/13100 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesminister Dirk Niebel.
({1})
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich konnte Ihnen vergangene Woche das Weißbuch, den
Vierzehnten Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung, für dieses Politikfeld vorlegen. Ich kann
heute feststellen, wie schon vor einer Woche in der Regierungsbefragung: Auch in der Entwicklungspolitik
waren das vier gute Jahre für Deutschland und für unsere
Partner in der Welt.
({0})
Wir hatten in diesem Politikfeld einen enormen Reformstau aufzuarbeiten. Trotzdem ist es in dieser Legislaturperiode gelungen, nicht nur institutionelle, sondern
vor allem auch wichtige politische Reformen umzusetzen: nicht nur die mittlerweile zumindest im Haus allseits bekannte größte Strukturreform in der Geschichte
von 51 Jahren Entwicklungspolitik, an der drei Vorgängerregierungen gescheitert sind, nämlich die Zusammenlegung der staatlichen technischen Durchführungsorganisationen GTZ, DED und InWEnt zur Deutschen
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, sondern auch kleinere institutionelle Reformen, die dem
Blick der Öffentlichkeit vielleicht entgangen sind, aber
von zentraler Bedeutung sind, zum Beispiel die Zusammenlegung von vier Organisationen mit ihren Instrumenten für die Stärkung des zivilgesellschaftlichen und
kommunalpolitischen Engagements in der Entwicklungszusammenarbeit in die Engagement Global gGmbH. Damit wurde eine einheitliche Anlaufstelle für Bürgerinnen
und Bürger geschaffen, wo ihr Engagement zielgerichtet
gebündelt werden kann und die Ergebnisse herbeiführen
kann, die sich die Bürgerinnen und Bürger wünschen.
Darüber hinaus gibt es eine Neuerung, die nicht nur in
der Bundesrepublik, sondern auch international von Bedeutung ist: Ein unabhängiges Evaluierungsinstitut der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit gibt uns die
Möglichkeit, Legitimität gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in diesem Land zu gewinnen, die
völlig berechtigt fragen, warum der Staat, wenn hier kaputte Straßen oder marode Schulen zu beklagen sind,
6,3 Milliarden Euro im Ausland investiert. Wir müssen
immer wieder belegen, dass das, was wir in der Welt tun,
nicht nur für unsere Partner gut und sinnvoll ist, sondern
auch für Deutschland. Es ist von zentraler Bedeutung,
dass möglichst viele Menschen auf der Welt in Wohlstand leben können, dass möglichst viele Menschen auf
der Welt gesicherte Rahmenbedingungen und gute Umweltbedingungen haben und dass möglichst viele Regionen der Welt friedlich miteinander leben und interagieren können. Dazu leisten wir als große, international
vernetzte Wirtschaftsnation einen großen Beitrag. Um
das nachweisen zu können, müssen wir uns unabhängig
evaluieren lassen. Das ist eine Herausforderung, gerade
in einem Wahljahr. Diese Herausforderung nehmen wir
gerne an. Wir haben als Bundesregierung den Mut, uns
selbst in unserem Handeln überprüfen zu lassen, um insgesamt besser zu werden.
({1})
Darüber hinaus ist es möglich gewesen, die Koordinierung der ODA-Leistungen auf das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu konzentrieren, damit wir insgesamt einen
einheitlicheren Außenauftritt als Republik haben. Wir
haben die Steuerungsfähigkeit für die Politik zurückgewonnen. Es nutzt nicht nur dieser Bundesregierung, sondern auch allen nachfolgenden Bundesregierungen, dass
wir jetzt endlich die Gelegenheit haben, in jedem unserer
Partnerländer mindestens einen Referenten für Entwicklungszusammenarbeit an den Botschaften zu haben
- meistens sind es sogar zwei Referenten -, um auf diese
Art und Weise die Durchführungsorganisationen an den
politischen Willen der jeweils im Amt befindlichen Bundesregierung zu binden und so zu verhindern, dass
Durchführer Politik betreiben und Politik möglicherweise in Mikromanagement abgleitet, wie das früher oft
der Fall gewesen ist.
Wir haben unsere Politik wertebasiert aufgestellt. Das
zeigt sich unter anderem durch den von mir eingeführten
Menschenrechts-TÜV, der jede neue Maßnahme auf
menschenrechtliche Auswirkungen überprüft. Es ist von
zentraler Bedeutung, diese Werteorientierung auch öffentlich darzustellen, weil wir im Gegensatz zu früher
mutig genug sind, zu sagen, dass wir auch Interessen in
der Entwicklungszusammenarbeit haben. Früher durfte
man das nicht sagen; denn das wurde nicht gerne gehört.
Alles musste altruistisch sein. Da wir aber im Rahmen
der staatlichen Entwicklungskooperation mit anderen
Staaten zusammenarbeiten, die selbstverständlich Interessen haben, glaubt uns kein Mensch, dass wir völlig interessenlos wären. Das Interessante ist, Werte und Interessen zu kombinieren und unsere Interessen mit denen
unserer Partner in Ausgleich zu bringen.
({2})
Wir konzentrieren uns auf mehr Wirksamkeit. Wir gehen weg von der reinen Input-Orientierung. Viel Geld
ausgeben hilft viel, so hat man früher oft gedacht. Wir
wollen dagegen mit dem vorhandenen Geld möglichst
viele Ergebnisse erzielen. Trotz der schwierigen Haushaltssituation ist es uns möglich gewesen, die Mittel für
die wesentlichen politischen Kooperationspartner aufzustocken. So sind zwischen 2009 und 2013 für die zivilgesellschaftlich Engagierten in Deutschland die Mittel
von 557 Millionen Euro auf 662 Millionen Euro erhöht
worden. Auch die Mittel für die direkte Zusammenarbeit
mit der Wirtschaft wurden erhöht. Vor allem ist die Zusammenarbeit entkrampft worden. Nachhaltige Bekämpfung der Ursachen von Armut ohne nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ist in den Entwicklungsländern
nicht möglich. Wer sollte ein besserer Partner sein als
die deutsche und insbesondere die mittelständische Wirtschaft, um in unseren Partnerländern Strukturen zu
schaffen, die es ermöglichen, aus der Armut herauszukommen und sich selbst nachhaltig für die Geschicke
des eigenen Landes zu engagieren.
({3})
Wir haben es geschafft, wichtige Zukunftsaufgaben
neu zu organisieren, auch innerhalb der Bundesregierung. Wegweisend ist hier das Konzept für den Umgang
mit fragilen Staaten. Gerade in Staaten, die fragil, Konfliktstaaten oder Postkonfliktstaaten sind, ist es wichtig,
dass nicht nur die Instrumentarien eines Ressorts eingesetzt werden, um gewaltsame Konflikte zu verhindern
oder zu beenden. Vielmehr ist hier die gesamte Kompetenz einer Bundesregierung nötig. Gerade weil wir wissen, dass die Hälfte unserer Partnerländer fragil, Postkonflikt- oder Konfliktstaaten sind, ist es von zentraler
Bedeutung - auch für gute Entwicklungszusammenarbeit -, hier im Rahmen eines vernetzten Ansatzes vorzugehen.
({4})
Darüber hinaus haben wir die Kooperation mit globalen Entwicklungspartnern, den sogenannten Schwellenländern, auf neue Füße gestellt. Wir wissen, dass bei
Ländern, die weiter entwickelt sind als die ärmsten der
Welt, noch immer Unterstützung beim Kapazitätsaufbau
oder Know-how-Transfer notwendig ist, aber mit anderen Instrumentarien, die weit marktorientierter sind als
das Zuschussgeben, wie das früher oft der Fall gewesen
ist. Auch hier achten wir mehr auf Wirkung und gute Ergebnisse.
Gute Ergebnisse haben wir auch im internationalen
Kontext erzielen können, zum Beispiel mit dem sogenannten Grünbuch Budgethilfe der Europäischen Union.
Hier ist es uns gelungen, darauf hinzuwirken, dass erstmals in der Geschichte der Europäischen Union die sogenannte allgemeine Budgethilfe, also Zuschüsse für
den Haushalt eines anderen Landes, mit menschenrechtlichen Kriterien und Kriterien der guten Regierungsführung versehen wird. Es wird nicht mehr nach dem Motto
„Fire and forget“ das Geld der Steuerzahler überwiesen,
ohne dass man sich darum kümmert, was damit passiert.
({5})
Weil ich weiß, dass im Laufe der Debatte im Wettstreit der parteipolitischen Interessen natürlich wieder
auf die Frage des ausgegebenen Geldes rekurriert werden wird, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Die
Haushaltsmittel in dieser Legislaturperiode sind um
5,5 Prozent gesunken, die für die offizielle Entwicklungszusammenarbeit verfügbaren Mittel aber um
17 Prozent gestiegen. Die sogenannte ODA-Quote, also
die Relation zwischen den Ausgaben für die Entwicklungspolitik und dem Bruttonationaleinkommen, ist von
0,35 Prozent im Jahre 2009 auf 0,38 Prozent im Jahre
2012 angestiegen. Nachdem wir 2009 bundesweit
8,7 Milliarden Euro in die Entwicklungszusammenarbeit
investiert haben, sind wir im Jahre 2012 mit 10,2 Milliarden Euro drittgrößter internationaler bilateraler Geber geworden.
Diese Regierung braucht sich nicht zu verstecken.
({6})
Die Erfolgsbilanz ist eindeutig. Der Blick auf die Zukunft ist auch ganz klar. Uns interessiert, wie der Prozess
nach der Erreichung der Millenniumsziele weitergeht,
damit wir die wichtigen Aufgaben der Welt besser organisieren können: eine Verbesserung der Umweltsituation
in vielen Teilen der Welt, die nachhaltige Bekämpfung
der Ursachen von Armut - nicht nur der Armut selbst und die Stabilität und Sicherung des Friedens in der
Welt. Deswegen braucht diese Bundesregierung ein weiteres Mandat von vier Jahren. Die Bürgerinnen und Bürger haben in 150 Tagen die Möglichkeit, gute Politik zu
bestätigen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Sascha
Raabe das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Minister Niebel, Ihre Bilanz ist beschämend.
({0})
Sie haben die Mittel für die ärmsten Menschen dieser
Welt gekürzt. Sie haben die Hoffnungen der ärmsten
Menschen dieser Welt enttäuscht. Wer das tut, der spart
zulasten derjenigen, die sich nicht wehren können. Sie
haben durch das Brechen der internationalen Zusagen
Deutschlands Ansehen beschädigt. Sie sind der mit Abstand schlechteste Entwicklungsminister, den dieses
Land jemals hatte.
({1})
Wir als Bundesrepublik Deutschland haben uns im
Jahr 2005 - vorher waren das nur Absichtserklärungen international verpflichtet, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2010 auf 0,51 Prozent und bis 2015 auf 0,7 Prozent zu steigern. Da steht
auch die Kanzlerin im Wort. Herr Minister, wir haben in
Ihrer Amtszeit in den letzten vier Jahren einen Aufwuchs
von insgesamt nur 337 Millionen Euro gehabt, 2013 sogar Kürzungen. Es gab allein im Jahr 2009, dem letzten
Jahr Ihrer Vorgängerin, einen Aufwuchs von 680 Millionen Euro. Das heißt, Sie haben in vier Jahren weniger als
die Hälfte geschafft als Heidemarie Wieczorek-Zeul in
einem Jahr.
In Ihrem Weißbuch wenden Sie einen Taschenspielertrick an. Sie haben nämlich am Ende des Jahres 2009
Hunderte Millionen Euro, die im Haushalt zur Verfügung standen, nicht mehr ausgegeben, um die ODAQuote künstlich herunterzurechnen. Sie haben das Geld
erst 2010 ausgegeben. Jetzt tun Sie so, als wäre die
ODA-Quote um 17 Prozent gestiegen. Das ist lächerlich.
Das kann man Ihnen nicht durchgehen lassen. Fakt ist:
2012 lag die ODA-Quote nur bei 0,38 Prozent. Wenn
man Ihre Aussage, die Sie in einem offiziellen Papier,
dem Weißbuch, vorlegen, nämlich dass die Bundesregierung daran festhält, bis 2015 auf eine ODA-Quote von
0,7 Prozent zu kommen, ernst nimmt, dann bedeutet das
- das weiß jeder hier im Raum - 10 Milliarden Euro
Aufwuchs in zwei Jahren. Gleichzeitig legen Sie, Herr
Minister, diesem Parlament einen Haushaltsplan der
Bundesregierung vor, in dem Sie bis 2015 noch Kürzungen von 172 Millionen Euro vorsehen. Das ist Tarnen,
Tricksen, Täuschen, Verniebeln, Herr Minister. Das ist
unanständig. Sie haben Ihr Wort gebrochen. Stehen Sie
auch dazu!
({2})
Auch die Kanzlerin steht hier im Wort. Sie hat auf
vielen internationalen Veranstaltungen, auf Kirchentagen immer wieder gesagt: Ich persönlich als Kanzlerin
stehe dazu, dass wir nicht bei der Milliarde Menschen,
die in Hunger und extremer Armut lebt, sparen. Ich stehe
dazu, dass wir die Mittel, wie international versprochen,
steigern. - Da bin ich wirklich sehr enttäuscht. Sie hat es
uns im Ausschuss noch einmal versichert. Sie hat ihr
Wort gebrochen.
Sie hatten neben der Steigerung der Mittel noch ein
zweites Ziel, das Sie klar verfehlt haben: mehr Effizienz,
Wirksamkeit und Qualität. Sie versuchen jetzt immer,
Ihre magere finanzielle Bilanz zu beschönigen. Da muss
man dann auch einmal schauen, wie Sie dieses Ziel umgesetzt haben. Anstatt eine moderne, mit anderen Gebern koordinierte internationale Entwicklungszusammenarbeit zu betreiben, machen Sie in erster Linie
deutsche Projektitis. Sie sagten ja auch gerade, dass
deutsche Interessen wichtig sind, also reine deutsche
Außenwirtschaftsförderung als Mittel der Armutsbekämpfung. Sie wollen überall deutsche Fähnchen sehen.
Da sage ich Ihnen, Herr Minister: Natürlich haben auch
wir Interessen. Aber unser Interesse ist es, den ärmsten
Menschen dieser Welt zu helfen, und nicht, dass die
deutsche Wirtschaft möglichst viele Projekte bekommt.
Deswegen sagen wir an dieser Stelle: Werte- und interessengeleitete Politik in der Entwicklungszusammenarbeit
muss sich immer an den Ärmsten der Armen orientieren.
({3})
Es gab aber, Herr Minister, noch ein drittes Ziel, das
nicht im Koalitionsvertrag steht, den Sie immer zitieren,
das Sie als FDP aber in den Koalitionsverhandlungen beschließen wollten. Das geht aus einem FDP-Papier zu
den Koalitionsverhandlungen hervor. Darin hat Ihre Partei geschrieben: Die FDP muss Schlüsselpositionen im
BMZ besetzen; denn im Gegensatz zu anderen Politikbereichen kann die FDP in der Entwicklungszusammenarbeit verschiedene Themen, ohne ideologische Kämpfe
führen zu müssen, liberal besetzen. Es gibt kaum ein
Ministerium, welches derart viele personelle Besetzungen zu bestimmen hat. - Dann wird genau aufgelistet,
wie dieser Plan in der Regierung umzusetzen ist, damit
gewährleistet wird, dass die freien Stellen durch das
BMZ künftig mit Liberalen besetzt werden. In Punkt 6
geht das sogar so weit - damit kommen wir zu dem wahren Hintergrund Ihrer viel gelobten Strukturreform -:
Die Durchführung der kleinen Reformlösung zur
Zusammenlegung der deutschen Technischen Zusammenarbeit muss auf ranghöchster Ebene mit Liberalen
besetzt werden. - Dabei handelt es sich um die Zusammenlegung von GTZ, DED und InWEnt mit 14 882 Mitarbeitern.
Herr Minister, während Sie die ersten beiden Ziele
klar verfehlt haben - Schulnote 6! -, haben Sie Ihr drittes Ziel leider voll erreicht. Sie sind hier rigoros vorgegangen, indem Sie gleich als Erstes Ihr Bundesministerium von drei auf fünf Abteilungen aufgebläht haben,
und während es unter Ihrer Vorgängerin von den drei
Abteilungsleitern zwei gab, die parteilos waren, und nur
einen mit SPD-Parteibuch, haben Sie von diesen fünf
aufgeblähten Abteilungen vier mit FDP-Leuten und einen mit einem CDU-Parteibuch besetzt, darunter auch
die Abteilung „Planung und Kommunikation“, die Sie
neu geschaffen haben und die eine mit Steuergeldern finanzierte Wahlkampfzentrale der FDP ist.
({4})
Diese beispiellose Vetternwirtschaft brachte selbst die
CDU-Kollegin Sibylle Pfeiffer und ihre Arbeitsgruppe
auf die Palme. Sie schrieb einen Brief an die Kanzlerin,
in dem sie beklagt, dass es „eine Förderung von FDP-nahen Personen - und dies nur bei untergeordneter Beachtung ihrer fachlichen Eignung“ gebe, dass dies weit über
das übliche und vertretbare Maß hinausgehe und der
Boulevard diese Personalpolitik wahrscheinlich als gut
dotierte Versorgungsposten für Parteimitglieder bezeichnen werde. Nachdem der Brief öffentlich geworden ist,
war das Frau Pfeiffer peinlich; sie hat Ihnen in Nibelungentreue wieder zur Seite gestanden. Fakt ist aber nun
einmal, dass leider stimmt, was Sie geschrieben haben.
({5})
Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen
lassen: Der Personalrat hat das jedes Jahr in seinen Tätigkeitsberichten angeprangert. Nun wird der Minister
aber sogar an die Verfassung erinnert. In der letzten
Rede im Jahr 2012 hat der Personalrat, an Sie gewandt,
gesagt: Es gilt nicht mehr der alte Grundsatz „Leistung
lohnt sich“. Ich fordere die politische Leitung und die
Verwaltung dringend auf, bei der Personalrekrutierung
und -entwicklung wieder zu den Verfassungsgrundsätzen
der Chancengleichheit beim Zugang zum öffentlichen
Amt, der Bestenauslese und der Förderung nach eigenen
Leistungen und Fähigkeiten, zurückzukehren. - Wir fordern Sie ebenfalls auf, Herr Minister, dazu zurückzukehren, die Stellen nach Leistung und nicht nach Parteibuch
zu besetzen.
({6})
Ihren guten Parteifreund und Buddy Tom Pätz haben
Sie ganz nach oben gezogen. Erst hat er im Range eines
Abteilungsleiters die Fusion moderieren dürfen. Dann
haben Sie ihm einen entfristeten Arbeitsvertrag gegeben,
damit er für immer einen Rentenposten im BMZ hat, und
ihn auch noch in den GIZ-Vorstand berufen. Ich bin ja
froh, dass in Ihrer eigenen Partei noch jemand den Mut
hat, sich dagegen zu wehren, und Ihr Haushälter Herr
Koppelin im Aufsichtsrat verhindert hat, dass er noch
eine Gehaltserhöhung bekommt. Herr Koppelin hat gesagt, Tom Pätz sei eine Pfeife. Ich denke, an dieser Stelle
hat er leider recht; denn wenn jemand nur aufgrund seines Parteibuches an eine so hochbezahlte Stelle kommt,
dann ist es gut, dass Ihre eigene Partei die rote Karte
zeigt.
Ich finde Ihr Verhalten empörend, weil Sie damit die
Leistungen der vielen guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium und in den Durchführungsorganisationen schlechtmachen. So demotivieren Sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie reisen durch die ganze
Welt und erzählen anderen etwas von guter Regierungsführung; gleichzeitig benehmen Sie sich hier wie ein Autokrat, der - schlimmer noch als die CSU in Bayern seine Parteifamilie im Ministerium unterbringt.
({7})
Da Sie immer von Werten und Werteorientierung
sprechen, Herr Minister: Ich würde Sie bitten, diese
Werte bei sich anzulegen, aber auch bei den Partnerländern. Da, wo Großgrundbesitzer geputscht haben, ob das
in Honduras oder in Paraguay gewesen ist, haben Sie
nichts gesagt und haben sich zurückgehalten. Aber bei
anderen Partnerländern verfahren Sie ganz anders; da
machen Sie große Unterschiede.
Ich sage, Herr Minister: Wenn man sich zurückerinnern wird, dann werden aus Ihrer Amtszeit anstatt Spuren im Sand nur zwei Dinge bleiben: eine alberne Militärmütze und ein fliegender Teppich. Das werden wir
nicht vermissen.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer für die
CDU/CSU.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe nur sieben Minuten Zeit, Sascha. Diese Ausgeburt
an entwicklungspolitischer Rede
({0})
zu kommentieren, würde allein sieben Minuten dauern;
ich habe aber auch noch Wichtigeres zu erzählen.
({1})
Wir diskutieren den 14. Entwicklungspolitischen Bericht, das sogenannte entwicklungspolitische Weißbuch.
Von der SPD kommt aber nichts anderes als Personalfragen, Polemik, teilweise Unwahrheiten; mich beim Vorlesen falsch zu zitieren, das ist, finde ich, das Allerletzte.
({2})
Wenn das die Idee der SPD zur Entwicklungspolitik ist,
dann bin ich herzlich froh, dass das Ministerium nicht in
SPD-Hand ist.
({3})
Der Wähler möge verhindern, dass es jemals wieder
dazu kommt, und der Wähler wird das tun - da bin ich
ganz sicher -, weil das gerade ein Armutszeugnis sondergleichen war.
({4})
Was dieser entwicklungspolitische Bericht zeigt, ist
unter anderem, dass wir im Laufe der Zeit einen richtig
guten Weg gegangen sind. Wir sind von einer Entwicklungshilfe - ursprünglich haben wir unkonditioniert,
unkoordiniert, willkürlich Gelder verteilt - über die Entwicklungszusammenarbeit mit mehr Absprachen, mit
mehr Kooperation - wir haben mehr Menschen einbezogen - mittlerweile auf einem guten Weg, zu einer Entwicklungspolitik zu kommen. Wenn ich „Politik“ sage,
meine ich die Politik der Entwicklungsländer vor Ort.
Wenn sie ihre politischen Ideen umsetzen wollen, bekommen sie unsere Unterstützung, bekommen sie Gelder und Beratung von uns. Es ist, glaube ich, der richtige
Weg, dass man mit Mitteln Politik macht, und zwar für
die Menschen vor Ort.
Entwicklungspolitik, liebe Freunde, ist keine Spielwiese für Weltverbesserung, sondern sie leistet effektive
Hilfe zur Selbsthilfe. Das merken wir permanent, wenn
wir unsere Partner bei dem unterstützen, was sie selber
leisten können.
Entwicklungspolitik ist auch kein Instrument zur Beschäftigung der NGOs, sondern sie leistet einen fundamentalen Beitrag zur Bewältigung globaler Aufgaben.
Die globalen Aufgaben, so vielfältig sie sind, können wir
nur gemeinsam lösen. Nicht zuletzt ist es auch so, dass
wir mit der Entwicklungspolitik vorbeugen können, präventiv arbeiten können, wenn es darum geht, die Armut
zu bekämpfen, in Einzelfällen aber auch Terrorismus
und Extremismus zu bekämpfen. Das ist eine gute Arbeit.
Wir verbessern die Lebensverhältnisse der Menschen
vor Ort mit unseren Partnern, mit NGOs, mit Regierungen. Wir sorgen für Frieden, Stabilität und Sicherheit.
Das ist gut für die Menschen vor Ort, und das, liebe
Freunde, ist auch gut für Deutschland - das, denke ich,
dürfen wir zur Kenntnis nehmen -, und deshalb ist unsere Arbeit wichtig und gut.
({5})
Nachdem ich dies alles gesagt habe, sind wir uns sicher alle in diesem Haus einig, glaube ich, dass es richtig
ist und richtig bleibt, dass wir dafür ein eigenständiges
Ministerium haben. Die Aufgabenvielfalt nimmt zu und
nicht ab, und die Ansprüche werden größer und nicht
kleiner. Ich gehe davon aus, dass niemand mehr in diesem Plenarsaal sitzt, der das nicht unterschreiben kann.
Ich glaube, wir haben in den letzten vier Jahren eine
gute Arbeit geleistet. Deshalb sind wir stolz und zufrieden. Die Bilanz ist gut. Die Koalitionsfraktionen haben
gute Arbeit geleistet. Das Ministerium hat gute Arbeit
geleistet. Insofern können wir der Öffentlichkeit und
auch dem Steuerzahler sicher gegenübertreten. Wir können ihm sagen: Dein Geld ist gut angelegt; es ist zukunftsorientiert und nachhaltig angelegt. Das ist das, was
uns gemeinsam weiterbringt.
({6})
Jetzt muss ich leider noch etwas zur Erreichung der
ODA-Quote von 0,7 Prozent sagen.
({7})
Ohne die Historie bemühen zu wollen: Seit 40 Jahren bemühen sich deutsche Entwicklungspolitiker, 0,7 Prozent
zu erreichen. Dies heißt, dass die bisherigen Minister bei
der Vorarbeit zur Erreichung der ODA-Quote nicht besonders erfolgreich waren. Ich brauche nicht zu sagen,
dass ehemalige Bundeskanzler wie Herr Schröder auf
das Erreichen dieses Ziels definitiv keinen Wert gelegt
haben. Wir können feststellen, dass wir unsere Quote
zwar kaum verbessert haben, dass wir aber seit dem
Amtsantritt von Angela Merkel mehr als 2,5 Milliarden
Euro mehr in die Entwicklungszusammenarbeit gegeben
haben. Das kann man objektiv feststellen.
({8})
Natürlich brauchen wir hier mehr Geld. Es ist auch
richtig, dass wir daran arbeiten und an unserem Ziel betreffend die ODA-Quote festhalten. Wir sollten aber
nicht sagen, Sascha - und das macht ihr permanent -,
dass in dem Moment, wenn wir das 0,7-Prozent-Ziel erreicht haben, alles gut ist.
({9})
- Aber genau so kommt es rüber, liebe Freunde. - Ihr
sagt: Gebt uns mehr Geld, und schon wird alles gut. Nein, so geht es eben nicht. Wenn wir Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungspolitik weiter konsequent betreiben wollen, dann reicht die Erfüllung des
0,7-Prozent-Ziels nicht aus. Es ist völlig verkehrt, dann
zu sagen: Wir haben 0,7 Prozent erreicht; jetzt ist alles
gut auf der großen weiten Welt.
({10})
Das ist es, was hier suggeriert wird und was auch du gerade wieder in deiner Rede gesagt hast, Sascha. Das ist
doch die Wahrheit; die kann man ruhig einmal sagen.
({11})
Eigentlich wollte ich etwas ausführlicher auf ein anderes Thema zu sprechen kommen; aber die Zeit ist mir
weggelaufen. Lieber Sascha, du hast mir diese Zeit gestohlen. - Mein Hobbythema ist das Thema Weltbevölkerung, ein Querschnittsthema, wie es kein besseres
gibt. Hier geht es um Bildung, Ausbildung, Gesundheitsversorgung, ländliche Entwicklung, wirtschaftliche Entwicklung, Ernährung, Wasserversorgung, Abwasserversorgung, Umwelt, Klima, Energie. Das alles sind
Themen, die auch uns beschäftigen. Wir müssen hier
sehr eng mit anderen Ressorts zusammenarbeiten, um
erfolgreich zu sein.
Ich hoffe - davon gehe ich aus -, dass wir mit unserer
erfolgreichen Entwicklungspolitik ganz entspannt in den
Wahlkampf gehen können. Wir können vor den Steuerzahler treten und sagen: Wir haben die Gelder zielgerichtet, nachhaltig und sorgfältig eingesetzt.
Vielen Dank.
({12})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Niebel, Sie stehen für schrumpfende Entwicklungsausgaben, für die Instrumentalisierung staatlicher
Entwicklungshilfe, für deutsche Wirtschaftsinteressen
und die Unterstützung von Freihandelsabkommen, die
die Existenzgrundlagen vieler Menschen in den Ländern
des Südens zerstören, und die Militarisierung von Entwicklungszusammenarbeit. Sie stehen damit für eine
Politik, die Entwicklung verhindert, teilweise sogar gefährdet, und nicht fördert.
({0})
Wenn man sich die Kurzfassung Ihres Weißbuchs zur
Entwicklungspolitik anschaut, stößt man schon auf der
zweiten Seite auf Afghanistan und die Bundeswehr. Genau dort haben wir die Tragweite der Politik, die Sie vorantreiben, der zivil-militärischen Zusammenarbeit mit
einer enormen Gefährdung der lokalen Hilfskräfte vor
Ort und der Bevölkerung, erlebt. Afghanistan ist aus den
Medien verschwunden; aber die Situation ist dort nicht
besser geworden. In Afghanistan wird weiterhin gekämpft und gestorben. Die Entwicklung ist katastrophal,
auch die Sicherheitssituation. Wir haben jetzt das Problem, Herr Niebel, dass viele lokale Kräfte, die mit der
Bundeswehr zusammengearbeitet haben, gefährdet sind
und sogar in den Mitgliedstaaten der NATO Asylanträge
stellen, weil ihre Sicherheit nicht garantiert werden
kann. Das zeigt doch, dass Sie hier völlig auf dem Holzweg sind und dass Sie eine entwicklungsgefährdende
Politik in Afghanistan betreiben.
({1})
Genau diese vernetzte Sicherheit soll weiter vorangetrieben werden. Sie haben eine Kooperationsvereinbarung
zwischen der GIZ und dem Verteidigungsministerium
abgeschlossen.
Sie setzen sich auch für eine enge Kooperation der
Bundeswehr mit den Entwicklungsorganisationen in fragilen Staaten ein, das heißt, Sie wollen weiter die Militarisierung vorantreiben, anstatt zu entmilitarisieren. Wenn
eines gilt, dann doch das: Fragile Staaten brauchen nicht
noch weitere militärische Konzepte. Wir brauchen Entmilitarisierung, sodass wir die Ursachen für Destabilisierung bekämpfen können. Aber in dieser Hinsicht kommt
von Ihnen gar nichts. Sie destabilisieren die Regionen,
anstatt die Entwicklung in diesen Regionen zu fördern.
({2})
Zur Finanzierung. Ich möchte in Erinnerung rufen
- das wurde hier schon breit debattiert -, dass Sie ganz
exklusiv der Minister waren, der sich bis zum Schluss
gegen jegliche neue Ansätze im Bereich Entwicklungsfinanzierung gewehrt hat. An erster Stelle ist die Finanztransaktionsteuer zu nennen. Sie waren der erbittertste
Gegner, eine Finanzierung für die weltweite Bekämpfung der Armut zu ermöglichen. Deshalb sind Sie auch
kein Entwicklungsminister, sondern ein Verhinderungsminister.
({3})
In Ihrem Weißbuch ist sehr viel von ländlicher Entwicklung die Rede. Wir haben in den letzten Wochen
eine Diskussion über den Abschluss von Freihandelsabkommen mit Lateinamerika geführt. Sie und Ihr Ministerium haben den Freihandelsabkommen massiv das Wort
geredet. Ich frage mich, wie Sie der Öffentlichkeit erklären wollen, dass Sie solche Abkommen vorantreiben, die
die Existenzgrundlagen gerade von Kleinbauern und
Kleinbäuerinnen in ländlichen Regionen - die Sie ja eigentlich fördern wollen - massiv gefährden, weil sie
nicht mit den billigen Produkten aus der Europäischen
Union konkurrieren können. Damit zerstören Sie bisher
funktionierende Strukturen, für deren Reparatur Sie
Steuergelder ausgeben müssen, dabei könnten die Mittel
für Entwicklungshilfe anders eingesetzt werden. Das ist
ein völlig verquerer Ansatz. Wir müssen verhindern,
dass vorhandene Entwicklungsfortschritte zerstört werden. Deshalb brauchen wir keine Freihandelsabkommen,
sondern solidarische Wirtschaftspartnerschaftsabkommen.
({4})
Das hat der ecuadorianische Präsident Correa bei seinem Besuch in Deutschland übrigens sehr eindrücklich
vermittelt. Er setzt sich dafür ein, dass wir gerechte Handelsbeziehungen aufbauen, damit die Länder des Südens
Wertschöpfungsketten aufbauen und sich unabhängig
machen können. Unser Ziel muss es sein, dass Entwicklungszusammenarbeit überflüssig wird, aber Sie verstärken die Abhängigkeiten.
Herr Niebel, Sie stehen ganz klar für den verlängerten
Arm des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Sie
haben sich die Rohstoffpolitik auf die Fahnen geschrieben. Sie wollen die Entwicklungszusammenarbeit und
den Zugang zu Rohstoffen verstärkt verzahnen. Dafür
haben Sie die entsprechende Infrastruktur geschaffen. Es
gibt eine Rohstoff-Taskforce zur Rohstoffversorgung der
deutschen Industrie. Wir haben jetzt eine Rohstoffsonderbeauftragte; herzlichen Glückwunsch, Frau Kopp!
Ich frage mich: Wieso haben wir keine Sonderbeauftragte für die Bekämpfung von Nahrungsmittelspekulation? Warum haben wir keine Sonderbeauftragte für die
Kontrolle der Einhaltung von Arbeits- und ökologischen
Standards von deutschen und europäischen Unternehmen in den Ländern des Südens?
({5})
Das wäre eine wichtige Funktion für das Ministerium.
Wir brauchen keine Sonderbeauftragte für deutsche
Rohstoffinteressen.
({6})
In Ihrem Weißbuch finden sich keinerlei Strategien
dazu, wie Sie zum Beispiel die Kapitalflucht aus den
Ländern des Südens - eines der größten Probleme - bekämpfen wollen. Sie vertreten ganz klar einen überholten, neoliberalen wirtschaftspolitischen Ansatz, der mittlerweile auch auf internationaler Ebene heftig kritisiert
wird.
Es gibt ein neues Manifest „Handeln Jetzt“ von weltweit führenden Wirtschaftswissenschaftlern, das besagt:
Dieses neoliberale Konzept ist überholt. Das sehen wir
an Europa. Das gilt erst recht für die Länder des Südens.
Wir brauchen solidarische Wirtschaftsbeziehungen, die
Armutsbekämpfung ermöglichen und die letztendlich zu
einer Unabhängigkeit der Länder des Südens führen.
Die Linke hat sich viele Gedanken darüber gemacht,
dass wir neue Ansätze brauchen. Die Frage ist: Wie können wir den Weg zu neuen solidarischen Beziehungen
beschreiten?
Wir haben mit sozialen Bewegungen aus den Ländern
des Südens Leitlinien erarbeitet, die wir im Juni vorstellen wollen. Wir laden alle sehr herzlich ein, mit uns darüber zu diskutieren - natürlich auch Sie, Herr Niebel.
Da können Sie sicher noch einiges lernen.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Ute Koczy.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mehrheitlich eine Nabelschau, ist dieses
Weißbuch viel zu selbstbezogen. Das Allerschlimmste:
Es fehlt der Wille, das Steuer für mehr globale Gerechtigkeit, für einen sozialen und ökologischen Umbau der
Weltgesellschaft herumzureißen. Dafür wären tiefgreifende Veränderungen von Infrastrukturen, Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen vonnöten. Doch davon ist in diesem Weißbuch keine Rede.
({0})
Dabei sind dies die zentralen Punkte für eine Entwicklungspolitik der Zukunft. Doch es ist anders. Das
Weißbuch ist ein Augenöffner. Selten klaffen Selbstdarstellung und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei
diesem Bericht zur Entwicklungspolitik.
Jan Garvert hat es für tagesschau.de auf den Punkt
gebracht: Auf ihrer Pressekonferenz haben Sie, Herr
Niebel, nicht wie ein Entwicklungsminister gesprochen,
sondern wie der Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens, das Bilanz zieht. Mehr Effizienz, bessere
Strukturen, Weltmarktführer, „win-win“ und mehr Geld
für die deutsche Wirtschaft durch jeden eingesetzten
Euro: Sie sprechen Business, wo es doch um zentrale
Belange von Menschen und um die Bekämpfung ungerechter Strukturen geht. Sie haben den Auftrag eines
Entwicklungsministers falsch verstanden.
({1})
Sie haben Entwicklungspolitik für liberale Interessen
instrumentalisiert und wollen uns das als neue Ehrlichkeit verkaufen. Das nimmt Ihnen hier keiner ab.
({2})
Herr Minister, ich gebe zu, tatsächlich hatten Sie keinen guten Start. Sie haben medial viel einstecken müssen, vor allem deshalb, weil Sie mit Entwicklungspolitik
nichts am Hut hatten. Ich erkenne an, dass Sie sich engagiert in die Arbeit eines Ministers gestürzt und sich eingearbeitet haben. Dennoch lautet das Fazit heute: Das
Experiment „Generalsekretär Dirk Niebel wird Entwicklungsminister“ ist gescheitert.
({3})
Sie haben sich als Nebenaußenminister versucht,
dann als Vizeverteidigungsminister und zuletzt als Chef29976
lobbyist des deutschen Mittelstands. Süffisant haben Sie
gegen Partner in der Entwicklungsarbeit ausgeteilt, diese
als Alpakapulloverträger lächerlich gemacht, ihr Haus
mit Begriffen wie Hirseschüsselministerium und Weltsozialamt herabgesetzt. Noch nie war das Verhältnis zwischen den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen und der Führung im BMZ so schlecht.
({4})
Sie hatten von Anfang an das Ziel, möglichst viele
FDP-Parteibuddys in das BMZ einzuschleusen. Das
Prinzip der Einstellung nach Eignung, Leistung und Befähigung wurde im Ministerium mit Füßen getreten. Inhaltlich arbeitende Referate blieben ausgedünnt, überflüssige Abteilungen wurden geschaffen und dann auch
noch aufgebläht.
Ich hätte mich im Rahmen einer entwicklungspolitischen Debatte gerne auf Kernthemen konzentriert. Aber
mir bleibt nur der Weg, die falschen Aussagen, mit denen Herr Minister Niebel hausieren geht, zu entlarven.
Fünf Punkte:
Erstens. Geschlechtergerechtigkeit: Mehr als zwei
Drittel der weltweit extrem Armen sind Frauen und
Mädchen. Was haben Sie gemacht, um das zu ändern?
Sie haben eher das Gegenteil bewirkt. Eine nur bis 2010
existierende Vorgabe im BMZ-Haushalt, welche die Mittel für Gender Mainstreaming und Frauenförderung in
der deutschen EZ festlegte, haben Sie abgeschafft. Der
Gender-Aktionsplan für die Entwicklungspolitik ist abgelaufen, die Neuauflage verschleppt.
Zweitens. Die Fusion der Durchführungsorganisationen: So, wie Sie das darstellen, stimmt das nicht. Sie haben die kleine Lösung gewählt. Den Kern des Problems
- die Zweiteilung von Technischer und Finanzieller Zusammenarbeit - haben Sie nicht angepackt. Sie trauen
sich noch nicht einmal, das Problem in den Mund zu
nehmen. Sie ignorieren es. Sie haben bei dieser kleinen
Fusion die Bildungs- und Arbeitsstrukturen von InWEnt
und DED überrollt. Das wird uns noch lange negativ beschäftigen.
({5})
Jetzt haben wir die GIZ als Monopolisten, den Sie auf
pures Wachstum trimmen und zum Weltmarktführer aufbauschen. Versäumt wurde, dem Ganzen eine entwicklungspolitische Dimension zu geben.
Drittens. Wirtschaftliche Zusammenarbeit: Herr
Minister, es gibt keinen Grund, hier große Töne zu spucken. Es ist nicht verkehrt, mehr Wirtschaft und mehr
Unternehmen in die Länder bzw. Regionen zu bringen,
um mehr Einkommen und Beschäftigung zu schaffen.
Verkehrt ist, so zu tun, als ob das nicht schon lange vor
Ihrer Zeit stattgefunden hätte. Noch verkehrter ist es, das
mit viel Gewese als Erfolgsstory zu verkaufen. Die Ergebnisse belegen doch, dass Sie nicht viel mehr als Ihre
Vorgängerin geschafft haben.
({6})
Gemessen an dem, was Sie angekündigt haben, fallen
Sie sogar hinter sie zurück.
({7})
Viertens. Sie sagen, Sie hätten die Abstimmung zwischen den Ministerien verbessert. Bei der humanitären
Hilfe haben Sie sich auf einen Kuhhandel eingelassen.
Gestern noch rühmten Sie sich der Verzahnung von Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungszusammenarbeit. Dafür opfern Sie Werte und Anliegen der Entwicklungspolitik. Das Thema Menschenrechte taucht doch
nur auf, wenn es sich um kleinere, schwächere Länder
handelt. Wo ist das Thema, wenn es um China geht? Wo
bleibt Ihre Kritik daran, dass die Bundesregierung den
Export von Rüstungsgütern, zum Beispiel von Panzern,
nach Saudi-Arabien und Katar erlaubt? Wenn Sie als
Entwicklungsminister für eine globale friedliche Entwicklung eintreten müssten, verschließen Sie die Augen.
Wir haben eine bilaterale Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan, der Mongolei und Chile. Dabei werden Menschenrechte verletzt, Bürgerrechte übergangen, und auf
EU-Ebene werden auch von dieser Regierung Transparenzinitiativen hintergangen.
Letzter Punkt, fünftens. Ökologische und strukturelle
Gefahren stellen einen gravierenden Einschnitt in die
Lebenswirklichkeit der Menschen, vor allem in Afrika,
dar. Für Sie ist das aber kein Grund, hier in Deutschland
Veränderungen einzufordern. Diese Regierung sieht sich
nicht in der Lage, sich kritisch gegen den wahnsinnigen
Wachstumstrend der Weltgemeinschaft aufzustellen. Sie
befeuern das Falsche, anstatt die Auswirkungen der katastrophalen Politik eines Immer-Mehr an den Pranger
zu stellen. Dabei müssten Sie sich als Entwicklungsminister für gerechte Strukturen, faire Handelsbeziehungen und die Rechte der Menschen einsetzen, für all die,
die eine Stimme gegen die Politik der Mächtigen brauchen. Sie, Herr Minister, stehen auf der falschen Seite.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dr. Christiane Ratjen-Damerau.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte
Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren!
Es ist schon sehr beschämend, wie sich die Opposition
an diesem Thema abarbeitet. Das ist insbesondere den
Partnerländern in der EZ unwürdig. Anstatt hier eigene
Konzepte vorzulegen und die Dinge konstruktiv anzugehen, arbeiten Sie sich nur an dem Minister ab.
({0})
- Vom Weißbuch habe ich hier nichts gehört.
Die FDP im Deutschen Bundestag steht für eine effiziente Entwicklungspolitik, die gleichermaßen werteund interessengeleitet ist,
({1})
für eine Politik, die darauf setzt, die Potenziale der Menschen in den Entwicklungsländern zu fördern, die sie in
die Lage versetzt, sich selbst zu helfen, ohne sie zu bevormunden.
({2})
Wir wollen keine neuen Abhängigkeiten schaffen,
sondern durch eine auf die einzelnen Entwicklungsländer zugeschnittene Politik Freiräume für eigene Entwicklungsperspektiven eröffnen. Eine Entwicklungspolitik mit liberaler Handschrift erkennt an, dass
Grundvoraussetzung für eine Entwicklung, von der die
Bevölkerung profitiert, die Einhaltung von Menschenrechten sowie von rechtsstaatlichen und demokratischen
Prinzipien ist.
({3})
Deshalb treten wir dafür ein, dass grundlegende Menschen- und Bürgerrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie das
Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung in den Entwicklungsländern geachtet werden. Daran richten wir
unsere Entwicklungszusammenarbeit aus.
({4})
Das heute diskutierte Weißbuch ist eine Bilanz der
Entwicklungspolitik der Bundesregierung und der Koalition.
({5})
Es zeigt uns an, ob wir den Kampf gegen Hunger und
Krankheit erfolgreich führen, und es zeigt uns, ob wir
die richtigen Mittel und die richtigen Strategien für die
Ärmsten in dieser Welt einsetzen.
Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit in den
letzten vier Jahren neu ausgerichtet. Durch einen tiefgreifenden strukturellen Umbau hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit an Effizienz gewonnen, ihre
Wirksamkeit gesteigert und ihre Sichtbarkeit erhöht.
Aufgrund der Stärkung der deutschen Zivilgesellschaft
in der Entwicklungszusammenarbeit und aufgrund der
Intensivierung des entwicklungspolitischen Dialogs engagieren sich heute mehr Menschen denn je in der Entwicklungsarbeit. Sie leisten im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engagements wertvolle Arbeit.
({6})
Die Entwicklung der Wirtschaft ist nicht alles - da hat
die Opposition sicherlich recht -, weder in Deutschland
noch im Rest der Welt. Aber ohne die Entwicklung der
Wirtschaft ist alles nichts. Uns ist es gelungen, die deutsche Wirtschaft und die Unternehmer gezielt in die deutsche Entwicklungsarbeit einzubeziehen. Wir fördern und
wollen mehr Wirtschaft und mehr Arbeitsplätze, um damit die Zukunftsperspektiven in den Entwicklungsländern zu verbessern.
Die europäischen und internationalen Partner sind
dem deutschen Beispiel der neuausgerichteten Entwicklungspolitik in den vergangenen Jahren gefolgt. Wir sind
mit unseren strengeren Maßstäben bei der Vergabe von
Budgethilfe und einer kohärenteren Entwicklungszusammenarbeit Vorreiter und Ideengeber. Deutschland hat
sein entwicklungspolitisches Engagement in den fragilen
Staaten ausgebaut. Wir haben ressortübergreifende Leitlinien zum Umgang mit fragilen Staaten entwickelt. Dabei helfen wir, Konflikte frühzeitig zu vermeiden. Denn
Entwicklungspolitik ist die effizienteste Friedenspolitik,
und das weltweit.
({7})
Wir haben die strategischen Schlüsselsektoren für
eine zukunftsfähige Entwicklung erkannt, priorisiert und
gestärkt. Damit ist es uns gelungen, unsere Ziele enger
zu verknüpfen und unsere Arbeit neu auszurichten.
Durch unsere Politik - so hat der Minister es eben schon
gesagt - gab es in der Entwicklungsarbeit vier sehr gute
Jahre.
({8})
Dies haben wir auch aufgrund der guten Zusammenarbeit in der Koalition und mit dem Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erreicht. Unsere Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, hat
uns Entwicklungspolitikern stets den Rücken gestärkt
und uns ermutigt, für die Zusagen Deutschlands weiter
einzutreten.
({9})
Unser Minister Dirk Niebel hat mit seinem Team frische
Ideen und neue und richtige Ansätze im Bundesministerium umgesetzt und mehr erreicht als jemals ein Minister
vor ihm.
({10})
Mit meiner Kollegin Sibylle Pfeiffer wie auch mit
vielen anderen Kollegen aus der Koalition im Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit gab es eine sehr
enge, sehr vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit.
Bei Ihnen allen bedanke ich mich ganz herzlich dafür,
dass wir gemeinsam erfolgreich in der Entwicklungspolitik zusammengearbeitet haben.
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dr. Bärbel Kofler.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nach diesem Werbeblock zurück zur Realität. Herr
Minister, Sie haben hier heute Ihren Schlussbericht vorgelegt. Er beweist wieder einmal das diffuse Verhältnis,
das Sie zur Entwicklungspolitik haben. Sie suggerieren
in diesem Schlussbericht, Sie hätten das Rad neu erfunden, die gesamte Entwicklungspolitik neu aufgestellt.
Nichts davon ist wahr. Sie haben in all den vier Jahren,
in denen Sie tätig waren, eigentlich nichts anderes getan,
als dieses Politikfeld zu diffamieren und damit die
Hauptamtlichen in den Durchführungsorganisationen,
die Hauptamtlichen in Nichtregierungsorganisationen
und insbesondere ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen
und Bürger vor den Kopf gestoßen.
({0})
Mit den Zitaten von Ihnen könnte ich eigentlich
meine ganze Redezeit bestreiten. Die Bezeichnung
„Weltsozialamt“ ist bereits angesprochen worden. Damit
haben Sie Ihr eigenes Ministerium diffamiert. Sie sprechen solch schöne Sätze wie den folgenden aus: Tanztherapie zur Traumabewältigung braucht man nicht
mehr. Solche Aussagen zeigen, dass Sie von Konfliktbearbeitung, von Friedensarbeit keinen blassen Schimmer
haben.
({1})
Die Menschen, die sich in diesem Land ehrenamtlich
engagieren, für internationale Zusammenarbeit und Solidarität stehen, mit Bürgern darüber diskutieren und diese
Gedanken weiterbringen, diffamieren Sie, indem Sie sagen, sie würden in einer „politischen Kuschelecke“ leben - dieses Zitat ist von Ihnen, Herr Niebel - und sich
mit dem Stricken von Alpakapullovern beschäftigen. So
kann man doch mit Menschen, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren und wirklich Armut
bekämpfen wollen, nicht umgehen.
({2})
Dies zeigt nur eines: Sie haben nicht begriffen, was in
der Entwicklungspolitik wirklich geleistet wird, was von
den Menschen geleistet wird. All das, dessen Sie sich in
Ihrem Schlussbericht so rühmen, ist eigentlich das Ergebnis der Arbeit und Leistungen all dieser Menschen.
Das hat mit Ihrer Politik Gott sei Dank nichts zu tun.
({3})
Wenn man sich den Bericht genauer anschaut, findet
man dort nichts besonders Neues. Sie tun ja immer so,
als hätten Sie das Rad neu erfunden. Nein, das Rad gibt
es schon über Jahrtausende. Sie mussten es nicht neu erfinden. Im 12. und im 13. entwicklungspolitischen Bericht - diese sind von 2005 und 2008 - kann man lesen,
dass Effizienz in der Zusammenarbeit ein wichtiges
Thema ist. Ja selbstverständlich ist das so. Niemand
sagt, dass man nicht auf Wirksamkeit und Effizienz achten muss. Liebe Kollegin Pfeiffer - Sie sind schon so
lange in diesem Ressort tätig -, wenn Sie behaupten, dieser Gedanke sei in Ihrer Regierungszeit neu entstanden,
muss ich Ihnen wirklich sagen: Über Ihr Gedächtnis
möchte ich mich an dieser Stelle nicht auslassen.
Denken Sie nur an den Monterrey-Konsens 2002, die
Paris-Agenda und die Ergebnisse der Konferenzen von
Accra und Busan. Um was ging es denn da? Um die
Wirksamkeit in der internationalen Zusammenarbeit und
um die Frage, wie wir die Mittel, die wir zur Verfügung
haben, zum Schutze der Armen und zur Hilfe für die Armen in der Welt besser einsetzen können. Darum muss
es in Zukunft gehen, und darum wurde auch bisher immer gerungen. Im besten Fall könnte man sagen, Sie
stünden in dieser Kontinuität, wenn Sie wirklich neue
Akzente gesetzt oder einen ordentlichen Beitrag geleistet
hätten. Wirksamkeit ist aber keine Niebel’sche Erfindung. Wirksamkeit ist ein Thema, an dem die Entwicklungspolitiker kontinuierlich gearbeitet haben und arbeiten müssen.
({4})
Warum machen Sie das Ganze? Das ist eine reine Verschleierungstaktik. Sie haben keine ausreichenden Mittel
zur Verfügung gestellt und internationale Vereinbarungen nicht eingehalten. Im Endeffekt - wenn Sie ganz
ehrlich sind, müssen Sie das zugeben - haben Sie das
größte nicht wirksame Bürokratiemonster in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Kein Mensch redet von einer Ein-Drittel/Zwei-Drittel-Aufteilung in bilaterale und
multilaterale Mittel. Es muss doch um Wirksamkeit im
Sinne der Armutsbekämpfung gehen. Es darf aber nicht
darum gehen, ob es sich um nationale oder internationale
Töpfe handelt.
