Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich. Ich freue mich, dass wir uns nach zwei bemerkenswerten Fußballgala-Abenden
({0})
nun mit gefestigter Motivation unseren ähnlich glanzvollen parlamentarischen Geschäften widmen können. Wir
fangen auch ganz vorsichtig und besonders fröhlich und
freundlich an, indem wir der Kollegin Marie-Luise Dött
und der Kollegin Annette Sawade gratulieren, die in
den zurückliegenden Tagen jeweils ihren 60. Geburtstag
gefeiert haben. Alle guten Wünsche für die nächsten
Jahre!
({1})
Für den verstorbenen Kollegen Ottmar Schreiner hat
die Kollegin Astrid Klug erneut die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag erworben. Ich darf Sie im Namen
des ganzen Hauses herzlich begrüßen und wünsche uns
für die verbleibende Zeit eine gute Zusammenarbeit.
({2})
Dann müssen wir noch eine Wahl von Mitgliedern des
Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
gemäß § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes durchführen.
Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den turnusmäßig ausscheidenden Herrn Markus Meckel den Kollegen
Siegmund Ehrmann sowie für eine weitere Amtszeit
Herrn Professor Dr. Richard Schröder als Mitglieder
des Beirats zu berufen. Stimmen Sie dem zu? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Ehrmann
und Professor Schröder in den Beirat nach dem StasiUnterlagen-Gesetz gewählt.
Darüber hinaus müssen wir noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor,
für die Kollegin Ingrid Remmers die Kollegin Sabine
Leidig als Schriftführer zu wählen.
({3})
- Ich komme auch fast ins Grübeln, ob das Amt jetzt wöchentlich neu besetzt werden soll.
({4})
- Mit dieser feierlichen Bekräftigung vonseiten der unmittelbar zuständigen Fraktion nehme ich dann diesen
Vorschlag als offenkundig einvernehmlich so zu Protokoll. Damit ist die Kollegin Leidig als neue Schriftführerin gewählt.
({5})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN:
Große Vermögen durch Neuverhandlung des
deutsch-schweizerischen Steuerabkommens sowie durch eine Vermögensabgabe heranziehen({6})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Bessere Politik für einen starken Mittelstand -
Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,
Rahmenbedingungen verbessern
- Drucksache 17/13224 -
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren-
Ergänzung zu TOP 45
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013
- Drucksache 17/13195 29652
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Neuorientierung im Umgang mit Gewalt und Organisierter Kriminalität in Mexiko und Zentralamerika - Sicherheitsabkommen unter dem Primat der Menschenrechte
gestalten
- Drucksache 17/13237 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Elften Gesetz zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,
17/13190 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
- Drucksache 17/13225 ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
NPD verbieten
- Drucksache 17/13231 ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsextremismus umfassend bekämpfen
- Drucksache 17/13240 ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für eine umfassende Debatte zum Thema
Kampfdrohnen
- Drucksache 17/13192 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
- Drucksache 17/13241 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 8 und 13 werden getauscht.
Die Redezeit für den Tagesordnungspunkt 8 beträgt nunmehr 30 Minuten, so wir denn nicht vor Beginn desselben anderes beschließen. Für den Tagesordnungspunkt 13 sind jetzt 45 Minuten vorgesehen.
Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 5 b abgesetzt
werden.
Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 18. April 2013 ({10}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehr dem Haushaltsauschuss ({11}) zusätzlich nach § 96 der
Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung
bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung
- Drucksache 17/13079 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({12})-
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e
sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Thomas
Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({13}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Stabilität, Wachstum, Fortschritt - Den star-
ken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest
machen
- Drucksache 17/12700 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht über den Erfolg der Programme zur
Technologieförderung im Mittelstand in der
laufenden Legislaturperiode, insbesondere
über die Entwicklung des Zentralen Innova-
tionsprogramms Mittelstand
- Drucksache 17/12771 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Situation des Mittelstands
- Drucksachen 17/9655, 17/12245 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({14})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karl
Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Luksic, Patrick Döring, Petra Müller ({15}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Öffentlich-Private Partnerschaften - Poten-
tiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich
gestalten und Transparenz erhöhen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf-
fentlich-Private Partnerschaften differen-
ziert bewerten, mit mehr Transparenz wei-
terentwickeln und den Fokus auf die
Wirtschaftlichkeit stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz in Public Private Partnerships
im Verkehrswesen
- Drucksachen 17/12696, 17/9726, 17/5258,
17/13155 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Reinhold Sendker-
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({16})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rekommunalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Partnerschaften stoppen
- Drucksachen 17/5776, 17/6515 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerOtto FrickeRoland ClausTobias Lindner
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bessere Politik für einen starken Mittelstand Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,
Rahmenbedingungen verbessern
- Drucksache 17/13224 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
({17})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über Mittelstandspolitik, ein besonders wichtiges
Thema. Ich vermisse den Kanzlerkandidaten der SPD,
Herrn Steinbrück; aber vielleicht hat er auch Probleme
mit seiner Politik für den Mittelstand.
({0})
Vor wenigen Jahren waren wir der kranke Mann
Europas. „Sick man of Europe“ war das geflügelte Wort.
Damals war Rot-Grün an der Regierung und hat die Regierungspolitik gestaltet. Wir hatten 5 Millionen Arbeitslose und Jahre lähmender Rezession.
({1})
Heute ist die Einschätzung eine andere. Heute findet
man „Modell Deutschland“ auf dem Titel des Economist
und anderer internationaler Zeitungen. Deutschland ist
erfolgreicher als alle anderen Länder aus der Krise herausgekommen. Die internationalen Beobachter haben
ein Schlüsselwort dafür - sie haben kein eigenes Wort,
sondern nur ein Lehnwort -, nämlich „German Mittelstand“. Der Mittelstand ist also eine der Schlüsselgrößen
dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind und
wie erfolgreich wir Politik betrieben haben.
({2})
Mittelstand ist nicht irgendeine Betriebsordnung, Mittelstand ist eine Geisteshaltung, ist eine eigene Richtung,
ist eine eigene Gedankenwelt. Da wird in Generationen,
nicht in Quartalen gedacht. Viele dieser Mittelständler
sind Hidden Champions in ihrem Bereich, also Weltmarktführer. Manche in Deutschland träumen von ein
paar gewerkschaftsdominierten Aktiengesellschaften
plus Millionen kleiner Ich-AGs.
({3})
Das ist nicht mein ökonomisches Weltbild; das will ich
auch nicht haben. Ich will eine starke Mitte.
Die Entwicklung ist geprägt durch ein - wie es im
Ausland dargestellt wird - neues deutsches Wirtschaftswunder. Wir haben 42 Millionen Arbeitsplätze in
Deutschland. So viele gab es noch nie.
({4})
Das ist ein Beschäftigungswunder. Wir haben ein Exportwunder: Exporte in Höhe von gut 1 Billion Euro; das
sind über 1 000 Milliarden Euro. Und die Ausländer
kaufen unsere Produkte freiwillig, weil sie gut sind. Das
ist keine Zwangsabnahme. Wir haben ein Wohlstandswunder: seit drei Jahren steigende Reallöhne.
Es sind die fleißigen Menschen im Land, dynamische
Unternehmen, die dies erreicht haben, aber auch die
christlich-liberale Politik.
({5})
Wir haben die Weichen richtig gestellt.
({6})
Wir haben auf Entlastung gesetzt. Wir haben das Wachstum beschleunigt. Wir haben die Rentenbeiträge und damit Lohnzusatzkosten gesenkt. Wir haben die Renten erhöht. Wir haben die Praxisgebühr abgeschafft. Wir
haben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Mittelstand
bei der Erbschaftsteuer entlastet und 13 Milliarden Euro
zusätzlich in Bildung und Forschung gesteckt, ohne den
Staatshaushalt aufzublähen. Das ist erfolgreiche Politik
auch für den deutschen Mittelstand. Das sind die Rahmenbedingungen.
({7})
Die Staatsquote ist auf 45 Prozent gesenkt worden. Unser Ziel ist es, auf 40 Prozent herunterzukommen. Sozialsysteme haben Überschüsse statt Defizite, und wir
haben im Haushalt die schwarze Null auf den Weg gebracht, erreicht.
({8})
Christlich-liberale Politik hat den Staat fit gemacht.
Rot-grüne Politik will den Staat fett und träge machen.
({9})
Für den Kollegen Trittin ist die Staatsquote nur eine Recheneinheit, wie er sagt. Ihm ist egal, ob sie 40 Prozent,
45 Prozent, 60 Prozent beträgt. Das ist eben das fatal falsche Denken. Das macht den Mittelstand kaputt.
({10})
Sie wollen die Wirtschaft abwürgen: mit der Erhöhung
der Erbschaftsteuer, mit der Erhöhung der Einkommensteuer, mit der Wiedereinführung der Vermögensteuer.
({11})
Ich habe mir das Gutachten der SPD-Finanzminister
genau angeschaut und habe es auch dabei. Das Gutachten ist die Blaupause für die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Das trifft 160 000 Unternehmen in
Deutschland. Das sind 160 000 Unternehmen zu viel, die
davon betroffen werden.
({12})
Wenn in jedem Unternehmen dadurch nur ein Arbeitsplatz verloren geht, erreicht die Zahl, die wir an Arbeitsplätzen verlieren, eine Größenordnung, die der Einwohnerzahl einer Stadt wie Potsdam entspricht. Deshalb ist
Ihre Politik falsch.
Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für Sie ist
offenbar nicht klar, dass für viele Mittelständler die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele
Handwerker die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele Selbstständige und Freiberufler
die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass
für viele Landwirte die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist. Mit Ihrer Politik der Einkommensteuererhöhung und auch mit der Erhöhung des Spitzensteuersatzes treffen Sie diese Bereiche des Mittelstands ins
Mark.
({13})
Hinzu kommt die Erhöhung der Abgeltungsteuer, der
Mehrwertsteuer, der Erbschaftsteuer. Rot-Grün würde
die deutschen Steuerzahler, wenn Rot-Grün die Mehrheit
bekäme, mit 30 bis 40 Milliarden Euro zusätzlich belasten - und das bei Rekordsteuereinnahmen von über
600 Milliarden Euro. Das ist absolut falsche Politik.
Frau Andreae und andere Grüne laufen auch Sturm
gegen die Vermögensteuerpläne der eigenen Partei. Sie
warnen vor der Substanzbesteuerung, die der Möchtegern-Finanzminister Jürgen „Bilderberg“ Trittin einführen will. Aber Herr Trittin hat noch ein zusätzliches
Konzept: eine Vermögensabgabe von 100 Milliarden
Euro obendrauf, also Abgabe plus Wiedereinführung der
Vermögensteuer. Das alles geht nicht ohne Einbeziehung
der Betriebsvermögen; es wäre sonst auch verfassungswidrig. Herr Trittin hat kürzlich sogar erklärt, die Vermögensabgabe rückwirkend einziehen zu wollen.
({14})
Auch das halte ich für einen Verfassungsbruch. Das ist
eine grottenfalsche Politik, die den Mittelstand voll trifft.
({15})
Man liest im Spiegel, dass Herr Trittin bei internen
Sitzungen rumgebrüllt habe und gewarnt habe vor dem,
was sich politisch abzeichne. Das zeigt: Er ist nervös.
Die Grünen selber merken: Rot-Grün schwimmen die
Felle davon. - Rot-Grün kann sich keiner leisten und
will sich auch keiner leisten. Der aufziehende Wahlkampf muss deshalb mit aller Härte und Deutlichkeit geführt werden, damit der Mittelstand eine faire Chance
hat.
Wir schlagen in unserem Antrag 20 Punkte vor, damit
der Mittelstand in Deutschland weiter gute Chancen hat:
Wir wollen die kalte Progression abbauen. Wir wollen
Basel III - ({16})
- Weil der Bundesrat mit Ihnen dabei, also Rot-RotGrün, blockiert.
({17})
Es ist doch immer das Gleiche. Fällt den Sozis etwas ein,
muss es eine neue Steuer sein. Wer ist mit dabei? Die
grüne Partei. - Das ist die Gefechtslage in Deutschland.
({18})
- Ja, schreien Sie nur rum! Die Bürger werden entscheiden,
({19})
ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrer
Gulasch gemacht wird, also Ihr Rückmarsch in die Vorstellungen von vorgestern stattfindet.
({20})
Lassen Sie doch den Karl Marx in seinem Museum!
Kommen Sie doch nicht wieder mit den alten Klamotten
heraus!
({21})
Sie müssen doch mal was dazulernen! Das ist ja Museumspolitik, was Sie betreiben!
({22})
Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland klare Weichenstellungen. Wir brauchen mehr richtige Ingenieure und weniger rot-rot-grüne Sozialingenieure.
Vielen Dank.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns jetzt ausnahmsweise mal über Mittelstandspolitik reden! Diese dampfplaudernden Reden
nützen dem Mittelstand überhaupt nichts, Herr Brüderle.
({0})
Ich finde, Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie
hier morgens Karnevalsreden halten, längst von der
Realität mittelständischer Unternehmen verabschiedet.
({1})
Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand
ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Das wird verschiedentlich von allen Parteien so beschrieben. Aber klar ist
auch, dass der deutsche Mittelstand von dieser Bundesregierung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Er
ist gleichwohl erfolgreich. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, was der neue
Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat - mit Verlaub, ich darf es zitieren -:
Auch wenn wir derzeit gut dastehen: Zu wenig Reformen und Innovationen dürfen wir uns nicht leisten, sonst ist unser Vorsprung schnell weg.
Wenn Sie uns nicht glauben und Herrn Schweitzer
nicht glauben, der ja aus der FDP ausgetreten ist, Herr
Brüderle, dann glauben Sie bitte dem Institut der deutschen Wirtschaft - keine Vorfeldorganisation der SPD -,
das dieser Bundesregierung ins Stammbuch schreibt,
dass sie nur von Entscheidungen von Vorgängerregierungen, vom Mut zu Strukturreformen aus rot-grüner
Zeit profitiert und diesen Vorsprung durch das Chaos
schwarz-gelber Politik aufbraucht.
({2})
- Übrigens: August Bebel war ein Handwerksmeister.
Sie haben ja gar keine Ahnung von Geschichte; das haben Sie verschiedentlich bewiesen.
Ich sage Ihnen: Das einzig gute Schwarz-Gelb war
gestern Abend Dortmund.
({3})
Aber das, was Sie für den Mittelstand leisten, ist tatsächlich nichts, für das Sie sich rühmen können.
Wie ist die Situation in Deutschland? Der BDI, der
Bundesverband der Deutschen Industrie, der auch mittelständische Unternehmen vertritt, beklagt einen massiven Verfall der öffentlichen Infrastruktur im Land. Der
Nord-Ostsee-Kanal muss gesperrt werden, weil diese
Bundesregierung mit Herrn Ramsauer zu wenig in die
Infrastruktur, auch in die wirtschaftsnahe Infrastruktur in
diesem Land investiert. Das ist die Wirklichkeit. Autobahnbrücken müssen gesperrt werden, weil Sie nicht in
der Lage sind, die notwendigen Investitionen zu schultern. Das schadet der Wirtschaft, auch dem Mittelstand
in Deutschland.
({4})
Hubertus Heil ({5})
Meine Damen und Herren, hier muss ich Ihre dünnen
Anträge zum Thema Mittelstandspolitik lesen und diese
oberflächlichen Reden von Herrn Brüderle anhören.
Sprechen Sie einmal mit real existierenden Mittelständlern in Deutschland - mit Handwerksmeistern, mit Familienunternehmern, mit einer freien Selbstständigen,
mit einer Existenzgründerin -, dann stellen Sie fest:
Diese haben ganz andere Sorgen als das, was Sie hier an
die Wand malen. Sie haben ganz konkrete Ansprüche.
Der Unterschied zwischen Ihrer Bundesregierung und
dem guten deutschen Mittelstand ist: Im guten deutschen
Mittelstand gibt es Unternehmer, die etwas unternehmen. Sie sind eine Regierung, die etwas unterlässt.
({6})
Nun zu unseren Anträgen und zu unseren Vorschlägen. In genau vier Bereichen sagen wir sehr konkret, was
wir unter einer ambitionierten, einer zukunftsgerichteten
Mittelstandspolitik in Deutschland verstehen.
({7})
Erstens. Was kann und muss getan werden für qualifizierte Fachkräfte in diesem Land? Zu diesem wichtigen
Thema haben Sie keinen Satz gesagt. Es sind vor allen
Dingen die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
Herr Brüderle, die unter Fachkräftemangel leiden werden. Die großen Konzerne können sich Personalrekrutierungen leisten. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht. Deshalb muss etwas getan werden, damit
Frauen und Männer in diesem Land arbeiten können, damit sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen, das Arbeitsvolumen von Frauen in diesem Land tatsächlich
entfalten kann. Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit
von Beruf und Familie statt Ihres idiotischen Betreuungsgeldes. Das trägt zur Fachkräftesicherung bei.
({8})
Wir müssen jungen Menschen eine Chance geben.
60 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr die
Schule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen
zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche
Erstausbildung. Das duale System der beruflichen
Erstausbildung ist unser Standortvorteil. Darum hätte
sich diese Regierung kümmern müssen. In diesem Bereich haben Sie nichts getan.
({9})
Zweites Thema: Innovationsanreize, Investitionen in
Forschung und Wissenschaft. Wir haben in Deutschland
einen hochinnovativen Mittelstand. Aber von der öffentlichen Forschungsförderung dieser Regierung profitieren
nur Großunternehmen, kleine und mittelständische Unternehmen nicht.
({10})
Wo ist eigentlich die steuerliche Forschungsförderung
geblieben, die Sie dem Mittelstand versprochen haben?
Wir werden steuerliche Forschungsförderung einführen,
damit wir privates Kapital stärker in Forschung und Entwicklung gerade im Mittelstand lenken können, damit
der Mittelstand davon profitieren kann.
({11})
Was tun Sie eigentlich für Existenzgründer? Sie haben den Gründungszuschuss plattgemacht, ein wesentliches Instrument für Menschen, die den Mut haben, sich
selbstständig zu machen, um mit einer Markteinführung
tatsächlich nach vorne zu kommen. Hier haben Sie am
falschen Ende gestrichen. Sie haben nichts getan. Wir
werden etwas tun, zum Beispiel im Bereich der Investitionszulagen. Wir brauchen eine Gründerkultur in
Deutschland. Die Sozialdemokraten stehen an der Seite
derjenigen, die den Mut haben, sich mit guten Konzepten selbstständig zu machen, aber im Moment von Ihnen
sträflich vernachlässigt werden. Sie bekommen am Kapitalmarkt oft nicht die nötige Unterstützung. Deshalb
werden wir in diesem Bereich handeln.
({12})
Drittens. Die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Ich habe
schon über Verkehrswege gesprochen. Wir müssen aber
genauso über die Frage der Breitbandinfrastruktur in diesem Land sprechen. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, die es oft auch im ländlichen Raum
gibt, ist die Tatsache, dass Sie beim Ausbau des schnellen Internets nicht von der Stelle gekommen sind, mittlerweile zum Standortnachteil geworden. Bei allem Jubel über unsere Stärke müssen wir feststellen, dass
Deutschland gegenüber anderen Ländern beim schnellen
Internet zurückgefallen sind. Wer ist zuständig? Ihre Regierung. Wer hat nichts getan? Ihre Regierung. Warme
Worte, Herr Brüderle, solche Reden, wie Sie sie hier halten, schaffen keinen Arbeitsplatz. Sie befriedigen mit Ihrer Art und Weise vielleicht einige in Ihren Reihen, aber
sie nützen der deutschen Wirtschaft nichts. Im Bereich
Breitband haben Sie nichts getan.
({13})
Zum Bereich der Energiepolitik haben Sie auch keinen Satz verloren. Gerade der Mittelstand in Deutschland leidet unter Ihrem energiepolitischen Chaos. Sie haben Planungs- und Investitionssicherheit in Deutschland
zerstört. Sie belasten Unternehmen mit immer höheren
Strompreisen. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Sie
haben nichts getan, um in den letzten vier Jahren eine
neue Ordnung am Strommarkt durchzusetzen. In diesem
Bereich werden wir viel aufräumen müssen,
({14})
damit der Mittelstand von den Chancen der Energiewende profitieren kann und damit die Energiewende
nicht zum wirtschaftlichen und sozialen Risiko für
Deutschland wird. Auch das unterscheidet uns.
({15})
Hubertus Heil ({16})
Viertens. Im Mittelstand, Herr Brüderle, sind vor allen Dingen die klassischen Werte der sozialen Marktwirtschaft gefragt; das sind Maß und Mitte, Anstand und
Augenmaß. Es sind gerade die deutschen Mittelständler,
die über die Exzesse auf den Finanzmärkten entsetzt
sind. Es sind gerade die mittelständischen Unternehmen,
die in den letzten Jahren erlebt haben, dass in vielen
Bereichen der Finanzwirtschaft Finanzdienstleistungen
nicht mehr Dienstleistungen waren, vielmehr umgekehrt
die Realwirtschaft, also auch der deutsche Mittelstand,
als Dienstleister für Zocker auf den Finanzmärkten behandelt wurde. Das hat die mittelständischen Unternehmen, also diejenigen, die reale Werte schaffen und nicht
spekulieren, richtig erzürnt. Die Unternehmen in diesem
Land nehmen es einem übel, wenn mit ihrem Vermögen,
mit ihrer Zukunft und mit ihren Arbeitsplätzen gespielt
wird. Wir fragen uns deshalb: Wie regulieren wir den Finanzmarkt so, dass in die Realwirtschaft, also in Industrie und Mittelstand, investiert wird? Das ist die zentrale
wirtschaftliche Frage.
({17})
Heute wird Herr Rösler seine Wachstumsprognose für
dieses und nächstes Jahr vorlegen. Sie sind stolz auf ein
Wachstum von 0,5 Prozent. Das ist ein schmales Wachstum in diesem Jahr.
Herr Kollege!
Sie prognostizieren vor dem Hintergrund der Bundestagswahl ein Wachstum von 1,6 Prozent. Wir müssen erheblich etwas dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Denn die Wachstumserwartungen stehen durch die EuroKrise auf tönernen Füßen. Der deutsche Mittelstand
braucht daher starke politische Partner. Schwarz-Gelb ist
das nicht. Das zeigt sich auch in diesen Tagen. Schauen
Sie sich einmal an, was Ihnen die Unternehmer ins
Stammbuch schreiben. Von Wirtschaftspolitik hat diese
Bundesregierung keine Ahnung.
({0})
Christian von Stetten ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn Sie heute Morgen in die Wirtschaftsteile der deutschen Tageszeitungen schauen, dann können Sie viel
über große Automobilkonzerne, über Versicherungskonzerne und über große börsennotierte Technologieunternehmen lesen. All diese sind sicherlich wichtige Unternehmen für die Bundesrepublik Deutschland. Aber das
Rückgrat der deutschen Wirtschaft, der Garant für die sicheren Arbeitsplätze sind und bleiben der Mittelstand
und insbesondere die deutschen Familienunternehmen.
({0})
Es gibt 3,7 Millionen mittelständische Unternehmen
in Deutschland. Diese Firmen sind das Herz unserer
Wirtschaft. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir so gut
aus der Krise gekommen sind. Sie stellen immer noch
71 Prozent aller Erwerbstätigen. 83 Prozent der Auszubildenden werden im Mittelstand ausgebildet. All das
sind stolze Zahlen. Aber: Wir sollten diese Zahlen nicht
nur in der heutigen Debatte hochhalten, sondern die
Wichtigkeit und die Wertschätzung dieser Betriebe auch
in unserer täglichen Gesetzgebung unterstreichen.
Dass der Mittelstand heute gut dasteht, hat Herr
Brüderle bereits ausgeführt. Die Bundesregierung stützt
diese positive Entwicklung durch zahlreiche Maßnahmen. Wir haben Maßnahmen zur Fachkräftesicherung
ergriffen. Wir haben mithilfe des Normenkontrollrates
die Bürokratiekosten um 12 Milliarden Euro gesenkt.
Wir haben die Mittel des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand um 500 Millionen Euro aufgestockt.
Wir haben diverse Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzierung des Mittelstands auf den Weg gebracht.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag zahlreiche
weitere Beschlüsse gefasst, um den Mittelstand, die mittelständischen Betriebe und die Mitarbeiter zu entlasten.
Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - das wurde vorhin bereits deutlich gemacht -,
haben diese Gesetze mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat
gestoppt und somit verhindert. Die kalte Progression,
also die sogenannte Facharbeiterfalle, ist vorhin schon
angesprochen worden. Ich denke aber auch an die energetische Gebäudesanierung oder an die Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen für Rechnungen und Belege. All
das sind sinnvolle Maßnahmen, die Sie hier verhindert
haben.
Wenn jetzt einer einen Zwischenruf macht - ({1})
- Sie werden aber kommen.
({2})
Wenn jetzt einer von Ihnen sagt, dass dies keine sinnvollen Maßnahmen seien, dann fragen Sie einmal Ihren
Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, wie er darüber
denkt. Es stimmt: Die SPD hat, genau wie die Grünen,
die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen abgelehnt.
Keine zwei Monate später, am 4. März dieses Jahres, hat
die IHK Siegen Herrn Steinbrück eingeladen, um seine
Thesen zu sozialdemokratischer Mittelstandspolitik zu
präsentieren. Einer der Teilnehmer hat mir das vom
Kanzlerkandidaten verteilte und anschließend auch vom
Willy-Brandt-Haus an die Medien verschickte Thesenpapier zukommen lassen. Da steht bei Punkt 7 unter der
Überschrift „Der Mittelstand braucht Beinfreiheit“ - ich
zitiere Peer Steinbrück -:
Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kostenträchtige Regelungen abgeschafft werden:
- und dann fordert er Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rechnungen und Belege …
({3})
Da bin ich zwar überrascht, aber ich kann zu 100 Prozent
zustimmen.
Wenn sich jetzt plötzlich CDU/CSU, FDP und der
Kanzlerkandidat der SPD bei dieser wichtigen Maßnahme für den Mittelstand einig sind, dann sollten wir
das entsprechende wichtige Gesetz zum Wohl des deutschen Mittelstandes noch vor der Wahl gemeinsam und
ohne Streit hier im Deutschen Bundestag verabschieden.
({4})
Liebe Kollegen, wir haben dieses gemeinsame Anliegen von Peer Steinbrück und den Koalitionsfraktionen
jetzt auch sofort wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Gestern hat der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages über die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen entschieden. Wir von CDU/CSU und FDP
haben Wort gehalten und mit Mehrheit zugestimmt. Und
was haben die Kollegen der SPD-Fraktion gemacht? Sie
haben ihren Kanzlerkandidaten im Stich gelassen und
gegen dessen eigenen Vorschlag gestimmt. - Herr
Steinbrück hatte von Ihnen etwas Beinfreiheit verlangt.
Und was haben Sie gemacht? Sie haben ihm die Beine
einfach abgeschlagen.
({5})
Sie haben heute Nachmittag, wenn wir im Deutschen
Bundestag abschließend über den Gesetzentwurf debattieren, die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren und
diesem Gesetzentwurf zum Bürokratieabbau zuzustimmen.
Wer das gesamte Wahlprogramm der SPD liest, der
wird feststellen, dass die Vorstellungen des SPD-Kanzlerkandidaten im Wirtschaftsbereich überhaupt nicht
mehr vorkommen. Die vereinigte Linke in der SPD hat
sich komplett durchgesetzt.
({6})
Das geht sogar so weit, dass der SPD-Landesvorsitzende
aus Baden-Württemberg, Nils Schmid, und der grüne
Ministerpräsident Kretschmann zwei Tage vor dem
SPD-Bundesparteitag in Augsburg gemeinsam einen
Brandbrief an den SPD-Bundesvorsitzenden geschrieben
haben, in dem sie vor den Folgen des eigentlichen Programms gewarnt haben.
({7})
Sie warnten vor den Folgen der Substanzbesteuerung
und insbesondere vor deren katastrophalen Auswirkungen auf Mittelstand und Familienunternehmen. Und, hat
dieser Protest etwas genutzt?
({8})
Nein, im Gegenteil: Am Ende des Tages hat sogar der
Protestbriefschreiber Nils Schmid diesem Wahlprogramm zugestimmt.
({9})
Gott sei Dank ist es noch nicht Gesetz; es darf auch nie
Gesetz werden. Alle SPD-Delegierten, auch die aus
Baden-Württemberg, haben diesem Mittelstandsgefährdungsprogramm, bestehend aus höherer Einkommensteuer, höherer Erbschaftsteuer, zusätzlicher Vermögensteuer und zusätzlicher Bürokratie, einstimmig
zugestimmt. Das ist sozialdemokratische Mittelstandspolitik, meine Damen und Herren.
({10})
Die Wiedererhebung der Vermögensteuer und die Erhöhung der Erbschaftsteuer sind Gift für unseren Mittelstand.
({11})
Sie führen zu einer Besteuerung der Substanz, selbst
wenn das Unternehmen Verluste macht. Natürlich würde
die Umsetzung der Vorschläge der Opposition zu einer
Art Wettbewerbsverzerrung zugunsten der börsennotierten Unternehmen und zulasten der Familienbetriebe führen. Die großen DAX-Konzerne hätten mit der Einführung einer Vermögensteuer überhaupt keine Probleme,
und eine Verdopplung der Erbschaftsteuer ist den DAXKonzernen auch egal. Aber unsere mittelständischen Betriebe, die Familienbetriebe, müssen diese zusätzlichen
Kosten in ihre Preiskalkulation mit einrechnen. Dann ist
doch klar, wer in Zukunft bei Ausschreibungen den
günstigeren Preis anbieten kann. Das, was Sie verlangen,
führt zu Wettbewerbsverzerrung. Wir werden das selbstverständlich verhindern.
({12})
Ihre Fraktion allerdings, Herr Bartsch - Sie sind ja der
nächste Redner für die Linksfraktion -,
({13})
hat in der Mittelstandsdebatte den Vogel abgeschossen.
({14})
Mit Ihrer Forderung nach einer jährlichen Vermögensteuer
({15})
in Höhe von 5 Prozent bezogen auf den Verkehrswert
kommen Sie einer Enteignung der betroffenen Bürger
nahe.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss.
({17})
In unserem heute zur Abstimmung gestellten Antrag
„Stabilität, Wachstum, Fortschritt - Den starken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest machen“ wird
deutlich, wie wichtig unserer Fraktion der deutsche Mittelstand ist. Durch unser Regierungshandeln werden wir
das auch weiter unter Beweis stellen.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich erteile dem Kollegen Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von
Stetten, ich bedanke mich für die Ankündigung. Wenn
ich Herrn Brüderle und Ihnen zuhöre und wenn ich den
Titel der Unterrichtung lese: „Bericht über den Erfolg
der Programme …“, dann werde ich an eine Zeit erinnert, die lange vorbei ist. Fragen Sie einmal die Ossis in
Ihrer Fraktion; sie wissen, wie das ist, wenn nur von Erfolgen berichtet wird.
({0})
Halten Sie es lieber mit dem Altbundeskanzler Kohl, der
gesagt hat: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“
Ich finde, das sollte der Maßstab sein.
({1})
Es reicht, eine Zahl zu nennen: 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Das ist faktisch nichts. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, die Sie hier zu verantworten haben.
({2})
Nur die realen Ergebnisse zählen wirklich.
({3})
Völlig unbestritten ist: Der Mittelstand in Deutschland hat viel geleistet. Ich war selber einige Jahre Unternehmensberater.
({4})
- Ja, da kann ich Ihnen viel erzählen. - Ich habe erlebt,
wie dort agiert wird. Aber der Mittelstand ist nicht nur
eine Geisteshaltung, der Mittelstand ist viel differenzierter. Es gibt sehr unterschiedliche Unternehmen in diesem
Bereich, sodass man sie nicht über einen Kamm scheren
kann.
Gerade weil der Mittelstand in der deutschen Wirtschaftslandschaft eine herausragende Bedeutung hat,
muss man ihn differenzierter fördern und zielgenauer
agieren. Man muss vor allen Dingen seine Wettbewerbsposition gegenüber den Großunternehmen stärken und
darf das nicht nur ankündigen, Herr von Stetten. Was ist
denn geblieben von der Steuervereinfachung, die Sie in
Ihrem Wahlprogramm angekündigt haben? Wie sieht es
in der Realität aus? Nahezu nichts!
Ich will aus Ihrem Antrag zitieren. Dort steht:
Deutlicher denn je zeigt sich, dass die Selbstständigen und die kleinen und mittelgroßen Unternehmen … insbesondere auch in Ostdeutschland … das
Rückgrat unserer Wirtschaft bilden.
Dieses Selbstlob steht in völligem Widerspruch zur
Realität. Auch 23 Jahre nach der deutschen Einheit ist
die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern doppelt so
hoch wie in den alten Ländern, die Löhne befinden sich
auf dem niedrigsten Niveau, wir haben weiterhin eine
hohe Abwanderungsquote, und wir haben weiterhin
1,5 Millionen Pendlerinnen und Pendler. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Die Bundeskanzlerin ist zwar nicht da, aber lassen Sie
mich einmal konkret auf unser gemeinsames Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommen. Mecklenburg-Vorpommern wird, wie andere norddeutsche
Bundesländer, mit der finanziellen Hilfe für die Werften
jetzt alleingelassen. Der Bund will das Bürgschaftsprogramm nicht weiterführen. Einen falscheren Zeitpunkt
dafür kann es überhaupt nicht geben.
({5})
Jetzt, wo sich die Werften auf die Bereiche Spezialschiffbau und Offshoreprodukte ausgerichtet haben,
streichen Sie das Programm. Das ist mittelstandsfeindlich; denn die Werften bei uns in Mecklenburg-Vorpommern sind nichts anderes als Mittelstand. Sie als FDP
verhindern die Förderung.
({6})
Die Linke ist eine mittelstandsfreundliche Partei.
({7})
Ich will Ihnen das an einigen Punkten darlegen:
Der Mittelstand hat überall, aber besonders in den
neuen Ländern, Finanzierungsprobleme. Es geht um Finanzquellen, es geht aber auch um Finanzierungskonditionen. Die Finanzkrise hat die Probleme verstärkt. Fakt
ist - Sie wissen das -: Kreditanträge von Kleinunternehmen mit weniger als 1 Million Euro Jahresumsatz werden deutlich öfter abgelehnt als Anträge von Unternehmen mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz. Das sind
letztlich wettbewerbsverzerrende Rahmenbedingungen
zulasten der Mittelständler. Wir setzen deshalb vor allen
Dingen auf eine sichere Finanzierung durch Sparkassen
sowie Volks- und Raiffeisenbanken und nicht auf Ret29660
tungsmilliarden für Großbanken und deren Aktionäre.
Das haben Sie in den letzten Jahren gemacht.
({8})
Die privaten Großbanken haben sich häufig aus dem
normalen Geschäft mit dem Mittelstand zurückgezogen.
Das ist gerade in den neuen Ländern zu beobachten. Da
gibt es diese Geschäftsbeziehungen faktisch nicht mehr.
Gott sei Dank gibt es die Sparkassen und Volksbanken,
die das übernehmen.
Der öffentliche Finanzsektor muss stärker auf die Finanzierung des Mittelstandes verpflichtet werden.
Außerdem müssen wir die Rolle der Sparkassen weiter
stärken, weil nur darüber die notwendige Eigenkapitalquotenerhöhung und -stärkung möglich ist. Häufig sind
es Kleinstkredite, die benötigt werden, und die sind häufig sehr schwierig zu bekommen.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, der
auch unter den Mittelständlern unserer Partei umstritten
ist: das Thema Mindestlohn. Aber unsere Position ist
klar: Wir sind und bleiben bei unserer Forderung nach
der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von
10 Euro, weil dadurch gleiche Wettbewerbsregeln für
die Unternehmen geschaffen werden. Es darf kein Geschäftsmodell sein, über Aufstocker Vorteile zu erzielen.
Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, der im Übrigen auch die Kaufkraft und die Nachfrage für Handwerk und Dienstleistung stärkt.
({9})
Die Energiewendepolitik ist für den Mittelstand ein
ganz großes Problem. Eigentlich ist das gar keine Energiewendepolitik; denn das einzig Zuverlässige an Ihrem
Kurs ist, dass für die Mittelständler nichts sicher, nichts
planbar ist. Wer den Mittelstand fördern will, der muss
die Macht der Energiemonopole brechen und für stabile
Strom- und Gaspreise sorgen. Das ist Ihre Aufgabe, damit der niedrige Strompreis an der Leipziger Strombörse
auch beim Mittelständler ankommt. Sie begünstigen einseitig stromintensive Großunternehmen. Das ist die Realität.
Außerdem brauchen wir mehr Aufträge für den Mittelstand; auch das ist klar. Schauen Sie sich einmal Ihre
Investitionspolitik in den letzten vier Jahren an: Bei jeder Haushaltsberatung hat die Opposition zu Recht kritisiert, dass die Investitionen viel zu gering sind. Mit Investitionen sanieren wir doch die Infrastruktur, tun wir
etwas für Schulen, Krankenhäuser etc. und schaffen damit Aufträge auch für den Mittelstand.
Wir brauchen auch ein anderes Vergabegesetz. Kleinere Lose sind notwendig, weil die öffentlichen Auftraggeber - egal ob unter CDU, SPD oder der Linken - sonst
überhaupt keine Chance haben. Wenn Sie die regionale
Wirtschaft wirklich fördern wollen, dann brauchen wir
diesbezüglich ein anderes Herangehen.
({10})
Die Linke hat im Übrigen seit vielen Jahren einen eigenen Unternehmerverband - OWUS -, von dem wir
viele Hinweise für unsere Politik bekommen, was sehr
vernünftig ist, denn diese Hinweise helfen uns dann auch
gerade in der Sozialpolitik.
Ich will vor allen Dingen auf eines verweisen: Wir haben in Berlin den Wirtschaftssenator gestellt, hatten Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern
und stellen jetzt in Brandenburg den Wirtschaftsminister.
Sie alle können eine sehr erfolgreiche Politik vorweisen.
Harald Wolf hat in Berlin unter einer rot-roten Regierung endlich einen einheitlichen Unternehmensservice
geschaffen. Er hat außerdem in Berlin/Brandenburg eine
Clusterentwicklung gefördert. Und weil wir letzte Woche die Diskussion über die Frauenquote in Aufsichtsräten hatten: In Berlin hat Harald Wolf als Wirtschaftssenator und zugleich Frauensenator den bundesweit
höchsten Anteil von Frauen in Aufsichtsräten öffentlicher Unternehmen erreicht. Das kann sich doch wirklich
sehen lassen.
({11})
Jetzt habe ich eine umfassende Erfolgsgeschichte,
muss aber leider wegen der Redezeit abbrechen; ich
weiß, Herr Präsident. Lassen Sie mich nur noch ein kleines Beispiel nennen. Helmut Holter hat in meinem Bundesland ein Mikrodarlehensprogramm für Existenzgründer geschaffen. Die Welt - wirklich keine linke Zeitung hat geschrieben, das sei europaweit einmalig. Dieses
Lob gehört hierher.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Tobias Lindner ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Geständnis beginnen:
({0})
Als ich heute morgen zu dieser Debatte gegangen bin
- es war ja die Koalition, die sie auf die Tagesordnung
gesetzt hat -, da hatte ich als junger Abgeordneter tatsächlich für einen Moment die naive Hoffnung, Sie, Herr
Brüderle, würden etwas über die Inhalte Ihrer Mittelstandspolitik erzählen. Einen Moment lang hatte ich
diese naive Hoffnung.