({5})
Sie diffamieren Organisationen wie den Global Fund
- das haben Sie auch letzte Woche in Ihrer Regierungserklärung getan -, der sich wirklich große Verdienste erworben hat, wenn es um die Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria geht. Sie stellen sich wieder
einmal als Chefaufklärer dar und tun so, als hätten Sie
alle möglichen Verfehlungen entdeckt und diese abgestellt. Gar nichts haben Sie in diesem Bereich getan. Die
Organisation selbst hat durch effiziente und gute Eigenkontrolle Probleme in Partnerländern aufgedeckt. Sie haben das als Vorwand benutzt, um Mittelkürzungen, die
Sie schon ein Jahr zuvor umsetzen wollten, nachträglich
zu rechtfertigen. So erreicht man bestimmt nicht mehr
Zusammenarbeit und mehr Effizienz in der internationalen Entwicklungspolitik.
({6})
Die Haushaltsmittel sind schon angesprochen worden. Sie müssen sich auch daran messen lassen, was Sie
in Ihrem „tollen“ Weißbuch geschrieben haben. In der
Kurzfassung heißt es auf Seite 8, dass die Bundesregierung weiterhin anstrebt, einen Anteil der öffentlichen
Entwicklungszusammenarbeit am BNE in Höhe von
0,7 Prozent bis 2015 zu erreichen. Hier sind Sie gefordert. Sie müssen sagen, wie Sie das mit Blick auf die
verbleibenden Haushalte schaffen wollen. Genau dieser
Verantwortung stellen Sie sich aber nicht.
({7})
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Opposition, wenn
das Ziel von 0,7 Prozent bis 2015 erreicht werden sollte,
sagen würde: Alles ist gut. - Aber es ist ein wichtiger
Baustein, Mittel aufzubringen, um die Armut wirklich
nachhaltig bekämpfen zu können. Das tun Sie aber nicht.
Die Kanzlerin hat versprochen, bis 2015 einen Anteil
von 0,7 Prozent zu erreichen. Man kann fast sagen: Die
Kanzlerin verspricht, der Minister bricht. - Wer an dem
Ganzen schuld ist, ob die Kanzlerin das insgeheim vielleicht sogar so wollte oder ob Sie Ihrer Regierungschefin
auf der Nase herumtanzen, bleibt dem geneigten Beobachter und der Spekulation überlassen. Aber verantwortliches Regierungshandeln ist das an dieser Stelle
nicht.
({8})
Schauen wir uns einmal die Schlüsselsektoren, die Sie
auflisten, an; auch hier tun Sie so, als hätten Sie die Welt
neu erfunden. Ich greife ein Thema heraus: das Klima.
Da gab es über zehn Jahre hinweg viele gute Ansätze.
Ich erinnere nur an die Klimakonferenz in Johannesburg
und daran, dass bereits vor acht Jahren festgestellt
wurde, dass wir 100 Millionen Euro für die Förderung
erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern zur Verfügung stellen. Das ist ein Bereich, in dem wir noch wesentlich mehr tun müssen. Energiearmut ist nämlich, was
die nachhaltige Entwicklung betrifft, in vielen Ländern
ein sehr großer Hemmschuh. Aber Sie erfinden das Rad
nicht neu. Wenn man sich genau anschaut, was Sie tun,
dann muss man feststellen: unterm Strich nichts.
({9})
Sie lassen ganze Themenblöcke, bei denen man einen
wirklichen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leisten
könnte, außen vor. Das Hohelied der Wirtschaft singen
Sie ja immer und überall gerne. Was Sie in diesem Zusammenhang aber nicht singen, ist das Hohelied der
menschenwürdigen Arbeit. Ich habe von Ihnen noch
nicht ein einziges Mal auch nur einen Satz dazu gehört,
wie wirtschaftliche Aktivitäten in menschenwürdige Arbeit umgesetzt werden sollten, um zur Entwicklung tragender, nachhaltiger Sozialstrukturen und -systeme beizutragen. Das würde übrigens nicht nur den Menschen in
den Entwicklungsländern helfen, sondern auch den
Menschen in Deutschland, die immer wieder von Sozialdumping und ausbeuterischen Bedingungen bedroht
sind, Herr Niebel.
({10})
Man kann eines feststellen: Die Themen, die wirklich
zur nachhaltigen Armutsbekämpfung beitragen, sind
- das sagt auch die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation -: menschenwürdige Arbeit, soziale Sicherung
und Basisschutz. Diese Themen interessieren Sie aber
nicht, Herr Niebel. Warum wohl? Weil wir Sozialdemokraten das Thema soziale Sicherheit bereits in der letzten
Legislaturperiode als ganz zentrales Thema behandelt
haben. Dass Sie sich dafür nicht interessieren, ist ein guter Grund dafür, dass das, was wir heute hier von Ihnen
gehört haben, Ihre Schlussbilanz war. Das ist sehr gut so,
Herr Niebel.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Christian Ruck das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach 23 Jahren als Mitglied im Entwicklungsausschuss
gehe ich davon aus, dass ich jetzt meine letzte entwicklungspolitische Rede halten werde.
({0})
- Ja, das finde ich auch schade. - Deswegen habe ich
auch in den sieben Minuten meiner Redezeit keine Zeit
und keine Lust, mich mit dem kleinkarierten oppositionellen Unsinn zu beschäftigen.
({1})
Ich möchte die Zeit für ein Resümee, das auch mit
dem Weißbuch zu tun hat, nutzen.
({2})
Im Weißbuch steht wirklich viel, das man abarbeiten
kann. Man muss nicht mit allem einverstanden sein; es
enthält aber wichtige strategische Hinweise. Für die Habenseite in diesen Jahren möchte ich feststellen: Wir
können nicht nur eine erhebliche Steigerung der Mittel
für die Entwicklungspolitik,
({3})
sondern vor allem auch einen erheblichen Bedeutungsgewinn für die Entwicklungspolitik verzeichnen. Das ist
für mich etwas sehr Positives.
({4})
Die Entwicklungspolitik ist zu einem strategischen
Schlüsselbereich in einer globalisierten Welt geworden.
Die Aufgaben, die dieser Schlüsselbereich mit sich
bringt, dienen auch unserer Sicherheit, unserer Wirtschaft und der Stellung Deutschlands in der Welt.
({5})
- Das ist kein Widerspruch; genau.
({6})
Wir haben viel erreicht; das muss man in der Öffentlichkeit auch immer wieder sagen. Wir haben in den Bereichen Alphabetisierung, Gesundheit und Armutsbekämpfung viel erreicht. Aber - das ist auch wahr -: Wir
brauchen mehr Finanzmittel. Die Probleme sind nämlich
teilweise schneller gewachsen als die Lösungen. Zu den
Problemen gehören der Umweltbereich, zerfallende
Staaten, Bürgerkriege, Wildwestausbeutung und vieles
mehr. Die Welt ist komplizierter geworden.
Es gibt aber auch neue Geber. Ich glaube, dass die
deutsche Entwicklungspolitik die neuen Rahmenbedingungen und Probleme gerade auch in den letzten Jahren
adressiert hat. So haben wir mit einer Erhöhung der Finanzmittel und der Effizienz reagiert. Effizienz ist nichts
Technokratisches. Es heißt nicht bloß: Wie setzt man das
Geld um? Es heißt vielmehr, dass man sich bemüht, aus
jedem zur Verfügung stehenden Euro für die Menschen
so viel wie möglich herauszuholen. Das bedeutet Effizienz, und diese Art der Effizienz ist völlig richtig.
({7})
Wir haben uns stärker auf Schlüsselthemen fokussiert. Wir legen auch stärkeren Wert auf Koordinierung,
Arbeitsteilung und Kohärenz. Ich sage es noch einmal:
Gerade in den letzten vier Jahren haben wir in diesen Bereichen große Fortschritte erzielt. Die Vorfeldreform ist
ein gewaltiger Schritt gewesen. Daran haben wir uns im
Vorfeld wirklich die Zähne ausgebissen. Ich möchte Ihnen nichts vorrechnen. Es war aber ein gewaltiger
Schritt nach vorn, und das ist positiv.
({8})
Wir haben einen personellen Aufwuchs zu verzeichnen; auch dafür haben wir gekämpft, und auch das ist
positiv. Wir haben neue Spielräume in der finanziellen
Zusammenarbeit geschaffen; das ist allerdings bisher
kaum gewürdigt worden. Es handelt sich dabei aber um
Milliardenbeträge, die positiv zu Buche schlagen. Außerdem, meine lieben Kollegen von der Sozialdemokratie, haben wir bewährte Dinge, die früher eingeführt
worden sind, fortgeführt. Das verschweigt doch keiner.
({9})
Ich spreche vom Projekt „weltwärts“ und von der vernetzten Sicherheit.
Ich möchte im Hinblick auf die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit ein paar Punkte aus meinem Erfahrungsschatz der letzten 23 Jahre ansprechen.
Erstens. Das Entscheidende ist für mich der Wille zur
guten Regierungsführung.
({10})
Dieser Wille zur guten Regierungsführung ist oft eine
Frage der Gunst der Stunde. Es ist gut, wenn wir auf
diese Gunst der Stunde schneller reagieren können, indem wir mehr Flexibilität schaffen, zum Beispiel indem
wir unsere Stiftungen besser ausstatten und indem wir
auch unser Instrumentarium besser darauf einstellen,
solche Gunst der Stunde zu nutzen.
Zweitens. Es wäre ein schwerer Fehler, bei schlechter
Regierungsführung, bei fragilen Staaten, bei offensichtlich geringer Effizienz einfach wegzuschauen, dies zu
ignorieren oder diese Staaten als hoffnungslos abzutun.
Das Gegenteil ist vielmehr angebracht: Wir müssen auch
in diesen Fällen an den Baustellen weiterarbeiten. Wir
müssen auch - den Einstieg haben wir geschafft - die Instrumente zur Unterstützung fragiler Staaten verbessern
und neue Dinge ausprobieren. Wir dürfen auch die Menschen in Simbabwe, in Nordkorea und anderswo nicht
alleinlassen, sondern müssen mit anderen Instrumenten
versuchen, für bessere Zeiten vorzubauen.
({11})
In diesem Zusammenhang kann es - drittens - nicht
falsch sein, wenn wir für Bildung und Ausbildung alles
tun, was wir können; denn das ist die beste Investition in
eine bessere Zukunft.
({12})
Viertens. Zu Kooperationen mit der Wirtschaft kam
heute auf der linken Seite wieder Unsägliches zutage.
All denen auf der linken Seite, die offensichtlich ein verklemmtes Verhältnis zur Wirtschaft haben,
({13})
sage ich: Unser Leitbild ist die soziale Marktwirtschaft
und nicht ein marktwirtschaftlicher Kapitalismus.
({14})
Die Vorstellungen der christlich-liberalen Koalition zur
sozialen Marktwirtschaft schließen natürlich das Soziale
mit ein, und dafür stehen wir. Ich sage auch: Es gibt für
kein Entwicklungsland eine Entwicklung ohne Wachstum. Zu glauben, dass es Entwicklung ohne Wachstum
gäbe, ist völliger Schwachsinn.
({15})
Mir sind Investitionen deutscher Unternehmen im
Kongo wesentlich lieber als Investitionen anderer Länder.
({16})
Ich habe nämlich eine hohe Meinung von deutschen Unternehmen und von den mit deutschen Investitionen verbundenen ethischen und sozialen Standards.
Fünfter Punkt: Schutz der Umwelt und der natürlichen Ressourcen. Ich kann nicht verhehlen, dass ich besonders stolz bin auf das, was im Bereich Erhaltung der
Schöpfung gelungen ist. Ich rufe alle hier auf - von welcher Partei auch immer -, diesen Schatz zu hüten.
Herr Kollege Ruck, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hänsel von der Linken?
Also gut, weil das heute meine letzte Rede zur Entwicklungspolitik ist. - Stellen Sie am besten eine Frage,
die meine Redezeit substanziell verlängert.
Ja, Herr Ruck: Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, Ihre
guten Ideen noch etwas länger zu verbreiten.
({0})
Herr Ruck, Sie sprachen von wirtschaftlichem
Wachstum in den Ländern des Südens. Da kann ich Ihnen sagen: Das ist auch ein Anliegen der Linken.
({1})
Die Frage ist nur: Wer betreibt denn die Wertschöpfung,
und wie kommen wir dazu, dass die Hauptwertschöpfung in den Ländern des Südens verbleibt? Bisher ist es
nach wie vor so, dass die Länder des Südens vor allem
Rohstofflieferanten sind und der größte Profit durch die
Verarbeitung in den Industriestaaten gemacht wird, die
den Ländern des Südens die hochverarbeiteten Produkte
für teures Geld wieder verkaufen.
({2})
Das ist pure profitorientierte Marktwirtschaft, die durch
die Freihandelsabkommen verstärkt wird. Deshalb sind
wir gegen diese Freihandelsabkommen.
Jetzt frage ich Sie: Können Sie mir konkrete Beispiele
nennen, wo in den Ländern des Südens durch Unterstützung aus Europa, aus Deutschland in großem Maße
Wertschöpfungsketten aufgebaut wurden?
({3})
Ein ganz konkretes Beispiel: Bolivien verfügt über große
Lithiumvorkommen. Bolivien würde sehr gerne vor Ort
eine Lithium-verarbeitende Industrie aufbauen,
({4})
mit Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen, und Lithium-Akkus, die für die Elektromobilität benötigt werden, herstellen. Vertreter Boliviens reisen seit mehreren
Jahren durch Europa. Dennoch gibt es bisher keinen einzigen Investor, der bereit ist, dort zu investieren, und
zwar weil die Profitbedingungen dort nicht gut genug
sind.
({5})
Frau Kollegin Hänsel, bitte. Kurz und präzise sollen
die Fragen sein.
Ich wiederhole meine Frage: Können Sie mir Beispiele nennen, wo Wertschöpfungsketten in den Ländern
des Südens aufgebaut wurden?
({0})
Liebe Frau Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar für
diese Frage, weil ich dadurch meine Punkte 7 bis 10 daran abarbeiten kann.
Eines unserer größten Probleme ist in der Tat die
Rohstoffhausse - in jeder Hinsicht: von der Energie bis
zu Seltenen Erden. Sie stellt uns und natürlich auch die
Entwicklungsländer vor gewaltige Probleme. Die Fragen, die Sie intoniert haben, lauten: Wie schafft man es,
dass der natürliche Reichtum dieser Länder nicht zum
Fluch wird? Wie verhindert man es, dass diese Länder
nur noch von ihren Rohstoffen leben und es zu Zuständen wie in Kongo, in Nigeria und anderswo kommt, wo
es gewaltige soziale und umweltpolitische Verwerfungen
gibt?
Hier sage ich Ihnen eines: Ausschlaggebend sind
auch hier wieder die Fähigkeit und der Wille der Entwicklungsländer, mit diesen Rohstoffen entwicklungsorientiert umzugehen, das heißt, Wertschöpfungsketten
aufzubauen. Genau hier können wir unsere Expertise
einbringen, wenn die Staaten es denn wollen.
Nehmen Sie zum Beispiel Präsident Correa, den Sie
vorhin so gelobt haben. Correa geht auch einen schmalen Grat in Bezug auf einen entwicklungsorientierten
Umgang mit diesen Rohstoffen. Dabei können wir ihm
mit all den Expertisen, die wir haben, helfen, zum Beispiel mit dem Aufbau eines Steuersystems und auch mit
dem Aufbau von Weiterverarbeitungsketten, wenn die
Regierung das will und solche Entwicklungen gestattet Voraussetzung ist: Good Governance.
Selbst wenn wir bereit sind, all das zu liefern, brauchen wir eine internationale Zusammenarbeit. Hiermit
sind wir bei den Schwellenländern; diese stellen auch einen wichtigen Faktor dar. Wir müssen nicht mehr darüber diskutieren, ob die Schwellenländer zu arm oder
zu reich sind, sondern wir müssen gerade gegenüber
Drittländern eng mit ihnen zusammenarbeiten - Stichwort: China. Das gilt insbesondere für den Rohstoffbereich.
({0})
- Ja, es kommt noch ein Beispiel.
({1})
Ein sehr gelungenes Beispiel ist die Zusammenarbeit
mit der Provinz San Martín in Peru, in der der Kollege
Klein und ich neulich waren.
({2})
- Es wurde doch nach einem Beispiel gefragt. - Diese
Provinz hat sich durch Good Governance und einen ausgezeichneten Gouverneur von einer Provinz mit der
höchsten Entwaldungsrate zu einer Vorzeigeprovinz entwickelt. Dort werden genau diese Wertschöpfungsketten
aufgebaut, und zwar auch mit unserer Entwicklungshilfe.
Das heißt, es gibt Beispiele, aber es werden immer
zwei Seiten benötigt.
Sie haben dann noch etwas zu den internationalen
Abkommen gesagt. Ich halte es für vollkommen richtig,
dass wir bei internationalen Abkommen - vor allem vonseiten der EU; das Neueste ist ja das Freihandelsabkommen der EU mit Peru und Kolumbien - darauf bestehen,
dass soziale und Umweltstandards eingearbeitet werden.
Das setzt aber voraus, dass wir in der EU - das wäre
mein Punkt 9 gewesen: Kohärenz und Koordination eine ordentliche Arbeitsteilung erreichen.
({3})
Diese Arbeitsteilung muss natürlich beinhalten, dass
auch wir unsere Werte in die EU einbringen; ich glaube,
das werden wir tun. Nur als EU werden wir dann die
Verhandlungsmacht haben, um zum Beispiel auch Mindeststandards für Menschenrechte und Ähnliches durchzusetzen.
Herr Kollege Ruck, in Anbetracht Ihrer Ankündigung, dass Sie Ihre letzte Rede zur Entwicklungspolitik
halten, bin ich heute natürlich besonders großzügig.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie auch noch eine
Zwischenfrage der Kollegin Pfeiffer zulassen. - Das ist
dann aber die letzte Zwischenfrage, die ich zulassen
kann; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, gut.
Lieber Herr Kollege Ruck, ich komme auf das zurück, was die Kollegin Hänsel gesagt hat. Sie hat ganz
konkret nach den Möglichkeiten der Lithium-Industrie
in Bolivien gefragt. Sie haben in Ihrer allgemeinen Antwort auf die Frage von Kollegin Hänsel ausgeführt, das
habe auch etwas mit guter Regierungsführung zu tun.
({0})
Wie schätzen Sie denn die Regierungsführung des bolivischen Regierungschefs Evo Morales und somit das Interesse von Unternehmen aus der ganzen Welt, dort zu
investieren, ein?
({1})
Herr Kollege Ruck, wir können jetzt nicht die Regierungsführung in verschiedenen Ländern bewerten; das
geht jetzt etwas zu weit.
Jawohl.
Ich bitte um eine kurze Antwort.
Jawohl, eine kurze Antwort ist: Die Regierungsführung in Bolivien kann ich nur als investitionsfeindlich
bezeichnen.
({0})
Das tut mir leid; denn Bolivien hat mir immer sehr am
Herzen gelegen. Auch da gibt es nämlich viel zu tun, um
Schöpfung zu bewahren.
({1})
Die Regierungsführung in Bolivien ist vor allem durch
Chaos gekennzeichnet. Das ist eines der größten Investitionshindernisse, die sich die bolivianische Regierung
selbst ins Nest gelegt hat.
Mein letzter Punkt, bevor ich zum Schluss komme,
ist: Internationale Zusammenarbeit - ({2})
Nein, Herr Kollege Ruck. Jetzt müssen Sie wirklich
zum Schluss kommen.
Gut; dann komme ich gleich zum Schluss. - Ich habe
es immer als sehr wohltuend empfunden, dass wir mit
unserer Arbeit sehr selbstkritisch umgehen. Ich möchte
mich bei allen Kollegen bedanken, die ich in den letzten
23 Jahren erlebt habe, insbesondere aber bei den aktuelDr. Christian Ruck
len. Ich habe große Hochachtung vor all den Entwicklungsexperten, die ich getroffen habe. Ich glaube, wir
haben vieles erreicht. Ich würde mich freuen, wenn es
gelänge, den Kontakt mit Ihnen zu halten.
Ich wünsche Ihnen allen - in welcher Konstellation
auch immer; am besten natürlich in der jetzigen - viel
entwicklungspolitischen Erfolg; denn die Menschheit
braucht Sie. In diesem Sinne alles Gute!
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Niema Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Niebel, Sie haben letzte Woche gesagt: „Wir sind Marktführer der Entwicklung in der Welt.“ Dieser Satz zeigt,
dass Sie nicht begriffen haben, was Entwicklungspolitik
bedeutet. Sie frönen dem Marktprinzip, das heißt Konkurrenz und Gewinnstreben; aber die globale Entwicklung lebt vom solidarischen Miteinander. Das Ziel ist es,
Armut, Hunger, Krankheiten und Analphabetismus zu
besiegen, und zwar gemeinsam, nicht im Wettbewerb
gegeneinander.
({0})
Um es mit Ihren eigenen Worten zu sagen: Diese Äußerung macht Sie nicht gerade zum weltweiten Marktführer in Sachen Durchblick.
Mit dem heute diskutierten Weißbuch zur Entwicklungspolitik haben Sie wirklich ein Meisterstück an Arroganz abgeliefert: 190 Seiten Selbstlob und Selbstherrlichkeit.
Die Fakten sprechen für sich: Obwohl es Deutschland
nach Aussage der Bundesregierung so gut geht wie nie
zuvor, obwohl Deutschland sich mehrfach dazu verpflichtet hat, bis 2015 seine Entwicklungshilfequote auf
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern und
obwohl eine Mehrheit der Abgeordneten öffentlich an
Sie appelliert hat, mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, sinken die deutschen Beiträge. Im Weißbuch tun Sie so, als ob das 0,7-ProzentZiel bis 2015 erreichbar wäre. Das kann nur jemand behaupten, der weiß, dass er ab der nächsten Legislatur
nichts mehr damit zu tun hat.
({1})
Sie haben das 0,7-Prozent-Ziel gemeinsam mit der
schwarz-gelben Koalition beerdigt, und das ist eine
Schande.
({2})
Trotzdem feiern Sie sich ständig selbst. Dass Sie Ihre
Bundeswehrmütze ungefragt dem Haus der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland übergeben haben, zeigt
Ihren Größenwahn. Sie betreiben Niebel-Propaganda
mit Steuergeldern. Man wird mit Ihren Hochglanzbroschüren und Selbstdarstellerkonferenzen zugeschüttet.
Da muss man fragen, ob es sich dabei nicht auch um
Gelder handelt, die für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit bestimmt waren und die Sie jetzt teilweise
zweckentfremdet haben.
({3})
Bekannt ist auch, dass Sie Veröffentlichungen von
kritischen Nichtregierungsorganisationen, die von Ihrem
Ministerium bezuschusst werden, von Ihren Mitarbeitern
unter die Lupe nehmen lassen. Angeblich wollen Sie
Falschaussagen verhindern. Ich sage Ihnen: Sie wollen
unliebsame Inhalte verhindern. Was Sie machen, ist Zensur, und das ist ein Skandal.
({4})
Aber in Ihrem Weltbild erscheint Kritik ja per se albern. Vor Ihnen waren eh alle doof im „Hirseschüsselministerium“, wie Sie es genannt haben. Ganze Generationen von naiven Schlabberpulli-Idioten - das ist Ihr
bescheidener Blick auf die Welt. Damit beleidigen Sie
alle, die sich jahrelang für die Bekämpfung der weltweiten Armut eingesetzt haben. Das ist respektlos.
({5})
Das geht nicht spurlos an Ihren Mitarbeitern vorbei. In
einer gefakten Hausmitteilung Ihres Ministeriums haben
die Mitarbeiter Ihre neue Selbstbeschreibung als „Zukunftsentwickler. Wir machen Zukunft“ satirisch umgewandelt in „Zugluftentwickler - Wir machen Heißluft“.
Erstens spricht das Bände über die interne Stimmung,
und zweitens haben die Mitarbeiter recht.
({6})
Als Ihren größten Erfolg feiern Sie, dass Sie die drei
Organisationen der Technischen Zusammenarbeit zur
Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, fusioniert haben. Aber auch dort ist laut einer
Umfrage die Mehrheit der Mitarbeiter unzufrieden mit
dem Fusionsprozess.
Ihre entwicklungspolitische Tätigkeit haben Sie als
„vier gute Jahre für Deutschland“ bezeichnet. Tatsächlich waren es vier gute Jahre für die deutsche Wirtschaft.
Damit haben Sie aber komplett das Thema verfehlt. Ihr
Job wäre es gewesen, vier gute Jahre für die weltweite
Entwicklung zu gestalten.
({7})
Die Daseinsberechtigung Ihres Ministeriums ist die
Bekämpfung der globalen Armut, des Hungers, unter
dem 1 Milliarde Menschen leiden, und der Krankheiten,
weil ein Drittel der Weltbevölkerung keinen Zugang zu
lebenswichtigen Medikamenten hat. Sie haben mit stolzgeschwellter Brust herausposaunt: Für jeden Euro, den
wir in die Entwicklungszusammenarbeit investieren,
fließen 3 bis 4 Euro zurück. - Im Klartext: Das Wohl der
deutschen Wirtschaft ist für Sie der zentrale Maßstab der
Entwicklungszusammenarbeit. Wie soll aber mit so einem Konzept Armut bekämpft werden? Ihre Politik führt
eher zu einem Abfluss von Ressourcen aus den Entwicklungsländern, als dass es sie stärkt.
({8})
Sie haben letzte Woche gesagt: „Die Achtung der allgemeinen Menschenrechte ist unsere rote Linie.“ Letzten Monat wurden in Saudi-Arabien sieben junge Männer öffentlich hingerichtet. Wo war da Ihr Aufschrei?
({9})
Diesem menschenfeindlichen Regime liefert Deutschland sogar Panzer, und das mit Ihrer ausdrücklichen Billigung im Bundessicherheitsrat. Und nebenbei fördert
die staatlich-deutsche Organisation GIZ die Ausbildung
saudischer Soldaten. Das schlägt dem Fass den Boden
aus.
({10})
Mein Fazit: Die nächsten vier Jahre ohne Sie und Ihre
Nichtentwicklungspolitik - das ist das Beste für dieses
Land und für die Ärmsten auf der Welt.
Danke schön.
({11})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Thilo Hoppe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Aufreger im Weißbuch steht auf Seite 25 - ich zitiere -:
Die Bundesregierung strebt weiterhin an, bis 2015
einen Anteil der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit am BNE in Höhe von 0,7 Prozent zu erreichen.
Ein tolles Ziel - das finden wir alle wunderbar.
Aber, Herr Minister, bitte erklären Sie uns, mit welcher magischen Formel diese Bundesregierung das
Kunststück fertigbringen will, durch Kürzung des Entwicklungsetats - so geschehen in diesem Jahr und geplant im nächsten Jahr - die ODA-Quote von jetzt
0,38 Prozent bis 2015 auf 0,7 Prozent zu steigern. Wie
man durch eine Kürzung eine Steigerung erreichen will,
erschließt sich mir überhaupt nicht.
({0})
Für diejenigen, die uns heute zuhören: Im Jahr 2005
hat Deutschland fest zugesagt, seine Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe kontinuierlich zu steigern und dafür bis 2015 das sogenannte
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, also 0,7 Prozent von allem, was in Deutschland erwirtschaftet wird, zur Überwindung von extremer Armut und von Hunger einzusetzen.
Holland, Schweden, Dänemark, Norwegen haben gehalten, was sie versprochen haben. Auch England, eine
vergleichbare Volkswirtschaft, ist auf gutem Wege, das
0,7-Prozent-Ziel pünktlich zu erreichen. Deutschland
hingegen ist weit davon entfernt; es ist auf halbem Wege
stehen geblieben und müsste innerhalb von zwei Jahren
seine Ausgaben für Entwicklung fast verdoppeln, um
von 0,38 auf 0,7 Prozent zu kommen.
2011 gab es, wie bereits erwähnt, eine Initiative von
mehr als 360 Abgeordneten aus diesem Parlament. Alle
Fraktionen waren vertreten. Wir forderten, das 0,7-Prozent-Versprechen endlich ernst zu nehmen und die Entwicklungsgelder von 2012 an jährlich um 1,2 Milliarden
Euro zu steigern; denn nur so hätte man noch die Kurve
kriegen können. Nur so hätte man es noch geschafft, das
0,7-Prozent-Ziel fristgerecht zu erreichen. Doch diese
Initiative wurde weder von Ihnen noch von der Bundeskanzlerin unterstützt. Die Koalitionsmehrheit verhinderte den notwendigen Aufwuchs der Mittel.
Im letzten Jahr kam es dann ganz dicke: Da wurde der
Entwicklungsetat zum ersten Mal seit vielen Jahren gekürzt, und dann noch um 86 Millionen Euro. Zugegeben:
Diese Kürzung war von der Regierung so nicht geplant.
Das gesamte Kabinett wurde von einem Streichkonzert
Ihrer Haushälter überrascht; Dirigent war Herr
Koppelin. Aber Sie, Herr Niebel und die Kanzlerin, haben sich das gefallen lassen. Wir, die Grünen, kamen in
die ganz eigenartige Position, den Haushaltsentwurf dieser Regierung zu verteidigen und verbunden mit namentlicher Abstimmung den Antrag auf Zurückweisung dieser Kürzung zu stellen. Ich kann bis heute nicht
verstehen, Herr Niebel, warum Sie damals unseren Versuch, zu retten, was noch zu retten war, als „Spielchen“
abgetan haben und der Kürzung Ihres eigenen Etats zugestimmt haben. Ich bemühe mich sonst immer um einen sachlichen Ton, aber sorry: Das war wirklich schizophren,
({1})
dass Sie die Kürzung des Etats heftig kritisierten, dem Bundestag die Schuld für die Nichterreichung des 0,7-ProzentZiels gaben, aber dann als Abgeordneter genau dieser
Kürzung zugestimmt haben. Dass es auch anders geht,
haben der werte Kollege Ruck, die Kollegin Wöhrl, Frau
Weiss, Herr Heinrich und Herr Klimke gezeigt. Diese
fünf Abgeordneten der Union haben der Kürzung eben
nicht zugestimmt.
Herr Niebel, dann haben Sie sich in Interviews über
das 0,7-Prozent-Ziel lustig gemacht, gaben zu, dass man
sich de facto davon verabschiedet hat, nannten es ein
„totgerittenes Pferd“. Aber jetzt finden wir in dem Weißbuch wieder den schönen Satz, den ich zu Beginn zitiert
habe: Wir streben weiterhin an, das 0,7-Prozent-Ziel bis
2015 zu erreichen. - Das ist dreist, das ist Volksverdummung; denn so bitter es ist: Das 0,7-Prozent-Ziel kann
jetzt bis 2015 überhaupt nicht mehr erreicht werden,
selbst wenn Sie Lotto spielen und ganz viel gewinnen
würden. Man kann nämlich in der Entwicklungszusammenarbeit nicht jeden x-beliebigen Betrag innerhalb
kurzer Zeit sinnvoll ausgeben. Gute Entwicklungsprogramme brauchen einen Vorlauf, müssen mit den Partnern ausgehandelt werden - unter Beteiligung der Zielgruppen. Es wäre ja auch Quatsch, Geld zu verpulvern,
nur um eine Zielmarke fristgerecht zu erreichen.
Wir werden morgen auf unserem Bundesparteitag ein
Programm mit einem gut durchgerechneten und fachlich
geprüften ODA-Aufholplan verabschieden. Darin ist
vorgesehen, in den nächsten vier Jahren jährlich 1,2 Milliarden Euro mehr für Entwicklung und humanitäre Hilfe
einzustellen und zusätzlich jedes Jahr 500 Millionen
Euro mehr für den internationalen Klimaschutz. Mit diesem ODA-Aufholplan können wir das Ziel zwar nicht
bis 2015 erreichen, aber immerhin innerhalb einer Legislaturperiode. Ich bin froh, dass bei den Sozialdemokraten Ähnliches im Programm steht.
Herr Hoppe, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.
Danke. - Jetzt gibt es wirklich die Möglichkeit, diesen ODA-Aufholplan in Angriff zu nehmen. Die Chance
besteht, dass sich Deutschland dann endlich solidarisch
zeigt und seine Zusagen endlich ernst nimmt. Sie besteht
aber nur dann, wenn uns die Wählerinnen und Wähler
dafür einen Auftrag geben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Jürgen Klimke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bilanz dieser Bilanzdebatte: Die Opposition kritisiert, die Regierung feiert
die Erfolge. Zwischenstand der Debatte wie in den letzten Tagen: mindestens 4 : 1 für die Erfolge.
({0})
Die Erfolge sind dadurch begründet, dass die Entwicklungszusammenarbeit bei uns einen neuen Stellenwert
bekommen hat. Wir sind aus dieser Gutmenschenecke
herausgekommen und haben die Entwicklungspolitik zu
einem Kernthema der Bundespolitik gemacht.
({1})
Die Entwicklungszusammenarbeit hat sich gemausert.
Wir können von einer grundsätzlichen Neuausrichtung
reden. Diese grundsätzliche Neuausrichtung war aus Expertensicht dringend notwendig, hat doch die frühere
Ministerin immer an diesem veralteten Bild der Entwicklungshilfe festgehalten.
Meine Damen und Herren, Entwicklungspolitik ist
keine Politik der milden Gaben mehr, sondern sie muss
wirksam und nachhaltig sein. Das ist das Entscheidende.
Dazu haben wir uns durchgerungen und das konsequent
umgesetzt. Das zeigen auch die neuen Strukturen, die
wir aufgebaut haben. Wir haben eine Entwicklungszusammenarbeit geschaffen, die den Menschen in den
Schwellen- und den Entwicklungsländern nutzt und die
vor allen Dingen auch der deutsche Steuerzahler versteht. Er hat inzwischen großes Verständnis dafür.
({2})
Die Reformen sind nur ein Ausschnitt unserer gemeinsamen Anstrengungen, aber ein sehr wichtiger. Man
kann sie mit den Stichworten „Konditionierung“, „Evaluierung“ und „Effektivierung“ zusammenfassen.
Erster Punkt. Konditionierung heißt: Verschlechterungen, aber auch Verbesserungen in den Bereichen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit haben Konsequenzen. Sie haben Konsequenzen für die Art und Höhe
unserer Entwicklungsmittel für einen Partnerstaat. Als
Grundlage dient ein verbindliches Menschenrechtskonzept, das wir in der Entwicklungszusammenarbeit etabliert haben. Damit ist Deutschland Vorbild in der EU.
Alle Entwicklungsprojekte werden zukünftig einem
Menschenrechts-TÜV unterzogen. Dieser TÜV beinhaltet einen Kriterienkatalog, anhand dessen die Regierungsführung und die Menschenrechtssituation in den
Partnerländern bewertet werden. Die Ergebnisse dieser
Bewertung sind dann Grundlage für Art und Ausgestaltung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Dieses Menschenrechtskonzept des BMZ ist absolut notwendig, damit wir in der Außenpolitik und mit unseren
diplomatischen Appellen für Menschenrechte glaubwürdig sind. Es passt nicht zusammen, dass wir einerseits
die Menschenrechtssituation in verschiedenen Ländern
kritisieren, andererseits Menschenrechtsverletzungen
durch Geldüberweisungen quasi noch belohnen. Das
geht nicht mehr.
({3})
Insofern ist das Menschenrechtskonzept letztlich auch
ein Beitrag zu mehr Kohärenz und Effektivierung der
Außen- und Entwicklungspolitik sowie ein Argument
für die Bürger unseres Landes, denen sehr viel an der
Stärkung der Menschenrechte weltweit liegt.
Zweiter Punkt: Evaluierung. Das bedeutet, dass man
die Wirkungen des entwicklungspolitischen Einsatzes
überprüft. Das erfordert eine ganz andere Herangehensweise als bisher. Zukünftig evaluieren wir nicht nur die
Umsetzung von Maßnahmen, sondern prüfen, ob auch
der erhoffte entwicklungspolitische Nutzen eingetreten
ist. Das macht die Entwicklungszusammenarbeit effizienter und nachhaltiger. Auch damit erreichen wir viel
mehr Verständnis beim Steuerzahler. Die Menschen sind
ja nicht dumm. Sie sind nicht gegen Entwicklungszusammenarbeit, sondern sie befürchten, dass das Steuergeld nicht - wie es so schön heißt - unten, also bei den
Menschen in den Entwicklungsländern, ankommt.
({4})
Diese Befürchtung war ja in der Vergangenheit leider
nicht ganz unberechtigt. Deswegen haben wir ein Evaluierungsinstitut gegründet, das Wirksamkeit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit entwicklungspolitischer
Maßnahmen bewertet und vor allen Dingen fundierte
Empfehlungen für zukünftige Entwicklungszusammenarbeit liefert.
Der dritte Punkt ist die Effektivierung. Bei begrenzt
zur Verfügung stehenden Mitteln muss das Geld - wir
wollen auch sparen und zukünftige Generationen nicht
mit zu hohen finanziellen Ausgaben belasten - effizient
eingesetzt werden, um größtmögliche Wirkungen hervorzubringen. Auf diesem Weg haben wir viel geleistet
durch die angesprochene Vorfeldreform, also die Zusammenlegung der Durchführungsorganisationen zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, aber auch
durch die Reduzierung der Zahl der Partnerländer, durch
die Erhöhung der Steuerungskompetenz des BMZ, durch
Personalaufbau, durch die Stärkung der Außenstrukturen
des Ministeriums - so haben wir nun Entwicklungsreferenten in den wichtigen Botschaften - und durch eine
bessere Koordinierung vor allen Dingen mit anderen
Geldgebern.
Dass all dies in den letzten vier Jahren erreicht werden konnte, ist eben auch das Verdienst ganz bestimmter
Personen.
Ich darf in diesem Zusammenhang als Erstes den
Minister nennen. So wie seine Entwicklungsarbeit ist, ist
er auch selber: konsequent und nachhaltig.
Es gibt aber auch Frauen in Führungspositionen. Die
neue Vorstandsvorsitzende der GIZ, Tanja Gönner, leistet exzellente Arbeit.
({5})
Sie spielt die Stärken dieser hervorragenden Organisation aus. Dazu gehört auch die engere Kooperation der
Politik mit deutschen Unternehmen.
Zudem haben wir mit Christian Ruck, den wir eben
gehört haben, einen Kollegen, der entwicklungspolitischen Sachverstand in allerhöchstem Maße verkörpert.
Er hat in den letzten Jahren in diesem Bereich deutlich
gemacht, wie man ihn prägen kann. Auch ein wesentlicher Teil des Koalitionsvertrages trägt seine Handschrift.
Wir sollten ihm gemeinsam für die unermüdliche Arbeit
in den vergangenen 20 Jahren danken.
({6})
Lassen Sie mich in den verbleibenden 21 Sekunden
noch einen kurzen Blick in die Zukunft wagen. Die Reformen sind nicht abgeschlossen. Die angesprochenen
Handlungsfelder Konditionierung, Evaluierung und Effizienzsteigerung sind das eine. Aber es liegen in den
nächsten vier Jahren auch noch wichtige Aufgaben vor
uns, zum Beispiel Korruptionsbekämpfung als ein Teil
der Konditionierung. Wir arbeiten nur mit einem Land
zusammen, wenn dort die Korruption bekämpft wird.
Eine bessere Transparenz und eine bessere Abstimmung
der Geber untereinander sind ebenfalls wichtig. Wir sehen das jetzt in Myanmar. Das Land wird fast zugeschüttet mit Geldern, wobei die Projekte nicht richtig koordiniert werden können. Es ist zwar gut, dass dort viel Geld
hinfließt, aber es muss besser und effektiver eingesetzt
werden.
({7})
Ein letzter Punkt: Koordinierung innerhalb der Ministerien ist für uns ein wichtiger Zukunftsaspekt, Koordinierung im Bund-Länder-Bereich ein weiterer. Es steht
also viel an. Packen wir es für die nächsten vier Jahre so
erfolgreich an wie in den letzten vier Jahren.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Roth für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die entwicklungspolitische Debatte ist so wichtig, dass man nicht nur mit Schlagworten agieren darf;
vielmehr muss man auch sehen, was geschehen ist und
was man versprochen hat. Im Koalitionsvertrag steht,
dass man in dieser Regierungszeit eine Ausgabenquote
von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die
Entwicklungspolitik und für die Finanzierung von Projekten und Maßnahmen erreichen will. Das war das Ziel.
Erreicht wurde dieses Ziel nicht. Es sind nur 0,38 Prozent. Wenn man das damit begründet, dass das aufgrund
der Finanzkrise schwierig war,
({0})
dann weise ich darauf hin, dass in den Niederlanden eine
Quote von 0,75 Prozent erreicht wurde. In Dänemark
waren es 0,85 Prozent, in Schweden über 1 Prozent, in
Norwegen auch. Man könnte die Liste noch weiter fortsetzen.
Nein, Herr Minister Niebel, Sie und die Kanzlerin haben Großes versprochen, aber das Versprechen wurde
nicht gehalten. Das ist ein großer Fehler und schadet der
internationalen Glaubwürdigkeit; denn auf Deutschland
schaut die Welt.
({1})
Das nehmen wir wahr, wenn die Kanzlerin auf europäischer oder internationaler Bühne etwas verspricht. VerKarin Roth ({2})
sprechen und nicht halten, das nutzt Deutschland gar
nichts.
({3})
- Herr Heiderich möchte eine Frage stellen. Er darf es,
wenn der Präsident es zulässt.
Ich lasse es zu. Aber Sie als Rednerin müssen es zulassen.
Ja, ich habe schon gesagt, dass er es darf.
Bitte schön.
Frau Kollegin Roth, Sie sind ja nicht die Erste, die
heute Morgen auf die Frage der ODA-Quote eingeht,
aber dabei doch vernachlässigt, darauf hinzuweisen, dass
die Mittel, die Deutschland für die Entwicklungshilfe
einsetzt, von Jahr zu Jahr angewachsen sind und dass wir
inzwischen, je nachdem, auf welchen Bericht man sich
bezieht, der weltweit drittgrößte Geber sind. Das zeigt,
dass diese Regierung sehr erfolgreich war. Ich glaube,
dass Sie dies in Ihrer Darstellung etwas stärker berücksichtigen sollten.
Meine Frage an Sie: Ist es nicht wesentlich bedeutsamer und wichtiger - das haben einige Kollegen vorhin
schon gesagt -, dass wir darauf achten, was bei den betroffenen Menschen vor Ort tatsächlich ankommt und
was wir dort an Entwicklung anstoßen können? Ich
glaube, darauf sollten wir wesentlich mehr Wert legen.
Ich frage Sie, ob das nicht auch für Sie ein bedeutsames
Kriterium ist.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Heiderich, für diese Frage.
Natürlich ist die Frage der Effizienz richtig und wichtig;
das ist unbestritten. Wie sollten wir sonst den Menschen
in unserem Land erklären, wie wir mit unseren Steuergeldern umgehen? Zwischen der Frage der Effizienz und
der Frage der Höhe der Mittel besteht zunächst einmal
kein Zusammenhang. Wenn wir 0,7 Prozent versprechen, sollten wir es einhalten. Kollege Hoppe hat ja gerade ausgeführt, dass im letzten Jahr und in diesem Jahr
die Höhe der Gelder zurückgegangen ist, während man
im Weißbuch ankündigt, dass man 0,7 Prozent erreicht.
Welche Grundrechenart da zugrunde gelegt wird, erschließt sich mir nicht.
Die Themen Effizienz, Koordination und Kohärenz
sind unstrittig. All das sind große Themen. Aber man
muss in die Tiefe gehen, um die Wahrheit zu entdecken,
und dazu komme ich gleich.
({0})
Die Wahrheit ist immer konkret. Wenn wir über Kohärenz sprechen, müssen wir uns die Frage stellen: Wie
wirkt sich das beim Lieblingsthema des Ministers, nämlich Wirtschaft, aus? Wir sind nicht dagegen, dass man
wirtschaftliche Zusammenarbeit organisiert. Warum
auch? Die Frage ist nur: Wie und mit welchen Konsequenzen? Denn wirtschaftliche Entwicklung ist natürlich
eine Voraussetzung dafür, dass die Entwicklungsländer
vorankommen können, und dazu gehört auch nachhaltiges und ökologisches Wachstum. Aber ebenso gehört die
Einhaltung sozialer Standards dazu, und dabei, meine
ich, haben wir einiges versäumt, zum Beispiel bei dem
Thema fairer Handel.
Sie erinnern sich: Wir hatten eine Debatte über die Situation der Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter in Bangladesch. Vor zwei Tagen ist es erneut zu einer Katastrophe gekommen. Wir haben wieder gesagt: furchtbar,
traurig, schrecklich. Aber wir wussten schon vor einem
halben Jahr - eigentlich schon viel länger -, dass wir in
diesem Bereich mehr tun müssen, nämlich die deutschen
und die europäischen Unternehmen zwingen, dass sie
beim Vertragsabschluss mit ihren Partnern, den Zulieferbetrieben in diesen Ländern - Bangladesch und andere -,
die Einhaltung der sozialen und der Umweltstandards
einfordern.
({1})
Darin waren wir eigentlich einer Meinung. Die Frage ist
nur: Was folgt daraus? Im Sinne der Kohärenz folgt daraus, dass wir im Rahmen der CSR-Richtlinie auf europäischer Ebene nun die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die deutschen und die europäischen Unternehmen
die Lieferkettenkontrolle verbindlich einführen.
({2})
Was macht die Bundesregierung, Frau Pfeiffer? Sie organisiert eine Blockade - zunächst Herr Rösler, dann das
Arbeitsministerium -, indem sie die Verbindlichkeit der
Richtlinie in Freiwilligkeit ummünzt. Das bedeutet im
Kern: Es ändert sich nichts.
Deshalb ist das mit der Wirtschaft nicht so einfach;
denn Wachstum allein, ohne dass auf die Einhaltung von
Sozial- und Umweltstandards in den Ländern gedrängt
wird, ist nur der halbe Fortschritt.
Vor dem Hintergrund, dass wir davon profitieren, dass
es dort solche Arbeitsbedingungen gibt, bin ich sehr
froh, dass es viele Initiativen gibt, die sich gerade in diesem Zusammenhang - Fairer Handel, Saubere Kleidung ehrenamtlich engagieren. Ohne die Zivilgesellschaft wären wir in diesen Ländern nicht weit genug. Aber wir
brauchen natürlich auch die Hilfe der Gewerkschaften
und anderer Organisationen, damit sich dort etwas ändert. Wir müssen im Rahmen der CSR-Richtlinie unsere
Karin Roth ({3})
Verantwortung übernehmen und zeigen, dass wir das,
was wir versprochen haben, wirklich ernst meinen.
({4})
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das tun, was auch andere
europäische Länder wollen.
Ein weiteres Beispiel - da die Wahrheit ja immer konkret ist - ist das Thema Frauenrechte; meine Kollegin
Koczy hat schon darauf hingewiesen. Das ist nicht nur
bei uns ein großes Thema in der Entwicklungspolitik.
Die Entwicklung der Frauen in den Ländern ist entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung. Aber was tun
Sie, Herr Minister? Sie haben als Erstes die verabredete
Zielgröße gestrichen. Danach haben Sie 30 Millionen
Euro irgendwie verteilt, und der Gender-Aktionsplan
2012, mit dem die Frauenrechte umgesetzt werden sollen, ist bis heute nicht fortgeschrieben.
Noch Weiteres kommt hinzu: Wir haben einen gemeinsamen Antrag zum Thema Genderpolitik gestellt.
Aber Sie haben diesen Antrag nicht ernst genommen.
Wenn Sie es getan hätten, dann hätten Sie all das, was
wir wollten, in Ihrer Zeit umgesetzt. Schade für die
Frauen und auch schade für unsere gute Zusammenarbeit!
({5})
Das Thema „Soziale Sicherung“ ist ein Schlüsselthema für Entwicklung. Das ist die andere Seite der
Medaille. Ohne soziale Sicherung gibt es auch keine
wirtschaftliche Entwicklung. Das ist eine Sache, die bekannt ist. Aber was machen Sie daraus? Der Minister
kündigt als Erstes die Zielvorgaben im Haushalt für die
soziale Sicherung und unterstützt eben nicht soziale Projekte im Bereich des sozialen Basisschutzes - entgegen
den Vorstellungen der Europäischen Union, der Internationalen Arbeitsorganisation und der Weltbank. Ich bin
der Meinung: Hier müssten wir vorangehen mit unserer
Kompetenz, mit unseren Möglichkeiten der technischen
Hilfe, statt zu blockieren oder das Ganze im Grunde ad
absurdum zu führen, indem wir sagen: Das ist kein
Schwerpunkt. - Es muss in Zukunft wieder einen
Schwerpunkt „Soziale Sicherung“ geben. Deshalb wird
die Sozialdemokratie auch mit Budgethilfe international
helfen.
({6})
Nur so können wir wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit umsetzen.
Kommen Sie bitte zum Schluss!
Ja, ich komme zum Schluss. - Zu guter Letzt: Präsident Obama hat angekündigt, jährlich 1,6 Milliarden
US-Dollar für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von
Aids, Tuberkulose und Malaria zu geben, wenn andere
Länder ihren Beitrag auch verdoppeln. Das würde für
Deutschland bedeuten: nicht 200 Millionen Euro, sondern 400 Millionen Euro. Herr Niebel, Sie haben in Presseerklärungen 1 Milliarde Euro für den Globalen Fonds
angekündigt. Das stimmt nicht. Es sind nur 200 Millionen Euro jährlich.
({0})
Für die nächste Auffüllkonferenz wären es 600 Millionen Euro. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr Beitrag, der zeigt,
dass Sie endlich begriffen haben, dass der Globale Fonds
zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria
wichtig ist?
({1})
Frau Roth, bitte.
Wir, die SPD, und auch die Grünen haben schon lange
die Verdopplung gefordert. Es ist Zeit, dass das kommt.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Dagmar Wöhrl für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vor knapp vier Jahren haben wir dieses
Ressort übernommen. Lange hatte es den Ruf, ein Reformhort der Linken zu sein. Wir mussten aber erkennen, dass der Wind of Change der Globalisierung total
verschlafen worden war. Wir mussten eine Art mentale
Erschöpfung wahrnehmen; ich will jetzt nicht sagen:
Burn-out. Wir haben gemerkt: Da geht nichts mehr voran. Es bestand eine gewisse Selbstzufriedenheit, eine
Neigung, weiter Business as usual zu machen,
({0})
nach dem Motto: Wir machen jetzt mit unserer Budgethilfe einfach so weiter. Wir machen weiter mit unserer
ideologischen Friedenspolitik, wie wir sie bis jetzt gemacht haben. - Man hat sich nicht an die sich ändernden
Zeiten angepasst, wie das notwendig gewesen wäre.
Wir haben also ein solches Ministerium übernommen.
Wenn man Unternehmer gewesen wäre, hätte man sich
die Frage gestellt: Was mache ich angesichts des Burnouts dort? Wickle ich alles ab, oder stelle ich das total
neu auf? Wir haben die Aufgabe angenommen, dieses
Ministerium neu aufzustellen - das war eine Herkulesaufgabe -, und zwar organisatorisch und strukturell.
({1})
Wenn wir heute unsere Leistungsbilanz ziehen, muss
ich sagen:
({2})
Diese Reformschritte waren nicht einfach. Liebe Kollegen von der Opposition, manchmal hätten wir uns gewünscht, dass Sie uns ein bisschen mehr unterstützen
- wir arbeiten doch an einem gemeinsamen Ziel - und
dass nicht immer anderes so sehr im Vordergrund steht,
etwa: Wie schaut die Mütze des Ministers aus? Welche
Autos fahren die GIZ-Mitarbeiter? Das war nicht das
Wichtige, sondern wichtig war es, diese Reformschritte
zu machen, die Reform nach vorne zu bringen. Die internationale Anerkennung, die wir inzwischen wiedererlangt haben, zeigt uns, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben.
({3})
Was war der Kern unserer Regierungspolitik? Was
war das Geheimnis, dass wir so gut vorangekommen
sind? Wir sind teilweise ja besser vorangekommen, als
wir ursprünglich selbst geglaubt haben. Das Geheimnis
war: Wir haben einen klaren Kurs gehabt. Es gibt einen
zentralen Begriff: Wirksamkeit. Der Begriff „Wirksamkeit“ klingt nicht gerade sehr sexy, muss ich sagen.
Wirksamkeit, das klingt so einfach, aber es ist sehr
schwierig, das umzusetzen.
Wirksamkeit bedeutet zum Beispiel politische Steuerungsfähigkeit. Wir haben diese erhöht, indem wir alle
Organisationen zu einer zusammengelegt haben. Die nun
bestehende GIZ ist schlagkräftig. Wir haben international ein einheitliches Gesicht. Wir haben wieder ein deutsches Gesicht bekommen. Ich möchte mich bei allen
Mitarbeitern der GIZ herzlich bedanken, die in der Welt
unterwegs sind. Sie machen eine wirklich tolle Arbeit.
Danke für den guten Ruf, den wir durch Sie haben.
({4})
Wirksamkeit bedeutet aber noch mehr. Wirksamkeit
bedeutet auch Ergebnisorientierung und Ownership. Was
heißt das? Wahr ist: Ohne Geld geht nichts. Das ist gar
kein Thema. Deshalb kann ich zu Recht darauf hinweisen: Wir haben die Mittel immerhin von 8,7 Milliarden
auf 10,2 Milliarden Euro erhöht. Während der Bundeshaushalt nur um 2,6 Prozent gewachsen ist, ist der Haushalt des BMZ um 17 Prozent angestiegen.
({5})
Das lässt sich doch sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Darauf kann man doch stolz sein, vor allem aufgrund der nicht einfachen Zeit, in der sich diese Regierung durch die Finanzmarktkrise befunden hat. Wir sind
kein Almosenministerium. Das sind wir nicht und wollen wir auch nicht sein. Es ist wahr: Ohne Geld geht
nichts. Wahr ist aber auch: Mit Geld allein geht nicht alles.
Ich bin es einfach leid, dass man immer zuerst über
Geld spricht und dann erst über die Aufgaben.
({6})
Es muss umgekehrt sein. Wir müssen zuerst über die
Aufgaben reden und uns fragen: Was wollen wir erreichen? Was sind die Ziele? Dann kann man darüber sprechen, wie viel Geld man benötigt und wie man es effizient und wirksam einsetzt.
({7})
Afrika hat in den letzten 50 Jahren über 1 Billion Dollar an Entwicklungshilfe bekommen. Vor diesem Hintergrund fragt Dambisa Moyo von der Weltbank in ihrem
Buch zu Recht: Geht es den Afrikanern heute wirklich
besser? Hat ihnen das Geld geholfen? Diese Fragen müssen wir stellen. Auch die Weltbank hat in ihrem Bericht
festgestellt, dass 85 Prozent der Fördergelder nicht dort
eingesetzt worden sind, wo sie eigentlich hätten eingesetzt werden sollen. Diese Themen müssen angegangen
werden. Entwicklungshilfe ist oft eher Teil des Problems
als Teil der Lösung. Man darf hier nicht blind sein.
({8})
Man darf nicht sozialideologisch verblendet sein. Man
muss sehen, dass es Probleme gibt, die man angehen und
lösen muss.
Dazu gehört, Eigenständigkeit einzufordern. Deswegen ist es richtig, dass wir heute nicht mehr von Entwicklungshilfe, sondern von Entwicklungszusammenarbeit sprechen.
({9})
Hilfe macht abhängig. Zusammenarbeit hilft, die eigenen Kräfte zu stärken. Die Staaten sind souverän; sie haben auch ihren Stolz. Sie wollen kein Taschengeld empfangen. Sie wollen Hilfe, damit sie sich aus eigenen
Kräften selber entwickeln können. Das haben wir doch
gemerkt. Wie oft sind wir mit Delegationen in Ländern,
in denen gesagt wird: Nein, das Geld ist nicht das
Thema. Wir wollen etwas von eurem Wissen und eurem
Know-how. Wir wollen, dass unsere jungen Leute hier
zukünftig Arbeit bekommen.
({10})
Das müssen wir erkennen und anerkennen. Wir müssen ein Ziel haben - ich bitte Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, dieses Ziel zu unterstützen -: uns überflüssig zu machen, damit wir aus den
Ländern wieder herausgehen können.
({11})
Die bemutternde Haltung, die in der Vergangenheit teilweise eingenommen wurde, widerspricht vollkommen
dem Subsidiaritätsprinzip. Das ist nicht unsere Politik.
({12})
Für uns ist Transparenz wichtig. Für uns ist Rechenschaftspflicht wichtig. Deshalb haben wir als erste Re29990
gierung das Evaluierungsinstitut eingerichtet, damit wir
von Dritten kontrolliert werden. Früher habt ihr euch selber kontrolliert. Die wichtigste Frage ist nämlich, ob ein
Projekt gut und wirksam ist oder nicht. Wir sind auch
froh, dass die EU mit der „Agenda für den Wandel“ unserem Beispiel gefolgt ist.
Meine Damen und Herren, ein Punkt ist auch wichtig:
Wir haben uns um neue Partner gekümmert. Die Entwicklungszusammenarbeit war zu lange ausschließlich
eine Domäne des Staates. Es war eine sozialpolitische
Doktrin: Der Staat wird es schon richten; der Staat ist dafür zuständig.
({13})
Wir haben versucht, andere Partner ins Boot zu holen.
Sie haben lange gesagt, die Wirtschaft soll draußen bleiben. Auch bei Hilfsorganisationen war es so. Der soziale
Gedanke war richtig. Aber mit Wirtschaft und mit
Wachstum wollten Sie überhaupt nichts zu tun haben.
Das ist der falsche Ansatz. Wir haben gelernt. Auch
Weltbankpräsident Kim hat zugegeben, dass er es früher
ebenfalls anders gesehen hat. Er sagt: Die private Wirtschaft entwickelt sich nicht nur im mittelständischen Bereich, sondern auch im Entwicklungsbereich. Er sieht,
wie wichtig die mittelständischen Betriebe in diesem Bereich heute sind. Das ist eine Win-win-Situation. Auch
wir sind hier immens tätig.
Frau Hänsel, Sie haben vorhin nach der Wertschöpfungskette gefragt. Unsere Entwicklungsbank, die DEG,
ist hier unwahrscheinlich aktiv. Ein Beispiel: ein schwäbisches Unternehmen, das in Namibia eine Zementfabrik
betreibt. Namibia hat vorher Zement importieren müssen, weil keine entsprechende Infrastruktur vorhanden
war. Jetzt wurden allein 300 Arbeitsplätze in diesem Bereich geschaffen, indirekt über 2 000 Arbeitsplätze, weil
die Infrastruktur ausgebaut wurde und der Zement jetzt
dort produziert wird. Es ist doch die beste Entwicklungspolitik, wenn Arbeitsplätze in den Ländern geschaffen
werden. Das ist der erste Schritt, um die Armut zu bekämpfen.
({14})
Werteorientierte Entwicklungszusammenarbeit, wie wir
sie verstehen, steht nicht im Widerspruch zur Wahrung
unserer wirtschaftlichen Interessen, im Gegenteil.
Frau Kollegin Wöhrl, bitte denken Sie an die Zeit.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Es gibt viele Tausende
Unternehmer, die auch Stifter sind,
({0})
viele Tausende Unternehmer, die sozial verantwortlich
agieren. Unsere CSR-Richtlinie ist in diesem Zusammenhang ein ideales Vorbild im Ausland. Wir sind froh,
dass wir sie haben.
Gestatten Sie mir einen letzten Satz.
Aber nur einen Satz.
Unsere neuen Partner in der Zukunft - das ist auch
nicht zu vergessen - sind unsere Kinder und Enkelkinder. Wir alle sollten daran arbeiten, sie für die künftige
Entwicklungszusammenarbeit, mit „weltwärts“ oder
dem Europäischen Freiwilligenkorps, zu begeistern. So
haben wir künftig viele Botschafter in der Welt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Hartwig Fischer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Weißbuch ist die Darstellung von Fakten, es ist Bilanz
und Zukunftsherausforderung. Ich verstehe nicht von allen Bereichen der Entwicklungspolitik etwas, auch nicht
von allen Kontinenten.
({0})
Deshalb spreche ich nur über das, was Afrika betrifft.
Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede einen Appell
an uns alle richten: Lassen Sie uns nicht immer über den
Kontinent Afrika als Einheit sprechen, sondern lassen
Sie uns differenzieren - Afrika ist genauso differenziert
zu betrachten wie Europa: ein Kontinent mit 54 Ländern,
mit 54 Regierungen unterschiedlicher Art, unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Chancen -, nur
dann wird man den Ländern Afrikas gerecht.
({1})
Zum Inhalt des Weißbuchs, was die globalen Entwicklungen angeht. Wir wissen, dass wir unsere natürlichen Ressourcen schützen müssen. Wir wissen, dass es
in Afrika ein starkes Wirtschaftswachstum gibt, eine Bevölkerungsdynamik, wir wissen, dass es verändertes
Konsum- und Produktverhalten gibt. Die Mittelschicht
wächst. Bis zum Jahre 2050 wird das Weltbevölkerungswachstum von 7 auf 9 Milliarden steigen, aber die verfügbaren Ressourcen werden nicht mehr.
Um der weltweiten Nachfrage nach Nahrungsmitteln
gerecht zu werden, müsste die Getreideproduktion bis
2050 um 40 Prozent steigen; die Fleischproduktion
müsste sich sogar verdoppeln. Seit 1960 sind 30 Prozent
der Anbauflächen aus verschiedensten Gründen verloren
gegangen. Das heißt, wir müssen mit dem Verbrauch von
natürlichen Ressourcen - Wasser, Land, Boden und Biodiversität - anders umgehen. Wenn wir so weitermachen, brauchten wir bis zum Jahre 2035 - auch das geht
Hartwig Fischer ({2})
aus dem Bericht hervor - einen zweiten Planeten in der
gleichen Größenordnung. Das zeigt: Wir brauchen neue
Entwicklungen.
Herr Minister, ich sage ausdrücklich - auch wenn wir
gestern im Ausschuss die Diskussion kontrovers geführt
haben -: Ich bin Ihnen dankbar, dass wir den Africa
Agriculture and Trade Investment Fund haben. In diesen
Fonds können KfW, Deutsche Bank und private Investoren ihre Mittel einfließen lassen. Er soll Kredite und Garantien bereitstellen, um kleine und mittlere landwirtschaftliche Betriebe zu unterstützen.
({3})
Allein mit staatlichen Mitteln werden wir die Entwicklungen in den Ländern dieser Welt nicht so begleiten
können, wie es im Zusammenhang mit dem Wachstum
der Weltbevölkerung notwendig ist.
({4})
Ich bitte die Opposition, zur Kenntnis zu nehmen
- das ist eben untergegangen -: Natürlich werden diese
Projekte - das steht auch in dem Programm - nur unterstützt, wenn sie den Anforderungen der ILO und den
IFC-Richtlinien entsprechen. Das heißt, dass Aspekte
wie Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung, Gesundheit am Arbeitsplatz, Bedingungen beim Landerwerb, Biodiversität, Umgang mit dem kulturellen Erbe
vor Ort und Behandlung der einheimischen Bevölkerung
nachhaltig mit vereinbart werden. Das ist notwendig.
Die globale Wassernachfrage wird bis 2025 um 35 bis
60 Prozent steigen und sich im Jahr 2050 wahrscheinlich
verdoppelt haben. Ohne eine Effizienzsteigerung in diesem Bereich werden wir die Probleme auch auf unserem
Kontinent nicht lösen können. Deswegen bin ich dankbar, dass in der Entwicklungszusammenarbeit gerade der
Schwerpunkt Wasser deutlich verstärkt worden ist. Das
ist eine Grundlage für das Überleben der Menschen, dafür, dass Landwirtschaft überhaupt stattfinden kann.
Aber wir müssen mit dem Wasser schonend umgehen,
denn es wird auch für die Rohstoffproduktion und Ähnliches genutzt; darauf komme ich gleich noch einmal zurück.
Wir wissen, dass die weltweite Nachfrage nach Energie bis 2030 um 40 Prozent steigen wird, der Stromkonsum sogar um 70 Prozent. Deshalb ist es richtig, dass wir
in unserem Ministerium einen Schwerpunkt bei den erneuerbaren Energien gesetzt haben. In diesem Bereich
zeigt sich deutlich die Kohärenz unserer Politik. Wirtschaftsministerium, Bildungs- und Forschungsministerium sowie Entwicklungsministerium arbeiten dabei zusammen, weil es notwendig ist, neue Formen der
Energieverwendung insbesondere in dezentralen Systemen nutzen zu können.
Das Zusammenspiel von Wasser-, Energie- und
Ernährungssicherheit - der Nexus - betrifft die Wassernutzung zur Wasserkrafterzeugung, zum Abbau von
Rohstoffen, für den Energieverbrauch und für die Landwirtschaft. Wir müssen dabei beachten, dass die UN
schätzen, dass bis 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung - also 6 Milliarden Menschen - in Städten leben
werden.
Ich nenne Ihnen wieder ein Beispiel. Ich war gerade
in Lagos. Schon vor sieben Jahren durfte ich den Bundespräsidenten Horst Köhler nach Lagos begleiten. Damals lebten da um die 17 Millionen Menschen. Diese
Zahl hat sich etwas erhöht. Jetzt wohnen da 21 Millionen
Menschen, und jeden Tag kommen 6 000 Menschen
durch Zuzug oder Geburt dazu.
Diese Stadt hatte die modernste Kläranlage der Welt,
gebaut 1950, als 350 000 Menschen in Lagos lebten. Sie
hat heute noch einen Wirkungsgrad von 20 Prozent. Alles, was dort an Abwässern anfällt, fließt in die Lagunen.
Das alles wird eines Tages bei uns anschwemmen. Das
wird eine der großen Herausforderungen der Zukunft
sein. Deshalb müssen wir uns den Megastädten in besonderer Weise widmen. Auch daran arbeitet eine Arbeitsgruppe im Ministerium.
Ich will noch einmal auf von der Opposition angesprochene Punkte zurückkommen, die mir große Sorgen
bereiten. Das betrifft etwa den Rohstoffbereich. Unsere
Fraktion hat mehrere Rohstoffkonferenzen abgehalten.
Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass
Deutschland mit seinem Lebensstandard auf Rohstoffe
angewiesen ist. Natürlich gibt es da einen Zielkonflikt.
Ich will nicht sagen, dass in der Vergangenheit alles
schlecht war.
({5})
Aber die Zertifizierung von Rohstoffen zum Beispiel haben wir damals begonnen und bis heute fortgesetzt, weil
sich daraus Chancen für die Wertschöpfungsketten der
betroffenen Länder ergeben, sodass dort auch weitere
Wertschöpfungsketten aufgebaut werden können. Ein
Beispiel ist die Holzwirtschaft im Kongo; leider wurden
unsere dortigen Bemühungen durch die Chinesen weitgehend zerstört.
Die Mittel für die Bildung in Afrika, auch die berufliche Bildung, sind gerade aufgestockt worden und haben
sich von 2009 bis 2013 verdoppelt. Ich bitte Sie, Herr
Minister, die Seiten 164 bis 172 aus dem Weißbuch den
Schulen zur Verfügung zu stellen, weil wir in der Bevölkerung eine Grundlage für die entwicklungspolitischen
Diskussionen brauchen, um auf entsprechende Akzeptanz zu stoßen.
Es gäbe so viel zu diesen Themen zu sagen; leider bin
ich fast am Ende meiner Redezeit. Mich hat heute enttäuscht, dass es bei der Opposition offenbar nur noch,
wie bei der Olympiade, um „höher, schneller und weiter“ geht. Es sollte bei der Diskussion über diesen Bericht aber um inhaltliche Fragen - wie man einen besseren Weg finden kann - gehen.
({6})
Zu den anstehenden Wahlen kann ich nur sagen: Wahlen bieten immer eine große Chance zur Neuausrichtung.
Das ist absolut richtig. Wir treten in diesen Wettstreit
Hartwig Fischer ({7})
auch ein. Ich hoffe, dass die Fraktion der Sozialdemokraten wieder Persönlichkeiten wie Karin Kortmann
oder Walter Riester findet, bei denen die Entwicklungspolitik richtig angesiedelt war.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13100 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 sowie den Zusatzpunkt 9 auf:
40 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Steueroasen trockenlegen - offshore und hierzulande
- Drucksache 17/13129 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Dr. Axel Troost,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
- Drucksache 17/13241 Es ist verabredet, eineinhalb Stunden hierzu zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die
Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Fall
Hoeneß hat viele schockiert und enttäuscht, selbst die
Bundeskanzlerin. Aber man muss auch feststellen: Die
Regierungen haben das selbst politisch verschuldet;
denn fast alle - gleich ob Union, SPD, FDP oder Grüne
- haben mit ihrer Politik bei Reichen und Vermögenden
ein Gesellschafts- und Staatsverständnis herbeigeführt,
in dem der Staat als lästiges Übel erscheint und die sozial Benachteiligten als Sozialschmarotzer verunglimpft
wurden und werden.
({0})
Keine der Bundesregierungen seit 2002, weder RotGrün noch Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb, hat irgendetwas Wirksames gegen diese und andere Formen der
Steuerflucht und der Steuerhinterziehung getan.
({1})
Es ist interessant, eine Logik zu durchforsten. Bundesminister Friedrich hat mit Blick auf die Armen aus
Bulgarien und Rumänien gesagt: Wir müssen denen die
Einreise verweigern. - Begründet hat er das damit, dass
die Armen nicht das Land wechseln dürften, um ihre Armut etwas erträglicher zu gestalten. Ich teile seine Logik
überhaupt nicht, aber ich frage Sie: Wenn man schon
eine solche Logik hat, warum ist dann noch niemand auf
die Idee gekommen, den Reichen zu sagen: „Ihr könnt
euch nicht das Land aussuchen, in dem ihr am wenigsten
Steuern bezahlt“, und auch den Unternehmen zu sagen:
„Ihr könnt euch das nicht aussuchen“? Wieso gilt diese
Logik nur für die Armen?
({2})
SPD und Grüne haben das Kasino für Spekulationen
geöffnet. Dadurch kamen so dicke Gewinne zustande,
dass der Anreiz zur Steuerhinterziehung gewachsen ist.
({3})
Die Steuersenkungsgesetze wurden von Ihnen verabschiedet - Sie wissen das -: Spitzensteuersatz gesenkt,
Körperschaftsteuersatz gesenkt und vieles andere mehr.
Das hat natürlich den Reichtum befördert. Andererseits
haben Sie Armut verfestigt und sogar gesteigert, nämlich
durch Hartz IV, durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, durch reale Lohnsenkung, Rentensenkung und anderes mehr.
Wir haben in Deutschland jetzt ein privates Geldvermögen von 10 Billionen Euro. 10 Prozent der Haushalte
besitzen 61 Prozent davon. Das sind über 6 Billionen
Euro. 50 Prozent der Haushalte besitzen von dem gesamten Geldvermögen 1 Prozent. Vor über zehn Jahren
besaßen diese 50 Prozent noch 4 Prozent. Auch das war
schon wenig. Heute besitzen sie aber nur noch 1 Prozent.
Wie wollen Sie das alles rechtfertigen?
({4})
SPD und Grüne haben dann das Gesetz über die strafbefreiende Erklärung gemacht. Dahinter steckt der Gedanke, den Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterziehern noch mehr Straffreiheit zu gewähren. Damals haben
Sie gesagt, dass dadurch wahnsinnig viel Geld hereinkommt: 5 Milliarden Euro. Na gut, es wurden nur
1,4 Milliarden Euro. Das hat sich also wesentlich weniger gelohnt.
Das ganze Herangehen in den vergangenen Jahren hat
die Steuerhinterziehung begünstigt. Damit muss jetzt
Schluss sein. Der Zeitgeist beginnt sich zu ändern.
({5})
Die Große Koalition hat zudem die Abgeltungsteuer
eingeführt. Das muss man sich einmal überlegen: Da
legt einer sein ganzes Geld an und bekommt hohe,
höchste Zinsen. Außerdem beginnt die Steuerpflicht erst
ab einem bestimmten Betrag. Und dann sagen Sie: Für
dieses leistungslos erworbene Geld - dafür hat er nichts
getan; er hat das einfach irgendwohin getan - muss er
25 Prozent Steuern zahlen. Wenn er für dasselbe Geld
gearbeitet hätte, müsste er dafür 42, gegebenenfalls
45 Prozent Steuern zahlen. Wie erklären Sie den Leuten,
dass derjenige, der arbeitet, viel zahlen muss und dass
derjenige, der sein Geld bloß anlegt und dicke Zinsen
macht, wenig zahlen muss?
({6})
Das ist durch nichts gerechtfertigt. Das ist vielleicht eine
Logik!
({7})
Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz von
Peer Steinbrück war ein zahnloser Tiger. Allerdings war
das jetzt von der Koalition aus CDU/CSU und FDP geplante Abkommen zwischen Deutschland und der
Schweiz ein Skandal.
({8})
Gegen einen kleinen Obolus - Sie müssen sich das einmal vorstellen - wären die größten Steuerhinterzieher
einschließlich Uli Hoeneß legalisiert worden.
({9})
Es war völlig richtig, dass SPD, Grüne und Linke das im
Bundesrat verhindert haben.
({10})
Im Übrigen: Wenn das durchgekommen wäre, dann hätten die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in
Deutschland endgültig wie die Dummen ausgesehen.
Auch das wäre nicht gerechtfertigt gewesen.
Steuer-CDs. Ich bestreite doch gar nicht, dass der Ankauf solcher CDs problematisch ist. Man bezahlt Kriminelle; man hält Kriminelle anonym. Ich hätte zwar
wahnsinnige Bauchschmerzen, aber - das muss ich Ihnen sagen - ich wüsste als Landesfinanzminister zurzeit
nicht, wie ich anders an die Informationen über schwere
Straftäter und an das Geld für meine Bevölkerung herankommen soll. Wir müssen endlich eine Lösung finden,
damit Landesfinanzminister nicht mehr gezwungen sind,
solche Wege zu gehen. Ich kann aber verstehen, dass sie
zurzeit diese Wege gehen.
({11})
Offshore-Leaks. Ich will einmal darstellen, was dort
geschehen ist. Da haben nicht etwa Politikerinnen und
Politiker etwas ermittelt, sondern Journalistinnen und
Journalisten und andere Personen. Sie haben Millionen
Daten von über 130 000 Steuerhinterzieherinnen und
Steuerhinterziehern weltweit mit einem Gesamtvermögen von 25 Billionen Euro ermittelt. Das ist das Zehnfache der Wirtschaftsleistung in Deutschland. Das ist ein
Drittel der Weltwirtschaftsleistung. Mein Gott, lassen
sich die Staaten betrügen! Es wird höchste Zeit, dass dagegen etwas unternommen wird.
({12})
Wir haben wiederholt Anträge zur Trockenlegung von
Steueroasen vorgelegt. Wir hatten damit bei Ihnen immer schlechte Karten. Sie haben als Argument gegen unsere Anträge zum Beispiel die Bürokratie genannt. Ich
will gar nicht im Einzelnen darauf eingehen, weil ich
hoffe, dass Sie sich jetzt anders verhalten. Wir müssen
uns jetzt auch anders verhalten.
Wir haben zwei Anträge eingebracht. Was fordern wir
im ersten Antrag?
Erstens. Wir fordern den Aufbau einer Bundesfinanzpolizei. Diese brauchen wir zur wirksamen Bekämpfung
großer Finanzstraftaten dringend. Der Staatssekretär des
Bundesfinanzministers hat dies inzwischen auch gefordert. Also sehe ich bei Union und FDP keinen Grund
mehr, dagegen zu stimmen. Wollen wir einmal sehen,
was passiert.
Zweitens. Wir fordern mehr Fachpersonal. Dieses
braucht man, wenn man wirksam Steuern einziehen will.
Um die Steuerdelikte zu bekämpfen, braucht man
Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder. Allein in Bayern
brauchen wir 1 500 weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wissen Sie, was nicht geht? Es geht nicht, dass
sich Bayern bei den Reichen mit dem Hinweis beliebt
macht, man mache in Bayern nur wenige Betriebsprüfungen, man schaue gar nicht genau hin. Die Begünstigung von Steuerstraftaten darf nicht länger ein Lockmittel einiger Bundesländer in Deutschland sein.
({13})
Das heißt, Bayern muss aufhören, das Eldorado der
Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher zu sein.
Wir müssen auch hier andere Wege gehen.
Drittens. Wir müssen die Steuerpflicht für Einkommen und - wenn wir endlich wieder eine Vermögensteuer erheben - für Vermögen an die Staatsbürgerschaft
binden. Was schlagen wir Ihnen denn hier Schlimmes
vor? Wir schlagen Ihnen vor, US-Recht in Deutschland
zu übernehmen. Was sollte dagegen sprechen? Die USA
machen das so. Ein Deutscher darf ja auf den Seychellen
wohnen. Die Reichen können nach Lichtenstein ziehen;
sie können ziehen, wohin sie wollen. Aber sie sind verpflichtet, bei dem in Deutschland dafür zuständigen
Finanzamt ihr Einkommen anzugeben, ihr Vermögen anzugeben und mitzuteilen, wie viele Steuern sie dafür beispielsweise auf den Seychellen zu zahlen haben.
({14})
Die Differenz zu den Steuern, die in Deutschland gelten,
müssen sie dann überweisen. Diese Pflicht ist an die
Staatsbürgerschaft gebunden. Das machen die USA so.
Weniger als eine Handvoll haben deshalb die US-amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben. Für Deutschland gilt: Die Betreffenden haben schon ihre Gründe,
warum sie Deutsche sein wollen. Versuchen Sie einmal,
Monegasse zu werden. Ich kann Ihnen sagen: Das ist
sehr schwierig.
({15})
- Nein, aber ich habe mich erkundigt, weil ich wusste,
dass so viele von Ihnen darauf reagieren würden. Mir
war gleich klar, dass dieses Argument kommt; aber es
zieht nicht.
({16})
Ich sage Ihnen noch eines. Ich gönne Herrn Beckenbauer alle Bundesverdienstkreuze, die er bekommen hat.
Aber ich finde, es ist eine Unverschämtheit, dass er
Tricks nutzt, um in Deutschland keine Steuern zahlen zu
müssen. Jemand wie er, der in Deutschland wirkt und
agiert, hier aber keine Steuern zahlt, sollte wenigstens
keine Bundesverdienstkreuze bekommen.
({17})
Wir könnten das ganze Thema beenden, indem wir sagen: Du kannst in Österreich wohnen. Aber die Differenz bei der Steuer hast du an Deutschland zu zahlen. Was spricht dagegen?
Viertens. Wir müssen, wie es ebenfalls in den USA
der Fall ist, eine Informationspflicht der Banken im Hinblick auf steuerrelevante Tatsachen einführen.
({18})
Was spricht denn dagegen? Wenn eine Bank diese Informationspflicht verletzt, dann gibt es in den USA empfindliche Geldstrafen; auch diese könnten wir einführen.
Fünftens. Wir brauchen natürlich auch einen Informationsaustausch zwischen Staaten und Banken. Wenn sich
eine ausländische Bank verweigert und sagt: „Von uns
erfahrt ihr nichts“, dann entziehen wir dieser ausländischen Bank in Deutschland die Lizenz. Wenn das auch
Frankreich und - das ist allerdings sehr unwahrscheinlich - Großbritannien machen würden, wenn wir also
immer mehr Länder dafür gewinnen könnten, was glauben Sie, wie schnell die Banken diszipliniert wären?
Man merkt es ja schon jetzt: In Luxemburg denkt man
um, in Liechtenstein denkt man um, selbst in der
Schweiz beginnt man vorsichtig, umzudenken.
Nun zu unserem zweiten Antrag, in dem es um die
Straffreiheit von Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterziehern bei Selbstanzeige geht. Ich weiß, diese Regelung gilt seit über 100 Jahren;
({19})
deshalb hat man sich daran gewöhnt. Ich halte sie für
grundlegend falsch.
({20})
Ich halte sie für ungerecht, weil es eine vergleichbare
Regelung für kleinere Delikte anderer Art nicht gibt.
({21})
- Das ist Quatsch, was Sie sagen.
({22})
Es gibt kein Gesetz, das bei Selbstanzeige Straffreiheit
garantiert.
({23})
Das gibt es nicht für den Schwarzfahrer, nicht für den
Verkehrssünder, nicht für den kleinen Betrüger und nicht
für den kleinen Dieb. Nur im Hinblick auf Steuerhinterziehung in Millionenhöhe gibt es eine gesetzliche Regelung.
({24})
Schon deshalb kann diese Regelung nicht aufrechterhalten werden.
({25})
Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, ein Verfahren einzustellen.
({26})
- Hören Sie zu! - Ich habe gerade die Anklage gegen einen Mann gelesen, der auf der Autobahn rechts überholt
hat. Das ist nicht in Ordnung; aber mehr ist nicht passiert. Es beschäftigen sich zwei Polizisten, ein gut ausgebildeter und teurer Staatsanwalt sowie ein gut ausgebildeter und teurer Richter mit so einem Pipifax! Das muss
aufhören.
({27})
Wir brauchen endlich eine vernünftige Regelung, die besagt, dass Bagatelldelikte anders behandelt werden.
({28})
Wir könnten zum Beispiel sagen - das Stichwort „Bagatelldelikte“ spielt nämlich auch beim Thema Steuern
eine Rolle -: Bei Bagatelldelikten gibt es eine polizeiliche Strafverfügung. Wer sie anerkennt, für den ist die
Angelegenheit erledigt. Wer sie nicht anerkennt, der
kann Einspruch einlegen; erst dann beschäftigt sich ein
Gericht damit. Was spricht denn dagegen? In anderen
Ländern gibt es solche Regelungen. Bei uns müssen sich
Staatsanwälte und Richter mit Kikikram befassen, und
für die großen Fälle haben sie dann keine Zeit mehr. Das
geht gar nicht.
({29})
Deshalb sage ich: Dieses Privileg muss weg.
Das Argument - es ist auch von Herrn Steinbrück angeführt worden, wegen dieses Privilegs habe man so viel
Geld eingenommen - hat sich doch überhaupt nicht bestätigt. Auch Uli Hoeneß hat seine Entscheidung nicht
ganz so freiwillig getroffen, wie er sagt. Vielmehr war es
doch so: Erst wurde das Steuerabkommen mit der
Schweiz abgelehnt, dann wurden die Steuer-CDs geDr. Gregor Gysi
kauft, und dann folgte sein Geständnis. Ich sage Ihnen:
Das hilft uns nicht wirklich weiter, und das ist auch kein
Argument gegen Strafgerechtigkeit.
Ich sage Ihnen noch etwas: Hugo Müller-Vogg hat
gestern in der Bild-Zeitung Folgendes geschrieben
({30})
- hören Sie zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union; in Ihrer Bild-Zeitung -:
Deshalb gehört die Strafbefreiungs-Möglichkeit für
asoziale Reiche endlich abgeschafft.
Recht hat die Bild-Zeitung von gestern; das muss ich zugeben.
({31})
Ich weiß, dass noch viel mehr gegen Steuerhinterziehung zu tun wäre.
({32})
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
kümmert sich plötzlich darum, dass deutsche Banken in
22 Steueroasen Sitze haben.
({33})
Da geht es um ein riesiges Vermögen von 152 Milliarden
Euro. Die Deutsche Bank unterhält in ihrer Filiale in
Singapur ein Netzwerk von über 300 Trusts und Firmen.
Herr Gysi? - Ich weiß, Sie sind immer erstaunt darüber, dass ausgerechnet ich Ihnen sagen muss, dass Ihre
Redezeit vorbei ist.
Ist meine Redezeit schon vorbei? Das ist sehr bedauerlich.
Zum Schluss sage ich Ihnen nur noch eins: Wir haben
die Chance, mit gutem Beispiel voranzugehen. Heute
müssen Sie Farbe bekennen. Stimmen Sie beiden Anträgen zu,
({0})
und das Werk der Steuerflucht und der Steuerhinterziehung ist arg beeinträchtigt. Glauben Sie es mir!
({1})
Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heute vorliegende Antrag der Linken hat den Titel
„Steueroasen trockenlegen - offshore und hierzulande“.
Offshore - ja. Aber hierzulande? Wenn jemand hier im
Deutschen Bundestag behauptet, dass es in Deutschland
Steueroasen gibt,
({0})
dann beschimpft er sein eigenes Land.
({1})
Dann beschimpft er alle Regierungen und alle Bundesländer in Deutschland.
({2})
Es ist eine schäbige Schmutzkampagne, die hier betrieben wird. Es gibt keine Steueroasen in Deutschland.
({3})
Da Sie vonseiten der Linken so dagegen brüllen: Ich
erinnere mich gerne an unseren Kollegen Karl-Josef
Laumann, Sozialpolitiker und Sozialminister in Nordrhein-Westfalen,
({4})
der hier an dieser Stelle sinngemäß gesagt hat: Ich war
1990 in Mecklenburg-Vorpommern und habe dort zum
ersten Mal ein Pflegeheim in der DDR gesehen: die
durchgelegenen Matratzen, die rostigen Gestelle. Als ich
die Zustände dort gesehen habe, habe ich mir geschworen: Mir wird niemals mehr ein Sozialist oder Kommunist sagen können, was Sozialpolitik ist. - Das gilt auch
für diesen Bereich.
({5})
Die internationale Besteuerung steht bei allen internationalen Konferenzen ganz oben auf der Tagesordnung.
Unser Finanzminister hat dieses Thema bei den G-5-Verhandlungen, also bei den großen 5 in Europa, und bei
den G-20-Verhandlungen, also bei den großen 20 in der
Welt, immer wieder auf die Tagesordnung gebracht. Unser Finanzminister ist derjenige, der dieses Thema weltweit vorantreibt.
({6})
Wir müssen sehr genau zwischen Steuergestaltung
und Steuervermeidung unterscheiden. Was ist Steuergestaltung? Vom Bundesverfassungsgericht ist deutlich gemacht worden, dass man innerhalb des Geltungsbereiches des deutschen Steuergesetzes selbstverständlich die
Vorteile des Steuergesetzes nutzen darf. Demgegenüber
steht die Steuervermeidung. Diese wird im internationalen Bereich sehr intensiv diskutiert. Es gibt Firmen wie
Amazon, Starbucks und Google, die durch Lizenzen und
Patente in der Tat Gewinne ins Ausland verlagern, indem sie sie über Holland oder über Irland in Steueroasen
transferieren. Unser Finanzminister hat gerade die soge29996
nannte BEPS-Initiative ergriffen, um dagegen vorzugehen. Das wird sogar federführend von der deutschen
Seite betrieben. All das haben wir auf internationaler
Ebene in der letzten Zeit erreicht.
({7})
Neben der Steuervermeidung und der Steuergestaltung gibt es selbstverständlich die Steuerhinterziehung.
Das ist ein Straftatbestand. Es ist nicht zu ertragen, wie
viele hier Steuern hinterziehen. An dieser Stelle müssen
wir scharf durchgreifen. Das tun wir in diesem Staat
auch.
({8})
So haben wir gemeinsam mit Ihnen in der Großen Koalition die Verjährungsfrist für schwere Straftaten von fünf
auf zehn Jahre verlängert. Das ist doch ein Erfolg; das
sollten Sie einmal anerkennen.
Herr Gysi, Sie haben gerade davon gesprochen, dass
die Steuerpflicht an das Staatsangehörigkeitsrecht geknüpft werden sollte. Wir wissen, dass das weltweit nur
Liberia und die USA so handhaben.
({9})
Das Rechnungsprüfungsamt des US-Kongresses sagt:
Wir erfassen maximal 40 Prozent unserer Staatsbürger
weltweit, weil wir keinen Einfluss darauf haben, wie die
Besteuerung bzw. die Einkünfte beispielsweise in Sri
Lanka, in Indien, in Südamerika oder in Kasachstan aussehen. - Das ist der Widerspruch in Ihrem Antrag. Auf
der einen Seite sagen Sie: Alle deutschen Staatsbürger
sollen erfasst werden. Auf der anderen Seite fordern Sie
aber, dass auch alle in Deutschland mit einer Daueraufenthaltsgenehmigung lebenden Menschen zu 100 Prozent erfasst werden sollen.
({10})
Ich frage mich: Wofür haben wir denn dann die Doppelbesteuerungsabkommen? Sie wollen die Menschen doch
wieder nur einschränken. Sie sind doch gegen die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit. Das ist Ihre
Politik.
({11})
Wir haben in diesen dreieinhalb Jahren 40 Doppelbesteuerungsabkommen, auch mit vielen Steueroasen, geschlossen. Wir haben auf Anfrage den Informationsaustausch auf OECD-Standard umgestellt. In der letzten
Legislaturperiode hat Herr Steinbrück übrigens nur 6 Doppelbesteuerungsabkommen umgesetzt. Herr Schäuble dagegen hat 40 umgesetzt. In der Fußballersprache - Fußball ist in dieser Woche ein großes Thema - würde man
sagen: Es steht 8 : 1 im Spiel Schäuble gegen
Steinbrück. Das sollten wir einmal festhalten.
({12})
Sie haben von einer Bundesfinanzpolizei gesprochen.
Selbstverständlich sind wir nicht dagegen, dass auf Bundesebene Dinge konzentriert werden, wie es zum Beispiel beim Bundeszentralamt für Steuern der Fall ist. Es
gab in dieser Legislaturperiode eine Untersuchung dahin
gehend, ob die Fahndung und das Kriminalamt aus dem
Zoll herausgelöst werden sollen. Die Entscheidung der
Kommission lautete: Tun Sie es nicht! Das gibt nur Verwerfungen und neue Friktionen. Das hat keinen Sinn.
Außerdem ist das eine Sache der Länder. Das sollten wir
nicht vergessen: Die Steuerermittlung ist eine Sache der
Länder. Für eine Neuregelung bräuchte man eine Föderalismuskommission III. Aber wenn es um Fragen der
Verfassung geht, sind Sie bekanntermaßen sehr zurückhaltend.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist der internationale Informationsaustausch. Den OECD-Standard haben wir erreicht. Wir arbeiten weiter am internationalen
Informationsaustausch: In der nächsten Sitzungswoche
werden wir hier das Informationsabkommen FATCA mit
den USA verabschieden. Dieser automatische internationale Informationsaustausch ist wichtig.
({13})
- Herr Zöllmer, Sie haben gerade dazwischengeschrien.
Seit zehn Jahren gibt es in Europa die Zinsrichtlinie.
({14})
Bei der Umsetzung der Zinsrichtlinie hat Rot-Grün ordentliche Steuerschlupflöcher eröffnet; denn man hat
sich nur auf ein Abkommen über Zinsen einigen können
und hat Österreich, Luxemburg und Belgien einfach außen vor gelassen. Sie haben diese Länder nicht einbezogen, weil Sie das damals nicht umsetzen konnten.
({15})
Wir fordern auch die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen, von Dividenden, auf Stiftungen, auf Trusts
und auf alle Körperschaften; das ist unsere Forderung,
die wir in der nächsten Zeit umsetzen wollen, meine Damen und Herren.
({16})
Die Steueramnestie, die Rot-Grün vor wenigen Jahren
umgesetzt hat - mit einem Sonderangebot von 15 Prozent -, wurde uns hier als Förderung der Steuerehrlichkeit verkauft.
Sie wissen: Wir haben die Regeln für die Selbstanzeige in Deutschland dramatisch verschärft. Nur wenn
man sich lückenlos erklärt und die Finanzbehörden noch
keinerlei Kenntnisse haben, ist eine Selbstanzeige möglich - wie sie übrigens auch in anderen Bereichen nach
dem Strafgesetzbuch möglich ist.
Sie haben das deutsch-schweizerische Abkommen
mit Häme bedacht - wir hatten hier diese Woche eine
große Diskussion zu diesem Thema -; aber Sie wissen
alle genau, dass 90 Prozent aller Steuernachzahlungen
bei einer Selbstanzeige, inklusive der 5 Prozent Strafgebühr, geringer sind als nach dem Steuerabkommen mit
der Schweiz. Mit diesem Abkommen hätten wir 21 bis
41 Prozent aller Vermögen bekommen. 56 Prozent aller
Konten in der Schweiz sind älter als zehn Jahre; diese erfassen wir mit der Selbstanzeige nicht. Der Bund hätte
mindestens 10 Milliarden Euro eingenommen.
({17})
Die Steuergewerkschaften - gehen Sie einmal auf deren Homepages - gehen von der dreifachen Höhe aus.
Weil Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite
des Hauses, diesem Abkommen nicht zugestimmt haben,
müssen wir allein wegen Verjährung auf 6 bis 15 Milliarden Euro verzichten.
({18})
Von allen Erbschaften, bei denen das Konto nicht bekannt ist, hätten wir 50 Prozent erfasst, und in Zukunft
wäre die Besteuerung die gleiche gewesen wie in
Deutschland.
Ich komme zum Schluss. Viele verlassen Deutschland, darunter Sportler wie Vettel und Schumacher. Ich
finde das traurig. Es tut sehr weh, dass Leute, die hier
Erfolg gehabt haben, das Land verlassen. Aber das
Schlimmste ist, wenn Rot, Grün oder Dunkelrot mit ihrer
Vermögensteuer hier jetzt noch zugreifen wollen.
Herr Kollege.
Die Steuerehrlichen, die ihren Wohnort in Deutschland haben, wollen Sie mit Ihrer Vermögensabgabe
({0})
von 5 Prozent jährlich enteignen.
({1})
Wenn diese Vermögensteuer umgesetzt wird, gibt es
keine Investitionen mehr in Deutschland, und noch mehr
Leute werden das Land verlassen.
({2})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen, bitte.
Schwarz-Gelb will diesen Staat sicher und stabil halten; das ist unser Anspruch.
({0})
Jetzt hat Joachim Poß das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst zum Antragsteller. Herr Gysi,
zu Ihrem Repertoire gehörte schon immer die Geschichtsklitterung - bei all Ihren Reden natürlich rhetorisch sehr gut ausgeschmückt. Das praktizieren natürlich
auch andere: So hat sich Frau von der Leyen hier gestern
als Erfinderin des Mindestlohnes stilisiert.
({0})
Das kann man Ihnen so nicht durchgehen lassen.
Nach der Bundestagswahl 2002 war die Linke hier
nur noch mit zwei Abgeordneten vertreten. Vielleicht ist
im kollektiven Gedächtnis der Partei deshalb nicht so
recht verankert, dass Rot-Grün 2002 in der Koalitionsvereinbarung die Aufhebung des Bankgeheimnisses verabredet hat. Weil ich ziemlich viel damit zu tun hatte,
weiß ich das noch so genau. Wir haben das im Bundestag durchgesetzt. Es ist dann im Bundesrat an SchwarzGelb gescheitert.
({1})
Der Kompromiss, der herauskam, war der sogenannte
Kontenabruf.
Schauen Sie sich als nächsten Punkt die sogenannte
Deregulierung auf den Finanzmärkten in Deutschland
genau an, und zählen Sie doch einmal die Anzahl der
Hedgefonds, die sich anschließend in Frankfurt oder wo
auch immer niedergelassen haben! Sie wissen genau,
dass die Debatte, die Sie da führen, eine Phantomdebatte
ist.
Eichels Brücke zur Steuerehrlichkeit - von Ihnen angesprochen - setzte natürlich eine Aufhebung der Anonymität voraus.
({2})
Da mussten die Leute die Hosen herunterlassen. Das
deutsch-schweizerische Abkommen von Schwarz-Gelb
sollte dagegen geschaffen werden, um den Steuerkriminellen die Anonymität zu belassen. Das ist der Unterschied.
({3})
Wir Sozialdemokraten lassen uns von Ihnen hier nicht in
einen Topf mit anderen werfen. Das sage ich ganz klar.
Nun komme ich zu den Ankündigungspolitikern von
Schwarz-Gelb. Die überbieten sich ja jeden Tag mit
neuen Ankündigungen. Der Minister wird auf dem Feld
jetzt richtig aktiv. Bis vor einem halben Jahr hat man mit
Ausnahme dieses verkorksten Steuerabkommens mit der
Schweiz kaum etwas von ihm zu diesen Fragen gehört.
({4})
Das Urteil zum Steuerabkommen mit der Schweiz ist
gesprochen. Das werden Sie auch nicht mehr korrigieren
können,
({5})
weil spätestens nach dem jetzt bekannt gewordenen prominenten Fall, als Uli Hoeneß eingestand: „Ich habe darauf gewartet, dass dieses Abkommen kommt“, den Leuten klar wurde, was das eigentlich bedeutet hätte. Dieses
Abkommen kam aber nicht, und dann mussten andere
Wege gesucht werden.
({6})
Herr Flosbach, Sie versuchen, den Schwarzen Peter
bei anderen zu finden: bei der Europäischen Kommission, der OECD, den G 20, Liechtenstein, Österreich,
Großbritannien. Der Schwarze Peter hat bei Ihnen viele
Namen, weil Sie einen Schuldigen suchen: für den jahrelangen Stillstand im Kampf gegen Steuerhinterziehung,
den Sie zu verantworten haben,
({7})
für die Blockade der Verhandlungen zur europäischen
Zinsrichtlinie und für die Steuerschlupflöcher für Reiche
und Großkonzerne.
({8})
Ich warne Sie aber: Der Schwarze Peter geht reihum,
und am Ende kommt er zurück. Und das ist auch gut so;
denn der Kampf gegen Steuerhinterziehung beginnt vor
der eigenen Haustüre, also hier in Deutschland, und hier
sind Sie als Koalition zuständig. Dieser Verantwortung
entziehen Sie sich.
({9})
Wenn jetzt nach all der Aufregung um OffshoreLeaks, neue Steuer-CDs und die Steuerhinterziehung
von Prominenten eines deutlich geworden ist, dann das,
dass Sie Ihre Verantwortung über Jahre nicht wahrgenommen haben.
({10})
Jetzt versuchen Sie, wie gesagt, wirklich verzweifelt, die
Verantwortung abzuschieben.
({11})
Einen Kronzeugen für den bisherigen Kuschelkurs
gegenüber Steuerkriminellen nennt heute Deutschlands
auflagenstärkste Tageszeitung. Ein Schweizer Banker
aus Zürich wird mit den Worten zitiert:
Zum Glück ist die deutsche Regierung nicht so entschlossen wie die amerikanische …
Das zeigt doch wieder einmal: Sie selbst haben den Stillstand im Kampf gegen Steueroasen ganz stark mitzuverantworten. Sie haben zu verantworten, dass den deutschen Steuerflüchtlingen in der Schweiz über Monate
die Hoffnung auf ewige Anonymität gemacht wurde. Sie
haben die Verantwortung für die gescheiterten Verhandlungen zur europäischen Zinsrichtlinie zu tragen. Sie haben der Schweiz eine Privilegierung angeboten, die Österreich und Liechtenstein dann auch für sich gefordert
haben.
Inzwischen kommen Sie langsam wie ein überzeugter
Wendehals zur Vernunft, aber nicht aus eigener Einsicht,
sondern weil der öffentliche Druck Tag für Tag steigt,
und fordern jetzt den automatischen Informationsaustausch als neuen Standard, den Sie mit dem DeutschSchweizer Abkommen systematisch unterlaufen wollten. Das hat doch die Neue Zürcher Zeitung berichtet.
({12})
Die Strategie der Schweizer Regierung - das stand in
der Neuen Zürcher Zeitung -, die europäischen Regierungen gegeneinander auszuspielen, ist an der deutschen
Opposition gescheitert. Jawohl, an der deutschen Opposition und an nichts anderem ist sie gescheitert!
({13})
Wir wollen einen automatischen Informationsaustausch
für alle Kapitaleinkünfte und für alle juristischen und natürlichen Personen.
Beim Jahressteuergesetz 2013 waren sich Bund und
Länder im Vermittlungsausschuss schon einig, wie man
Steuerbetrug in Deutschland bekämpfen kann. Wir
könnten zum Beispiel das Außensteuergesetz ändern.
Dann könnten wir Einkommen aus ausländischen Familienstiftungen denjenigen zurechnen, die ihr Geld in
diese Stiftungen gesteckt haben, und somit diese Einkünfte endlich der vollen Besteuerung zuführen. Wir
könnten auch endlich den automatisierten Informationsaustausch im EU-Amtshilfegesetz einführen oder endlich den bisher legalen Erbschaftsteuertrick der CashGmbHs verhindern. Ihr gestern verabschiedeter Vorschlag fällt leider hinter die bereits getroffene BundLänder-Einigung zurück.
({14})
Auch wenn es Sie vielleicht wundert: Das alles sind
Sachen, die Sie, wenn Sie es mit dem Kampf gegen die
Steuerhinterziehung ernst meinten, ganz einfach machen
könnten. Ihnen fehlt aber der politische Wille, ernst zu
machen. Sie erwecken nur den Anschein, als wollten Sie
sich engagieren.
({15})
Über die Verhältnisse in Bayern - damit meine ich
nicht die Menschen in Bayern, sondern die bayerische
CSU - will ich gar nicht reden, also auch nicht darüber,
wie es da mit der Steuerfahndung aussieht, die zu
40 Prozent nicht besetzt ist, nicht darüber, dass Herr
Seehofer wohl noch nie etwas vom Steuergeheimnis gehört hat. Es gibt dort skandalöse Vorgänge, die man aufarbeiten muss.
Wir müssen auch über die strafbefreiende Selbstanzeige reden, die Sie nicht antasten wollen. Sie kommt
aus einer Zeit, in der der Staat nur hoffen konnte, dass
sich Steuerbetrüger von selbst stellen. Aber diese Zeiten
sind vorbei. Der Wind hat sich gedreht. Steuerbetrüger
geraten an vielen Stellen immer mehr unter Druck. Wenn
jetzt noch jemand die Selbstanzeige nutzt, dann doch
nur, weil er weiß, dass er in Bälde so oder so enttarnt
wird.
Wir stellen uns die Beibehaltung der Selbstanzeige
für eine Übergangsfrist und dann eine ganz starke Einschränkung bis auf Bagatellfälle vor. Das ist unser Konzept. Das sage ich hier ganz offen, weil in der Öffentlichkeit unterschiedliche Eindrücke aufgekommen sind.
Unser Konzept knüpft an das Konzept an, das die SPDBundestagsfraktion im Frühjahr 2010 in den Deutschen
Bundestag eingebracht hat.
({16})
Fangen Sie also endlich an, Ihre Hausaufgaben zu
machen. Schließen Sie umgehend die Steuerlücken, die
Sie als Gesetzgeber auch ohne internationale Hilfe
schließen können. Es ist nämlich schlicht falsch, wenn
Schäuble, Rösler, Wissing und Co behaupten, man
könne ohne internationale Partner gar nichts ausrichten.
Streichen Sie nicht das Jahressteuergesetz zusammen,
sondern stimmen Sie der Vorlage im Vermittlungsausschuss zu, wenn Sie es mit dem Kampf gegen Steuerhinterziehung ernst meinen.
({17})
Jetzt hat der Kollege Dr. Volker Wissing das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wer diese Sitzungswoche, die bisherige
Debatte und insbesondere die Beiträge der Opposition
({0})
verfolgt hat, der fragt sich, warum man zu einem so
wichtigen Thema so viel Unsinn von sich geben kann.
({1})
Herr Gysi stellt sich hier an das Mikrofon und erklärt
der deutschen Öffentlichkeit, noch keine Bundesregierung habe etwas Nennenswertes gegen Steuerhinterziehung getan. Herr Gysi, das ist ein so geballter Unsinn.
Bisher hat jede Bundesregierung nach Kräften gegen
Steuerhinterziehung gekämpft. Das ist die Wahrheit, und
das wissen Sie auch.
({2})
Es gab allerdings unterschiedliche Konzepte. Die Sozialdemokraten hatten für das Problem mit der Steuerflucht in die Schweiz den Vorschlag, dass diejenigen, die
sich freiwillig melden, mit einer Besteuerung von
15 Prozent pauschal abgegolten werden; diejenigen, die
sich nicht melden, konnten selbstverständlich in der Anonymität bleiben und brauchten nichts zu bezahlen. Das
Konzept, das wir ausgehandelt haben, war, dass alle lückenlos besteuert werden - dem könnte sich also keiner
mehr entziehen -, und zwar mit Steuersätzen zwischen
21 und 41 Prozent.