Nun ist es ja so, dass ich als Pfälzer Sie auch phonetisch dekodieren kann.
({1})
Wir haben von Ihnen keine Bilanz und auch keine großen Zukunftspläne der Koalition gehört. Nein, es gab nur
die Aussage: Deutschland geht es gut. - Da würde ich
Ihnen in einigen Punkten überhaupt nicht widersprechen. Ansonsten besteht das mittelstandspolitische Programm dieser Koalition einzig und allein noch in Abwehrreaktionen und Halbwahrheiten im Hinblick auf
grüne und zugegebenermaßen auch rote Steuerpolitik.
Wenn das Ihre Mittelstandspolitik ist, dann ist das ein
Armutszeugnis.
({2})
- Es muss nicht immer alles im Manuskript stehen, Herr
van Essen.
Unternehmen in Deutschland - vor allen Dingen Mittelständlern - geht es um drei Dinge: Chancengleichheit,
Planbarkeit und Durchschaubarkeit von Regeln.
Fangen wir mit der Chancengleichheit an und sprechen kurz über Steuern. Deutschland gehen durch kreative und aggressive Steuergestaltung multinationaler
Großunternehmen jährlich schätzungsweise bis zu
150 Milliarden Euro an Steuern verloren. Weltbekannte
Kaffeehäuser und internationale Buchketten zum Beispiel zahlen hier so gut wie keine Steuern. Der deutsche
Mittelstand kann entsprechende Steuergestaltungsschlupflöcher allerdings nicht nutzen. Das ist alles andere als Chancengleichheit. Da müssen wir gerade im
Interesse des deutschen Mittelstands gegensteuern.
({3})
Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Punkt eingehen. Die wichtigste Voraussetzung, damit es dem Mittelstand in diesem Land gut geht, sind vernünftige Rahmenbedingungen, ist eine gute Infrastruktur,
({4})
die nicht einzig und allein aus Beton besteht, sondern
zum Beispiel auch Breitbandinternetanschlüsse und die
Verfügbarkeit von Fachkräften umfasst.
({5})
Der wichtigste Rohstoff, den wir in diesem Land haben, ist Grips. Die wichtigsten Voraussetzungen sind
eine gute Bildungspolitik und eine gute Fachkräftepolitik.
({6})
Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, und
dafür brauchen wir auch und gerade einen Staatshaushalt, der endlich einmal die Altschulden in den Blick
nimmt und die Voraussetzungen für vernünftige Finanzen und dauerhaft stabile Rahmenbedingungen schafft.
Deshalb fordern wir von Bündnis 90/Die Grünen eine
zeitlich befristete und zweckgebundene Abgabe auf
hohe Vermögen.
({7})
Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt - es ist
schon interessant, dass man das gerade einer vermeintlich bürgerlichen Regierung erklären muss -: Es muss
erst etwas erwirtschaftet werden, bevor man etwas verteilen kann.
({8})
- Ja. - Bevor Sie über Steuern reden, sollten Sie besser
einmal über die Voraussetzungen reden, die erfüllt sein
müssen, um Gewinn zu erzielen. Diesbezüglich war Ihre
Rede, lieber Herr Brüderle, ganz schwach.
Ich will noch etwas zum Thema Planungssicherheit
sagen: Das Gegenteil von Planungssicherheit ist das,
was Sie im Moment bei der Energiewende machen. Vier
Novellen zum EEG in den letzten Jahren - können Sie
mir erklären, wie ein Mittelständler, der die Energiewende als Chance begreift, angesichts dessen Investitionsentscheidungen treffen soll? Ich kann ihm das nicht
erklären.
({9})
Jetzt reden wir einmal über Innovationspolitik. Jeder
hier im Haus hält den Begriff „Innovation“ gerne hoch:
Ja, wir müssen innovativ sein. Sie haben von „Hidden
Champions“ geredet. Es ist natürlich richtig, dass unser
Marktvorteil in den hochspezialisierten kleinen Unternehmen besteht. Aber sind in Deutschland wirklich die
Voraussetzungen gegeben, dass wir aus den Innovationen eine Menge Gewinn ziehen können? Schauen Sie
sich doch einmal den IT-Bereich an. Ich glaube nicht,
dass wir in Deutschland unbegabtere oder untalentiertere
Informatiker oder Gründer als in anderen Ländern
haben. Aber warum sind dann Firmen wie Yahoo,
Facebook oder Google in den USA entstanden? Aus
zwei Gründen: zum einen, weil an den Hochschulen in
den USA eine ganz andere Kultur herrscht und die
Strukturen dort ganz anders sind. Dort entstehen auf eine
ganz andere Art und Weise aus Ideen Unternehmen.
Zum anderen gibt es dort viel mehr privates Wagniskapital. Diese Regierung ignoriert faktisch die Frage, wie wir
zu mehr privatem Wagniskapital in Deutschland kommen, wie wir diesbezüglich die richtigen Anreize setzen
können.
({10})
Sie reden immer gerne über Bürokratieabbau und betonen, wie unbürokratisch alles sein müsste. Schauen wir
uns einmal Ihre Innovationsförderung an: Im Etat des
Bundeswirtschaftsministers findet man einen Dschungel
an Förderprogrammen. Viele größere Unternehmen können da noch gut durchblicken. Sie haben Spezialisten,
die wissen, wie man den Antrag schreibt und wo man
Geld herbekommt. Aber viele Mittelständler, die eine
Idee haben, haben weder Zeit noch Leute, um konkrete
Anträge zu schreiben. Denen wäre mit einer steuerlichen
Forschungsförderung besser gedient. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass Sie eine steuerliche Forschungsförderung anstreben. Sie hatten vier Jahre Zeit, aber Sie
haben nichts gemacht, meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Koalition.
({11})
Hubertus Heil hat schon erwähnt, was der DIHKChef über die Mittelstandspolitik dieser Bundesregie29662
rung sagt. Ihre Hightech-Strategie, zu der diese Woche
ein Treffen stattfand, wird vielfach gerade von mittelständischen Unternehmen kritisiert und als Rohrkrepierer bezeichnet. Das Problem ist, dass Sie sich auf den Erfolgen, die zu der derzeitigen Situation geführt haben,
ausruhen, anstatt die Herausforderungen der nächsten
Dekade in den Blick zu nehmen. Ich prophezeie Ihnen:
Wenn das so weitergeht, werden wir in den nächsten Jahren die Folgen Ihrer Unterlassungen zu spüren bekommen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({12})
Mittelständische Unternehmen zeichnen sich speziell in
Deutschland insbesondere dadurch aus, dass sie nicht
nur den Gewinn im Blick haben. Ja, Gewinn ist nötig,
damit ein Unternehmen am Leben bleiben und wachsen
kann. Mittelständische Unternehmen übernehmen aber
auch Verantwortung, Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für ihre Familien und für die Eigentümer. Mittelständische Unternehmen denken über
den Tag hinaus und haben ein breites Blickfeld. Das
muss eine Mittelstandspolitik in den Blick nehmen.
Diese Eigenschaften muss man bei einer Politik für den
Mittelstand berücksichtigen. Das Gegenteil davon ist
das, was Sie tun. So kann und darf es nicht weitergehen.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die Bundesregierung erhält nun der Bundeswirtschaftsminister das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist ihre
Struktur im Allgemeinen und die mittelständische Struktur im Speziellen. Ja, es ist richtig: Unsere mittelständischen Unternehmer sind regional tief verwurzelt. Sie
leisten Hervorragendes. Sie bringen hervorragende Produkte, Technologien und Dienstleistungen auf den
Markt. Sie haben ein hervorragendes Verhältnis zu ihren
Beschäftigten, und sie sind weltweit anerkannt.
Deswegen bin ich den Regierungsfraktionen sehr
dankbar dafür, dass sie genau dieses Thema heute auf die
Tagesordnung gesetzt haben. Denn eines ist doch klar:
Mittelstand ist nicht nur eine Frage von Strukturen, ist
nicht nur eine Frage von Kennzahlen, sondern - Rainer
Brüderle hat es gesagt - der unternehmerische Mittelstand in Deutschland ist weitaus mehr. Er ist eine Geisteshaltung, der sich diese Koalition in besonderer Weise
verpflichtet fühlt.
({0})
Dass Rote, Grüne und Linke kein Interesse am Mittelstand haben, das kennen wir schon.
({1})
- Das sieht man jetzt wieder an Ihren Reaktionen.
({2})
Leider mussten wir gerade in den letzten Monaten feststellen: Sie haben nicht nur kein Interesse mehr, sondern
Sie fangen jetzt auch langsam an, massiv Politik gegen
den unternehmerischen Mittelstand in Deutschland zu
betreiben.
({3})
Überall da, wo Sie in den Ländern Verantwortung tragen, machen Sie das Gegenteil von dem, was der Mittelstand in Deutschland heute braucht.
({4})
Stabiles Geld, Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit von
Energie, Forschung, Technologie und Innovationen
- dazu sollten sich die Grünen übrigens erst recht nicht
äußern - sowie neue Märkte, neue Chancen. Das sind
aktuell die Themen bei jedem Mittelstandsbesuch von
Politikern, egal welcher Fraktion.
Schauen wir uns einmal an, was Sie da machen. Ihre
Europapolitik besteht doch darin, durch Europa zu reisen
- so wie es gerade Ihr Spitzenkandidat getan hat - und
nach der Rückkehr gegen solide Haushalte zu wettern.
Das ist Ihre Europapolitik. Sie wollen eine Vergemeinschaftung von Schulden, Sie wollen am Ende EuroBonds, und das Schlimme daran ist, dass Sie hier in
Deutschland die Steuern erhöhen wollen, um die Schulden in anderen europäischen Staaten zu bezahlen.
({5})
Beim Thema Fachkräftesicherung spricht Herr
Dr. Lindner von Grips. Das finde ich schön. Aber
schauen Sie sich doch einmal rot-grüne Bildungspolitik
in den Ländern an. Als Allererstes wollen Sie das Sitzenbleiben abschaffen, um den jungen Menschen zu zeigen:
Leistung lohnt sich nicht. Das ist Ihre Bildungspolitik
und Ihr einziger trauriger Beitrag zur Fachkräftediskussion in Deutschland.
({6})
Energiepolitik. Gerade nach der letzten Woche finde
ich Ihre Haltung wirklich bemerkenswert. Sie blockieren
doch jede Reform, jeden kleinen Fortschritt bei der Verbesserung der Förderung der erneuerbaren Energien im
Sinne von Bezahlbarkeit.
({7})
Ich sage Ihnen: Sie sind durch Ihre Politik verantwortlich dafür, wenn in den nächsten Monaten die Strompreise steigen. Sie sind für jede künftige Strompreissteigerung in Deutschland verantwortlich.
({8})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ich bin jetzt so schön drin. Nein, vielen Dank.
Gut.
Nehmen wir uns einmal das Beispiel Belastungen vor.
Wenn wir Ihnen vorwerfen würden, dass Sie den Mittelstand belasten, dann könnten Sie sagen: Nein, es ist die
Aufgabe der Regierung, etwas für den Mittelstand zu
tun.
({0})
Die taz von heute - ja, ich gebe zu, ich muss mich outen,
auch ich lese die taz ({1})
hatte eine dazu passende Überschrift. Es geht in dem Artikel um die Belastungen durch Rot und Grün, insbesondere durch die Grünen und die Dinge, die Sie morgen
und am Wochenende auf Ihrem Bundesparteitag beschließen wollen. Die Überschrift lautet: „Grün am
Steuer, das wird teuer“.
({2})
All das, was Sie vorhaben, bedeutet 40 Milliarden Euro
Belastungen für den Mittelstand, für die gesellschaftliche Mitte; dazu kommen noch die neuen Pläne der
Grünen. Das ist Ihre Mittelstandspolitik für Deutschland.
({3})
Schauen Sie sich den Bereich Forschung und Technologie an. Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand. Es gilt als Goldstandard der Innovationsförderung im Mittelstand. Was ist Ihr Beitrag gerade für
junge Unternehmen, die hochkreativ sind, die hochinnovativ sind? Stichwort Wagniskapital. Sie haben durch
Ihre Politik im Bundesrat zunächst verhindert, dass es
volles Gründungskapital für junge Start-up-Unternehmen
gibt, weil Sie als Allererstes genau dieses Streubesitzkapital, dieses Gründungskapital besteuern wollten. So
sieht Ihre Innovationsförderung aus. Das ist eine
Schande, und das schadet gerade den neuen Unternehmen in Deutschland.
({4})
Neue Märkte, neue Chancen. In jeder Debatte im
Wirtschaftsausschuss wird aufs Neue kritisiert, dass der
deutsche Mittelstand exportstark ist, dass unsere Produkte, Dienstleistungen und Technologien nachgefragt
werden. Da wird kritisiert, dass wir Außenhandelsbilanzüberschüsse haben.
({5})
Diese wollen Sie reduzieren. Es ist kein Nachteil, wenn
man Überschüsse hat, sondern das ist ein Beweis für die
Leistungsfähigkeit unseres Mittelstandes in Deutschland.
({6})
Abschließend. Herr Kollege Heil, Sie haben hier mit
Grabesstimme eine Grabesrede auf den Mittelstand gehalten.
({7})
Das ist für Ihre Mittelstandspolitik bezeichnend. Erst haben Sie den Mittelstand nicht wahrgenommen, dann haben Sie ihn im Bundesrat bekämpft. Aber die Krönung
({8})
war das Thema „IHK und Übergabe der Präsidentschaft“; Sie haben davon berichtet. Ihr Spitzenkandidat
war dort ({9})
er ist ja sonst sehr geschickt - und hat den Unternehmern, dem versammelten Mittelstand in Deutschland, erzählt, dass er - Punkt eins - eigentlich gar keine Steuererhöhungen will
({10})
und dass er - Punkt zwei - eine Vermögensteuer ohne
Substanzbesteuerung will.
({11})
Ich glaube, er glaubt selber nicht daran, meine Damen
und Herren. Es fängt langsam an, dass Rote, Grüne und
Linke den Mittelstand in Deutschland verhöhnen. Das ist
Ihre Mittelstandspolitik, und das, meine Damen und
Herren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Heil das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister
Rösler, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie nicht
souverän genug waren, eine Zwischenfrage zuzulassen.
({0})
- Herr Präsident, muss ich mich vom Vorsitzenden der
CDU/CSU-Fraktion bleidigen lassen?
({1})
Ich bitte, das im Protokoll nachlesen zu lassen. Herr
Kauder, Sie können sich ja nachher entschuldigen, wenn
Sie die Größe dazu haben.
({2})
Lesen Sie diesen Begriff bitte im Protokoll nach. Wir
können das ja nachher miteinander klären.
Jetzt zur Sache. Herr Rösler, ich habe mich zu Wort
gemeldet, um mit Ihnen über Energiepolitik zu sprechen,
weil ich eigentlich den Eindruck hatte, dass Sie neben
Herrn Altmaier in den letzten Jahren der dafür zuständige Minister gewesen sind. Herr Altmaier hat einen
Vorschlag gemacht, den er nicht mit Ihnen abgestimmt
hat, unter dem Stichwort „Strompreisbremse“. Ich sage
Ihnen: Wir sind bei diesem Thema nach wie vor zu Verhandlungen bereit, und wir haben konkrete Vorschläge
gemacht. Wir haben gesagt: Wir sind bereit zu Sofortmaßnahmen beim EEG, um den Anstieg der EEG-Umlage zu bremsen. Wir haben gesagt: Wir sind bereit,
darüber zu reden, wie wir die Befreiungstatbestände bei
den Ausnahmen für energieintensive Betriebe mit Augenmaß regeln können. Außerdem haben wir den Vorschlag
gemacht, die Stromsteuer zu senken. Das sind konkrete
Vorschläge.
Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie, weil Sie
als zuständiger Minister sich nicht mit Herrn Altmaier
einig sind - das ist ein Teil des Problems der Energiewende -, von Ihrer Uneinigkeit ablenken wollen, indem
Sie versuchen, den Schwarzen Peter anderen zuzuschieben. Sie tragen als Regierung seit 2009 in Deutschland
die Verantwortung für die Energiepolitik. Sie sind Ihrer
Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie sind Zickzack gefahren und haben die Planungs- und Investitionssicherheit kaputtgemacht. Deshalb meine ganz klare
Bitte, Herr Rösler: Erzählen Sie dem deutschen Mittelstand keine Märchen, wenn die EEG-Umlage und die
Energiepreise im Herbst dieses Jahres, vielleicht auch
schon im August, massiv steigen werden. Sie sind dafür
verantwortlich, niemand sonst.
({3})
Zeigen Sie nicht mit dem Finger auf andere!
Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie es in vier
Jahren nicht geschafft, gemeinsam als Regierung einen
klaren Vorschlag im Hinblick auf ein neues Strommarktdesign bzw. eine neue Ordnung am Strommarkt zu machen? Im Bereich der Energiepolitik sind Sie eine Nichtregierungsorganisation.
Übrigens habe ich keine Grabesrede auf den Mittelstand gehalten. Wir haben einen starken und guten Mittelstand. Wenn Sie zugehört hätten - das haben Sie vielleicht nicht getan; das kann sein -, hätten Sie gehört,
dass ich gesagt habe: Der Mittelstand in Deutschland ist
nicht schwach; er ist stark und gut aufgestellt. Aber er ist
darauf angewiesen, dass die Politik bzw. die Bundesregierung Rahmenbedingungen schafft, vor allen Dingen
im Bereich der Energiepolitik, die Versorgungssicherheit
und Bezahlbarkeit gewährleisten. Hier zeigt sich Ihr Versagen, Herr Rösler. Davon können Sie nicht ablenken,
indem Sie mit dem Finger auf andere zeigen. Sie haben
ausgespielt, gerade in der Energiepolitik. Wir brauchen
einen Neuanfang.
({4})
Herr Minister Rösler, zur Erwiderung.
Ich darf zunächst einmal Ihren Parteivorsitzenden,
den Kollegen Sigmar Gabriel, zitieren.
({0})
Er hat in einer Debatte, die schon etwas länger her ist,
gesagt:
Wer die ganze Wahrheit kennt, aber nur die halbe
Wahrheit nennt, ist trotzdem ein ganzer Lügner.
({1})
Herr Kollege Heil, Sie haben sehr schön dargelegt,
was Sie alles angeboten haben. Das ist auch alles richtig.
Nur, am Ende haben Sie nichts gemacht.
({2})
In all den Diskussionen und Verhandlungen, die wir geführt haben, waren Sie dagegen, haben blockiert oder
verhindert. Ich sage Ihnen: Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({3})
Wir haben Vorschläge gemacht, um die Förderung der
erneuerbaren Energien effizienter auszugestalten; um
herauszukommen aus dem bisherigen System; um die
Bezahlbarkeit sicherzustellen. Bei all diesen Maßnahmen waren Sie am Ende dagegen. Deswegen sage ich Ihnen nochmals: Sie - SPD, Grüne und Linke - werden für
alle künftigen Strompreissteigerungen allein verantwortlich sein.
({4})
Denn Sie haben im Bundesrat zusammengearbeitet - so
viel also dazu, dass SPD und Grüne auf Bundesebene
nicht mit den Linken zusammenarbeiten wollen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Brüderle, Herr Minister Rösler, bei Ihnen
beiden ist im Zusammenhang mit dem Mittelstand das
Wort „Geisteshaltung“ vorgekommen. Ich konstatiere:
Mittelstand ist für Sie etwas, was sich im Geiste abspielt,
({0})
aber nicht etwas, was in konkrete Maßnahmen mündet.
Das ist der große Unterschied zwischen dem, was Sie
dem Mittelstand anbieten, und dem, was der Mittelstand
braucht.
({1})
Wir brauchen eine konkrete Politik für den Mittelstand.
Herr Rösler, die Jacke muss ja ganz schön brennen,
wenn Sie hier derartige Pappkameraden aufbauen und
dann beschießen: wenn Sie so tun, als ob die SPD etwas
vorschlüge, was Sie zu bekämpfen hätten. Ich möchte
das im Einzelnen einmal durchdeklinieren.
Erster Punkt. Der Mittelstand braucht eine verlässliche Basis, was die Finanzierung anbetrifft. Die SPD ist
angetreten, den Wählerinnen und Wählern deutlich zu
machen, wie wir das Geld, das der Mittelstand braucht
- zum Beispiel für seine wirtschaftsnahe Infrastruktur -,
beschaffen wollen. Wenn die SPD einschließlich ihres
Kanzlerkandidaten deutlich sagt: „Der Mittelstand soll
gestärkt werden, der Mittelstand soll entlastet werden,
der Mittelstand soll auf Verlässlichkeit und Planbarkeit
setzen können“, und wenn wir sagen: „Wir werden den
Mittelstand nicht in seiner Substanz besteuern“, dann
können Sie, Herr Rösler, hier nicht immer wieder diesen
zusammengeleimten Pappkameraden aufstellen und so
tun, als müssten Sie ihn beschießen.
({2})
Das Zweite. Sie behaupten gebetsmühlenartig, dass
wir im Bundesrat etwas verhindern würden, was dem
Mittelstand nützt.
({3})
Gehen wir das einmal im Einzelnen durch: Der Mittelstand braucht die energetische Sanierung der Gebäude.
Am Verhandlungstisch sitzen zwei Parteien: auf der einen Seite der Bund, auf der anderen Seite die Länder.
Der Bund hat ein Konzept für eine steuerliche Entlastung vorlegt, dessen Umsetzung die Länder Hunderte
von Millionen Euro kosten würde.
({4})
Das können die Länder im Zusammenhang mit der
Schuldenbremse nicht stemmen. Die Bundesregierung
hat die Mittel für das KfW-Programm - die KfW ist die
Hausbank des Mittelstands - zurückgezogen. Dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Länder
gegen Ihre Vorschläge stimmen. Sie sind diejenigen, die
mit ihrem schlechten Programm zur energetischen Gebäudesanierung die Verhinderung im Bundesrat provoziert haben; deswegen wird dem Mittelstand das Geld
nicht zukommen. So wird eine Wahrheit daraus.
({5})
Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der kalten Progression. Auch da wiederholen Sie gebetsmühlenartig,
der Bundesrat sei schuld, dass die kalte Progression
nicht bekämpft werden könne. Dabei wissen Sie genau,
dass die Gelder, die dafür nötig wären - es geht um
reichlich 1 Milliarde Euro -, nicht vorhanden sind. Die
Länder wissen nicht, woher sie dieses Geld nehmen sollen - es sei denn, Sie würden die unsägliche und sinnlose
„Hotelsteuer“ abschaffen und die dadurch zusätzlich eingenommenen Gelder dafür einsetzen. Dann hätten Sie
wahrscheinlich den Bundesrat einschließlich der rot-grünen Länder an Ihrer Seite.
({6})
Wenn man danach fragt, was Sie für den Mittelstand tun,
muss man auch hier wieder sagen: Fehlanzeige. Wir
wollen etwas für den Mittelstand tun, auch bei den Finanzen.
Gehen wir ein weiteres Feld durch: Herr Brüderle, Sie
haben keinen einzigen Satz zur Fachkräftesituation und
zum demografischen Wandel gesagt. Wenn Sie tatsächlich - so wie wir - in den letzten Wochen und Monaten
mit Mittelständlern geredet hätten, dann wüssten Sie:
Für den Mittelstand ist das ein drängendes Problem. Dieses Problem hat drei Facetten.
Erstens. Wir müssen für bessere Bildung sorgen. Woher soll das Geld dafür kommen? Das Kooperationsverbot haben Sie nicht angefasst. Wir werden es anfassen.
({7})
Wir wollen, dass es eine Ausbildungsgarantie gibt, dass
junge Leute die Schule nicht ohne Abschluss verlassen.
Zweitens. In einer Debatte vor zwei Jahren, als Sie
eine Art Mittelstandspapier eingebracht haben, im Fe29666
bruar 2011, haben Sie gesagt - ich habe es noch einmal
nachgelesen -: Wir wollen mehr Frauen in den Chefsesseln. - Das ist interessant im Hinblick auf die Debatte
in der letzten Woche. Was tun Sie eigentlich, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Freizeit zu erleichtern? Sie schaffen ein Betreuungsgeld. Dieses Betreuungsgeld gehört aber abgeschafft, damit wir hier
vorankommen.
({8})
Drittens. Es stellt sich die Frage, wie wir, wenn das
gesamte Potenzial nicht reicht und wir das Potenzial der
älteren Arbeitnehmer ausgeschöpft haben, auch Menschen aus dem europäischen, dem internationalen Raum
zu uns holen können. Was tun Sie? Fehlanzeige! Die
Bluecard ist ein Witz.
Ich habe im Tagesspiegel unlängst von einem jungen
Mann gelesen, Herrn Shaam, einem Harvard-Studenten,
der hierher gekommen ist. Er kann kein Konto eröffnen,
weil er keinen Wohnsitz hat, und weil er kein Konto hat,
bekommt er keine Wohnung. Er dreht sich im Kreise.
Nur weil es Leute gibt, die ihn privat unterstützen,
konnte er hier überhaupt aktiv sein und mittlerweile
14 Arbeitsplätze schaffen. Was tun Sie eigentlich dafür,
dass Deutschland eine Willkommenskultur für diejenigen hat, die wir hier dringend brauchen? Fehlanzeige,
Herr Minister, und Sie müssten das aufgrund Ihrer Vita
eigentlich besser wissen.
({9})
Ein weiteres Thema ist die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Wir verhandeln heute indirekt zum Beispiel
auch über Public-private-Partnership. Was ist aus diesem
Instrument geworden? Schauen Sie sich einmal die
Firma „Partnerschaften Deutschland“ an, die wir gegründet haben. Die Anzahl der Projekte im Bereich PPP
ist nahe null. Das verantworten Sie. Dieses Finanzierungsinstrument, das nicht zuletzt auch für die Kommunen segensreich ist, haben Sie sträflich vernachlässigt.
Wir werden das ändern und dieses Instrument dort, wo
es sinnvoll ist, wieder einsetzen.
({10})
Ich komme nun zum Thema Energie. Herr Brüderle,
wenn Sie zu den Unternehmern gehen - wir haben das in
der letzten Zeit getan -, dann hören Sie dort immer wieder die Frage: Wie können wir die Energiepreise bezahlbar halten? - Wir haben hier Vorschläge auf den Tisch
gelegt. Was findet man bei Ihnen? In Ihrem Antrag steht
doch tatsächlich:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Energiewende mit … Augenmaß umzusetzen …
Na, großartig!
({11})
Toll! Das spiegelt Ihre Geisteshaltung wider: Man soll es
mit Augenmaß machen.
Wo sind die konkreten Projekte, zum Beispiel dafür,
das EEG so zu reformieren, dass aus dem Markteinführungsinstrument ein Marktdurchdringungsinstrument
wird, und dafür, dass die Energienetze genauso wie die
IT und die Infrastruktur im Hinblick auf die Mobilität
vorangetrieben werden? Fehlanzeige! Chaos zwischen
den Ministerien! Keine Abstimmung zwischen Europa,
dem Bund, den Ländern und den Regionen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem
Chaos kann der Mittelstand in Zukunft nicht zum stabilen Anker für die Volkswirtschaft werden. Deshalb wenden sich immer mehr Mittelständler unserer Politik zu.
Das haben wir in den letzten Monaten erfahren.
({12})
Wir hoffen, dass wir recht bald all das, was Sie in unseren Anträgen und in unserem Mittelstandspapier lesen,
durchsetzen können.
({13})
Der Mittelstand ist sowohl mit seinen Stärken als
auch mit seinen Sorgen, Nöten und Befürchtungen bei
der SPD besser aufgehoben als bei Schwarz-Gelb.
Vielen Dank.
({14})
Lena Strothmann von der CDU/CSU-Fraktion ist die
nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen,
Herr Bartsch: Dass wir in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn brauchen, zeigt doch eigentlich das
Beispiel des Friseurhandwerks sehr deutlich. Die Verantwortlichen haben das auch so bestens hinbekommen.
({0})
Deutschland geht es gut: Den Menschen in unserem
Land geht es gut, die Betriebe in Mittelstand und Handwerk haben volle Auftragsbücher, und sie schauen zuversichtlich in die Zukunft. Der gesamte deutsche Mittelstand ist seit Jahren stabil. Die mittelständischen
Unternehmen in Deutschland - das sind 99 Prozent aller
Unternehmen - haben ihre Leistungsfähigkeit immer
wieder bewiesen.
Noch nie in der deutschen Geschichte waren so
viele Menschen in Beschäftigung, noch nie wurde
ein höherer Wohlstand erreicht.
Dass wir solch einen Satz einmal in einen Antrag
schreiben können, hätten wir nie gedacht und macht uns
stolz.
({1})
Wir sind vor allen Dingen stolz auf unseren Mittelstand. In Deutschland hat der Mittelstand eine besondere
Ausprägung. Hier liegt ein Unterschied zu unseren europäischen Nachbarn. Auch in anderen Ländern gibt es
viele kleine und mittlere Betriebe; aber bei uns ist die
hohe Qualität der Arbeit der Standard. Die Treue zu den
Mitarbeitern ist fest verankert, und die Ausbildungsquote ist hoch, höher als in der Industrie.
({2})
Das unternehmerische Denken ist geprägt von Verantwortung, besonders im Handwerk auch von Familienstrukturen. Rendite um jeden Preis ist nicht das oberste
Ziel.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in der Krise 2008/2009 hat es sich gezeigt: Es
gab wenig Entlassungen. Die Verbraucher waren unbeeindruckt und sorgten für eine gute Binnenkonjunktur.
Es gab keine Kreditklemme, und die Betriebe haben relativ schnell wieder investiert. - Das ist die Basis für unseren Wohlstand in den letzten Jahren. Wir wollen diese
Basis erhalten und vor allen Dingen stärken. Steuererhöhungen, wie SPD und Grüne sie planen, sind schädlich.
Denn Mittelständler können rechnen. Einen Euro kann
man eben nur einmal ausgeben: für Steuern und Abgaben oder eben für Arbeitsplätze und Investitionen.
Mittelstand braucht also keine Steuerandrohung, er
braucht Unterstützung, zum Beispiel bei der Fachkräftesicherung. Wir stecken schon mittendrin im Fachkräftemangel. In vielen Branchen werden schon jetzt Mitarbeiter gesucht, der Markt ist praktisch leergefegt, und es
wird immer schwieriger, Stellen zu besetzen. Deshalb ist
die Fachkräftesicherung das A und O.
Das setzt aber voraus, dass wir junge Menschen zu
Fachkräften ausbilden. Das Handwerk weiß das und tut
das bereits seit Jahren. Aber im letzten Jahr konnten
15 000 Lehrstellen im Handwerk nicht besetzt werden,
und im gesamten Mittelstand waren es schätzungsweise
60 000. Das finde ich alarmierend.
({3})
Deshalb werben wir intensiv um Nachwuchs. Wir brauchen die jungen Menschen als Fachkräfte, für Führungspositionen, als Betriebsgründer, aber eben auch für
Betriebsübernahmen. Denn jedes Jahr stehen über
20 000 Handwerksbetriebe zur Übergabe an, weil die Inhaber das Rentenalter erreicht haben. Geeignete Nachfolger zu finden, wird immer schwieriger.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, der Mittelstand, das Handwerk sind bei der
Ausbildung sehr engagiert. Die Ausbildungsquote beträgt im Handwerk fast 10 Prozent. Das ist herausragend, und das muss auch so bleiben.
({4})
Wir stellen aber auch einen Trend zu mehr Bildung
fest. Immer mehr junge Menschen wollen Abitur machen. Das ist gut so. Aber Deutschland ist auch ein Industrieland. Wir brauchen mehr gewerblich-technische
Fachkräfte. Jugendliche mit gewerblich-technischen
Ausbildungen haben auf dem Arbeitsmarkt, was den
Mittelstand angeht, die besten Chancen, und sie haben
dort viele individuelle Aufstiegsmöglichkeiten, die vielen leider nicht bekannt sind.
Deshalb kommt der Berufsorientierung in den Schulen ein wichtiger Part zu.
({5})
Hier kommen Schüler und Lehrer oft zum ersten Mal mit
Mittelstand und Handwerk in Berührung. Allein im
Handwerk gibt es über 130 Ausbildungsberufe. Nach
dem Gesellenbrief gibt es noch viele weitere Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten und ebenso gute Verdienstmöglichkeiten.
Auch viele Eltern kennen die Chancen des dualen
Systems für ihre Kinder nicht. Deshalb kooperieren viele
Betriebe schon mit regionalen Schulen, zum Teil auch
mit Kindergärten. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
({6})
Wir müssen einfach mehr für die duale Ausbildung
bei unseren Jugendlichen werben. Andere Länder mit einem verschulten Berufsbildungssystem und einer akademisierten Bildung haben derzeit eine sehr hohe Zahl
arbeitsloser Jugendlicher. Der Zusammenhang ist offensichtlich: Unser Mittelstand und das duale System verhindern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in unserem
Land. Auch das gehört zum Erfolgsrezept des „German
Mittelstand“.
Obwohl das duale System bereits seit vielen Jahren
als Exportschlager gilt, waren unsere Nachbarn bislang
sehr zögerlich mit der Einführung. Ein Grund dafür war
zum Beispiel, dass es natürlich Geld kostet - für den
Staat, aber vor allen Dingen auch für die Betriebe. Noch
schrecken die Betriebe zurück; sie erkennen aber zunehmend die Chancen. Ich würde es begrüßen, wenn sich
das duale System schneller europaweit durchsetzen
würde.
({7})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es gehört aber auch zu einer ehrlichen Debatte
über die Fachkräftesicherung, dass wir sowohl gute Ausbilder als auch genügend Ausbilder brauchen. Ausbilder
sind im Handwerk unsere Meister. Das duale System
und der Meisterbrief gehören zusammen, und alle Versuche in Brüssel, den Meisterbrief auszuhöhlen, sollten wir
gemeinsam im Keim ersticken.
({8})
Die Meisterfortbildung ist nicht nur eine Ausbilderschulung, sondern auch eine Unternehmerschulung. Hier
wird das Rüstzeug für Gründung und Leitung eines Unternehmens erworben. Aber leider gehen die Gründerzahlen im Handwerk zurück. Gerade Firmengründungen
sind wichtig, weil damit Wachstum und Beschäftigung
erhalten werden.
Leider ist in Deutschland die Kultur der Selbstständigkeit noch nicht so stark ausgeprägt wie in anderen
Ländern. Selbstständigkeit und Unternehmertum erfordern Einsatz und Verantwortung; sie sind aber auch immer ein Risiko. Deshalb verdient jeder, der diesen
Schritt wagt, Unterstützung und Anerkennung.
({9})
Die Regierungskoalition und die Bundesregierung geben diese Unterstützung. Wir fördern Existenzgründer,
Innovationen und neue Ideen, wir geben Entfaltungsmöglichkeiten und helfen bei der Finanzierung. Wir helfen ausbildungswilligen Betrieben, und wir tragen zur
Fachkräftesicherung bei. Der Mittelstand in Deutschland
wird deswegen auch in Zukunft stark bleiben.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland
Claus nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Bundesminister Rösler, dass Sie nicht liefern im Amte, daran haben wir uns hier leider alle schon
irgendwie gewöhnt. Aber dass Sie jetzt die Folgen Ihres
Lieferstreiks bei der Opposition abladen wollen, das ist
schon ein starkes Stück, das wir so nicht hinnehmen
können. Das müssen wir Ihnen einmal sagen.
({0})
In schöner Regelmäßigkeit wird vor anstehenden
Wahlen hier im Parlament die Verneigung vor dem Mittelstand zelebriert. Der Mittelstand ist da skeptisch geworden. Ich verweise darauf, dass am heutigen Tage die
größte Versammlung der Mittelstandsförderer in Dresden stattfindet. Ich meine den Sparkassentag in Dresden.
Von den Sparkassen kann man mit Blick auf den Mittelstand durchaus sagen: Sie tun etwas, sie liefern; sie verdienen unsere Anerkennung und Unterstützung.
({1})
Die Sparkassen haben zu einem breiten Dialog eingeladen. Alle Foren, die in diesen Tagen dort stattfinden,
sind per Internet für die Öffentlichkeit zugänglich; es ist
zum Mitmachen eingeladen.
Meine Partei hat in Dresden gestern einen solchen
Beitrag zum Mitmachen geleistet, indem sie ihre Position zur Mittelstandsförderung eingebracht hat. Sie hat
gesagt: Internet ist ja nicht schlecht, aber man kann ja
auch einmal persönlich hingehen. - Deshalb haben die
Vertreter der Linken unsere Position dort deutlich gemacht und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des
Sparkassentages sehr herzlich begrüßt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Linke steht für eine
Wirtschafts- und Mittelstandspolitik, die kleinen und
mittelständischen Unternehmen und Existenzgründern
Chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,
von der Beschäftigte auch sorgenfrei leben können, und
die so zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer
Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Kleiner geht es
bei uns nicht.
Ich will, wie auch mein Kollege Dietmar Bartsch, auf
die Situation der ostdeutschen Mittelständler verweisen.
Ich glaube nämlich, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen im Osten über spezielle Transformationserfahrungen verfügen, das heißt über spezielle
Erfahrungen im Bewältigen von besonders schwierigen
Umbruchsituationen. Sie mussten ohne große Geldgeber
in die Selbstständigkeit, in die wirtschaftliche Entwicklung gehen.
Wir haben im Osten nach wie vor keine einzige große
Firmenzentrale. Wir haben dort im Niedriglohnbereich
einen Anteil von über 40 Prozent, das Doppelte dessen,
was wir im Bundesdurchschnitt haben. Deshalb sind
sehr viele Unternehmen darauf angewiesen, neue Entwicklungspfade beim sozial-ökologischen Umbau zu suchen, neue Entwicklungspfade zu finden, von denen wir
bundesweit viel stärker profitieren könnten, wenn wir
diesen Erfahrungsvorsprung denn auch anerkennten.
({3})
Wir müssen uns zudem auf ein schwieriges Problem
einstellen: Viele dieser jungen Unternehmen sind in der
Nachwendezeit entstanden, wenn man so will, unter den
Bedingungen einer Nachwendenarkose. Jetzt steht der
Generationswechsel an der Spitze an - die Narkose wirkt
zum Glück nicht mehr -, und es bedarf anderer Rahmenbedingungen. Ich wünschte mir, dass wir die Kraft fänden, diese gemeinsam zu gestalten. Natürlich könnten
wir solche Erfahrungen wie die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung aus dem Osten viel
stärker nutzen und sagen: Die Kinderbetreuung im Westen soll zumindest auf Ostniveau gebracht werden.
({4})
Es ist für die örtlichen Kleinunternehmen natürlich
gut, wenn die Kommunen etwas zu sagen haben, wenn
die Kommunen über Eigentum verfügen, wenn die
Stadtwerke der Stadt gehören und nicht irgendwelchen
fremden Besitzern. Seinem Stadtrat kann der Malermeister noch auf der Straße begegnen, einem Fondsmanager
aber nicht. Deshalb der Antrag der Fraktion Die Linke,
die Daseinsvorsorge zurück in die öffentliche Hand zu
geben. Rekommunalisierung nennen wir das.
({5})
Es gibt da wirklich kuriose Vorgänge. Ich traf letztens
die Bürgermeisterin von Coswig. Sie hat zwei Jahre lang
vergeblich versucht, den Besitzer des Bahnhofs in Coswig ausfindig zu machen. Es ist ihr nicht gelungen. Der
Bahnhof ist an irgendjemanden verscheuert worden, und
den Eigentümer konnte sie nicht in Erfahrung bringen.
({6})
Noch schlimmer wird es dann, wenn man einem Bürgermeister die Frage stellt: „Wem gehört eigentlich euer
Rathaus?“, und der Bürgermeister muss daraufhin antworten: Das weiß ich nicht, aber das ist eine gute Frage.
({7})
Deshalb sind wir der Auffassung, dass ÖPP- bzw.
PPP-Konstrukte final gescheitert sind, also die Versuche,
die öffentliche Daseinsvorsorge in die Hände von Finanzmärkten zu geben.
({8})
Der Weg aus der Sackgasse beginnt in der Sackgasse,
nämlich mit dem Eingeständnis: Raus komme ich hier
nur, wenn ich zurückgehe.
Die größte Gefahr für den Mittelstand - darauf will
ich auch hinweisen - geht momentan von den internationalen Finanzmärkten und besonders den Schattenbanken
aus. Deren Philosophie ist es, weltweit aus der Wertschöpfung anderer Profit zu ziehen, ohne selbst je den
Anspruch zu erheben, Werte zu schöpfen. Diese Banken
sind natürlich auf das aus, was vom Mittelstand geleistet
wird. Warren Buffett hat deshalb diese Instrumente auch
einmal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ genannt. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik wird erst dann
wieder möglich sein, wenn diese Übermacht der Finanzmärkte über die Realwirtschaft gebrochen wird.
({9})
Da versagt diese Bundesregierung natürlich auf der
ganzen Linie. Das ist eigentlich kein Wunder. Wir haben
es hier nämlich mit einem Bundesminister zu tun, der als
Bundeswirtschaftsminister mit der linken Hand Fördermittel verteilt und dann als Parteivorsitzender mit der
rechten Hand Spenden einkassiert. Da muss man sich
nicht wundern, wenn dabei eine wirkliche Regulierung
von Finanzmärkten ausbleibt.
({10})
Herr Kollege Claus, würden Sie einmal einen Blick
auf die Uhr werfen?
Das tue ich gerne und komme zum Schluss. - Ich
gehe im Moment davon aus, dass ich Sie von unserem
Antrag überzeugen konnte und dass Sie deshalb zustimmen: für die Stärkung von Mittelstand und Kommunen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Anton Hofreiter,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede von Wirtschaftsminister Rösler war
mehr als überraschend; denn der Minister hat dargestellt,
dass für das Handeln der Regierung, was die Energiepolitik angeht, SPD und Grüne verantwortlich sind. Ich
glaube, Herr Minister, Sie haben ein paar ganz grundsätzliche Dinge nicht verstanden. Sie sind Minister und
Teil der Regierung und haben deshalb den Auftrag, die
Politik dieses Landes mitzugestalten, statt hier Polemik
zu verbreiten.
({0})
Ich komme nun zu dem Punkt, über den heute eigentlich debattiert werden sollte, nämlich zum Thema PPP.
Ob eine Regierung mittelstandsfreundlich ist oder nicht,
erkennt man nicht daran, ob ein Herr Brüderle im
Bundestag die heute-show imitiert, sondern eine solche
Regierung erkennt man an ihrem konkreten Handeln.
Wie das ausschaut, können wir am Beispiel PPP wunderschön sehen.
Was macht die Regierung? Sie setzt einen ganzen
Haufen PPP-Projekte im Bereich Autobahnen um. Diese
dienen erstens dazu, die Schuldenbremse zu umgehen,
was schon einmal ein Skandal an und für sich ist.
({1})
Sie dienen zweitens dazu, den Mittelstand aus dem Bereich Straßenbau herauszuhalten.
({2})
Warum? Wie funktionieren diese Modelle? Diese
Modelle funktionieren so, dass sich der Staat nicht mehr
bei den Banken, sondern bei großen Baufirmen bzw.
großen Konsortien verschuldet, damit diese dann für die
öffentliche Hand beispielsweise Autobahnen erweitern
oder ausbauen. Neben der Tatsache, dass PPP als Vorfinanzierung missbraucht wird, um so die Vorgaben der
Schuldenbremse zu umgehen, ist ein weiterer Effekt,
dass sich der Mittelstand nicht mehr direkt beteiligen
kann; denn die Projekte haben in der Regel ein Konzessionsvolumen von 400 Millionen bis 1 Milliarde Euro.
Mittelständler sind damit ausgeschlossen.
Ein weiterer Effekt ist de facto eine Oligopolbildung
in diesem Bereich. Die öffentliche Hand zahlt unglaub29670
lich viel für solche Projekte. Die Kosten fallen allerdings
über 30 Jahre verteilt an. Deswegen hat der Bundesrechnungshof klar gesagt, dass PPP-Projekte zukünftig nur
noch durchgeführt werden sollten, wenn sie wirtschaftlich sind. Was ist daraus zu schlussfolgern? Dass die bisherigen PPP-Projekte im Autobahnbereich eben nicht
wirtschaftlich waren. Warum macht man das Ganze
dann? Weil sich so die Vorgaben der Schuldenbremse
umgehen lassen.
Man könnte ehrlicher vorgehen und die entsprechenden Projekte in vernünftigen Losgrößen ausschreiben,
sodass sich auch der Mittelstand beteiligen kann. Aber
dann müsste man zum Finanzminister gehen und sagen,
dass man für die entsprechenden Autobahnprojekte Geld
braucht, oder man müsste sich die eine oder andere Umgehungsstraße sparen, weil man sie sich dann nicht mehr
leisten kann. Aber nein! Was macht man? Man macht
riesige Projekte, die unglaublich aufwendig sind und nur
noch von den größten Baufirmen zu stemmen sind.
Man umgeht also die Vorgaben der Schuldenbremse,
sorgt für wunderschöne Gelegenheiten, Bändchen bei
Autobahneröffnungen durchzuschneiden, und verschiebt
die Finanzierung in die Zukunft. Das ist nicht mittelstandsfreundlich, sondern eine finanzpolitische Frechheit.
Danke.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ernst
Hinsken der nächste Redner.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt, dann gewinnt
man zum Teil den Eindruck: Hier reden welche, die vom
Mittelstand überhaupt nichts verstehen.
({0})
Sie vermitteln den Eindruck, als lebten Sie in einer anderen Welt. Sie sind nicht bereit, anzuerkennen, was Großartiges gerade in den letzten Monaten und Jahren für den
Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland unter
Leitung des tüchtigen Wirtschaftsministers Rösler geleistet worden ist.
({1})
Das, was mein Kollege von Stetten und Frau Kollegin
Strothmann, immerhin Präsidentin einer Handwerkskammer, hier ausgeführt haben, hat sich von Ihren
Reden, meine Damen und Herren von der Opposition,
wohltuend abgehoben.
Ich möchte aber nicht alleine Aussagen darüber treffen, wie es um den Mittelstand steht, sondern ich möchte
in diesem Fall andere sprechen lassen. Der BDI-Präsident Grillo hat am 14. April 2013 gesagt: „,German
Mittelstand‘ ist im Ausland eine echte Marke unseres Industriestandortes.“ BDA-
„Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung
stehen dabei für eine hervorragende Politik.“ BDI-
„Wir sehen gute
Chancen, dass die deutsche Wirtschaft … deutlich an
Fahrt gewinnt.“ Der Präsident des Zentralverbands des
Deutschen Handwerks, Otto Kentzler, hat ausgeführt:
„Das Handwerk ist zuversichtlich und blickt positiv in
die Zukunft.“ Das sind Aussagen von Verbandsvertretern, die in vorderster Linie stehen und wissen, wo der
Schuh drückt. Sie wissen, was sie sagen. Sie würden uns
ins Gewissen reden, wenn die Lage nicht so wäre, wie
sie sein sollte. Aber tatsächlich ist alles gut. Diese Verbandsvertreter sind bereit, anzuerkennen, was sich getan
hat. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind dazu nicht bereit.
({0})
Ja, der Mittelstand ist das Bollwerk der Wirtschaft.
Mithilfe eines leistungsfähigen Mittelstandes haben wir
die Krise mit am besten bewältigt. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen haben in den vergangenen Jahren maßgeblich zur deutschen Erfolgsgeschichte
beigetragen.
Mein Resümee: Es lohnt sich ersichtlich, Politik für
den Mittelstand zu machen; denn dieser ist nirgendwo
stärker ausgeprägt als bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland. Wir werden überall gerade um diesen starken und tüchtigen Mittelstand beneidet. Andere sind dabei, einen Mittelstand aufzubauen. Wir haben ihn, wir
setzen auf ihn und geben ihm Freiheit. Wir wollen die
Mittelständler unterstützen, damit sie sich weiterhin
großartig entfalten können.
({1})
Zum Beweis dafür möchte ich anführen, dass die
Anzahl der kleinen Unternehmen mit weniger als zehn
Beschäftigten und einem Umsatz unter 1 Million Euro
laut Unternehmensregister seit 2006 um 1,6 Prozent und
gleichzeitig die der mittleren Unternehmen mit 10 bis
499 Beschäftigten und einem Umsatz zwischen 1 und
50 Millionen Euro um 4,1 Prozent gestiegen ist. Es ist
wieder in, Mittelständler zu werden, in die Selbstständigkeit zu gehen.
({2})
Jahrelang haben wir für den Mittelstand gerungen und
gekämpft. Wir haben den Leuten gesagt: Seid wieder
bereit, selbst Aufgaben zu übernehmen, selbst in die
Wirtschaft zu gehen, euch selbst zu entfalten. - Jetzt ist
diese Situation erreicht, und die Zahlen liefern dafür einen eindeutigen Beweis.
({3})
Diese Bundesregierung schafft dafür die Rahmenbedingungen, natürlich auch unterstützt von unserem
hervorragenden Kammersystem, das keinesfalls negativ
gesehen werden darf. Unsere Kammern sind wichtig.
Gäbe es sie nicht, müssten sie erfunden werden. Sie leisten als Körperschaften des öffentlichen Rechts für uns,
den Staat, hervorragende Arbeit. Deswegen möchte ich
hier ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum Kammersystem in der Bundesrepublik Deutschland ablegen.
({4})
Mittelständler sind Unternehmer und keine Unterlasser.
({5})
Sie nehmen die Herausforderungen an. Weil sie die Herausforderungen annehmen und weil sie erfolgreich sind
- ich darf dabei auf den Sparkassenverband verweisen -,
ist die Eigenkapitalquote der mittelständischen Unternehmen von 11,5 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell
20,7 Prozent angestiegen. Das ist fast eine Verdopplung.
Die Wertschöpfung und die Erwerbstätigkeit waren in
der deutschen Geschichte noch nie so hoch wie 2012.
Die Zahl der Beschäftigten in kleinen und mittleren Betrieben mit weniger als 250 Mitarbeitern liegt um sage
und schreibe 921 000 über dem Stand von 2009. Das war
vor wenigen Jahren.
Besonders erfreulich ist für mich, dass die Beschäftigungsaussichten weiterhin positiv bleiben. So rechnet
der DIHK für das Jahr 2013 mit rund 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Das Handwerk
rechnet mit einem Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent.
Damit leistet der Mittelstand auch in diesem Jahr auf
herausragende Weise einen namhaften Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungslage.
Ich könnte hier natürlich noch Verschiedenes ausführen, vor allen Dingen was die Investitionen in Forschung
und Entwicklung anbelangt. Auch dort können wir positive Zahlen vermelden. Das würde aber den zeitlichen
Rahmen sprengen, sodass ich mich auf das beschränken
möchte, was ich Ihnen als Botschaft zurufen möchte.
Wenn ich bei einer Veranstaltung mit einem Mittelständler spreche und frage: „Was bedrückt dich denn?“,
dann antwortet er: Zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie,
zu hohe Sozialkosten, zu wenig Fachkräfte und zu hohe
Energiekosten.
Zu den Steuern. Wir arbeiten am Abbau der kalten
Progression und wollen vor allen Dingen die Umsatzgrenzen für die Istbesteuerung anheben.
Zur Bürokratie. Seit 2005 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 600 Gesetze und Verordnungen weniger registriert. Hier ist also ein Positivum zu verzeichnen. Mit den Erleichterungen bei den elektronischen
handelsrechtlichen Bilanzveröffentlichungen und dergleichen mehr haben auch wir unseren Beitrag dazu geleistet, dass der bürokratische Unsinn so weit wie irgendwie möglich zurückgedrängt wird.
Zu den Sozialkosten. Bei der Rentenversicherung haben wir eine Beitragssatzsenkung auf 18,9 Prozent vorgenommen. Das ist eine Entlastung um 6 Milliarden
Euro: 3 Milliarden Euro bei den Arbeitnehmern, 3 Milliarden Euro bei den Unternehmern. Insbesondere davon
betroffen ist der Mittelstand.
Zum Thema Fachkräfte. Wir erschließen noch mehr
inländische Fachkräfte und erleichtern die Zuwanderung
qualifizierter Fachkräfte.
Herr Kollege.
Auch was die Energiekosten anbelangt - Herr Präsident, ich bin am Ende -,
Oh, das kann ich mir gar nicht vorstellen.
- werden wir die Belastung für den Mittelstand auf einem vertretbaren Niveau halten. Das darf die Bevölkerung wissen, das darf der Mittelstand zur Kenntnis nehmen. Der Mittelstand kann sich auf uns verlassen. Er
muss nur am 22. September richtig wählen, damit es so
bleibt, wie es ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter ist die nächste
Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es für diese Regierung ein Arbeitszeugnis gäbe, dann würde darin stehen: Die Bundesregierung hat sich bemüht.
({0})
- Immerhin, Herr Kauder. - In der Zeugnissprache heißt
dies - Wirtschaftsexperten wissen das -: auf der ganzen
Linie versagt.
({1})
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große
Anfrage zur Situation des Mittelstandes kann auch nicht
als Werbeblock bewertet werden. Das war auch schon so
bei der Großen Anfrage zur Energiewende: keine Zahlen, keine Daten. Überhaupt fragt man sich, auf welcher
Basis Sie eigentlich Politik machen.
({2})
Den Mittelstand landauf, landab als Rückgrat der
deutschen Wirtschaft zu bezeichnen, sind viele schöne
warme Worte. Aber eigentlich muss man sagen: Es ist
schon interessant, dass unser robuster Mittelstand so erfolgreich war - trotz dieser Regierung.
({3})
Der Economist hat die Bedeutung des deutschen Mittelstandes ganz gut beschrieben - die haben das erkannt -:
Du musst kein Silicon Valley Nerd in Flip-Flops sein,
um erfolgreich zu sein. Unsere mittelständischen Unternehmen sind gut damit gefahren, dass sie bei ihren Leisten geblieben sind.
Dem Mittelstand geht es bisher zwar gut, aber vor den
Herausforderungen des demografischen Wandels, der
Energiewende, der Finanzierungen und der Existenzgründungen verschließen Sie die Augen. Die neuesten
Zahlen sprechen nämlich eine ganz andere Sprache. Der
Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt, dass sich die Stimmung
mehr und mehr eintrübt. Sie verschließen davor die Augen.
({4})
Die Fachkräftesicherung wurde schon mehrfach angesprochen. Sie nehmen das Potenzial von Frauen gar
nicht wahr. Nein, Sie gewähren lieber ein Betreuungsgeld und finden es dann gut, wenn die Frauen zu Hause
bleiben, und beklagen sich dann auch noch. Da brauchen
wir doch gar nicht über die Frauenquote oder gar über
gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu sprechen.
Wenn Sie auf unsere Frage, was Sie denn tun, um
Mädchen und junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, antworten, dann nennen Sie den Girls’ Day. - Dieser Tag ist übrigens heute. Unsere Girls’-Day-Mädchen
sitzen jetzt hier auf der Tribüne und sind begeistert.
({5})
Weiter verweisen Sie auf „Jugend forscht“. Beides ist
nicht auf Ihrem Mist gewachsen, und Sie haben nichts
Neues hinzugesetzt.
Sicherlich wurden viele Frauen, die in dieser Sache
auf die Kanzlerin gesetzt haben, herb enttäuscht, weil da
nicht mehr Schwung in die Frauenpolitik und die Arbeitspolitik gekommen ist.
({6})
Herr Kauder, heute schreibt das Handelsblatt zur
Energiewende - das ist mein nächster Punkt -:
Energiewende ist aus Sicht der Industrie größter
Minuspunkt der Kanzlerin.
Wie wahr!
Das Auf und Ab dieser Bundesregierung in der Energiepolitik ist ein gewichtiger Risikofaktor für mittelständische Unternehmen geworden. Sie sind zur Investitionsbremse in dieser Branche geworden und schaden
Deutschland. Das ist ein energiepolitisches Versagen
dieser Regierung auf ganzer Linie.
({7})
Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Umweltverträglichkeit beschwören Sie zwar; aber Sie machen keine
Politik, die auch zukunftsfähig ist. Es mangelt an Koordination zwischen Bund und Ländern und auch mit der
europäischen Ebene. Ein Schelm, wer denkt, das sei
Taktik. Strategie ist es sicherlich nicht. Langfristiges
Denken ist für Sie ein Fremdwort.
({8})
Aus Nischen heraus sind unsere mittelständischen
Unternehmen oftmals erfolgreich, nicht nur hier im Inland, sondern auch im Ausland. An dieser Stelle komme
ich zur europäischen Rechtssetzung. Wenn Sie diesen
Mittelstand immer so beschwören, dann hätten Sie sich
auch einmal dafür einsetzen können, dass die Gesetzgebung in Brüssel etwas mittelstandsfreundlicher wird.
Aber nichts dergleichen! Auch einen europäischen Normenkontrollrat - das zum Thema Bürokratieaufbau; Entschuldigung: Bürokratieabbau ({9})
haben Sie nicht erreicht. Sie bauen dagegen Bürokratie
auf.
Die Lage hochqualifizierter Arbeitskräfte wurde
schon mehrfach angesprochen. Die steuerliche Forschungsförderung steht bei Ihnen im Koalitionsvertrag.
Sie haben vier Jahre Zeit gehabt. Daraus ist nichts geworden. Erster Klasse beerdigt!
({10})
Wir fordern eine steuerliche Forschungsförderung,
und zwar für kleine und mittlere Unternehmen - es soll
keine Mitnahmeeffekte durch die großen geben -, mit einem wachstumsorientierten Personalkostenzuschuss.
Damit leisten wir konkret Unterstützung für junge Unternehmen. Die können wirklich etwas damit anfangen.
Sie können Personal für Forschung und Entwicklung
einstellen und so innovativ unterwegs sein.
Das ZIM wollen wir über 2013 hinaus fördern,
ebenso Existenzgründungen. Wir sind wirklich fast
Schlusslicht bei den Existenzgründungen; das hat sich
massiv verschlechtert. Auch da haben Sie sich nicht mit
Ruhm bekleckert.
({11})
Als Letztes möchte ich noch ein Wort zur europäischen Gesetzgebung sagen. Was den Mittelstand, kleine
und mittlere Unternehmen sowie insbesondere das
Handwerk, richtig trifft, ist die Umsetzung der Zahlungsverzugsrichtlinie. Zahlungsmoral fordern Sie ein.
Das funktioniert bei uns in Deutschland, und Sie öffnen
jetzt das Tor dafür, dass dieses Leitbild quasi fällt.
Kleine Unternehmen kommen in Liquiditätsprobleme,
weil Sie diese Richtlinie nicht richtig umsetzen.
({12})
Sie werden die Rechtsposition der Handwerksbetriebe
als Gläubiger total schwächen. Da geht es wirklich richtig ums Eingemachte, richtig ums Geld und nicht nur um
schöne Worte.
({13})
Alles in allem: Mittelstandspolitik der schwarz-gelben Koalition bedeutet: viel in der Auslage, wenig geliefert und nichts auf Lager. Diese Mittelstandspolitik muss
ein Ende haben. Am 22. September gehen wir da mit
neuem Schwung heran und machen eine neue Reformpolitik mit Mut und auch für die Realwirtschaft.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Jasper, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Schwarzelühr-Sutter, viele Länder in der Welt hätten
gerne die Probleme, die wir in Deutschland haben. Statt
in Ihr Wehklagen einzustimmen, möchte ich lieber damit
beginnen, die Aussage der Kollegin Lena Strothmann zu
unterstützen: Der deutschen Wirtschaft geht es gut, und
den Menschen in Deutschland geht es ebenfalls gut.
({0})
Noch nie in der Geschichte unseres Landes waren so
viele Menschen in Beschäftigung, und noch nie ist ein
größerer Wohlstand erreicht worden. Grundlage dieser
außerordentlichen Stabilität und Wachstumsstärke der
deutschen Wirtschaft ist die dynamische mittelständische Unternehmenslandschaft. Es sind insbesondere die
inhabergeführten Familienbetriebe, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden. Man kann es gar nicht oft genug sagen:
Die Arbeitslosigkeit in unserem Land ist in den letzten
Jahren von über 5 Millionen auf heute unter 3 Millionen
gesunken. Hieran haben die mittelständischen Unternehmen einen erheblichen Anteil.
({1})
In den letzten fünf Jahren wurden über 1,8 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen. Auch in diesem Jahr rechnet
man mit über 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen.
Handwerk und Mittelstand leisten somit erneut einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungslage. Wichtige Eckpfeiler sind hierbei die Sozialpartnerschaft, aber natürlich auch die Tarifautonomie.
Investitionen in Forschung und Entwicklung sind ein
Indikator für die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftssystems. Diese Investitionen sind auf 2,9 Prozent des BIP
gestiegen. Unser Ziel von 3 Prozent ist nahezu erreicht.
Investitionen und Initiativen im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung haben die Innovationskraft und auch die Wettbewerbsfähigkeit in
Deutschland gestärkt. Viele weitere Beispiele lassen sich
nennen.
Doch das allein reicht nicht aus. Es ist erst die Risikound Leistungsbereitschaft des innovativen Mittelstands,
die Wachstum, Wohlstand und Innovation in unserem
Land sichert. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind die Treiber des Strukturwandels und des
Fortschritts. Der gute und robuste Zustand des Mittelstands darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es
in der Zukunft weitere und neue Herausforderungen
gibt, die es zu meistern gilt.
Wenn ich mich mit meinen Unternehmerkollegen unterhalte und sie frage, welche drei zentralen Probleme in
der Zukunft gesehen werden, dann werden in der Regel
drei genannt: Ganz oben steht der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel. Es folgen steigende Energiekosten und
der Rohstoffmangel. Und genau da gilt es dann anzusetzen. Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen und
Unterstützungen generiert werden, damit die Unternehmen Mittel und Wege finden, diese Probleme zu lösen.
({2})
Wir sollten über die Stärke dieser Unternehmen froh
sein und alles tun, damit das so bleibt. Wenn ich sehe,
was vonseiten der Linken, der SPD und der Grünen in
diesem Bereich hauptsächlich gefordert wird, nämlich
Steuererhöhungen, wirkt das genau in die entgegengesetzte Richtung.
Was will Rot-Grün? Die Wiederbelebung der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe, die
Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Anhebung des Spitzensteuersatzes und viele Dinge mehr.
Statt die Schaffung von Vermögen und Eigentum zu fördern, ist das linke Bedürfnis nach Umverteilung größer
denn je.
({3})
Die propagierten Steuererhöhungen in den unterschiedlichsten Bereichen gehen insbesondere zulasten
des Mittelstandes. Die Investitions- und Innovationsfähigkeit wird entscheidend eingeschränkt. Es wird
verhindert, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch Unternehmensgründungen werden erschwert. Wenn der Fraktionsvorsitzende der Grünen in der gestrigen Aktuellen
Stunde darüber schwadroniert, dass Deutschland eine
Steueroase sei, weil es hier noch keine Vermögensabgabe oder keine Vermögensteuer gibt, dann hat er nichts
verstanden.
({4})
Der Aufwand zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer und der daraus resultierende
Ertrag stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander. Ein Großteil des in Deutschland vorhandenen
Vermögens ist in Unternehmen gebunden. Somit sind es
genau die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
die am stärksten von der Vermögensteuer betroffen sind.
Im Kern findet eine Substanzbesteuerung statt. Es wird
Vermögen vernichtet.
({5})
Auch die schnell aufgestellte Forderung nach einer
Erhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Prozent auf dann 49 Prozent trifft in erster Linie die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
({6})
Neben den Facharbeitern ist das die große Zahl der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in der Regel als Personengesellschaften organisiert sind. Bei diesen führt die geplante Steuererhöhung zu erheblichen
Problemen. Anders als große Kapitalgesellschaften können sie beispielsweise nicht ins Ausland ausweichen und
müssen die volle Steuerlast tragen.
Gleiches gilt für den Bereich der Erbschaft- und
Schenkungsteuer. Für viele Handwerker und Unternehmer wird es ohnehin immer schwieriger, einen Nachfolger zu finden. Hohe Zahlungen durch eine Erbschaftund Schenkungsteuer erschweren das zusätzlich und bedeuten auch manchmal das Aus für die Betriebe.
Die von der linken Seite immer wieder geforderten
Erhöhungen von Steuern und Abgaben sind eindeutig
der falsche Weg. Der deutsche Staat verfügt über Steuereinnahmen in nie dagewesener Höhe. Hiermit gilt es
hauszuhalten. Ein ausgeglichener Staatsaushalt bietet
auch für die Unternehmen in Deutschland die beste Gewähr und eine gute Voraussetzung für ein nachhaltiges
und stetiges Wachstum.
({7})
Dieses Wachstum schafft nicht nur neue Arbeitsplätze,
sondern entlastet auch die Sozialkassen. Nur so ist es
letztendlich zu erklären, dass die Leistungsträger durch
eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um mehr
als 6,3 Milliarden Euro entlastet werden konnten.
({8})
Der richtige Weg ist: Haushalt konsolidieren, sparsam
haushalten, Erleichterungen an die Bürger weitergeben,
Erhöhungen von Steuern und Abgaben nur dann, wenn
es zwingend erforderlich ist.
({9})
Und das zum Schluss: Viele kleine und mittelständische
Unternehmen zahlen ihre Steuern in Deutschland und tun
das auch mit großer Überzeugung. Die Einstellung, dass
starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, ist bei
vielen Unternehmern durchaus vorhanden. Dazu braucht
es nicht immer die Begründung, dass durch Umverteilung
sozialer Frieden begründet werden kann.
Es gibt auch pragmatische Gründe, die hier bereits
dargestellt wurden: eine funktionierende Infrastruktur,
eine gute Aus- und Weiterbildung junger und älterer
Menschen, eine gute Verwaltung und viele Dinge mehr.
Das schafft eine solide Basis für nachhaltiges Wirtschaften und ist ein Wettbewerbsvorteil für die deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb.
Dennoch ist die Summe aus Steuern und Abgaben
enorm hoch. Eine leichtfertige Erhöhung vorhandener
und die Einführung neuer Steuern unter dem Stichwort
„Reichensteuer“ ist diffamierend und schadet dem
Standort Deutschland. Es werden gerade nicht die von
Rot-Rot-Grün verfolgten Millionäre getroffen. Diese
sind jederzeit in der Lage, ihre Vermögen im Ausland
anzulegen.
({10})
Getroffen werden vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in Deutschland gebunden sind
und ihre Steuern auch hier zahlen müssen. Rot-Grün
zielt auf eine Handvoll Millionäre, trifft aber die gesamte Breite des Mittelstandes.
({11})
Bei allem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und sozialem Frieden darf nicht vergessen werden, dass vor
dem Verteilen das Erwirtschaften steht. Dieses Erwirtschaften erfolgt hauptsächlich in den kleinen und mittelständischen Betrieben unseres Landes. Diesen darf nicht
die Luft zum Atmen genommen werden.
Es gibt viele Möglichkeiten, den deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest zu machen, sei es in den Bereichen Fachkräftesicherung, Sicherstellung der Energieversorgung, Förderung von Innovationen und vielen
Bereichen mehr, die bereits angeführt wurden. Die Bundesregierung hat hier in den letzten Jahren viel erreicht.
Nicht durch das Erhöhen und Schaffen neuer Steuern
sind wir so erfolgreich gewesen, sondern durch nachhaltiges und effizientes Haushalten. Die ganze Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen konnte sich
so voll entfalten.
({12})
Deutschland kann sich im europäischen und auch im
internationalen Vergleich mehr als sehen lassen. Der
Dank hierfür gilt in erster Linie den Arbeitnehmern und
Arbeitgebern in Deutschland, aber natürlich auch der
unionsgeführten Bundesregierung, die eine eindrucksvolle Bewerbung für eine neue Legislaturperiode abgegeben hat.
Danke schön.
({13})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Reinhold Sendker, ebenso für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Tiefensee, von Stillstand bei den ÖPP, den öffentlich-privaten Partnerschaften, kann überhaupt keine
Rede sein. ÖPP-Projekte machen im Bereich des Hochbaus 60 Prozent aus. Die Möglichkeiten sind hier noch
lange nicht ausgeschöpft. Ferner gibt es ÖPP-Projekte
im Dienstleistungs- und IT-Bereich, denen Experten ein
enormes Wachstum voraussagen. Im Bereich des Fernstraßenausbaus bilanzieren wir ein Ausbauvolumen von
300 Kilometern und einen privaten Kapitaleinsatz von
1,5 Milliarden Euro. Dafür, dass der Fernstraßenausbau
derzeit aufgehalten wird, sind letztendlich rot-grüne
Landesregierungen, zum Beispiel in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, verantwortlich.
Schauen wir auf weitere positive Botschaften bei den
öffentlich-privaten Partnerschaften: auf die Qualität der
Bauausführung, auf einen hochwertigen Betriebsdienst
und auf einen schnellen und zeitnahen Ausbau der Bundesfernstraßen. Ich nenne außerdem ausdrücklich die
Effizienzvorteile, wobei wir sagen müssen, dass die
Wirtschaftlichkeit den gesamten Lebenszyklus „Planen,
Bauen, Betreiben“ betrifft.
Die ÖPP bieten bemerkenswerte Optionen. Es ist deshalb völlig richtig, alle Beschaffungsvarianten unvoreingenommen zu beurteilen und ihnen die gleichen Chancen einzuräumen. Ideologische Vorbehalte gehören hier
nicht hin.
({0})
Wo besteht noch Handlungsbedarf? Dass die ÖPP
mittelstandsfreundlich weiterentwickelt werden, ist für
uns ein ganz zentraler Punkt. Mittelständische Unternehmen sollen sich mit einem höheren Investitionsvolumen an
ÖPP-Projekten, sprich am Fernstraßenausbau, beteiligen
können. Folglich bitten wir darum, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine verstärkte Beteiligung des
Mittelstandes am Fernstraßenausbau zu erreichen.
({1})
Die Richtigkeit der These „Mehr Transparenz schafft
Akzeptanz“ hat die christlich-liberale Bundesregierung
schon bei der Realisierung des Finanzkreislaufs Straße
nachgewiesen. Bei den ÖPP wollen wir nicht nur ein
bisschen, sondern deutlich mehr Transparenz. Wir schlagen Ihnen daher vor, bei ÖPP-Projekten eine frühzeitige
Information und Beteiligung der Öffentlichkeit und eine
weitreichende Transparenz, auch in der Betriebsphase,
durch regelmäßige Berichte an den Deutschen Bundestag sicherzustellen, mit der steten Nachfrage: Ist das,
was zugesagt wurde, auch erreicht worden?
Es ist erfreulich, dass die deutsche Bauwirtschaft im
Herbst letzten Jahres zu mehr Transparenz bei ÖPP aufgerufen hat. Den wilden Spekulationen über Vergabe
und Vertragsinhalte wird damit der Wind aus den Segeln
genommen. Deutlich mehr Transparenz und die Effizienznachweise führen zu mehr Vertrauen; hiermit kann
ideologischen Vorbehalten entgegengetreten werden.
Das ist Zielführung. Dafür treten wir ein.
({2})
Transparenz endet aber dort - das ist ein Stück Wahrheit -, wo es um schützenswerte Interessen der Projektbeteiligten und um die wirtschaftlichen Interessen des
Staates geht. Dahin gehend darf sie das Erfolgsmodell
ÖPP nicht seiner Vorteile berauben.
Schauen wir schließlich auf die Vergleichbarkeit im
Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Die Rechnungshöfe
führen an: ÖPP-Projekte basieren auf konkreten Ausschreibungs- und Verhandlungsergebnissen. Bei der konventionellen Methode hingegen seien es überwiegend
Kostenschätzungen und Erfahrungswerte. Folglich wird
eine bessere Vergleichbarkeit gefordert.
Ferner kann mit der obligatorischen Eignungsprüfung, die ich hier ausdrücklich nennen möchte, bereits in
einem frühen Stadium die grundsätzliche Eignung eines
ÖPP-Projekts geprüft werden. Daher fordern wir, dieses
Instrument der Projektsteuerung künftig zu standardisieren und zu verbreiten.
Ja, wir wollen eine bereits erfolgreiche Beschaffungsvariante ausdrücklich stärken, eine Variante mit mehr
Mittelstand, vor allem beim Fernstraßenausbau, mit
deutlich mehr Transparenz und Kommunikation und mit
vergleichbaren Wirtschaftlichkeitsnachweisen.
Leider - auch das ist ein Stück Wahrheit - erleben wir
bei ÖPP-Projekten unter rot-grünen Landesregierungen
zurzeit den großen Verschiebebahnhof: Es soll überprüft
und nochmals geprüft werden. Ich sage Ihnen: Wenn in
einem konkreten Einzelfall längst feststeht, dass ÖPP
besser sind, dann sollten ÖPP hier auch den Zuschlag
bekommen.
({3})
Was die Oppositionsanträge angeht, kann ich nur feststellen: Die Sozialdemokraten zögern und zaudern. Bei
den Grünen stehen wieder einmal ideologische Vorbehalte gegen Zukunftsoptionen.
Herr Dr. Hofreiter, dadurch, dass Sie die Vorwürfe eines Schattenhaushalts und eines Verstoßes gegen die
Schuldenobergrenze wiederholen, werden diese Vorwürfe nicht besser.
({4})
Die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts an den Auftragnehmer stellt keine Kreditaufnahme im Sinne des
Art. 115 Grundgesetz dar. Es ist also keine Umgehung
der Schuldengrenze. Das bestätigt uns der Bund-LänderAusschuss. Ähnlich hat sich der Bundesrechnungshof
geäußert. Ich bitte, das bei Gelegenheit doch einmal zur
Kenntnis zu nehmen.
({5})
In der gegenwärtigen Haushaltssituation können wir
es uns gar nicht leisten, ideologische Vorbehalte gegen
ÖPP aufrechtzuerhalten. Wir möchten diese Variante
stärken. Es ist eine Beschaffungsvariante, die es zu prü29676
fen gilt. Wir wollen ihre Anwendung unterstützen - mittelstandsfreundlich, wirtschaftlich und transparent.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache
17/12700 mit dem Titel „Stabilität, Wachstum, Fort-
schritt - Den starken deutschen Mittelstand weiter zu-
kunftsfest machen“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag
ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b wird interfraktio-
nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache
17/12771 an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 d. Hier geht es um die Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Druck-
sache 17/13155. Hierzu liegt mir eine schriftliche Erklä-
rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung des Kollegen Groß vor.1)
Ich lasse zunächst über die Beschlussempfehlung un-
ter Buchstabe a abstimmen. Da empfiehlt der Ausschuss
die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf der Drucksache 17/12696 mit dem Titel
„Öffentlich-Private Partnerschaften - Potentiale richtig
nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transpa-
renz erhöhen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den vorhin genannten
Mehrheiten angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksa-
che 17/9726 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastruktur-
konsens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/5258 mit dem Titel „Transparenz in Public Pri-
vate Partnerships im Verkehrswesen“. Wer stimmt der
Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 e geht es um die
Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rekom-
munalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Part-
nerschaften stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/6515, den
Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Hier geht es
um die Abstimmung über den Antrag der SPD-Fraktion
auf der Drucksache 17/13224 mit dem Titel „Bessere
Politik für einen starken Mittelstand - Fachkräfte si-
chern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen ver-
bessern“. Wer stimmt für diesen Antrag der SPD-Frak-
tion? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, Elke Ferner, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch
- Drucksache 17/13226 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Innenausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohns ({1})
- Drucksache 17/12857 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tabea
Rößner, Memet Kilic, Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit einem Nationalen Aktionsplan die Chancen des demografischen Wandels ergreifen
- Drucksache 17/13246 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordne-1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher
Mindestlohn jetzt
- Drucksachen 17/8026, 17/9613 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda
- Drucksachen 17/12683, 17/13182 Berichterstattung:Abgeordneter Markus Kurth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Was hat Deutschland stark gemacht? Ganz unzweifelhaft die industriellen Fertigkeiten
und unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit, unzweifelhaft unser sehr starker Mittelstand mit einem besonderen unternehmerischen Ethos, unzweifelhaft eine sehr
gute Forschungslandschaft, universitär und außeruniversitär, die duale Ausbildung - das konnte ich gerade
am Sonntag wieder feststellen, als ich erlebte, wie
1 110 Jungmeisterinnen und Jungmeister von der Handwerkskammer in Düsseldorf ihre Urkunden erhalten haben - und die soziale Partnerschaft.
Aber Deutschland hat noch mehr stark gemacht, zum
Beispiel das Aufstiegsversprechen für alle tüchtigen und
fleißigen Bürgerinnen und Bürger oder die Chance auf
einen besseren Bildungsabschluss, als ihn die Eltern hatten, oder die faire Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg
oder intakte Kommunen, die Leistungen für diejenigen
bereitstellen, die sich Bildung, Sport, Kultur, Sicherheit
und Kinderbetreuung nicht privat leisten können, oder
auch der Sinn für Maß und Mitte, für Anstand und Fairness oder ein, wenn man so will, rheinischer Kapitalismus, also eine soziale Marktwirtschaft, die genau erkannt hat, dass der soziale Ausgleich die wesentliche
Voraussetzung ihrer Existenzberechtigung ist.
Was ist nun der Befund heute? Deutschland ist zweifellos nach wie vor ein starkes Land, aber nicht alle haben Zugang zu Teilhabe. Viele sehen ihre Leistung eben
nicht anerkannt, geschweige denn angemessen belohnt.
6,8 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn
von weniger als 8,50 Euro, 1,4 Millionen sogar für weniger als 5 Euro. Fast 1,5 Millionen Menschen zwischen
25 und 35 Jahren haben keinen Schul- und keinen Berufsabschluss. 71 von 100 Akademikerkindern gehen an
die Hochschule, aber nur 24 von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien. Frauen verdienen im Durchschnitt 22 Prozent weniger als Männer. Staat und Politik befinden sich
in einem Schraubstock, ausgelöst durch die Finanzmarktkrise, in der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Sie sind erpressbar geworden. Der
Steuerzahler ist zum Garanten in letzter Instanz geworden. Bezahlbares Wohnen wird inzwischen nicht nur in
Ballungsräumen zu einem Problem.