Das sind unterschiedliche Konzepte. Wir sagen: Lückenlose Besteuerung ist gerechter; jeder soll bezahlen.
Sie hingegen sagen: Bezahlen sollen nur diejenigen, die
sich freiwillig melden, oder diejenigen, die man erwischt. Auch wenn diese Ansätze unterschiedlich sind,
ist das Ziel das gleiche: Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Man kann es lückenhaft oder lückenlos machen. Wir
waren und bleiben für eine lückenlose Besteuerung.
({3})
- Jetzt rufen Sie wieder herein: Aber nach Ihrem Konzept wären die Steuerhinterzieher anonym geblieben. Ja,
das stimmt. Wenn man sich nämlich für den Weg des lückenlosen Besteuerns entscheidet, ist die Anonymität die
Kehrseite der Medaille; denn die Schweiz kann ihre Gesetze nicht rückwirkend ändern.
({4})
Sie sollten aufhören, dagegen zu argumentieren; denn
alles, was Sie gegen unsere Argumente sagen, ist entweder Lüge oder Täuschung der Öffentlichkeit.
({5})
Dafür ist dieses Thema wirklich zu ernst.
({6})
- Jetzt ruft hier jemand „Winkeladvokat“.
({7})
Wissen Sie, besser Winkeladvokat, als von der deutschen Verfassung keine Ahnung zu haben. Darin sind
Sie nämlich ganz groß.
({8})
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre es doch
an der Zeit, dass wir über dieses Thema einmal sachlich
reden; denn die Öffentlichkeit ist es doch leid, von der
Opposition bei diesen Fragen vergackeiert zu werden.
Sie unterbreiten der Öffentlichkeit zu diesem Thema seit
Monaten nur Täuschung, Lüge, Unwahrheiten.
({9})
Jetzt kommen Sie mit dem Thema Bundesfinanzpolizei. Ja, es ist in Deutschland immer wieder diskutiert
worden, dass die Art der Steuererhebung und auch die
Art der Steuerprüfung durch die einzelnen Finanzverwaltungen der Länder unterschiedlich erfolgen. Auch
die Personalstärke in der Finanzverwaltung - auch bei
der Steuerfahndung - ist unterschiedlich. Das ist thematisiert worden. Aber das hat doch nichts mit Bayern zu
tun, Herr Gysi.
({10})
Sie wollen doch immer so objektiv wirken. Dann wäre
es gut gewesen, wenn Sie das Land Berlin genommen
hätten, und zwar in der Zeit, in der die Linken dort Regierungsverantwortung gehabt haben.
({11})
Dort haben Sie nämlich genau in diesem Bereich der
Finanzverwaltung, bei der Steuerfahndung, Personal abgebaut.
({12})
Das war doch die Politik der Linken. Wenn Sie der Öffentlichkeit erklärt hätten, warum Sie das gemacht haben, dann wäre etwas Sachlichkeit in diese Debatte gekommen. Stattdessen reden Sie von Bayern.
({13})
Sie können doch die Dinge dort regeln, wo Sie Regierungsverantwortung haben. Tun Sie das doch einmal!
({14})
Sie kommen uns immer mit der OECD und den
Steueroasen. Auf der aktuellen Liste der OECD wird
kein einziges Land weltweit als Steueroase geführt. Woran mag das wohl liegen? Das mag daran liegen, dass die
Bundesregierung in den letzten Jahren massiv daran gearbeitet hat, dass über die Umsetzung von Abkommen
die Steueroasen ausgetrocknet werden. Das ist ein guter
Weg.
({15})
Wir haben mit 93 Staaten Doppelbesteuerungsabkommen im Einkommensteuerbereich. Wir haben sechs
Doppelbesteuerungsabkommen im Erbschaft- und
Schenkungsteuerbereich, zwölf im Unternehmensteuerbereich und 26 Abkommen im Bereich der Rechts- und
Amtshilfe sowie beim Auskunftsaustausch.
({16})
Sie haben gesagt: Keine Regierung hat etwas Nennenswertes getan. - Was glauben Sie, was die Öffentlichkeit über Sie denkt, Herr Gysi, nachdem Sie diese
Unwahrheiten am Mikrofon gesagt haben?
({17})
Jetzt kommen wir zur strafbefreienden Selbstanzeige.
Herr Poß hat versucht, die fünf Meinungen, die diese
Woche seitens der SPD zu diesem Thema vertreten wurden, zu einer zusammenzuführen.
({18})
Die Wahrheit ist: Poß hat gesagt: Die strafbefreiende
Selbstanzeige soll abgeschafft werden. Steinbrück hat
gesagt: Sie soll beibehalten werden. Dem Herrn Gabriel
war es peinlich, und so hat er dann gesagt: Na ja, wir
wollen sie irgendwie schon abschaffen, aber erst einmal
beibehalten, und mittelfristig muss man mal schauen. Das ist die Meinung, die die SPD dazu geäußert hat.
Jetzt kann ich Ihnen sagen, warum Herr Steinbrück
sagt, er will sie nicht abschaffen.
({19})
Man braucht sie im Bagatellbereich. Wenn ein Bürger
einmal vergessen hat, etwas in seiner Steuererklärung
anzugeben, und das nachliefert, dann soll er nicht in Verdacht kommen, sodass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und geprüft werden muss, ob das vorsätzlich oder
fahrlässig war, und das wegen 5 Euro. Das würde die
Finanzverwaltung lahmlegen, und das ist auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht zuzumuten.
Herr Wissing, es gibt eine Zwischenfrage von der
Linken.
Ich möchte weiterreden. Von der Opposition kommt
zu diesem Thema nur Quatsch. Dafür brauchen wir in
diesem Haus nicht die Zeit zu verschwenden.
({0})
- Ja, seit Monaten kommt nur Quatsch.
Jetzt will ich Ihnen auch sagen, warum die strafbefreiende Selbstanzeige erforderlich ist.
({1})
Ich habe das diese Woche hier schon einmal gesagt, aber
Sie wollen es ja nicht wahrhaben. Es gibt im Besteuerungsverfahren die Pflicht des Bürgers, sich der Finanzverwaltung wahrheitsgemäß zu offenbaren. Seit Abschaffung der Inquisition 1848 haben wir den Grundsatz
„Nemo tenetur“: Kein Straftäter muss an seiner Überführung mitwirken und sich selbst belasten.
Hier besteht ein Widerspruch: Ich kann nicht einerseits von einem Steuerhinterzieher erwarten, dass er sich
offenbart, und ihm andererseits sagen: Du musst dich
aber nicht selbst belasten. Deswegen gibt es die strafbefreiende Selbstanzeige. - Jetzt ist die Opposition aber erstaunt!
({2})
Herr Gysi hatte jetzt 20 Jahre Zeit, sich mit der
Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland auseinanderzusetzen.
({3})
Herr Gysi, Sie könnten das längst wissen. Aber entweder
hängen Sie noch geistig in der Verfassungssituation der
DDR fest, oder Sie verkünden der Öffentlichkeit den
größten Quatsch.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten ein Besteuerungsabkommen vorgelegt, das für die Vergangenheit die lückenlose Besteuerung aller Steuerhinterzieher
sichergestellt hätte - zugegeben mit Anonymität, weil es
nicht anders ging - und für die Zukunft eine hundertprozentige Sicherstellung der Besteuerung ohne die Möglichkeit der Steuerhinterziehung. Sie haben das abgelehnt.
Nach Ihren Debattenbeiträgen komme ich langsam zu
dem Eindruck, Sie lehnen die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ab, weil Sie versuchen, aus dem Thema
politisch Kapital zu schlagen. Das ist die eigentliche
Schweinerei Ihrer politischen Haltung.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambke
für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Debatte ist mit
Recht engagiert. Sie ist mit Recht zum Teil auch polemisch; denn es geht wirklich um viel. Insofern, denke
ich, ist es schon gut, ein bisschen zu den Tatsachen zurückzukommen. Herr Flosbach, immer wenn Sie laut
werden - das habe ich in den letzten drei Jahren gemerkt -,
dann wird die Argumentationskette etwas dünner. Bei
Herrn Wissing ist das ähnlich.
({0})
Erstens. Was Sie hier nicht erwähnen, ist der Inhalt
des Art. 10 in dem Schweizer Steuerabkommen. In
Art. 10 - das werden Sie nicht auswendig wissen - ist
als Alternative zu dem, was Sie dargestellt haben, nämlich eine Pauschalbesteuerung zwischen 21 und 41 Prozent, die strafbefreiende Selbstanzeige explizit vorgesehen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass sich der
Steuerpflichtige in Form einer Günstigerprüfung - dafür
gibt es Gelegenheit, dafür wird extra Zeit eingeräumt zurücklehnen und sich fragen kann: Ziehe ich mich in
die kuschelige Anonymität des Abkommens zurück,
dann muss ich vielleicht ein bisschen mehr zahlen, oder
nutze ich die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige und zahle vielleicht weniger, muss aber dem Finanzamt, nicht der Öffentlichkeit, offenlegen, was ich
mit meinem Geld gemacht habe? - Das aber erzählen Sie
den Leuten nicht. Deshalb stimmt Ihre gesamte Argumentation nicht.
({1})
- Lesen Sie es bitte schön nach.
Zweitens. Sie haben über FATCA gesprochen. Dabei
haben Sie so getan, als ob ein FATCA-ähnliches Abkommen bereits beschlossene Sache sei und in der nächsten
Sitzungswoche im Bundestag endgültig abgesegnet
werde.
({2})
Wir hatten Professor Grinberg in den Finanzausschuss
eingeladen. Da kannten Sie den Begriff „FATCA“ noch
gar nicht richtig.
({3})
Sie wussten nicht, dass die USA und die Schweiz schon
im Mai letzten Jahres FATCA unterzeichnet hatten und
damit einen neuen Weg eingeschlagen hatten, nämlich in
den automatischen Informationsaustausch. Erzählen Sie
hier also nicht so einen Blödsinn!
({4})
Drittens. Herr Wissing, Sie haben zu Recht und in
sehr ruhiger Weise vorgetragen - das finde ich gut -,
dass es bei Ihrem Konzept die Wahl zwischen Anonymität und Offenlegung - aber nicht öffentlich - gegenüber
dem Fiskus gab. Was Sie aber verschweigen, ist, dass die
Vorsitzende des Finanzausschusses mit uns in Luxemburg
war und die Kollegen in Luxemburg und auch in Österreich explizit erklärt haben, dass Luxemburg und Österreich dann, wenn das Steuerabkommen mit der Schweiz
beschlossen und die darin vorgesehene Anonymität zugesichert wird, der EU-Zinsrichtlinie nicht zustimmen
werden. Das ist doch die Wahrheit.
({5})
- Nein, sie gehört nicht dazu, aber Luxemburg und Österreich haben sich daran orientiert. Das ist doch der
Punkt.
({6})
Diese Länder haben sich deshalb schon seit Jahren verweigert, und jetzt erst sagen sie: Wir machen mit.
({7})
Ich will jetzt meinen Ton etwas mäßigen, weil ich
glaube, das Thema ist viel zu wichtig. Wenn man sieht,
dass heute in den USA 1,5 Billionen US-Dollar aus Gewinnen, die US-Konzerne im Ausland erzielen, nicht
versteuert werden, wenn man dann den Geschäftsbericht
eines DAX-notierten deutschen Unternehmens liest, wonach die effektive Ertragsteuerquote 4,7 Prozent in 2009
betrug - es war ein Geschäftsbericht von 2009 - und
durch die geografische Verteilung des Konzernergebnisses und die Bewertung steuerlicher Verluste wesentlich
bestimmt wurde - 4,7 Prozent! -, wenn man weiß, dass
- das ist die einzige Zahl, die im Moment bekannt ist die Geschäftsbanken in Deutschland - Deutsche Bank,
Commerzbank und auch alle anderen Banken dieser Art in den Jahren 1999 bis 2009 in der Summe 4 Milliarden
Euro gezahlt haben, während Volksbanken, Landesbanken und Sparkassen in der Summe 40 Milliarden Euro
gezahlt haben, wenn man diese Zahlen einmal auf sich
wirken lässt, dann weiß man, wie ernst das Problem ist.
Ich kann Ihnen von der Linken einen Vorwurf nicht
ersparen - es ist schön, Herr Troost, dass Sie jetzt in der
ersten Reihe Platz genommen haben -: Wieso legen Sie
Anträge vor, die das Problem zwar richtig beschreiben
- das ist gar keine Frage; darüber reden wir -, aber keine
richtige Lösung anbieten? Sie wollen hier etwas durchpauken und schon heute entscheiden. Dieses Thema ist
dafür viel zu wichtig. Sie wissen genau, wie komplex die
Materie ist. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich mit
diesem Thema in aller Ruhe beschäftigen und dass wir
dann über konkrete Dinge abstimmen. So kann ich diesen Antrag nur ablehnen.
({8})
Wir reden hier über Steueroasen. Dabei muss man differenzieren. Es geht nicht nur um das persönliche Fehlverhalten einzelner Steuerbürger, sondern auch um aggressive Steuergestaltung. Beide Themen werden oft
miteinander vermengt, was nicht in Ordnung ist. Es geht
nicht nur um Steuergerechtigkeit im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge, sondern auch - das ist mir sehr
wichtig - um Wettbewerbsgleichheit. So zahlen das mittelständische Möbelhaus und das 30 Kilometer entfernte
schwedische Möbelhaus in meinem Wahlkreis unterschiedlich hohe Gewerbe- und Körperschaftsteuern. Wir
Grüne wollen Wettbewerbsgleichheit herstellen, und
zwar zugunsten des Mittelstands. Da sollten Sie endlich
einmal liefern.
({9})
Ich will die Brisanz dessen klarmachen, was im Moment passiert. Herr Osborne hat uns im Finanzausschuss
erklärt, dass man handeln werde. Danach wurden noch
schöne Bilder zusammen mit Herrn Schäuble gemacht.
Als ich nach Hause kam, habe ich in einem Artikel der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen - ich habe es
nicht für möglich gehalten -,
({10})
dass Großbritannien gerade dabei ist, eine sogenannte
Patent Box einzuführen. Dies bedeutet nichts anderes,
als dass das Modell, dass sich einige über Zahlungen für
Lizenzgebühren über die Niederlande die dortige Körperschaftsteuer in Höhe von 4,5 Prozent zunutze machen, auch in Großbritannien ermöglicht werden soll.
Angesichts dessen hätte ich von Ihnen, meine Damen
und Herren von der Koalition, einen Aufschrei erwartet.
Wenn Sie wirklich kapiert hätten, dass es hier um Wettbewerbsgleichheit zugunsten des Mittelstands geht,
wenn gerade Sie von der FDP tatsächlich wüssten, was
die Menschen bewegt, und wenn Sie den Menschen
draußen im Land wirklich zugehört hätten, dann hätten
Sie gewusst: Hier müssen wir aktiv werden. Wir, die Abgeordneten der Koalition, müssen zum Finanzminister
gehen und ihn auffordern, in dieser Sache endlich Stellung zu beziehen. - Das hätte ich mir gewünscht.
({11})
Es gibt viele Möglichkeiten, Steuerhinterziehung zu
bekämpfen. Eine konkrete Maßnahme wäre beispielsweise das Country-by-Country Reporting. Wir haben einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Wie ich aus Ihren
Kreisen vernommen habe, gilt das eigentlich als ein guter Vorschlag. Aber dann hieß es: Schauen wir erst einmal, was die OECD macht. - Ich habe Ihnen schon im
Finanzausschuss gesagt: Deutschland ist die exportstärkste Nation in Europa. Wir alle sind stolz auf die
Leistungen der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft hat eine hohe Reputation. Erarbeiten Sie sich doch
endlich eine ähnlich hohe Reputation, wenn es um WettDr. Thomas Gambke
bewerbsgleichheit zugunsten des Mittelstands geht! Sagen Sie Ihrem Finanzminister doch bitte, er möge dahin
gehend tätig werden. Aber er wird wahrscheinlich nichts
tun.
Im Moment wird in Brüssel über eine Offenlegungspflicht für Briefkastenfirmen verhandelt. Was höre ich
aus Brüssel? Herr Schäuble bremst. Dabei geht es darum, herauszubekommen, wer die wahren Eigentümer
von Briefkastenfirmen sind und wer sich hinter Stiftungen und Trusts versteckt. Ich kenne aber kein einziges
Statement von Herrn Schäuble, in dem er sich für eine
Transparenzpflicht einsetzt. Tax Justice Network, Transparency Deutschland und Attac sagen etwas ganz anderes.
({12})
- In diesem Punkt sind diese Organisationen sehr glaubwürdig.
Es geht darum, eine verbesserte Datenlage zu bekommen, Herr Brinkhaus.
({13})
Was weiß denn das Bundesfinanzministerium überhaupt? Es weiß nichts. Ich habe im Rahmen einer Anfrage den Bundesfinanzminister gefragt, ob es Belege
für die von Herrn Semeta genannte Summe von 1 Billion
Euro, die in der EU Jahr für Jahr durch aggressive Steuergestaltung und Steuerhinterziehung verloren geht, und
für die ständig genannten 150 Milliarden Euro in
Deutschland gibt und ob sich das Ganze genauer beziffern lässt. Wissen Sie, was er gesagt hat? Er hat gesagt:
Wir haben keine Auskünfte darüber. - Er weiß also
nichts. Wir befinden uns im Blindflug.
({14})
- Von Herrn Semeta. Das habe ich gerade gesagt. Sie
sollten zuhören, Herr Brinkhaus.
Wir brauchen mehr Transparenz, und deshalb brauchen wir das Country-by-Country Reporting. Wir müssen endlich wissen, was Unternehmen in einzelnen Staaten machen. Wenn entsprechende Daten vorliegen,
entsteht Druck auf Unternehmen wie Starbucks, endlich
offenzulegen, wie viele Steuern bzw. ob überhaupt Steuern gezahlt werden. Ich fand es schon bemerkenswert,
dass der Vertreter von Starbucks bei uns im Finanzausschuss gesagt hat: Ja, wir zahlen Steuern. - Als wir nachgefragt haben, welche Steuer das ist, hat er gesagt: Wir
zahlen Umsatzsteuer.
({15})
Da muss man dann schon sagen: Das kann es wohl nicht
sein.
Aber es gibt noch andere Dinge.
({16})
Wir müssen endlich den europäischen Steuerpakt in Angriff nehmen. Wir müssen endlich eine gemeinsame Bemessungsgrundlage und gemeinsame Sätze für die Körperschaftsteuer vereinbaren.
({17})
Dazu höre ich von Ihnen gar nichts.
Herr Gambke.
Bevor Sie sich hinstellen und die Opposition wüst beschimpfen, sollten Sie endlich Ihre Hausaufgaben machen. Das haben Sie drei Jahre lang vermissen lassen.
Ich bin froh, dass wir wählen können.
Herr Gambke.
Am Ende werden Sie sehen, welchen Erfolg Sie mit
Ihrer Politik haben.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Dr. Hans Michelbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich ist der Antrag der Linken, der unter diesem
Tagesordnungspunkt behandelt wird, nur einer einzigen
Würdigung wert: Er hinkt in mehrfacher Hinsicht der
Zeit und unserer Arbeit zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung hinterher.
({0})
Er offenbart in Teilen ein Weltbild, das schon im
19. Jahrhundert antiquiert war. Er ist ein Dokument der
Realitätsverleugnung,
({1})
der Feindbilder und wieder einmal des Klassenkampfes.
Nachdem sich das geradezu wöchentlich wiederholt,
möchte man eigentlich lächeln, wenn es nicht so bitter30004
traurig wäre und Rot-Grün im Zweifel in Form von RotRot-Grün nicht gemeinsame Sache mit der Linken machen würde. Aber es ist ernst. Man sieht, was Ihnen
überhaupt noch übrig bleibt: Feindbilder zu schüren, um
von dem abzulenken, was von der Koalition und von
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geleistet wird.
({2})
Dieser Antrag dokumentiert nur eines:
({3})
Sie sind nicht informiert, was in den letzten vier Jahren
angegangen und geleistet wurde. Sie sind vom Gang der
Dinge längst überholt worden.
({4})
Sie leugnen es beharrlich, aber wir haben eine funktionierende Steuerfahndung. Wir haben 40 Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen.
({5})
Wir haben ein Schwarzgeldbekämpfungsgesetz durchgesetzt. Wir haben ein Bundeszentralamt für Steuern. Ich
frage mich, wie Sie eigentlich dazu kommen, die vielen
fleißigen Steuerbeamten immer wieder so anzugehen,
wie Sie das in der letzten Zeit machen.
({6})
Wir haben die Offshore-Leaks-Medien gebeten, die
Unterlagen zur Prüfung zu übergeben. Sie können doch
nicht sagen, dass wir es zu verantworten haben, dass wir
diese Offshore-Leaks-Unterlagen nicht haben. Wir haben sie leider nicht bekommen. Wir müssen diese prüfen
und wollen diese prüfen. Sie müssen uns nur zugänglich
gemacht werden.
({7}) - Dr. Thomas Gambke [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie woll-
ten das nicht!)
Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Kommen Sie endlich
in der Gegenwart an. Ich fürchte nur, meine Damen und
Herren von Rot-Rot-Grün, dass Sie das gar nicht wollen,
weil dann alle ihre liebgewonnen Feindbilder - gegen
Bayern, gegen Steuerpflichtige, gegen Steuerbeamte ({8})
wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen.
Herr Michelbach.
Ja bitte?
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Troost
zulassen?
({0})
Nein, das ist wirklich zwecklos. Es ist zwecklos, weil
Sie nur wieder versuchen, irgendwelche Feindbilder aufzubauen; es bleibt nichts von Ihren täglichen Parolen übrig, mit denen Sie die Menschen in diesem Land mehr
oder minder verdummen wollen.
({0})
Sie haben in den elf Jahren, in denen die SPD den Finanzminister stellte, versagt; das wissen die Leute. Davor können Sie die Augen nicht verschließen. Ich sage
Ihnen: Bundesfinanzminister Hans Eichel von der SPD
hat eine untaugliche Steueramnestie zu verantworten.
Bei dieser Amnestie war der Steuerpflichtige in der Öffentlichkeit genauso anonym wie beim Steuerabkommen
mit der Schweiz. Sie können dies nicht in Abrede stellen,
obwohl Sie dies immer wieder versuchen. Anonym
bleibt anonym.
({1})
Deswegen ist der Versuch, das Abkommen mit der
Schweiz falsch darzustellen, untauglich.
({2})
Sie wollen also davon ablenken. Wir wollen eine lückenlose Besteuerung aller deutschen Steuerpflichtigen
in der Schweiz und erwarten Einnahmen in Höhe von
10 Milliarden Euro durch die Besteuerung der Vermögen
mit einem Steuersatz von bis zu 41 Prozent. Es ist Untreue gegenüber dem deutschen Steuerzahler und dem
deutschen Staat, dass Sie diese 10 Milliarden Euro blockieren. Das ist die Tatsache, und das muss immer wieder deutlich werden.
({3})
Nun noch einmal zu einzelnen Fakten. Diese bürgerliche Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung sind an vorderster Stelle und erfolgreich dabei, in
der Europäischen Union, in der G 20 und in der OECD,
wenn es gilt, Steuerhinterziehung und grenzüberschreitende Steuergestaltung, die Verschiebung von Gewinnen
internationaler Konzerne und die Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage zu bekämpfen, die internationale Zusammenarbeit zu verbessern und Steueroasen
Schritt für Schritt auszutrocknen.
Hierzu einige Beispiele: Minister Schäuble hat - erstens - gemeinsam das BEPS-Projekt mit den britischen
und französischen Kollegen auf den Weg gebracht.
Zweitens. Die OECD arbeitet gegenwärtig in drei Arbeitsgruppen unter deutschem Vorsitz an einem Aktionsplan für Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen.
({4})
Drittens. Die G 5 haben unlängst zur Bekämpfung
von Steuerhinterziehung unter anderem die Erweiterung
des automatischen Informationsaustausches im Bereich
der Kapitaleinkünfte beschlossen.
Viertens haben wir uns seit Mitte Februar in der EU
unter anderem auf die stufenweise Einführung eines automatischen Informationsaustausches für Vergütungen
im Aufsichtsrat und Verwaltungsrat, für Lebensversicherungsprodukte, Ruhegehälter und Immobilieneinkünfte
verständigt.
All dies ist auf den Weg gebracht; wir haben das Ziel
des automatischen Informationsaustausches.
({5})
Das ist der einzig sinnvolle Weg zu einer lückenlosen
Besteuerung aller Steuerpflichtigen, um hier steuergerecht bzw. steuerehrlich vorzugehen.
({6})
Das sollten Sie anerkennen und nicht immer wieder infrage stellen. Ich kann Ihnen nur sagen: Es geht Ihnen im
Wesentlichen - das war in den letzten Wochen immer
wieder das Gleiche - um Wahlkampfgetöse, es geht Ihnen um Desinformation.
({7})
Darin sind Sie, wie früher, großer Meister, Herr Gysi.
Aber Sie auf der linken Seite dieses Parlaments haben
ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
({8})
Der Brandenburger Finanzminister ist ein Linker. Er hält
es für das Selbstverständlichste der Welt, fast 1,5 Millionen Euro aus dem Landesbeamtenfonds nach Curaçao
und die Cayman Islands zu verschieben. Hört! Hört!
Ein weiteres Beispiel für Geldanlagen in Steueroasen:
Die frühere WestLB und heutige Portigon AG - immerhin in Landesbesitz von Nordrhein-Westfalen, Landesregierung Rot-Grün - hat mit Geldanlagen in Steueroasen
gute Erfahrungen und macht dies locker nach wie vor.
Gehen Sie vor die eigene Tür, kehren Sie dort und sagen
Sie der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, sie soll dies sofort bei der Portigon AG einstellen.
Dann sind Sie glaubwürdig, meine Damen und Herren.
({9})
Ich sage Ihnen: Wir, die bürgerliche Koalition, wollen
nicht Rückschritt, sondern Fortschritt. Daher lehnen wir
den Antrag ab und lassen uns von niemandem in der Bekämpfung der Steuerhinterziehung vorführen und übertölpeln. Wir werden an dieser Sache weiter aktiv arbeiten und einen wesentlichen Beitrag zu Steuerehrlichkeit
und Steuergerechtigkeit in der Zukunft leisten.
Herzlichen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Axel Troost.
Danke schön. - Herr Kollege Michelbach, dass Sie
uns als Linke hier im Parlament immer für blöd erklären,
das kennen wir ja schon. Zu Ihrer Aussage, wir würden
die Steuerbeamten diffamieren: Alle Informationen, die
wir bekommen, bekommen wir durch unsere gute Zusammenarbeit, unter anderem mit der Steuer-Gewerkschaft, mit Herrn Ondracek und Herrn Eigenthaler. Die
informieren uns darüber, dass die Steuerverwaltung in
der Bundesrepublik heute nicht vernünftig funktioniert,
und zwar nicht deshalb, weil die Beamtinnen und Beamten schlecht arbeiten, sondern deshalb, weil die Steuerverwaltung völlig unterausgestattet ist.
Wo wir gerade bei Ihnen und bei Bayern sind: Von
dieser Gewerkschaft hören wir, dass Unternehmensleitungen aus der ganzen Bundesrepublik ihren Firmensitz
- auch als Briefkastenfirmensitz - nach München verlegen, weil man weiß, dass die Steuerverwaltung München
extrem unterbesetzt ist und extrem schlecht prüft.
({0})
Es bleibt dabei: Wenn da nicht wirklich etwas passiert, bekommen wir all die Informationen nicht. Insofern bleibt es bei Mindereinnahmen, aber auch dabei: Es
gibt keine vernünftige Steuergerechtigkeit in diesem
Land.
({1})
Zur Erwiderung Herr Kollege Michelbach.
Herr Kollege Troost, ich kann Ihnen nur sagen, dass
ich Sie nicht für blöd erklärt habe; ich habe Sie für in der
Sache falsch aufgestellt erklärt.
({0})
- So ist es; das muss ich auch richtigstellen.
Ich kann nur sagen, dass niemand, der eine erfolgreiche deutsche Unternehmung führt, aus steuerlichen
Gründen den Sitz nach Bayern oder nach München verlegt, sondern deshalb, weil dort, am Wirtschaftsstandort
Bayern, die besten Voraussetzungen gegeben sind, um
wirtschaftlichen Erfolg zu haben.
({1})
Wir lassen uns diesen Erfolg nicht nehmen, und schon
gar nicht lassen wir die Firmen, die in Bayern tätig sind,
in irgendeiner Form unter Generalverdacht stellen. Das
ist immer Ihr Prinzip, die Leute unter Generalverdacht
zu stellen.
({2})
Es ist niemand bereit, aus steuerlichen Gründen den Sitz
nach Bayern zu verlegen. Wir haben hier große Erfolge
mit Standortpolitik. Das hat mit dem Steueraspekt überhaupt nichts zu tun.
Im Übrigen sind wir natürlich auch mit der SteuerGewerkschaft, mit Herrn Ondracek und Herrn Eigenthaler, im Gespräch.
Tatsache ist auch - das ist eine Aussage von gestern -:
Es sind über 200 Neueinstellungen vorgenommen worden.
({3})
Letzten Endes müssen Sie einmal anerkennen: Am
meisten sprudeln die Steuerquellen in Bayern;
({4})
sonst könnten wir uns den Länderfinanzausgleich in dieser Form überhaupt nicht leisten.
({5})
Wir - das muss ich ganz deutlich sagen - finanzieren
doch den Rest der Republik - über den Länderfinanzausgleich.
({6})
- Haben wir den Länderfinanzausgleich oder nicht? Erkennen Sie also an, dass wir leistungsfähige Firmen in
Deutschland und insbesondere in Bayern haben und dass
durch diese Leistungsfähigkeit der Länderfinanzausgleich - da halten andere die Hand gern auf - möglich
ist!
({7})
Ich ahne: Da gibt es für den Wissenschaftlichen
Dienst des Bundestages wieder etwas zu tun. Dem will
ich jetzt aber nicht weiter nachgehen.
({0})
Ich erteile nun als Nächstem das Wort dem Kollegen
Martin Gerster für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In
einem hatte Herr Wissing offenbar recht, dass nämlich
bei dieser Debatte ganz schön viel Unfug erzählt wird;
Herr Michelbach ist mit das beste Beispiel dafür.
({0})
Ganz vorn beim Erzählen von Unfug sind Mitglieder
der Bundesregierung. Gestern war in der Schwäbischen
Zeitung das „Zitat des Tages“ vom Parlamentarischen
Staatssekretär beim Bundesfinanzministerium, Steffen
Kampeter. Ich zitiere:
Der Fall Hoeneß ist doch nur ein Einzelfall - ein
Zierfisch, ein dicker, fetter Zierfisch.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich, wie
es eigentlich möglich ist, in einem einzigen Satz drei
Fehler zu machen.
Erstens. Über Uli Hoeneß kann man viel erzählen. Er
ist ein erfolgreicher Fußballmanager, ein meinungsstarker Fußballmanager, ein Unternehmer, ein Steuerhinterzieher offenbar. Aber ein Zierfisch? Ich bitte Sie! Ein
Zierfisch?! Das zeigt, wie hier geblendet wird, wie hier
bagatellisiert wird, wie hier abgelenkt wird, und das lassen wir Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen.
({2})
Zweitens. Uli Hoeneß ein Einzelfall? Ich bitte Sie!
Seit 2010 haben wir über 47 000 Selbstanzeigen in diesem Land. Das ist doch kein Einzelfall!
({3})
Daran lässt sich zeigen, wie Sie hier vorgehen, wie Sie
das Thema Steuerhinterziehung bagatellisieren.
Drittens. Wäre das deutsch-schweizerische Steuerabkommen zustande gekommen, hätten wir nie von diesem
angeblichen Einzelfall erfahren, weil er anonym hätte
bleiben können. Insofern ist es unerhört, wie Sie tagein,
tagaus Unfug erzählen, seit dieses Thema auf der Tagesordnung steht.
({4})
In der Schwäbischen Zeitung stand gestern auf derselben Seite noch etwas.
({5})
- Ich lese mehrere Zeitungen, Herr Krestel. Sie können
nachher noch ein paar andere zitieren. Da kommen Sie
in der Berichterstattung und Kommentierung jedoch
auch nicht besser weg.
({6})
Unter dem Bildtitel „Hoeneß als warnendes Exempel“ sieht man den Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble. Ich zitiere:
Wir haben uns für ein HÄRTERES Vorgehen bei
Steuerhinterziehung entschieden. Zwar BLEIBT
die Möglichkeit zur Selbstanzeige … … allerdings wird die Bundeskanzlerin jedem
Steuersünder persönlich ausrichten lassen, wie
ENTTÄUSCHT sie von ihm ist!
({7})
Zugegebenermaßen ist dies eine Sprechblase in einer
Karikatur.
({8})
Aber in jeder Karikatur steckt auch ein wahrer Kern.
Deswegen fragen wir uns, warum wir von der Bundeskanzlerin zu diesem Thema überhaupt kein Wort hören,
außer: Ich bin enttäuscht über Uli Hoeneß.
({9})
Das wäre doch vielleicht ein Anlass für eine Regierungserklärung gewesen.
({10})
Schweigen im Walde. Überhaupt nichts. Und dies, obwohl sich Schwarz-Gelb beim Kampf gegen Steuerhinterziehung nunmehr statt als Verhinderer als Vorreiter
aufspielt.
Deswegen ist es gut, dass die Linksfraktion dieses
Thema nochmals in den Bundestag geholt hat. Einige
angesprochene Punkte sind richtig. Ich will hier die bessere Kooperation der Behörden ausdrücklich erwähnen.
Es ist auch richtig festgehalten worden, dass wir bei der
Steuerverwaltung und Steuerfahndung unbedingt eine
bessere Ausstattung brauchen. Herr Wissing, Sie haben
vorhin gesagt: Das hat nichts mit Bayern zu tun. Ja, das
stimmt. Es hat eigentlich nur etwas mit der CSU und mit
Schwarz-Gelb in Bayern zu tun. Das ist doch die Wahrheit.
({11})
In Bayern unter CSU und Schwarz-Gelb sind Steuerfahndung und Steuerverwaltung bezogen auf die Ausstattung wahrlich keine Kampffische, um beim Bild von
Herrn Kampeter zu bleiben. Dort gibt es im Bereich der
betrieblichen Steuerprüfung eine personelle Unterbesetzung von 20 Prozent. Dies ist keine SPD-Zahl, sondern
eine Zahl des Bayerischen Obersten Rechnungshofes. In
seinem aktuellen Jahresbericht 2013 wird noch einmal
deutlich Kritik geübt. Es wird von Steuerausfällen durch
diese Unterbesetzung im dreistelligen Millionenbereich
gesprochen. Das muss man sich einmal vorstellen.
({12})
Schauen wir einmal in ein anderes Bundesland: nach
Hessen. Dort waren gute Steuerfahnder unterwegs. Was
ist dann unter Volker Bouffier gemacht worden?
({13})
Sie sind als psychisch krank deklariert worden.
({14})
Es musste ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Man hat den Eindruck, dass in Hessen unter Volker
Bouffier nicht die Steuerhinterzieher verfolgt werden,
sondern die Steuerfahnder im Blickpunkt stehen. Das ist
doch der eigentliche Skandal.
({15})
Zu den Ländern. Herr Flosbach, Sie haben gesagt, das
sei alles Sache der Länder. Schauen wir einmal nach Baden-Württemberg. Die neue Landesregierung hat
Schluss gemacht mit dem Argument: Standortvorteile
für Baden-Württemberg sind eine schlecht ausgestattete
Steuerverwaltung, eine schlecht ausgestattete Steuerfahndung und dass ihr so gut wie nie kontrolliert werdet.
Wir wollen dort 500 neue zusätzliche Stellen für die
Steuerfahndung und die Steuerverwaltung und 500 zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen. Das ist der richtige Weg. Grün-Rot macht es an dieser Stelle vor. Das
gehört gewürdigt.
({16})
Es bringt überhaupt nichts, wenn Sie beim Thema
Ankauf von Steuer-CDs immer wieder hereinrufen: Alles Hehlerei.
({17})
Das ist in gewisser Weise pharisäerhaft; denn Ihre
schwarz-gelb regierten Bundesländer - es sind nicht
mehr so viele, und im Laufe des Jahres werden es noch
weniger - profitieren finanziell vom Ankauf dieser
Steuer-CDs, der aus den Reihen der FDP immer wieder
kritisiert wird. Am Mittwoch wurde dies aber auch aus
den Reihen der Fraktion der CDU/CSU in Person des
Fraktionsvorsitzenden getan. Deswegen sagen wir: So
sieht Ehrlichkeit jedenfalls nicht aus, weder in der politischen Debatte noch beim Thema Steuerhinterziehung.
({18})
Das Thema Steuerhinterziehung muss Chefsache
sein, das ist ganz klar; denn es ist ein massives Problem.
Sich darum zu kümmern, ist eine Frage der Gerechtigkeit, um es noch einmal ganz klar zu formulieren. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Deswegen ist es
richtig, es zu thematisieren.
({19})
Wir brauchen die Gelder. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft hat errechnet, dass weit über 400 Milliarden
Euro von deutschen Steuerzahlern - oder eben Nichtsteuerzahlern; so ist es richtig - am Fiskus vorbeigescho30008
ben werden. Dabei brauchen wir die Mittel für unsere
Gesellschaft: für Bildung, für Verkehrsinfrastruktur, für
Arbeit und Soziales und für die Unterstützung unserer
Familien. Deswegen gehört dieses Thema permanent auf
die Tagesordnung.
Wir werden Sie bis zum Wahltag nicht aus der Verantwortung lassen, danach werden wir die Verantwortung
übernehmen und zeigen, wie man es richtig macht im
Kampf gegen Steuerhinterziehung.
Herzlichen Dank.
({20})
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Holger
Krestel das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns zurück zur Sache kommen, nachdem
Kollege Gerster dieser Regierungskoalition und dieser
Bundesregierung vorgeworfen hat, dass wir zu wenig
gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung international tätiger Unternehmen tun würden. Dabei haben
wir in dieser Legislaturperiode viel mehr zur Bekämpfung dieser Missstände getan als jede vorherige Regierung.
({0})
Wir können nicht per Federstrich das Finanzkapital
der ganzen Welt auf neue Wege leiten, so wie sich die
Linke das in ihrem Antrag zu wünschen scheint. Vielmehr sind es Aktionen wie das Werben von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble beim Treffen des IWF und
der G 20 letzte Woche in Washington für eine deutsche
Initiative gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung international tätiger Großunternehmen, es sind Anstrengungen wie unser Einsatz für einen automatischen
Informationsaustausch über alle Kapitaleinkünfte in der
EU. Wir befinden uns in stetigem Dialog. In dieser Legislaturperiode wurden rund 90 Doppelbesteuerungsabkommen beschlossen, viele weitere befinden sich bereits
in der Phase der Verhandlung.
Wenn Sie nun die Basis all dieser mühsam verhandelten und auf den Weg gebrachten Abkommen infrage
stellen und denken, man könne diese in kürzester Zeit
mit komplett neuen Standards neu auflegen und würde
dabei noch Zuspruch vom Verhandlungspartner erhalten,
beweist das nur, dass Sie sich von der Realität internationaler Finanzdiplomatie vollständig abgekapselt haben.
Im Gegenteil: Ihre Forderung, deutsche Staatsbürger
weltweit zur Kasse zu bitten, offenbart die Scheuklappen, die Sie tragen. Neben den Bürgern, die hier geboren
und später ausgewandert sind, gibt es zahlreiche
Deutschstämmige, zum Beispiel in Osteuropa und Zentralasien, die einen deutschen Pass haben, aber noch nie
in ihrem Leben einen Fuß auf deutsches Staatsgebiet gesetzt haben. Wollen Sie auch diesen Leuten in die Taschen fassen? Wie wollen Sie diese neu geschaffenen
Ansprüche vollstrecken?
Der Antrag der Linken erinnert mich vom Inhalt und
vom Duktus her, ehrlich gesagt, ein bisschen an einen
Ausspruch von Winston Churchill: Das Einzige, was die
Sozialisten von Wirtschaft verstehen, ist, wie man an das
Geld fremder Leute herankommt.
({1})
Lassen Sie uns schließlich noch zu Anspruch und
Wirklichkeit linker Politik kommen. Sie fordern, dass
die Bundesländer ihren Steuervollzug verbessern und
mehr Personal einstellen. Sie waren zehn Jahre lang in
Berlin in rot-roter Regierungsverantwortung. Sie sind
dafür verantwortlich, dass die Steuerverwaltung hier in
dieser Stadt systematisch ausgetrocknet worden ist. Unter Ihrer Regierungsverantwortung im Land Berlin wurden aufgrund einer Quote 10 Prozent der Steuerbeamten
für entbehrlich erklärt. Zusätzlich ist die Attraktivität der
Steuerverwaltung - wie übrigens der gesamten Berliner
Landesverwaltung - für junge Menschen rapide gesunken, sodass die besten Nachwuchsbeamten diese Stadt
verlassen.
In der Opposition können Sie, wie heute, schöne Forderungen stellen. Wenn Sie jedoch in der Verantwortung
stehen, schmeißen Sie das Geld lieber für linke Klientelprojekte aus dem Fenster, anstatt es in eine effektive
Steuerverwaltung zu investieren. Das haben Sie in Berlin bewiesen.
({2})
Den Kollegen Gysi möchte ich von dieser Kritik aber
ausnehmen.
({3})
Er ist vor rund zehn Jahren als Berliner Wirtschaftssenator nämlich so schnell wieder aus dem Amt geschieden,
({4})
dass er als Wirtschaftssenator gar keine Wirkung entfalten konnte. Er war allenfalls Berliner Intermezzosenator.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
Danke.
({5})
Die Kollegin Höll meldet sich jetzt zu einer Kurzintervention. Ich mache, damit jeder sich darauf einstellen
kann, schon jetzt darauf aufmerksam, dass das die letzte
ist, die ich zulasse, weil wir schon über unserer vereinbarten Zeit liegen.
Bitte schön.
Danke, Herr Präsident. - Ich möchte Bezug nehmen
auf das, was vorhin Herr Wissing und jetzt Herr Kollege
Krestel sagten. Sie sagten, die Doppelbesteuerungsabkommen seien in erster Linie ein Mittel zur Bekämpfung
von Wirtschaftskriminalität. Ich verstehe sie anders:
Doppelbesteuerungsabkommen sind Abkommen, die
verhindern sollen, dass Menschen und Unternehmen, die
in verschiedenen Ländern tätig sind, einer doppelten Besteuerung unterworfen werden.
({0})
Das setzt voraus, dass Informationen ausgetauscht
werden, und zwar im Rahmen eines automatischen Informationsaustauschs. Davon ist aber auch das OECDMusterabkommen weit entfernt.
Sie schmücken sich mit 40 abgeschlossenen Abkommen. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir einen automatischen Informationsaustausch haben. Dass von den
G 20 - auch von der Schweizer Finanzministerin - jetzt
eine entsprechende Willenserklärung unterzeichnet
wurde, ist das Ergebnis der Verhinderung des deutschschweizerischen Steuerabkommens. Damit haben wir
verhindert, dass die Bundesrepublik als größte Volkswirtschaft Europas zusammen mit der Schweiz einen
Sonderweg beschreitet. Dadurch ist die Schweiz gezwungen, jetzt auf den anderen Weg einzuschwenken.
Wichtigste Voraussetzung sind Informationen. Wir
müssen diesbezüglich hier in unserem Land anfangen.
Als Ergebnis Ihrer Politik werden wir international kritisiert. Es gibt keine Transparenz und keine Offenlegungspflichten, zum Beispiel bei den Eigentümerstrukturen
von Trusts und Stiftungen. Deshalb können Finanzbehörden nur schwer nachfragen, da sie nicht wissen, wem
was gehört. Es stellt sich dann zum Beispiel die Frage,
nach wem man im Hinblick auf ein Konto in der
Schweiz fragen soll.
Deshalb brauchen wir auf alle Fälle mehr Finanzbeamte. Außerdem brauchen wir eine Koordinierung auf
Bundesebene.
Als wir mit Rot-Rot die Regierungsverantwortung in
Berlin übernommen haben, war Berlin als Ergebnis der
Regierungspolitik von CDU und SPD so etwas von
pleite. Da ging fast gar nichts mehr. Die rot-rote Regierungskoalition hat Berlin wieder nach vorne gebracht.
({1})
Bayern versorgt ja jetzt die ganze Welt. Sie könnten
sich 2 000 zusätzliche Finanzbeamte leisten. Sie hätten
ja in Berlin und in anderen Ländern aushelfen können.
Danke.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Mathias Middelberg
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich finde, wir
sollten zur Sache zurückkommen. Der Kollege Krestel
von der FDP hat genau den richtigen Punkt angesprochen.
Herr Gysi, ich bin vor allem von Ihrem Beitrag heute
hier extrem enttäuscht.
({0})
Halten wir das einmal fest. Sie haben hier zu 95 Prozent
Polemik geliefert, um das Thema wahlkampftechnisch
für sich zu instrumentalisieren. Sie haben ein paar
Punkte angesprochen, die der Sache dienlich sind, über
die man auch sprechen kann. Man muss aber ernsthaft
festhalten: Als Wirtschaftssenator in Berlin hatten Sie
die Möglichkeit, in einer verantwortlichen Position in
der Exekutive diese Dinge ganz konkret anzugehen.
Nehmen wir das Thema Steuerverwaltung, das der Kollege Krestel angesprochen hat: Sie hatten doch die Möglichkeit, zuzupacken. Sie hätten auch über Bundesratsinitiativen die Dinge anstoßen können, die Sie eben
angesprochen haben. - Halten wir einmal fest, dass Sie
das nicht getan haben, sondern sich nach kürzester Zeit,
schon nach wenigen Monaten aus der Verantwortung gezogen und sich vom Acker gemacht haben. Das sind die
Fakten.
({1})
Ich finde es ungeheuerlich, dass Sie hier eine solche
Litanei vorgetragen haben. Damit haben Sie ein Zerrbild
dieses Landes gezeichnet. Sie haben wieder einmal mit
dem Stichwort - so nenne ich es einmal - „Armutsrepublik“ angefangen. Wenn wir Bilanz ziehen und uns nüchtern den Armuts- und Reichtumsbericht anschauen, über
den viel diskutiert worden ist, dann sehen wir - das sind
die Fakten -, dass wir vor sieben Jahren 5 Millionen Arbeitslose hatten und wir dieses Maß jetzt fast halbiert haben - in diesem Jahr werden wir deutlich unter 3 Millionen Arbeitslose haben -, dass wir die Quote der
Langzeitarbeitslosen in diesem Land um 40 Prozent verringert haben und statt 26 Millionen Menschen jetzt
29 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind.
({2})
Deutschland ist keine Armutsrepublik. Diese Zahlen
zeigen, dass wir mit unserer Steuer- und Wirtschaftspolitik, auch mit den moderaten Steuersätzen in diesem
Land, auf genau dem richtigen Kurs sind; denn sonst
hätten wir nicht die höchsten Steuereinnahmen in der
Geschichte dieser Republik.
({3})
Es ist auch nicht richtig, dass Herr Hoeneß nach Inkrafttreten des Steuerabkommens mit der Schweiz mit
einem kleinen Obolus davongekommen wäre. Das ist
falsch.
({4})
- Er hat gesagt, er wäre mit einem kleinen Obolus davongekommen. - Genau das Gegenteil wäre der Fall gewesen. Jetzt werden zur Besteuerung nur seine Zinserträge herangezogen,
({5})
und er wird nachher noch eine gewisse Strafsteuer zu
zahlen haben.
({6})
Gemäß dem Steuerabkommen mit der Schweiz wäre das
gesamte Kapital, nicht nur die Zinserträge, sondern der
gesamte Zuwachs, den er zum Beispiel durch Aktienwertsteigerungen zu verzeichnen hatte, also der gesamte
Bestand, mit einem Zinssatz von 21 bis 41 Prozent besteuert worden.
({7})
Das heißt, Herr Hoeneß hätte sehr viel mehr zahlen müssen, wenn das Steuerabkommen mit der Schweiz zustande gekommen wäre.
({8})
Die Alternative, vor der wir standen, hat Ihnen der
Kollege Wissing eben sehr präzise und, wie ich finde,
für jedermann nachvollziehbar erklärt. Wir hätten nicht
beides bekommen können. Das haben auch Sie von der
SPD damals erkannt. Das beweist Ihr damaliger Amnestievorschlag. Sie hätten die Anonymität aufheben können. Dann wären aber ganz andere Erträge dabei herausgekommen. Das ist die Wahrheit.
Jetzt, da Sie das Steuerabkommen abgelehnt haben,
bleibt es für den großen Teil der Beteiligten, die in anderen Ländern unterwegs sind, bei der Anonymität. Das
finde ich, ehrlich gesagt, skandalös. Ich finde, es ist
wirklich eine Unverschämtheit - das muss ich sagen -,
dass Sie das hier anders darstellen.
({9})
Wir haben keinerlei Belehrungen nötig, was das
Thema Bekämpfung der Steuerhinterziehung auf internationaler Ebene angeht; das hat der Kollege Flosbach
eben ganz überzeugend deutlich gemacht. Ich greife einmal den Punkt Zinsrichtlinie auf: Unser Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble setzt sich an führender
Stelle dafür ein, dass wir endlich einen automatischen
Informationsaustausch bekommen,
({10})
und zwar nicht nur in Bezug auf Zinserträge, sondern darüber hinaus auch in Bezug auf Dividenden und Veräußerungserlöse. Das ist ganz wichtig; denn das ist ein großer Teil der anfallenden Erträge. In Zukunft werden wir
auch Lebensversicherungen, strukturierte Finanzprodukte, die vielbeschworenen Trusts, private Stiftungen
und sämtliche Formen von Investmentfonds erfassen
können. Das halte ich für den richtigen Weg.
Wir können nur in internationalen Verhandlungen
vorwärtskommen. All diese Kavalleriemodelle sind
Blödsinn. Wenn man sich ansieht, was Herr Steinbrück
in den letzten Monaten dazu und auch zu vielen anderen
Fragen erzählt hat, erkennt man, dass es immer so abläuft: Herr Steinbrück sagt etwas, und zwei oder drei
Wochen später wird er von seinen eigenen Leuten aus
der SPD in dieser Sache zurückgepfiffen. Das ist die
Wahrheit.
({11})
Jetzt möchte ich Ihnen noch generell etwas zum
Thema Steuerpolitik sagen; denn an diesem Wochenende steht ja der Parteitag der Grünen an. Herr
Kretschmann, Ihr Ministerpräsident, hat Ihnen zu diesem
Thema ganz grundlegend und aus meiner Sicht richtig
ins Gewissen geredet.
({12})
Wir stehen hier vor der ganz entscheidenden Frage, wie
wir unsere Republik in Zukunft gestalten wollen. Wenn
Sie in die Situation kommen, Ihre Pläne umzusetzen,
dann erleben wir in diesem Land ab September eine riesige Steuererhöhungsorgie. Fast alle müssen dann mehr
zahlen. Auf diese Wahrheit müssen wir hinweisen.
Als Erstes wollen Sie das Ehegattensplitting streichen. Das heißt, jeder Verheiratete soll mehr zahlen.
({13})
Als Nächstes wollen Sie die Einkommensteuersätze anheben. Sie wollen 49 Prozent ab 80 000 Euro und
schummeln dort ein bisschen.
({14})
- Das ist ganz deutlich, Herr Gambke. - Die Steigerungen fangen dort an, wo jetzt der Spitzensteuersatz beginnt, nämlich bei 52 800 Euro. Ab diesem Betrag zahlen die Leute bei Ihrem Modell schon mehr. Davon wäre
jeder Facharbeiter betroffen. Herzlichen Glückwunsch
zu diesem Modell.
In Ihrem Programm stehen noch weitere Dinge. Sie
von den Grünen wollen die Abgeltungsteuer abschaffen,
während Sie von der SPD sie erhöhen wollen. Unternehmensteuern sollen sowieso erhöht werden. Die Gewerbesteuer soll auch auf Freiberufler ausgedehnt werden.
Herzlichen Glückwunsch auch an all diejenigen, die daDr. Mathias Middelberg
von betroffen wären. Sie würden durch Ihre Vorhaben
reichlich mehr belastet.
({15})
Sie wollen wieder eine Vermögensteuer erheben, und
Sie belügen die Menschen im Land - auch Herr
Steinbrück belügt sie -, wenn Sie sagen, dass Sie dabei
zwischen Betriebsvermögen und Privatvermögen differenzieren können.
({16})
Bei der Besteuerung von Privatvermögen wären auch
wir dabei - das ist gar keine Frage -, aber mit der Besteuerung von Betriebsvermögen treffen Sie die gesamten Unternehmen, den Mittelstand in diesem Land.
({17})
Wenn es einmal zwei, drei schlechte Jahre gibt, zahlen
die Unternehmen das aus ihrer Substanz. Wer dann blutet, sind die Arbeitnehmer; denn die Arbeitsplätze sind
dann weg. Das müssen wir in jedem Fall verhindern. Das
wäre eine Katastrophe.
({18})
Ich kann Ihnen nur sagen: Sie sind in die völlig falsche Richtung unterwegs. Die Franzosen und die
Spanier sind in Europa die Einzigen, die eine Vermögensteuer haben. Sie haben auch höhere Steuersätze, also
genau das, was Sie anstreben. Die Franzosen haben mit
dieser Politik heute eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit
und dreimal so viele Jugendarbeitslose. Das kann und
darf nicht unser Ziel sein.
({19})
Für die SPD-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Manfred Zöllmer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben ja jetzt von einigen Kollegen der Regierungsfraktionen gehört, dass die Bundesregierung angeblich zu
Lande, zu Wasser, in der Luft und auf internationalen
Konferenzen gegen Steuerhinterziehung und für Transparenz kämpft.
({0})
Es gab vor einigen Tagen ein G-20-Treffen in
Washington. Auch Herr Schäuble war anwesend. Die
Süddeutsche Zeitung, erschienen am 22. April 2013, hat
dazu Folgendes geschrieben - ich darf zitieren -:
Was von solchen Konferenzen gelegentlich hängen
bleibt, machte der russische Finanzminister und
amtierende G-20-Vorsitzende Anton Siluanow unfreiwillig deutlich: Auf die Frage eines Schweizer
Journalisten, was die Ministerrunde denn in punkto
Steuerflucht nun vereinbart habe, sagte Siluanow in
der offiziellen Pressekonferenz nach dem Treffen,
über das Thema sei seiner Erinnerung nach „gar
nicht gesprochen worden“.
({1})
Ja, so sehen die Bemühungen der Bundesregierung aus.
({2})
Der Begriff Steueroase klingt nach Ferne, Exotik,
Sandstrand und Palmen. Aber wir haben in einer ganzen
Reihe von Beiträgen gehört, dass die Ferne auch sehr
nah sein kann. Kollege Flosbach hat am Anfang dieser
Debatte hier lautstark gesagt: Es gibt keine Steueroasen
in Deutschland. Nun haben wir schon von der Steueroase Hessen gehört, wo eher Steuerfahnder verfolgt werden als Steuerhinterzieher. Ich sage Ihnen: In diesem
Jahr wird es noch ein Gerichtsverfahren geben, weil
diese Sache nicht ausgestanden ist.
({3})
Die Fahnder kämpfen vor Gericht um ihre Rehabilitation
und Reputation. Ich wünsche den Steuerfahndern bei
diesem Kampf viel Glück.
({4})
Schauen wir uns doch einmal die Situation im
schwarz-gelb regierten Bayern an - ich zitiere -: „Ist
Bayern ein Paradies für Steuerhinterzieher?“, fragte
Merkur Online, nicht gerade eine linksradikale Publikation,
({5})
und Spiegel Online titelte: „Weiß-blaues Steuerparadies“.
Der Bayerische Oberste Rechnungshof hat in einem
Bericht festgestellt, dass es in Bayern seit vielen Jahren
konsequent zu wenige Steuerprüfer gibt; das moniert er
seit Jahren, das ist keine neue Erkenntnis. Die Folge:
Söder verzichtet durch Steuerausfälle auf Einnahmen in
dreistelliger Millionenhöhe.
({6})
In diesem Bericht heißt es wörtlich:
Bayernweit sind in der Betriebsprüfung 442 Stellen
nicht besetzt. … Die Folgen sind nicht nur Steuerausfälle … Es geht auch um einen gerechten und
gleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze, der mit
zu wenig Personal nicht gewährleistet werden kann.
({7})
Diese Aussage stammt, wie gesagt, aus dem Bericht des
Bayerischen Obersten Rechnungshofes, dessen Chef ein
CSU-Mann ist. Das muss man sich einmal vor Augen
führen.
({8})
Mittelgroße Betriebe prüfen die Fahnder nur alle
20 Jahre, kleine Betriebe nur alle 40 Jahre.
({9})
Ich denke, eines muss man ganz klar sagen: In Bayern
herrschen, bezogen auf die Steuerpolitik, griechische
Verhältnisse.
({10})
22 Steuer-CDs sind dem Finanzminister des Freistaates Bayern angeboten worden. Angekauft wurde keine.
Das sind wirklich griechische Verhältnisse.
({11})
Dem Ehrlichen werden die Steuern gleich mit dem Gehalt abgezogen, und der Unehrliche hat die Chance, sein
Geld in die Schweiz zu bringen. Dieser Umgang mit
Steuerkriminalität hat in Bayern System.
Nur am Rande möchte ich auf den ehemaligen bayerischen Ministerialbeamten Wilhelm Schlötterer hinweisen, der dies in seinem Buch Macht und Missbrauch detailliert dokumentiert hat. Er hat fast 30 Jahre im
bayerischen Finanzministerium gearbeitet, und er wusste
genau, wovon er spricht. Er berichtet in seinem Buch
von massiven Eingriffen von CSU-Politikern in den
Steuervollzug,
({12})
von Eingriffen, die der Verschleierung von Steuervergehen und der Begünstigung Einzelner dienten.
({13})
Das ist das System in Bayern. Jetzt stellen wir fest: Dieses System ist offenkundig nicht überwunden.
({14})
- In der Tat: Das ist das System der CSU.
({15})
Schauen wir uns die gegenwärtige Situation an; es
geht ja um einen bekannten Namen. Auf einmal ist Herr
Seehofer merkwürdig still geworden. Er ist abgetaucht.
Aber wahrscheinlich hat er mit den anderen Affären in
der CSU-Fraktion genug zu tun.
({16})
Wir sehen: Es gibt auch in Deutschland Steueroasen.
Diese Oasen müssen schleunigst stillgelegt werden, auch
in Bayern und in Hessen. Das gelingt nur durch einen
Regierungswechsel in Bayern und in Hessen.
({17})
Manfred Kolbe hat nun für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manche meiner Vorredner haben sich gegenseitig bezichtigt, Unsinn zu reden.
({0})
Wer recht hat, muss das geneigte Publikum hier im Saal
und vor den Bildschirmen entscheiden. Fakt ist jedenfalls, dass wir in einigen Punkten unterschiedlicher Meinung sind. Ich darf ein paar dieser Punkte hervorheben.
Herr Gysi, Sie haben beklagt, dass es in Deutschland
10 Billionen Euro Geldvermögen gibt.
({1})
Ja, ist es denn schlimm, dass Deutschland ein wohlhabendes Land ist? Ist Ihnen eine Situation wie bei Ihren
Parteifreunden in Nordkorea, wo Kinder verhungern, lieber?
({2})
Ist das der Zustand, den Sie anstreben?
({3})
Natürlich gibt es bei der Vermögensverteilung gewisse Ungleichgewichte. Es gibt zum Beispiel ein Ungleichgewicht zwischen Ost und West. Im Osten
Deutschlands gibt es deutlich weniger Vermögen als im
Westen des Landes. Aber wer trägt denn die Schuld daran?
({4})
Ist es die CDU/CSU, die seit 1949 die soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut hat,
wodurch es gelungen ist, breiten Wohlstand zu schaffen,
oder die SED, die Privatvermögen vernichtet hat und am
Ende in den Konkurs gehen musste?
({5})
Wer trägt denn die Schuld am ungleichgewichtigen
Vermögen in Ost und West? Das sind Sie und nicht wir.
Manchmal habe ich bei Ihren Reden den Eindruck, dass
Sie erst dann wieder glücklich sind, wenn es wie in der
DDR zu einer privaten Versteuerung von 90 Prozent
kommt
({6})
und Ihre Funktionäre Autos, Telefone und Ferienplätze
mit Wartezeiten bis zu 20 Jahren zuteilen können. Das
scheint offenbar Ihr Idealzustand zu sein.
({7})
Wir sind stolz auf den Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland. Denn nur dieser Wohlstand kann unseren Sozialstaat finanzieren.
({8})
Nur eine blühende Wirtschaft kann einen Sozialstaat finanzieren. Deshalb wollen wir sowohl die erfolgreiche
Marktwirtschaft als auch den Sozialstaat Bundesrepublik
Deutschland. Deswegen gehört es auch zur Wahrheit,
dass 10 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte der
Steuern zahlen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({9})
Herr Gambke, Sie hatten hier einen schweren Stand.
Ihre Führungsleute sind weg und schreiben sich gegenseitig offene Briefe. Herr Trittin sitzt wahrscheinlich gerade über einem Brief an Herrn Kretschmann, nachdem
er dessen heutiges Interview in der Süddeutschen Zeitung gelesen hat.
({10})
Kretschmann hat darin gesagt, er warne davor, Bürger
und Wirtschaft durch überzogene Steuererhöhungen zu
überfordern. Sie sind doch eine so diskussionsfreudige
Partei. Warum haben Sie denn dazu nichts gesagt? Das
hätte uns interessiert.
({11})
Herr Gambke, zeigen Sie ein bisschen Mut und Offenheit. Sie von den Grünen sind doch so stolz darauf.
Die SPD hat wieder Bayern- und Schweiz-Bashing
betrieben.
({12})
Das ist schon die dritte Debatte in dieser Woche zum
gleichen Thema. Jedes Mal hat die SPD dieselbe Melodie: Bayern und die Schweiz sind die Schuldigen.
({13})
Ich bin weit davon entfernt, das Verhalten von Herrn
Hoeneß zu rechtfertigen. Aber Bayern und die Schweiz
sind eben auch erfolgreiche Länder. Wahrscheinlich
wurmt es Sie, dass Sie nie dazu beigetragen haben. Bayern und die Schweiz haben gemein, dass dort nie Sozialisten regiert haben. Vielleicht ist das eine der Ursachen
für den Erfolg.
({14})
- Herr Poß, ich kenne die deutsche Geschichte und weiß
zum Beispiel auch, dass Sachsen bis zum Zweiten Weltkrieg das wirtschaftsstärkste Land Deutschlands war.
Dann kamen allerdings die Kommunisten, und das hat
sich geändert.
({15})
Ich hoffe, auch Sie kennen die gesamte deutsche Geschichte.
Kehren wir zu Ihrem Vorwurf in Bezug auf die Anonymität zurück; denn er zog sich durch die ganze Debatte der letzten drei Tage. Sicherlich ist die Anonymität
ein Problem des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens; das ist auch uns bewusst gewesen.
({16})
- Natürlich ist das ein großes Problem. Zu dem Abkommen gehören aber zwei Vertragspartner, die sich am
Ende einigen müssen.
Das wirklich Ärgerliche aber ist: Sie tun so, als wäre
Eichels Steueramnestie öffentlich und nicht anonym gewesen, und damit betreiben Sie Falschmünzerei.
({17})
Denn auch die Begünstigten Ihrer damaligen SPD-Amnestie wären durch das Steuergeheimnis geschützt gewesen und in der Öffentlichkeit anonym geblieben.
({18})
Die hätten sich dann zwar in der Steuerakte wiedergefunden.
({19})
Aber das Steuergeheimnis hätte sie vor der Öffentlichkeit beschützt, sofern Sie noch am Steuergeheimnis festhalten.
({20})
Alles andere - auch was Herr Gerster gesagt hat - erweckt den Eindruck, dass das Steuergeheimnis für sie
nicht mehr gilt.
({21})
Im Ergebnis hätten Sie die Anonymität also genauso gehabt. Deshalb sollten Sie sich nicht auf das hohe Ross
setzen.
({22})
Zum Thema Selbstanzeige haben wir die Position der
SPD auch heute nicht vernommen. Es stehen immer
noch fünf Positionen im Raum.
({23})
Herr Steinbrück hat gesagt, er will sie beibehalten.
({24})
Bisher gilt offenbar das Wort des Kanzlerkandidaten.
Möglicherweise gilt es auch nicht. Das würden wir auch
gerne einmal erfahren.
({25})
Wir sagen: Die Selbstanzeige ist ein vernünftiger
Weg. Wir als christlich-liberale Koalition haben in dieser
Legislaturperiode die Selbstanzeige so reformiert, dass
sie nicht mehr als Mittel einer Hinterziehungsstrategie
taugt. Das ist nicht mehr möglich. Das war unter Ihren
Finanzministern noch möglich. Die Teilselbstanzeige ist
nun ausgeschlossen. Der Zeitpunkt der Entdeckung ist
vorverlegt worden. Es ist außerdem ein Zuschlag zu zahlen. Ich glaube, wir haben die Selbstanzeige vernünftig
reformiert.
Es ist nicht so - das hat auch der Präsident des Bundesfinanzhofs in einem Interview in der FAZ betont -,
dass sie im Strafrecht ein völliger Fremdkörper ist. Das
ist doch Unsinn. Jeder, der sich im Strafrecht halbwegs
auskennt, weiß, dass es zahlreiche Fälle des Rücktritts
von der vollendeten Tat gibt, so zum Beispiel gemäß
§ 149 Abs. 2 StGB bei der Fälschung von Geld und
Wertzeichen. Das gibt es nach § 261 Abs. 9 StGB bei der
Geldwäsche. Das gibt es beim Subventionsbetrug. Das
gibt es bei der Brandstiftung: Der Brandstifter, der nach
Inbrandsetzen des Gebäudes den Brand wieder löscht,
wird nicht bestraft, und zwar aus kriminalpräventiven
Erwägungen. Es gibt eine tätige Reue bei der fahrlässigen Herbeiführung von Explosionen und bei Eingriffen
in den Straßenverkehr. Das ist ein allgemeiner Rechtsgedanke, der auch im Steuerrecht greift.
Ich halte das für einen guten Rechtsgedanken; denn er
ebnet den Weg in die Ehrlichkeit. Ich könnte mir - das
sage ich jetzt persönlich - vorstellen, dass man diesen
Rechtsgedanken auch auf anderen Gebieten anwendet,
etwa bei der Erschleichung von Sozialleistungen. Warum sollte ein Student, der im jugendlichen Alter von 18
oder 19 Jahren auf dem BAföG-Antrag einen Nebenjob
verschwiegen oder ein Konto nicht angegeben hat, ein
oder zwei Jahre später, wenn er reifer geworden ist und
die Erkenntnis gewonnen hat, dass das nicht richtig war,
seinen Fehler nicht strafbefreiend korrigieren können?
Wir sollten nicht darüber nachdenken, die Selbstanzeige
abzuschaffen, Herr Gysi, sondern darüber, ob wir diesen
Rechtsgedanken auch auf andere Tatbestände ausdehnen
können.
({26})
Auch Hartz IV ist sicherlich ein Feld, auf dem man diesen Rechtsgedanken anwenden könnte.
Wir stehen zur Selbstanzeige und halten sie für ein vernünftiges Instrument. - Der Präsident meldet sich; deswegen sage ich abschließend: Keine Bundesregierung hat
zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung so viel beigetragen wie die Bundesregierung Angela Merkel seit 2005.
Danke.
({27})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Innerhalb von zehn
Tagen diskutieren wir heute schon zum dritten Mal über
das Thema Steuerhinterziehung, Steuergestaltung,
Steueroasen. Man könnte meinen, liebe Kollegen von
der Opposition, Sie wollten Steuerhinterzieher durch
diese Debatten im wahrsten Sinne des Wortes zum Aufgeben überreden. Wenn es denn hilft, gerne.
Ganz sicher hilft, was diese Bundesregierung getan
hat - da kann ich anschließen an das, was Manfred
Kolbe gerade gesagt hat -: Bundesfinanzminister
Schäuble hat sich wie kein Finanzminister vor ihm gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung engagiert.
Herr Gerster, Sie haben eben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zahl der Selbstanzeigen seit 2010 auf
47 000 pro Jahr gestiegen ist. Wolfgang Schäuble ist seit
2009 Finanzminister - Sie werden den Zusammenhang
ja wohl nicht leugnen.
({0})
Ich möchte an mehreren Punkten sehr konkret auf die
Anträge der Linken eingehen, um nachzuweisen, dass
wir vieles getan haben und dass das, was wir nicht erreicht haben, sich nicht zuletzt deswegen nicht umsetzen
ließ, weil die Abgeordneten von der SPD und von der
Linken hier nicht zur Kooperation bereit waren.
Im Rahmen der Föderalismuskommission II haben
wir die Kompetenzen des Bundeszentralamts für Steuern
bei der Prüfung von sogenannten Einkommensmillionären massiv gestärkt. Das Bundeszentralamt für Steuern
darf an Außenprüfungen teilnehmen, insbesondere darf
es Außenprüfungen anregen.
Selbstverständlich ist die Frage einer besseren Zusammenarbeit mit den Finanzverwaltungen der Länder
diskutiert worden. Ich glaube, es besteht Einvernehmen,
dass diese Zusammenarbeit gar nicht gut genug sein
kann und dass da Nachholbedarf besteht. Aber woran ist
denn da ein Ergebnis gescheitert? Der damalige Finanzminister Steinbrück hat in der ihm eigenen charmanten
Art die Verhandlungen begonnen mit einem Gutachten,
das mehr oder weniger unter dem Motto lief: Wenn ich
die Steuerverwaltung übernehme, können wir 8 Milliarden Euro sparen. - Daraufhin haben alle Länderfinanzminister die Verhandlungen über diesen Punkt abgebrochen. Die Kavallerie hat nicht nur bei der Schweiz,
sondern auch bei den Länderfinanzministern nichts genützt.
({1})
Wir können über dieses Thema im Rahmen einer Föderalismuskommission III gerne noch einmal reden, lieber
Axel Troost; aber ein bisschen mehr Verhandlungsgeschick und ein bisschen weniger Kavallerie führen da
mit Sicherheit zu einem besseren Ergebnis.
Ich finde den Hinweis auf den Länderfinanzausgleich
richtig. Offensichtlich haben Sie unsere Papiere von damals gelesen; Axel Troost hatte sie dabei. Dann werden
Sie festgestellt haben, dass der Länderfinanzausgleich
natürlich eine Ursache dafür ist, dass die Länder nicht
mit Begeisterung Betriebsprüfer einstellen. Wenn ein
Betriebsprüfer, dessen Gehalt das Land 100 000 Euro
kostet, dem Land zusätzliche Steuereinnahmen in
Höhe von 100 000 Euro bringt, dann ist die Begeisterung des Finanzministers nicht groß, wenn er von diesen
100 000 Euro im Rahmen des Länderfinanzausgleichs
90 000 Euro abgeben muss.
({2})
- Ja, das sollten wir tun. Aber hier ist für diese Diskussion leider nicht der richtige Ort. Wir hatten dieses
Thema schon 2008 in unserem Föko-Papier aufgegriffen. Wir werden dieses Thema - die Föko III lässt grüßen - wieder aufgreifen.
({3})
Aber wir waren in vielen Dingen auch wirklich erfolgreich; einige davon sind heute ja schon genannt worden: automatischer Austausch von Informationen über
Zinsen durch die EU-Zinsrichtlinie, FATCA.
Herr Dr. Gambke, Sie waren eben ganz ungläubig,
dass Sie am Donnerstag der nächsten Sitzungswoche die
Möglichkeit haben, unserem FATCA-Antrag zuzustimmen.
({4})
- Doch, haben Sie. Seit gestern liegt er Ihnen sogar in
Papierform vor.
({5})
Am Donnerstag der nächsten Sitzungswoche werden wir
dieses Abkommen in nationales Recht umsetzen und dadurch auch international einen Informationsaustausch erreichen, wenn unserem Änderungsantrag zum AIFMSteueranpassungsgesetz zugestimmt wird. Ich freue
mich auf Ihre Zustimmung nach der heutigen Rede.
Als weitere Erfolge nenne ich die G-5-Initiative zum
automatischen Informationsaustausch bei Dividenden
und das OECD-Projekt für Maßnahmen gegen Gewinnverlagerungen.
Vieles ist heute gesagt worden. Sie können das im
Protokoll ja noch einmal nachlesen.
Wir sind die erfolgreichste Regierung im Kampf gegen Steuerhinterziehung, und wir werden das auch weiter sein. Ich freue mich für jeden Steuerhinterzieher, den
wir dabei zurück auf den Weg der Tugend bringen. Manchen werden wir vielleicht auch bestrafen; denn das
kann natürlich ein Ergebnis von Steuerhinterziehung
sein.
Herr Gysi, an dieser Stelle muss ich Ihnen sagen: Ich
finde es unbeschreiblich. Sie wissen ganz genau, dass
Sie die Unwahrheit sagen, und Sie sagen die Unwahrheit
so bewusst, dass ich Ihnen das heute noch einmal vorhalte. Sie haben nämlich behauptet, dass jemand, der
sich auf irgendeiner Steuer-CD wiederfindet, ganz
schnell sagen kann: „Oh, jetzt zeige ich mich mal selber
an“, und straffrei ausgeht. Sie wissen ganz genau, dass
das nicht so ist, aber ich lese Ihnen das noch einmal vor.
In § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO steht:
Straffreiheit tritt nicht ein, wenn eine der Steuerstraftaten im Zeitpunkt der … Nachholung ganz
oder zum Teil bereits entdeckt war und der Täter
dies wusste oder bei verständiger Würdigung der
Sachlage damit rechnen musste …
Selbstverständlich weiß jemand, wenn eine CD seiner
Bank in der Schweiz aufgekauft wird, dass seine Steuerhinterziehung in dem Fall entdeckt ist. Deshalb bin ich
auch fest davon überzeugt, dass die meisten Selbstanzeigen im Zusammenhang mit Steuer-CDs nicht zu einer
Strafbefreiung führen werden, weil die Entdeckung vorlag und wir deswegen den plötzlichen Anstand des Betroffenen nicht mehr brauchen. Wenn dieser Steuerpflichtige zu einem Zeitpunkt die Wahrheit sagt, in dem
die Finanzbehörde noch keine Erkenntnisse hat, ist eine
Straffreiheit möglich, was für uns den Vorteil hat, dass
wir dann auch die Steuern einnehmen.
Hier greife ich gerne den Vergleich auf, den Herr Poß
eben hinsichtlich des Abkommens mit der Schweiz dargestellt hat. Sie haben gesagt, wenn man das Abkommen
mit der Schweiz so gestaltet hätte, wie Sie es gewollt
hatten, dann hätten die Steuerhinterzieher die Hosen runterlassen müssen. Nach dem, was ich mir vorstelle, hätten wir Geld bekommen. Bei der Abwägung zwischen
10 Milliarden Euro und zwei Hosen ist ganz klar, welche
Variante ich wählen würde.
({6})
Sie werden in den nächsten Monaten in Ihren Wahlkreisen erklären müssen, dass wir dieses Geld für Kinderbetreuung, Kindergärten und Schulsanierung nicht
zur Verfügung haben, weil Sie dafür gesorgt haben, dass
wir diese Steuereinnahmen nicht erzielen.
({7})
Die Steuerhinterzieher haben am 31. Dezember 2012 die
Sektkorken knallen lassen, weil Sie es ihnen ermöglicht
haben, anonym und ohne Steuerzahlung davonzukommen.
({8})
Das werden Sie sich anhören und erklären müssen.
Letzter Punkt zur strafbefreienden Selbstanzeige.
Hier wende ich mich gerne einmal auch an die Besucherinnen und Besucher oben auf der Tribüne.
Die strafbefreiende Selbstanzeige wird nicht nur bei
großen Steuerhinterziehern angewandt - da geschieht
das sogar eher nur im Ausnahmefall -, sondern die strafbefreiende Selbstanzeige ist ein Instrument, das vielleicht auch einer von Ihnen schon einmal nutzen musste.
Wenn Sie eine Umsatzsteuervoranmeldung zu spät abgeben, ist das nämlich schon eine Steuerhinterziehung.
Wenn wir in solchen Fällen nicht in jedem Fall ein Strafverfahren einleiten wollen - und das wollen wir nicht -,
dann muss es die Möglichkeit geben, durch die Berichtigung seiner Tat diesen Fehler wiedergutzumachen, und
genau darum geht es.
({9})
Sollten wir nach Auswertung der Steuer-CDs feststellen - ich habe mir sagen lassen, dass selbst die, die vor
zehn Jahren gekauft worden sind, bis heute noch nicht
ausgewertet wurden -, dass bei der Selbstanzeige doch
noch irgendwo eine Lücke ist, dann sind wir, wie wir das
in der Vergangenheit auch schon getan haben, die Ersten,
die diese Steuerstraffreiheit mit Ihnen gemeinsam, wenn
Sie mögen, einschränken. Hierzu möchte ich vorher aber
die Berichte der Steuerfahnder und der Finanzbeamten
hören.
Ich kann nur zitieren, was heute in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung steht. Der Präsident des Bundesfinanzhofs hat heute sehr deutlich gesagt, dass die
Steuerselbstanzeige ein Instrument ist, das sich aus seiner Sicht bewährt hat. Dieses Instrument gibt es natürlich auch im Strafrecht. Herr Kolbe hat Ihnen hier ja
eben ein bisschen Nachhilfe gegeben, Herr Gysi.
Ich glaube, sie ist ein gutes Instrument. Wenn es Auswüchse gibt, dann werden wir sie angehen, so wie wir
auch alle anderen Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung sehr konsequent fortgesetzt haben. Wenn Sie dabei
sind, ist es umso besser. Bis dahin werden wir das aber
auch weiter alleine machen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/13129 mit
dem Titel „Steueroasen trockenlegen - offshore und
hierzulande“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Zusatzpunkt 9. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/13241 mit
dem Titel „Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch
dieser Antrag ist gegen die Stimmen der Linken mit den
Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({1}), Michael Kretschmer,
Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Sylvia Canel, Dr. Martin Neumann ({2}), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der
Lehrerausbildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Swen Schulz ({3}),
Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform der Lehrerbildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Exzellente Lehrerbildung überall sichern Pädagogische Berufe aufwerten
- Drucksachen 17/9937, 17/11322, 17/10100,
17/13077 Präsident Dr. Norbert Lammert
Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg ({4})Dr. Ernst Dieter RossmannSylvia CanelDr. Rosemarie HeinKai Gehring
Eine interfraktionelle Vereinbarung sieht vor, dass die
Aussprache 45 Minuten dauern soll. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Helge
Braun.
({5})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in unserer
Gesellschaft eint uns der Wunsch, dass wir den Kindern
in unserem Land möglichst die besten Bildungschancen
eröffnen. Die Bildungsforschung der letzten Jahre hat
immer wieder bewiesen: Es gibt viele Faktoren, die auf
die Bildungsqualität einen Einfluss haben; aber den
größten Einfluss auf die Qualität der Bildung in unseren
Schulen hat die Qualifikation der Lehrer.
({0})
Deshalb hat die Bundesregierung auch durch Initiative des Deutschen Bundestages und der Koalition aus
CDU/CSU und FDP bereits im Dezember 2011 ein Angebot an die Länder gemacht, indem sie gesagt hat: Die
Aufgabe der Lehrerbildung und die Zuständigkeit für die
allgemeine und schulische Bildung ist eine Aufgabe der
Länder. Aber die Bundesregierung und die sie tragende
Koalition haben immer gesagt: Wir betrachten Bildung
als eine gesamtstaatliche Aufgabe, und wir wollen einen
relevanten Beitrag leisten, damit die Bildungsrepublik
Deutschland blüht. Wir sind bereit, mit den Ländern darüber in Verhandlungen zu treten, was sie tun können,
um eine Qualitätsoffensive für die Lehrerbildung zu starten. - In der Sitzung der GWK am 12. April 2013 haben
wir es nach rund zweijährigen Verhandlungen geschafft:
Es wird eine Qualitätsoffensive Lehrerbildung in
Deutschland geben, und der Bund wird hierfür 500 Millionen Euro in die Hand nehmen.
({1})
Karl Jaspers hat die Bedeutung der Lehrerbildung
schon einmal auf den Punkt gebracht, er sagte:
Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer achtet.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir alle gemeinsam
daran arbeiten, dass die Lehrerausbildung optimal ist.
Die Kritik in unserer Gesellschaft an den derzeitigen
Systemen besteht nicht nur darin, dass wir nicht genug
an der Lehrerausbildung arbeiten, sondern auch darin,
dass wir noch nicht für die Vergleichbarkeit der Curricula, für gemeinsame Bildungsstandards, für die Abschaffung der Unterschiedlichkeit von Schulbüchern und
für die Beseitigung der fehlenden wechselseitigen Anerkennung der Lehrer in den einzelnen Bundesländern gesorgt haben.
Die Überwindung des Status quo ist eine Herausforderung. Deshalb haben wir das Angebot des Bundes,
500 Millionen Euro für eine Qualitätsoffensive in der
Lehrerbildung auszugeben, mit der Forderung verbunden - die Länder sind darauf eingegangen, wofür wir
sehr dankbar sind -, dass es in Zukunft eine wechselseitige Anerkennung der Lehrerinnen und Lehrer in den
einzelnen Bundesländern, einen gleichberechtigten Zugang zum Vorbereitungsdienst und einen gleichberechtigten Berufszugang gibt.
({2})
Die 500 Millionen Euro, die wir in den nächsten zehn
Jahren in die Hand nehmen werden, werden wir im wettbewerblichen Verfahren vergeben. Das heißt, die Hochschulen sind aufgefordert, Konzepte vorzubereiten, eine
Stärken- und Schwächenanalyse ihrer Lehrerausbildung
vorzunehmen und dann Konzepte einzureichen, die sowohl die Fachdidaktik als auch die Pädagogik und die
Schulpraxis beinhalten und alle Abschnitte, also Studium, Referendariat und die Weiterbildung im Beruf,
umfassen. Wir wollen, dass die Hochschulen in diesem
Wettbewerb Konzepte auflegen, die auch Best Practice
und eine Vernetzung über die Grenzen der Bundesländer
hinaus ermöglichen, sodass wir mit diesem 500-Millionen-Euro-Programm in den nächsten Jahren die Lehrerausbildung in Deutschland grundsätzlich stärken.
({3})
Wir wollen, dass die jungen Menschen in ganz
Deutschland etwas davon haben. Deshalb erfolgt die Zuteilung der Mittel und Initiativen nach einem relativ
komplizierten Schlüssel, der aber im Prinzip eines erreicht - und das ist das, was wir wollen -, nämlich dass
in allen Bundesländern die Lehrerausbildung gestärkt
wird. Indem wir die Verteilung der Projekte auf der einen Seite nach dem Königsteiner Schlüssel und auf der
anderen Seite nach der Zahl der Absolventen bemessen,
kann in jedem Bundesland von diesem Programm profitiert werden.
Aber innerhalb der Bundesländer bzw. dann, wenn es
in einem Bundesland nicht ausreichend hervorragende
Anträge gibt, bleibt die wettbewerbliche Komponente
erhalten. Bevor ein nicht ausreichend exzellentes Konzept gefördert wird, geht das Geld an eine Stelle, wo ein
entsprechend gutes Konzept vorhanden ist. Ich glaube,
auch das ist ein fairer Ausgleich zwischen Regionalität
und Exzellenz, den wir mit dem Programm gefunden haben.
Das macht deutlich: Wir verfügen jetzt über ein Programm des Bundes mit einem Volumen von 500 Millionen Euro, das die Lehrerbildung in den nächsten Jahren
grundlegend voranbringen wird. Deshalb ist es ein guter
Tag für die jungen Menschen in unserem Land, die darauf hoffen können, dass sie auch in Zukunft in Deutschland, in der Bildungsrepublik, die Zeit, die sie mit Leh30018
ren und Lernen verbringen, hervorragend nutzen
können, um ihre eigene Zukunft zu gestalten.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
Damen und Herren! Es ist unbestritten, dass die Aufgabe, die Lehrerausbildung auf neue Herausforderungen
einzustellen, eine der wichtigsten Schlüsselstellen im
Bildungswesen ist. Der Problemdruck ist an den Schulen
auch spürbar.
Wir haben diese Woche im Ausschuss noch einmal
über das Thema Inklusion gesprochen. Wer sich vor Ort
umhört, weiß, dass inklusive Bildung eine Herausforderung ist, die jetzt in den Schulen anliegt. Insofern ist es
richtig, dass die Länder sich bereits auf den Weg gemacht haben, indem sie die Fachdidaktik und Praxisphasen in der Lehrerausbildung gestärkt und Lehrerbildungszentren an den Hochschulen eingerichtet haben.
Es ist gut und richtig, dass der Bund und die Länder
vereinbart haben, gemeinsam und verstärkt diesen Weg
fortzusetzen. Das erkennen wir ausdrücklich an.
({0})
Ich will aber auch sagen: Genauso wie beim Hochschulpakt ist das nicht nur die Leistung des Bundes, sondern
es ist eine gemeinsame Leistung von Bund und Ländern.
({1})
Die zusätzlichen Mittel aus der Qualitätsoffensive
- 50 Millionen Euro pro Jahr - werden helfen, neue Erkenntnisse zu gewinnen und den Transfer zu beschleunigen. Wir können die Debatte über die Anträge ein bisschen abkürzen, weil viele Erkenntnisse und Forderungen
aus den vorliegenden Anträgen berücksichtigt werden
sollen.
Wir sollten aber nicht vergessen, was die Länder
heute schon tun. Das gilt auch für die finanzielle Seite.
In meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen beispielsweise werden - zumindest wenn es nach dem
Königsteiner Schlüssel geht; die neue Regelung habe ich
noch nicht ganz überblickt - aus der Qualitätsoffensive
etwa 10 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt.
Zusätzlich zu den bisherigen Aufwendungen wendet das
Land aber schon in diesem Jahr 19 Millionen Euro für
die Weiterentwicklung des Lehramtes für die besonderen
Bedürfnisse der inklusiven Bildung auf.
Das alles zusammen zeigt: Nur gemeinsam können
Bund und Länder die Lehramtsausbildung neu profilieren und dem Fachkräftemangel begegnen. Wir sollten
das an dieser Stelle auch nicht künstlich trennen.
({2})
Weil wir uns über diese gemeinsame Aktivität von
Bund und Ländern im Großen und Ganzen gar nicht
streiten müssen, will ich nur einige Punkte nennen, die
aus unserer Sicht in der Qualitätsoffensive noch der weiteren Berücksichtigung bedürfen. Inklusion und Heterogenität sind ausdrücklich Schwerpunkt der Bund-Länder-Vereinbarung; das begrüßen wir. Aber ich will noch
einige andere Punkte benennen.
Erstens. Wir alle sprechen über frühzeitige Berufsorientierung, die ab Klasse 7 oder 8 einsetzen soll. Das
stellt natürlich zusätzliche Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer. Manche fühlen sich aufgrund ihrer bisherigen Ausbildung, aber auch aufgrund der spezifischen Lehrerbiografie, zumindest an allgemeinbildenden
Schulen, auf diese nicht immer ausreichend vorbereitet.
Deshalb wäre es gut, wenn die Qualitätsoffensive auch
Projekte aus diesem Bereich auslösen würde.
Im Übrigen - ein Punkt, der aus meiner Sicht noch
nicht so sehr öffentliche Aufmerksamkeit erfährt zeichnet sich insbesondere im gewerblich-technischen
Bereich der berufsbildenden Schulen ein Lehrermangel
ab. Wir müssen deshalb gemeinsam darauf achten, dass
die speziellen Belange von Berufsschulen und Berufskollegs einen prominenten Platz in der Qualitätsoffensive erhalten.
({3})
Zweitens. Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat in der vergangenen Sitzungswoche die Konsequenzen der Digitalisierung unseres Alltags für die Bildung beschrieben. Schülerinnen und
Schüler müssen Medienkompetenz erwerben können,
um sich in der digitalen Welt selbstbestimmt und kritisch
bewegen zu können. Das ist nicht nur eine Frage der
Ausstattung mit digitalen Lehrmitteln - obwohl auch das
wichtig ist -; es ist vor allen Dingen eine Frage der Ausund Fortbildung derjenigen, die Medienkompetenz vermitteln sollen. Deshalb habe ich die herzliche Bitte an
den Bund und die Länder, die Digitalisierung in der
Schule, die Digitalisierung von Bildung ebenfalls in der
Qualitätsoffensive zu verankern.
({4})
Drittens. Wir brauchen eine schnelle Schnittstelle
zwischen den Erkenntnissen der Bildungsforschung
- der Staatssekretär hat das gerade schon angesprochen und dem Lehrerberuf. Deswegen gehört auch der Blick
auf die gesamte Berufsbiografie in die Bund-LänderVereinbarung. Auch die Fortbildung gehört ins Blickfeld
der Qualitätsoffensive. Hier müssen sich die Hochschulen stärker öffnen und profilieren; denn wir können nicht
nur auf die zukünftige Lehrergeneration schauen, sondern müssen auch diejenigen in den Blick nehmen, die
heute im Dienst sind und dort noch viele Jahre bleiben
werden.
Viertens. Schulen, die sich ihrem kommunalen Umfeld öffnen, Ganztagsschulen zumal - das haben wir aus
aktuellen Studien ersehen können -, werden zu offenen
Häusern des Lernens, in denen viele pädagogische Professionen zusammenarbeiten sollen. Auch das gehört zu
den Anforderungen des Lehrerberufs.
Gemeinsam haben Bund und Länder deshalb mit der
Einrichtung von zusätzlichen 3 000 Schulsozialarbeiterstellen im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets dafür gesorgt, dass Lehrerinnen und Lehrer auch von Aufgaben im familiären Umfeld der Schüler oder bei der
Berufsorientierung entlastet werden. Diese Stellen, die
letztlich auf den Druck von Rot-Grün geschaffen worden
sind, haben sich in der Praxis bewährt; das werden Sie
alle aus Ihrer Arbeit vor Ort wissen. Umso unverständlicher ist es, dass sich die zuständige Bundesarbeitsministerin bislang weigert, die Finanzierung dieser Stellen, die
Ende 2013 ausläuft, weiter zuzusichern.
({5})
Wenn sich die Koalition an dieser Stelle nicht bewegt,
dann werden diese Stellen Ende des Jahres wegfallen,
und sie wird es ihrer Nachfolgeregierung überlassen, die
Scherben zusammenzufegen. Deshalb: Die zusätzliche
Schulsozialarbeit muss erhalten bleiben. Der Bund muss
hier seiner Verantwortung nachkommen.
({6})
Ein Letztes: Die Schule ist letztlich für die Schüler da.
Wer über die Ausbildung der Lehrer redet, der muss
auch über die Schülerinnen und Schüler reden. Das, was
wir in der Lehrerausbildung bewegen wollen, muss auch
etwas bei den Schülerinnen und Schülern bewegen; da
muss etwas ankommen. Deswegen ist die Fokussierung
auf den Unterricht gut. Natürlich muss auch deutlich
werden, dass Lehrerinnen und Lehrern die Wertschätzung für ihre Arbeit zukommt, die sie verdienen; denn
das ist eine der wichtigsten Berufsgruppen.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Sylvia
Canel das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Vier gute Jahre
heißt: Wir nehmen 500 Millionen Euro in die Hand und
geben das Geld an der richtigen Stelle aus. Ich habe eigentlich einen Dank erwartet, liebe Kollegen von der
SPD. Es wäre ganz schön gewesen, von Ihnen einmal etwas Positives zu hören.
({0})
Die Entwicklung unserer Gesellschaft wird maßgeblich von der Bildungspolitik beeinflusst und getragen.
Bildung ist die Voraussetzung für ein sehr starkes Fundament unserer Gesellschaft. Wir sind daher verpflichtet,
eine exzellente Qualität des Bildungssystems in
Deutschland zu sichern. Gute Bildung ist die Grundlage,
um den Fortschritt weiter voranzutreiben. Fortschritt bedeutet mehr Gesundheit, längeres Leben, Wohlstand und
- das sage ich als Liberale - Aufklärung. Nur wenn ich
die Fremdeinflüsse auf mich kenne, habe ich die Freiheit, selbst zu entscheiden, welche Einflüsse ich überhaupt zulasse. Deshalb sagen wir im Landesfachausschuss Bildung in Hamburg: Die Schulen sind die Wiege
der Demokratie. - Das sollte uns Politiker im Herzen berühren.
({1})
Gute Aufklärung braucht jedoch gute Lehrer. Ihr Engagement in den Klassenzimmern der Republik verdient
die höchste gesellschaftliche Anerkennung, nicht zuletzt
durch den Aspekt der Qualität. Die Qualität im Klassenzimmer wird maßgeblich durch die Qualität der Lehrerausbildung bestimmt. Somit kann nur ein exzellenter
Unterricht gegeben werden, wenn exzellente Lehrer
auch das Ziel sind. Noch immer wird die Lehrerausbildung in der Bundesrepublik jedoch stark vernachlässigt.
Verloren gegangene Anerkennung und Wertschätzung
für die Lehrer und ihren Beruf müssen dringend zurückgewonnen werden. Deshalb müssen wir die am besten
geeigneten Abiturienten und - diese dürfen wir nicht
vergessen - die fähigsten Quereinsteiger gewinnen und
motivieren, den Lehrerberuf, der eigentlich der schönste
Beruf von allen ist - das sage ich aus eigener Erfahrung -,
weil man mit jungen Menschen zu tun hat, zu ergreifen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass in Zukunft Lehrermangel herrscht. Wir verlieren Lehrer durch Überalterung
und dadurch, dass zu wenige Jüngere nachkommen. Aus
diesem Grund erarbeiteten die Koalitionsfraktionen die
Lehrerexzellenzinitiative und ebneten damit den Weg für
eine wirklich exzellente Lehrerausbildung und für mehr
Motivation der jungen Leute, diesen wichtigen und
schönen Beruf zu ergreifen.
({2})
Wenn jetzt die Opposition zusammen mit uns Art. 91 b
des Grundgesetzes noch änderte, dann würde die Exzellenzinitiative nicht als Leuchtturm dastehen, sondern
könnte auf Dauer verlässlich finanziert werden.
({3})
Die weitere Entwicklung des Bildungssystems steht
vor drei ganz besonderen Herausforderungen: dem demografischen Wandel, der Inklusion und der Digitalisierung unserer Gesellschaft. Der demografische Wandel ist
wohl die bedeutendste Aufgabe. Wir müssen dringend
die Lehrerausbildung reformieren und die Arbeitsbedingungen verbessern, damit junge Nachwuchslehrkräfte
motiviert in diesen wunderbaren Beruf einsteigen. Sollte
dies nicht gelingen, wären die Konsequenzen verheerend. Studien belegen, dass bis zum Jahr 2020 rund
460 000 Lehrer in den Ruhestand verabschiedet werden,
300 000 Lehrer alleine bis 2015; das ist in zwei Jahren.
Im Moment werden jedes Jahr nur 26 000 neue Lehr30020
kräfte ausgebildet. Wie soll das funktionieren? Diese Lücke kann so nicht geschlossen werden. Der demografische Wandel ist in vollem Gange, und wir müssen ihm
entgegenwirken mit sehr guter Ausbildung und konsequenter Nachqualifizierung von Quereinsteigern.
Auch im Bereich der Inklusion müssen Weichen gestellt werden. Die individuelle Förderung der Schüler
steht mehr denn je im Vordergrund. Dafür brauchen wir
gute Schulen den ganzen Tag. Wir brauchen in den
Grundschulen zwei Lehrer pro Klasse. Wir brauchen
mehr Erzieherinnen und auch - das wird Sie vielleicht
verwundern - Krankenschwestern an den Schulen. Wir
brauchen eine multiprofessionelle Schule; denn wenn
wir Beruf und Ausbildung der Kinder zusammenbringen
wollen, dann müssen wir auch daran denken, dass das
bisher nur mit gesunden Kindern funktioniert.
({4})
Lehrer leisten viel, aber nicht alles. Sie sind Fachleute,
aber keine eierlegenden Wollmilchsäue. Um den heutigen Anforderungen an die Lehrer gerecht zu werden,
müssen sowohl die Lehrerausbildung als auch die Schulorganisation neu gestaltet und an die zusätzlichen Anforderungen angepasst werden. Nur so kann Inklusion gelingen.
Im Zuge der Digitalisierung muss sich die Ausbildung von künftigen Lehrern an der heutigen Bildungstechnologie orientieren. Die gesellschaftliche Veränderung bricht bestehende Reglements auf und fordert
Raum, nicht zuletzt im digitalen Klassenzimmer. Wir
werden internationaler, wir werden flexibler, und wir
können auch Kindern, die nicht am Unterricht teilnehmen können, gute Angebote machen. Diese neuen Möglichkeiten des Unterrichts müssen sich auch in einer modernen Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer
niederschlagen. Deshalb darf diese Ausbildung nicht
länger ein Randdasein in den Hochschulen führen. Wenn
Deutschland Erfolg erzielen möchte, dann gilt es, die
Qualität der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern
weiter voranzubringen und zu stärken. Die Koalitionsfraktionen haben bisher sehr viel erreicht. Wir haben
sehr viel Geld in die Hand genommen. Wir haben in vier
guten Jahren die Basis für die vorliegende Initiative geschaffen. Wir sind auf einem guten Weg. Diesen Weg
werden wir weitergehen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Rosemarie Hein für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der vorgestern veröffentlichten Studie des Allensbach-Instituts mit dem Titel „Hindernis Herkunft“ kann
man einige bedenkliche Befunde finden. Zwei davon
will ich einmal nennen.
Zum Ersten: 63 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer
finden, dass gute Schülerinnen und Schüler besser zusammen mit anderen guten Schülerinnen und Schülern
lernen; aber auch 56 Prozent von ihnen finden, dass
schlechte Schülerinnen und Schüler mehr profitieren,
wenn sie mit deutlich leistungsstärkeren Schülerinnen
und Schülern zusammen lernen.
Der zweite Befund: 58 Prozent der Lehrkräfte an
Haupt- und Realschulen meinen, dass sie die Anforderungen in den letzten Jahren senken mussten.
Ich finde das deshalb bedenklich, weil diese Befunde
deutlich machen, dass die Qualität schulischer Ausbildung weiter abnehmen wird, wenn wir nichts tun. Dafür
gibt es verschiedene Gründe: die Verschlechterung der
Lehr- und Lernbedingungen an den Schulen, die Verkürzung der Unterrichtszeit, die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtungen für die Lehrkräfte, zu wenige Lehrkräfte, fehlendes pädagogisches Personal, eine
überbordende Bürokratie mit unzähligen Förderprogrammen und einem aufwendigen Berichtswesen, das
wenig zur Unterrichtsqualität beiträgt. Eine wesentliche
Ursache liegt aber auch darin, dass Lehrende von heute
nur unzureichend auf die gewachsenen pädagogischen
Anforderungen vorbereitet sind. Der Umgang mit leistungsgemischten Lerngruppen beispielsweise, die Umsetzung von Inklusion in der Schule - Frau Canel hat es
eben erläutert - und die Aufnahme gar nicht mehr so
neuer pädagogischer Arbeitsformen, wie zum Beispiel
Freiarbeit, sind nach wie vor vielen Lehrkräften suspekt.
Das ist ihnen deshalb suspekt, weil sie dafür nicht ausgebildet sind. Nun gut, man kann sagen: Von Lehrerinnen
und Lehrern kann man erwarten, dass sie sich ein Leben
lang fortbilden. Aber auch in der heutigen Lehramtsausbildung finden sich diese Bestandteile eben nicht in ausreichendem Maße wieder.
Die Anträge, die uns heute hier vorliegen, widmen
sich diesem Problem. In der Problembeschreibung liegen sie auch sehr dicht beieinander. Nun steht aber die
Frage, welche Verantwortung der Bund für die Verbesserung der Ausbildung hat, im Raum. Genau hier scheiden
sich die Geister. Lehramtsausbildung ist Ländersache.
Obwohl es seit mehr als zehn Jahren Vereinbarungen zur
Lehrerausbildung, zur Anerkennung von Abschlüssen,
zur Harmonisierung der Ausbildung usw. usf. gibt, unterscheidet sich die Ausbildungspraxis in den Ländern
immer mehr voneinander.
Die Unterschiede liegen vor allem in den Inhalten der
Ausbildung. So sieht die Ausbildung in elf Bundesländern noch nicht einmal ein Praxissemester vor. In vielen
Hochschulen wurden die Ausbildungsbestandteile der
pädagogischen Wissenschaften in den letzten Jahren
massiv vernachlässigt. Zu wenige widmen sich intensiv
der Umsetzung von Inklusion in den Schulen. Aber die
heute und in den nächsten Jahren auszubildenden Lehrkräfte werden für etwa 40 Jahre die Qualität der Schulen
bestimmen. Darum können wir nicht mehr warten, bis
eine Exzellenzinitiative in der Breite angekommen ist
und allen Hochschulen zugutekommt. Wir brauchen eine
exzellente Lehrerausbildung, heute und jetzt, in jeder
Hochschule, die eine Lehramtsausbildung anbietet.
({0})
Bei dem Beschluss der GWK von vor 14 Tagen wird
allerdings deutlich, dass es zwar die Absicht gibt, alle
Länder daran zu beteiligen, aber eine Garantie dafür gibt
es nicht. Vier Stadtstaaten und Bundesländer haben nur
eine einzige Hochschule, die Lehrkräfte ausbildet; da
kann es schlecht Wettbewerb geben. In weiteren vier gibt
es nur zwei, und die haben nicht immer das gesamte
Ausbildungsspektrum. In meinem Bundesland, SachsenAnhalt, beispielsweise werden Lehrerinnen und Lehrer
für allgemeinbildende Schulen nahezu ausschließlich an
der Uni Halle ausgebildet. Bei der Umsetzung der Exzellenzinitiative laufen, wie ich diese Vereinbarung lese,
viele Länder Gefahr, am Ende doch nichts abzubekommen.
Wir bleiben dabei, dass eine gute Lehrerausbildung
an allen Hochschulen stattfinden können muss. Der
Bund hat hier Handlungsmöglichkeiten. Er muss nicht
warten, bis das Kooperationsverbot aufgehoben ist, obwohl das sehr helfen würde.
({1})
Man kann zum Beispiel den Hochschulpakt so ausgestalten, dass er an den Hochschulen auch bei der Lehrerbildung ankommt. Man kann auch einen Pakt für bessere
Lehre machen; auch das könnte in der Lehrerausbildung
ankommen.
({2})
Möglicherweise reichen dann allerdings die 500 Millionen Euro nicht, die ja auf viele Jahre verteilt werden.
Aber das sollte uns eine bessere Lehrerausbildung schon
wert sein.
({3})
Frau Canel, ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt und an einer Stelle auch applaudiert, wie Sie sicher
bemerkt haben. Man hat eben gemerkt, dass eine Lehrerin gesprochen hat. Ich frage mich nur: Sind Sie in dieser
Regierung oder nicht?
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kinder und Jugendliche brauchen Lehrkräfte mit starken
fachlichen, pädagogischen und diagnostischen Fähigkeiten, Lehrkräfte, die individuell fördern und Inklusion
umsetzen können. Wir erhoffen uns von der Bund-Länder-Vereinbarung über die Lehrerbildung starke Impulse,
um Lehrerinnen und Lehrer auf ihre verantwortungsvollen Aufgaben besser vorzubereiten. Dabei gilt es zu beachten, dass sich Reformen in diesem Bereich erst mittelfristig auswirken. Bildlich gesprochen: Wenn jetzt die
Ausbildung reformiert wird, werden wahrscheinlich
noch nicht einmal die heutigen Grundschülerinnen und
Grundschüler davon profitieren. Eine zügige Weiterentwicklung der Lehrerbildung ist daher überfällig. Die
Bund-Länder-Initiative muss deshalb ein Erfolg werden.