Wir haben es deshalb inzwischen in meinen Augen
nicht nur mit Parallelgesellschaften in den oberen Etagen
bis hin zum Penthouse unseres gesellschaftlichen Gebäudes zu tun, sondern auch mit Parallelgesellschaften
unten, mit Menschen, die sich deklassiert und ausgegrenzt fühlen, die sich nicht mehr zugehörig fühlen. Wir
haben es nicht nur mit einem Unverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger zu tun, dass die persönliche Leistung immer weniger wichtig und immer weniger wert
ist. Wir haben es mit Engpässen dahin gehend zu tun, öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge für den
überwiegenden Teil unserer Bürgerinnen und Bürger zu
finanzieren.
Aber es ist mehr als das. Wir haben es mit unverhältnismäßigen Boni zu tun, die in keinem Verhältnis zur
Leistung stehen, mit gefälschten Doktorarbeiten, mit
Lobbygesetzen und auch dem lässigen Umgang mit
Steuerbetrug. All dies tritt Werte wie Anstand, Ehrlichkeit und Fairness mit Füßen. So empfinden das viele
Menschen.
({0})
Ich glaube, wir laufen Gefahr, dass Teile der deutschen Eliten und auch politische Beliebigkeit das bürgerliche Wertefundament unterminieren könnten. Ehrliche
Bankkaufleute sind inzwischen Zocker, und Geiz wird
als „geil“ dargestellt und verkauft. Während eine Kassiererin wegen einer Wertmarke für 50 Cent ihren Job verlieren kann, bleiben millionenschwere Steuerbetrüger
entweder in der Anonymität oder werden gar nicht erst
erkannt, oder sie kommen mit einer Nachzahlung davon.
Wie wirkt das auf den überwiegenden Teil der Bürgerinnen und Bürger?
({1})
Aus aktuellem Anlass sage ich: Nicht der Fall Hoeneß
ist das eigentliche Problem,
({2})
sondern die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug
sind das eigentliche Problem, bei dessen Bekämpfung
Sie nicht besonders hilfreich gewesen sind.
({3})
Nicht nur die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug sind das Problem, sondern auch die legale Steuervermeidung von Konzernen, die die nationalen Steuersysteme gegeneinander ausspielen. Nicht der Fall
Hoeneß allein ist das Problem, sondern es sind die
Steueroasen, die Briefkastenfirmen zulassen. Es sind
Banken, die Geschäftsmodelle und Dienstleistungen anbieten, mit denen man Steuerhinterziehung und Steuerbetrug betreiben kann. Es sind vor allen Dingen auch die
Länder, die sich nach wie vor einem automatischen Informationsaustausch verweigern.
Noch einmal klar festgestellt: Die Bundesregierung
hat den Elan, den wir 2009 mit Frankreich und mit der
OECD entfacht haben, um Steuerbetrug und Steuerhinterziehung auf internationaler Ebene zu bekämpfen,
nicht genutzt. Sie haben eingeschlafene Füße gehabt!
({4})
Sie wollten uns ein Steuerabkommen mit der Schweiz
präsentieren, das die Steuerbetrüger in der Anonymität
belassen hätte und mit einem Ablass hätte davonkommen lassen. Das ist das, was Sie uns nach wie vor als
vorbildlich verkaufen wollen. Sie sind nicht einmal in
der Lage gewesen, für Deutschland denselben Informationsaustausch herauszuverhandeln, den die USA bezogen auf ihre Steuerbürger in der Schweiz bekommen haben. Sie versuchen, uns diesen Entwurf, der vonseiten
der SPD und von den Grünen abgelehnt worden ist, bis
heute mit kranken Argumenten schönzureden.
({5})
Wenn wir die Auflösung und Relativierung von Werten wie Anstand, Fairness, Ehrlichkeit und soziale Balance weiter dulden, dann sage ich voraus, dass unsere
gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung über die
Schnödigkeit im Umgang mit diesen Fragen - um einen
Begriff von Theo Sommer, dem früheren Herausgeber
der Zeit, aufzugreifen - in eine Krise geraten wird, weil
die Menschen den Eindruck haben, dass bestimmte Regeln wie Anstand, Fairness und Ausgleich nicht mehr
gelten.
Dann hilft es nicht, im Einzelfall bloß enttäuscht zu
sein, wie wir das gerade bei Frau Merkel erlebt haben,
({6})
sondern man muss sich als Regierungschef oder Regierungschefin gefordert sehen, das Wertefundament von
Politik und Wirtschaft zu erneuern. Das vermisse ich bei
dieser Bundeskanzlerin.
({7})
Es geht der SPD in diesem Zusammenhang nicht um
irgendeine Sozialromantik, und es geht auch nicht darum, im 150. Jahr unseres Bestehens die nostalgische
Beschwörung von Werten zu betreiben. Ich bin vielmehr
davon überzeugt, dass nur eine gerechte Gesellschaft
auch eine starke Gesellschaft ist.
({8})
Ich bin davon überzeugt, dass Gerechtigkeit und ein
sozialer Ausgleich eine der wesentlichen Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg sind.
({9})
Ich bin überzeugt, dass umgekehrt auch gilt, dass der
wirtschaftliche Erfolg eine Voraussetzung ist, um sozialen Ausgleich zu betreiben. Ich bin davon überzeugt,
dass sich eine ungerechte Gesellschaft am Ende für niemanden rechnet, auch nicht für die Wohlhabenden.
({10})
Es ist kein Geringerer als der amerikanische Ökonomienobelpreisträger Joseph Stiglitz gewesen, der ein
Buch mit dem Titel Der Preis der Ungleichheit geschrieben hat, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Er
macht deutlich, dass der Preis der Ungleichheit nicht nur
in einem Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhaltes
besteht, sondern dass die Ungleichheit auch einen ökonomischen Preis hat. Deshalb scheue ich mich nicht, von
einer Ökonomie der Gerechtigkeit zu sprechen. Ich bin
überzeugt, dass Gerechtigkeit nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist,
sondern sich auch für alle rechnet und für alle rechnen
muss.
({11})
Ich will das an einigen wenigen Beispielen deutlich
machen. Die Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt, wenn sie Kinder haben wollen, ist nicht nur individuell ungerecht, sondern sie ist auch volkswirtschaftlicher Unsinn, insbesondere wenn man sich die
Demografie unseres Landes anschaut und weiß, dass
junge Frauen inzwischen bessere schulische, berufliche
und akademische Abschlüsse machen als Männer.
Dumpinglöhne vernichten Arbeitsplätze bei den verantwortungsbewussten Unternehmen, die sich anständig
verhalten.
({12})
Und dann sind wir auch noch in der Verlegenheit, den
Menschen, die Dumpinglöhne bekommen, mit Aufstockerbeträgen zulasten der Steuerzahler helfen zu müssen, was an die 10 Milliarden Euro kosten dürfte.
Ein Bildungssystem, in dem nicht Anstrengung und
Leistung, sondern das Einkommen oder die Beziehungen der Eltern für den Aufstieg sorgen, ist für die gesamte Gesellschaft und für den Erfolg unserer Volkswirtschaft schädlich.
({13})
Gerade wegen der demografischen Entwicklung gilt:
Wir dürfen kein Kind zurücklassen.
({14})
In der Schule muss ebenso wie im Berufsleben und in
Bezug auf Existenzgründungen gelten: Wir brauchen
eine zweite Chance.
Finanziell marode Kommunen und verwahrloste
Städte produzieren auch verwahrloste Seelen und Köpfe.
Sie integrieren sich nicht mehr sozial und kulturell,
sondern sie fühlen sich ausgeschlossen. Sie sind desintegriert, und das verursacht Folgekosten. Das läuft darauf
hinaus, dass wir es anschließend mit sozialen Folgekosten zu tun haben, im Zweifelsfall bis hin zu Verwahrlosung und Kriminalität, weil wir unsere Kommunen
nicht in den Stand versetzt haben, soziale Brennpunkte
zu vermeiden.
({15})
Eine ungerechte Gesellschaft verursacht Sozialkosten: Immer mehr Menschen werden von einer Aufstiegschance ausgeschlossen. In der Folge werden sie
zwangsläufig resignieren und zu reinen Beziehern von
Sozialleistungen. Das ist der Grund, warum wir in einen
vorsorgenden Sozialstaat statt in einen reparierenden Sozialstaat investieren müssen.
({16})
Ein höherer Beitrag derjenigen, die stärkere Schultern
haben, zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, die gleiche
Bezahlung von Frauen und Männern, die angemessene
finanzielle Ausstattung von Kommunen oder auch der
Ausbau der Kinderbetreuung anstelle des Betreuungsgeldes sind daher nicht bloß Einzelentscheidungen, die
hier im Berliner Politikbetrieb quasi aus wahl- und
machtarithmetischen Überlegungen getroffen werden
sollten. All das sind vielmehr Entscheidungen, denen aus
meiner und aus SPD-Sicht eine klare Idee zugrunde liegen muss, wie das Miteinander in unserer Gesellschaft
organisiert werden soll, wie wir gesellschaftliche Teilhabe organisieren, wie wir in einem modernen Deutschland für Gleichberechtigung sorgen können.
({17})
Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der die Bürger sich belohnt fühlen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der Bürger morgens aufstehen und antreten. Es
ist die Idee von einer Gesellschaft, in der man bereit ist,
sich anzustrengen und gegebenenfalls auch Opfer in
Kauf zu nehmen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft,
die Leistung honoriert, die gegen die großen Lebensrisiken wie Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit
absichert, die aber auch allen Menschen eine zweite, gegebenenfalls sogar eine dritte Chance gibt. Es ist die
Idee von einer Gesellschaft, in der Reichtum nicht
verteufelt wird, in der Armut aber auch nicht der Caritas
zugeführt wird.
({18})
Es ist die Idee von einer Gesellschaft, die individuelle
Lebensentwürfe ermöglicht und sich gleichzeitig dem
Gemeinwohl verpflichtet sieht.
Es geht nicht nur um den Preis für eine solidarische
Gesellschaft, sondern es geht in meinen Augen vor allen
Dingen um den Wert einer solidarischen Gesellschaft.
Deshalb will ich sagen: Wettbewerbsfähigkeit und Wertbindung gehören in einem modernen Deutschland nach
Auffassung der SPD zusammen. Genau das ist der
Grund für Deutschlands Erfolgsgeschichte. Genau das
macht die Stärke Deutschlands aus, und genau darum
wird es am 22. September dieses Jahres gehen.
Vielen Dank.
({19})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Ursula von
der Leyen. - Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Steinbrück, so jämmerlich, wie Sie Deutschland sehen,
ist es nicht.
({0})
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“
Das ist ein Wort, das Kurt Schumacher der SPD schon
vor Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben hat. Betrachten wir einmal die Wirklichkeit von heute:
Noch nie hatten wir so viel Arbeit in Deutschland.
({1})
Wir haben heute 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte; das sind 2,6 Millionen mehr, seitdem Angela Merkel Kanzlerin ist.
({2})
Es ist gute Arbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse ist seit 2005 stärker gestiegen als die Zahl der
atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der
älteren Erwerbstätigen über 55 ist um 1,8 Millionen gestiegen, seit Angela Merkel Kanzlerin ist.
({3})
Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in ganz
Europa. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit 2007 um
40 Prozent gesunken.
({4})
Heute sind eine viertel Million Kinder weniger in
Hartz IV. Das ist die Wirklichkeit in dem Land, in dem
Angela Merkel seit sieben Jahren regiert. Die Erfolge am
Arbeitsmarkt kommen bei den Menschen an.
({5})
Ja, Herr Steinbrück, ich habe den Antrag, zu dem Sie
hier heute eigentlich reden sollten, im Gegensatz zu Ihnen gelesen. Von Steuerpolitik steht in dem Antrag der
SPD nichts.
({6})
Aber in dem Antrag steht, dass die Einkommensschere
in Deutschland auseinandergegangen ist.
({7})
Ja, das stimmt. Die Einkommensschere ist durch die
Agenda 2010 auseinandergegangen. Aber seit den letzten drei Jahren schließt sie sich wieder, und zwar dank
der guten Wirtschaftslage und dank der guten Tarifabschlüsse.
({8})
Es ist richtig, dass der Arbeitsmarkt durch die Agenda
2010 geprägt ist; auch das gehört mit zum Betrachten der
Wirklichkeit.
({9})
Sie von der SPD schaffen es, hier einen Antrag einzubringen - über diesen debattieren wir hier -, in dem Sie
auf 14 Seiten wortreich eine Agenda für 2020 darlegen,
ohne auch nur mit einem einzigen Wort die Agenda 2010
zu erwähnen, geschweige denn, dass Sie die Urheberschaft dafür haben.
({10})
Was ist eigentlich mit Ihnen los? Schämen Sie sich dafür, oder was ist mit Ihnen passiert?
({11})
Das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt flexibler zu machen und Menschen in Beschäftigung zu
bringen, die vorher keine Chance hatten. Das wurde erreicht.
({12})
Aber die rot-grüne Agenda war handwerklich so lausig
gemacht, dass sie schwere Gerechtigkeitslücken gerissen
hat, die wir hinterher alle flicken mussten.
({13})
Wir mussten die Konstruktionsfehler der Agenda
2010 beheben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen
die Jobcenterreform um die Ohren gehauen. Wir mussten die Jobcenter auf feste Füße stellen. Hätten wir das
nicht getan, gäbe es heute in Deutschland keine Jobcenter.
({14})
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen Ihre Hartz-IVReform um die Ohren gehauen. Rot-Grün hat die HartzIV-Regelsätze teilweise geschätzt. Wir haben sie berechnet und verfassungsfest gemacht.
({15})
Am schlimmsten ist, dass Rot-Grün die Kinder in
Hartz IV vollständig vergessen hat.
({16})
Keinen einzigen Cent für den Zugang zu Teilhabe und
Bildung der Kinder haben Sie bei der Berechnung von
Hartz IV hineingerechnet. Das hat Ihnen das Verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben. Wir haben das
Bildungspaket eingeführt, weil uns die Chancengerechtigkeit der Kinder am Herzen liegt. Sie reden, wir handeln. So sieht das aus.
({17})
Rot-Grün hat die Zeitarbeit vollständig dereguliert.
Wir halten Zeitarbeit für richtig, aber es muss dabei fair
zugehen. Deshalb haben wir den Mindestlohn in der
Zeitarbeit eingeführt. Wir haben die Drehtürklausel zum
Schutz der Beschäftigten eingeführt. Rot-Grün redet von
Gerechtigkeit, wir handeln, wir setzen sie durch.
({18})
Herr Steinbrück, ich habe zwei Forderungen herausgehört, die Sie in Ihrem 14-seitigen Antrag, den Sie eben
debattieren sollten, erheben. Die eine Forderung lautet:
Steuern rauf! Die andere Forderung lautet: Wir wollen
den Mindestlohn im Parlament diktieren und die Tarifautonomie nicht mehr respektieren!
({19})
Wir gehen einen anderen Weg. Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit ist Gott sei Dank vorbei. FachkräfteBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
sicherung, das ist das große Thema in Deutschland. Wir
wollen benachteiligte Jugendliche in Ausbildung bringen, und zwar jetzt, da sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt dreht. Auf dem Ausbildungsmarkt ist das Angebot an Ausbildungsplätzen derzeit größer als die
Nachfrage. Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. Der Ausbildungspakt ist auf genau diese Jugendlichen konzentriert worden; denn sie brauchen jetzt eine Chance.
({20})
Wir kümmern uns auch um die 25- bis 35-Jährigen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die in der Regierungszeit von Rot-Grün nicht nur die Schule geschmissen,
sondern auch ihre Ausbildung abgebrochen haben.
({21})
Diese Menschen sind jetzt ohne Abschluss in Hartz IV,
und sie brauchen eine zweite und eine dritte Chance.
Diese geben wir ihnen, und zwar mit unserer Initiative
„AusBILDUNG wird was - Spätstarter gesucht“. In den
nächsten drei Jahren wollen wir 100 000 dieser jungen
Menschen zwischen 25 und 35 Jahren zu einem Abschluss führen. Ich freue mich, dass die SPD diese Initiative, die wir auf den Weg gebracht haben, so gut findet,
dass sie sie, nur unter einem anderen Namen, selbst in
ihr Programm schreibt. Sie reden, wir handeln. Hier
sieht man es wieder.
({22})
Das setzt sich bei den Frauen fort. Sie haben eben das
Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ angedeutet. Wie war denn die Geschichte der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
({23})
Wer hat denn 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt?
({24})
Es ist die Union gewesen.
({25})
Wer hat denn dafür gesorgt, dass es ab 2013 den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz gibt? Es ist die Union
gewesen. Sie reden, wir handeln. Wir sorgen für eine
gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
({26})
Wer hat denn den Mindestlohn in der Pflege eingeführt? Es ist diese Regierung gewesen. Vom Mindestlohn in der Pflege profitieren insbesondere Frauen,
meine Damen und Herren. Sie reden, wir handeln. Das
ist das, was sich hier und heute herauskristallisiert.
({27})
Ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Älteren am Arbeitsmarkt. Ich habe vermisst, dass Sie zu
diesem Thema etwas sagen. In Ihrem Antrag steht dazu
etwas, wenn auch in verklausulierter Form. Warum haben Sie darüber nicht gesprochen? Wir debattieren heute
schließlich Ihren Antrag.
Es haben noch nie so viele Ältere über 55 Jahre Arbeit in Deutschland gehabt wie heute.
({28})
Rot-Grün sieht die Älteren immer nur vom Defizit her;
Sie sehen nur, was sie nicht können, und sagen nur, was
Sie ihnen nicht zutrauen.
Wir machen das anders. Wir sind der Meinung, dass
ältere Menschen Lebenserfahrung und Stärken haben.
Wir brauchen sie am Arbeitsmarkt. Deshalb ist uns daran
gelegen, nicht nur dafür zu sorgen, dass sie länger in den
Betrieben bleiben, sondern jetzt auch dafür zu sorgen,
dass gerade die arbeitslosen Älteren bessere Chancen bekommen, eingestellt zu werden. Wir begleiten die älteren Menschen bis in die Betriebe hinein, um ihnen eine
Perspektive zu geben, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
({29})
Auch schwerbehinderte Menschen haben aufgrund
der guten Arbeitsmarktsituation eine große Chance
- auch dazu habe ich von Ihnen nichts gehört; auch was
dieses Thema angeht, haben Sie zu Ihrem Antrag nichts
gesagt -, aber sie profitieren nicht so stark wie alle anderen Gruppen. Deshalb müssen wir noch mehr Anstrengungen unternehmen, um dafür zu sorgen, dass
Menschen mit Behinderung besser in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
({30})
Die Bundesagentur für Arbeit nimmt gezielt 2,5 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand, um diesen Menschen den
Schritt ins Arbeitsleben zu erleichtern. Im Rahmen der
„Initiative Inklusion“ haben wir weitere 100 Millionen Euro alloziert, um dazu beizutragen, dass gerade
junge Menschen mit Behinderung den Weg in die Ausbildung und den ersten Arbeitsmarkt schaffen.
({31})
Meine Damen und Herren, entlarvend ist, dass die
SPD
({32})
in ihrem 14-seitigen Papier über Deutschland 2020 kein
einziges Wort über Zuwanderung oder Integration verliert. Das ist nicht unser Zukunftsbild von Deutschland!
({33})
Wir brauchen die Gruppe der Zuwanderer und der Migranten am Arbeitsmarkt, und wir schätzen sie, meine
Damen und Herren.
({34})
Deshalb haben wir die Anwerbestoppausnahmeverordnung, dieses aufgeblähte Monster, ersatzlos gestrichen.
Wir haben stattdessen die Bluecard eingeführt und die
Beschäftigungsverordnung im Hinblick auf Facharbeiter
neu geordnet. Für uns zählt nicht, woher jemand kommt,
({35})
sondern für uns zählt, ob er oder sie gemeinsam mit uns
dieses Land voranbringen wird. Das ist unsere Haltung
im Hinblick auf Deutschland 2020.
({36})
Meine Damen und Herren, das SPD-Papier - über das
der Kandidat hier leider nicht debattiert hat, das aber auf
der Tagesordnung steht - zeigt, dass die SPD nach der
vollständigen Deregulierung im Rahmen der Agenda
({37})
mit ihrer Agenda 2020 jetzt eine maximale Regulierung
erwartet und anstrebt. Und wie wir eben gehört haben:
Sie reden das Land schlecht. Sie gehen von einem Extrem ins andere.
Wir gehen den Weg der Fairness und der wirtschaftlichen Vernunft,
({38})
wir gehen den Weg der Mitte.
Vielen Dank.
({39})
Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser
Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Klaus Ernst.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist schon bemerkenswert, wie sich hier zwei
Parteien, die sich eigentlich - wie ich in den letzten acht
Jahren im Bundestag erlebt habe - bei sehr vielen Aktionen im Prinzip einig waren, jetzt darüber streiten, wer
von ihnen eigentlich der Schlimmere war.
Ich möchte noch einmal feststellen, Frau von der
Leyen: Das, was Sie eigentlich erreichen wollten - mehr
Beschäftigung in Deutschland -, haben Sie nicht erreicht. Ausschlaggebend ist nämlich nicht, ob mehr
Leute im Niedriglohnbereich beschäftigt sind - da gibt
es natürlich einen Zuwachs - oder ob mehr Leute in befristeter Beschäftigung sind - da gibt es auch einen Zuwachs -, sondern das wirkliche Maß kann nur die Zahl
der geleisteten Arbeitsstunden sein.
({0})
Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hat in der Bundesrepublik Deutschland trotz der Deregulierung am Arbeitsmarkt nicht zugenommen. Das müssen Sie einmal
nüchtern zur Kenntnis nehmen, Frau von der Leyen!
({1})
Die Arbeit ist billiger geworden, die Arbeit ist unsicherer geworden, und die Arbeitsverhältnisse haben
sich für viele Menschen dramatisch verschlechtert.
Ich möchte heute vor allen Dingen etwas zu dem Antrag der Linken zum Mindestlohn sagen. Wir hätten
heute die Chance, gemeinsam - mit Ihnen von den Regierungsfraktionen - eine riesige Ungerechtigkeit in diesem Lande zu beseitigen. Um was geht es? Es geht um
nicht weniger als die Einhaltung unserer Verfassung. In
Art. 1 des Grundgesetzes steht:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Es gehört zur Würde, meine Damen und Herren, dass
Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, von ihrer Arbeit
leben können und nicht hinterher zum Amt gehen müssen, weil das Geld nicht reicht. So etwas entspricht nicht
unserer Verfassung.
({2})
Diejenigen, die 3 oder 4 oder 5 Euro die Stunde verdienen, sind insbesondere Frauen. Mich freut ja Ihr Engagement, Frau von der Leyen - wir haben Sie dabei ja
unterstützt, auch wenn Ihnen Ihre eigene Partei von der
Fahne gegangen ist -, für mehr Frauen in Führungspositionen. Aber wo bleibt Ihr Engagement für die vielen
Frauen in diesem Land - es betrifft überwiegend
Frauen -, die zu niedrigsten Löhnen arbeiten müssen? In
dieser Frage, Frau von der Leyen, haben Sie völlig versagt, da haben Sie null Engagement gezeigt.
({3})
Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen noch einmal in aller
Klarheit sagen: Sie haben einen Eid auf die Verfassung geleistet - und nicht auf das Programm der Arbeitgeberverbände, die die Mindestlöhne eigentlich verhindern wollen.
({4})
Sie regieren mit Ihrer Haltung gegen Mindestlöhne
gegen das Volk. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will Mindestlöhne: Laut Emnid sind es 86 Prozent
der Bürgerinnen und Bürger. Übrigens ist auch eine
Mehrheit in Ihrer Partei für Mindestlöhne. Auch die
Mehrheit der SPD-Wähler ist für einen Mindestlohn. Ich
garantiere Ihnen: Sie werden in dieser Frage schneller
rückwärts laufen, als Sie nach rückwärts gucken können.
Sie werden noch merken - auch bei den Wahlen; das
hoffe ich sehr -, dass Sie eine Mehrheit in diesem Lande
gegen sich haben. Übrigens sind auch die Selbstständigen, Herr Brüderle, für die Einführung eines Mindestlohns. Sie sehen: Auch Ihre Klientel ist in dieser Frage
weiter als Sie selbst.
({5})
Die Koalition hat sich auf die Fahne geschrieben:
Leistung soll sich lohnen. - Ich frage: Lohnt sich denn
tatsächlich eine Leistung bei einem Stundenlohn von
3 oder 4 Euro?
({6})
Wenn man zum Aufstocken zum Amt gehen muss, lohnt
sich diese Leistung nicht. Ein Viertel der Beschäftigten
sind Niedriglöhner. 1,4 Millionen Menschen verdienen
weniger als 5 Euro die Stunde; die Zahlen haben wir hier
des Öfteren diskutiert. Lohnt es sich denn tatsächlich für
einen Rettungssanitäter - das sind die, die uns von der
Straße auflesen, wenn uns etwas passiert ist -,
({7})
etwas zu leisten, wenn er dafür weniger als 9 Euro die
Stunde bekommt? Ist das tatsächlich eine Entlohnung,
die dem angemessen ist, was dieser Mensch leistet? Ich
sage: Die Mehrheit der Menschen ist für einen vernünftigen Mindestlohn, weil ein Mindestlohn etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Mit aller Klarheit: Wer einen Mindestlohn ablehnt, wie Sie das tun, der hat mit der
Mehrheitsmeinung in diesem Land und dem Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger nichts mehr
am Hut.
({8})
Sie werden nicht müde, negative Beschäftigungswirkungen bei der Einführung eines Mindestlohns zu konstatieren. Es gibt weltweit keine einzige Studie - keine
einzige! -,
({9})
die Ihnen mit Ihrer Position recht gibt. Ich möchte bitte
schön gerne einmal wissen, wo Sie diesen Unfug eigentlich herhaben. Die Realität ist ganz anders. Selbst in
England, wo der Mindestlohn schon seit Jahren gilt, sagen
die Unternehmerverbände: keine negativen Auswirkungen.
({10})
Daneben führen Sie gerne das Argument Frankreich
an und sagen: Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit so
hoch, weil es dort einen Mindestlohn gibt. - Wissen Sie,
was das Problem ist? Durch das Lohndumping in der
Bundesrepublik, dadurch, dass wir keine Mindestlöhne
haben und die Löhne sinken, sind wir Mitverursacher
der Arbeitslosigkeit in Frankreich und bei anderen europäischen Nachbarn. Deshalb müssen wir vor dem Hintergrund der internationalen Lage auch bei uns einen
Mindestlohn einführen.
({11})
- Weil ich mich immer freue, wenn Sie sich so aufregen,
will ich natürlich auch noch etwas zur Tarifautonomie
sagen:
Dass Sie sich zum Schutzpatron der Tarifautonomie
machen, ist wirklich interessant. Ich kann mich noch an
Ihre Vorschläge erinnern, das Streikrecht einzuschränken. Hat das die Tarifautonomie gefördert oder eher behindert? Ich kann mich auch noch an Rogowski erinnern, den Arbeitgeberpräsidenten. Der war Ihrem Lager
eh bei weitem näher als jedem anderen hier im Haus. Er
wollte Tarifverträge verbrennen. Und Sie machen sich
zum Schutzpatron von Tarifverträgen! Darüber kann ich
nicht einmal mehr lachen. Das glaubt Ihnen doch kein
Mensch.
({12})
Sie argumentieren, dass die Tarifautonomie letztendlich eingeschränkt werden würde, wenn wir einen Mindestlohn auf einem unteren Level festlegen würden.
Merkwürdigerweise sind die Gewerkschaften, also die
Träger dieser Tarifautonomie, selber dafür, dass Mindestlöhne eingeführt werden. Diese sehen darin also keinen Versuch, die Tarifautonomie einzuschränken. Sie tun
das aber.
({13})
Glauben Sie nicht, dass die Gewerkschaften selber
wissen, was für ihren Job wichtiger ist? Glauben Sie
wirklich, sie brauchen Sie dazu? Glauben Sie wirklich,
die Gewerkschaften brauchen den Rat der FDP dafür,
wie die Tarifautonomie zu verteidigen ist? Das wäre genauso, als wenn der FC Bayern Ihren Rat dafür brauchen
würde, wie man besser Tore schießt.
({14})
Die braucht er überhaupt nicht.
Genauso wenig brauchen die Gewerkschaften Ihren
Rat dafür, wie man Tarifverträge verteidigt; denn ich
sage Ihnen: Sie haben mit Tarifautonomie eigentlich
nichts am Hut. Wenn Sie im Kern Ihrer Gedanken wirklich für Tarifautonomie wären, dann würden Sie dazu
beitragen, dass die Tarifautonomie gestärkt wird.
Was müssten Sie dann machen? Sie müssten dann dafür sorgen, dass wir starke Gewerkschaften haben, die
sich für höhere Löhne einsetzen. Ist das Ihre Position?
Das würde mich wundern. Seit wann ist die FDP für
starke Gewerkschaften? Sie müssten dann auch für eine
Ausweitung des Streikrechts eintreten, weil ein starkes
Streikrecht die Voraussetzung dafür ist, dass die Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie auch tätig
sein können. Sie sind mit Ihrer Politik doch mitverantwortlich dafür, dass es in der westlichen Welt nur noch
zwei Länder gibt, in denen weniger gestreikt wird als in
der Bundesrepublik, nämlich die Schweiz und den Vatikanstaat. Darauf können Sie stolz sein.
Darum sage ich: Wenn Sie sich um die Tarifautonomie kümmern, dann habe ich immer leichte Bedenken.
({15})
Durch die Politik, die wir hier heute auch diskutieren,
sind die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt worden:
Dafür war natürlich die Einführung von Hartz IV verantwortlich, weil die Leute dadurch Angst vor Arbeitslosigkeit haben, was die Kampfkraft der Gewerkschaften
natürlich nicht stärkt. Daneben nenne ich die Deregulierung der Arbeit, die Tatsache, dass Beschäftigte befristet
eingestellt werden, die Leiharbeit und die Werkverträge,
Frau von der Leyen.
Sie nehmen die Gewerkschaften hier immer in die
Pflicht, das vernünftig zu regeln. Gleichzeitig tun Sie
aber nichts dafür, dass die Leiharbeit wieder beschränkt
wird, dass die befristete Beschäftigung eingedämmt wird
und dass der Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen,
egal wie sie bezahlt wird, beseitigt wird. Wenn das so
bleibt, dann schwächen Sie die Gewerkschaften. Deshalb traue ich Ihnen beiden nicht über den Weg, wenn
Sie die Tarifautonomie verteidigen. Sie werden es mir
nachsehen.
({16})
Ich kann Ihnen auch sagen, dass trotz der Tarifverträge niedrige Löhne gezahlt werden: im Fleischerhandwerk 6,19 Euro pro Stunde, in der Floristik 5,26 Euro
pro Stunde, im Garten- und Landschaftsbau - im
Westen - 6,25 Euro pro Stunde. Trotz der Tarifverträge!
Warum - Sie können hier auf die bösen Gewerkschaften schimpfen; die haben das abgeschlossen - ist das so?
Es ist so, weil die Voraussetzung für die Durchsetzung
eines vernünftigen Tarifvertrags ist, dass man stark ist
und streiken kann. Sonst sind Tarifverhandlungen nichts
als kollektives Betteln. Ich habe das oft erlebt. Ich sagen
Ihnen: Wir müssen, wenn wir Tarifautonomie und
Streikrecht verteidigen wollen, alles tun, um die entsprechenden Gesetze zu ändern - und das tun wir leider
nicht.
Ihre Politik ging in die Richtung: Gewerkschaften
schwächen, Löhne senken, und dann sollen es die Gewerkschaften über die Tarifautonomie wieder richten. Das haut nicht hin. Meine Damen und Herren, das, was
Sie eigentlich tun, ist die Verteidigung von Niedriglöhnen. Damit ist die seit Jahren praktizierte Haltung der
Parteien CDU, CSU und FDP mitverantwortlich für
Löhne, von denen Menschen nicht mehr leben können.
Heute hätten wir die Möglichkeit, das zu korrigieren.
({17})
Meine Damen und Herren, ich komme aber nicht umhin, noch einmal anzusprechen, warum dieses Problem
überhaupt vorhanden ist. Kanzler Schröder hat explizit
gesagt, er möchte die Einführung eines Niedriglohnsektors, und hat sich dafür selber gelobt. Dafür wird er von
der SPD auch heute noch auf den Sockel gestellt.
Es wird immer wieder behauptet, die SPD habe damals den Mindestlohn nicht eingeführt, weil die Gewerkschaften dagegen gewesen seien. Das ist eine interessante Argumentation. Die Gewerkschaften waren ja
auch gegen die Agenda 2010, und trotzdem hat die SPD
sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren auch gegen
die Rente mit 67, und trotzdem hat die SPD sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes, und trotzdem hat die SPD sie
durchgesetzt. Zu sagen „Die Gewerkschaften waren
schuld, dass wir den Mindestlohn nicht eingeführt haben“, das ist wirklich pure Heuchelei.
({18})
Ich bin trotzdem froh, dass Sie zumindest in dieser
Frage auf den Pfad der Tugend zurückgekommen sind.
Deshalb werden wir dem Entwurf eines Gesetzes über
die Festsetzung eines Mindestlohns zustimmen, obwohl
ich der geplanten Mindestlohnhöhe eigentlich nicht zustimme; 8,50 Euro sind zu wenig. Das wäre ein Lohn zulasten Dritter. Jeder, der einen solchen Lohn sein ganzes
Leben bekommt, ist später auf Grundsicherung im Alter
angewiesen. Das wollen wir nicht. Deshalb sind wir für
einen Mindestlohn von 10 Euro.
Danke fürs Zuhören.
({19})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine große Inszenierung war geplant. Die SPD-Fraktion
verfasst, wie ich jetzt feststellen muss, mit heißer Feder
einen Antrag „Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch“. Der Kanzlerkandidat gibt den Arbeiterführer.
Wenn das, was Sie, lieber Peer Steinbrück, heute Morgen hier abgeliefert haben, Ihr Ziel ist, dann muss ich sagen: Das war einfach blamabel.
({0})
Es ist deutlich geworden, warum Sie bei den Menschen
in diesem Lande nicht ankommen: weil das, was Sie sagen, abgehoben wirkt. Sie stehen nicht für das, was Sie
sagen. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern.
Sie reden viel über Chancengerechtigkeit; aber als
Kanzlerkandidat stehen Sie für eine Politik der Umverteilung. Das ist ein Widerspruch. Das passt nicht zusammen. Das muss man hier sehr deutlich feststellen. - Umverteilung, das ist die Sozialpolitik der Gleichheit. Das
mag für Sie noch gelten. Aber Chancengerechtigkeit, das
ist die Sozialpolitik der Freiheit, lieber Peer Steinbrück,
und damit hat die SPD und damit haben Sie persönlich
nichts am Hut. Das will ich hier einmal sehr deutlich sagen.
({1})
Immerhin hat er es geschafft - das muss ich einräumen -, zu dieser Debatte zu kommen. Als wir heute
Morgen über den Mittelstand gesprochen haben, den Sie,
lieber Peer Steinbrück, in Ihrer Rede ja so hoch gelobt
hatten, da konnten Sie Ihre Anwesenheit offensichtlich
nicht einrichten. Ich weiß nicht, ob Sie keine Lust oder
keine Zeit hatten oder ob einfach das schlechte Gewissen
Grund für Ihre Abwesenheit gewesen ist. Schließlich
wissen Sie natürlich, was Sie dem Mittelstand mit ihren
steuerpolitischen Vorhaben zumuten. Das geht an die
Wurzel unserer Volkswirtschaft. Den kleinen und mittelständischen Unternehmen, den Handwerksbetrieben, den
kleinen Einzelhändlern, den Freiberuflern wollen Sie ans
Zeug,
({2})
und damit werden Sie eine erfolgreiche Wirtschaft nicht
auf- und ausbauen können.
({3})
Wer die Wörter „Bildung“ und „Bildungsgerechtigkeit“ in den Mund nimmt - nichts „hätte, hätte, hätte“,
lieber Peer Steinbrück -, der muss sich auch fragen lassen, wie es er bzw. die Parteifreunde, die Genossinnen
und Genossen, dort halten, wo sie die Mehrheit haben.
Bildung findet dadurch statt, dass Unterricht in Schulen
gegeben wird. Wie sieht es denn in einem Land wie Hessen, schwarz-gelb regiert, aus? Da werden in diesem
Schuljahr 2 000 Lehrer neu eingestellt.
({4})
In Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün vor kurzem die
Macht übernommen hat, werden 7 000 Lehrerstellen abgebaut.
({5})
- Sie können gleich etwas dazu sagen, Guntram
Schneider. - Das ist das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen. Das hilft jungen Menschen
nicht weiter.
({6})
Wer das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde führt, der
muss sich auch fragen lassen, wie er es mit der Leistungsgerechtigkeit hält. Da ist das Thema „kalte Progression“ eines, das wir hier auf den Tisch bringen müssen, und wir tun das auch heute; denn die SPD war es,
({7})
die im Bundesrat verhindert hat, dass die Vorschläge
zum Abbau der kalten Progression Gesetz werden. Sie
haben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - der
Krankenschwester, dem Handwerker, dem Facharbeiter nicht gegönnt, dass sie, wenn sie eine Lohnerhöhung
oder Gehaltserhöhung erhalten, von dieser auch wirklich
profitieren. 3,5 Milliarden Euro wären das für die Menschen in diesem Lande gewesen.
({8})
Die SPD, die einmal von sich behauptet hat, sie sei
die Partei der kleinen Leute,
({9})
hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss gegen
diese Vorhaben votiert.
({10})
- Das ist wahr, liebe Kollegin Ferner. Da können Sie hier
gestikulieren, wie Sie wollen. Das wird mit Ihnen am
Ende dieser Legislaturperiode nach Hause gehen.
({11})
Wir wollen die Menschen entlasten, wir wollen, dass
sie mehr Netto vom Brutto haben. Da, wo wir es konnten, haben wir es getan: Durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge haben wir eine Entlastung um
10 Milliarden Euro realisiert. Da, wo wir Sie brauchten,
haben Sie die Hand verweigert.
({12})
Sie wollten die Menschen in diesem Lande nicht entlasten,
({13})
und es ist schändlich, dass Sie sich so verhalten haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Das, was Sie sagten, lieber Peer Steinbrück, hat deswegen nicht verfangen, weil schon Ihr Ansatz der falsche ist. Sie mussten ja selbst einräumen: Deutschland
ist ein starkes Land. - Ja, und auch die letzten vier Jahre
sind gute Jahre für Deutschland und für die Menschen in
Deutschland gewesen,
({15})
mit guten Arbeitsplatzchancen, mit guten Lohn- und Gehaltssteigerungen. Deswegen können Sie hier dann nicht
den Miesmacher geben, was Ihnen offensichtlich Ihre
Partei so aufgeschrieben hat. Wenn Sie also noch einmal
den Arbeiterführer versuchen, sollten Sie dies unbedingt
auch mit einem neuen Redenschreiber angehen.
({16})
Das ist mein Rat, den ich Ihnen hier noch einmal sehr
deutlich mitgeben will.