({0})
In der öffentlichen Debatte um die Lehrerausbildung
spielte bisher die Mobilität von Lehramtsabsolventinnen
und -absolventen eine herausragende Rolle. Dies ist ein
wichtiges Anliegen zwischen den Bundesländern, darf
aber nicht die inhaltliche, konzeptionelle und praxisnahe
Modernisierung des Lehramtsstudiums in den Hintergrund treten lassen; denn das ist doch der eigentliche
Kern. Die wachsenden beruflichen Anforderungen an
Lehrkräfte müssen bei einer Reform der Lehrerausbildung maßgeblich sein. Im Schulalltag sind hohe fachliche Qualifikationen genauso gefordert wie anspruchsvolle didaktische Qualität, Diagnostik und Evaluation.
Die stärkere Vielfalt der Schülerschaft erfordert eine
Lehr- und Lernkultur, die Integration und Inklusion verbessert; denn Herkunft darf nicht zum Hindernis werden.
({1})
Lehrerinnen und Lehrer müssen deshalb im produktiven Umgang mit Heterogenität ausgebildet sein und
weitergebildet werden. Notwendig ist in diesem Zusammenhang auch die Stärkung der Forschung zum Themenbereich Heterogenität und Diversity, wie sie zum
Beispiel in den entsprechenden DFG-Programmen gefördert wird. Eine moderne Lehrerbildung beruht auf einem wissenschaftlichen und zugleich berufsfeldorientierten Studium - das hat auch das Fachgespräch im
Bildungsausschuss des Bundestages gezeigt -; denn die
Schule ist eine zentrale Institution und Sozialisationsinstanz im Leben von Kindern und Jugendlichen. Die
Schule braucht nicht nur multiprofessionelles Personal
und eine bessere Vernetzung zwischen den Schulfächern, sondern auch eine Vernetzung mit schulbezogener
Jugendsozialarbeit, mit Gesundheitsprävention und
Quartiersentwicklung vor Ort. Nur mit einer durchdachten Strategie können wir all diesen Anforderungen vor
Ort gerecht werden.
Über die grundsätzlichen Ziele einer Qualitätsoffensive für die Lehrerausbildung herrscht zwischen den
Fraktionen mittlerweile große Übereinstimmung. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass im Antrag der Regierungsfraktionen ein klares Konzept zur Verbesserung der Lehrerausbildung fehlt. Das betrifft zum Beispiel die
Qualitätsmessung und das Auswahlverfahren; ebenso
wie im Antrag der Linksfraktion sind Fort- und Weiterbildung darin ziemlich unterbelichtet. Niemand kann
und darf warten, bis es zu einem kompletten Austausch
der Lehrerinnen und Lehrer gekommen ist. Fort- und
Weiterbildung müssen deshalb als gleichrangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden. Es braucht in
jedem Kollegium und in jedem Bundesland eine echte
Weiterbildungskultur.
({2})
Auch der von der Linken beantragte Ansatz, die Bundesförderung allen Hochschulen jetzt und sofort nach
dem Gießkannenprinzip zukommen zu lassen, ist nicht
zielführend. Es macht dagegen Sinn, dass eine Förderung daran gekoppelt ist, dass eine Hochschule ein
schlüssiges und innovatives Konzept vorlegt.
({3})
Gute Praxisbeispiele sollen dann im Rahmen der BundLänder-Zusammenarbeit ausgewertet und verbreitet
werden. Das heißt, es geht um den Transfer des Guten in
die Breite. Wir sind zuversichtlich, dass aus diesem gesamtstaatlichen und kooperativen Ansatz dann eine breit
angelegte und wirksame „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ erwachsen kann.
Wir begrüßen, dass die Koalition und die Bundesregierung sich von ihrem sehr engen Ansatz einer Exzellenzinitiative verabschiedet haben und dass Bund und
Länder zu einer sinnvollen Einigung gekommen sind.
({4})
Wir begrüßen auch, dass alle Beteiligten aus den
Schwierigkeiten beim Hochschulpakt gelernt haben:
Erstens sind Forderungen wie die Kapazitätsneutralität
in der Vereinbarung ganz klar formuliert. Zweitens geht
das Geld vom Bund direkt an die Hochschulen, und das
ist gut so. Die Bund-Länder-Vereinbarung zeigt auch,
dass ein Bildungsstaatsvertrag, wie ihn die letzten verbliebenen Länderminister der Union vor ein paar Monaten vorgeschlagen haben, nicht notwendig ist. Dass Frau
Wanka nach ihrer Abwahl in Niedersachsen diesbezüglich dazugelernt hat, ist erfreulich. Es ist erfreulich, dass
man sich auf eine andere Vereinbarung verständigt hat.
Allerdings sind hier auch die Hinterlassenschaften der
Vorgängerin von Frau Wanka offenkundig. Herr Braun
hat vorhin noch einmal 500 Millionen Euro für die
nächsten zehn Jahre versprochen. Nicht einmal im Haushaltsentwurf für das Jahr 2014 sind die 50 Millionen
Euro für das nächste Jahr verankert. Das heißt, hier wird
über Geld geredet, das Frau Wanka bisher überhaupt
nicht hat.
({5})
- Der Haushalt ist derzeit in der Beratung.
({6})
- Es gibt einen Haushaltsentwurf und eine mittelfristige
Finanzplanung; darin muss das abgebildet sein.
Die globalen Minderausgaben - 620 Millionen Euro haben Sie auch noch beim BMBF. Das darf nicht zulasten anderer Titel erwirtschaftet werden.
Wir hoffen und erwarten, dass die gute inhaltliche Basis für die Verbesserung der Lehrerbildung und damit für
die Vorbereitung auf diesen sehr anspruchsvollen Beruf
nun auch umgesetzt wird.
Kollege Gehring, achten Sie bitte auf die Zeit!
Dann und nur dann wird das Ganze zum Erfolg vor
Ort werden.
Danke schön.
({0})
Kollege van Essen, Sie können gern stoppen. Wenn
das so ist, dann geht Ihre Uhr schneller als die Uhr der
Präsidentin.
({0})
Der Kollege Marcus Weinberg hat für die Unionsfraktion das Wort.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Solange die Zeit nicht abläuft, ist alles in
Ordnung.
Ich danke dem Kollegen Gehring für die 97-prozentige Unterstützung dieser Initiative. Das zeigt - das
wurde in allen Wortbeiträgen, auch denen der Opposition, deutlich -, dass hier mit guter Bildung ein wichtiges Thema aufgegriffen wurde. Es ist ein Riesenerfolg,
dass in den nächsten Jahren über 500 Millionen Euro in
die Ausbildung unserer Lehrer investiert werden. Dafür
ein herzliches Dankeschön!
({0})
Eine große gesellschaftliche Diskussion betrifft die
Frage nach den Faktoren für erfolgreiches Lernen. Dabei
geraten wir in vielen Bildungsdiskussionen immer wieder bis an den Rand des Streits aneinander. Es geht um
die Frage: Welche Faktoren wirken eigentlich?
Marcus Weinberg ({1})
Ich will nur einmal die McKinsey-Studie von vor wenigen Jahren ansprechen. Bei dieser Studie mit einem internationalen Vergleich - es wurden 24 Länder untersucht - mit einer Laufzeit von einem Jahr wurden mehr
als 100 Experten befragt: Welche Faktoren sind wirksam? Ist es die Finanzierung der Schulsysteme? Das ist
die Frage, die insbesondere die Linke immer gerne aufwirft. Da muss ich Sie leider enttäuschen, meine Damen
und Herren. Das wurde als ein nicht wesentlicher Faktor
identifiziert. Australien hat seit 1970 den Etat verdreifacht, die USA haben ihn verdoppelt, und die Erfolge
sind mäßig. Ist es die Ganztags- oder Halbtagsbetreuung? Ich als Anhänger einer guten Ganztagsbetreuung
sehe dabei durchaus auch noch andere Funktionen. Für
den Bildungsbereich lässt sich festhalten - das wurde in
der Studie herausgearbeitet -, dass durchaus auch Schulen, die keine Ganztagsbetreuung anbieten, sehr gute Erfolge erzielen. Ist es die Klassengröße? Darüber kann
man lange streiten.
Im Kern steht die Aussage - und das ist für uns nicht
unwichtig -: Entscheidend sind gute Lehrer.
({2})
Ich nenne hier als Beispiel eine Untersuchung in Dallas,
die sicher viele kennen. Dort haben Toplehrer durchschnittlich begabte Schüler unterrichtet, die dann zu den
Top-5-Prozent ihres Jahrganges gehörten. Durchschnittlich begabte Schüler, die von weniger gut ausgebildeten
Lehrern unterrichtet wurden, fanden sich relativ weit unten auf der Skala wieder. Das ist der erste Befund.
Zweiter Befund - das richtet sich an die deutschen
Universitäten und diejenigen, die den Lehramtsberuf anstreben -: Es wird häufig vom Praxisschock berichtet.
Vor einem Jahr gab es eine Allensbach-Studie, in deren
Rahmen junge Lehrer befragt wurden. Herausragend
fand ich, dass 81 Prozent der Lehrer in Deutschland immer noch Freude an ihrer Arbeit haben.
({3})
Nur jeder zehnte Anfänger überlegt, auszusteigen.
83 Prozent gaben an, gerne mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Das heißt, bei den jungen Menschen in
Deutschland gibt es den Wunsch, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Es gibt das Streben, hier etwas
Gutes zu tun.
Dritter Befund. Kai Gehring und einige Vorredner haben die Herausforderungen für die nächsten Jahre benannt. Es geht um das Thema Inklusion. Das muss nicht
nur bei der Lehrerausbildung eine Rolle spielen, sondern
auch bei der Qualifizierung und Weiterbildung der Lehrkräfte. Wir haben das Thema „kulturelle Vielfalt“ in den
Großstädten mit dem Thema Integration verbunden. In
Großstädten wie Hamburg und Frankfurt haben mittlerweile über 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund. Darauf muss sich die Fachdidaktik einstellen; darauf müssen sich aber auch die
Methodik und die Pädagogik einstellen. Das Thema „heterogene Lerngruppen“ wurde bereits angesprochen.
Auch dieses Thema ist bei der Formulierung der Lehrerexzellenz aufgenommen worden. Eine weitere Herausforderung, die es aufzunehmen gilt, sind die veränderten
Strukturen in Elternhaus und Familie. - Dies sind die
Bereiche, die in den nächsten Jahren durch diese Initiative abgedeckt werden sollen.
Hinzu kommt etwas nicht ganz Unwichtiges, was unsere ehemalige Ministerin Schavan gesagt hat, der wir
sehr viel zu verdanken haben.
({4})
Sie hat gesagt: Wenn ein durchschnittlicher Unternehmensberater mehr Ansehen in der Gesellschaft genießt
als ein guter Lehrer, dann stimmt etwas in unserer Gesellschaft nicht. - Auch daran müssen wir arbeiten.
({5})
Wir werden mit dieser Initiative drei Ziele erreichen:
Erstens. Bund und Länder wollen mit der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ den absehbaren Generationswechsel im Lehrpersonal nutzen, begonnene Reformen
zu unterstützen, zu beschleunigen und neue Impulse zu
setzen, gerade im Bereich der didaktischen und methodischen Auslegung.
Zweitens. Sie wollen zudem überzeugende Beiträge
zur Aufwertung des Lehramtsstudiums entwickeln. Die
„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ will einen wettbewerblichen, breit wirkenden und kapazitätsneutralen Impuls geben, mit dem eine qualitativ nachhaltige Verbesserung für den gesamten Prozess der Lehrerbildung
erreicht werden soll. Hier unterscheiden wir uns schon.
Wir wollen nicht mit der Gießkanne verteilen, sondern
Exzellenz haben. Wir wollen die guten Konzepte umsetzen. Wir wollen, dass aus den guten Konzepten auch etwas für die Breite entsteht. Insofern verfahren wir nicht
so wie Sie von den Linken; denn Sie wollen nur immer
mehr mit der Gießkanne ausschütten. Wir wollen eine
exzellente Lehrerausbildung. Daran orientieren sich
auch andere Hochschulen.
({6})
Damit erreichen wir, dass die Lehrerausbildung aus der
Nische der Hochschulen in das Zentrum der Hochschulen gelangt. Eine gute Universität ist eine Universität,
die gute Lehrer ausbildet.
Kollege Weinberg, achten Sie bitte auf die Redezeit!
Mit Blick auf die Redezeit will ich noch den dritten
Aspekt ansprechen: Drittens. Wir müssen es schaffen,
die Studienleistung anzuerkennen und Übergänge und
Mobilität zu stärken.
Heute ist ein guter Tag für die jungen Menschen, die
sich entscheiden, Lehrerin bzw. Lehrer zu werden, weil
sie endlich in das Zentrum der Gesellschaft rücken, weil
sie zu denen gehören, die wir in den nächsten Jahren mit
Marcus Weinberg ({0})
500 Millionen Euro unterstützen. Dies ist ein großer Erfolg. - Ich wünsche ein schönes Wochenende.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mit einem Blick zurück auf das Jahr 2002/
2003 beginnen. Damals hat die PISA-Studie uns alle in
Bewegung versetzt. Die Kultusministerkonferenz hat
unter anderem im Zusammenwirken mit dem Bund sieben entscheidende Handlungsfelder definiert. Viele davon sind angegangen bzw. abgearbeitet worden. Heute
setzen wir in der Tat einen wichtigen Punkt in Bezug auf
das siebte Handlungsfeld, nämlich der Verbesserung der
Lehrerausbildung.
Meine erste Bemerkung. Bisher lag die Handlungsleitung mehr bei den Ländern. Es sollte nicht unterschlagen
werden, dass die Länder Vereinbarungen zur Mobilität
getroffen haben, dass die Länder sehr viel Innovation in
die Lehrerausbildung hineingebracht haben. Dieses Programm obendrauf ist ein gutes Versprechen. Deshalb
kann es ein guter Prozess werden, wenn wir uns zusammen verpflichten - egal, wer in den nächsten Jahren regiert -, dieses wirklich durchzuziehen. Denn bisher ist es
nur ein Versprechen.
Kollege Gehring hat völlig recht: Die Hinterlegung
im Haushalt soll erst im September vollzogen werden.
Wir werden sehr genau darauf achten, was im September
von dieser Regierung vorgelegt wird. Wir werden das
kritisch prüfen und unser Vorhaben bekräftigen, dass wir
in jedem Fall an den 500 Millionen Euro festhalten wollen, um für mittelfristige und für langfristige Garantien
zu sorgen. Dieses Vorhaben muss stehen, sonst ist alles
Schall und Rauch.
({0})
Meine zweite Feststellung ist, dass der Wechsel einer
Ministerin von Landesebene auf Bundesebene manchmal dazu führen kann, dass man sich ganz schnell von
Staatsverträgen verabschiedet. Jetzt stehen nur noch
Sachsen und Bayern allein auf weiter Flur; die anderen
haben sich davon überzeugt, dass eine Richtlinie mehr
Mobilität garantiert.
Drittens. Es wurde aufgrund einer Bundesinitiative
eine merkwürdige, aber zum Guten verlaufende Diskussion über die Struktur der Verbesserung der Lehrerausbildung angestoßen. Ganz am Anfang stand die Diskussion über ein zentrales Qualitätssicherungsinstitut für
Lehrerbildung auf ganz Deutschland bezogen. Das ist
dann schnell vergessen worden.
Der nächste Begriff war: die Exzellenzinitiative. Kollege Rupprecht, da wir uns politisch fast freundschaftlich verbunden sind, will ich Ihre Wandlung beschreiben, die mir noch sehr gegenwärtig ist. Das war sehr
kühn von Ihnen, zu behaupten: Wenn die drei besten Exzellenzinitiativen alle nur in Niedersachsen sind, dann
fordern wir sie nur in Niedersachsen. - Ein solcher Ansatz findet sich jetzt allerdings nicht mehr wieder.
Der jetzige Ansatz lautet - von Kollegin Hein über
das ganze Haus hingetragen -, dass wir gerade bei der
Lehrerbildung in jedem Bundesland innovativ sein müssen.
({1})
Dies wird durch den Verteilschlüssel garantiert, den der
Staatssekretär richtig dargestellt hat; Frau Hein hat ihn
allerdings noch nicht richtig verstanden.
({2})
Es gibt für jedes Bundesland eigenes Geld. Welche
Projekte daraus realisiert werden, wird wettbewerblich
festgestellt, analog entsprechender innovativer Vorschläge. Wenn die innovativen Vorschläge nicht beim
ersten Mal in den Ländern platziert werden können,
dann beginnt allerdings ein länderquotenunabhängiger
Wettlauf um die letzten Mittel.
Wir müssen uns in die Sache hineinbegeben, um das
entsprechend positiv darzustellen. Es ist positiv, dass wir
überall eine gute Lehrerausbildung stimulieren wollen.
Das Versprechen gilt: Das packt der Bund obendrauf.
({3})
Kollege Rossmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hein?
Selbstverständlich, weil dann die Uhr von Herrn van
Essen langsamer geht.
({0})
Also, ich habe sie angehalten.
Vielen Dank. - Herr Rossmann, würden Sie mir recht
geben: Wenn es in einem Bundesland nur eine einzige
Einrichtung gibt, die Lehramtsausbildung durchführt
und die dann vielleicht nicht das richtige Konzept vorlegt, kann die Klausel, dass nicht verbrauchte Mittel in
anderen Bundesländern ausgegeben werden können,
dann dazu führen, dass das Bundesland gar keine Mittel
bekommt? So interpretiere zumindest ich die Vereinbarung.
Das ist richtig, und das ist doch auch in Ordnung.
({0})
Wenn ein Bundesland nichts Innovatives liefert, sondern
wenn es sich allein auf Lückenschluss in Bezug auf fehlende Mittel bei der Lehrerausbildung konzentriert, dann
darf ein Fachkreis sagen: Die bekommen es nicht. Sie
sollen das merken. Dann gehen die Mittel für Innovation
woanders hin.
({1})
Jedes Bundesland hat die Chance, in einem bestimmten Korridor innovative Vorschläge zu machen. Die Balance zwischen Bund und Ländern ist in der Fläche gut
austariert, dafür sorgt das linke Prinzip der Innovation
und des Fortschritts.
Zu der Rückfrage in Bezug auf die Inhalte. Nicht nur
unter den Sozialdemokraten, auch von Herrn Weinberg
bis zu Herrn Gehring herrscht breite Übereinstimmung.
Ich könnte sie zitieren, es käme das Gleiche heraus, was
wir in Bezug auf Inklusion, Ganztagsschule und Verbreiterung des Schulangebots sagen würden.
Kollege Braun hat seine Rede mit einem Hinweis auf
Karl Jaspers begonnen. Ich möchte an dieser Stelle einen
Gedanken hinzufügen, der bisher von den Ländern und
auch vom Bund nicht hinreichend diskutiert worden ist.
Frau Canel, Sie haben gesagt: Die Schule ist die Wiege
der Demokratie. Karl Jaspers, von Herrn Braun in die
Diskussion eingeführt, war nicht nur Philosoph, sondern
ein besorgter Politikbegleiter, der schon vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
1958 wichtige Werke, unter anderem Über die Atombombe und die Zukunft Deutschlands, veröffentlicht hat.
Er hat immer darauf bestanden: Die Demokratie braucht
auch ihre Schule, sie braucht auch politische Bildung. Es
hat mich ein wenig verwundert - das ist jetzt eine persönliche Bemerkung -, wie wenig wir dies bei der
Diskussion über die Verbesserung der Konzepte der
Lehrerbildung reflektieren, während wir gleichzeitig beobachten, dass junge Menschen sich nicht von vornherein mit der Demokratie identifizieren und sie nicht von
vornherein praktizieren können. Demokratie ist kein
Lehrfach, sondern eine Haltung - eine Haltung, die bei
allen Lehrkräften durchscheinen müsste.
Deshalb werbe ich darum, nicht nur Schule der Demokratie, sondern demokratische Schule zu machen.
Wir sollten das als Aufgabe für jede Form moderner
Lehrerbildung begreifen, und das sollte auch von den
Ländern und vom Bund aufgegriffen werden. Herr
Braun, egal, ob Sie dieses Thema noch länger begleiten
oder nicht: Diese Bitte richtet sich auch an Sie.
Gute Lehrerbildung ist auch gute demokratische Bildung. Denn in der demokratischen Bildung spiegelt sich
das Grundprinzip guter Lehrerbildung - von Comenius
über Nohl mit seinem pädagogischen Bezug bis zu John
Hattie von heute - wider: Der Pädagoge wirkt als Person
und über die Person in einem Bezug und holt gleichzeitig den Gegenstand in eine Reflexion, in eine Aneignung
an den Schulen mit hinein. Dies gilt auch für Demokratie. Wir brauchen demokratische Lehrer und Lehrer der
Demokratie und die Aneignung von Demokratie.
Ich weiß, dass diese Bemerkung von den 500 Millionen Euro wegführte. Aber ich wollte in diese Debatte
noch die Besinnung auf Kernpunkte der gemeinsamen
Identität hinsichtlich der Schule einbringen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gott sei
Dank sind die Zeiten vorbei, in denen Lehrer als faule
Säcke beschimpft wurden, und das auch noch von maßgeblichen Politikern dieses Landes wie einem niedersächsischen Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzler.
({0})
Wir haben nie so gedacht und haben immer eine Politik gemacht, mit der wir Deutschland als Bildungsrepublik gestalten wollen, um jungen Menschen Chancen zu
geben und unseren Wohlstand hier zu erhalten.
Dabei sind die Lehrer ein ganz zentrales Thema. Die
Studie von John Hattie beweist eindrucksvoll, dass die
ganzen Debatten der vergangenen Jahre auch in
Deutschland über ideologische Schulkonzepte - die
Klassengröße, die Schulform, klassenübergreifenden
Unterricht usw. - am Thema vorbeigehen. John Hattie
hat in seiner Studie eindrucksvoll bewiesen, was wir
schon immer wussten: dass es auf den Lehrer, auf denjenigen ankommt, der vorne vor der Klasse steht, auf seine
fachlichen Kenntnisse und auf seine didaktischen Fähigkeiten.
Deswegen war es folgerichtig, dass wir die Initiative
ergriffen haben. 500 Millionen Euro für eine Qualitätsinitiative in der Lehrerbildung in ganz Deutschland ist
eine gewaltige Summe.
({1})
Dass dieses Geld jetzt in den Haushalt eingestellt
wird, ist klar. Dass wir auch an dieser Stelle - wie an den
anderen Stellen bei Bildung und Forschung - Wort halten, ist selbstverständlich.
Ich finde es bemerkenswert, dass die Debatte heute
- auch von der SPD - in großen Teilen als Verteidigungsrede für die Länder geführt wird. Natürlich hat die
Mehrheit der Wissenschafts- und Bildungsminister in
Deutschland derzeit ein sozialdemokratisches Parteibuch.
({2})
Das ist im Übrigen eine große Verantwortung, die Sie
haben. Denn die Dinge, die jetzt in den Ländern geschehen, hat die SPD zu verantworten.
Ich halte es allerdings für einen Fehler, wenn man aus
parteitaktischen Gründen jetzt alles verteidigt, alles
schönredet und jede kritische Diskussion unterbindet.
({3})
Denn unsere nationale Verantwortung, der wir auch mit
dem Paket von 500 Millionen Euro für die Lehrerbildung in Deutschland gerecht werden, ist es, die Zukunft
dieses Landes in den Vordergrund zu stellen. In einem
föderalen Land bedeutet das, immer wieder darauf zu
achten, was in den Ländern geschieht,
({4})
und die Dinge kritisch zu begleiten. Das erwarten wir
auch von den Sozialdemokraten hier im Deutschen Bundestag.
({5})
Föderalismus funktioniert nur dann, wenn sich am
Ende die besten Konzepte durchsetzen.
({6})
Wenn man sich anschaut, was derzeit in Baden-Württemberg passiert - eine ehemalige Berliner Schulsenatorin darf Konzepte zur Weiterentwicklung des Bildungssystems des erfolgreichsten Bundeslandes in Sachen
Bildung entwickeln -, dann kann einem nur angst und
bange werden.
({7})
Wenn wir sehen, dass in Rheinland-Pfalz 2 000 Lehrerstellen eingespart werden sollen, in Schleswig-Holstein
mit Hinweis auf die zukünftige Inklusion 3 000 Lehrerstellen und in Baden-Württemberg sogar 12 000 Lehrerstellen, dann müssen wir sagen: Das ist der falsche Weg,
wenn man eine Bildungsrepublik haben möchte. Das werden wir immer wieder sagen. Sie sollten das Ihren Genossen auch parteiintern einmal sagen. Sie sollten das anprangern und für eine Veränderung dieser Politik sorgen.
({8})
Kollege Kretschmer, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Rossmann?
Nein.
({0})
Ich möchte Ihnen gerne noch sagen, dass ich es für einen wirklich großen Erfolg halte, dass es der Bundesministerin und dem BMBF gelungen ist, die Länder bei
der gegenseitigen Anerkennung der Lehrerausbildung
und des Vorbereitungsdienstes mitzunehmen. Dieses
Thema hat in der Tat viele Jahre lang für Ärger gesorgt;
das war auch nicht zu erklären. Dieser Erfolg zeigt einmal mehr - das hat auch Bildungsministerin Edelgard
Bulmahn immer wieder gesagt -: Der Bund muss Verantwortung übernehmen. Er muss eine gewisse Führungsfunktion übernehmen, dabei aber eine vernünftige
Sprache finden. - Deswegen sage ich es noch einmal:
Stellen Sie sich der Sache nicht in den Weg,
({1})
sondern sorgen Sie dafür, dass sich die besten Konzepte
durchsetzen und am Ende ein Erfolg steht.
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Im sozialen Bereich sind das die unterschiedlichen Voraussetzungen, die die Schüler mitbringen - diese Unterschiede
werden immer größer -, und das wichtige Thema der Inklusion. Hinzu kommt natürlich die Digitalisierung, der
Bereich der neuen Medien. Das stellt die Lehrer in unserem Land vor völlig neue, ungeahnte Herausforderungen. Deswegen darf die Lehrerausbildung in den deutschen Hochschulen nicht das fünfte Rad am Wagen sein,
sondern sie muss zu einem zentralen Bestandteil der
Hochschulbildung werden. Das erreichen wir mit unserem Konzept.
({2})
Wir möchten, dass die guten Erfahrungen, die man
beispielsweise an der TU München gesammelt hat, wo
der exzellente PISA-Forscher Professor Prenzel lehrt,
überall in Deutschland genutzt werden. Wir möchten,
dass es einen Wettbewerb um die besten Konzepte gibt
und sich die besten Konzepte in der Breite durchsetzen.
Wir möchten auch, dass es zu einer Veränderung bei der
Lehrerbildung kommt. Die jungen Leute dürfen nicht
erst am Ende ihrer Ausbildung zum ersten Mal vor einer
Schulklasse stehen, sondern sie müssen schon am Anfang vor einer Klasse stehen, damit sie relativ schnell
merken, ob sie für diesen Beruf geeignet sind. Ich
glaube, wir haben mit diesem Programm etwas Richtiges
getan. Wir werden diesen Weg weitergehen.
Der Hinweis auf die Staatsverträge im Bereich Bildung ist nach wie vor richtig, weil es weitere Punkte
gibt, bei denen die Länder zu einer besseren Vergleichbarkeit und zu gemeinsamen Arbeiten kommen müssen.
Das betrifft beispielsweise die Lehrpläne, die Prüfungen
und das Deutschland-Abitur. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Indem man den Druck herausnimmt und sagt,
dass das Thema erledigt ist, wird man der Bildungsrealität in Deutschland nicht gerecht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13077. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/9937 mit dem Titel „Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11322 mit dem Titel „Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform der
Lehrerbildung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10100 mit
dem Titel „Exzellente Lehrerbildung überall sichern - Pädagogische Berufe aufwerten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Christine
Lambrecht, Burkhard Lischka, Dr. Eva Högl,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung
- Drucksachen 17/8613, 17/13271 Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Kauder ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg van Essen für die FDP-Fraktion.
({2})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die SPD hat um diese Debatte gebeten,
weil die Beratung einer Vorlage im Rechtsausschuss zu
lange dauert. Es ist das gute Recht einer Fraktion, dies
zu tun. Aber es gibt gute Gründe dafür, warum wir nicht
zu einem Ergebnis gekommen sind.
({0})
Einer der Gründe ist beispielsweise, dass in der
nächsten Bundesratssitzung ein Entwurf des Landes
Nordrhein-Westfalen beraten wird. Ich bin gespannt, ob
die Länder ihn tatsächlich so verabschieden werden, wie
Nordrhein-Westfalen es vorschlägt. Er enthält unter anderem Regelungen zur Strafbarkeit auch von Mandatsbewerbern; dies wirft viele rechtliche Fragen auf.
({1})
Er enthält Regelungen zum Versuch, obwohl wir - ich
finde, zu Recht - den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung in § 108 e StGB - Abgeordnetenbestechung
ist nämlich in Deutschland strafbar ({2})
bisher als Unternehmensdelikt ausgestaltet haben und
der Versuch damit mit erfasst ist. Das macht deutlich,
dass es schon wegen weiterer Vorschläge weiteren Beratungsbedarf gibt.
({3})
Dass es gut ist, dass wir zugewartet haben, hat diese
Woche gezeigt. Denn der Kollege Kauder hat dem Weser-Kurier ein Interview gegeben.
({4})
Es gibt in diesem Interview eine zentrale Aussage. Er hat
im Interview mitgeteilt, dass diejenigen, die mit ihm zusammen einen Entwurf erarbeitet haben, dies nicht in
erster Linie getan haben, um die UN-Konvention umzusetzen. Da staune ich ja.
({5})
Denn bisher ist doch immer wieder behauptet worden, es
sei ganz schlimm, dass Deutschland die UN-Konventionen nicht umgesetzt habe.
({6})
Jetzt lese ich auf einmal im Weser-Kurier, dass der Entwurf nicht in erster Linie deswegen erarbeitet worden
ist. Von daher hat Kollege Kauder offensichtlich Bedenken, ob das, was er vorschlägt, tatsächlich zur Umsetzung der UN-Konvention ausreicht.
({7})
Dass er diese Bedenken zu Recht hat, weiß jeder, der
sich nur drei Minuten mit dem Problem befasst. Der
Deutsche Bundestag hat sich mit der Frage der Abgeordnetenbestechung sehr oft und sehr intensiv befasst. Das
Ergebnis
({8})
ist die Vorschrift, die wir jetzt haben. Ich bin dem Kollege Hans de With, der damals für die SPD die Verhandlungen geführt hat und in seiner Fraktion für die Lösung,
die wir gefunden haben, erfolgreich geworben hat, außerordentlich dankbar, dass wir damals so konstruktive
Gespräche führen konnten.
({9})
Es ist deshalb auch kein Wunder gewesen, dass es die
damaligen Koalitionsfraktionen, nämlich SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, waren, die die Bundesregierung
aufgefordert haben, wegen der Verfassungslage in der
Bundesrepublik Deutschland, wegen Art. 38 Grundgesetz, die UN-Konvention nicht zu unterzeichnen. Abgeordnete sind nicht besser als Amtsträger, aber die Verfassung sagt: Sie sind etwas anderes. Deshalb ist für alle
Juristen klar gewesen, dass die Gleichsetzung von Amtsträgern und Abgeordneten in der UN-Konvention so
nicht in deutsches Recht zu übersetzen war.
Die Bundesregierung hat sich entschlossen, anders zu
handeln. Das Ergebnis war, dass die damaligen Regierungsfraktionen in ihrer Regierungszeit keinerlei Gesetzentwurf im Hinblick auf eine Zustimmung des Bundestages zu der UN-Konvention vorgelegt haben.
({10})
Es ist auch kein Wunder, dass die Große Koalition dies
nicht getan hat; dafür gab es nämlich gute rechtliche
Gründe. Insofern werbe ich weiter dafür, dass wir es uns
nicht leichtmachen.
({11})
Auch wenn sich der Kollege Kauder vom verfassungsrechtlichen Paulus zum verfassungsrechtlichen Saulus
zurückentwickelt hat,
({12})
ist das kein Zeichen dafür, dass wir wirklich vorangekommen sind.
({13})
- Das wird nicht kommen.
({14})
Das wird deshalb nicht kommen, lieber Herr Kollege
Wieland, weil wir im Oktober vergangenen Jahres eine
Anhörung zu diesem Thema durchgeführt haben.
({15})
Sie war wirklich erhellend. In der langen Zeit, die ich
dem Rechtsausschuss mittlerweile angehöre, nämlich
fast 23 Jahre, kann ich mich an keine Anhörung erinnern, in der die behandelten Gesetzentwürfe so krachend
durchgefallen sind wie in dieser Anhörung.
({16})
Das kann man an einem ganz einfachen Beispiel sehen. Ich erinnere nur ganz wenige Anhörungen, bei denen das öffentliche Interesse so groß war und bei denen
so viele Journalistinnen und Journalisten anwesend waren. Ich hätte gedacht, dass es danach eine breite Berichterstattung geben würde. Ich muss sagen: Ich habe
lange nichts gefunden. Durch die Nachhilfe einer Kollegin habe ich inzwischen einen Artikel der FTD, die inzwischen eingestellt worden ist, gefunden. Das war die
einzige öffentliche Reaktion.
({17})
Ich habe einen der Journalisten, die ich kannte, gefragt:
Warum haben Sie darüber nicht berichtet? Seine Antwort lautete: Dieses Ergebnis kann man der Öffentlichkeit doch nicht präsentieren. - Das Ergebnis fiel also anders aus, als es die Journalisten erwartet hatten.
Wir in diesem Parlament stehen in der Verantwortung, für verfassungsfeste Regelungen zu sorgen. Das
Ergebnis der Anhörung war: Die Gesetzentwürfe von
SPD, Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen verstießen gravierend entweder gegen Art. 38 Grundgesetz
und/oder gegen Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz.
({18})
Es darf nicht sein, dass wir in diesem Parlament Regelungen verabschieden, die gegen das Grundgesetz verstoßen.
({19})
Es ist unsere Verpflichtung, das zu verhindern;
({20})
das empfinde ich auch ganz persönlich als Verpflichtung.
({21})
Deshalb ist es gut, dass wir sorgfältig beraten, und deshalb ist es gut, dass wir keine Schnellschüsse abgeben.
Vielen Dank.
({22})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Christine
Lambrecht das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr van Essen, ich habe selten eine so dreiste Begründung
({0})
für Arbeitsverweigerung oder Unfähigkeit gehört.
({1})
Sie sind wohl nicht in der Lage, selbst eine entsprechende Regelung vorzulegen. Seit Jahren kommt von Ihnen nichts;
({2})
aber seit Jahren fordern wir eine Regelung ein. Sie reden
viel über die Vorschläge anderer, über den Vorschlag der
SPD, den der Linken, den der Grünen und den aus Nordrhein-Westfalen. Nur, von der Koalition liegt bis heute
nichts vor.
({3})
Entweder können Sie es also nicht, oder Sie wollen es
nicht; dann verweigern Sie sich. In diesem Fall muss
man sich fragen: Ist diese Verweigerungshaltung tatsächlich noch akzeptabel?
Sie haben recht: Im Jahr 2003, vor zehn Jahren,
wurde die UN-Konvention von der Regierung unterzeichnet. Seit dieser Zeit wurde sie nicht umgesetzt.
({4})
165 Staaten der Welt haben diese UN-Konvention seitdem umgesetzt. Nur wir in Deutschland haben das
- ebenso wie Länder wie der Sudan, Syrien, Nordkorea
und Japan - nicht getan.
({5})
Es kann doch nicht wahr sein, dass man jetzt immer
noch sagt: Wir nehmen uns dafür Zeit.
({6})
Ich glaube, man muss der Bevölkerung erklären, dass
es hier nicht um Pillepalle, um irgendetwas Nebensächliches, geht. Es geht darum, dass in Deutschland, für deutsche Abgeordnete, lediglich der Stimmenkauf strafbar ist
und nicht, wie Sie es eben dargestellt haben, die Bestechung und die Bestechlichkeit. Strafbar ist bis heute lediglich der Stimmenkauf, nicht mehr. Es kann doch nicht
wahr sein, dass Sie sich hier hinstellen und sagen: Das
können wir nicht regeln. Das ist so schwer.
({7})
Jetzt warten wir erst einmal ab, was womöglich Nordrhein-Westfalen macht, und dann schauen wir noch einmal. - Nein. Wir sind der Gesetzgeber. Wir haben diese
UN-Konvention umzusetzen. Deshalb müssen wir jetzt
endlich handeln.
({8})
Dass das nicht nur wir, die wir unterschiedliche Vorschläge - von mir aus auch mit unterschiedlicher Qualität - vorgelegt haben, so sehen, sondern viele andere
Menschen auch, kann man an der öffentlichen Debatte
sehen. Letztes Jahr im Sommer haben die Konzernchefs
von mehr als 30 großen deutschen Unternehmen einen
Brief an alle Fraktionsvorsitzenden hier im Hause gesandt. Wissen Sie, Herr von Essen, was darin gefordert
wurde? Sie wurden aufgefordert, die Konvention doch
bitte endlich umzusetzen, weil die deutschen Unternehmer sich schämen, wenn sie im Ausland mit anderen
Ländern zu verhandeln haben. Sie schämen sich, weil
diese Konvention noch nicht umgesetzt ist.
({9})
- Herr Götzer, lesen Sie den Brief doch. Da steht es genau drin, als wie peinlich das empfunden wird.
Es ist offensichtlich nicht nur der deutschen Wirtschaft, sondern auch dem Parlamentspräsidenten, Herrn
Lammert, peinlich. Herr Lammert hat letztes Jahr einen
Vorschlag unterbreitet.
({10})
Wir wären bereit gewesen, über diesen Vorschlag zu reden. Wir hätten mit Ihnen gerne darüber diskutiert. Doch
auch bei diesem Vorschlag haben Sie sich verweigert.
Genauso haben Sie sich in Bezug auf den Vorschlag von
Herrn Siegfried Kauder verweigert.
Sie haben recht: Herr Siegfried Kauder war zögerlich,
ob er diesen Weg mit uns gehen soll. Er hat lange über
dieses Thema fabuliert und gesagt, das sei nicht nötig
und das gehe nicht, weil böse Staatsanwälte dann womöglich gegen Abgeordnete vorgingen. Ich kann mich
an einen Empfang des Deutschen Anwaltsvereins erinnern. Herr Kauder, da haben Sie noch gesagt, Sie würden
den Abgeordneten davon abraten, hier ein, zwei oder
zehn Gläser Sekt zu trinken, sonst käme morgen womöglich der Staatsanwalt, wenn es nach unserer Regelung geht.
({11})
Ich würde jedem Abgeordneten davon abraten, bei einem Empfang zehn Gläser Sekt zu trinken, allerdings
nicht aus Gründen der Bestechung, sondern aus Gründen
des Alkoholpegels.
({12})
Sie haben es offensichtlich mittlerweile auch erkannt.
Sie haben mit Kolleginnen und Kollegen von der Linken, der SPD und den Grünen einen Vorschlag erarbeitet. Über diesen hätten wir gerne mit Ihnen gesprochen.
Aber auch bei diesem Vorschlag verweigert sich
Schwach-Gelb die ganze Zeit.
({13})
- Das war bewusst so gesagt.
({14})
Deswegen werden wir fraktionsübergreifend einen
Gruppenantrag auf den Weg bringen. Dann können alle
Abgeordneten entsprechend Art. 38 frei darüber entscheiden, ob sie weiterhin in der peinlichen Gesellschaft
von Syrien, dem Sudan und Nordkorea sein wollen,
({15})
oder ob wir endlich in der Lage sind, auch für uns selbst
eine sinnvolle Regelung zu schaffen. Ich glaube, das ist
dringend an der Zeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege van Essen hat in seinem Wortbeitrag auf
eine Sachverständigenanhörung im vergangenen Oktober angespielt. Ich möchte mit einem Zitat aus dieser
Anhörung beginnen:
Es ist natürlich doof, zu sagen, dass es regelbar ist,
wenn ich Ihnen dazu jetzt keine gute Antwort geben
kann.
So entwaffnend ehrlich hat sich der Sachverständige von
Transparency International bei der letzten Anhörung des
Rechtsausschusses zum Thema Abgeordnetenbestechung geäußert.
({0})
Gegenstand der Anhörung waren dabei die Gesetzentwürfe der Opposition, deren Entwurf der SPD Grundlage des heutigen Berichts nach § 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist.
Die Äußerung zeigt zunächst, dass es nicht einfach
ist, die strafrechtliche Regelung der Abgeordnetenbestechung in den Griff zu bekommen. Wenn der Vertreter einer Institution, die sich wie keine andere um Transparenzregeln kümmert, eingestehen muss, dass er keine
gute Antwort geben kann, dann ist es für andere sicherlich auch nicht einfach.
({1})
Die eben zitierte Antwort bringt auf den Punkt, dass
die Gesetzentwürfe der Opposition offensichtlich auch
nicht dazu geeignet sind, eine adäquate Lösung zur Regelung der Abgeordnetenbestechung herbeizuführen.
({2})
Denn das ist ganz eindeutig das Ergebnis der Anhörung.
Quer durch die Riege der Sachverständigen wurden alle
Gesetzentwürfe grundlegend kritisiert.
Es zeigt sich, dass das, was der Bundestagspräsident
an dieser Stelle bereits einmal gesagt hat, richtig ist:
Das Thema ist ganz offenkundig entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.
({3})
Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die
neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare
Übereinstimmungen im Hinblick auf die Beurteilung
dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat.
Natürlich ist es unbefriedigend, nur zu wissen, was
nicht die Lösung des Problems sein kann. Natürlich ist
es unbefriedigend, wenn der Eindruck entsteht, dass wir
alles Mögliche - auch andere komplizierte Themen - reAnsgar Heveling
geln können, es uns aber, wenn es um uns selbst geht,
nicht gelingt, eine Regelung zu finden.
({4})
Wobei natürlich festzuhalten ist, dass sich das seit mehreren Wahlperioden wie ein roter Faden durch die Diskussion zieht.
({5})
Es ist ein Leichtes, aufzuzählen, wer wann was in welcher Konstellation regeln wollte und warum er dann an
wem gescheitert ist. Das ist kein Problem.
({6})
Wenn man nur ein bisschen in den Stenografischen Berichten blättert, wird man schnell fündig und sieht, dass
zum Beispiel der Kollege Beck und der Kollege Ströbele
in einer vergangenen Wahlperiode unterschiedliche Positionen vertreten haben.
({7})
Es stimmt übrigens nicht, dass wir in Bezug auf korruptives Verhalten von Abgeordneten völlig ohne Strafnormen dastünden: Mit § 108 e des Strafgesetzbuches
- dieser Paragraf ist mit „Abgeordnetenbestechung“
überschrieben; im Kern wird der Stimmenkauf unter
Strafe gestellt - gibt es schon eine Vorschrift im Strafgesetzbuch.
({8})
Dem wird zwar entgegengehalten, es handele sich bei
dieser Norm nur um eine rudimentäre Regelung mit vielen Lücken, die den Kern des Problems nicht erfasse.
({9})
Aber es lohnt sich, sich § 108 e des Strafgesetzbuches
einmal genauer anzuschauen: Der Stimmenkauf wird unter Strafe gestellt, und das ist ein Unternehmensdelikt.
Das bedeutet, dass der Tatbestand mit dem Ansetzen zu
einer Handlung, die nach der Vorstellung des Täters zu
einem Stimmenkauf oder -verkauf führen soll, bereits
vollendet ist. Auf den tatsächlichen Abschluss einer Unrechtsvereinbarung kommt es dabei ebenso wenig an wie
auf einen inneren Vorbehalt. Auch die in den §§ 331 ff.
Strafgesetzbuch genannten Handlungen des Forderns,
Anbietens, Versprechens sind von dieser Vorschrift erfasst. Mithin haben wir bereits einen durchaus weitreichenden Anknüpfungspunkt im Strafgesetzbuch mit
Blick auf korruptives Verhalten von Abgeordneten.
({10})
Ohne Frage ist es richtig, dass § 108 e Lücken hat.
({11})
So ist der Abstimmungsgegenstand recht eng gefasst,
und auch ein nachträgliches - in Anführungsstrichen „Belohnen“ wird nicht erfasst.
Man sollte sich bei den Überlegungen zur Abgeordnetenbestechung vielleicht einmal davon lösen, in der
Perspektive einen Unterschied zwischen Amtsträgerund Mandatsträgereigenschaften zu machen, und überlegen, ob nicht die bestehende Vorschrift ein Ausgangspunkt für eine Erweiterung der Regelungen sein könnte.
({12})
Festzuhalten bleibt, dass wir im Bereich der Abgeordnetenbestechung schon heute über strafrechtliche Regelungen verfügen. Ohne Frage: Die Lücken sind unbefriedigend,
({13})
aber die Materie ist schwierig. Umso mehr sollten wir
uns - zumal das eine Materie ist, die das Parlament
selbst regeln muss - mit der gebotenen Sorgfalt darum
kümmern.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Raju Sharma für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wissen
Sie, was der Unterschied zwischen einer Telenovela und
einer Daily Soap ist? Eine Telenovela geht zwar sehr
lang, ist aber endlich. Eine Daily Soap läuft im Prinzip
ewig. Das ist für manche das vollkommene Glück; für
andere ist es ein Schrecken ohne Ende. Beim Thema Abgeordnetenbestechung ist noch nicht ganz klar, ob es
sich um eine Telenovela oder um eine Seifenoper handelt.
Jedenfalls befassen wir uns heute - das ist heute
schon gesagt worden - gefühlt zum zwanzigsten Mal mit
diesem Thema,
({0})
und der Ablauf ist eigentlich immer der gleiche - das haben wir heute auch erlebt -:
Ein Vertreter der Opposition erklärt, dass Deutschland
zu den wenigen Staaten weltweit gehört, in denen die
Bestechung von Abgeordneten nicht strafbar ist. - Heftiges Kopfnicken in den Reihen der Opposition, großes
Erstaunen beim Publikum - jedenfalls bei den Neueinsteigern -, ein Zwischenruf von Jörg van Essen.
Dann geht es weiter: Der Vertreter der Opposition
weist darauf hin, dass Deutschland im Jahr 2003 die UNKonvention gegen Korruption unterzeichnet hat, diese
aber, im Gegensatz zu 165 anderen Staaten weltweit, bisher nicht ratifizieren konnte, weil die Abgeordnetenbestechung in Deutschland nicht strafbar ist. - Heftiges
Kopfnicken bei der Opposition, peinliche Berührtheit
beim Publikum, ein Zwischenruf von Jörg van Essen.
({1})
Der Vertreter der Opposition erklärt unter Verweis auf
entsprechende Forderungen zahlreicher Nichtregierungsorganisationen, unter anderem LobbyControl und
Transparency International, sowie der Vorstände von
30 DAX-Konzernen, dass es mittlerweile drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen gibt, um dieses Problem endlich zu beseitigen.
({2})
Keiner erhebe den Anspruch, vollkommen zu sein; aber
alle Entwürfe seien zumindest eine Diskussionsgrundlage. - Zustimmung bei der Opposition und beim Publikum an den Bildschirmen, Schweigen bei der Regierung,
({3})
ein Zwischenruf von Jörg van Essen.
({4})
Das geht so seit drei Jahren: immer das gleiche Spiel
und kein Ende abzusehen. Alle sagen, dass Korruption
nicht in Ordnung ist. Niemand behauptet, trotz aller
Amigo-Affären, dass Deutschland besonders korrupt ist.
Und niemand hier behauptet, dass Abgeordnete in
Deutschland besonders korrupt sind.
({5})
Aber gerade deshalb stellt sich ja die Frage, warum
die Regierungskoalition jede Diskussion zu diesem
Thema vermeidet. Sie haben doch eine Mehrheit in diesem Haus, oder nicht?
({6})
Warum legen Sie nicht einen eigenen Vorschlag vor,
wenn Ihnen die Vorschläge der Opposition nicht passen?
({7})
Wollen Sie nicht oder können Sie nicht? Wenn Sie nicht
können, dann sagen Sie es. Dann wissen wir alle, woran
wir sind, und die Wähler können am 22. September 2013
ihre Konsequenzen ziehen.
({8})
Wenn Sie nicht wollen, dann sagen Sie es ebenfalls und
ziehen Sie auch die Konsequenzen. Beantragen Sie, dass
Deutschland seine Unterschrift unter die UN-Konvention gegen Korruption zurückzieht und sich in der Gesellschaft des Sudan, Saudi-Arabiens, Nordkoreas und
Syriens wohlfühlt.
Was für eine Regierungskoalition aber nicht geht, ist,
immer nur Nein zu sagen und nichts zu tun.
({9})
Seit Anfang März liegt ein weiterer Vorschlag auf dem
Tisch, ein Vorschlag, den der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Siegfried Kauder, CDU/CSU, mit den Berichterstattern von SPD, Linken und Grünen gemeinsam erarbeitet hat. Auch dieser Vorschlag ist vielleicht nicht das
Gelbe vom Ei.
({10})
Er ist als ein Kompromiss angelegt, mit dem wir fraktionsübergreifend zeigen wollen, dass man eine Lösung
finden kann, wenn man es denn will.
({11})
Meine Bitte an die anderen Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und FDP ist: Sagen Sie endlich, was Sie
wollen! Tun Sie endlich etwas! Hören Sie auf, Deutschland mit Ihrer Untätigkeit weltweit lächerlich zu machen! Und: Beenden Sie diese Seifenoper!
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Sharma, das Drehbuch war spitze. Die Wirklichkeit ist manchmal sogar noch besser als Drehbücher;
({0})
denn der Kollegen van Essen hat heute ja nicht nur Zwischenrufe gemacht, sondern er hat uns hier sogar einen
regelrechten Redebeitrag geliefert. Nur: Was hat er da
gesagt? Er hat gesagt: Man hätte das gar nicht unterschreiben sollen. Ich habe das immer gesagt. Nun kann
man gar nichts machen und muss man warten.
Sie, die Koalition, sitzen hier jetzt schon im vierten
Jahr und machen nichts anderes, als zu den Vorschlägen
der Opposition - 2010 kam der erste von der Linkspartei, wir kamen 2011 und die SPD 2012 - immer nur zu
sagen: Geht nicht, geht nicht, geht nicht, können wir
nicht regeln.
Herr van Essen, von Ihrer Partei habe ich noch immer
den Satz im Ohr:
Auf jedem Schiff, dass dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt …
Sie sind das ganz offenbar nicht. Sie kriegen gar nichts
geregelt und sagen sogar: Ich will nicht regeln.
({1})
Sie machen sich über den Kollegen Kauder lustig, weil
er sein Damaskus-Erlebnis hatte. Wir alle freuen uns
doch darüber.
({2})
Über Spätbekehrte freut man sich am meisten. Wir
freuen uns über den Kollegen Kauder. Für Ihr Seelenheil
müssen wir eine ganz schlechte Sozialprognose abgeben, Herr van Essen, wenn Sie sich standhaft weigern,
selber irgendwann ein solches Damaskus-Erlebnis zu haben.
({3})
Das ist eine ganz schlechte Sozialprognose, Herr Oberstaatsanwalt.
({4})
Ich habe hier eben noch die Debatte zur Lehrerausbildung gehört. Da wurde der schöne Satz von Gerhard
Schröder zitiert: Die Lehrer sind faule Säcke.
({5})
- Der Kollege Verteidiger aus Niedersachsen, der Kollege Edathy, sagt, Schröder habe das gar nicht gesagt.
Das ist mir jetzt auch egal. - So faul, wie diese Koalition
kann kein Lehrer in diesem unserem Lande sein.