({17})
Nein, das, was die SPD hier präsentiert, ist politische
Beliebigkeit. Ich habe Ihren Antrag gelesen und sehe es
so ähnlich wie die Ministerin. Ich habe gedacht: Nach
der Agenda 2010 kommt jetzt ein großer Wurf, Deutschland 2020. - Aber es ist wirklich viel heiße Luft. Ich
sage es Ihnen noch einmal: Bei einem zweiten Aufguss
kommt, wenn Sie sich einen Kaffee kochen, nur noch
eine dünne Brühe heraus. Genau das ist der Antrag der
SPD, der heute hier in Rede steht.
({18})
Damit können Sie nicht erfolgreich sein.
Vier gute Jahre haben verdient, in die Verlängerung
zu gehen. Deswegen werden wir bis zum 22. September
dafür kämpfen und auch gewinnen. Deutschland hat vier
weitere gute Jahre verdient.
({19})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unsere Kollegin Frau Katrin Göring-Eckardt.
Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Frau von der Leyen, letzte Woche haben alle darauf
gewartet, dass Sie hier etwas sagen würden. Diese Woche haben Sie geredet - um Ihr politisches Überleben.
Sie hatten nichts zu sagen, die eigenen Leute sind nicht
dagewesen, und Beifall haben Sie höchstens dünnen bekommen.
({0})
Das muss man vielleicht einmal klar und deutlich sagen: Das, was Sie denjenigen vorwerfen, die die Agenda
2010 mit dem klaren Ziel auf den Weg gebracht haben,
zu fördern und zu fordern, haben Ihre Leute im Bundesrat gemacht,
({1})
egal ob es um die Leiharbeit ging, egal ob es um das immer weitere Herunterschrauben der Regelsätze ging. Das
waren Sie, das waren nicht SPD und Grüne. Sie sind diejenigen gewesen, die das verschlimmbessert haben,
({2})
gerade für die Arbeitslosen, gerade für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber dann behaupten Sie
hier, Sie handelten.
({3})
Frau von der Leyen, letzte Woche haben Sie weder
geredet noch gehandelt; aber das sei einmal dahingestellt.
({4})
Ansonsten sind Sie nichts weiter als eine große Ankündigungsministerin, auch heute wieder. Sie haben die Lebensleistungsrente angekündigt. Wo ist sie denn? Sie haben die Bekämpfung der Altersarmut angekündigt.
Nichts ist passiert. Sie haben angekündigt, als alle davon
redeten, dass der Stress am Arbeitsplatz zunimmt, Sie
machten eine Antistressverordnung. Nichts! Sie haben
Verbesserungen der Werkverträge angekündigt. Nichts!
Sie haben sich für den Mindestlohn eingesetzt. Nichts ist
passiert.
({5})
Entgeltgleichheit, Quote - wir könnten jetzt eine Stunde
lang darüber reden, was Sie nicht gemacht haben. Das ist
peinlich, und das ist nicht im Sinne der Menschen.
({6})
Reden wir über die Realität. Herr Rösler hat diese
Woche seiner Partei gesagt, sie möge doch bitte einmal
beim Thema Mindestlohn die Lebensrealität der Menschen in den Blick nehmen. - Wir stellen fest: Die FDP
regiert seit vier Jahren, und zwar nach eigenen Angaben
seit vier Jahren an der Lebensrealität vorbei.
({7})
Was ist die Realität?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Kolb?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute in Deutschland
- Stichtag 25. April 2013 - für rund 4 Millionen Menschen Mindestlöhne gelten
({0})
und dass diese branchenbezogenen Mindestlöhne auf der
Basis von Tarifverträgen eingeführt wurden?
Wären Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
der weit überwiegende Teil dieser Mindestlöhne, nämlich für 3,8 von 4 Millionen Menschen, unter schwarzgelben Regierungen eingeführt wurde,
({1})
1996 im Baubereich beginnend und in dieser Legislaturperiode für 2,1 Millionen Menschen fortgesetzt? Das
zeigt, dass wir die Realität der Menschen längst im Blick
haben und dass wir da, wo es erforderlich ist, entsprechend reagieren.
Was uns von Ihnen unterscheidet, ist, dass Sie glauben, mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn die Menschen glücklich machen zu können. Ich
sage Ihnen - ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen -:
Es ist eben nicht vorstellbar, dass ein gleiches Lohnniveau in der Oberlausitz, im Bayrischen Wald, in Ostfriesland genauso Gültigkeit haben kann,
({2})
wie das beispielsweise im Rhein-Main- oder im RheinNeckar-Raum, in Hamburg, Düsseldorf oder München
der Fall ist.
({3})
Das geht nicht. Aber wir haben immer gesagt: Branchenbezogene Mindestlöhne gehen. Das ist der Weg, den wir
in Nürnberg weiter ins Auge fassen wollen.
Das ist Ihre Frage.
Herr Kolb, ich meine, Sie müssen mit Ihrem Parteivorsitzenden darüber reden, warum er jetzt sagt, die FDP
müsse einmal die Lebensrealität zur Kenntnis nehmen.
Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.
({0})
Ich kann Ihnen aber sagen, wie die Situation tatsächlich ist: 6,8 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten
für einen Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das sind diejenigen, die arbeiten und dann aufstocken müssen.
({1})
Das sind diejenigen, bei denen nicht mehr von Leistungsgerechtigkeit die Rede ist, sondern die zu echten
Hungerlöhnen in Deutschland arbeiten. Das sind zum
Teil übrigens auch diejenigen, die in Branchen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen arbeiten. Wissen Sie,
was passiert? Sie bekommen Löhne von zum Teil unter
5 Euro.
({2})
Davon kann man nicht leben. Da kann man auch nicht
mehr davon reden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber
auf Augenhöhe miteinander verhandeln.
Diese Woche, sehr geehrter Herr Kolb, haben wir das
gesehen, von dem Sie behaupten, dass es nicht funktioniert: Diese Woche hat das Friseurhandwerk einen Mindestlohn von 8,50 Euro verabredet.
({3})
Sie behaupten immer: In einem solchen Fall gehen die
Arbeitsplätze flöten. - Sie sind auf dem völlig falschen
Dampfer, Herr Kolb. Sie haben nicht in den Blick genommen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn für alle Gerechtigkeit bedeutet.
({4})
Mit einem Mindestlohn bekommt man Fachkräfte und
vermeidet einen Flickenteppich in Deutschland nach
dem Motto: Die einen so, die anderen so. Wir sorgen dafür, dass es eine gesetzliche Untergrenze gibt. Das hat
mit Gerechtigkeit zu tun. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit zu tun. Das hat damit zu tun, dass man endlich
anerkennt, was die Leistung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer wert ist, Herr Kolb.
({5})
Ich will gerne bei der Lebensrealität bleiben. Drei
Viertel der über 7 Millionen Minijobberinnen und Minijobber in Deutschland arbeiten für einen Stundenlohn
von weniger als 8,50 Euro. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun. Ein Viertel der Erwerbstätigen sind
inzwischen atypisch beschäftigt. Sie können mir doch
nicht sagen, dass Leiharbeit, dass befristete Beschäftigung, dass geringfügige Beschäftigung, wie sie im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufgelistet werden, jedenfalls in dem Teil, den Sie mit
unterschrieben haben, irgendetwas mit einer Verbesserung der Situation am Arbeitsmarkt zu tun haben. Das
Gegenteil ist der Fall.
({6})
Insbesondere die Situation der Frauen - da muss man
wieder Frau von der Leyen in den Blick nehmen - ist ein
Desaster. Fast jede dritte Frau in Deutschland arbeitet für
einen Niedriglohn. Die Zahl der Frauen, die von ihrer
Arbeit nicht leben können, hat sich seit 2005 verdoppelt.
Das ist doch keine Erfolgsbilanz, Frau von der Leyen.
Das ist definitiv das Gegenteil.
({7})
Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Lebensrealität in Deutschland, was Leiharbeit, Mindestlöhne, die
es nicht gibt oder die viel zu gering sind, und die Situation gerade der Minijobberinnen angeht, hat mit dem,
was Sie behaupten, nichts zu tun. Minijobberinnen bekommen in der Regel keinen Einstieg in eine reguläre
Beschäftigung. Sie, meine Damen und Herren von den
Koalitionsfraktionen, behaupten zwar ständig, Minijobs
seien eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Aber die
Frauen, die heutzutage Minijobs haben, kommen zum
allergrößten Teil nicht in reguläre Beschäftigung. Sie
landen entweder wieder zu Hause, in einer kleinen Teilzeitstelle oder in irgendwelchen Überbrückungsmaßnahmen. Sie sind außerdem nicht abgesichert. Deswegen
brauchen wir zuallererst eine Gleichbehandlung der
Minijobs, wenn es beispielsweise um Arbeitslosigkeit,
Pflegebedürftigkeit und Urlaubsansprüche geht.
({8})
Entsprechende Sofortmaßnahmen würden den Minijobberinnen und Minijobbern helfen und sie nicht länger
als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse
erscheinen lassen. Das sind sie heute tatsächlich. Die
meisten haben nur einen Minijob und nichts anderes.
({9})
Was mich am meisten aufregt, ist, dass Sie gerade die
Arbeitslosen in Deutschland, diejenigen, die arbeiten
wollen, zunehmend so behandeln, als ob diese nicht
mehr in Ihrem Fokus stünden. Sie haben beim Eingliederungstitel immer weiter gekürzt. Nun wird wieder die
Diskussion aufkommen, ob pro Kopf gekürzt wurde
oder nicht. Ich sage Ihnen: Ja, Sie haben etwa ein Viertel
des Geldes für jede und jeden, die bzw. der in Deutschland leistungsberechtigt ist, gekürzt. Das hat nichts mehr
mit Fördern zu tun. Gleichzeitig werden so viele Sanktionen ausgesprochen wie nie zuvor. Sie gängeln die
Arbeitslosen, anstatt ihnen zu helfen, wieder auf dem
ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Eine Alleinerziehende, die Kinder unter drei Jahre aufzieht, braucht
natürlich Unterstützung und Hilfe. Deswegen sage ich
Ihnen ganz klar: Ihre Kürzungen gehen zulasten der
Leistungsberechtigten und der Arbeitslosen. Dabei
brauchen wir diese Menschen dringend als Fachkräfte in
unserem Land.
({10})
Damit sind wir beim Fachkräftemangel. Eric
Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelskammertags, hat gesagt, wir müssten jeden Monat 10 000 Einwanderer in Deutschland aufnehmen, um
dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wir brauchen dringend eine vernünftige Einwanderungspolitik, die das angeht. Ja, wir brauchen mehr Frauenerwerbstätigkeit. Ja,
wir brauchen mehr und besser ausgebildete Jugendliche.
Ja, wir brauchen eine Kultur gegen Altersarbeit. All das
brauchen wir.
Ich will abschließend sagen: Es geht nicht nur darum,
dass wir endlich dafür sorgen müssen, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber wieder auf Augenhöhe sind,
sondern auch darum, ob Deutschland wettbewerbsfähig
ist, ob Fachkräfte hierherkommen und hierbleiben. Die
soziale Frage ist in ökonomischer Hinsicht mindestens
genauso entscheidend wie alles andere. Da haben Sie
versagt. Das müssen Sie sich in das Stammbuch schreiben lassen. Auch darüber wird am 22. September entschieden.
({11})
Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist
Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl
Schiewerling.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man reibt
sich verwundert die Augen und fragt sich: Schauen wir
auf die Realität, oder stehen wir mitten in einer Nebelwolke? Was Sie bislang hier abgeliefert haben, ist nichts
anderes als Nebelkerzen, die dazu dienen, den Blick auf
die Realität völlig zu verstellen.
({0})
Die Bundesarbeitsministerin hat vorhin in aller Deutlichkeit dargelegt, wie sich die Arbeitsmarktsituation
entwickelt hat. Es gibt mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Wollen Sie uns eigentlich ankreiden,
dass 29,8 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind? Wollen Sie uns wirklich ankreiden, dass nun insgesamt fast 42 Millionen Menschen
in Beschäftigung sind? Wollen Sie uns Rekordüberschüsse in den sozialen Sicherungssystemen ankreiden?
Wollen Sie uns eigentlich dafür ausschimpfen, dass es
den Menschen in unserem Land besser geht? Was ist das
denn für eine Mentalität, wie Sie über Deutschland
reden? Nutzen Sie den 1. Mai als Gelegenheit, um den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen: Noch
nie in den vergangenen Jahren haben die Menschen laut
Umfragen so wenig Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt
wie heute. - Das ist die Realität, in der wir leben.
({1})
All dies haben wir übrigens erreicht, obwohl uns zu
Beginn dieser Koalition vorgeworfen wurde, wir würden
massiv in Rechte der Arbeitnehmer eingreifen wollen.
Nichts ist passiert. Der Kündigungsschutz wurde nicht
gelockert. Es hat keine Benachteiligung oder Hintanstellung der Gewerkschaften gegeben. Trotzdem oder gerade deswegen haben wir eine hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in unserer Wirtschaft.
Ich denke, das sind die Botschaften, die wir hier auszusenden haben.
Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit unserer
Bundesarbeitsministerin ein Dankeschön dafür, dass sie
es ist, die immer wieder auf die Situation der Kinder und
Jugendlichen hinweist,
({2})
dass sie es ist, die immer wieder das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Frage der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben aufgreift und umsetzt.
({3})
Ich verschweige auch nicht, Herr Kollege Heil und
alle anderen, dass wir diese Dinge im Vermittlungsausschuss, in der gemeinsamen Runde zwischen Bundestag
und Bundesrat, verhandelt haben. Es war ein mühsames
Ringen. Aber die Initiative, den richtigen Weg einzuschlagen, hat die Bundesarbeitsministerin ergriffen.
({4})
Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ändert nichts daran, dass es in Deutschland Branchen gibt,
in denen es der einen oder anderen Firma schlecht geht,
zum Beispiel Opel in Bochum, wo die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz bangen.
Heute diskutiert der Landtag in Nordrhein-Westfalen in
einer Aktuellen Stunde über die Situation von Opel in
Bochum. Ich habe mich doch sehr gewundert, dass der
zuständige Landesarbeitsminister nicht an seinem Arbeitsplatz in Düsseldorf ist, sondern sich hier befindet.
({5})
Kommen wir zum Inhalt Ihres Antrages. Dort heißt
es: „Die Gesellschaft driftet auseinander.“ Hätten Sie
den viel zitierten Armuts- und Reichtumsbericht gelesen, dann hätten Sie gesehen, dass die verfügbaren
Einkommen steigen. Unter Rot-Grün ist die Einkommensschere auseinandergegangen. Seit 2005 geht die
Einkommensspreizung zurück, und gerade die realen
Haushaltseinkommen der unteren 40 Prozent der Einkommensbezieher sind stärker als beim Rest der Bevölkerung gestiegen.
({6})
Das ist die Wahrheit. Auch wenn das, was Sie verkünden, etwas anderes aussagt: Es stimmt nicht. Vor diesem
Hintergrund stellen Sie sich jetzt hin und sagen: Wir
machen alles noch gerechter, wir ändern dieses und jenes
und machen es solidarischer. Dabei gerät bei Ihnen immer wieder die Zeitarbeit in den Mittelpunkt.
Ich kann es nur wiederholen: Die Änderungen in der
Zeitarbeit sind ohne den Bundesrat und ohne die Beteiligung der Union passiert. Rot-Grün hat in den HartzGesetzen die Zeitarbeit so flexibilisiert, dass sie diese
Entwicklung genommen hat.
({7})
Ich kann nur sagen: Wir haben die Schlecker-Drehtürklausel eingeführt, um die Dinge gerechter zu machen.
Wir haben die Tarifpartner dazu gebracht, einen Mindestlohn zu vereinbaren.
({8})
Wir sind diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass die
Menschen in diesem Bereich nach und nach Equal Pay
bekommen, was übrigens den Gewerkschaften sehr genutzt hat. Vor kurzem haben uns noch Gewerkschaftsvertreter gesagt, dass sie gerade aus der Zeitarbeit viele
neue Mitglieder gewinnen konnten,
({9})
weil die Menschen gemerkt haben, dass die Gewerkschaften für sie vieles erreicht haben. Herzlichen
Glückwunsch! Wir freuen uns darüber. Das ist der richtige Weg und eine gute Botschaft zum 1. Mai.
({10})
Jetzt wollen Sie doch wohl bei 29,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, von denen gerade
einmal 800 000 als Zeitarbeiter arbeiten, nicht das
blanke Elend Deutschlands beschwören. Sie wollen
doch wohl nicht die blanke Verelendung Deutschlands
an diesen 800 000 Menschen festmachen, die auch noch
Löhne erhalten, die die Gewerkschaften ausgehandelt
haben,
({11})
und zudem noch sukzessive Equal Pay bekommen. Ich
halte das für ein starkes Stück, was Sie den Deutschen
hier vorführen.
({12})
Lassen Sie mich einen Satz zu den Minijobs sagen,
weil Frau Göring-Eckardt gerade darauf eingegangen ist.
Auch dieses Thema ist dazu geeignet, riesige Nebelwolken zu erzeugen. 6,9 Millionen Menschen arbeiten in
Minijobs.
({13})
Davon sind fast 20 Prozent Jugendliche bzw. Schüler
und Studenten. Dazu kommen 20 bis 25 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Die Aufstockungsmöglichkeiten
und die Minijobs, die sich dann ausgeweitet haben
- auch das will ich Ihnen klar sagen, Frau GöringEckardt -, sind ohne Zutun der CDU/CSU und der FDP
2003/2004 in den Hartz-Gesetzen verankert worden.
({14})
Sie haben die Möglichkeit eröffnet, dass man nicht
nur ein normales sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis haben kann, sondern darüber
hinaus auch einen Minijob, der dann steuerlich nicht angerechnet wird. Das haben nicht wir gemacht, sondern
Sie. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Minijobs
explosionsartig um 2,3 Millionen angestiegen. Auch das
gehört zur Wahrheit. Stellen Sie es hier nicht anders dar!
({15})
Wir haben die Opt-out-Regelung eingeführt,
({16})
sodass die Menschen, die jetzt einen Minijob haben,
rentenversicherungspflichtig arbeiten, es sei denn, sie erklären sich gegen die Versicherungspflicht. Das hat dazu
geführt, dass wir mittlerweile einen deutlichen Anstieg
der Zahl der rentenversicherungspflichtigen Minijobber
verzeichnen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch kurz einen Satz zum Mindestlohn sagen.
({17})
Auch hier ist wirklich eine Nebelkerze geworfen worden. Wir wollen den tariflichen Mindestlohn. Wir wollen
einen Mindestlohn, den Arbeitgeber und Gewerkschaften gefunden haben. Wir wollen den Mindestlohn, der
vor allen Dingen dort eingeführt wird, wo keine ordentlichen Tarifverträge bestehen.
({18})
Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von Arbeitgebern
und Gewerkschaften erarbeitet wird. Das ist etwas völlig
anderes als ein hier im Parlament kurz vor den nächsten
Bundestagswahlen im Wettbewerb zwischen SPD, Linken und den Grünen nach oben getriebener Mindestlohn,
der jetzt bei der SPD bei 8,50 Euro liegt und bei den Linken bei 10 Euro. Ich bin gespannt, womit andere noch
kommen werden, ob er weiter nach oben getrieben wird.
Das ist keine ordentliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Diese Politik würde zu einer Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit führen; denn es ist eine Politik der Arbeitsplatzvernichtung, wie wir in einigen Ländern
Europas beobachten können.
({19})
Aber ein Mindestlohn, den die Tarifpartner finden, ist
vernünftig, ist sachgerecht und orientiert sich an der
Lebenswirklichkeit der Menschen.
Meine Damen und Herren, für diese ordentliche,
sachgerechte Politik werden wir uns weiter einsetzen.
Dafür werden wir kämpfen.
({20})
Das ist Politik der Union. Wir verstehen unter sozialer
Gerechtigkeit, Menschen auch teilhaben zu lassen. Achten Sie darauf, dass Sie die Welt nicht so schwarz
malen, dass Sie hinterher selbst nicht mehr durchblicken!
Herzlichen Dank.
({21})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. - Bitte schön, Herr Guntram Schneider.
({0})
Guntram Schneider, Minister ({1}):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Kollege Schiewerling, eine Bemerkung: In
Nordrhein-Westfalen gibt es einen Arbeitsminister, der
auch etwas von Wirtschaft versteht,
({2})
und es gibt einen Wirtschaftsminister, der auch etwas
von Arbeit versteht.
({3})
Wir arbeiten da im Team, und machen Sie sich keine
Sorgen über die Präsenz des Wirtschafts- und des
Arbeitsministers bei der heutigen Plenardebatte in Düsseldorf zum Thema Opel.
({4})
Im Übrigen hat ja Ministerpräsident Rüttgers schon einmal durch persönliche Anwesenheit
({5})
in Detroit Opel in Bochum gerettet. Ich habe mir sagen
lassen, er ist kaum über das Pförtnerhäuschen hinausgekommen.
({6})
Auch dies gehört zu den Realitäten.
Verehrte Frau Bundesministerin, Sie haben den Beitrag von Herrn Steinbrück als jämmerlich bezeichnet.
({7})
Ich muss Ihnen eines sagen: Es ist jämmerlich, wie Sie,
obwohl noch im Amt, mit der Sozialgeschichte umgehen.
({8})
Es waren doch nicht Sie, die den Mindestlohn in der
Zeitarbeit eingeführt haben. Dieses Thema ist im Rahmen der Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabepaket verhandelt worden,
({9})
Minister Guntram Schneider ({10})
und wir haben Ihnen dies abgerungen. Da waren Sie
noch gar nicht so weit,
({11})
und die Herren Schiewerling und Kolb waren auch intellektuell noch nicht so weit,
({12})
um zu verstehen, dass dies notwendig ist.
Ähnlich war es auch mit der Schulsozialarbeit. Auch
da haben wir einen großen Wurf gelandet. Jetzt geht es
darum, hier Anschlussregelungen zu finden, weil sich
herausgestellt hat: Die Benachteiligung von armen Kindern kann man nicht nur mit Geld ausgleichen, sondern
man muss vor allem die Strukturen verbessern. Dabei
spielt die Schulsozialarbeit eine herausragende Rolle.
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es in unserer
Gesellschaft nicht nur Armut. Auch der nordrhein-westfälische Armuts- und Reichtumsbericht - wir waren da
schneller als die Bundesebene; wir brauchten nicht so
viel nachzuarbeiten ({13})
zeigt auf: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr
Menschen, denen es gut bis sehr gut geht; andererseits
gibt es immer mehr Menschen, denen es schlecht geht,
die arm sind. - Wir verkleistern da nichts; das überlassen
wir anderen.
({14})
700 000 arme Kinder in Nordrhein-Westfalen, das ist
skandalös.
({15})
Wir halten uns an die alte Maxime: Politik beginnt damit, dass man sagt, was Sache ist,
({16})
und nicht mit schöngeistigen Verkleisterungen, die dafür
sorgen, dass die Realitäten nicht zum Vorschein kommen.
Es gibt also immer mehr Armut. Natürlich haben wir
auch mehr versicherungspflichtige Beschäftigung. Aber
ich sage Ihnen nochmals: Sozial ist nicht, was Arbeit
schafft
({17})
- Sie haben es immer noch nicht begriffen! -, sondern
sozial ist, was gute Arbeit schafft.
({18})
Zur guten Arbeit gehört, dass man mit dem Einkommen
sein Auskommen hat. Weil das in immer weniger Bereichen der Fall ist, brauchen wir einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.
({19})
Sie wollen im Grunde genommen das Gegenteil. Sie
wollen eine Regelung, die zu einem Flickenteppich führen würde.
({20})
Sie reden immer noch davon, dass die Höhe der Einkommen entscheidend dafür ist, welche Qualität und
Güte Arbeitsplätze haben. Nach dieser Logik müsste
Mecklenburg-Vorpommern eine blühende Wirtschaftslandschaft sein und München das Armenhaus der Republik. Bekannterweise ist das nicht so. Natürlich spielt die
Höhe der Einkommen eine Rolle; aber das ist nicht entscheidend.
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, einem Industrieland; da funktioniert die Tarifautonomie noch.
({21})
Aber wir haben auch Unternehmen, in denen der Krankenstand höher ist als der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Da können Sie nicht erwarten, dass es über die
Tarifvertragsparteien zu ordentlichen Mindestlöhnen
kommt. Deshalb brauchen wir gesetzliche Regelungen.
({22})
Wir beginnen hier mit 8,50 Euro.
({23})
Wir wollen keine parteipolitische Auseinandersetzung
um die Höhe des Mindestlohns.
({24})
Wir wollen ein Modell in Anlehnung an das, was in
Großbritannien praktiziert wird. Da gibt es eine Kommission, die unter Einbeziehung der Preissteigerungsrate, der Lohnentwicklung und der allgemeinen Produktivitätsentwicklung - das ist das Entscheidende Vorschläge für die Fortentwicklung des allgemeinen ge29692
Minister Guntram Schneider ({25})
setzlichen Mindestlohns macht. Auf diesem Wege sind
keine Arbeitsplätze gefährdet worden.
Natürlich kann man Mindestlöhne nicht nach Gutdünken festsetzen.
({26})
Mindestlöhne müssen auch durch wirtschaftliche Leistung untersetzt werden.
({27})
- Das ist kein Widerspruch in sich. Wenn das ein Widerspruch in sich wäre, dann hätten wir in 21 Ländern in der
Europäischen Union wirtschaftliche Hasardeure.
({28})
- Die haben doch keine hohe Arbeitslosigkeit wegen der
Mindestlöhne.
({29})
Vereinfachen Sie doch nicht das Problem!
({30})
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:
Über 80 Prozent der Menschen wollen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Sie sollen nicht die Letzten sein, die ihn bekommen; ich stelle dies so fest. Wenn
Sie weiter argumentieren wie bisher, dann werden Sie zu
den letzten ökonomischen Exoten in diesem Land gehören. Deshalb noch einmal: Passen Sie auf! Sie werden
nicht darum herumkommen, hier zu handeln.
({31})
Die Frau Bundesministerin hat ein wichtiges Stichwort genannt: Einwanderungspolitik. Sehr richtig. Auch
ich bin davon überzeugt, dass wir eine organisierte Einwanderung brauchen. Aber wenn Sie dies durchsetzen
wollen, Frau von der Leyen, dann haben Sie in Ihrer eigenen Partei noch viel Aufräumarbeit zu leisten. Ich erlebe das in NRW jeden Tag.
({32})
Die Konservativen haben immer noch nicht verstanden,
dass wir ein Einwanderungsland sind. Ich warne davor,
mit stumpfen Ablehnungen gegenüber allem, was
fremdartig ist, unsere Möglichkeiten für eine organisierte Einwanderung zunichtezumachen.
({33})
Das passt nicht zusammen. Ich erlebe das beim Thema
Roma. Der nordrhein-westfälische Oppositionsführer
will sie ausweisen, obwohl das nach der EU-Gesetzgebung gar nicht geht. Die Einwanderungspolitik der CDU
ist: Raus, raus, raus! - Dies muss ich leider sehr oft zur
Kenntnis nehmen.
({34})
Meine Damen und Herren, ich sprach von der guten
Arbeit. Dazu gehört die Zurückdrängung befristeter Arbeitsverhältnisse. Es ist skandalös, wenn unter 25-Jährige kaum mehr die Möglichkeit haben, ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis einzugehen. Das geht nicht so weiter.
({35})
Wir brauchen eine neue Regulierung der Leiharbeit. Wir
wollen sie nicht abschaffen. Wir wollen sie zurückführen
auf ihren eigentlichen Sinn. Wir brauchen generell eine
Offensive für bessere, auch gesunderhaltende Arbeit.
Wenn die Menschen länger im Erwerbsprozess bleiben
sollen und müssen, dann müssten wir eine breite Offensive zur Humanisierung der Arbeit starten, wie sie Hans
Matthöfer, der ehemalige Leiter der Bildungsabteilung
der IG Metall, ins Leben gerufen hat.
Herr Landesminister, Guntram Schneider, Minister ({0}):
Ich bin gleich fertig.
- ich möchte nur sagen: Wenn Sie Abgeordneter wären, würde ich Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Aber Sie sind Landesminister und haben hier Rederecht.
Guntram Schneider, Minister ({0}):
Vielen Dank dafür.
({1})
Gut, dass der Föderalismus dies vorsieht.
Die Menschen müssen länger gesund im Erwerbsprozess verbleiben können. Dies wird eine große Aufgabe
für die nächste Wahlperiode sein.
Herr Kolb, Sie sprachen von Arbeiterführern. Arbeiterführer haben, soweit es sie noch gibt, im Allgemeinen
keine Redenschreiber.
({2})
Sie sagen, was in der Gesellschaft passiert.
({3})
- Ja, das ist die liberale Abart von Arbeiterführern. Darüber kann man reden. Das ist aber nicht unser Vorgehen; das wollen wir nicht. Seien Sie sich, was die Mehrheiten in diesem Lande angeht, nicht so sicher. Am
13. Mai letzten Jahres war die Landtagswahl in NRW.
Minister Guntram Schneider ({4})
({5})
Am 1. Mai schien noch alles verloren. Passen Sie auf!
Seien Sie nicht so selbstzufrieden! Wir werden schon die
richtigen Mehrheitsverhältnisse für eine soziale und demokratische Zukunft herbeiführen können.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Landesminister. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Johannes
Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einem Zitat von Ihnen, Herr Steinbrück, beginnen. Sie haben vor einiger Zeit in der Zeit geschrieben:
({0})
Wenn die SPD unter dem Druck von Identitätsproblemen … diesen Reformprozess
- Sie meinten die Agenda 2010 abbrechen oder bis zur Unkenntlichkeit - und damit
Unwirksamkeit - verdünnen sollte, dann verlöre sie
nach meiner Überzeugung mehr als die Regierungsfähigkeit. Sie verlöre ihren … Anspruch, … eine
Partei der Veränderung im Sinn ihrer Grundwerte
gewesen zu sein.
Herr Steinbrück, kann es sein, dass Sie heute hier so lustlos gesprochen haben, weil im Wahlprogramm der SPD
genau das steht, was Sie beklagt haben?
({1})
Kann es sein, dass das Ihr Motivationsproblem ist?
Frau Göring-Eckardt, Sie haben uns eben fachpolitisch mit dem Thema Minijobs beglückt. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Minijobs kein gutes Beispiel
sind, um die angebliche Verderbtheit am Arbeitsmarkt
darzustellen. Drei Viertel aller Minijobber wollen genau
das, nämlich einen Minijob. Sie bekommen im Übrigen
netto alles andere als einen Niedriglohn. Das zeigt in
meinen Augen vor allem, dass Sie mit fachpolitischen
Arbeitsmarktdebatten sonst nicht viel zu tun haben.
({2})
Kann es sein, dass Sie hier davon ablenken wollen, dass
vonseiten Ihrer eigenen Partei bemerkenswerte Sätze
kommen? Ich habe hier ein Zitat von Herrn Palmer, der
sich vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Blick auf Ihr Wahlprogramm folgendermaßen äußerte:
In der Summe machen wir damit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig,
({3})
auf die wir früher zu Recht stolz gewesen sind weil sie vielen Menschen einen Job verschafft hat.
({4})
Kann es sein, dass Sie deshalb hier so lustlos gesprochen
haben, weil Sie wissen, dass das, was in Ihrem Wahlprogramm steht, und die Realität in Deutschland - gute
Arbeitsmarktlage und gute Perspektiven für die Menschen - nicht zusammenpassen?
({5})
Wir, die Kollegen und die Ministerin - das wurde
schon dargestellt -, haben für bessere Perspektiven für
die Menschen in Deutschland gesorgt. Es waren vier
gute Jahre für die Menschen in Deutschland. Deswegen
werben wir dafür, dass diese vier guten Jahre um vier
weitere gute Jahre unter schwarz-gelber Verantwortung
verlängert werden.
({6})
Ich möchte auch ein bisschen auf Nordrhein-Westfalen eingehen, weil ich selber von dort komme und weil
ein nordrhein-westfälischer Landesminister hier gesprochen hat. Herr Steinbrück, Sie sprachen gerade von der
vorsorgenden Sozialpolitik - das ist die große Überschrift, unter die die Ministerpräsidentin NordrheinWestfalens von der SPD ihre Politik stellt - und haben
Ihren Antrag damit begründet. Die Ministerin hat eben
zu Recht darauf hingewiesen, dass sich diese Koalition
sehr wohl Gedanken darüber macht, was jetzt kommen
muss und wie eine Agenda 2020 für Deutschland aussieht. Ein wesentlicher Bestandteil muss natürlich - Herr
Steinbrück, da gebe ich Ihnen recht - der Punkt „Aufstiegschancen durch Bildung“ sein. Schauen wir uns
doch einmal an, was Nordrhein-Westfalen in diesem Bereich tut! Herr Schneider, Sie haben eben von Gerechtigkeit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen leben 22 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.
Die Neuverschuldung Ihrer Landesregierung macht aber
60 Prozent aller Neuverschuldungen der Bundesländer
aus.
({7})
Das kann vieles sein; aber mit Generationengerechtigkeit hat das nichts zu tun.
({8})
Johannes Vogel ({9})
Ich möchte noch etwas ausführlicher auf dieses
Thema eingehen, da es etwas über Ihre Politik aussagt
und zeigt, was unter Ihrer Verantwortung im größten
Bundesland passiert: Obwohl Sie in Nordrhein-Westfalen so viele Schulden machen, wurde die Anzahl der
Stellen aller Landesministerien um 70 erhöht.
({10})
Das geschah übrigens nicht nach Bedarf, sondern einfach per Quorum, auf alle Landesministerien verteilt.
({11})
Anstatt zu sparen und den Staat effizienter zu machen,
geben Sie Geld aus, das Sie sich zulasten der jungen Generation gepumpt haben, Herr Minister.
({12})
Wenn es allerdings darauf ankommt, dann kürzen Sie.
Gerade erst haben Sie wieder einen Kürzungsvorschlag
gemacht. Die Schulministerin in Nordrhein-Westfalen
hat kürzlich angekündigt, beim Vertretungsunterricht zu
kürzen, Herr Minister.
({13})
Der Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-Westfalen sagt, das entspreche einer Kürzung von
500 Lehrerstellen. Herr Minister Schneider, lieber Herr
Steinbrück, so stellen wir uns vorsorgende Sozialpolitik
nicht vor - ganz sicher nicht.
({14})
Haben Sie Ihre Redezeit im Auge?
Ich komme zum letzten Satz. - Dem steht eine
schwarz-gelbe Bundesregierung gegenüber,
({0})
die 1 Milliarde Euro mehr für Bildung und Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik ausgibt, obwohl es
1 Million weniger Arbeitslose gibt als zu Ihrer Zeit, und
die auch sonst sehr erfolgreich für Einstiegs- und Aufstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Wir können
darüber in den nächsten Monaten gerne diskutieren und
die Bevölkerung bei der Bundestagswahl darüber entscheiden lassen. Ich bin mir sicher: Die Wählerinnen
und Wähler werden entscheiden, dass es vier weitere
gute Jahre mit einer schwarz-gelben Bundesregierung
geben wird.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion von CDU und CSU der Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Matthäus-Evangelium heißt es: „An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen.“ Wohlgemerkt: Nicht an ihren
wohlklingenden Reden und nicht an ihren wohlformulierten Anträgen im Bundestag, an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen.
({0})
Insofern muss man in einer solchen Debatte, wenn
man sie ehrlich führt, auf die rot-grüne Regierungszeit
unter Gerhard Schröder zurückkommen. Gerhard
Schröder hat am 28. Januar 2005 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Folgendes gesagt:
Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren
aufgebaut, den es in Europa gibt.
Das war die große Botschaft von Rot-Grün: Wir haben
den größten Niedriglohnsektor, den es je in Deutschland
gegeben hat, aufgebaut. - Alle Probleme, die Herr
Steinbrück, Herr Schneider und Frau Göring-Eckardt
hier angesprochen haben, alle Probleme, die in den Anträgen, die hier vorliegen, beschrieben werden, sind
Früchte rot-grüner Politik. „An ihren Früchten sollt ihr
sie erkennen.“
({1})
Es ist in der Tat beschämend, dass keiner der Rednerinnen und Redner zu dieser Verantwortung gestanden
hat. Ihre Glaubwürdigkeit ist Ihr größtes Problem. Der
Unterschied zwischen Reden und Handeln ist bei RotGrün so groß, dass ich allen Wählerinnen und Wählern
in Deutschland nur zurufen kann: Traut denen nicht, die
nicht zu ihren Taten stehen, die heute anders reden!
({2})
Es ist eben so: Sie haben für eine Deregulierung der
Zeitarbeit gesorgt. Wir haben erste Regulierungen wieder eingeführt. Die Einkommensspreizung - schauen Sie
im Armuts- und Reichtumsbericht nach! - hat ausgerechnet in der rot-grünen Regierungszeit massiv zugenommen. Jetzt wird dies langsam wieder korrigiert. Unter Rot-Grün gab es Massenarbeitslosigkeit; heute haben
wir die geringste Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der
Wiedervereinigung. Ich könnte weitere Punkte aufzählen, auch was das Thema Lohn anbelangt. Heute gibt es
zwölf branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland.
Nur ein einziger davon wurde in der rot-grünen Regierungszeit in Kraft gesetzt, elf unter der Verantwortung
einer christdemokratischen Kanzlerin. „An ihren FrüchPeter Weiß ({3})
ten sollt ihr sie erkennen“, nicht an dem hohlen Gerede,
dem keine Taten folgen.
({4})
Auch uns reichen zwölf branchenbezogene Mindestlöhne nicht aus. Deswegen haben wir von der Union vorgeschlagen, einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn
in Deutschland einzuführen.
({5})
Aber es gibt einen Unterschied zu den Vorschlägen der
Sozialdemokraten und der Grünen und zum hier vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wir wollen,
dass die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervertreter, die
Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen, den
Mindestlohn in einer Kommission miteinander aushandeln
({6})
und die Bundesarbeitsministerin anschließend dieses
Verhandlungsergebnis für allgemeinverbindlich erklärt,
sodass es in ganz Deutschland zwingend durchzusetzen
ist.
({7})
Auch im Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine Kommission vorgesehen. Aber diese Kommission soll erst tagen dürfen, wenn der Bundestag einen Beschluss gefasst
hat, dass der Mindestlohn zum Beispiel 8,50 Euro betragen muss. Dann darf diese Kommission über die Weiterentwicklung des Mindestlohnes beraten. Wenn das Beratungsergebnis dem Bundesarbeitsminister nicht passt,
darf er dieses Beratungsergebnis in den Papierkorb
schmeißen und machen, was er machen will. - Es ist
doch eine Verhöhnung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, sie einzuladen, in einer Kommission
einen Mindestlohn auszuhandeln, und anschließend das
Verhandlungsergebnis in den Papierkorb zu schmeißen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag
ist in Wahrheit ein Vorschlag zur Stärkung der Tarifautonomie. Herr Steinbrück hat die Frage aufgeworfen: Was
hat Deutschland stark gemacht? Ich sage: Deutschland
hat stark gemacht, dass starke Gewerkschaften und
starke Arbeitgeberverbände gute Tariflöhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land vereinbart haben.
({8})
Es ist doch für einen Arbeitnehmer nur dann interessant,
in eine Gewerkschaft einzutreten, wenn er weiß: Diese
Gewerkschaft handelt tatsächlich einen Lohn aus.
Herr Kollege Weiß, Sie haben es gesehen: Es gibt
eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus Ernst.