({6})
Herr van Essen sagt dann fein ziseliert - das ist doch
wirklich unglaublich -: Der Parlamentspräsident ist
nicht das Parlament. Das ist zwar richtig, aber er ist der,
der von uns gewählt wurde, damit er für uns spricht und
mit dafür sorgt, dass die anfallenden Fragen hier auch
behandelt werden.
({7})
Von daher musste er hier mal seine Stimme erheben.
Was erleben wir denn hier? Wir erhalten in den
GRECO-Berichten jedes Jahr eine Rüge. Es wird immer
wieder dasselbe gesagt: Die Bundesrepublik hat noch
nicht ratifiziert und die Abgeordnetenbestechung noch
nicht geregelt. Dann schicken wir eine Erklärung hin,
und dann kommt die nächste Rüge. So etwas kann man
doch nicht aussitzen! Wie stellen Sie sich das eigentlich
vor?
Von der Hüterin des Rechts bzw. dem famosen Kollegen Stadler, der sie hier vertritt, kommt auch nichts. Die
glauben offenbar auch, dass das irgendwann vergessen
sein wird, wenn man das aussitzt.
({8})
Das ist nicht vergessen! Es wurden Kontrollinstanzen
eingerichtet - GRECO ist eine solche -, und die schlafen
nicht. Dennoch sagen Sie, die vergangenen Jahre hätten
nicht ausgereicht, um zu einer verfassungsfesten Regelung zu kommen. Sie sprechen hier von Schnellschüssen. Der Kollege Wellenreuther sagte dasselbe im Innenausschuss. Dazu sage ich einmal: Das ist dritte Liga so
wie sein KSC.
({9})
Aber dritte Liga langt hier nicht. Champions League
müssen wir anstreben, lieber Herr van Essen. Mit Ihnen
geht das allerdings nicht.
Noch einmal: So kann es nicht bleiben. Der Gruppenantrag liegt vor. Wenn Sie hier weiter in Agonie verharren und nichts tun, ist das eine Schande, meine Damen
und Herren!
({10})
Der Kollege Siegfried Kauder wurde hier schon
mehrfach erwähnt. Er hat jetzt das Wort.
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn ein Gericht nicht zu Potte kommt und ein Anliegen eines Bürgers nicht regelt, dann kann ein Schadenersatzanspruch ins Hause stehen.
({0})
So haben wir das am 24. November 2011 geregelt. Sie
sehen also: Wir helfen dem Bürger schon, dass seine Anliegen bearbeitet werden. Wenn ein Parlament einen
Sachverhalt nicht regelt, ist darüber nach § 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ein Bericht
zu erstellen. Das war es.
Da verstecken sich Abgeordnete hinter den Fraktionen. Kollege van Essen, jeder Abgeordnete ist aufgerufen, hier für eine Regelung zu sorgen und für sich die
Frage zu beantworten, ob wir Abgeordnetenbestechung
strafrechtlich sanktionieren sollen oder nicht.
({1})
Aus dem Kollegen van Essen werde ich nicht so ganz
schlau: Will er nicht, oder sagt er: „Wir können es
nicht“? Wenn er sagt: „Wir können es nicht“, kann man
dem abhelfen. Dann machen wir es wie hin und wieder
die Bundesregierung: Wir beauftragten ein spezialisiertes Anwaltsbüro. Dessen Mitarbeiter können das.
({2})
Überlegen Sie sich bitte, welche Botschaft wir heute
aussenden. Wir sagen der Bevölkerung: Wir schaffen es
nicht, ein wichtiges Thema, das nicht die Regierung,
nicht die Koalition, sondern jeder Parlamentsabgeordnete selbst regeln muss, hinzukriegen; wir können es
nicht.
({3})
Wir können komplizierte Gesetze in fünf Minuten durch
den Rechtsausschuss peitschen. In dieser Sitzungswoche
lag uns ein Gesetzentwurf mit 617 Seiten und 21 Änderungsanträgen vor.
({4})
Damit waren wir in fünf Minuten fertig. Aber das Thema
Abgeordnetenbestechung kriegen wir nicht hin.
Meine Damen und Herren, wir müssen klare Kante
zeigen.
({5})
Wollen wir es regeln, oder wollen wir es nicht? Wenn
wir es nicht wollen, dann können wir dieses Thema abschließen.
Eines scheinen einige vergessen zu haben: Wir haben
als Abgeordnete nicht nur Rechte. Schauen Sie in § 62
der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages: Den
Ausschüssen überwiesene Angelegenheiten sind zügig
abzuarbeiten. - Dazu sind wir verpflichtet. Den Bürgern
Pflichten aufzuerlegen, darin sind wir tough. In eigenen
Angelegenheiten sind wir dagegen lax. Deswegen kann
ich jedem nur sagen: Zu kritisieren und zu behaupten:
„Dieser oder jener Gesetzentwurf funktioniert nicht“,
das ist zu kurz gesprungen.
({6})
Herr Kollege van Essen, es ist auch zu kurz gesprungen, zu sagen: Wir müssen ein Gesetz verabschieden,
damit wir eine bestimmte UN-Konvention unterschreiben können. Wir müssen vielmehr einen solchen Gesetzentwurf verabschieden, weil die Bürger nicht wollen,
dass uns Sonderrechte eingeräumt werden, die wir nicht
brauchen und die uns auch nicht guttun.
({7})
Ich bin der Meinung, das kann geregelt werden und
muss geregelt werden. Wir müssen eine deutliche Botschaft aussenden und der Bevölkerung sagen: Derjenige,
der eine Regelung will, kann sie auch zustande bringen.
({8})
Ich bin auch der Meinung, dafür brauchen wir keine
Fraktionen, die die Abgeordneten binden. Jeder kann
heute nach Hause gehen und darüber nachdenken, was er
seinen Wählern sagt, ob das seiner Meinung nach regelungsbedürftig ist oder nicht. Ich kann in etwa abschätzen, was dazu die Bevölkerung sagt: Sie ist nicht der
Meinung, dass Kollege van Essen recht hat. Sie ist nicht
der Meinung, das ist schon in § 108 e des Strafgesetzbuches geregelt. Sie ist vielmehr der Meinung: Das Ganze
ist offen.
Es ist ein Thema, dessen wir uns annehmen müssen.
Wir gehen so vor wie immer, wenn wir Gesetze entwerfen. Wir klären: Was ist der regelungsbedürftige Sachverhalt? Wie kann man diesen Sachverhalt gesetzlich in
den Griff bekommen? Ist die angestrebte Lösung verfassungskonform? Wenn Sie, Herr van Essen, jetzt sagen,
mein Entwurf sei verfassungsrechtlich bedenklich, dann
kann ich nur sagen: Jeder einzelne Abgeordnete ist aufgerufen, sich Gedanken darüber zu machen.
({9})
Siegfried Kauder ({10})
Jeder kann einen Entwurf vorlegen. Jeder kann mitarbeiten. Ich habe alle dazu eingeladen, an der Weiterentwicklung meines Entwurfs mitzuarbeiten. Wenn dieser
Entwurf nicht funktioniert, kann man eine Alternative
anbieten. Es liegt nicht die Konstellation vor, dass wir
Regierungshandeln zu begleiten oder zu kritisieren haben. Wir als Parlament haben unsere Hausaufgaben nicht
gemacht. Deswegen sind wir gut beraten, das zu regeln,
statt uns gegenseitig zu kritisieren.
Danke.
({11})
Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
kann es auch für die Zuschauer nicht oft genug wiederholen: Was haben die EU, die USA, Brasilien, Australien, Österreich und 160 andere Staaten gemeinsam? Sie
haben eine Regelung zur Abgeordnetenbestechung; sie
ist dort strafbar. Was haben demgegenüber Nordkorea,
Syrien, der Sudan, Saudi-Arabien und Deutschland gemeinsam?
({0})
In diesen Ländern wie bei uns steht die Abgeordnetenbestechung nicht unter Strafe. Ich finde, Herr van Essen,
die Gesellschaft, in der wir uns da befinden, spricht
Bände. Es ist einfach ein Skandal, über den wir heute ein
weiteres Mal debattieren.
({1})
- Nein, Herr van Essen. Sie verweisen immer auf Japan.
Unser Vorbild, was die Ratifikation angeht, sind diejenigen Staaten, die ratifiziert haben.
({2})
Ich habe keinen Ehrgeiz, anders als vielleicht Sie, eines
Tages mit Nordkorea allein in dieser Frage die rote Laterne zu halten. Das ist der Unterschied zwischen uns.
({3})
Das sieht übrigens nicht nur die Opposition in diesem
Haus so. Was haben nämlich Daimler, Siemens, die Allianz-Versicherung, die Deutsche Telekom, die Deutsche
Bank und weitere der 30 großen deutschen DAX-Unternehmen gemeinsam? Sie fordern, dass wir diesen Skandal endlich beenden, dass wir die Abgeordnetenbestechung unter Strafe stellen und die UN-Konvention gegen
Korruption nach zehn Jahren endlich ratifizieren. Alles
andere schadet dem Ansehen Deutschlands in der Welt.
Mit diesem unhaltbaren Zustand muss Schluss sein,
meine Damen und Herren.
({4})
Wenn es um Korruption geht, dann kann es doch nicht
ernsthaft zwei Antworten geben. Wenn ein Abgeordneter
im Einzelfall seine Stimme an den meistbietenden Lobbyisten verscherbelt, dann kann es doch nur eine Antwort geben: Das ist strafbar. - Und wir sind aufgefordert,
dafür die gesetzlichen Regelungen zu schaffen.
({5})
Es ist ein Unding, dass wir über diese Banalität mit Ihnen seit Jahren diskutieren müssen.
Sie verweisen als Koalitionsfraktionen, was Ihre Ablehnung angeht, immer wieder darauf, dass es zwischen
Abgeordneten und Amtsträgern bzw. Beamten einen
großen Unterschied gibt. Für diese steht das unter Strafe.
Nur, das bestreitet doch auch keiner in diesem Haus.
Aber Abgeordnete dürfen eben auch nicht über dem Gesetz stehen - es gibt für sie gar kein Gesetz, weil sie
nämlich kein Gesetz verabschieden -, jedenfalls nicht in
einer Gesellschaft, in der langjährigen Firmenmitarbeitern wegen einer verzehrten Frikadelle oder einem
50-Cent-Pfandgutschein gekündigt werden kann. Das ist
nämlich strafbar. Das können Sie doch keinem erklären.
Das zerstört das Vertrauen in die demokratischen Institutionen.
({6})
Es gibt viel Politik- und Parteienverdrossenheit in unserem Land. Es gibt teilweise eine regelrechte Verachtung demokratisch gewählter Politiker. Das kann uns
doch nicht egal sein.
Die Gesetzentwürfe, die zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung vorliegen, dienen auch dazu, ein
Stückchen weit das Vertrauen in die Politik und die Politiker wiederherzustellen. Aber dann sollten die Politiker
auch das Beste geben, ein solches Gesetz Wirklichkeit
werden zu lassen.
({7})
Aber Ihre beharrliche Weigerung, die wir auch heute
wieder erlebt haben, spricht Bände. Es war ein fatales Signal, das Sie in dieser Debatte heute wieder ausgesendet
haben, meine Damen und Herren von Union und FDP.
({8})
Sie machen sich einen schlanken Fuß. Sie machen
sich überhaupt keine Gedanken über einen Gesetzentwurf. Sie beschränken sich seit Jahren darauf, die Gesetzentwürfe der Opposition wahlweise als zu streng,
verfassungswidrig oder was weiß ich zu beschimpfen.
({9})
Das ist zu wenig. Das ist erbärmlich, meine Damen und
Herren.
Es gibt jetzt eine Ausnahme: mein Vorredner, der
Kollege Siegfried Kauder von der Union. Er hat sich wenigstens einmal die Mühe gemacht, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. Er ist bei allen Oppositionsfraktionen auf offene Ohren gestoßen. Nur die eigenen
Koalitionsfraktionen haben ihn im Stich gelassen. Das
zeigt doch nur ein weiteres Mal: Es ist zwar möglich, etwas zu regeln, aber Sie wollen nicht oder Sie können
nicht. Das ist wirklich nur beschämend, meine Damen
und Herren.
({10})
Der Kollege Dr. Wolfgang Götzer hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zwei grundlegende Bemerkungen vorweg
machen. Erstens. Gesetze macht man normalerweise
dann, wenn Handlungsbedarf bzw. konkret in unserem
Fall Regelungsbedarf besteht.
({0})
Bei Strafgesetzen gilt das ganz besonders. Als zweite
Bemerkung will ich einen Satz anführen, den unser
Fraktionsvorsitzender gerne zitiert: „Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit.“
({1})
Diese beiden Bemerkungen möchte ich voranstellen.
Was ist zur Wirklichkeit zu sagen? Sind denn in den
letzten Jahren Korruptionsfälle oder auch nur Verdachtsfälle von Korruption von Abgeordneten - ({2})
- Jetzt hören Sie einmal zu. Sie sollten vielleicht Valium
oder Ähnliches nehmen, wenn Sie sich immer so aufregen. Zuhören ist eine demokratische und parlamentarische Tugend.
Sind in den letzten Jahren solche Fälle
({3})
oder auch nur Verdachtsfälle im Deutschen Bundestag
aufgetaucht? Mir ist keiner bekannt.
({4})
Außerdem haben wir - das ist schon angesprochen
worden - eine entsprechende Regelung in § 108 e StGB.
Diese wurde 1993 vom Bundestag - ({5})
- Ich glaube, Herr Kollege Lischka, Sie müssen noch
üben, zuzuhören. Das ist Ihre erste Legislaturperiode,
wie ich nachgelesen habe. Da muss man noch lernen, zuzuhören.
({6})
Wir haben eine Regelung in § 108 e StGB. Sie wurde
1993 mit überwältigender Mehrheit vom Deutschen
Bundestag beschlossen. Man war sich ebenfalls über alle
Fraktionen hinweg einig, dass eine weitere Verschärfung
dieses Straftatbestands aus verfassungsrechtlichen Gründen, nämlich Art. 103 Grundgesetz, Bestimmtheitsgebot, nicht möglich ist. Wo also ist der Handlungsbedarf?
({7})
Warum wird - diese Frage stellt sich als Nächstes das Thema seit Jahren von der Opposition so hochgespielt, solange sie nicht in der Regierung ist, wohlgemerkt?
({8})
Warum wird der Bundestag inzwischen mehrmals jährlich damit beschäftigt, obwohl es dazu keinen echten
Anlass gibt?
({9})
- Sie müssen schon ziemlich schwache Argumente haben, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Linken.
({10})
Ich meine damit die Linke allgemein, weil Sie von der
SPD nämlich genauso links wie die Linkspartei sind. Da
mache ich keinen Unterschied.
({11})
Sie müssen schon sehr schwache Positionen haben,
wenn Sie hier dauernd dazwischenschreien.
({12})
Ich sage Ihnen, warum. Weil die Opposition das
Thema am Kochen halten will, um diejenigen zu diskreditieren,
({13})
die aus überzeugenden Gründen keinen Änderungsbedarf sehen und die stichhaltige verfassungsrechtliche BeDr. Wolfgang Götzer
denken gegen alle bisher vorgelegten Gesetzentwürfe
haben.
({14})
Ich habe in meiner Rede im März letzten Jahres ausführlich Stellung dazu genommen, welche verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die vorgelegten Gesetzentwürfe bestehen - ich nenne hier
({15})
noch einmal Art. 103 Grundgesetz als ein wesentliches
Stichwort - und welche Bedenken gegen eine Ratifizierung der beiden internationalen Abkommen sprechen.
Kollege van Essen hat auch da das entscheidende Stichwort gegeben: Dort werden Abgeordnete mit Amtsträgern gleichgesetzt.
Noch ein Wort zur internationalen Lage. Sie haben
vorher gefragt, Herr Kollege Lischka, in welcher Gesellschaft sich denn die Regierungsparteien befinden, wenn
sie dieses Abkommen nicht ratifizieren. Ich möchte einmal sagen, in welcher Gesellschaft sich diejenigen befinden, die diese Abkommen unterzeichnet haben: Kuba,
Russland, Afghanistan, Pakistan, Libyen unter Gaddafi!
({16})
Ich frage mich, welche Gesellschaft die bessere ist.
({17})
Wir haben gute Gründe für unsere Haltung.
({18})
Ich bin es, ehrlich gesagt, leid, alles zu wiederholen und
verweise deshalb auf meine Rede vom 2. März 2012. Ob
das bei der Opposition hilft, bezweifle ich, aber ich
wollte es doch gesagt haben.
Trotzdem: Obwohl alles so ist, wie ich es geschildert
habe, kommen Sie immer wieder mit diesem Thema.
({19})
Das lässt in der Öffentlichkeit natürlich den Eindruck
entstehen, Korruption im Deutschen Bundestag stelle
tatsächlich ein gravierendes Problem dar.
({20})
Mein Sohn Maxi, der oben auf der Zuschauertribüne
sitzt, hat mir noch beim Herübergehen die Frage gestellt:
Ist das denn bei euch im Bundestag ein so schlimmes
Problem mit der Korruption?
({21})
Sehen Sie: Sie erwecken diesen Eindruck, obwohl Sie
genau wissen, dass das nicht der Fall ist und nicht mit
der Wirklichkeit übereinstimmt.
({22})
Sie lassen es zu, ja, Sie tragen dazu bei, dass alle Abgeordneten dadurch unter Generalverdacht gestellt werden.
Dem stellen wir uns mit Entschiedenheit entgegen.
({23})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die wirksamsten
Mittel gegen Korruption - da zitiere ich mich jetzt selber, weil mir hierzu nichts Neues mehr einfällt; das habe
ich in meiner letzten Rede gesagt - sind öffentliche Kontrolle und parlamentarische Transparenz.
Kollege Götzer, darf ich Sie kurz unterbrechen?
- Ich bin fertig. - Beides funktioniert bei uns.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Kauder hatte sich gemeldet, um Ihnen
eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen.
({0})
Dann soll er eine Bemerkung machen. Ich bin jetzt
mit meiner Rede fertig.
({0})
Der Kollege Kauder hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.
({0})
Kollege Götzer, eine Frage blieb offen. Sehen Sie
Handlungsbedarf oder nicht? Wenn Sie keinen sehen
und dabei eine Mehrheit hinter sich sehen, ist das Thema
abgearbeitet. Wenn Sie Handlungsbedarf sehen, müssen
Sie etwas tun.
Kollege Götzer, Sie haben die Möglichkeit, zu erwidern.
Herr Kollege Kauder, ich habe eigentlich gedacht,
dass ich in meiner Rede klar zum Ausdruck gebracht
habe, dass ich keinen Handlungsbedarf sehe.
({0})
Ich habe mehrmals die Frage gestellt: Wo bitte besteht
Handlungsbedarf? - Ich sehe keinen. Deswegen sehen
wir uns auch nicht veranlasst, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Es gibt § 108 e des Strafgesetzbuches. Dieser
ist, soviel ich weiß, einmal in einem Fall vor dem Landgericht Wuppertal zur Anwendung gekommen. Wie der
Kollege Sharma bereits ausgeführt hat, sind andere Fälle
nicht bekannt. Niemand behauptet, dass solche Fälle
vorgekommen sind oder noch nicht entdeckt worden
sind. Wenn angeblich niemand so etwas behauptet - Sie
suggerieren das allerdings -, dann muss ich zurückfragen, warum Sie Handlungsbedarf sehen.
({1})
Diese Frage müssen nicht wir beantworten, sondern diejenigen, die Handlungsbedarf sehen. Aber selbst nach
Ihren Worten gibt es keine Verdachtsfälle von Korruption im Bundestag.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Damit diejenigen, die unserer sehr lebendigen Debatte folgen, verstehen, warum wir jetzt nicht abstimmen, erkläre ich einfach, was in unserer Geschäftsordnung steht. Es gibt keine Abstimmung, da wir heute nur
über einen Bericht gemäß § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung debattiert haben. Dieser Paragraf kommt
immer dann zur Anwendung, wenn zehn Wochen nach
Überweisung einer Vorlage an einen Ausschuss zur Bearbeitung kein Ergebnis zurückkommt und die Vorlage
nicht abschließend behandelt werden kann.
({0})
- Der Kollege Wieland macht mich darauf aufmerksam,
dass das in mehreren Legislaturperioden wiederholt vor-
gekommen ist und er davon ausgeht, dass das Ganze
schon zehn Jahre in Anspruch nimmt.
Ich rufe gleichwohl nun die Tagesordnungspunkte
43 a bis 43 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lebenslagen in Deutschland - Vierter Armutsund Reichtumsbericht
- Drucksache 17/12650 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})-
Finanzausschuss-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die notwendigen politischen Konsequenzen
aus der Armuts- und Reichtumsberichterstattung ziehen
- Drucksache 17/13102 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})-
Innenausschuss-
Finanzausschuss-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Markus
Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht
- Drucksachen 17/11900, 17/12837 Zu dem Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über den Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der ein sehr differenziertes Bild - das lässt sich schon am Volumen dieses
Berichts ersehen - von Wohlstand und Ungleichheit in
Deutschland malt. Der Ordnung halber weise ich darauf
hin, dass sich der Berichtszeitraum von 2007 bis 2011
erstreckt. Bei der Entwicklung der Kernkennzahlen ist
eine deutliche Tendenz hin zum Besseren zu erkennen.
Kernkennzahlen betreffen zum Beispiel die Bekämpfung
von Einkommensarmut, die Lohnentwicklung und die
Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahlen,
die ich gleich noch auffächern werde, zeigen, dass in unserem Land trotz Krise die Wirtschaft gewachsen und
die Arbeitslosigkeit gesunken ist. Ich glaube, das ist die
entscheidende Botschaft.
({0})
Kommen wir zu den einzelnen Faktoren. Wichtig sind
die Zahlen, die angeben, wie viele Menschen von Transferzahlungen abhängig sind, die sogenannte Hilfequote.
Diese ist im Berichtszeitraum auf den geringsten Wert
seit der Einführung von Hartz IV gesunken. Noch prägnanter ist die Zahl der Kinder in Hartz IV. Seit 2007 ist
die Zahl der Kinder in Hartz IV um 270 000 gesunken.
Das heißt, 270 000-mal sind Kinder aus Hartz IV herausgekommen und haben nun bessere Chancen, weil
ihre Eltern Arbeit bekommen haben und das Haushaltseinkommen gestiegen ist. Diese positive Entwicklung
spiegelt sich bei den Alleinerziehenden wider. Diese haben per definitionem die höchste Armutsgefährdung,
weil sie alleine für das Einkommen der Familie geradestehen müssen. Die Vermittlung Alleinerziehender gelingt inzwischen dank einer wirklich intensiven Arbeit
der Jobcenter und der sehr guten Arbeitsmarktlage
durchschnittlich besser als die Vermittlung der Arbeitslosen insgesamt. Hier ist der Einsatz für die Alleinerziehenden noch einmal dadurch belohnt worden, dass wirklich mehr Alleinerziehende in Arbeit gekommen sind.
({1})
Wir sehen es auch bei der Beschäftigung von Jugendlichen, Älteren und Frauen: Bei all diesen Gruppen sind
die Beschäftigungszahlen gestiegen. Wir sehen es bei
den Rentnerinnen und Rentnern. 97,4 Prozent der Rentnerinnen und Rentner verfügen aus eigener Kraft über
existenzsichernde Alterseinkünfte. Mit anderen Worten:
Wir sehen, dass Deutschland auf einem guten Weg ist,
dass diese vier Jahre gute vier Jahre waren. Die wollen
wir auch fortsetzen.
({2})
Wir konnten in Deutschland am Anfang der Dekade
einen beunruhigenden Trend beobachten: Die Spreizung
der Einkommen hatte weiter zugenommen. Das begann
Anfang der 2000er-Jahre. Man kann das anhand des sogenannten Gini-Koeffizienten sehen, der die Ungleichheit der Einkommen misst. Wenn er steigt, steigt in einem Land die Ungleichheit der Einkommen. Wir sehen
jetzt aber, dass in den letzten drei Jahren die Spreizung
der Einkommen gestoppt worden ist, dass die Einkommensschere nicht weiter auseinandergeht, sondern dass
sie sich im Gegenteil schließt. Das zeigt eben auch, dass
diese Entwicklung eine gute ist, dass es hier im Land
vielfältige Arbeit gibt, dass die Angebote gut sind und
sie genutzt werden und dass wir genau auf diesem Weg
weitergehen sollten.
({3})
Es gibt trotz der vielen positiven Nachrichten - das
finde ich immer wichtig in diesen Berichten - natürlich
keinen Anlass, die Hände in den Schoß zu legen, sondern der Bericht zeigt auch punktgenau, wo die kommenden Herausforderungen liegen. Die Schlüsselfrage
in Deutschland ist die Frage der Fachkräftesicherung. In
diesem Zusammenhang muss man, wenn man auf die
einzelnen Gruppen schaut, insbesondere die Aufgaben
benennen, die in den nächsten Jahren vor uns liegen.
Wir können und müssen besser werden bei der frühkindlichen Bildung. Das ist die Kernaufgabe der Länder
schlechthin. Aber da lohnt sich die Investition; denn daraus eröffnen sich Chancen für Kinder, später als Erwachsene am Arbeitsmarkt teilhaben zu können. Hierauf
sollte ein ganz großes Augenmerk liegen.
Wir müssen besser werden bei der Vermittlung junger
Menschen zwischen 25 und 35 Jahren, die als Jugendliche die Schule geschmissen oder die die Ausbildung
nicht geschafft haben und jetzt arbeitslos sind. Sie verdienen eine zweite oder dritte Chance, um am Arbeitsmarkt nachhaltig teilhaben zu können. Wir haben jetzt
eine Initiative gestartet, mit deren Hilfe wir in den
nächsten drei Jahren 100 000 junge Menschen zu einem
Berufsabschluss führen wollen.
Wir müssen besser werden bei der Vereinbarkeit von
Beruf und Familie. In Deutschland ist in den vergangenen Jahren ein riesiger Schub erfolgt - Stichwort Ganztagsschulen, Stichwort Elterngeld, Stichwort Ausbau der
Kinderbetreuung -, aber im internationalen Vergleich
haben wir immer noch Nachholbedarf, insbesondere was
die Arbeitszeit von Frauen betrifft. Laut allgemeinen Befragungen wollen Frauen mehr arbeiten. Das heißt, auf
die Dauer werden wir einerseits ein Recht auf Rückkehr
in Vollzeit brauchen, damit Frauen, die in Teilzeit gearbeitet haben, eine verlässliche Möglichkeit der Rückkehr
in Vollzeit haben; andererseits müssen die Arbeitgeber,
um planen zu können, wissen, wann Frauen, die in Teilzeit gegangen sind, wieder in Vollzeit arbeiten.
({4})
Wir müssen besser werden bei der Weiterbildung der
Älteren. Wir müssen noch offener werden und gezielter
um qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer werben. Mit anderen Worten: Es gibt viel Arbeit in Deutschland, und diese Arbeitsplätze sollten wir durch Fachkräftesicherung erhalten.
Ein letzter Punkt. Armut ist nicht immer nur eine
Frage von fehlendem Geld, sondern Armut ist auch eine
Frage von Mangel an Teilhabe. Das betrifft vor allem die
Kinder. In diesem Zusammenhang verweise ich auf das
Bildungspaket, das wir vor zwei Jahren - Sie erinnern
sich alle - für bedürftige Kinder eingeführt haben, weil
die Kinder bis zu diesem Zeitpunkt keine Chance auf
Bildung und Teilhabe hatten; denn die Mittel dafür waren im Hartz-IV-Regelsatz nicht enthalten. Mit dem Bildungspaket sind wir auf einem sehr guten Weg. Es war
Neuland, das wir betreten haben. Es war am Anfang
schwierig, den Weg für das Bildungspaket frei zu machen. Wir wollten nicht, dass einfach nur der Regelsatz
erhöht wird, sondern wir wollten tatsächlich, dass die
Kinder Angebote bekommen, Mittagessen in den Schulen und Kindergärten, dass sie in Sport- und Musikvereinen sein können, dass sie das Schulbedarfspaket erhalten, dass sie Lernförderung erhalten, wenn sie in der
Schule nicht mitkommen. Inzwischen erreichen wir
73 Prozent der bedürftigen Kinder. Ich finde, das ist eine
Zahl, auf die man stolz sein kann.
({5})
Wir wissen aus Untersuchungen, dass das Bildungspaket den bedürftigen Kindern zum allerersten Mal den
Zugang zu einigen darin enthaltenen Leistungen ermöglicht hat.
Uns geht es mit all dem, was ich eben skizziert habe,
darum, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Die besten
Chancen sind Bildungszugang und Arbeitsplätze, und
diese sind in Deutschland gewachsen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung soll der
Bundesregierung jeweils in der Mitte der Legislatur einen Spiegel vorhalten, der zeigt: Was hat sich für welche
Bevölkerungsgruppe durch welche politische Maßnahme wie ausgewirkt? Ich weiß wirklich nicht, in welchen Spiegel Sie vor Ihrer Rede geschaut haben, Frau
von der Leyen.
({0})
Denn eindeutig ist, dass wir feststellen können und müssen: In diesem Land hat sich die Ungerechtigkeit vertieft. Die Scheren sind auseinandergegangen,
({1})
sowohl was die Einkommen als auch was die Vermögen
anbelangt. Würde ich hier nicht Ihre eigenen Zahlen als
Beleg nennen, könnte ich ja vielleicht noch ins Grübeln
kommen. Aber es sind Ihre Zahlen.
({2})
Ihre Zahlen im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht
dokumentieren klar, dass 40 Prozent der Einkommensbezieher im unteren Einkommensbereich Lohnverluste
haben hinnehmen müssen und im oberen Einkommensbereich - nicht unten - die Steigerungen zu verzeichnen
sind, dass die prekäre Beschäftigung zugenommen hat,
dass viele Familien einfach Angst vor einem Abstieg haben, dass in weiten Teilen der Bevölkerung die Angst
existiert: Rutsche ich in einen prekären Beschäftigungsjob durch Leiharbeit, Dumpinglöhne oder Minijobs ab
und muss dann zusätzliche finanzielle Mittel beantragen? Schaffen es meine Kinder überhaupt, einen Aufstieg hinzubekommen, oder haben wir eine ClosedShop-Gesellschaft, die von vornherein sagt: „Nein, du
nicht, denn du kommst nicht aus der richtigen Familie“?
Das alles, Frau Ministerin, sagt Ihr Vierter Armutsund Reichtumsbericht.
({3})
Hätten Sie ein paar Zeilen darin gelesen und die Zahlen
zur Kenntnis genommen, dann hätten Sie hier nicht eine
solche sogenannte Erfolgsstory erzählen können.
({4})
Dabei wiederholt sich das, was Sie in den letzten Monaten immer wieder versucht haben: sich irgendwie progressiv sozial zu zeigen und dann alles wieder auf die
harten Facts zusammenzuschrumpfen. Diese harten
Facts stehen im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht.
Zu den Minijobs lautete Ihre politische Antwort: Wir
erhöhen die Bezahlung auf 450 Euro.
In Bezug auf den gesetzlichen Mindestlohn, den wir
fordern, sagen wir in unserem Antrag ganz klar, welche
Ansprüche wir an die Armuts- und Reichtumsberichterstattung haben. Wir wollen sie nämlich nicht entwerten. Dass Sie mit dem ersten Entwurf des Berichts bei
Ihren eigenen Kabinettskollegen schlicht und ergreifend
überhaupt nicht angekommen sind und für den zweiten
Entwurf sogar wichtige Dinge streichen mussten, zeigt
doch, dass Sie versucht haben, als Tiger zu starten, aber
wieder einmal als Bettvorleger gelandet sind.
({5})
Damit komme ich zur Vermögensverteilung. Da kann
man in Ihrem Bericht deutlich erkennen, dass Sie sagen:
„No go, stop!“; denn Sie wollen gar nicht so öffentlich
machen, wie sich die Konzentration des Vermögens gestaltet: Es ist nämlich so, dass für die untere Hälfte der
Bevölkerung ein Vermögen von 120 Milliarden Euro
verzeichnet wird - dabei ist egal, um welche Form von
Vermögen es sich handelt, Immobilien zum Beispiel -,
während das obere Zehntel so viel Geld auf der hohen
Kante hat, dass die Betreffenden ihr Geld gar nicht mehr
zählen können. Sie haben ihr Vermögen rasant gesteigert trotz Finanzmarktkrise. Dass Sie nicht nach einem
Grund dafür suchen, dass das so ist, wenn man ordentliche Regierungsarbeit machen will, das wundert mich
schon.
({6})
Es wundert mich auch, warum Sie nicht sagen: Bei
10 Billionen Euro an privatem Vermögen müssen die
sich beteiligen, wenn es darum geht, das, was an Problemen bei uns im Lande besteht, zu lösen.
Bei den Jobs, die wir hier haben, brauchen wir einen
gesetzlichen Mindestlohn. Wo ist Ihre Stimme, Frau von
der Leyen, für diejenigen, die im Moment genau in
diesen Jobs sind, vor allen Dingen Frauen? Ich will gar
nicht von Frauen in Führungspositionen reden; ich rede
von den Frauen, die als Alleinerziehende nur einen
450-Euro-Job haben und im Prinzip beim Amt weitere
Mittel auftun müssen. Die meine ich.
Sie halten mit Ihrem Bildungs- und Teilhabepaket dagegen. Das sind Peanuts, muss ich sagen.
({7})
Das sind bei der Problematik für die Menschen und die
Kinder schlicht und ergreifend Peanuts.
({8})
Teilhabe ist ein bisschen was anderes.
Sie sagen noch nicht einmal, dass der private Reichtum
({9})
einhergeht mit der öffentlichen Armut.
({10})
Sie sagen in Ihrem ARB selber: Die öffentliche Hand hat
ein Minus von 800 Milliarden Euro zu verzeichnen. Wo
bauen wir denn die Schulen? Wo bauen wir die Kindergärten? Wo schaffen wir die Infrastruktur für diejenigen,
die sie brauchen? Alles das haben Sie nicht gesagt.
Nicht gesagt haben Sie auch, dass in Ihrem ersten
Entwurf etwas stand, was wahrscheinlich - ich spekuliere hier, aber ich glaube, so ganz unrecht habe ich da
nicht - Ihr Kollege aus dem Wirtschaftsressort gestrichen hat, dass man nämlich prüfen muss, ob und wie
sich die Vermögenden in diesem Land an gesellschaftlichen Aufgaben beteiligen. Als ich das gelesen hatte,
habe ich gedacht: Die haben etwas gelernt! - Aber nein,
es wurde gestrichen.
Jetzt reden Sie nur noch davon, dass man vielleicht
über Stiftungen und Spenden der Großen dieser Welt die haben übrigens gehofft, ihre Steuerhinterziehung
auch noch tarnen zu können, wenn es bestimmte Abkommen gibt ({11})
den Wohlstand irgendwie mit der Gießkanne verteilt.
Das ist nicht die Gesellschaft, die wir haben wollen.
({12})
Da gilt es, klare Kante zu zeigen und zu sagen: Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit: durch die Einführung einer Vermögensteuer, durch die Reform der Erbschaftsteuer, durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
({13})
Bei 10 Billionen Euro erzählen Sie mir bitte nicht, dass
das obere Zehntel dann irgendwann einmal verarmt sein
wird!
({14})
Ich will hier keine Sozialneiddebatte schüren; wirklich nicht. Es geht in diesem Land darum, dass Leistung
gerecht bezahlt wird.
({15})
Überlegen Sie aber bitte einmal, was man unter „Leistung“ versteht und in welchen Proportionen das zu sehen
ist!
Wir haben ein Regierungsprogramm. Darin setzen wir
auf mehr soziale Gerechtigkeit, und das ist bitter nötig in
diesem Land.
Vielen Dank.
({16})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es ist schon
bezeichnend, dass in dieser Debatte, in der es um Armut,
um Arbeitsplatzchancen und um Sozialpolitik geht, nicht
ein einziger Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker der SPD
anwesend ist. Das zeigt, wie wichtig Ihnen als Fraktion
das Thema ganz offensichtlich ist.
({0})
Vielleicht ist es aber auch so, dass Sie einfach schon
aufgegeben haben angesichts der Erfolge, die diese Regierung für dieses Land erreicht hat. Die letzten vier
Jahre waren gute Jahre für Deutschland.
({1})
Das sind die Fakten, Frau Mattheis, die Sie hören
wollen - die Fakten sind eindeutig -: Wir haben die
niedrigste Arbeitslosenzahl seit 20 Jahren. Wir haben die
höchste Zahl an Erwerbstätigen in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland. Wir haben die höchste
Zahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zum
ersten Mal - das ist wirklich ein ganz großes Glück sinkt in einem Aufschwung auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen.
({2})
Insgesamt sind in der Regierungszeit dieser Koalition
250 000 Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit in
Arbeit gekommen. Das ist in erster Linie ein Erfolg für
diese Menschen. Das bedeutet für sie, dass sie Perspektiven für sich und ihre Familien haben. Das sollten wir
nicht geringschätzen. Wir sollten dafür dankbar sein,
dass das gelungen ist. Sie sollten in dieser Debatte bereit
sein, dies auch einmal anzuerkennen.
({3})
Darüber hinaus haben wir in der Folge so wenige
Transferempfänger wie seit Beginn der Einführung des
Hartz-IV-Systems. Es ist außerdem ein großes Glück,
wofür wir dankbar sein sollten, dass das Risiko für Kinder in Deutschland, in Armut aufzuwachsen, erstmals
seit Jahren wieder rückläufig ist. Das ist das Ergebnis einer guten, vernünftigen, weitsichtigen, aber auch einer
behutsamen Arbeitsmarktpolitik, die das Richtige tut,
statt sich in Symbolen und Ideologien zu verlieren.
({4})
Das ist entscheidend für den Erfolg am Arbeitsmarkt.
Diese Regierungskoalition zeigt, wie man für die Menschen in diesem Land erfolgreich wirken kann.
({5})
Wir werden diese Regierungspolitik ab September weiter fortsetzen. Es waren vier gute Jahre für Deutschland,
und es werden auch weitere vier gute Jahre werden.
({6})
Liebe Kollegin Frau Mattheis aus Baden-Württemberg, Sie haben die Regierungspolitik angemahnt.
Schauen wir uns einmal an, was Sie bei einer Regierungsübernahme ab September planen. Sie planen für
Personengesellschaften, für Kleinstbetriebe, für Handwerksbetriebe, für die kleinen Mittelständler, die eine
Vielzahl von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen in
Deutschland stellen, Steuererhöhungen um über 16 Prozent. Dazu kommen noch die Steuererhöhungen für die
Großbetriebe. Wenn dann auch noch eine Koalition mit
den Grünen eingegangen wird, wird es ganz grausam.
({7})
Dann werden die kleineren Unternehmen deutlich höher
und die großen Unternehmen noch mehr belastet.
({8})
Mit Ihrer Politik werden Sie die Chancen der Menschen
verschlechtern. Sie setzen die Chancen der Menschen
aufs Spiel. Sie werden mit Ihrer Politik - das sagen die
Arbeitgeberverbände schon heute, weil sie es berechnen
können - Hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel setzen. Das ist eine völlig falsche Politik. Das müssen wir
verhindern.
({9})
Deshalb werden Sie ab September auch weiterhin von
den Sitzen der Oppositionsbank zuschauen, wie wir für
die Menschen in unserem Land erfolgreiche Politik machen werden.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man nicht
glaubt,
({11})
dass Sie das, was in Ihren Regierungsprogrammen steht,
auch umsetzen, dann sollte man sich die Länder, in denen Sie regieren, anschauen. Das ist die Blaupause für
das, was Sie ab September planen. In Baden-Württemberg hungern Sie die Berufsschulen aus.
({12})
Sie besetzen frei werdende Lehrerstellen nicht mehr. Sie
verhindern, dass die Menschen über das berufliche
Schulwesen, über die duale Berufsausbildung einen Aufstieg in unserem Bildungssystem und im Arbeitsmarkt
erreichen. Sie verhindern, dass das gelingt, indem Sie
diese Stellen nicht besetzen. Die Bildungspolitik in Baden-Württemberg wird von der GEW - nicht von uns als Stückwerk bezeichnet, das die Chancen der Kinder
verhindert, weil die falsche Politik auf dem Rücken der
Kinder ausgetragen wird. Eine Politik, die die Chancen
der Menschen verhindert, werden wir in Deutschland
nicht zulassen.
({13})
Wir sprechen hier über die Chancen von zukünftigen
Generationen, über die zukünftige Reichtumsverteilung
und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Für diese Chancen muss man frühzeitig etwas tun. Das fängt beispielsweise mit der richtigen Steuerpolitik an, die die richtigen
Impulse für wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze setzt. Es fängt aber auch mit dem Bildungssystem
an; denn Kinder brauchen eine gute Schulausbildung,
damit sie ihren Weg selbstbestimmt und in Eigenverantwortung erfolgreich gehen können. Das ist die Politik
dieser Regierungskoalition. Diese werden wir im Sinne
der Menschen fortsetzen. Wie gesagt, es waren vier gute
Jahre für Deutschland,
({14})
und wir werden diese Politik weitere vier gute Jahre weiterführen.
({15})
Das Wort hat der Kollege Matthias W. Birkwald für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin von der Leyen! Gestern Abend lief im ZDF
die Komödie Vorzimmer zur Hölle 3, in der Primetime.
({0})
Eine der Hauptrollen spielte Eleonore Weisgerber. Die
Schauspielerin ist 65 Jahre alt und hat jetzt Einspruch
gegen ihren Rentenbescheid eingelegt. Sie ist sehr enttäuscht und sagt: „887 Euro, und das nach 45 Jahren Arbeit.“ Sie fühlt sich hintergangen und will darum bis
zum Bundesverfassungsgericht gehen. Ich weiß nicht, ob
sie das schaffen wird, aber ich kann ihre maßlose Enttäuschung sehr gut verstehen. Ich wünsche ihr viel Erfolg
bei ihrem Kampf für eine armutsfreie Rente.
({1})
Frau Weisgerber sagte der Deutschen Presse-Agentur
- ich zitiere -: „Wir werden bald ein Heer von verarmten
Schauspielern über 65 haben.“ Das gilt leider auch für
Langzeiterwerbslose und für Kellnerinnen, Friseurinnen,
Wachleute, Gebäudereiniger, Taxifahrer, CallcenterAgents, Schneiderinnen, Zimmermädchen und viele andere Menschen. Sie alle arbeiten für Niedriglöhne.
Im Jahr 2010 mussten knapp 4 Millionen Menschen
in Deutschland für einen Bruttostundenlohn unter 7 Euro
schuften. Das war im ersten Entwurf des Armuts- und
Reichtumsberichts wortwörtlich so noch zu lesen. Das
haben Sie zensiert, Herr Rösler. Im Brüderle-Sprech
könnte man sagen: „Wer hat’s gestrichen? Die FDP hat’s
gestrichen!“
({2})
Die Meinungsfreiheit der Sozialministerin war den Liberalen schon zu viel. Das ist unglaublich, aber wahr.
7 Euro und weniger, das sind Armutslöhne; davon
kann niemand leben. Selbst bei Vollzeitarbeit sind Alleinstehende in diesen Jobs schon heute arm; das gilt erst
recht später für die Rente.
Schauen Sie doch einmal in Ihren eigenen Armutsund Reichtumsbericht hinein, Frau Ministerin. Unter
Kanzlerin Merkel stieg das Armutsrisiko von Rentnerinnen und Rentnern von 12,2 auf 14,9 Prozent. Das Armutsrisiko von allen Menschen in Deutschland stieg von
14 auf gut 15 Prozent. Das alles steht in Ihrem Bericht
auf den Seiten 303 und 304.
({3})
Das heißt, 2011 gab es in Deutschland 12,6 Millionen
arme Kinder, Männer und Frauen, gut 2,5 Millionen
mehr als beim Amtsantritt der Bundeskanzlerin im Jahr
2005. Heute - das gehört zur Wahrheit dazu, Frau Ministerin - leben 2,5 Millionen Kinder in Deutschland in Armut. Ich sage: Das ist beschämend.
({4})
Gleichzeitig sind die Vermögen in Deutschland extrem ungerecht und ungleich verteilt. Laut Armuts- und
Reichtumsbericht hat jeder Haushalt in der Bundesrepublik ein Nettovermögen von 118 000 Euro. Sie haben die
nicht? Ja, es ist ja auch ein Durchschnittswert. Im Armuts- und Reichtumsbericht heißt es vollkommen zutreffend - Zitat -:
Hinter diesen Durchschnittswerten steht eine sehr
ungleiche Verteilung der Privatvermögen.
Wohl wahr: zum Beispiel 132 000 Euro im Westen
und 55 000 Euro im Osten. Aber auch die werden sehr
viele Menschen nicht haben. Vor allem Haushalte von
Erwerbslosen, Migrantinnen und Migranten, Menschen
mit niedrigen Löhnen und andere haben wenig oder gar
kein Vermögen. Die obersten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über mehr als die Hälfte aller Vermögen,
die untere Hälfte besitzt fast gar nichts. Diese Spaltung
ist völlig inakzeptabel.
({5})
Reichtum ist teilbar. Darum will die Linke gemeinsam mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Attac und
vielen anderen „umfairteilen“ und Reichtum besteuern.
Wir wollen mit Steuern umsteuern und eine Vermögensteuer für Millionärinnen und Millionäre einführen.
({6})
Wer ein Privatvermögen von 2 Millionen Euro hat, soll
50 000 Euro abgeben. Das ist doch nicht zu viel verlangt.
Wir fordern eine einmalige Vermögensabgabe mit einem Freibetrag in Höhe von 1 Million Euro. Große Erbschaften sollen groß besteuert werden; das selbst bewohnte Haus bleibt selbstverständlich steuerfrei.
Wir brauchen eine Bundesfinanzpolizei; denn die systematische Steuerhinterziehung à la Hoeneß, Zumwinkel
oder Nadja Auermann muss unbedingt ein Ende haben.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um Armut wirksam
zu bekämpfen, schlagen wir Linken unter anderem vor,
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der vor Altersarmut schützen soll und darum
nicht unter 10 Euro liegen darf.
({8})
Auch wenn Sie sich jetzt wieder alle furchtbar aufregen werden: Wir wollen ein Verbot der Leiharbeit,
({9})
den Sozialversicherungsschutz für Minijobs, endlich
eine gebührenfreie Kinderbetreuung für Familien und
Alleinerziehende, eine Kindergrundsicherung, länger
ausgezahltes und höheres Arbeitslosengeld I, den HartzIV-Regelsatz sofort auf mindestens 500 Euro anheben
und eine sanktionsfreie Mindestsicherung anstelle von
Hartz IV einführen.
Gegen Altersarmut helfen: gute Löhne, ein Rentenniveau, wie wir es im Jahr 2000 einmal hatten und eine
einkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente von zunächst 900 Euro und dann 1 050 Euro.
({10})
Armut bekämpfen und Reichtum begrenzen: Das ist
der richtige Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Markus Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wissen wir nach dem Armuts- und Reichtumsbericht und nach der Großen Anfrage, welche die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gestellt hat? Oder müssen wir
eher fragen: Was wissen wir immer noch nicht?
Die Antworten der Bundesregierung auf die Große
Anfrage und auch die Erörterungen in dem Armuts- und
Reichtumsbericht sind doch insgesamt spärlich und unbefriedigend. Denn sie weichen den offensichtlichsten
und größten Problemfeldern aus. Die drohende Altersarmut sprechen Sie nicht an, ebenso wenig verdeckte Armut, Wohnungslosigkeit insbesondere von Jugendlichen,
die prekäre Situation von Alleinerziehenden und das
enorm hohe Armutsrisiko von Migrantinnen und Migranten. Diese Problemfelder streifen Sie allenfalls, geben aber keine konzentrierten politischen Handlungsempfehlungen.
Zur Einkommens- und Vermögensverteilung haben
Sie keine aktuellen Zahlen. Die Zahlen, welche die Bundesregierung geliefert hat, sind meistens veraltet. Ich
nenne nur zwei Beispiele: Die Einteilung in Zehntelklassen beim Einkommen stützt sich auf Daten aus dem Jahr
2008. Vermögensdaten, deren Erhebung sehr interessant
wäre, haben Sie nur bis 2007. Wir wissen, dass die Vermögenskonzentration trotz der Krise weiter zugenommen hat.
Frau von der Leyen, Sie haben gestern von dieser
Stelle aus Kurt Schumacher zitiert und darauf hingewiesen, dass Politik mit der Betrachtung der Wirklichkeit
beginnt. Die Wirklichkeit Ihres Ministeriums sind das
Jahr 2007 und das Jahr 2008.
Meine Damen und Herren, als die Erstellung eines
Armuts- und Reichtumsberichts beschlossen wurde,
wurden die Anforderungen an den Bericht und sein
Zweck vom Gesetzgeber klar und eindeutig formuliert:
Die Analyse von Armut und Reichtum muss in die Analyse der gesamten Verteilung eingebettet sein. So stand
es in der Drucksache, welche die Armutsberichterstattung begründet hat.
Die Berichterstattung muss der Vielschichtigkeit von
Armut Rechnung tragen. Sie muss auch besondere Problemgruppen gesondert berücksichtigen, was Sie aber
nicht tun. Genau deswegen haben wir unsere Große Anfrage gestellt und auch noch einmal nachgefragt. Die
wenigen Zahlen, die durch die Große Anfrage bekannt
geworden sind, sind hochinteressant und alarmierend.
Bei der Verteilung der Armutsrisikoquote nach Bevölkerungsgruppen
({0})
gibt es einige sehr deutliche Ergebnisse. Wir haben zum
Beispiel eine hohe Armutsrisikoquote von 16,5 Prozent
bei Kindern bis 17 Jahren. Sie sagen hier, die Zahl der
Kinder von Beziehern von Arbeitslosengeld II sei gesunken.
({1})
Die Zahl der Kinder insgesamt ist auch gesunken. Man
muss sich aber den Anteil aller Kinder, die auf Hartz IV
angewiesen sind, anschauen.
({2})
Da hat sich fast nichts bewegt.
Die Armutsrisikoquote für Alleinerziehende beträgt
40,1 Prozent. Das sind Zahlen aus Ihrem Hause, die in
der Antwort auf unsere Große Anfrage stehen. Zwischen
1998 und 2010 ist die Armutsrisikoquote bei Alleinerziehenden um 15,5 Prozent angestiegen. Bei Arbeitslosen hat sie sich im gleichen Zeitraum sogar verdoppelt.
Mit Blick auf Altersarmut ist die Entwicklung bei den
Pensionärinnen und Pensionären sowie Rentnerinnen
und Rentnern besonders interessant. Bei ihnen ist die Armutsquote um rund 15 Prozent angestiegen.
({3})
Mit Blick auf die Zukunft finde ich gerade die Situation bei Personen mit Migrationshintergrund besonders
alarmierend. In Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage
geben Sie an, dass ein knappes Drittel der Personen ohne
deutsche Staatsangehörigkeit und über ein Viertel der
Menschen mit Migrationshintergrund von Armut betroffen sind. Dieser Wert ist doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch weil in dieser
Gruppe viele Kinder betroffen sind, hätte ich erwartet,
dass Sie diesen Umstand genauer betrachten und konkrete Handlungsempfehlungen geben, denn diese Bevölkerungsgruppe stellt einen immer größer werdenden Anteil an der Bevölkerung Deutschlands.
({4})
Für eines war unsere Große Anfrage aber trotzdem
gut: Sie deckt Ihre fragwürdige Rechtsauffassung zu den
Regelbedarfen bei Kindern, konkret zur Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets, wozu es heute
offensichtlich auch noch eine Pressekonferenz geben
wird, auf. Sie haben sich damit gerühmt, dass das
Bildungs- und Teilhabepaket von 73 Prozent in Anspruch genommen wird. Sie haben gesagt, dass wir darauf stolz sein können. In der Antwort der Bundesregierung steht:
Eine Inanspruchnahme des Bildungspakets liegt
nach Auffassung der Bundesregierung bereits vor,
wenn mindestens eine der Bildungs- und Teilhabeleistungen in Anspruch genommen wurde.