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Weiß, Sie haben gerade die Gewerkschaften angesprochen. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass sich
die Gewerkschaften, die Sie in ihrer Tarifautonomie stärken wollen, explizit für den Mindestlohn aussprechen?
Glauben Sie, dass die nicht wissen, was sie tun? Oder
könnte es nicht sein, dass sie vielleicht besser wissen,
was ihnen guttut?
Zweitens. Wenn in einer Kommission nur dann ein
Ergebnis zustande kommt, wenn sich beide, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einig sind, eine Seite aber erklärterweise kein Interesse an der Einführung eines Mindestlohnes hat, wie man es bei der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände erkennen kann, bedeutet das dann nicht, dass die eine Seite der Kommission ein Vetorecht in Bezug auf die Einführung des Mindestlohns hat? Ist dann nicht das Ergebnis, dass kein
Mindestlohn zustande kommt bzw. einer, der so niedrig
ist, dass man darauf auch verzichten könnte?
Drittens. Sind Sie nicht auch der Auffassung, Herr
Weiß, dass die Voraussetzung dafür, dass die Gewerkschaften ihre Tarifautonomie ausüben können, ein starker gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist? Wir haben
aber eine abnehmende Tarifbindung und abnehmende
Organisationsgrade zu verzeichnen und müssen konstatieren, dass immer schlechtere Tarifverträge bei den Verhandlungen herauskommen. Es gibt Tarifverträge, in denen eine Bezahlung von weit unter 8,50 Euro vereinbart
wurde. Müssen wir als Bundestag nicht eingreifen, um
die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu sichern?
Fazit: Ist es nicht besser, die Tarifautonomie dadurch
zu stärken, dass man einen Mindestlohn einführt, auf
dessen Grundlage die Gewerkschaften über vernünftige
Löhne verhandeln können? Dadurch würden die Gewerkschaften gestärkt. Das wäre besser, als den Gewerkschaften den Mindestlohn zu verweigern.
({0})
Herr Kollege Ernst, ich nehme Ihre Frage gerne zum
Anlass, Ihnen unser Konzept noch einmal zu erläutern.
Erstens. Der Vorschlag der Unionsfraktion sieht vor,
dass man sich einigen muss, notfalls durch Schlichtung;
sprich: Die Mindestlohnkommission muss zu einem Ergebnis kommen.
Peter Weiß ({0})
({1})
Sie kann eine Einigung nicht auf ewig vertagen.
Zweitens. Wenn für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer klar ist, dass der Mindestlohn durch das
Parlament festgesetzt wird und nicht durch die Gewerkschaften, warum sollen sie dann noch in eine Gewerkschaft eintreten?
({2})
Wenn klar ist, dass der Mindestlohn durch den Bundestag festgesetzt wird und nicht durch die Arbeitgeberorganisationen, die mit den Gewerkschaften verhandeln,
warum sollen die Unternehmer dann in einen Arbeitgeberverband eintreten? Die Erosion der letzten Jahre in den
Bereichen Gewerkschaftsmitgliedschaft und Tarifbindung
der Unternehmen würde weiter zunehmen.
({3})
Unser Vorschlag ist: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verhandeln den Mindestlohn. Er wird später
von der Regierung in Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass
ich als Arbeitnehmer in die Gewerkschaft eintreten
muss, um sie für die Verhandlungen stark zu machen. Ich
muss als Unternehmer in den Arbeitgeberverband eintreten, um die Interessen meines Unternehmens bei den
Verhandlungen geltend zu machen. - Unser Vorschlag
führt im Gegensatz zu dem, was der Bundesrat vorschlägt, tatsächlich dazu, dass die Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände wieder stark werden, wodurch die
Tarifautonomie in Deutschland insgesamt gestärkt wird.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um es noch einmal klar zu sagen: Wir wollen einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn und damit die Tarifautonomie stärken.
Das ist die Botschaft, mit der wir in den Bundestagswahlkampf gehen. Wir wollen aber noch mehr. Wir wollen, dass der Respekt vor geleisteter Arbeit durch eine
Erneuerung des Aufstiegsversprechens aus der Wirtschaftswunderzeit gestärkt wird. Wer arbeitet, wer sich
qualifiziert, muss im Normalfall ein existenzsicherndes
Einkommen erwarten dürfen. Das ist ein breiter Wohlstandsbegriff im Sinne Ludwig Erhards. Voraussetzung
dafür ist vor allem eine wettbewerbsfähige Wirtschaft.
Diese entwickelt sich natürlich nicht mit Dumpinglöhnen, sondern mit hervorragend qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen noch mehr
als bisher eine Gesellschaft, in der alle entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen - ungeachtet ihrer Herkunft - gute Bildungschancen und damit Möglichkeiten
zu persönlicher Entfaltung und sozialem Aufstieg haben.
Sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit, das ist unsere Agenda, auf die wir setzen.
({5})
Wir sind es, die zum Beispiel den Bildungsetat dieses
Bundeshaushaltes - beim Abtritt von Schröder 2005 waren es rund 9 Milliarden Euro - auf über 13 Milliarden
Euro gesteigert haben. „An ihren Früchten sollt ihr sie
erkennen.“
({6})
Wir sind diejenigen, die die Arbeitslosigkeit massiv abgebaut haben, die dafür gesorgt haben, dass seit 2007
40 Prozent der Langzeitarbeitslosen, die es besonders
schwer haben, wieder in Arbeit gekommen sind.
Wir wollen nach der Bundestagswahl unsere erfolgreiche Arbeit für mehr Aufstiegschancen für alle in
Deutschland durch Bildung und Arbeit fortsetzen. „An
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unsere Kollegin Brigitte Pothmer. - Bitte
schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Weiß, habe ich Sie richtig verstanden: Sie unterstützen
diese niedrigen Löhne, um auf diese Weise die Gewerkschaften zu stärken?
({0})
Das ist eine Verelendungsstrategie, die mir noch aus
meiner Studierendenzeit vom KBW bekannt ist.
({1})
Dass Sie diese jetzt verfolgen, ist allerdings neu.
Es wurde gerade sehr viel über Gerechtigkeit geredet.
Das zentrale arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitskonzept
ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Er steht
nicht nur symbolisch für Wert und Würde der Arbeit. Zu
dieser Frage müssen Sie von der Regierungskoalition
sich verhalten.
({2})
Nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen
Jahren haben Sie nichts weiter gemacht, als die immer
gleiche Behauptung zu wiederholen, flächendeckende
Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten. Frau
Merkel hat sich in einem Bild-Interview sogar zu der
These verstiegen, die Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern sei deswegen so hoch, weil es zu hohe
Mindestlöhne gebe. Ich frage mich, anhand welcher
Länder sie diese These verifizieren will.
({3})
Meint sie vielleicht Großbritannien? Es hat seit 1999
Mindestlöhne, und es gibt keinerlei negative Beschäftigungseffekte. Oder meint sie vielleicht die Niederlande?
Sie haben einen Mindestlohn von 9,18 Euro und eine Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent.
({4})
Nein, die höchste Arbeitslosigkeit in Europa haben wir
derzeit in den Ländern, in denen der Mindestlohn am
niedrigsten ist.
({5})
- Sie haben doch inzwischen selbst erkannt, dass es
beim Mindestlohn Handlungsbedarf gibt. Sie nennen das
Projekt verschämt „Lohnuntergrenze“. Ich finde dieses
Konzept falsch; denn mit diesem Konzept würden Sie
weiterhin Ausbeutung mit Tarifvertrag zulassen. Das
wollen wir nicht.
({6})
Aber Sie sollten hier im Bundestag überhaupt einmal
etwas vorlegen.
({7})
Sie sind die Regierung, Sie müssen handeln. Sie reden,
wir handeln!
({8})
Von Ihnen kommt nichts. Wenn überhaupt etwas kommt,
dann wird das in Ihr Wahlprogramm entsorgt. Sie haben
hier noch keinen einzigen Vorschlag vorgelegt.
({9})
Sie wollen weiterhin zulassen, dass wir in Deutschland 1,4 Millionen Menschen haben, die mit Löhnen von
unter 5 Euro pro Stunde brutto abgespeist werden. Sie
wollen, dass Betriebe weiterhin das ALG II in ihre
Lohnkalkulation einbeziehen und damit den Wettbewerb
über Lohndumping verzerren.
({10})
Wenn Sie das korrigieren wollen, dann braucht es jetzt
keine halsstarrig geführte ordnungspolitische Debatte,
sondern dann braucht es einen vernünftigen Gesetzentwurf, und zwar jetzt. Dieser liegt heute hier vor, und zu
diesem müssen Sie sich verhalten.
({11})
Jetzt noch ein paar Sätze zur FDP.
({12})
Es ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten,
({13})
wenn ausgerechnet Sie hier das Hohelied der Tarifautonomie singen. Es ist noch nicht lange her, dass Sie die
Gewerkschaften mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft haben.
({14})
Ich erinnere Sie nur an eine Aussage Ihres ehemaligen
Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle. Er hat gesagt
- ich zitiere -:
Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
in Deutschland…
Er hat behauptet - ich zitiere weiter -:
Die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre kostet
mehr Jobs, als die Deutsche Bank je abbauen
könnte.
Finden Sie, dass Sie sich mit diesen Aussagen wirklich
als Freunde der Gewerkschaften bezeichnen können?
({15})
Herr Rösler hat verstanden und Ihnen empfohlen, den
Blick auch einmal auf die Lebenswirklichkeit der Menschen zu richten. Was hat er gesehen, als er seinen Blick
auf die Lebenswirklichkeit der Menschen gerichtet hat?
Er hat gesehen, dass Löhne von 3 Euro die Stunde nichts
mit Leistungsgerechtigkeit zu tun haben.
({16})
In einer Partei der Blinden ist der Einäugige König! Sie
haben in Ihrer Partei sehr viele Blinde, zum Beispiel
Herrn Brüderle. Er empfiehlt den Niedriglöhnern, die
mehr verdienen wollen, tatsächlich, sich einfach einen
neuen Arbeitgeber zu suchen.
Sie kennen Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Ich weiß nicht, in welcher Parallelwelt Herr Brüderle
unterwegs ist. Eines weiß ich aber genau: dass Gerechtigkeit ohne Mindestlohn nicht zu haben ist.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner für die Fraktion der FDP: Kollege
Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Pothmer, Heuchelei ist das, was Sie tun.
Heuchelei ist auch das, was Sie vonseiten der SPD tun.
Ich denke an Guntram Schneider. Herr Schneider, Sie
geißeln in Ihrer Rede hier befristete Beschäftigungsverhältnisse - Sie waren, wenn ich richtig informiert bin,
DGB-Landesvorsitzender -, und seit 2004 gibt es eine
Direktive des DGB-Bundesvorstands, in der eigenen
Zentrale nur noch befristete Beschäftigungsverhältnisse
zu vereinbaren.
({0})
Im aktuellen Jahresbericht des DGB-Bundesvorstands
zeigt sich, dass das kein Versehen war und auch nicht
korrigiert worden ist. Da heißt es auf Seite 145: Der Anteil der befristeten Arbeitsverträge betrug zum Jahresende 13 Prozent. Das waren 108 Beschäftigte.
({1})
Lieber Herr Schneider, es ist Heuchelei, wenn Sie sich
hier hinstellen und etwas sagen, was Ihr eigener Verband
nicht durchzusetzen vermag.
({2})
Der Kanzlerkandidat der SPD, der leider schon aufbrechen musste,
({3})
stellte sich hierhin und sang das Hohelied der dualen Berufsausbildung, weiß aber offensichtlich nicht, dass die
grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg in
dieser Woche, am Montag, den 22. April 2013, von der
Vorsitzenden des Berufsschullehrerverbandes ein ganz
schlechtes Zeugnis ausgestellt bekommen hat. Sie sagte
wörtlich, die grün-rote Landesregierung würde in Baden-Württemberg die Berufsschulen aushungern lassen,
weil sie es versäumt, insgesamt 600 Stellen zu besetzen,
die für die Berufsschulen dringend nötig wären.
({4})
Sich trotzdem hier hinzustellen und das Hohelied der dualen Berufsausbildung zu singen, ist Heuchelei.
({5})
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, hat der Kollege Weiß völlig zu Recht aus der Bibel zitiert. Wir werden Sie mit Ihrer Regierungsleistung in den Ländern
stellen.
Frau Göring-Eckardt, Sie sprechen von Gerechtigkeit.
Was ist denn das für eine Gerechtigkeit, wenn man immer mehr Schulden auftürmt,
({6})
wenn man künftige Generationen belastet, anstatt sie zu
entlasten? Das ist das, was Sie in Baden-Württemberg
tun. Die Bayerische Staatsregierung hält sich trotz eines
Höchststandes an Steuereinnahmen zurück und zahlt
über 1 Milliarde Euro Schulden zurück. In Baden-Württemberg hat es die christlich-liberale Landesregierung
geschafft, in den Jahren 2008, 2009 und 2011 schuldenfreie Haushalte vorzulegen. Im vergangenen Jahr verzeichnete Baden-Württemberg die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte des Landes, aber die grün-rote
Landesregierung hat trotzdem zusätzliche Schulden in
Höhe von 3,3 Milliarden Euro gemacht. Das ist wirklich
eine Versündigung an der künftigen Generation. Das ist
eine unverantwortliche Politik und hat mit Gerechtigkeit
und Chancengerechtigkeit nichts zu tun.
({7})
Sie reden von Chancengerechtigkeit. Schauen wir uns
einmal an, wie es damit in Baden-Württemberg aussieht:
Die Landesvorsitzende der GEW - das ist auch nicht
gerade eine Vorfeldorganisation der FDP - wirft der
Landesregierung von Baden-Württemberg vor - Zitat -,
({8})
dass sie auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen
spare und ohne klares Konzept bildungspolitisches
Stückwerk produziere. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Heuchelei, sich hier hinzustellen und von Gerechtigkeit zu reden, aber gerechte Chancen für Kinder
in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, zu
verhindern.
({9})
Wir hingegen haben in dieser Bundesregierung gerade an Kinder, die es schwer haben, gedacht. Wir haben
ein Paket auf den Weg gebracht, die Offensive „Frühe
Chancen“, mit der wir gerade Kinder aus benachteiligten
Milieus mit insgesamt 400 Millionen Euro fördern, damit Spracherwerb schon vor Eintritt in die Schule gelingen kann, damit dort die Chancen wirklich wahrgenommen werden können und sich Bildungserfolg einstellt.
Diese letzten Jahre waren vier sehr gute Jahre für
Deutschland.
({10})
Wir werden unsere Politik als christlich-liberale Regierung weiter fortsetzen.
({11})
Wir werben dafür, und wir werden am Wahltag - ich erinnere noch einmal an das, was Peter Weiß gesagt hat:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ - ein entsprechendes Wahlergebnis von den Wählern zugesprochen
bekommen. Denn diese Jahre waren gut für Deutschland, und Deutschland hat die Fortsetzung dieser Koalition verdient.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU
Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege
Dr. Zimmer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass der
Kollege Steinbrück bereits die Debatte verlassen hat,
nehme ich ihm nicht übel. Sofern er zur Vermessung
neuer Fettnäpfchen unterwegs ist, hat er unseren Segen.
({0})
Aber dass, wenn wir hier an zentraler Stelle über
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik diskutieren, vom zuständigen Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ der einbringenden Fraktion der SPD nur wieder eine ganz
kleine illustre Schar da ist, finde ich bezeichnend - nach
dem Motto: Den Quatsch, den der uns erzählt, brauchen
wir uns nicht noch einmal im Plenum anzuhören.
({1})
Sie von den Sozialdemokraten haben den Entwurf eines Mindestlohngesetzes in die heutige Beratung eingebracht. Also lassen Sie uns über dieses Mindestlohngesetz sprechen.
({2})
In § 1 Ihres Entwurfes wird der Geltungsbereich beschrieben, und dort ist vorgesehen, dass das Gesetz nur
für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten soll. Damit das deutlich wird: Für Teilzeitbeschäftigte soll der Mindestlohn, den Sie vorschlagen, nicht gelten. Ich kann überhaupt nicht erkennen,
warum das der Fall sein soll, warum Sie teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so benachteiligen, zumal wir ja in der letzten Woche einen Gesetzentwurf von Ihnen beraten haben, der positiv zur Teilzeit
steht.
Eines müsste Ihnen doch klar sein: Im Niedriglohnbereich setzen Sie mit einer solchen Maßnahme geradezu
Anreize, Vollzeitstellen in Teilzeitstellen umzuwandeln,
weil für diese der Mindestlohn ja nicht gelten soll. Das
ist nicht nur handwerklich schlecht gemacht, sondern Sie
versündigen sich hier auch an Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern.
Dann wird es richtig spannend, wenn man in Ihren
Gesetzentwurf schaut. Peter Weiß hat das eine oder
andere bereits dazu gesagt. Wenn sich die Mindestlohnkommission, die Sie einrichten wollen, nicht einigt, entscheidet das Ministerium. Ich kann mir Fälle vorstellen,
in denen es sich lohnt, eine Entscheidung der Mindestlohnkommission zu sabotieren. Mit anderen Worten: Die
Möglichkeit des Missbrauchs ist da bereits angelegt.
Nehmen wir einmal den wirklich unwahrscheinlichen
Fall an, dass ein Vertreter der Linken das Arbeitsministerium führt.
({3})
Herr Ernst lächelt schon - es ist wirklich sehr unwahrscheinlich -, also nehmen wir einmal an, dass Herr Ernst
Arbeitsminister ist.
({4})
Gibt es dann irgendeinen Grund, warum die gewerkschaftliche Seite in einer Mindestlohnkommission bei
9 Euro zustimmen sollte, wenn im Parteiprogramm der
Linken 10 Euro steht? Dann würden die doch sagen:
Prima, wir brauchen die Arbeit überhaupt nicht zu machen, das Ministerium soll gleich entscheiden.
Wenn sich die Kommission einigt, unterbreitet sie
dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen
Vorschlag. Wenn das Ministerium zustimmt, setzt es den
Mindestlohn durch Rechtsverordnung um. So weit, so
gut. Aber stimmt das Ministerium nicht zu, bestimmt am
Ende das Ministerium den Mindestlohn. So steht es in
Ihrem Entwurf. Nun würde ich, solange das Ministerium
durch uns geführt würde, da keine Probleme sehen.
({5})
Aber Sie von der SPD haben ja gewiss im Hinterkopf,
vielleicht selbst einmal wieder das Ministerium zu führen; so viel sportlichen Ehrgeiz traue ich Ihnen durchaus
zu. Natürlich würde ein SPD-Arbeitsminister oder eine
SPD-Arbeitsministerin nach gründlicher Rückkopplung
mit den Parteigremien entscheiden. Dann würde also
letztlich der SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in
Deutschland entscheiden.
({6})
Damit ist klar, was mit dem Slogan „Das Wir entscheidet“ gemeint ist.
({7})
Ich meine allerdings: Den SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in Deutschland entscheiden zu lassen, ist in
etwa so klug wie die Ernennung von Dieter Bohlen zum
Generalinspekteur für alle deutschen Mädchenpensionate.
({8})
Meine Damen und Herren, was mich ärgert, ist Folgendes: Über den Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren, haben wir bereits vor einem Jahr diskutiert.
Schon damals sind Sie auf den Unfug, den Sie damit anrichten würden, hingewiesen worden. Ich meine, einmal
einen Fehler zu machen, ist menschlich. Es hätte Ihnen
gut angestanden, noch einmal gründlich darüber nachzudenken. Aber Sie legen diesen Gesetzentwurf wortgleich
noch einmal vor. Sie haben also nichts gelernt. Dass Sie
mit einer gewissen Starrköpfigkeit auf der Durchführung
Ihrer Fehler bestehen, das kann ich nur noch psychologisch erklären.
Gerade diese Unbeirrbarkeit im Angesicht Ihrer Fehler ist es doch, die Zweifel daran aufkommen lässt, dass
Sie regierungsfähig sind.
({9})
Die handwerklichen Fehler vertreten Sie mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit. Aber was die guten und richtungsweisenden Entscheidungen, die auch Sie einmal getroffen haben, angeht - ich denke da an die Reformen des
Arbeitsmarktes und die Rente mit 67 -, suchen Sie andauernd nach einem Notausgang für Helden.
So eiern Sie auch in der Arbeitsmarktpolitik herum:
Mal sind Sie gegen Teilzeit, mal dafür. Mal sind Lohnkostenzuschüsse gut, mal sind sie schlecht. Vor einigen
Jahren hat Gerhard Schröder die neue Mitte entdeckt,
jetzt wird der Mittelstand belastet. Die Abschaffung der
kalten Progression haben Sie verhindert, und heute melden die Zeitungen, Ihre Kindergeldpläne führten gerade
für Familien der Mittelschicht zu deutlichen monatlichen
Belastungen.
({10})
Konsistent, meine Damen und Herren, ist das alles nicht.
Der Bürger hat ohnehin längst den Eindruck, dass der
SPD-Slogan in Wahrheit heißt: Das Wir entscheidet, das
Du bezahlt. - Aber wenigstens darin sind Sie sich treu
geblieben.
({11})
Nächster Redner für die CDU/CSU: Kollege Max
Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über verschiedene Vorlagen, zuvörderst aber natürlich über den Antrag der SPD mit
dem etwas aufgeblasenen Titel „Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch“. Ich möchte dem Kollegen Kolb
beipflichten bzw. seine Bemerkung etwas abschwächen.
Kollege Kolb hat ja bereits dargelegt, dass in Ihrem Antrag nur heiße Luft ist. Ich möchte das abschwächen: ein
laues Lüftchen; mehr ist da nicht drin.
({0})
Das, was hier niedergeschrieben worden ist, ist letztendlich ein Horrorprogramm für die Menschen in unserem Land. Es beginnt mit einer falschen Analyse. Wenn
man eine falsche Analyse macht, kann man daraus natürlich auch keine richtigen Schlussfolgerungen ziehen;
auch das muss dargelegt werden. In Ihrem Antrag wird
ein Zerrbild von unserer Gesellschaft gezeichnet: als
gäbe es in Deutschland nur noch Niedriglöhner und
Niedrigstverdiener, kaum soziale Absicherung und vor
allen Dingen keine Bildungsgerechtigkeit, keine Bildungschancen und keine Chancengerechtigkeit.
Ich bin der Meinung, das ist letztendlich im Hinblick
auf die vielen Institutionen, die wir alle in der Politik gemeinsam geschaffen haben, nicht würdig. Wir haben
eine großartige Schulbildung. Vor allen Dingen in Bayern gibt es ein Schulsystem, das für die Kinder die
Grundlagen schafft, um später eine gute berufliche Ausbildung zu erhalten und großartige Zukunftschancen zu
haben. Dass dies in SPD-regierten Ländern nicht der Fall
ist, sehen wir. Manche Kollegen haben bereits gesagt:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Es ist eben
eine Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg Lehrerstellen abgebaut werden. In
Bayern und anderen unionsregierten Ländern werden
- das ist zukunftsträchtig - Lehrerstellen geschaffen. In
Bayern werden jedes Jahr 1 000 neue Lehrerstellen geschaffen, obwohl es weniger Kinder gibt. Damit schaffen wir mehr Chancengerechtigkeit und mehr Bildungsgerechtigkeit für die jungen Menschen in unserem Land,
verehrte Damen und Herren.
({1})
Dies ist etwas, womit der Kanzlerkandidat der SPD
nicht so viel am Hut hat. Darum hat er die meiste Zeit
seiner Rede über Steuern und Steuergerechtigkeit gesprochen, vor allen Dingen über das Steuerabkommen
mit der Schweiz. Natürlich wäre ein Steuerabkommen
mit der Schweiz wesentlich erfolgreicher und ertragreicher gewesen, weil dann alle ihre Steuern bezahlt hätten.
Ihnen geht es letztendlich ja nur darum, hier Symbolpolitik zu betreiben, weil Sie glauben, daraus im anstehenden Wahlkampf Honig saugen zu können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Herrn Zumwinkel.
Wir können manche Namen austauschen, wenn Sie so
wollen; aber ich glaube nicht, dass wir eine Debatte über
Steuergerechtigkeit damit voranbringen. Dass auch der
Kollege Steinbrück nachbessern musste - bei den AngaMax Straubinger
ben zu seinen Reden -, ist ja bekannt. Die Wahrhaftigkeit beginnt meistens bei einem selbst. Da sollte man zuerst tätig werden.
({2})
Ich kann verstehen, warum der Kollege Steinbrück
nicht auf das SPD-Papier eingegangen ist. Das liegt daran, dass er dieses Papier innerlich eigentlich gar nicht
vertreten kann. Er hat in der Vergangenheit letztendlich
alle diese Maßnahmen - sei es ein gesetzlicher Mindestlohn, seien es andere Maßnahmen - abgelehnt, aus fachlichen und sachlichen Überlegungen. Ich denke, er steht
- auch wenn er das jetzt nicht mehr sagen darf - für die
Rente mit 67. Unter demografischen Gesichtspunkten ist
die Rente mit 67 aber richtig, und ich bin Franz
Müntefering ausdrücklich dankbar, dass er diese Reform
hier durchgesetzt hat.
({3})
Dass die Grundlagen dafür unter dem seinerzeitigen
Bundesminister Franz Müntefering geschaffen worden
sind, ist letztendlich im Sinne einer großartigen Generationenpolitik in der Rente.
({4})
Wir wollen daran weiterarbeiten, verehrte Damen und
Herren.
({5})
Herr Kollege Straubinger, ich habe eine Zwischenfrage aus der Fraktion der FDP.
Gerne.
Bitte schön, Kollege Kurth.
Herr Kollege Straubinger, wo Sie die Rede von Herrn
Steinbrück analysieren: Hat Herr Steinbrück eigentlich
auch Zugang gefunden zu der berühmten „Thüringer
Friseurin“, von der ich als Thüringer mir hier ständig
erzählen lassen muss? Hat irgendjemand von der Opposition heute, wie es sonst immer der Fall ist, von den
Löhnen der „Thüringer Friseurin“ gesprochen? Hat irgendjemand von der Opposition gewürdigt, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber diese Woche für die
„Thüringer Friseurin“ wie überhaupt für das gesamte
Thüringer Handwerk einen Tarifvertrag mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro abgeschlossen haben? Hat irgendjemand von der Opposition zur Kenntnis genommen, dass hier eine Tariflösung gefunden wurde, ohne
dass die gesetzliche Keule nötig geworden wäre?
({0})
Leider nein, Herr Kollege.
({0})
Aber das ist ja auch verständlich: Sie wollen ja nicht den
Erfolg der Tarifparteien. Sie wollen grundsätzlich eine
staatliche Lohnfestsetzung betreiben.
({1})
Deshalb haben Sie diesen Erfolg nicht gewürdigt.
Wahrscheinlich geht es auch darum - wie es die Kollegin Göring-Eckardt getan hat -, in die eigenen Reihen
hinein zu predigen. Liebe Kollegin Göring-Eckardt, predigen Sie an Ihre Kollegin Bärbel Höhn gerichtet, dass
sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht länger für
4,60 Euro beschäftigt.
({2})
Die Opposition will einen Erfolg der Tarifparteien gar
nicht herausstellen; doch das zeigt nur die Richtigkeit
unserer Politik.
({3})
In den Anträgen geht es viel darum, dass Familienpolitik
verbessert werden solle. An dieser Stelle kann ich nur
sagen: Die Union, besonders die CSU, ist die Familienpartei, die sich dafür einsetzt, dass Familien in Deutschland gleiche Chancen bekommen.
({4})
Dazu gehören ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten: mit Kindertagesstätten, mit Krippenplätzen, aber
auch mit dem Betreuungsgeld.
({5})
Es ist bemerkenswert, wenn im Antrag der SPD dargelegt wird, die Kommunen brauchten mehr finanzielle
Unterstützung. In Bayern gibt es derzeit ein Kitaplatzangebot für 43 Prozent der Kinder. Zum 1. August dieses
Jahres werden 50 Prozent erreicht werden. Doch die
schöne Stadt München, eine der reichsten Städte in ganz
Deutschland, rot-grün regiert - von Herrn Ude -, schafft
es nicht einmal, genügend Kindergartenplätze bereitzustellen, auf die es bereits jetzt einen Rechtsanspruch gibt.
Noch immer fehlen 5 000 Kindergartenplätze und ab
Sommer zusätzlich 7 000 Kitaplätze.
({6})
Das zeigt sehr deutlich: Es ist wichtig, dass auch etwas
umgesetzt wird.
Wir sind in Bayern stolz auf unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die sich tatkräftig für die Schaffung von Kitaplätzen einsetzen. Leider Gottes geht das
aber an der Landeshauptstadt München vorbei. Das zeigt
auch sehr deutlich: Selbst wenn es ausreichende Finanzzusagen gibt - der Freistaat Bayern garantiert ja, dass jeder Kinderkrippenplatz gefördert wird -, ist Rot-Grün
nicht in der Lage, das umzusetzen. Das zeigt sehr deutlich, dass Sie von SPD und Grünen beim Fordern immer
großartig sind, aber beim Handeln versagen.
Das wollen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland in den nächsten vier Jahren ersparen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir wiederum die Mehrheit
erringen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Kollege Max Straubinger war der letzte Redner in un-
serer Aussprache, die ich deshalb jetzt schließe.
Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/13226, 17/12857 und 17/13246 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher Min-
destlohn jetzt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9613, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8026 abzu-
lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion
Die Linke. Enthaltungen? - Fraktionen SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 4 e. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für
soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung -
Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/13182, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12683 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Gegen-
probe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 f sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
45 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU
- Drucksache 17/13063 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 17/13223 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({2})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sicherungslücke im Übergang von Arbeitslosengeld in eine Erwerbsminderungsrente
schließen
- Drucksache 17/13113 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versorgungsqualität und Therapiefreiheit in
der Substitutionsbehandlung stärken
- Drucksache 17/13230 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({4})-
Rechtsausschuss
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung ({5})
- Drucksache 17/8099 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung ({7})
- Drucksache 17/13064 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für Tourismus
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013
- Drucksache 17/13195 Vizepräsident Eduard Oswald
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Neuorientierung im Umgang mit Gewalt und Organisierter Kriminalität in Mexiko
und Zentralamerika - Sicherheitsabkommen
unter dem Primat der Menschenrechte gestalten
- Drucksache 17/13237 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/13195 - Zusatzpunkt 3 a - soll federführend im Ausschuss für
Arbeit und Soziales beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 k auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 46 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012
über die abschließende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages zwischen dem Bund, den neuen
Ländern und Berlin ({11}) und zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 17/12639 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({12})
- Drucksache 17/13256 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleJohannes KahrsOtto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({13})
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13256, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12639 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen nun - Tagesordnungspunkte 46 b bis
46 k - zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 46 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 572 zu Petitionen
- Drucksache 17/13117 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 572 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 573 zu Petitionen
- Drucksache 17/13118 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Vorsichtshalber
frage ich: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 573 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 574 zu Petitionen
- Drucksache 17/13119 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und sozialdemokratische Fraktion. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 574 ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 575 zu Petitionen
- Drucksache 17/13120 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 575 ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 46 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 576 zu Petitionen
- Drucksache 17/13121 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? Linksfraktion. Sammelübersicht 576 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 577 zu Petitionen
- Drucksache 17/13122 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 577 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 578 zu Petitionen
- Drucksache 17/13123 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 578 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 579 zu Petitionen
- Drucksache 17/13124 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 579 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 580 zu Petitionen
- Drucksache 17/13125 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand.
Sammelübersicht 580 ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 581 zu Petitionen
- Drucksache 17/13126 -
Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-
haltungen? - Niemand. Sammelübersicht 581 ist ange-
nommen.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({24}) zu dem Elften Gesetz zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
zes
- Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,
17/13190 -
Berichterstattung: -
Abgeordneter Jörg van Essen
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? -
Das ist nicht der Fall.
Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. Der
Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei-
ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim-
men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/13190? -
Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! -
Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 5 a sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:
5 a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bun-
destages über die Einleitung eines Verfahrens
zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit
der „Nationaldemokratischen Partei Deutsch-
lands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 17/13227 -
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
- Drucksache 17/13225 -
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
NPD verbieten
- Drucksache 17/13231 -
1) Erklärungen nach § 31 GO Anlage 3
Vizepräsident Eduard Oswald
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsextremismus umfassend bekämpfen
- Drucksache 17/13240 Über den Antrag der Fraktion der SPD sowie über
den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind alle damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas Oppermann.
({25})
Danke schön, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Seit anderthalb Jahren diskutieren wir über ein
neues Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Vor vier Monaten hat nach sorgfältiger Vorbereitung durch die Innenminister von Bund
und Ländern der Bundesrat entschieden, einen Verbotsantrag zu stellen. Deshalb ist es heute an der Zeit, dass
auch der Bundestag eine Entscheidung trifft.
({0})
Wir wollen, dass auch der Bundestag einen Antrag
stellt, damit die NPD verboten werden kann. Das Grundgesetz sieht in Art. 21 vor, dass Parteien, die darauf ausgerichtet sind, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, …
verfassungswidrig“ sind. Die Väter und Mütter des
Grundgesetzes haben diese Bestimmung über das Parteienverbot in das Grundgesetz aufgenommen, weil sie
sichern wollten, dass nie wieder die parlamentarische
Demokratie in Deutschland durch Nationalsozialisten
zerstört oder durch eine Gewaltherrschaft abgelöst
werden kann.
({1})
Deshalb sollte die Demokratie des Grundgesetzes als
eine wehrhafte Demokratie ausgestaltet sein. Ich zitiere
dazu Carlo Schmid aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates:
Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nicht
zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selbst
die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.
({2})
Mit anderen Worten: Gegen ihre Feinde dürfen sich
Demokraten nicht neutral verhalten, meine Damen und
Herren.
({3})
Deshalb bin ich einigermaßen froh, dass wir alle uns
in einer Frage wenigstens einig sind: Die NPD ist eine
verfassungsfeindliche Partei. Diese Partei ist antidemokratisch, sie ist antisemitisch, sie ist ausländerfeindlich,
sie ist in Teilen gewaltbereit. Die NPD steht in der Tradition der nationalsozialistischen Ideologie, und die NPD
bekämpft unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Ein Kernelement dieser freiheitlich-demokratischen
Grundordnung, die universelle Geltung der Grund- und
Menschenrechte, ist das, was der SPD als ganz besonderer Angriffspunkt vor Augen steht.
({4})
Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre
geht die NPD davon aus, dass es minderwertige Menschen in Deutschland gibt, Menschen, die wegen ihrer
Herkunft oder ihrer Hautfarbe aus Deutschland vertrieben werden sollen, die kein Recht haben, hier zu leben.
Die NPD will diese Menschen aus Deutschland vertreiben. Da, wo sie sich stark fühlt, errichtet sie sogenannte
national befreite Zonen und organisiert zusammen mit
rechtsextremen neonazistischen Kameradschaften rassistische Gewaltakte gegen unschuldige Opfer. Ich muss
Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich empfinde es
als unerträglich, dass solche Parteiaktivitäten immer
noch mit Steuergeldern finanziert werden.
({5})
Die Demokratie in Deutschland mag stark genug sein,
eine verfassungsfeindliche NPD auszuhalten; die Opfer
der NPD sind es nicht.
({6})
Zu der Aussage von Herrn Rösler, der heute nicht da
ist, in diesem Zusammenhang, Dummheit könne man
nicht verbieten,
({7})
kann ich nur feststellen: Es geht hier nicht darum, ein
paar dumme Gedanken zu verbieten, sondern darum,
eine Organisation, eine Partei zu zerschlagen, die darauf
ausgerichtet ist und die dazu beiträgt, dass Menschen in
Deutschland angegriffen werden.
({8})
Trotz allem habe ich Respekt für diejenigen, die heute
unserem Antrag nicht folgen und dafür Argumente nennen. Ich kenne diese Argumente; ich teile sie nicht, aber
ich respektiere sie. Aber ich halte es für nicht in
Ordnung, dass monatelang versucht worden ist, dieser
Entscheidung auszuweichen.
({9})
Jetzt werden wir auch noch dafür kritisiert, dass wir
diese Debatte erzwungen haben. Jetzt sollen wir auch
noch dafür verantwortlich gemacht werden, dass heute
möglicherweise bei der Abstimmung über unseren Antrag ein uneinheitliches Abstimmungsbild entsteht, das
für den Antrag des Bundesrates nicht vorteilhaft wäre.
Meine Damen und Herren, was ist das für eine verquere
Logik?
({10})
Wenn unser Antrag heute keine Mehrheit findet, dann
liegt das doch nicht an denjenigen, die den Antrag
gestellt haben, sondern an denjenigen, die den Antrag
ablehnen.
({11})
Liebe Renate Künast, Sie haben gesagt, dies sei ein
Showantrag.
({12})
Herr Kollege Oppermann!
Danke, ich habe zu wenig Redezeit. - Ich muss Ihnen
ganz ernsthaft sagen - ({0})
- Dann bitte sehr.
Sie möchten die Zwischenfrage von Herrn Montag
zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Oppermann, danke, dass Sie die Frage
zulassen. Ich verlängere damit Ihre Redezeit; seien Sie
also dankbar.
Das habe ich noch rechtzeitig gemerkt.
({0})
Gut, das stimmt. - Zu meiner Frage. Sie haben, Herr
Kollege Oppermann - jetzt komme ich zum Ernst der
Sache zurück, was angemessen ist -, Ihren Antrag ausführlich begründet. Ich stimme jedem Satz von Ihnen zu:
Die NPD ist eine rassistische, eine verfassungswidrige
Partei.
Das Problem, vor dem wir stehen, ist: Der Deutsche
Bundestag hat nach der Verfassung nicht das Recht, Parteien zu verbieten. Wenn wir das Verbot aussprechen
könnten, hätten wir eine andere Situation. Wir diskutieren ausschließlich über die Frage: Sollen wir einen entsprechenden Antrag an ein Gericht stellen oder nicht?
Dabei müssen wir uns, ob wir wollen oder nicht, zu der
Frage verhalten: Halten wir den Antrag für aussichtsreich oder für nicht aussichtsreich? Es braucht ja eine
rationale, vernünftige Begründung, wenn man vor Gericht ein Risiko eingeht.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, was
Sie eigentlich veranlasst, heute namentlich über Ihren
Antrag abstimmen zu lassen, statt ihn in die Ausschüsse
zu geben. Viele Kollegen - dazu gehöre auch ich - sind
in der Sache ganz nahe bei Ihnen, können Ihnen aber
nicht folgen, da Sie heute eine Stellungnahme von uns
verlangen. Ich persönlich möchte gerne als Mitglied des
Rechtsausschusses im Rechtsausschuss eine Sachdebatte
auch mit Sachverständigen darüber führen können,
welche Erfolgsaussichten - rechtlich und faktisch - ein
solches Verbotsverfahren hätte. Da können wir Argumente austauschen.
Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Der Bundesrat wird
erst im Juni oder im Juli entscheiden. Warum verlangen
Sie von uns heute eine Stellungnahme in Form einer
namentlichen Abstimmung zu der Frage: „Welche
Aussichten hat der SPD-Antrag beim Bundesverfassungsgericht?“, ohne dass wir Gelegenheit hatten, darüber in den Ausschüssen zu reden?
({0})
Lieber Kollege Montag, was die Erfolgsaussichten
dieses Verfahrens betrifft, gehen wir davon aus, dass die
Innenminister von Bund und Ländern sie sehr sorgfältig
geprüft haben. Wir setzen auf die Fakten und auf die
Kraft der Argumente. Die Fakten besagen, dass die NPD
in aggressiv-kämpferischer Weise Menschenrechtsverletzungen in Deutschland organisiert und betreibt.
Es ist in der Tat nicht erwiesen, dass die NPD bei der
Vorbereitung und Durchführung der schweren Terrorstraftaten durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ eine Rolle gespielt hat. Aber es ist doch bei allen
Beteiligten völlig unstreitig, dass die NPD den geistigen
Nährboden dafür geschaffen hat, dass solche schlimmen
Taten in Deutschland geschehen konnten.
({0})
Wir haben im Januar einen Antrag in den Bundestag
eingebracht, in dem wir darum gebeten haben, dass der
Innenausschuss eine Empfehlung für das Plenum erarbeitet. Das, finde ich, war ein seriöses Vorgehen. Das
war kein Showantrag. Allerdings ist dieser Antrag komplett ignoriert worden. Es hat im Innenausschuss nicht
die Arbeit stattgefunden, die wir wollten.
({1})
Wir wollten auch nicht so lange warten, bis das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auf Antrag des
Bundesrates beginnt, sodass wir dann hinterherlaufen.
Jetzt ist die Zeit, über diesen Antrag zu entscheiden.
Deshalb haben wir ihn heute eingebracht.
({2})
Es mag unangenehm sein, jetzt Farbe bekennen und
sich entscheiden zu müssen. Aber diese Unannehmlichkeit kann ich Ihnen nicht ersparen. Nachdem Ihre Kollegin, Frau Künast, in diesem Zusammenhang gesagt hat,
das sei ein Showantrag,
({3})
muss ich Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Dieser Antrag
ist vor dem Hintergrund des historischen, des politischen
und des demokratischen Selbstverständnisses der Sozialdemokratischen Partei
({4})
für uns eine Angelegenheit von ganz großer Ernsthaftigkeit. Davon können Sie ausgehen.
({5})
Für sein Abstimmungsverhalten muss jeder selbst die
Verantwortung tragen.
Immer wieder wird behauptet, eine Partei dürfe nur
verboten werden, wenn sie unmittelbar vor der Machtübernahme stehe. Das ist eindeutig unzutreffend; denn
ein solches Kriterium hat weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte formuliert. Und die Lehre aus der Geschichte
zeigt doch, dass man solchen Parteien frühzeitig entgegentreten muss.
({6})
Schließlich ist ein NPD-Verbot leider auch nicht deshalb überflüssig geworden, weil diese Partei durch Mitgliederschwund, Finanzdebakel und schlechte Wahlergebnisse schwächer geworden ist. Das ist doch nicht von
selbst gekommen. Das ist doch ganz klar eine Folge dessen, dass wir mit der Verbotsdebatte den Druck auf diese
Partei systematisch erhöht haben.
({7})
Der permanente Beobachtungs- und Fahndungsdruck
seit Aufdeckung der NSU-Morde hat die rechtsextreme
Szene in Deutschland erkennbar verunsichert. Diesen
Druck, meine Damen und Herren, dürfen wir jetzt nicht
zurücknehmen. Deshalb bitten wir Sie, unserem Antrag
zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Günter Krings.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für die heutige Debatte halte ich es in der Tat
für besonders wichtig, gleich zu Anfang sehr klar zu unterscheiden zwischen der Einigkeit über das Ziel der Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland und
den offensichtlichen Meinungsunterschieden über die
dazu richtigen und notwendigen Mittel.
Meine Damen und Herren, einig sind wir uns im ganzen Hause auch darin, dass die NPD eine verabscheuungswürdige Partei ist, die nie in dieses Parlament einziehen darf und die auch aus allen Landtagen
verschwinden sollte.
({0})
Die Aussagen führender Politiker dieser Partei gegen
Ausländer sowie der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die daraus sprechen, widersprechen den Grundwerten unseres Landes massiv. Geradezu unerträglich
wird es dann, wenn der Holocaust geleugnet oder relativiert werden soll. Wir treten einer solchen Verhöhnung
der Opfer bei jeder Gelegenheit mit aller Entschiedenheit entgegen.
({1})
Ich habe aus diesen Gründen keine Zweifel, dass die
NPD eine menschenfeindliche und demokratiefeindliche
Partei ist. Ich stimme in großen Teilen Ihrer Rede, insbesondere dem Analyseteil, zu, Herr Oppermann. Diese
Feststellung sagt aber noch nichts darüber aus, ob diese
Partei auch aggressiv-kämpferisch im Sinne der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts agiert, und sagt vor
allem nichts darüber aus, ob ein Verbotsverfahren gegen
diese Partei politisch klug ist. Ich stimme dem renommierten Düsseldorfer Parteienrechtler Martin Morlok,
den Sie sicherlich mindestens genauso schätzen wie ich,
zu, wenn er sagt: „Ein Parteiverbot löst das Extremismusproblem nicht.“ Meine Damen und Herren, man
kann eine Partei verbieten. Aber man kann weder eine
rechtsextreme Gesinnung noch rechtsradikale Menschen
per Hoheitsakt verbieten. Da braucht es eben mehr Engagement.
({2})
Dieses Engagement bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus und der NPD beschreiben und fordern wir
als Koalitionsfraktionen mit unserem Antrag. Wir wollen den Rechtsextremismus vor allem politisch entschlossen bekämpfen. Unser Kampf gründet auf fünf
Schwerpunktbereiche. Ich will nur zwei, drei Beispiele
herausgreifen.
Wir wollen mit der Fortführung bestehender und der
Auflage neuer Programme das zivilgesellschaftliche
Engagement fördern. Ich betone allerdings: Dabei muss
der Kampf gegen den Rechtsextremismus aus der gesellschaftlichen Mitte und nicht von ihren politischen
Rändern her aufgenommen werden.
({3})
Wir brauchen attraktive Programme zum Ausstieg aus
der rechtsextremen Szene, sowohl staatliche wie private
Programme wie das Projekt EXIT, das wir jetzt allein
mit Bundesmitteln weiter fördern.
Wichtig ist des Weiteren eine effektive Arbeit unserer
Sicherheitsbehörden für erfolgreiche Prävention, aber
eben auch für die notwendige konsequente Strafverfolgung. Hier braucht es vor allem eine gute und in Teilen
noch bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei Polizei und Verfassungsschutz. Ich bedanke
mich ausdrücklich bei unserem Innenminister Friedrich
für viele Verbesserungen, die er angestoßen und erreicht
hat. Aber es bleibt auch noch das eine oder andere zu
tun. Für das Erreichte aber erst einmal herzlichen Dank.
({4})
Es ist jedenfalls gut, dass zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus im Bundeshaushalt - das reicht vom
Bundeskriminalamt bis zur Bundeszentrale für politische
Bildung - insgesamt dieses Jahr etwa 25 Millionen Euro
mehr investiert werden.
Meine Damen und Herren, das alles sind Maßnahmen
und Programme, die natürlich weniger spektakulär als
ein Verbotsantrag gegen die NPD sind. Aber sie sind
eben auch viel erfolgversprechender im Kampf gegen
den Rechtsextremismus.
Die Bundesregierung hat sich nach intensiver Prüfung
gegen einen Antrag auf ein Parteiverbot entschieden. Ich
bin der festen Überzeugung, dass sich die Bundesregierung diese Entscheidung mindestens ebenso schwer gemacht hat wie der Bundesrat seine Entscheidung. Natürlich kann sich der Deutsche Bundestag grundsätzlich
anders entscheiden. Es gibt keinen Automatismus, dass
wir entweder dem Bundesrat oder der Bundesregierung
folgen. Aber ich weise auch darauf hin: Der Deutsche
Bundestag ist der einzige von drei im Grundgesetz vorgesehenen Antragstellern, der nicht über eigene nachrichtendienstliche Erkenntnisse verfügt und deshalb auf
Informationen insbesondere aus dem Bereich der Bundesregierung angewiesen ist. Wenn sich der Bundestag
anders entscheidet als die Bundesregierung, dann muss
er dafür schon besonders gute Gründe und besondere eigene Erkenntnisse haben, die in eine andere Richtung
weisen. Die FDP, meine Fraktion und auch große Teile
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen sehen diese besonderen abweichenden Erkenntnisse und Gründe nicht.
Die SPD-Fraktion hat diese, mit Verlaub, in der Sache
auch nicht vorgetragen.
({5})
Man kann natürlich, wie die SPD es heute tut, einen
Verbotsantrag auch um seiner politischen Wirkung willen stellen. Aber auf eines sollten Sie achten: Sie sollten
bei diesem Verbotsantrag nicht Opfer Ihrer eigenen Rhetorik werden. Man kann den Verbotsantrag aus politischen Gründen stellen. Entschieden wird über den Antrag aber nach streng juristischen Kriterien. Ich finde es
schon ein wenig fahrlässig, wenn die SPD die hohen
Hürden für ein Parteiverbot ganz aus ihrem Bewusstsein
verdrängt.
({6})
Der Kollege Oppermann hat nämlich leider recht, als
er in der letzten Debatte zu diesem Thema am 1. Februar
2013 gesagt hat:
Die Rechtsprechung zu den Parteienverboten ist
60 Jahre alt. Ich bin sicher: Das Gericht wird dieses
Verfahren nutzen, um zeitgemäße Verbotskriterien
zu entwickeln.
Herr Oppermann, genau das fürchte ich auch. Ich darf
hierzu nochmals den Parteienrechtler Morlok zitieren:
In den 1950er Jahren war die bundesrepublikanische Demokratie in einer ganz anderen Bedrohungssituation: Es gab noch Millionen ehemaliger
NSDAP-Mitglieder …
Fazit: Die Anforderungen an ein Parteienverbot werden
heute eben nicht einfacher, sondern strenger zu bewerten
sein.
Selbst die Richter, die 2003 das damalige NPD-Verfahren gerne fortgeführt hätten, haben in einem Sondervotum klar zu erkennen gegeben, dass in einem solchen
Verfahren dann natürlich auch die strengeren Kriterien
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur
Anwendung kommen und leider für höhere Hürden sorgen. Das heißt insbesondere, dass die zu verbietende
Partei eine hinreichend bedrohliche, unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Demokratie darstellen muss.
Das ist einmal bejaht worden für eine Partei, die 25 Prozent der Stimmen bei den Wahlen erreicht hatte und
38 Prozent in Umfragen. Bei Wahlergebnissen von
glücklicherweise unter 2 Prozent für die NPD sieht die
Lage ganz anders aus. Offenbar glauben Sie von der
SPD selbst nicht so recht daran, dass diese Mindestanforderungen für das Verbot erfüllbar sind; denn nur so
kann ich Ihre Einlassung in der letzten Parlamentsdebatte, Herr Oppermann, verstehen. Wörtlich sagten Sie:
Dass die NPD … nicht in der Lage ist, den Bestand
der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, liegt
auf der Hand.
({7})
Meine Damen und Herren, wer ernsthaft und effektiv
die NPD und ihr unsägliches Gedankengut ausmerzen
will, muss klug vorgehen und vor allem politische Mittel
wählen. Es kommt ja nicht häufig vor, dass ich mich einer Formulierung des Kollegen Beck bediene, aber ich
finde es sehr treffend, dass Sie, Herr Beck, gesagt haben,
es gehe bei einem Verbotsantrag nicht um eine verfassungspolitische Mutprobe. Damit ist es eben nicht getan.
Wir brauchen vielmehr Mut für den gesellschaftlichen
und politischen Kampf gegen die NPD, hier im Bundestag vielleicht etwas weniger als in vielen Kommunen,
gerade in den neuen Ländern, wo diese Partei ihr Unwesen treibt. Diesen Mut müssen wir aufbringen. Wir sollten daher nicht zu viel Energie auf Antragsverfahren in
Karlsruhe verwenden, sondern uns umso intensiver gemeinsam an die politische Arbeit zur Verteidigung unserer Demokratie machen.
Herzlichen Dank.
({8})
Die Kollegin Ulla Jelpke hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Krings, man muss sich ja fragen, was Ihre Kollegen im
Bundesrat, die ja dem Antrag zugestimmt haben bzw.
das Verbotsverfahren einbringen wollen, dazu sagen,
dass Sie sie hier ganz offensichtlich für unqualifiziert
und nicht durchblickend erklären. Das ist schon sehr bezeichnend, finde ich.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sind uns offensichtlich
einig, dass die NPD eine zutiefst verfassungswidrige
Partei ist, die für demokratische Werte nur Verachtung
übrig hat. Wir konnten in den Materialsammlungen zum
Beispiel Folgendes lesen: Die NPD nennt sich selbst
„völkisch-national“, sie gibt Parolen aus wie „Ja zu
Deutschland! Ja zum Reich!“, sie will Menschenrechte
nur jenen zugestehen, die die „richtigen“ biologischen
Anlagen haben, und die NPD lässt keinen Zweifel daran,
dass sie Verhältnisse wiederherstellen will, wie wir sie
im Faschismus hatten. Es ist die Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten, dafür Sorge zu tragen, dass
diese Partei oder so eine Partei in Deutschland keinen
Platz hat und niemals Fuß fasst.
({1})
Wie streiten ja heute in der Tat über die Mittel der
Wahl. Als Argument gegen ein Verbotsverfahren wird
von den Regierungspolitikern und von den Grünen immer wieder vorgebracht, die NPD schwächele, sie sei nahezu pleite, ein Verbot sei ohnehin nicht ausreichend begründet usw. Das ist - mit Verlaub gesagt - eine banale
Argumentation. Die Linke hat hier im Bundestag Dutzende von Anträgen eingebracht, um die Bekämpfung
des Rechtsextremismus zu befördern. Ein NPD-Parteiverbot war immer nur eines von mehreren Mitteln. Es
gibt aber keinen Grund, auf dieses Mittel, also das Verbot, zu verzichten.
({2})
Denn, meine Damen und Herren, die NPD ist eben keine
beliebige Partei. Sie ist vielmehr die einzige bundesweite und damit wichtigste rechtsextreme Kraft in
Deutschland; ihre Bedeutung geht weit über ihre Wahlergebnisse hinaus. Ich will dafür einige Beispiele nennen.
Die NPD fungiert als Rückgrat für militante Nazikameradschaften. Die versammeln sich beispielsweise in
ihren Parteilokalen, nutzen Parteiinfrastruktur, können
ihre Nazikonzerte auf Grundstücken der NPD machen.
Wenn sie ihre rechten Aufmärsche anmelden, stehen sie
unter dem besonderen Schutz des Parteienprivilegs. Die
enge Verflechtung der NPD mit den gewalttätigen Kameradschaften zeigte sich erst im letzten Jahr wieder. In
Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise der Innenminister drei Kameradschaften verboten. Was passierte? - Der
NPD-Vorsitzende Holger Apfel reiste sofort ins Ruhrgebiet, um seine Solidarität mit diesen Nazischlägern zu
bekunden. Man muss ganz klar sagen: Die Kameradschaften sind diejenigen, die Gewalt ausüben und Menschen terrorisieren, die anders denken, wie beispielsweise Migrantinnen und Migranten. Sie stehen mit ihren
Knüppeln vor deren Haustüren und Ähnliches mehr. Im
Kreis Unna wurde beispielsweise eine Hausdurchsuchung bei den Kameradschaften durchgeführt. Und was
fand man? - NPD-Plakate, Materialien ohne Ende. Hier
muss man ganz deutlich sagen, dass die Kameradschaften so organisiert sind, dass sie im Grunde genommen
versuchen, über die NPD auch den Schutz des Parteienprivilegs in Anspruch zu nehmen. Dass die NPD dafür
auch noch Steuergelder bekommt, ist wirklich ein Skandal.
({3})
Deswegen sage ich: Wir können das nicht hinnehmen.
Ein weiteres Beispiel: In vielen Regionen Ostdeutschlands fordert die NPD ihre Mitglieder auf, die Zivilgesellschaft zu unterwandern. Sie gehen in die Freiwilligen
Feuerwehren, in Sportvereine, in Musikvereine, in
Schulbeiräte, um dort ihr braunes Gift zu verbreiten.
Aus all diesen Gründen träfe ein Verbot der NPD nahezu die gesamten rechtsextremen Strukturen in
Deutschland. Ohne die NPD wären die Kameradschaften
nur halb so gut organisiert.
({4})
Angesichts der Gefahren, die von diesen Kameradschaften und Schlägertruppen ausgehen - nicht nur abstrakt
für die Demokratie, sondern auch sehr konkret für Andersdenkende, Obdachlose und Migranten, die angegriffen werden -, dürfen wir nicht zögern, die NPD zu
verbieten; denn damit würden wir auch die Kameradschaften treffen.
({5})
Nahezu jede Umfrage zeigt uns: In der deutschen Bevölkerung haben Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus leider hohe Zustimmungswerte; denn die sogenannte Mitte der Gesellschaft ist
nicht immun gegen diesen Ungeist. Auch ein Thilo
Sarrazin beispielsweise schwadronierte über den Zusammenhang von Erbanlagen und dem gesellschaftlichen
Wert eines Menschen. Es ist völlig unverständlich, dass
so ein Mensch noch in den Reihen der SPD verbleiben
darf,
({6})
wo doch gerade die Vereinten Nationen seine Äußerungen als rassistisch verurteilt haben.
({7})
Das sind Brandstifter aus der Mitte dieser Gesellschaft.
Ich sage Ihnen: Es ist unglaubwürdig, wenn man solche
Leute in seinen Reihen lässt.
Nicht zuletzt hat auch der Asylkompromiss vor
20 Jahren gezeigt, wie mit Menschenrechten und Menschenwürde umgegangen wurde - das war zu einer Zeit,
als Asylbewerberheime in Deutschland brannten.
Ich betone das, weil es eines klarmacht: Der Kampf
gegen Rechtsextremismus hört nicht beim Kampf gegen
die NPD auf. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem,
und deswegen müssen wir es auch aus der Mitte heraus
bekämpfen.
({8})
Rechtsextremisten müssen geächtet werden. Um den
Nazis das Wasser abzugraben, wäre die Unterstützung
eines Verbotsantrags hier von immenser Bedeutung,
meine Damen und Herren.
({9})
In der Tat, es bleiben noch einige Fragen offen. Die
Linke hat das Material gesichtet und immer wieder klipp
und klar gesagt, dass die Innenminister unbedingt eine
verbindliche schriftliche Erklärung abgeben müssen,
dass das Material nicht wieder V-Leute-verseucht ist, damit das Verbot nicht deswegen wieder scheitert. Zudem
fordern wir die Bundesregierung auf, Informationen
über die Verflechtungen von NPD und Kameradschaften, über ihre Gewaltbereitschaft bzw. ihre Gewalttaten
zusammenzustellen und ebenfalls an die Gerichte zu geben, damit diese entsprechendes Material haben.
Frau Kollegin!
Nicht zuletzt treibt uns die Sorge, dass das Verfahren
gegen die NPD als Alibi missbraucht wird; denn man
muss sagen: Es könnte damit auch sehr leicht abgelenkt
werden von den enormen Skandalen, die wir im NSUVerfahren aufgedeckt haben, was die Sicherheitsbehörden und den Verfassungsschutz angeht.
Frau Kollegin!
Ich komme zum letzten Satz. - Ich kann jetzt nur
noch sagen, dass wir dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht zustimmen werden, weil er vor lauter Eitelkeit
wirklich überhaupt nichts mehr zum NPD-Verbot sagt.
Frau Kollegin!
Die Linke will dieses NPD-Verbotsverfahren.
({0})
Wir müssen endlich Nägel mit Köpfen machen. Ich sage
zum Schluss nur noch: Auschwitz gedenken heißt NPD
verbieten.
Danke schön.
({1})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Stefan
Ruppert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen.
Ich empfand Ihren letzten Satz, Frau Jelpke, offen gesagt, als etwas schlicht in der Argumentationsführung.
Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen - das sollten
wir uns hier nicht absprechen - machen sich die Entscheidung heute nicht leicht.
({0})
Vielleicht ist es sogar die wirksamste Form der Verteidigung der Demokratie, wenn wir in einer solchen Debatte, statt uns abzusprechen, dass wir in diesen Punkten
auf demselben Fundament stehen, gerade die Gemeinsamkeit aller Demokraten in den Vordergrund stellen
und betonen.
({1})
Wir sind nach reiflicher Abwägung aller Argumente
der Auffassung: Der Bundestag sollte keinen eigenen
NPD-Verbotsantrag stellen. Die Risiken sind hoch. Der
Ausgang ist ungewiss. Auch das Problem des Rechtsextremismus wird durch ein NPD-Verbotsverfahren
nicht gelöst. Aufgrund dieses Dreiklangs wollen wir keinen eigenen Verbotsantrag stellen.
Die NPD - ich habe das selbst als wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim letzten NPD-Verbotsverfahren erlebt ist eine zutiefst widerliche rechtsradikale Partei. Sie widerspricht all dem, was mir als Demokrat, aber auch als
Christ wichtig ist. Sie spricht Menschen ihre Würde ab.
Von daher sollten wir der NPD überall entschlossen entgegentreten.
({2})
Für mich als Liberaler ist das zuallererst die Aufgabe
der Gesellschaft. Ein wirksames Präventionsprogramm
gegen Rechtsextremismus ist, wenn wir in Vereinen, in
Feuerwehren, in kulturellen Einrichtungen, im Freundesund Gesprächskreis, in unserem unmittelbaren Umfeld
keinerlei Toleranz für Intoleranz zeigen,
({3})
sondern dem rechtsextremen Gedankengut überall dort,
wo es auftritt, wirksam entgegentreten.
({4})
Heute steht eine politische Entscheidung an. Wir wollen und müssen politisch entscheiden, ob wir einen eigenen Antrag stellen. Herr Oppermann hat gesagt, wir hätten uns damit zu viel Zeit gelassen. Die Grünen werfen
uns vor, wir würden überhastet handeln, was dieses Verbotsverfahren angeht. Ich finde schon - ich respektiere
die Haltung der SPD -, es stünde den Grünen gut an,
heute eine Entscheidung in der Sache zu treffen und ihre
Haltung, sei es dafür oder dagegen, zum Ausdruck zu
bringen. Bei der politischen Bewertung einer solchen
Frage ist Enthaltung nicht das adäquate Mittel.
({5})
Wir Liberale singen gerne das seit dem Vormärz und
den Zeiten der Französischen Revolution in Deutschland
gesungene Lied: Die Gedanken sind frei. Wir hoffen darauf, dass es demokratische, gute, idealistische Gedanken sind, die frei sind. Wenn wir über diesen Satz nachdenken, müssen wir aber auch feststellen, dass staatliche
Mittel gegenüber rechtsextremem Gedankengut, gegenüber der Überzeugung von Rechtsextremen leider relativ
wirkungslos sind. Was nicht wirkungslos ist, sind die
Mittel der Strafverfolgung. Darin sind wir uns alle einig.
Dort, wo Rechtsextreme Straftaten begehen, wo sie den
Boden des Strafgesetzbuches und die Werte unserer Gesellschaft verlassen, wo sie andere Menschen missachten, sie gegebenenfalls sogar verletzen oder töten, muss
mit aller Härte dieses Rechtsstaates dem Rechtsextremismus entgegengetreten werden. Deswegen ist es
wichtig, dass wir in solchen Fällen immer unsere Solidarität zeigen.
Am Anfang habe ich gesagt, die Risiken sind hoch,
die Erfolgschancen ungewiss und die zu erzielenden Erfolge relativ klein. Das sage ich auch in dem Wissen,
dass wir im damaligen NPD-Verbotsverfahren dazu beigetragen haben, dass die NPD im Zusammenhang mit
dem Scheitern durchaus neue Mitglieder gewonnen hat,
weil wir sie zu Märtyrern gemacht haben. Wir sollten die
Mitglieder dieser Partei nicht zu Märtyrern machen. Wir
sollten ihnen dort entgegentreten, wo wir ihnen begegnen: jeder in seinem Alltag und gemeinsam als Demokraten. Ich glaube, damit erreichen wir mehr als mit einem NPD-Verbotsverfahren.
Herzlichen Dank.
({6})
Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir sind uns im Deutschen Bundestag einig:
Die NPD ist eine menschenverachtende, rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei, die auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgerichtet ist. Aus der Materialsammlung des
Bundes und der Länder geht das zweifelsfrei hervor. Die
NPD ist antisemitisch, rassistisch, islam- und menschenfeindlich. Sie lehnt das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland ab und will es beseitigen. Sie
will ihre Rolle als Partei nutzen, um Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit - im NPD-Jargon heißt das: das System - zu überwinden. Alle Mitglieder unserer Fraktion
würden es lieber heute als morgen sehen, dass es die
NPD nicht mehr gibt, weil sie verboten ist oder weil sie
politisch oder finanziell Bankrott anmelden muss.
({0})
Udo Voigt, der ehemalige Vorsitzende der NPD,
sagte: „BRD heißt das System - morgen soll es untergehen!“ Die NPD lehnt die Werte des Grundgesetzes
- Gleichheit und Freiheit - grundsätzlich ab. Karl
Richter, ein NPD-Funktionär und Stadtrat aus München,
formuliert ganz rassenbiologisch:
Toleranz ist Manipulation des Natürlichen … Toleranz wird eingefordert für Fremde, Homosexuelle,
Aidskranke … wo die Toleranz gegenüber Abweichendem, Lebens-Unrichtigem überhand nimmt auf
Kosten der normalgebliebenen Mitglieder des Gemeinwesens, nimmt die Überlebensfähigkeit des
Ganzen Schaden … weil der Patient …
- die weiße Menschheit vor dem Exitus steht.
({1})
Volker Beck ({2})
Hier wird gegen Minderheiten gehetzt. Deshalb muss
man sich der NPD mit allen demokratisch legitimen Mitteln überall entgegenstellen.
({3})
Es gibt Verbindungen der NPD zu verbotenen rechtsextremistischen Organisationen und neonazistischen
Straf- und Gewalttätern. Es gibt eine perfide Kooperation mit den Freien Kameradschaften, den sogenannten
Freien Kräften. Diese Freien Kräfte bieten dem rechtsextremen Spektrum Flexibilität, Mobilisierungsfähigkeit und Aktionsorientierung. Die NPD versucht währenddessen, den Schutz durch das Parteienprivileg für
sich zu reklamieren. Karl Richter hat dazu gesagt, dass
das zwei Herangehensweisen, zwei Seiten der gleichen
Münze, zwei Scheiden der gleichen Klinge sind. Aber
unter dem Strich zählt, dass der Hieb, der mit dieser
Klinge geführt wird, auch sitzt.
Was die NPD will, ist ganz klar. Deshalb ist sich unsere Fraktion einig: Wenn ein Verfahren zum Verbot der
NPD große Chancen hätte, würden wir mit fliegenden
Fahnen sofort alle gemeinsam Ja sagen. Es gibt allerdings noch einige Fragen. Ich finde es wirklich bedauerlich, Kollege Oppermann, dass wir diese Fragen nicht in
einem ordentlichen Verfahren in den Ausschüssen, auch
mithilfe von Sachverständigen, klären können. Das ist
zum Beispiel die Frage nach den V-Leuten. Ich habe gestern zum zweiten Mal das Innenministerium gefragt,
welche Innenminister denn das Testat, dass das Material
V-Mann-frei ist, wieder zurückgezogen haben. Die Regierung antwortet einfach nicht
({4})
und verweist auf einen IMK-Beschluss. Hinzu kommt:
10 Prozent des Materials wurden entfernt, weil es quellenbelastet war. Was das für das Verfahren heißt, kann
niemand hier im Hohen Hause aus eigenem Wissen als
Bundestagsabgeordneter letztgültig beurteilen.
({5})
In meiner Fraktion gibt es viele, die darauf setzen,
dass die offensichtliche Nähe der NPD zum Nationalsozialismus und zu den gewalttätigen Kameradschaften
sowie ihre Entschlossenheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - die Grundsätze der Bundesrepublik Deutschland - abzuschaffen, ausreichen, um das Bundesverfassungsgericht und europäische Gerichte von der
Möglichkeit eines Parteiverbots zu überzeugen. Es gibt
andere, die fragen: Kann man mit diesem Material tatsächlich nachweisen, dass die NPD für den Bestand von
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland eine ernsthafte Gefährdung darstellt?
({6})
Das sind keine trivialen Überlegungen, sondern sie
verdienen eine ernsthafte Erörterung. Deshalb sage ich:
Wenn wir als Deutscher Bundestag - ein Verfassungsorgan, das weder der Bundesregierung noch dem Bundesrat zu folgen hat, sondern aus eigener Erkenntnis und
Einschätzung sein Urteil zu fällen hat - einen Verbotsantrag stellen, bedarf das einer seriösen und sorgfältigen
Herangehensweise.
({7})
Das sehe ich in dem heutigen Verfahren in der Tat nicht.
Ich verstehe nicht den Sinn darin, dass man hier einen
Antrag auf das Stellen eines Verbotsantrages stellt, von
dem man - schon aufgrund der Koalitionsmehrheit weiß, dass er keine Mehrheit findet.
({8})
Ich muss Ihnen sagen: Ich möchte dem Bundesrat bei
seinem Versuch, die NPD zu verbieten, keine Knüppel
zwischen die Beine werfen.
({9})
Für mich macht es einen Unterschied, ob der Bundestag
einfach nicht von seinem Recht auf das Stellen eines Antrags Gebrauch macht oder ob er hier gezwungen wird,
den Antrag auf das Stellen eines Antrages mit Mehrheit
abzulehnen. Das halte ich für keine kluge Entscheidung,
für kein hilfreiches Signal im Hinblick auf das vom Bundesrat beantragte Verbotsverfahren, und es wird der
Ernsthaftigkeit des Sachverhaltes nicht gerecht.
({10})
Wir sollten die Frage „Kann man die NPD verbieten
oder nicht?“ - nicht die Frage „Will man sie verbieten?“ nicht parteipolitisch instrumentalisieren.
({11})
Mich erinnert das alles ein bisschen an 2003. Es wirkt
wie ein Wettbewerb: Wer kommt bei der Meisterschaft
gegen die NPD am höchsten aufs antifaschistische
Treppchen?
({12})
Das ist aber nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen
eine seriöse Diskussion und eine verantwortliche Entscheidung in der Sache. Ich habe von dir, Thomas, kein
Argument dazu gehört, wie du die entsprechenden Hürden der Rechtsprechung überwinden willst. Aber das ist
die Frage, auf die man vor Gericht antworten muss.
({13})
Wir werden uns bei der Abstimmung über die Anträge von SPD und Linken enthalten, weil wir nicht sehen, dass das entsprechend seriös diskutiert wurde.
({14})
Volker Beck ({15})
Kurz zu unserem Antrag. Wir stellen fest: Unabhängig vom Ausgang des NPD-Verbotsverfahrens, das es
aufgrund des Antrags des Bundesrates auf jeden Fall geben wird, gibt es Aufgaben im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Das staatliche Versagen bei der Aufklärung der NSU-Morde darf nicht folgenlos bleiben. Die
zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus darf man nicht länger in ihrer Arbeit behindern, und
sie müssen auf eine dauerhafte finanzielle Grundlage gestellt werden. Denn der Kampf gegen den Rechtsextremismus wird nicht an einem Tag gewonnen.
({16})
Ich komme zum Schluss. Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, Sie beweihräuchern
sich in Ihrem Antrag angesichts dessen, was Sie alles
Tolles gemacht haben, unter anderem, dass Sie die Kürzungen, die Sie bereits beschlossen hatten, auf Druck der
Opposition zurückgenommen haben. Aber Sie sagen
kein Wort zu dem, was wir im Bundestag schon beschlossen haben: dass wir die Hürden beseitigen, dass
wir von der kurzatmigen Projektförderung über nur drei
Jahre wegkommen und die Extremismusklausel endlich
zurücknehmen.
Herr Kollege.
Da würde sich zeigen, ob Sie es ernst meinen.
({0})
Ich erwarte von allen - ob Sie jetzt mit Ja, Nein oder
Enthaltung stimmen -, dass wir uns am 1. Mai in Dortmund und Berlin sehen, wenn die NPD und Die Rechte
auf die Straße gehen.
Herr Kollege.
Da ist jeder Demokrat auf der Straße gefordert.
({0})
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Dr. HansPeter Uhl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und
Kollegen! Bei der Frage, ob der Bundestag beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag stellen soll, sind wir
alle in einer schwierigen Situation. Das ist, glaube ich,
jedem in der Debatte deutlich geworden. Es gibt bestimmte Sprecher einer Fraktion, die es bei der Debatte
besonders schwer haben; Sie haben es gerade in Gestalt
von Herrn Beck gehört.
Ich meine, wir alle miteinander - jeder Redner für
sich - sollten zunächst einmal gemeinsam feststellen,
dass das Gedankengut, das die Vertreter der NPD vortragen, materiell verfassungsfeindlich ist. Der Antisemitismus, den sie vortragen, ist für uns alle unerträglich.
({0})
Der Antisemitismus und Rassismus in seiner widerwärtigen Form, der Ausländerhass, sind das Gegenteil dessen,
was wir alle mit unserer Politik verfolgen: eine Integration der Menschen, die zu uns kommen, und der Erhalt
des sozialen Friedens. Mit diesem Gedankengut kann
man niemals sozialen Frieden erreichen; er wird dadurch
zerstört.
Der primitive Führerkult, den NPD-Vertreter vortragen, ist das Gegenteil einer pluralen, freiheitlichen Demokratie. Da sind wir alle uns einig. Lassen Sie uns
doch bitte immer wieder festhalten, dass es diese Einigkeit gibt: Es gibt keinen Dissens, wohin ich auch schaue,
von links bis rechts. Das ist das große Verdienst aller
hier vertretenen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sollten gemeinsam darauf stolz sein, dass es uns
gelungen ist, dieses Gedankengut in unserer Demokratie
zu ächten. 99 Prozent der Deutschen wollen mit diesem
Gedankengut nichts zu tun haben. Darauf sollten wir
stolz sein, und das müssen wir erhalten.
({1})
Jetzt sind wir beim Kern des Themas. Das Thema lautet: Kann oder darf der Staat eine Partei verbieten, die
der Wähler bereits mit überwältigender Mehrheit ächtet,
was er an jedem Wahlsonntag wieder unter Beweis
stellt? 99 Prozent der Wähler ächten dieses Gedankengut. Kann der Staat diese Partei dennoch verbieten?
({2})
Der Blick ins Grundgesetz lehrt uns: Die Gedanken
sind frei, die Gründung einer Partei ist frei, sie unterliegt
keiner staatlichen Aufsicht, sofern nicht gegen Gesetze
verstoßen wird.
({3})
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der tragende Gedanke des Rechtsstaates. Alles, was der Staat tut, muss
dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Diesen Gedanken auf die NPD angewandt, kommt man zu
folgenden Erkenntnissen: Wir haben leider Gottes etwa
23 000 Rechtsextreme in unserem Land, nur 5 000 davon sind in der NPD.
({4})
Die NPD ist glücklicherweise eine sterbende Partei.
Selbst unter Rechtsextremen ist sie nicht attraktiv und
nicht anerkannt. Darüber sind wir froh. Es ist auch unsere Leistung, unser Erfolg, dass das so ist. Das heißt,
diese Partei ist für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne Bedeutung. Sie ist widerwärtig, sie ist
unangenehm, sie muss bekämpft werden, aber für die
politische Entwicklung in unserem Land ist sie ohne Bedeutung. Sie hat keinen Einfluss bei der Willensbildung
des Volkes.
Diese Erkenntnis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angewendet, wird es für das Gericht schwer sein, ein
Verbot dieser Partei von Staats wegen zu begründen.
Aber gerade weil es schwierig bis unmöglich ist, dass
der Staat diese Partei verbietet, ist es umso mehr die
Aufgabe der gesamten Gesellschaft, das Gedankengut zu
bekämpfen. Eine Partei nicht zu verbieten, heißt doch
nicht, dass man das Gedankengut nicht bekämpft, sondern gerade deswegen muss es von uns allen bekämpft
werden. Dem dient unser Antrag.
Wenn Sie unseren Antrag lesen - er hat übrigens über
lange Strecken verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was
die Fraktion der Grünen jetzt noch nachgeschoben hat -,
werden Sie feststellen, dass er dem Kampf der gesamten
Gesellschaft gegen dieses Gedankengut dient; und das
ist gut so.
({5})
Das heißt, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird
sein, weiterhin, wo immer wir sind, Gedanken des Antisemitismus zu bekämpfen, Gedanken des Rassismus zu
bekämpfen, Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen und
den Führerkult zu ächten. Das ist die Aufgabe von uns
allen. Wir haben uns ihr verschrieben, und wir sind ihr
bisher mit großem Erfolg nachgekommen.
Ich hoffe, dass es bei der Bundestagswahl im kommenden September wieder dazu kommt, dass nur null
Komma irgendwas Prozent der deutschen Wähler einer
Partei mit diesem Gedankengut ihre Stimme geben und
99 Prozent der Wähler dieses Gedankengut durch ihre
Stimme ächten. Ein solches Votum der Wähler ist sehr
viel edler: ganz frei, geheim, jeder für sich. Es ist sehr
viel wertvoller als ein obrigkeitsstaatliches Verdikt von
einem Gericht, beantragt von Verfassungsorganen. Der
Wähler soll sagen: Wir wollen damit nichts zu tun haben; wir haben aus der Geschichte gelernt. - Der Wähler
hat es bisher getan, er wird es auch weiter tun.
Danke schön.
({6})
Für den Bundesrat erteile ich jetzt dem Landesminister Boris Pistorius das Wort.
({0})
Boris Pistorius, Minister ({1}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich darf vorwegschicken: Ich bin
der SPD-Bundestagsfraktion sehr dankbar für die Möglichkeit, diese Debatte heute hier zu führen. Nach den
Diskussionen der letzten Monate ist sie zum jetzigen
Zeitpunkt notwendig.
({2})
Es stimmt: Die NPD hat in den letzten Jahren Mitglieder verloren. Es trifft zu: Die NPD befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten. Sie hat ihre Vorstandsmitarbeiter entlassen. Diese Entwicklung ist überaus erfreulich.
Aber ist deswegen ein NPD-Verbot überflüssig?
({3})
Sollen wir darauf hoffen, dass sich das Problem NPD
von alleine erledigt? Sollen wir bis dahin einfach die
Hände in den Schoß legen? Wäre das etwa ein Zeichen
demokratischer Geschlossenheit?
({4})
Die Antwort kann mit Blick auf die Opfer der NPDPropaganda in Deutschland nur heißen: Nein, wir dürfen
nicht einfach nur abwarten.
({5})
Das von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Einleitung eines Verbotsverfahrens zusammengestellte Materialkonvolut, das übrigens zu drei Vierteln aus Materialien des Bundes besteht, belegt es eindeutig: Die NPD ist
eine neonazistische, eine antisemitische und eine rassistische Partei.
({6})
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten und
auch heute viel über das Risiko eines solchen Antrags
und die Ungewissheit des Ausgangs eines Verbotsverfahrens gehört. Aber ich frage Sie: Vor welchem Gericht
in Deutschland gibt es hundertprozentige Gewissheit im
Hinblick auf das, was ich mit meinem Antrag, meiner
Klage bewegen will?