Wir wissen - das müssen auch die Zuhörer wissen -,
dass es um sechs verschiedene Einzelleistungen geht.
Wenn nur eine in Anspruch genommen wird, heißt es,
dass das Bildungspaket in Anspruch genommen wird.
Konkret bedeutet das: Wenn ein Kind einen Zuschuss zu
einer Klassenfahrt bekommen hat, dann ist das für Sie
eine Inanspruchnahme, auch wenn Mittagessen, Schulbedarfspaket oder die Möglichkeit der Übernahme von
Vereinsbeiträgen - Stichwort: soziale und kulturelle
Teilhabe - nicht in Anspruch genommen worden sind.
So kann man sich die Wirklichkeit natürlich schönreden.
Ich fordere Sie auf: Machen Sie Ihre Hausaufgaben
so, wie der Gesetzgeber das in seinem ursprünglichen
Auftrag an die Bundesregierung 1999 vorgegeben hat.
Arbeiten Sie vernünftig und seriös an einem neuen Armuts- und Reichtumsbericht.
({5})
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Zusammenhang mit dem 4. Armuts- und
Reichtumsbericht gibt es eine gute Nachricht und eine
schlechte Nachricht, wie so oft.
Beginnen wir mit der guten - vieles dazu wurde von
meinen Kollegen und der Ministerin schon gesagt -:
Deutschland geht es gut. Auch den meisten Menschen in
unserem Land geht es besser als je zuvor. Wer die Nachrichten der letzten Tage und Wochen gehört hat, weiß,
dass wir im europäischen Vergleich glänzend dastehen.
Der Reichtumsbericht bestätigt das: Deutschland geht es
gut. Auf die entsprechenden Daten ist Frau von der
Leyen gerade eingegangen.
Ich möchte Ludwig Erhard, den Vater der sozialen
Marktwirtschaft, zitieren:
Erst auf dem Boden einer gesunden Wirtschaft kann
die Gesellschaft ihre eigentlichen Ziele erfüllen.
Das ist unser Auftrag. In dem Entschließungsantrag, den
wir hier einbringen, heißt es unter anderem:
Dabei ist die Vermeidung sozialer Härten nicht nur
ein moralisch motiviertes Ziel der Politik. Sie trägt
vielmehr auch zur Akzeptanz sowie zur Dynamik
und Risikobereitschaft in einer Marktwirtschaft bei.
So viel zu dem Teil „Reichtumsbericht“; dazu haben wir
schon viel gehört. Sie wissen ja, dass dieser Bericht
zweigeteilt ist: Armuts- und Reichtumsbericht.
Auch zu der schlechten Nachricht beziehen wir Stellung - ich bin mir nicht im Klaren darüber, ob Sie das
wahrgenommen haben -: Nicht allen geht es gut. Diese
Aussage ist Teil des Armutsberichts. Leider viel zu viele
Menschen in Deutschland sind arm oder von Armut bedroht. Eine Marktwirtschaft, die sich sozial nennt, muss
diese Menschen im Blick haben. Und wir haben diese
Menschen im Blick. Diese Bundesregierung hat viel für
sie getan. Eben wurde schon festgestellt, dass Rot-Grün
damals in diesem Bereich Defizite zu verzeichnen hatte.
Wir von den Koalitionsfraktionen haben diesen Entschließungsantrag auf den Weg gebracht, um für eine
weitere Verbesserung der sozialen Situation in unserem
Land zu sorgen. Bevor ich darauf eingehe, will ich vorweg sagen: Es geht um konkrete Menschen in konkreten
Notlagen, für die wir eintreten müssen. Wir wollen aber
nicht zulassen, dass dieses Land in dieser Debatte über
den Armuts- und Reichtumsbericht künstlich schlechtgeredet wird und dass mit billiger Polemik auf Stimmenfang gegangen wird.
({0})
Wir müssen uns auch über den Armutsbegriff unterhalten. Wer pauschal einen Großteil der Bevölkerung
arm rechnet oder als arm bezeichnet, wie Sie in Ihrem
Debattenbeitrag vorhin oder Herr Gabriel in der letzten
Debatte,
({1})
wer die Begriffe Armut und Armutsrisiko vermischt, der
geht an der Lebenswirklichkeit der wirklich Armen einfach vorbei.
({2})
Als ehemaliger Sozialarbeiter und Heilsarmeeoffizier
hatte ich Freunde, die im Winter unter einer Brücke erfroren sind. Ich weiß um Beerdigungen von Obdachlosen. Ich habe Kinder erlebt - im Antrag der SPD steht etwas über „Die Arche“, die von Herrn Siggelkow
gegründet wurde -, die erst am Nachmittag im Jugendclub die erste Mahlzeit des Tages bekamen. Diesen Menschen ist nicht geholfen, wenn wir an der Quote drehen.
({3})
Ich zitiere noch einmal aus unserem Entschließungsantrag:
Daher sollte besonders darauf geachtet werden,
dass die Begriffe Armut und Armutsrisiko
- diese Begriffe wurden heute mehrfach zusammengeworfen nicht vermengt werden.
({4})
Unser Sozialstaat sichert allen Haushalten ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze.
Rund ein Drittel des deutschen Bruttoinlandsprodukts
wird für Soziales ausgegeben. In dieser öffentlichen Diskussion über Armut in Deutschland dürfen die Existenz
unseres funktionierenden Sozialstaats und die große
Leistung unserer Solidargemeinschaft nicht einfach außen vor gelassen werden.
Jetzt zur Lage in Deutschland. In unserem Entschließungsantrag stellen wir fest, dass die Beschäftigung ein
historisch hohes Niveau erreicht und dass die Arbeitslosigkeit abnimmt wie selten zuvor. Für viele Menschen ist
die Abhängigkeit von staatlichen Hilfeleistungen überwunden. Bedenken wir dabei einmal, wie viele Einzelne
in dieser Zeit aus Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Perspektivlosigkeit herausgekommen sind.
Die Löhne steigen spürbar. Die Altersarmut ist gerade
angesprochen worden. Sie liegt im Durchschnitt bei
2,5 Prozent. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit liegt
bei etwas über 5 Prozent. Sie ist so niedrig wie in keinem
anderen Land in Europa. Dahinter verbergen sich sehr
viele Einzelschicksale. Für diese Menschen gilt, dass sie
inzwischen aus Armut, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit
und Perspektivlosigkeit herausgekommen sind.
Man muss sich aber auch den anderen Menschen widmen. Das tun wir in unserem Entschließungsantrag. Wir
haben deshalb zehn Aufträge an die Bundesregierung
formuliert. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich
mit diesen Lücken zu beschäftigen. Die ersten vier Maßnahmen betreffen die Arbeitsmarktpolitik.
Ich möchte zum Schluss explizit auf zwei Maßnahmen eingehen. Die frühkindliche Bildung - auch Sie,
Frau Ministerin, haben sie genannt - ist ein ganz wichtiges Ziel. In Punkt sechs fordern wir,
in Kooperation mit der Wirtschaft insbesondere Alleinerziehenden
- dies ist eine der im Ergebnis des Berichts genannten
Gruppen sowie für Menschen mit Behinderung flexible
Möglichkeiten zu bieten, am Erwerbsleben teilzunehmen …
Als siebten Punkt fordern wir,
die Durchlässigkeit im Bildungssystem wie auch
die Möglichkeit, schulische Abschlüsse zu einem
späteren Zeitpunkt nachholen zu können, weiter zu
verbessern …
Ich komme zum Ende. Viel von der Saat, die übrigens
von Ihnen in Regierungsverantwortung mit ausgesät
wurde, ist in diesem Land aufgegangen. Das sage ich mit
großer Dankbarkeit. Allerdings gilt es jetzt genau auf die
Stellen zu schauen, die dadurch zutage getreten sind.
Viele von uns waren gestern Abend bei einer Veranstaltung, an der auch Vertreter der Bundesagentur für Arbeit
teilnahmen. Ich hörte Herrn Weise in einem Gespräch
Folgendes sagen: Viel ist erreicht worden, viel bleibt zu
tun, packen wir es an. - Ich würde am liebsten hinzufügen: Machen wir das am besten gemeinsam.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ebenso wie der Kollege Heinrich bin ich ein bisschen erschrocken, wie diese Debatte über den Armuts- und
Reichtumsbericht zeigt, wie Teile von Ihnen, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, agieren.
Sie tun so, als würden die seriösen Statistiken, der Blick
auf die Realität und auf die Zahlen Sie nur stören, wenn
es darum geht, hier Ihre kontrafaktische Behauptungspolitik fortzusetzen.
({0})
Ich nenne ein paar Beispiele. Ich habe mir die Mühe
gemacht, im Protokoll nachzulesen, was Sigmar Gabriel
und Katrin Göring-Eckardt in der ersten Debatte zum
Armuts- und Reichtumsbericht gesagt haben. Heute beehren sie uns mit ihrer Anwesenheit leider nicht, obwohl
das Thema wichtig ist. Von den beiden genannten Personen wurde unter anderem behauptet, die Einkommensungleichheit nehme in Deutschland zu. Das ist falsch.
Sie haben behauptet, vielen Alleinstehenden reiche der
Lohn nicht. Das ist falsch. Sie haben weiterhin behauptet, Minijobs würden sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängen. Auch das ist falsch.
({1})
- Ich habe ihn gelesen, offenbar im Gegensatz zu Ihnen.
({2})
Es wurde gesagt, wer Vollzeit arbeite, habe am Ende des
Monats nicht einmal das, was jemand bekommt, der gar
nicht arbeiten geht. Das ist falsch. Bemerkenswerterweise wurde auch behauptet, die Tarifautonomie nutze
den Friseurinnen nichts. Das ist falsch, wie wir diese
Woche erfreulicherweise erfahren konnten.
({3})
Die reale Lage ausweislich der Fakten im Armutsund Reichtumsbericht, die von niemandem bestritten
werden, ist vielmehr folgendermaßen: Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht. Die Beschäftigung ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht. Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in ganz Europa. Die Zahl
der Langzeitarbeitslosen ist seit 2007 um 40 Prozent zuJohannes Vogel ({4})
rückgegangen. Wann hat es das zuletzt in Deutschland
gegeben?
({5})
Die Armutsrisikoquote nimmt seit 2006 nicht weiter zu.
Der Niedriglohnsektor ist zuletzt geschrumpft, und die
Einkommensungleichheit ist rückläufig. Dies alles ist im
Armuts- und Reichtumsbericht nachzulesen. Sie sollten
ihn einmal lesen; das würde uns alle hier in der Debatte
voranbringen.
({6})
Trotzdem ruht sich diese Koalition natürlich nicht
aus. Wir stehen vor weiteren Aufgaben. Wir wollen ja
nicht nur vier gute Jahre für Deutschland gehabt haben,
sondern wir arbeiten dafür, dass es vier weitere gute
Jahre für Deutschland gibt. Das wird auch passieren,
wenn diese Koalition wieder in Regierungsverantwortung gewählt wird.
({7})
Ich nenne nur zwei Aufgaben.
Die erste Aufgabe ist, Deutschland zu einem modernen Einwanderungsland zu machen, um den Fachkräftemangel zu lindern. Mit der Bluecard hat diese Koalition
Hervorragendes auf den Weg gebracht.
Die zweite Aufgabe ist, durch mehr Chancengerechtigkeit dafür zu sorgen, dass die Zukunft für niemanden
mehr in Deutschland von der Herkunft abhängt. Dabei
geht es um Bildung. Hier muss ich leider Folgendes sagen: Herr Kurth, Sie haben das Kinderbildungspaket angesprochen. Sie haben leider vergessen, zu erwähnen,
dass diese Koalition für Kinder, deren Eltern auf
Hartz IV angewiesen sind, ein Bildungspaket auf den
Weg gebracht hat,
({8})
und zwar im Gegensatz zu Ihnen, die Sie dafür nichts,
nada, niente, keinen Cent vorgesehen haben.
({9})
Da werfen Sie uns vor, wir würden uns nicht ausreichend
um Chancengerechtigkeit und Bildung kümmern? Ich
bitte Sie, Herr Kollege!
({10})
Leider zeigt auch Ihr Handeln in den Ländern, dass
auf Sie, wenn es um Chancengerechtigkeit geht, kein
Verlass ist. Denn die Länder, in denen Schwarz-Gelb regiert,
({11})
machen nicht nur keine Schulden - somit entstehen für
die kommenden Generationen auch keine zusätzlichen
Belastungen -, sondern sie liegen auch in Evaluationen
zum Thema Bildung vorn. Das Gegenteil ist leider von
den Ländern zu sagen, in denen Rot-Grün regiert.
({12})
Deshalb sage ich: Wenn es um Aufstiegschancen und
Chancengerechtigkeit geht, ist dieses Land bei SchwarzGelb in guten Händen.
Vielen Dank.
({13})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Peter Weiß für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann natürlich alle Zahlen hin- und herwälzen
und über alle Zahlen diskutieren, die in einem solch umfangreichen Bericht, dem viele Untersuchungen zugrunde liegen, stehen. Zusammenfassend möchte ich
zum Schluss dieser Debatte sagen: Ja, wir haben jetzt
viele Jahre in Deutschland hinter uns, in denen die
Schere zwischen Arm und Reich tatsächlich auseinandergegangen ist, in denen die Zahl der Menschen, die
arm oder von Armut bedroht sind, zugenommen hat.
Wenn sich Frau Mattheis - sie ist zwar nicht mehr da,
weil sie weg musste; das ist verständlich ({0})
erkundigt hätte, in welcher Zeit diese Schere besonders
weit auseinandergegangen ist,
({1})
dann würde sie wissen, dass ausgerechnet die rot-grüne
Regierungszeit von Gerhard Schröder die Zeit war,
({2})
in der die Schere in Deutschland am weitesten auseinandergegangen ist.
({3})
Wenn man der Frage nachgeht: „Was ist die Hauptursache dafür, dass Menschen arm werden oder von Armut
bedroht sind?“,
({4})
Peter Weiß ({5})
dann stellt man fest: Die Hauptursache sind lange Phasen der Arbeitslosigkeit. Das ist in allen Untersuchungen
unstrittig.
({6})
Da in diesem Zusammenhang auch über Rentenarmut
gesprochen wird, sage ich Ihnen: Lange Phasen der Arbeitslosigkeit führen auch zu einer geringeren Rente.
Deswegen ist eine weitere Folge von Langzeitarbeitslosigkeit Armut im Rentenalter.
({7})
Die entscheidende und wichtigste Nachricht lautet daher: Der Schlüssel, um daran etwas zu ändern und dafür
zu sorgen, dass die Zahl der Menschen, die von Armut
gefährdet ist, in Zukunft wieder abnimmt, ist der Abbau
von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit.
({8})
Es ist ein sehr großer politischer Erfolg, dass wir dafür gesorgt haben, dass die Langzeitarbeitslosenquote
seit dem Jahr 2007 um 40 Prozent zurückgegangen ist.
Dieser Erfolg sollte uns ermuntern, daran zu arbeiten,
dass sie noch weiter zurückgeht. Das ist nämlich der
Schlüssel, um Armut in Deutschland zu verhindern.
({9})
Ein weiterer Punkt. Zahlen, Daten und Fakten sind
das eine. Das andere ist die Frage: Welche Lebenssituationen und Lebenslagen sorgen dafür, dass jemand nicht
mehr aus der Armut herauskommen kann?
({10})
Bedauerlicherweise hat niemand darauf hingewiesen,
dass dies der erste Armuts- und Reichtumsbericht ist, der
sich ausführlich der Untersuchung der Lebenslagen widmet. Damit kann man nachvollziehen, aufgrund welcher
Strukturen - abgesehen von den monetären Gründen jemand in Armut verharrt und warum jemand keinen Zugang zu Bildung findet.
Ich finde, es ist bemerkenswert, dass uns diese Bundesregierung bzw. Bundesarbeitsministerin Ursula von
der Leyen mit dem Lebenslagenkonzept einen Armutsund Reichtumsbericht vorgelegt hat, der mehr liefert als
Daten und Fakten, der sich wirklich mit der Lage der armen Menschen beschäftigt und der Frage nachgeht: Warum verharren sie in dieser Situation, und wo sind Ansatzpunkte, um sie aus der Armut herauszuführen?
Darauf kommt es nämlich an.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Tat
gibt es verkrustete Strukturen, die Menschen in Armut
führen oder in Armut halten. Aber das Entscheidende
mit Blick auf die vergangenen Jahre ist: Endlich, nach
einer langen Phase des Auseinanderdriftens, werden
diese Strukturen aufgebrochen. Wir haben zum ersten
Mal seit vielen Jahren die Situation, dass sich die Einkommensschere wieder etwas schließt. Dass die Opposition das nicht erwähnen will, verstehe ich; sie will ja ein
anderes Bild zeichnen.
Für die Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem
Land ist etwas anderes wichtig, nämlich die Frage: Können verkrustete Strukturen auch in Zukunft aufgebrochen werden, und kann die Langzeitarbeitslosigkeit auch
zukünftig abgebaut werden? Angesichts dieser Frage
sollte man denjenigen, die bewiesen haben, dass sie eine
Trendwende herbeiführen können - und das sind wir -,
vertrauen und darauf setzen, dass die Verantwortlichen
es auch in Zukunft schaffen werden, den Menschen in
Deutschland durch Bildung und Arbeit zu sozialem Aufstieg zu verhelfen und sie aus der Armut herauszuführen.
({12})
Bei allem, was die Opposition vorgetragen hat, erinnere ich daran: Unter Rot-Grün ist die Schere weit auseinandergegangen.
({13})
Wir haben die Trendwende geschafft. Diese Trendwende
wollen wir in den kommenden Jahren fortsetzen.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/12650 und 17/13102 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Der Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/13250 soll wie die
Vorlage auf Drucksache 17/12650 überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a bis 44 c auf:
a) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Memet Kilic, Volker Beck ({0}), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Situation in deutschen Abschiebungshaftan-
stalten
- Drucksachen 17/7442, 17/10596 -
Vizepräsidentin Petra Pau
b) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Umsetzung der Abschiebungsrichtlinie der
Europäischen Union und die Praxis der Ab-
schiebungshaft
- Drucksachen 17/7446, 17/10597 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({2}), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenwürde von Flüchtlingen ist
migrationspolitisch nicht relativierbar - Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz ziehen
- Drucksachen 17/11663, 17/12674 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({3})Ulla JelpkeJosef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Danke. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Hier geht es um erhebliche soziale Probleme.
Es geht um das Asylbewerberleistungsgesetz, das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom Juli vergangenen
Jahres und um die Abschiebehaftanstalten.
Wenn im Winter, wenn es kalt ist, wenige Meter von
hier Flüchtlinge vor dem Brandenburger Tor demonstrieren und in den Hungerstreik treten, um auf ihre Situation
in Deutschland aufmerksam zu machen, dann lässt sich
zuweilen auch die Integrationsbeauftragte aus den Reihen der Union oder der Sozialstadtrat aus den Reihen der
FDP sehen; er redet ihnen dann gut zu und sagt, dass
man etwas tun wolle. Nur: Taten folgen dem nicht.
In Deutschland wird die Abschiebehaft nach wie vor
viel zu schnell und viel zu häufig angeordnet. Wir von
den Grünen haben deshalb eine Große Anfrage eingebracht, die inzwischen beantwortet wurde. Den Antworten ist zu entnehmen, dass die Anzahl der Haftanträge
zurückgegangen ist, also weniger Flüchtlinge in Haft
sind.
Ein grundlegender Missstand besteht aber noch immer: Abschiebehäftlinge sind keine Straftäter. Ihnen
wird keine kriminelle Handlung vorgeworfen. Es sind
Flüchtlinge, es sind Zufluchtsuchende, die nach Deutschland kommen, weil sie aus ihrem Heimatland vertrieben
werden, weil sie politisch verfolgt werden und weil sie
in Not sind. Deshalb kommen sie hierher. Wenn gegen
sie Haftanträge gestellt werden und sie in Haft kommen,
dann darf diese Haft nicht in normalen Haftanstalten
vollzogen werden, wo die Haftbedingungen häufig dramatisch schlechter sind, als sie es bei Untersuchungshäftlingen oder selbst Strafgefangenen sind.
({0})
Das ist nicht hinnehmbar.
Wir stellen fest, dass die Zahl der Anträge auf Abschiebung von Flüchtlingen, die, bevor sie nach
Deutschland gekommen sind, zunächst in EU-Ländern
wie Griechenland, Italien oder Ungarn waren, erheblich
zugenommen hat. Uns liegen keine konkreten Zahlen
vor; aber wir wissen, dass die Anzahl der Personen, die
aus diesem Grunde in Abschiebehaft gelangen, immer
größer wird.
Deswegen fordern wir ganz dringend, dass zumindest
die Minderjährigen nicht in Abschiebehaft kommen,
dass Schwangere nicht in Abschiebehaft kommen.
Leute, die krank sind, die - häufig durch Verfolgung in
ihrem Herkunftsland - traumatisiert sind, sollen auf gar
keinen Fall in Abschiebehaft kommen. In diesen Fällen
sind Haftanträge nicht zu stellen bzw. abzulehnen.
({1})
Wir fordern, dass die Verhältnisse in den Abschiebehaftanstalten verbessert werden: dass dort Rechtsberatung stattfindet, dass dort eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet wird. Wir fordern
grundsätzlich, dass diese Haftanstalten mittelfristig geschlossen werden. Kein Mensch soll in Deutschland
mehr in Abschiebehaft genommen werden.
({2})
Zum Asylbewerberleistungsgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das Existenzminimum von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Deutschland derzeit nicht gesichert ist. Beim Existenzminimum
geht es um das Geld, das für eine einigermaßen menschenwürdige Existenz nötig ist. Da kann es doch keinen
Unterschied machen, ob jemand ein Flüchtling oder ein
Einwanderer oder ein Deutscher ist. Union und FDP sind
bis heute im Verzug damit, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli vergangenen Jahres umzusetzen
und endlich eine menschenwürdige Versorgung der
Flüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland sicherzustellen. Da sind Sie in der Pflicht und müssen handeln.
Ein letzter Punkt.
Herr Ströbele, achten Sie bitte darauf, dass Sie das
jetzt in den letzten Satz fassen.
Ja. Das ist mein letzter Satz.
Das Asylbewerberleistungsgesetz muss grundsätzlich geändert werden. Die Forderungen, die die Flüchtlinge stellen, zuerst vor dem Brandenburger Tor und jetzt
am Oranienplatz in Kreuzberg, müssen erfüllt werden,
nämlich dass kein Mensch gezwungen werden darf, in
einem bestimmten Land zu bleiben; dass kein Mensch
gezwungen werden darf, in Sammelunterkünften zu leben, wenn er gleichzeitig die Möglichkeit hat, in einer
Wohnung unterzukommen. Auch als Asylbewerber nach
Deutschland gekommene Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, hier Arbeit aufzunehmen, und zwar so
schnell es ihnen irgendwie möglich ist.
({0})
Das war mehr als ein Satz.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
Unionsfraktion.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich würde dem Kollegen Ströbele gern eine Minute abtreten; er soll ja nicht
in Eile sein, wenn es um die Darstellung seiner Positionen geht.
({0})
Das Vorgehen, die Fragen innerhalb der Großen Anfrage zu der Situation in deutschen Abschiebungshaftanstalten in einen Antrag zu packen, in dem es insgesamt
um das Asylbewerberleistungsgesetz geht, ist nicht unbedingt geeignet, das Thema erschöpfend abzubilden auch wenn der Versuch aus meiner Sicht nachvollziehbar
ist.
Mit der Überschrift ihres Antrages nehmen die Grünen einen Satz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf:
Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht
zu relativieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschenwürde ist unter keinen Gesichtspunkten relativierbar.
({1})
Insofern hätten Sie sich vielleicht einen anderen Satz aus
dem Urteil heraussuchen sollen; denn ich finde auch diesen Satz in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
nicht unbedingt besonders geglückt.
({2})
Ich nehme mir heraus, zu sagen, dass dieser Satz, den
Sie aus dem Zusammenhang gerissen und im Titel Ihres
Antrages verwendet haben, durchaus noch eine Erläuterung wert ist. Das wird man in dieser Debatte noch sagen
dürfen.
Es geht vor allem darum, dass wir eines nicht tun sollten, nämlich alle Aussagen der unterschiedlichen Parteien zu den verschiedenen Aspekten der zumeist
schwierigen persönlichen und humanitären Gesamtlage
der Flüchtlinge in einen Topf zu werfen, einmal kräftig
umzurühren und dann den Eindruck zu erwecken, ein
menschenwürdiges Leben und Dasein als Asylbewerber
sei in diesem Land nicht machbar. Dieser Eindruck, den
Sie erwecken möchten, ist definitiv falsch.
({3})
Klar ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht alle
Punkte, über die zu urteilen war, in seinem Urteil als verfassungsgemäß bezeichnet hat. Alle! Es hat allerdings
gesagt - das will ich gerne zugestehen -, bei der Leistungshöhe müsse eine Anpassung erfolgen. Mit Blick
auf die Regierungsbank sage ich: Das passiert im Augenblick.
({4})
Es ist das gute Recht der Opposition, hier zur Eile zu
mahnen, aber ich glaube, dass die Regierung diese Ermahnung mit Sicherheit nicht braucht; denn sie arbeitet
sorgfältig daran, eine Grenze für die Leistungen zu definieren.
Klar ist aber auch, dass das Zusammenführen all dieser Punkte ein wenig mit dem Föderalismus sozusagen
„garniert“ wird. Denn Sie alle wissen, dass die Länder
für viele dieser Bereiche zuständig sind. Alle Antworten
auf Fragen, bei denen die Bundesregierung die Bundesländer einbeziehen musste, zeigen, dass die Abschiebehaft in unserem Land nach wie vor die Ultima Ratio ist.
Es wird oft der Eindruck erweckt, als sei die Abschiebehaft der Normalfall. Das sollten Sie aber unter keinen
Umständen tun. Die Länder sind sich ihrer Verantwortung in diesem Zusammenhang sehr wohl bewusst. Dieses Mittel wird nur angewandt, wenn man sich überhaupt nicht mehr anders zu helfen weiß.
Ein Blick auf die Zahlen sollte das einigermaßen
deutlich machen: In knapp 80 Prozent dieser Einzelfälle
beträgt die Haftverweildauer nach wie vor höchstens
sechs Wochen. Bei 0,4 Prozent der Betroffenen wird
eine längere Verbüßungszeit in Abschiebehaft für notwendig erachtet,
({5})
weil eine ständige Verschleppung des Asylverfahrens
droht. Das liegt weit unterhalb der Grenze, die hier als
rechtmäßig angesehen wird.
Es mag richtig sein, immer wieder daran zu erinnern:
Jemand, der in Abschiebehaft kommt, ist kein Strafgefangener. Das ist vollkommen richtig. Deshalb wird in
den Ländern auch dafür gesorgt, dass, wenn es überhaupt zu einer gemeinsamen Unterbringung kommt, Abschiebehäftlinge nur gemeinsam mit Untersuchungshäftlingen untergebracht werden. Wenn man das nicht
akzeptiert, dann heißt das, dass man den Untersuchungshäftling einem Strafgefangenen gleichstellt, und das,
glaube ich, wird der Rechtsordnung an dieser Stelle auch
nicht gerecht. Ich bitte also, deutlich zu machen, was die
Länder hier unabhängig von den Mehrheiten in dem jeweiligen Land tun können.
Ich glaube, alle Antworten auf die in der Großen Anfrage gestellten Fragen - zur Gesundheitsvorsorge, zur
psychiatrischen Betreuung - zeigen, dass es hier - ich
möchte nicht „vorbildhaft“ sagen - gut funktioniert. Es
gibt aber natürlich noch genug Dinge, über die wir diskutieren können.
({6})
Ich habe mir auch die eine oder andere Einrichtung
angesehen.
In Bezug auf das Leistungsrecht scheint mir ganz wesentlich zu sein, dass auch das sogenannte Sonderleistungsrecht - das ist vielleicht etwas unglücklich formuliert - als verfassungsgemäß anerkannt wurde. Natürlich
ist es richtig, Asylbewerbern in erster Linie Sachleistungen zur Verfügung zu stellen. Warum? Weil bei Leistungen in Geld die Gefahr besteht, dass sie bei jenen
Schleppern, bei jenen Schleusern landen, die dafür gesorgt haben, dass diese Menschen - tragische Fälle - ihr
letztes Geld ausgegeben haben, um hier zu landen.
({7})
Das ist der Grund, warum wir der Auffassung sind, dass
diese Menschen und ihre Familienangehörigen auch mit
Sachleistungen bedacht werden sollten. Auch das ist etwas, was das Bundesverfassungsgericht definitiv für
rechtmäßig erkannt hat.
Damit komme ich zur Frage der Residenzpflicht.
Auch diese Frage wird in diesem Antrag behandelt. Ich
glaube, wir haben gerade in dieser Legislaturperiode bewiesen, dass eine Lockerung der Residenzpflicht dort,
wo sie wirklich Sinn macht, durchaus machbar, durchaus
umsetzbar ist.
({8})
Es geht um ein wirklich effizientes und effektives
Asylverfahren. Die betroffenen Menschen befinden sich
immer noch in einem solchen Verfahren, in dem bewiesen werden soll, nachgewiesen werden soll, beurteilt
werden muss: Können sie, sollen sie, dürfen sie auf
Dauer in diesem Land verweilen? Eventuell muss man
am Ende sagen: Das ist nicht der Fall. Es geht also um
die Balance zwischen einem ordnungsgemäßen Verfahren auf der einen Seite und Bewegungsfreiheit auf der
anderen Seite. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht, dass wir bisher durchaus verfassungsgemäß
gehandelt haben. Insofern haben wir hier eine breite
Übereinstimmung mit dem europäischen Recht.
Letztendlich ist entscheidend - vielleicht kann man
sich in dieser Frage etwas aufeinander zubewegen -: In
keinem einzigen Fall wurde in diesem Land die Teilnahme eines Asylbewerbers, dessen Asylverfahren noch
nicht abgeschlossen war, an einem Integrationskurs und
damit an einem Sprachkurs abgelehnt, wenn er an diesem freiwillig teilnehmen wollte. Wir sind der Auffassung, dass eine solche Teilnahme richtig ist. Denn Sprache ist etwas, was die Menschenwürde durchaus mit
ausmacht.
Gesetzlich ist es so: Ein Integrationskurs soll denen
zugutekommen, die auf Dauer in diesem Land bleiben
sollen. Natürlich kann man darüber nachdenken - ich
halte das auch für richtig -, inwieweit der Erwerb der
Sprache des Landes, in das zu fliehen man sich einmal
entschlossen hat, weil das eigene Leben bedroht worden
war, zur Achtung der Menschenwürde gehört. Ich will
noch einmal daran erinnern: In keinem einzigen Fall
wurde die oben beschriebene Teilnahme abgelehnt. Entscheidend ist, dass wir keinen falschen Eindruck erwecken.
Gegen Ende dieser Großen Anfrage - es handelt sich
um eine Kanonade an Fragen und, auch das darf ich sagen, Behauptungen - wird nach der Verfahrensdauer gefragt. Auch Sie wissen selbstverständlich, dass die Dauer
der Verfahren beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge extrem verkürzt werden konnte. Gerade vor
dem Hintergrund der Vielzahl von Fällen von Menschen
aus den Staaten des Westbalkans ist es entscheidend, die
Frage zu beantworten: Wie können wir Hilfe anfordern,
damit die Verfahrensdauer auf nur zehn Tage beschränkt
werden kann? Bisher liegt die Ablehnungsquote bei über
98 Prozent. Das heißt, vielen betroffenen Menschen
musste bisher gesagt werden: Ein Verweilen in diesem
Land hat am Ende keinen Sinn mehr. Auch diese Frage
in der sehr betagten Großen Anfrage der Grünen wurde
durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits beantwortet.
({9})
Ich komme also zu dem Ergebnis: Unser zentraler
Anspruch ist, die Wahrung der Menschenwürde zu ermöglichen. Ich glaube, wir können mit Fug und Recht
behaupten, dass sich derjenige, der aus schwierigsten Situationen kommt und in diesem Land nach Rettung
sucht, darauf verlassen kann, dass seine Menschenwürde
gewahrt ist. Darüber hinaus wird ihm eine Perspektive
vermittelt. Er weiß, wie sich sein Leben weiterentwickeln kann; denn wir lassen das Asylverfahren nicht zu
einer Hängepartie werden. Vielmehr sorgen wir dafür,
dass ein Asylbewerber, dessen Asylantrag in diesem
Land negativ beschieden worden ist, nach möglichst
kurzer Dauer das Land verlassen muss. Für die betroffenen Menschen muss berechenbar sein, ob sie ihr Leben
hier weiterleben können. Das ist aus meiner Sicht ein
Akt der Menschenwürde. Insofern kann ich nur hoffen,
dass wir den Antrag heute ablehnen.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Daniela Kolbe
das Wort.
({0})
Ich weiß nicht genau, ob zum Erklären so viel Zeit
bleibt. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das Recht auf Asyl ist für uns
Sozialdemokraten von ganz besonderer Bedeutung. In
wenigen Tagen feiern wir unseren 150. Geburtstag. Wir
blicken nicht nur auf eine Zeit zurück, in der wir dieses
schöne Land mitgestaltet haben, sondern wir blicken
auch auf eine Zeit zurück, die durchaus auch von Verfolgung geprägt war, sei es zu Zeiten der Sozialistengesetze, sei es in der DDR. Aber natürlich vor allen Dingen
in den Zeiten des Nationalsozialismus sind viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geflohen - Otto
Wels und Willy Brandt seien als Namen genannt - und
waren auf die Solidarität oder vielleicht auch nur den
Langmut anderer Länder angewiesen, um dort Schutz
suchen zu können.
Insofern sind wir als Sozialdemokraten stolz, dass es
mittlerweile zum Selbstverständnis Deutschlands gehört,
dass wir Menschen, die Verfolgung ausgesetzt sind, in
unserem Land Schutz bieten. Hunderttausende haben in
der Vergangenheit davon profitiert.
Aber das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass wir
in unserem Asylrecht ganz dringend Reformen brauchen, die uns auch das Bundesverfassungsgericht ins
Stammbuch geschrieben hat.
({0})
Wir müssen aus zwei Begründungssträngen heraus
unser Recht anpassen: erstens aus Gründen der Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht hat es in
seinem Urteil formuliert - das wurde bereits zitiert -:
„Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Das stand in dem Urteil vom 18. Juli 2012.
Dieses Urteil wird wohl kaum jemanden überrascht haben; denn die Urteile, die genau das begründeten, sind
schon einige Zeit vorher erfolgt.
Der zweite Begründungsstrang ist aber, dass wir unser Recht auch an die aktuellen Gegebenheiten anpassen
müssen. Die Zahl der Asylanträge steigt in unserem
Land. Das ist richtig. Aber gleichzeitig verharrt sie auf
einem sehr moderaten Niveau, zumal im Vergleich zu
den Zahlen Anfang bis Mitte der 90er-Jahre.
Gleichzeitig erleben wir eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit, in Teilen sogar einen Fachkräftemangel, und einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Sogar
bei Schwarz-Gelb ist das ein bisschen zu erahnen. Die
Bluecard wurde eingeführt, und man spricht über Zuwanderung im Fachkräftebereich.
Vor diesem Hintergrund erscheinen mir manche Regelungen im Asylrecht regelrecht anachronistisch. Wir
leben eben nicht mehr Mitte der 90er-Jahre. Es ist auch
so, dass viele der Regelungen im Asylrecht nicht nur
menschenrechtspolitisch problematisch sind, sondern
gleichzeitig auch teuer. Deswegen sagen wir: Lassen Sie
uns das Bundesverfassungsgerichtsurteil nutzen und das
Asylrecht endlich umfassend reformieren.
({1})
Theoretisch besteht dabei Einigkeit bei den Regelsätzen - dazu gibt es auch glasklare Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts -, auch wenn ich auf der Regierungsbank wenig Bewegung sehe.
({2})
Überraschen Sie uns doch einmal! Sie wissen sicherlich
noch nicht genau, ob Sie das hinbekommen. Ich fände
das gut.
Allein bei der Umsetzung hätten wir noch den
Wunsch, dass Sie das Bildungs- und Teilhabepaket mit
aufnehmen. Denn wir denken, dass auch Kinder von
Menschen, die einen Asylantrag stellen, Zugang zu diesen Leistungen haben sollten.
Dabei wollen wir aber nicht stehen bleiben. Wir wollen das Asylbewerberleistungsgesetz und auch die Asylverfahrensrichtlinie deutlich weiter gehend reformieren.
Wir haben die Antworten auf die Großen Anfragen
der Grünen und der Linken gelesen. Wir denken, dass
wir auch da noch genauer hinschauen müssen.
Sie haben recht: Es sind lediglich 0,4 Prozent, die länger als drei Monate in Abschiebehaft sind. Abschiebehaft muss aber wirklich die allerletzte Möglichkeit sein.
Es gibt eigentlich keinen Haftgrund. Denn diese Menschen haben nichts verbrochen; auch drei Monate sind
vor diesem Hintergrund eine lange Zeit. Manche sind
länger als ein Jahr in Haft, und es gibt immer noch Fälle,
in denen Minderjährige in Haft genommen werden. Wir
haben dazu einen Antrag vorgelegt, in dem wir fordern,
die Kinderrechtskonvention endlich auch in diesen Fällen umzusetzen.
({3})
Wir wollen die gesundheitliche Versorgung verbessern, gerade was die psychologische Betreuung angeht.
Wir wissen doch alle, dass viele Asylbewerber, die hierherkommen, traumatisiert sind. Zurzeit ist der Zugang zu
Daniela Kolbe ({4})
psychologischer Betreuung in vielen Bundesländern
noch sehr mangelhaft.
Wir wollen in vielen Fällen das Regel-Ausnahme-Verhältnis umdrehen. Wir wollen, dass das Sachleistungsprinzip nur noch in Ausnahmefällen gilt. Wir wollen
in der Regel die dezentrale Unterbringung, übrigens
auch aus finanziellen Gründen, liebe Koalitionäre. Wir
schmeißen nämlich ganz schön viel Geld aus Steuermitteln aus dem Fenster. Die Menschen bezahlen ihre Steuern, und wir verbrennen das Geld, ohne dass es irgendjemandem nutzt. Die Menschen, die in diesen Unterkünften
untergebracht werden, beschweren sich über die Bedingungen. Wir könnten es deutlich preiswerter haben, wenn
die Menschen dezentral untergebracht würden.
({5})
Vor allen Dingen wollen wir den Umfang dieses Gesetzes endlich wieder auf ein Normalmaß zurückführen.
Dabei geht es einerseits um den Kreis der vom Asylbewerberleistungsgesetz betroffenen Leistungsempfänger.
Menschen, die eine Aufenthaltserlaubnis haben, sollten
hiervon unbedingt ausgenommen werden. Andererseits
muss auch die Bezugsdauer geändert werden. Maximal
ein Jahr soll es Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geben.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag, anders als das
Herr Ströbele gerade dargestellt hat, die Abschaffung
des Asylbewerberleistungsgesetzes.
({6})
Da können wir nicht mitgehen. Wir wollen aus fachpolitischen Gründen das Asylbewerberleistungsgesetz sehr
weitgehend reformieren und - so könnte man sagen etwa 80 oder 90 Prozent davon abschaffen; aber es muss
möglich sein, auf die besonderen Bedarfe von Asylsuchenden einzugehen. Deswegen werden wir uns bei der
Abstimmung über diesen Antrag enthalten, obwohl darin
viele gute Dinge stehen, zum Beispiel die Frage des Arbeitsmarktzuganges.
({7})
Es ist in Zeiten von geringer Arbeitslosigkeit nun wirklich anachronistisch, diesen Menschen den Zugang zum
Arbeitsmarkt zu verwehren und sie zum Nichtstun zu
verdammen. Dadurch werden im doppelten Sinne Ressourcen verschwendet, zum einen im Hinblick auf den
Arbeitsmarkt und zum anderen in Form von Steuergeld,
das heißt in Form von Sozialausgaben, die hier gezahlt
werden müssen.
So wie die Grünen sind auch wir für eine unvoreingenommene Prüfung aller Asylanträge, was eigentlich eine
Selbstverständlichkeit ist. Aber wenn man den Rednern
von Schwarz-Gelb bei der Frage der Aufnahme der
Menschen aus Serbien und Mazedonien zuhört,
({8})
auch dem Staatssekretär - er spricht davon, dass
100 Prozent dieser Antragsteller keinen Anspruch auf
Asyl hätten -,
({9})
dann kommen mir schon Zweifel, ob diese Prüfung tatsächlich immer so unvoreingenommen abläuft. Wir halten es für eine der Grundlagen unseres Asylrechtes, dass
wirklich jeder Antrag einzeln und auch unvoreingenommen geprüft wird.
Die Residenzpflicht wollen wir abschaffen. Ich kann
Ihre Argumentation nicht wirklich nachvollziehen. Natürlich wollen wir weiterhin eine Lastenteilung zwischen
den Bundesländern beibehalten und dabei den Königsteiner Schlüssel erhalten. Aber das Ganze kann man
auch über die Wahl eines Wohnsitzes regeln. Die Residenzpflicht ist auf eine unangenehme Art einzigartig in
Europa.
({10})
Die Abschaffung der Residenzpflicht würde sicherlich bei den Ausländerbehörden großen Applaus hervorrufen; denn in diesem Zusammenhang fällt sehr viel Bürokratie an. Bei jedem Verlassen des Landkreises muss
ein Ausnahmeantrag gestellt werden.
({11})
- Herr Uhl, dass Sie jetzt so laut werden, zeigt, dass ich
mit meiner Argumentation richtig liege.
({12})
Dank an die Grünen und an die Linken, dass wir dieses wichtige Thema heute besprechen können. An vielen
Regelungen müssen wir wirklich arbeiten.
({13})
Beim Asylbewerberleistungsgesetz sind wir nur in Nuancen anderer Auffassung. Insofern werden wir uns
heute bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten.
Ich hoffe, dass wir über dieses wichtige Thema noch
häufig miteinander sprechen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
wirksame und koordinierte Abschiebungs- und Rückübernahmepolitik ist in der Tat nach dem Willen der EU
und ihrer Mitgliedstaaten ein zentraler Bestandteil des
gemeinsamen europäischen Asylsystems.
Lassen Sie mich grundsätzlich feststellen: Es hat keinen Sinn, von „Asyl“ zu sprechen, wenn jemand, dem
dies nicht zuerkannt wird, dennoch grundsätzlich im Land
bleiben darf. Es wäre schön, wenn diejenigen, die sich immer so laut und vermeintlich human gegen Abschiebungen und Rückführungen in Szene setzen, den Menschen
hierzulande einfach einmal sagen würden, wofür sie denn
dann sind. Wer gegen Rückführungen bei abgelehnten
Asylanträgen ist, ist für ein uneingeschränktes Bleiberecht für alle, die hierherkommen wollen. Umgekehrt
muss, wer nicht für ein uneingeschränktes Bleiberecht für
alle ist, sich dazu bekennen, dass die Abschiebung unabdingbarer Bestandteil jeglicher Art von Zuwanderungssteuerung ist.
({0})
Natürlich haben Linke und Grüne nicht den Mut, klar
zu sagen, was sie wollen. Aber die Krokodilstränen, die
aus diesen Parteien immer wieder in Gestalt von zahllosen und wohlfeilen Anträgen gegen Abschiebehaft und
Rückführungspolitik ins Parlament fließen, lassen nur
den Schluss zu, dass Linke und Grüne kein besonderes
Asylrecht mehr wollen, weil sie ohnehin keine Zuwanderungssteuerung wollen.
({1})
Damit es keine Missverständnisse gibt: Das Recht auf
Asyl für politisch Verfolgte ist gerade für Liberale ein
wesentliches Grundrecht.
({2})
Auch Kollege Frieser hat das für die Union gerade deutlich gemacht.
({3})
Aus Sicht der FDP muss über das europäische Asylsystem ständig - durchaus unter humanitären Gesichtspunkten der Menschenrechte - weiter beraten und nachgedacht werden.
({4})
Der aktuelle Stand - auch in Europa - ist für die FDP
nicht befriedigend.
({5})
Eine Nachjustierung erscheint in mancher Hinsicht sinnvoll, so zum Beispiel hinsichtlich des Rechtsschutzes.
Allerdings ist es völlig überzogen, in diesem Zusammenhang plakativ von menschenrechts- und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts zu
sprechen, wie es die Fragesteller in ihren Anträgen immer wieder tun.
({6})
In allen Fällen, in denen die Gefahr besteht, dass die
Betreffenden ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen,
ist die Abschiebehaft, wenn auch als Ultima Ratio - selten angewendet in Deutschland -, unverzichtbar, um geltendes Recht durchzusetzen. Natürlich ist der Abschiebevollzug nicht fehlerfrei. Verbesserungen erscheinen
uns gerade unter humanitären Gesichtspunkten angebracht.
({7})
Die Fragesteller von Linken und Grünen beweisen
immerhin ein Minimum an Sachkunde - das muss man
ihnen zugestehen -, da sie sich über die Länderverantwortung im Klaren sind. Muss ich noch anmerken - muss
ich die Länder wirklich nennen, Kollege Wieland? -, in
welchen Ländern diese beiden Parteien mitregieren?
Wenn das Problem auch nur annähernd so groß ist wie
der Umfang Ihrer Fragenkataloge: Wann haben Sie diese
Fragen das letzte Mal Ihren Landesregierungen, zum
Beispiel der in Baden-Württemberg, gestellt?
({8})
Es liegt nicht primär in Bundeshand, die Rückführungspolitik zu verbessern. Das ist Aufgabe der Länder, die zu
einem guten Teil von Grünen, aber auch von Linken mitregiert werden. Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, sollten Sie vor der eigenen Haustür kehren.
Der Schutz von Menschen in Not ist ein hohes Gut,
Kollege Wieland und Kollege Ströbele. Ungesteuerte
Zuwanderung
({9})
aber bringt vor allem die Schwächeren unserer Gesellschaft in eine immer schwierigere Lage. Es bleibt jedoch
wichtig, dass diejenigen, die berechtigterweise Asyl in
Deutschland begehren, auch anerkannt werden. Rechtmäßig aufhältige Menschen sind in Deutschland hoch
willkommen.
Zum Rechtsstaat gehört, dass es gegen amtliche Entscheidungen Rechtsmittel geben muss. Wenn die Rechtsmittel aber ausgeschöpft sind, muss eben auch das geltende Recht vollzogen werden. Linke und Grüne
ignorieren manchmal absichtlich, dass das Schutzniveau
in Deutschland - rechtlich und tatsächlich - zu den
höchsten in der Welt gehört. Gerade diese Koalition hat
in den letzten vier Jahren dazu beigetragen, dass wir hier
deutlich weitergekommen sind, gerade bei den Regelungen betreffend die Abschiebehaft. Das sollten Sie einmal
Hartfrid Wolff ({10})
anerkennen, anstatt ständig den Teufel an die Wand zu
malen.
({11})
Der Schutz von Menschen in Not ist für Liberale ein
hohes Gut. Es waren vier wirklich gute Jahre für
Deutschland - auch im Bereich des Ausländerrechts unter Schwarz-Gelb.
({12})
Viele wesentliche Verbesserungen, zum Beispiel im Hinblick auf Opfer von Menschenhandel, die Regelungen
betreffend die Abschiebehaft sowie das Bleiberecht für
Kinder und Jugendliche, wurden in dieser Legislaturperiode geschaffen. Es waren wirklich sehr gute Jahre
für Deutschland - auch im Ausländerrecht - unter
Schwarz-Gelb.
({13})
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv und
auch unter humanitären Gesichtspunkten weiter begleiten.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Wolff, ich glaube, Sie haben sich heute mit dem Thema
vertan. In den Vorlagen geht es vor allen Dingen um
schutzbedürftige Menschen und nicht um Einwanderungspolitik; darüber können wir an anderer Stelle diskutieren. Ich finde es schon beschämend, dass Sie
20 Jahre gebraucht haben - gezwungen durch das Bundesverfassungsgericht -, die Leistungssätze für Asylbewerberinnen und Asylbewerber anzupassen. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen ganz klar bescheinigt,
dass erstens das entsprechende Gesetz verfassungswidrig ist und zweitens die Leistungssätze „evident unzureichend“ sind.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt, dass
der Gesetzgeber nicht versuchen darf, durch unwürdige
Lebensbedingungen Menschen von einer Flucht nach
Deutschland abzuschrecken. Aber genau das machen Sie
weiterhin, wenn Sie an der Residenzpflicht festhalten,
wenn Sie trotz Bundesverfassungsgerichtsurteil im
Grunde genommen keine neue Regelung schaffen, wenn
Sie weiterhin die Unterbringung von Flüchtlingen in Lagern veranlassen oder wenn Sie nur Sachleistungen gewähren wollen. Diese Politik folgt der Logik der Abschreckung. Sie muss endlich beendet werden.
({1})
Trotz dieser Abschreckungspolitik kommen viele
schutzsuchende Menschen nach Deutschland, die hier
nicht immer auf Schutz hoffen können. Gerade gibt es
den aktuellen Fall von Herrn Singh Bhullar, der vor vielen Jahren aus Indien eingereist ist und dann vom Frankfurter Flughafen abgeschoben wurde. Er ist gerade zum
Tode verurteilt worden. Das Verwaltungsgericht Frankfurt hat seinerzeit diese Abschiebung für rechtswidrig erklärt. Als er nach Indien abgeschoben wurde, ist er inhaftiert worden, gefoltert worden, aber man hat nie
etwas von der Bundesregierung gehört. Sie reden die
Verhältnisse hier leider sehr schön. Das finde ich gar
nicht gut.
({2})
Denn dies ist nämlich leider kein Einzelfall. Es gibt
zum Beispiel eine Dokumentation von der Antirassistischen Initiative Berlin. Danach sind seit 1993 32 Flüchtlinge in ihrem Herkunftsland zu Tode gekommen, 562 erlitten Misshandlungen und Folter, 71 verschwanden
spurlos. Diese Zahlen sprechen meiner Meinung nach
für sich. Ich möchte hier ebenfalls erwähnen, dass gerade vor wenigen Tagen Sammelabschiebungen von
Roma in Düsseldorf stattgefunden haben, obwohl klar
ist, dass die Lebensverhältnisse in Serbien und im Kosovo für sie erbärmlich sind und ihnen Diskriminierung
bevorsteht. Auch das, finde ich, ist nach wie vor ein
Skandal.
({3})
2011 haben sich 6 466 Menschen in Abschiebehaft
befunden. Das ist keine unerhebliche Zahl. All diese
Menschen haben übrigens keine Straftaten begangen.
Was mich besonders in Sorge versetzt, ist, dass darunter
viele Minderjährige sind. Allein 2011 waren es 60 Minderjährige, die in Abschiebegefängnissen inhaftiert waren. Auch hier muss man sagen: Deutschland ist das
einzige Land innerhalb der EU, das Kinder in Abschiebehaft nimmt. Wir hatten dazu vor kurzem eine Anhörung, in der die Bundesregierung wiederum nicht davon
zu überzeugen war, die Kinderrechtskonvention anzuerkennen. Das bedeutet, dass weiterhin Kinder inhaftiert
werden können. Ich halte es wirklich für einen Riesenskandal, dass so etwas in Deutschland möglich ist.
({4})
Abschiebehaft bedeutet: Menschen werden eingesperrt, obwohl sie keine Straftaten begangen haben. Das
ist meiner Meinung nach eines Rechtsstaates unwürdig.
({5})
So viel Würde muss sein, dass man Menschen nicht inhaftiert.
Deswegen ist für die Linke ganz klar, dass dieses brutale Zwangsinstrument endlich abgeschafft werden
muss, also die Abschiebegefängnisse geschlossen werden müssen. Zudem müssen das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht und die Lagerunterbringung
endlich abgeschafft werden.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die
Menschenwürde von Flüchtlingen ist migrationspolitisch nicht relativierbar - Konsequenzen aus dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz ziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12674, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11663 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Mai 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute, liebe Kolleginnen und Kollegen.