({7})
Ich hielte es für einen Ausdruck demokratischer Geschlossenheit und Entschlossenheit, diesen Antrag auch
dann zu stellen, wenn man, wie im Regelfall, nicht hundertprozentig sicher sein kann, Erfolg damit zu haben.
Wir alle kennen das Sprichwort über Gerichtsentscheidungen.
Es ist schwer zu ertragen, wenn von der NPD als einer
Dummheit gesprochen wird, die man nicht verbieten
könne.
Minister Boris Pistorius ({8})
({9})
Noch schwerer ist es nachzuvollziehen, dass die Bundesregierung sich dieser Auffassung anschließt. Menschen
mit Migrationshintergrund, Angehörige anderer Religionsgemeinschaften - insbesondere Juden und Muslime -,
Wohnungslose, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle: Sie alle werden von der NPD systematisch diffamiert. Diesen Menschen muss es doch wie Hohn vorkommen, dass diese widerwärtige Propaganda der NPD
zu einem großen Teil mit staatlichen Mitteln finanziert
wird.
({10})
Allein im Jahre 2011 machten sie 42 Prozent der Gesamteinnahmen der NPD aus.
Als Innenminister eines Flächenlandes, das rechtsextremen Tendenzen sehr kritisch und sehr aufmerksam
begegnet, sage ich: Erstens verharmlost es die NPD,
wenn man sie einfach nur als Dummheit bezeichnet.
({11})
Zweitens muss man gegen Dummheit angehen,
({12})
und zwar mit Aufklärung, mit Sensibilisierung, mit Aussteigerprogrammen und, ja, auch mit einem Parteiverbotsantrag.
({13})
Es stimmt ja: Dummheit kann man nicht verbieten.
Wohl aber diese Partei. Wenn die Klügeren immer nur
nachgeben, dann gewinnen am Ende die Dummen.
({14})
Die Demokraten im Bund und in den Ländern müssen
geschlossen zusammenstehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Rechten auch nur einen Quadratmeter Boden in den Köpfen der Menschen dazugewinnen. Es
steht außer Frage, dass die NPD eine verfassungsfeindliche Partei ist. Für mich steht auch außer Frage: Wir können und werden das Bundesverfassungsgericht davon
überzeugen, dass die NPD in aggressiv-kämpferischer
Art und Weise unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen will.
({15})
Wir brauchen für den Nachweis auch keine plakativen
Aufrufe der NPD zu Gewalt oder lange Straftatenregister. Ein planvolles politisches Vorgehen wird ausreichend deutlich anhand einer Vielzahl von Materialien,
die auch im Internet einsehbar sind. Auch wenn es mir
schwerfällt, zitiere ich aus dem Internetauftritt der NPD:
Ein Afrikaner, Asiate oder Orientale wird nie Deutscher werden können, weil die Verleihung gedruckten Papiers ({16}) ja nicht die biologischen Erbanlagen verändert, die für die Ausprägung
körperlicher, geistiger und seelischer Merkmale
von Einzelmenschen und Völkern verantwortlich
sind.
Welchen Beweises braucht es noch?
({17})
Ein Verbot der NPD ist nicht gleichbedeutend mit einem Sieg über den Rechtsextremismus. Diese Illusion
hat niemand. Aber ein Verbot der NPD würde den
Rechtsextremismus dort, wo er immer noch starke
Strukturen hat - zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen -, ins Mark treffen.
({18})
Vor allem aber sendet eine gemeinsame Erklärung zu einem NPD-Verbotsverfahren ein starkes moralisches und
politisches Signal aus. Deswegen, meine Damen und
Herren von der CDU, von der CSU, von der FDP und
auch von den Grünen, fordere ich Sie als niedersächsischer Innenminister und Vorsitzender der Innenministerkonferenz auf - ich bitte Sie herzlich -: Schließen Sie
sich dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und dem
Antrag des Bundesrates an. Wir schulden es den Opfern
rechtsextremistischer Gewalt.
Vielen Dank.
({19})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hartfrid Wolff
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Pistorius, wir schulden es den Opfern rechtsextremistischer Gewalt, dass wir wirkungsvoll gegen
Rechtsextremismus vorgehen und hier keine Ablenkungsdebatten über das NPD-Verbotsverfahren führen.
({0})
Für die FDP besteht kein Zweifel: Die NPD ist eine
rechtsextremistische Partei mit menschenverachtenden
Inhalten. Natürlich gehört zur wehrhaften Demokratie
auch das Parteiverbot. Man muss sich aber die Frage
stellen, ob durch ein Verbot nicht einfach nur eine Hülle
beseitigt wird, das Grundproblem aber bestehen bleibt.
({1})
Hartfrid Wolff ({2})
Gerade für die FDP hat ein wirkungsvolles Vorgehen
gegen politischen Extremismus höchste Priorität. Auch
die übelste Gesinnung kann man nicht einfach verbieten,
und Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Jedenfalls ist
ein NPD-Verbot kein Patentrezept, auch wenn die SPD
das hier suggerieren möchte. Selbst wenn die rechtsextremistische Szene durch ein Verbot vorübergehend
geschwächt würde, sind größere Anstrengungen notwendig, auch der Länder, Herr Pistorius, und zwar insbesondere im Polizeibereich, um den Druck auf diese Szene
massiv zu erhöhen.
Auch juristisch ist Vorsicht geboten. Das lehren allein
schon das gescheiterte Verfahren 2003 und die bisherige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zu anderen Parteiverbotsverfahren.
Aber nicht nur juristisch gilt es, das Für und Wider
abzuwägen. Wir haben vielfach die Erfahrung gemacht:
Wenn eine rechtsextreme Organisation verboten wird,
gründet sie sich unter anderem Namen neu. Wie oft soll
das Spiel denn immer wieder neu beginnen? Verschafft
ein Verbotsverfahren nicht unnötigerweise einer Partei
Aufmerksamkeit, die angesichts ihrer Mitgliederentwicklung und ihrer Finanzen ohnehin am Boden liegt?
Die Länder erwecken mit einem monatelang andauernden Verbotsverfahren den Eindruck besonderen
Engagements. Tatsächlich haben die Länder aber über
viele Jahre hinweg bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus versagt. Die NSU-Mordserie hat dies sehr deutlich gezeigt.
Herr Wolff, der Kollege Gysi hat eine Zwischenfrage
an Sie. Möchten Sie sie zulassen?
Nein. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, offenbar wollen Sie auch mit Ihrem Antrag hier im
Bundestag den Eindruck eines besonderen Engagements
erwecken. Wir stehen aber vor anderen Herausforderungen; denn die Morde der Zwickauer Terrorzelle sind die
schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten
Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland
bisher erlebt hat. Das ist eine Krise in Bezug auf die Sicherheitsarchitektur und die -organe.
({0})
Es fehlt allerdings nach wie vor der Nachweis eines
unmittelbaren Zusammenhangs mit der NPD als Partei.
Generalbundesanwalt Range sprach davon - angesichts
unserer Ermittlungen im Untersuchungsausschuss wissen wir, dass das sehr plausibel ist -, dass es keinerlei
Anhaltspunkte dafür gebe, dass der NSU quasi als verlängerter Arm der NPD angesehen werden könne. Das in
diesem Zusammenhang permanent öffentlich vorgetragene Ansinnen der SPD zum NPD-Verbotsverfahren soll
offenbar einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Doch
mit einem NPD-Verbot wäre in Sachen NSU nichts gewonnen. Durch ein Verbotsverfahren gegen die NPD
darf das öffentliche Interesse nicht von der Aufklärung
der NSU-Verbrechen abgelenkt werden.
({1})
Die Diskussion über den dringenden Reformbedarf
unserer Sicherheitsarchitektur darf nicht durch diese
symbolhafte NPD-Verbotsdebatte verdeckt werden. Die
Neuaufstellung der Behörden ist nötig. Hier ist das Bohren dicker Bretter gefragt - und eben keine Ablenkungsdebatte.
Mit einem schlichten Verbot einer Partei ist es für uns
nicht getan. Die FDP besteht nach wie vor auf der wirkungsvollen Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Extremismus insgesamt und einer lückenlosen Aufklärung der NSU-Mordserie. Die FDP wird sich weiterhin
kompromisslos gegen extremistische Ideologien in unserer Gesellschaft, egal wo sie auftreten, einsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi.
Herr Wolff - dasselbe könnte ich zum Vertreter der
Grünen sagen -, mir fallen zwei Dinge auf.
Erstens. Sie tun immer so, als würden wir hier entscheiden, ob es ein Verfahren geben wird oder nicht, und
dies juristisch abwägen. Es wird ein Verfahren geben,
weil der Bundesrat dies entschieden hat. Es geht doch
nur um die Frage, ob der Bundestag den Bundesrat unterstützt oder alleinelässt. Das ist die Frage, die wir hier
zu beantworten haben.
({0})
Zweitens. Mich stört, dass Sie sagen, ein Verbot nutze
in bestimmten Bereichen nichts. Dass das nicht ausreicht, wissen wir alle. Aber glauben Sie nicht, dass ein
Verbot der NPD eine wichtige Hemmschwelle in unserer
Gesellschaft setzt und zugleich dem Ausland signalisiert, dass wir in Deutschland das Überschreiten einer
bestimmten Grenze bei Rassismus, Antisemitismus und
Ausländerfeindlichkeit nicht zulassen? Wäre es nicht
wichtig, dieses Signal zu setzen?
({1})
Herr Wolff zur Antwort bitte.
Herr Kollege Gysi, zunächst einmal ist die Frage, ob
man hinter einem Antrag steht oder nicht, schon bedeuHartfrid Wolff ({0})
tend. Wenn ich daran denke, wie 2003 das NPD-Verbotsverfahren ausgegangen ist, kann ich Ihnen nur sagen: Es
ist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Zeichen, dass der
Deutsche Bundestag klar erklärt, dass er Rechtsextremismus politisch bekämpfen möchte
({1})
und von der juristischen Art und Weise, ihn zu bekämpfen, wie sie auch von Ihnen unterstützt wird, nicht wirklich überzeugt ist.
({2})
Sie sagen, dass es bei einem NPD-Verbotsverfahren
darum geht, ein Zeichen zu setzen. Aber wenn diese Partei tatsächlich verboten werden würde, hätten wir doch
nach kürzester Zeit eine andere Partei - solche Parteien
gibt es schon in der Parteienlandschaft -, die dann in den
Genuss von finanzieller Unterstützung durch Parteienfinanzierung und Ähnlichem käme, falls sie genügend
Wähler gewinnt.
Ich sage Ihnen ganz offen: Das beste Signal gegen die
NPD haben die Wähler in Niedersachsen und auch bei
der letzten Bundestagswahl gesetzt, indem sie die NPD
nur sehr wenig unterstützt haben. Die NPD hatte bei diesen Wahlen keinen Erfolg. Um wirkungsvoll gegen Extremismus vorzugehen, muss es dieses Wahlverhalten
auf allen Ebenen, auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene, geben. Die Programme, die die Bundesregierung
vorgelegt hat, sind gute Schritte in die richtige Richtung.
({3})
Der Kollege Dr. Franz Josef Jung hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich denke, alle Demokraten sollten sich einig
sein, dass Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus in Deutschland keine Chance haben dürfen
({0})
und dass wir alles tun, um das sowohl politisch als auch
gesellschaftlich zu bekämpfen.
Die menschenverachtende Gesinnung von Rechtsextremisten steht in einem deutlichen Widerspruch zu
den Werten unserer Verfassung. Insofern ist es eindeutig
- wir haben das, denke ich, auch betont -: Die NPD verfolgt verfassungsfeindliche Ziele. Wer sich die Nazidiktatur zum Vorbild nimmt, steht in einem eindeutigen
Widerspruch zu den Werten unserer Verfassung und hat
unseren Widerstand verdient.
({1})
Deshalb sind, denke ich, sowohl Politik als auch
Gesellschaft gefordert, alle Erscheinungsformen des
Rechtsextremismus zu bekämpfen. Hierbei geht es uns
um einen umfassenden und nicht um einen einseitigen
Ansatz.
In unserem Antrag haben wir die einzelnen Positionen dargestellt. Es geht um Bildung als Beitrag zur Sensibilisierung gegen Rechtsextremismus, um die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements, zum
Beispiel durch die Bundesprogramme „Zusammenhalt
durch Teilhabe“ und „Toleranz fördern - Kompetenz
stärken“. Es geht aber auch um den Vereinsbereich. Im
Bereich des Sports beispielsweise gibt es das Programm
„Verein({2}) gegen Rechtsextremismus“. Außerdem müssen wir die Aussteigerprogramme unterstützen und Hilfe
zur Selbsthilfe geben; immerhin sind in diesem Rahmen
schon 100 Personen aus dem rechtsextremistischen Milieu ausgestiegen. Ich glaube, es ist ein wichtiger Punkt,
auch in dieser Richtung alles Notwendige zu tun. Wir
müssen die verschiedensten Facetten nutzen, um den
Rechtsextremismus zu bekämpfen, sowohl politisch als
auch gesellschaftlich, und dies nicht nur mit einem einseitigen Verbotsantrag.
({3})
Dazu gehören auch die effektive Prävention und die
strenge Repression durch staatliche Stellen: durch Polizei,
Justiz, Bundeskriminalamt und die Verfassungsschutzbehörden.
Ich will hervorheben: Dort, wo wir die Kompetenz
haben, zu entscheiden, haben wir entschieden. So wurden in Deutschland beispielsweise zehn extremistische
Vereine verboten, wir haben die Verbunddatei gegen
Rechtsextremismus auf den Weg gebracht und die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden verbessert. Das alles sind Punkte, die aus unserer Sicht dazugehören.
Kollege Gysi, wir haben in unserem Antrag ausdrücklich formuliert, dass wir es begrüßen, dass das von den
Ländern in Gang gesetzte Verfahren von der Bundesregierung unterstützt wird. Aber wir haben Zweifel im
Hinblick auf die angemessene Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes; das ist
ein Aspekt, den man in dieser Debatte nicht verkennen
darf. Die NPD nutzt ein solches Verfahren nämlich, um
sich ein Stück weit zu profilieren; das haben wir an einigen Anträgen vonseiten der NPD gesehen.
Ich glaube, das Kriterium, das wir an den SPD-Antrag
anlegen müssen, ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines Parteienverbotes. Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt: Ein Parteienverbot ist nur dann möglich, wenn die Gefahr besteht, dass die Existenz der
Demokratie durch die betreffende Partei unmittelbar gefährdet ist. - Wir haben angesichts eines Bundestagswahlergebnisses von 1,5 Prozent Zweifel, dass dieses
Vorgehen gerechtfertigt ist.
({4})
Meine Damen und Herren, bundespolitisch steht diese
Partei dort, wo sie hingehört, nämlich im Abseits. Das
wollen wir auch bei den kommenden Wahlen erreichen.
Deshalb wollen wir den politischen Kampf gegen den
Rechtsextremismus nicht einseitig, sondern umfassend
führen. Der beim Bundesverfassungsgericht eingereichte
Antrag auf Verbot dieser Partei ist lediglich ein Baustein
im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Im Falle des
Scheiterns kann er aber zu einer großen Baustelle werden. Wir haben ja gesehen: Als das Verbotsverfahren
2003 gescheitert ist, sind die Stimmanteile der NPD gestiegen; das muss in dieser Debatte mitberücksichtigt
werden. Genau das wollen wir verhindern. Wir wollen
diese Partei bekämpfen, ihr aber nicht die Chance geben,
sich zusätzlich zu profilieren.
({5})
Meine Damen und Herren, ich denke, unser Antrag ist
der weitergehende und effektivere Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Deshalb bitte ich Sie um
Unterstützung unseres Antrags.
Besten Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael
Hartmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tat: Jeder, der zu dem scharfen Schwert
eines Parteienverbots greift, muss sich sehr genau überlegen: Ist das gerechtfertigt, und ist das maßvoll? Ist es
das, was wir in einer entwickelten liberalen Demokratie
tatsächlich wollen? Um darauf Antworten zu finden, will
ich in aller Kürze ein paar Zitate verlesen.
Im Grundsatzprogramm der NPD gibt es ein Kapitel
mit der Überschrift „Integration ist Völkermord“. In
diesem Kapitel wird gefordert, dass die deutsche Volkssubstanz zu erhalten ist. So lautet der Text.
Nun zum gesprochenen Wort; bei der Gesamtabwägung geht es ja auch um die aggressiv-kämpferische
Grundhaltung. Da sagt ein hoher Funktionär der NPD
bei einer öffentlichen Veranstaltung in Gera in Richtung
Gegendemonstranten:
Wir sagen: Tod, Vernichtung diesem roten Mob.
Nicht unser Volk darf sterben, sondern dieser volksfeindliche Pöbel.
Dann gibt es eine weitere Veröffentlichung eines NPDKandidaten, der auf seiner Homepage die Frage stellt:
Sind die „Dönermörder“ verfassungsgemäße Widerständler?
Was brauchen Sie noch, um zu sagen: „Diese Partei
muss verboten werden!“?
({0})
Wir leben in einem Land, das aufgebaut ist auf einem
Nie-wieder zu nationalsozialistischer Tyrannei. Insofern
ist es ein Gebot der Staatsräson, diese Partei durch das
Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen.
({1})
Der Bundesrat hat abgewogen - übrigens in engster
Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium und
mit den Sicherheitsbehörden des Bundes; man war also
immer dabei - und ist zu dem Ergebnis gekommen: Jawohl, wir wollen es noch einmal wagen und ein Verfahren anstrengen.
Entgegen dem, was zum Beispiel der Kollege Wolff
vorhin in der Entgegnung auf die Kurzintervention
sagte, ist es nicht wahr, dass das Bundesverfassungsgericht der NPD jemals attestiert hätte, dass sie verfassungsgemäß sei - das Verfahren wurde überhaupt nicht
zugelassen.
Das neue Verfahren ist gründlich und durchdacht vorbereitet. Mit dem Antrag der SPD wollen wir die Gelegenheit bieten, dass wenigstens dieses Verfassungsorgan
den Bundesrat nicht im Regen stehen lässt, wie es die
Bundesregierung - mehr aus koalitionärer Rücksichtnahme denn aus ernsthafter Abwägung - getan hat.
({2})
In diesem Sinne muss man sehr genau überlegen, wie
man nun weiter argumentiert, auch seitens des Bundesinnenministers, der an dieser Debatte anscheinend gar
nicht teilnimmt.
Vor gut einem Jahr hat der Minister dankenswerterweise die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ verboten. Er hat eine
Organisation verboten, keine Gesinnung. Sie haben damals völlig richtig gesagt: Hier zeigt die wehrhafte Demokratie ihre Zähne. Wir werden solche Organisationen
nicht dulden. - Was bei einer Organisation mit 600 Mitgliedern recht ist, kann bei einer Partei wie der NPD mit
6 000 Mitgliedern nur recht und billig sein.
({3})
Natürlich ist es mit einem Parteiverbot nicht getan.
Aber es ist ein Gebot unseres Selbstverständnisses, ein
Verbot dieser Partei anzustreben. Hinzu kommen müssen Förderung und Unterstützung der Zivilgesellschaft.
Es muss Schluss sein damit, dass diejenigen, die gegen
rechts kämpfen, sich am Schluss mit einer Extremismusklausel herumschlagen müssen.
({4})
Es muss auch Schluss sein damit, dass die Bekämpfung
des Rechtsextremismus vermischt wird mit der Bekämpfung des Linksextremismus und mit der Bekämpfung
des Salafismus. Nein, Rechtsextreme sind ein besonderes Übel und müssen von unseren Sicherheitsbehörden
mit eigenständigen Ansätzen verfolgt werden.
({5})
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Wenn das Demokratieverständnis durch diese Debatte
tatsächlich gestärkt wird, ist immerhin etwas erreicht.
Als letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Die SPD
geht nicht taktisch mit dieser Frage um. Die SPD hat in
der Zeit des Widerstands gegen die Hitlerei einen hohen
Blutzoll geleistet. Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass die Rechten - auch als Partei - nie mehr in
Deutschland Fuß fassen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Helmut Brandt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Debatte über den richtigen Umgang mit dem in Deutschland zweifellos vorhandenen
Rechtsextremismus ist schwierig: Obwohl - darüber bin
ich sehr froh - alle in diesem Hause die Notwendigkeit
sehen, gegen diese Bestrebungen wirksam vorzugehen,
besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Wahl der Mittel.
Ausgangspunkt für unsere heutige Debatte ist unter
anderem die schreckliche Erkenntnis, dass eine rechte
Terrorzelle, die sich selbst den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ gab, Menschen mit ausländischen
Wurzeln getötet hat, sowie der Beschluss des Bundesrates, beim Bundesverfassungsgericht ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD einzuleiten.
Seit der erste Verbotsantrag im Jahre 2003 vor dem
Bundesverfassungsgericht scheiterte, haben sich alle
- sowohl der Bund als auch die Länder - bemüht, die
Ursachen für dieses Scheitern zu beseitigen, um so bei
einem möglichen zweiten Anlauf aufgrund des V-LeuteProblems nicht ein neues Fiasko zu riskieren. Die Frage
stellt sich mithin, ob wir heute einen Punkt erreicht haben, der ein neues Verfahren notwendig und erfolgversprechend macht.
Herr Kollege, der Kollege Ströbele möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
({0})
Ja.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Wenn er sonst nicht reden darf.
({0})
Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil Sie jetzt
auch zu dem Punkt Stellung nehmen, zu dem der Kollege Gysi, der im Augenblick nicht da ist, vorhin schon
geredet hat.
({0})
Geben Sie mir recht, dass der Deutsche Bundestag in
den Jahren 2001 bis 2003 - der Antrag war 2001 gestellt
worden - schon einmal versucht hat, durch einen Verbotsantrag gegen die NPD ein Signal gegen die NPD zu
setzen, dass dies aber total schiefgegangen ist, weil es
eher ein Signal in die falsche Richtung gewesen ist und
auch für die Bevölkerung im Inland ein falsches Signal
war? Geben Sie mir weiter recht, dass der Deutsche Bundestag heute - das haben Sie ja bereits angesprochen - genauso wenig wie in dem früheren NPD-Verbotsverfahren
in der Lage ist, die Validität des vorgelegten Materials zu
überprüfen und die V-Mann-Freiheit zu garantieren, und
dass es deshalb mit diesem Signal des Deutschen Bundestages diesmal wieder genauso schiefgehen könnte
wie beim letzten Mal?
Herr Ströbele, es ist selten der Fall, aber ich muss sagen: Ich kann Ihren Ausführungen im vollen Umfang zustimmen. Ich möchte aber hinzufügen - auch im Hinblick auf das, was Herr Gysi eben gesagt hat -: Es darf
und kann bei dieser Frage keinen Automatismus geben,
wonach der Bundestag, wenn eines der beiden Verfassungsorgane Bundesrat und Bundesregierung einen solchen Antrag stellt, diesem dann zwangsläufig auch folgen muss.
Gerade das Scheitern 2002/2003 - da gebe ich Ihnen
ausdrücklich recht - zeigt doch - das haben auch meine
Vorredner deutlich gemacht -, dass mit einem solchen
Antrag, den wir als Abgeordnete nicht hundertprozentig
auf Validität überprüfen können, das hohe Risiko eingegangen wird, dass damit das Gegenteil von dem bewirkt
wird, was wir alle wollen. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
({0})
Die Länder sind bei der Beratung zu der Überzeugung
gelangt, dass die Voraussetzungen für ein solches Verfahren beim Bundesverfassungsgericht vorliegen.
Ebenso wie die Bundesregierung werden auch wir die
Länder bei ihrer Antragstellung nach besten Kräften unterstützen. Dennoch haben wir als Bundestag das Recht
und auch die Pflicht, uns zu fragen, ob wir selbst ein solches Verbotsverfahren als erfolgversprechend einschätzen und ob wir diesem Verfahren beitreten wollen.
Die Verfassungswidrigkeit der NPD ist zwischen allen Fraktionen unstreitig. Wir alle wissen jedoch mit
Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass ein Antrag nur erfolgreich sein wird, wenn
die Antragsteller nachweisen können, dass die NPD eine
konkrete Gefahr für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung darstellt. Selbst angesichts der Verflechtungen zwischen der NPD und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen wird es schon im Hinblick auf die
abnehmende Mitgliederzahl der NPD und auf ihren
sonstigen Zustand augenscheinlich schwer werden, eine
solche konkrete Gefahr nachzuweisen.
Seit 2003 hat die NPD kontinuierlich an Mitgliedern
und an Bedeutung verloren. Immer mehr rechtsextremistisch Gesinnte haben sich anderen Gruppierungen zugewandt - bis hin zu der neu gegründeten Partei Die
Rechte. In meinen Augen zeigt das, dass rechtsextremistische Strömungen und Verbrechen mit einem Verbotsverfahren gegen die NPD nicht wirksam zu bekämpfen
sind. Als Jurist teile ich die Zweifel all derer, darunter
auch namhafter Verfassungsrechtler, die sich gegen einen Verbotsantrag ausgesprochen haben. Mehr noch
fürchte ich sogar, dass wir mit dem angestrebten Verfahren dem rechten Spektrum mehr nutzen als schaden.
Meinungsfreiheit ist in Deutschland zu Recht ein sehr
hohes Gut. Eine Demokratie muss - das wissen wir alle falsche Lehren, gerade auch grobe Dummheiten aushalten können. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und die Gleichwertigkeit von Meinungen sind das Wesensmerkmal einer Demokratie. Aus
gutem Grund stellt deshalb in einer wehrhaften Demokratie ein Parteiverbot die Ultima Ratio dar.
Ich sage sehr deutlich
Herr Kollege.
- ich komme gleich zum Schluss -: Unser System
muss sich permanent mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen. Auch deshalb ist der Antrag, den wir
hier eingebracht haben, dazu dienlich, genau diesen Auftrag überall zu erfüllen.
Letzter Gedanke. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Da gibt es sehr viele Städte, die mit dem Rechtsextremismus zu kämpfen haben. Überall dort, wo Bürgerinnen und Bürger sich dagegen aufgelehnt haben, ist
dieser Rechtsextremismus zurückgegangen.
Herr Kollege.
Diesen Menschen danke ich, und sie möchte ich weiter unterstützen.
({0})
Es liegen eine ganze Reihe Erklärungen nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor.1)
Das Wort zu einer mündlichen Erklärung gebe ich
jetzt der Kollegin Sevim Dağdelen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stimme heute für den Antrag, ein NPD-Verbotsverfahren einzuleiten, weil auch ich es unerträglich finde,
dass die NPD weiterhin über 300 000 Euro pro Quartal
an Steuergeldern bekommt - Gelder, die unter anderem
von Migrantinnen und Migranten gezahlt werden, von
Menschen, gegen die diese menschenverachtende Partei
Hetze und Propaganda betreibt,
({0})
Gelder, die für den Unterhalt der NPD-Schlägertruppen
verwendet werden, deren Opfer vor allem Migrantinnen
und Migranten sind.
Ich stimme heute für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens, weil die NPD mit ihrer staatlichen Förderung auch den Boden für rassistische Gewalt an Migrantinnen und Migranten bereitet.
({1})
Letztes Jahr wurden 521 rechtsextreme und fremdenfeindliche Gewalttaten verübt, davon allein 121 in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben.
Ich stimme für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens, weil Faschismus, Rassismus und Antisemitismus keine Meinung sind, sondern ein Verbrechen,
({2})
ein Verbrechen, dem nicht nur Millionen in der Zeit der
Nazidiktatur zum Opfer gefallen sind, sondern das bis
heute vielen Menschen, vielen Migrantinnen und Migranten das Leben gekostet hat. Deshalb stimme ich
heute für den Antrag, die NPD zu verbieten, und stelle
mich damit solidarisch an die Seite aller Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland,
die diese Forderung schon seit langem erheben.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13227 mit dem
Titel „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundes-
tages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststel-
lung der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokrati-
schen Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2
1) Anlagen 4 bis 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes“.
({0})
- Es handelt sich um einen Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/13227.
Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion der SPD
über den Antrag namentlich ab. Ich weise darauf hin,
dass im Anschluss noch eine weitere namentliche Ab-
stimmung folgen wird.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ih-
ren Platz einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das
ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.1)
Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/13225
mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen be-
kämpfen“. Auch hierzu ist namentliche Abstimmung
verlangt. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre
Stimmkarte noch nicht abgeben konnten? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
wiederum die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen.2)
Ich komme jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13231 mit
dem Titel „NPD verbieten“. Ich frage: Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dieser Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmung
durch die Fraktion Die Linke und die Fraktion der SPD.
Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Bünd-
nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13240
mit dem Titel „Rechtsextremismus umfassend bekämp-
fen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Antrag ebenfalls abge-
lehnt, bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dagegen
haben CDU/CSU, FDP und SPD gestimmt. Die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat für ihren Antrag ge-
stimmt.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/12638 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
- Drucksache 17/11369 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- Drucksache 17/13258 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Thomas Bareiß
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({3}), Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({4}), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen
- Drucksachen 17/12214, 17/12681, 17/12518,
17/13258 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, ein gemeinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten
Lesung des Entwurfs eines Bundesbedarfsplangesetzes
geben wir den Startschuss für das größte Infrastruktur-
1) Ergebnis Seite 29723 D
2) Ergebnis Seite 29726 C
projekt seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir setzen damit den entscheidenden Baustein für das Gelingen
unserer Energiewende; denn die Energiewende ist mehr
als nur der Aufbau von Solarenergieanlagen und Windenergieanlagen, mehr als Energieeffizienz - diese ist uns
sicherlich enorm wichtig - sowie Forschung und Entwicklung im Speicherbereich. Die Infrastruktur wird der
entscheidende Baustein sein, der die Energiewende zum
Gelingen bringt. Diesen bringen wir heute entscheidend
voran.
({0})
Wir brauchen diesen Baustein deshalb, weil wir in
den nächsten Jahren die Erzeugerkapazitäten komplett
neu gestalten. Allein in den nächsten sieben Jahren werden in Schleswig-Holstein neue Windkraftanlagen mit
einem Leistungsvermögen von 9 Gigawatt aufgebaut.
Die Leistung der Offshorewindenergieanlagen wird sich
von null auf 3 Gigawatt erhöhen. Wir werden eine Verdreifachung der Onshorewindleistung erleben. In Niedersachsen wird sich die Onshorewindleistung auf
14 Gigawatt verdoppeln. Dort werden wir offshore von
null auf 8 Gigawatt zubauen. In den norddeutschen Ländern werden in den nächsten sieben Jahren neue Kapazitäten im Umfang von 27 Gigawatt auf dem Strommarkt
entstehen. Das ist ein Fünftel der bisherigen Stromkapazitätsleistungen. Das heißt, hier wird in den nächsten
Jahren eine enorme Integrationsleistung zu erbringen
sein. Wir werden aber gleichzeitig in den starken Lastzentren im Süden unseres Landes 10 Gigawatt verlieren,
die wir Stück für Stück durch Windenergie ersetzen
müssen.
Die Stromnetze werden also zukünftig im Infrastrukturbereich eine enorm wichtige Rolle spielen. In den
letzten Jahren lag die Distanz zwischen Erzeuger und
Verbraucher bei durchschnittlich 40 Kilometer. In den
nächsten Jahren wird sich diese Distanz Stück für Stück
erhöhen. Wir werden sicherlich in 10, 15 Jahren erleben,
dass die Distanz zwischen Erzeuger und Verbraucher
200 oder sogar 300 Kilometer betragen wird. Das heißt,
wenn wir nicht entsprechende Netze aufbauen, wird die
Energiewende nicht gelingen. Deshalb ist ein Netzausbau dringend notwendig.
Die Herausforderungen sind groß. Wir brauchen Änderungen und Beschleunigungen im Planungsrecht. Wir
brauchen auch neue Technologien. Wir brauchen aber
vor allen Dingen Akzeptanz für neue Leitungen und eine
geschlossene Zustimmung zu unserem Projekt, zum
Bundesbedarfsplangesetz. Deshalb bin ich etwas enttäuscht - das muss ich offen sagen -, dass sich die
Grünen schon wieder ein Stück weit von unserem Ziel
verabschieden. Im Entschließungsantrag der Grünen ist
zu lesen:
Es entsteht der Eindruck, viele der im Bundesbedarfsplangesetz vorgesehenen Leitungen dienten
nicht der Energiewende, sondern allein dem Export
von Strom aus Braunkohlekraftwerken …
({1})
Wenn Sie so argumentieren und vor Ort den Eindruck
erwecken, wir brauchten neue Leitungen gar nicht, dann
werden wir keine Akzeptanz vor Ort finden. Dann werden wir für alle Projekte ein Türchen offenhalten. So
wird die Energiewende nicht gelingen. Deshalb fordere
ich Sie auf, gemeinsam mit uns dem Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes zuzustimmen, die Bedarfe, die
wir zusammen mit den Ländern definiert haben, zu akzeptieren, gemeinsam mit uns vor Ort für die Energiewende zu kämpfen und den Bau der Leitungen Stück für
Stück zu ermöglichen. Das ist ein ganz wichtiger Baustein. Das sollten Sie akzeptieren.
({2})
Was machen wir? Wir werden in den nächsten Jahren
über 2 800 Kilometer neue Stromtrassen in Deutschland
bauen. Wir werden über 2 900 Kilometer Leitungen ertüchtigen und ausbauen. Wir werden insgesamt 36 Ausbauvorhaben in Deutschland vorantreiben. Wir haben
dazu umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Die Übertragungsnetzbetreiber haben in den letzten Monaten einen
Netzentwicklungsplan vorgelegt und haben diesen mit
den Beteiligten vor Ort abgestimmt. Die Bundesnetzagentur hat den Bedarf geprüft. Die Bundesregierung hat
nun den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vorgelegt, den wir heute in letzter Lesung verabschieden
werden.
Wir werden die 36 Ausbauvorhaben zügig vorantreiben. Dabei werden neue Technologien zum Einsatz
kommen. Acht Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsnetze, sogenannte HGÜ-Leitungen, sind geplant,
mit denen sich der Strom verlustarm und schnell vom
Norden in den Süden transportieren lässt. Es sind zwei
Erdverkabelungen vorgesehen; auch das ist eine neue
Technologie, die dafür sorgen soll, dass wir vor Ort die
nötige Akzeptanz finden.
Eines der geplanten Vorhaben ist das Hochtemperaturseil, mit dem wir Strom verlustarm in den Süden
transportieren können. Dadurch wird die Energiewende
ein Technologieprojekt. Damit schaffen wir es auch,
Produkte und Innovationen zu entwickeln, die letztendlich nicht nur in Deutschland die Energiewende voranbringen, sondern darüber hinaus auch in andere Länder
verkauft werden können und hoffentlich zu Exportschlagern werden.
Mit diesem Bundesbedarfsplan betreten wir planungsrechtliches Neuland. 15 länderübergreifende Projekte wurden definiert. Die Planungshoheit dafür haben
wir der Bundesnetzagentur zugewiesen, um auch über
Ländergrenzen hinweg voranzukommen. Ich sage hier
auch ein klares Dankeschön an die Länder; Vertreter der
Länder sind leider nicht im Saal. Sie haben ebenfalls
dazu beigetragen, dass wir die Planung vereinfachen
können, Dinge schneller vorangehen und wir nicht etwa
Fehler machen, wie beispielsweise zwischen Schwerin
und Hamburg, wo wir über ein Jahr lang keine Genehmigung für eine dringend notwendige Leitung bekommen
haben.
Wir wollen Verfahren beschleunigen. Wir verkürzen
den Rechtsweg auf eine Instanz. Das heißt, es gibt nicht
weniger Bürgerbeteiligung, sondern schnellere Entscheidungen und damit auch eine schnellere Lösung der
Frage, ob wir beim Leitungsausbau vorankommen.
Wenn wir alle diese Vorhaben voranbringen und an einem Strang ziehen, werden wir es schaffen, die Zeit für
die Planung und Realisierung dieser Trassen von zehn
auf vier Jahre zu reduzieren. Damit schaffen wir es, die
Kapazitäten, die in den nächsten Jahren im Norden aufgebaut werden, in unser Stromnetz zu integrieren und
die Leistungen, die im Süden in den Kernkraftwerken
Philippsburg, Grafenrheinfeld, Gundremmingen, Neckarwestheim und Isar 2 wegfallen, Stück für Stück zu ersetzen. Wir sorgen dafür, dass auch der Süden weiterhin
Strom aus Deutschland bekommt, der regenerativ und
somit zukunftssicher ist.
Dies wird nur dann gelingen, wenn alle mitmachen.
Es wird kein Selbstläufer sein. Das sieht man bei dem
EnLAG-Projekt, bei dem wir bestehende Trassen nicht
so schnell voranbringen, wie es gewünscht wird. Allein
die EnLAG-Projekte sind zwischenzeitlich vier bis fünf
Jahre im Verzug. Das darf kein Beispiel für das Bundesbedarfsplangesetz sein. Wir haben - auch das ist mir zu
Beginn der Debatte wichtig - bestehende Ängste und
Sorgen ebenfalls aufgenommen. Wir haben im parlamentarischen Verfahren Veränderungen in das Gesetz
bzw. in die Begründung mit aufgenommen.
({3})
Wir haben keine Flexibilisierung der Netzverknüpfungspunkte vorgenommen. Wir haben uns in Bezug auf
die Nebenanlagen, die notwendig sind und die vor Ort
für Furore sorgen, für eine weitestgehende Flexibilisierung ausgesprochen, um vor Ort Akzeptanz zu erreichen
und die beste Lösung für die Menschen vor Ort zu finden.
({4})
Auch das war, glaube ich, notwendig und wird uns helfen, die Leitungen zu realisieren.
Zusammenfassend: Wir haben die Anfangs- und Endpunkte definiert. Wir haben die Verfahren verkürzt und
die Zahl der Instanzen reduziert. Wir haben neue Technologien eingebaut. Das heißt, wir werden in den nächsten Jahren den Leitungsausbau wesentlich beschleunigen
und werden damit die Energiewende zu einem Gewinnerprojekt machen. Die Ideen, die von der Opposition in
Bezug auf die Deutsche Netzgesellschaft kommen, sehen wir mit Interesse. Sie wissen, dass wir dazu ebenfalls schon Überlegungen angestellt haben. Ich glaube,
dass diese Punkte zwar überlegenswert sind, uns aber
nicht bei der Beschleunigung helfen werden. Insofern
sind die von uns getroffenen Maßnahmen die richtigen,
um uns voranzubringen.
Das ist für uns der Einstieg in die Energiewende. Ich
kann Sie nur auffordern, bei diesem Projekt mitzumachen und heute diesem Gesetz zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe Ihnen zwischendurch die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse
der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt, zunächst zum Antrag der Fraktion der SPD - es geht um
den „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung
der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen
Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des
Grundgesetzes“ auf Drucksache 17/13227 -: abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 211, mit Nein
haben gestimmt 326. Es gab 40 Enthaltungen. Damit ist
der Antrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 211
nein: 326
enthalten: 40
Ja
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({0})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Klaus Hagemann
({2})
Hubertus Heil ({3})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({4})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({5})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Christine Lambrecht
Christian Lange ({6})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({7})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Aydan Özoğuz
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({8})
({9})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({10})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({11})
Ulla Schmidt ({12})
Carsten Schneider ({13})
Swen Schulz ({14})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({15})
Dagmar Ziegler
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({16})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Sahra Wagenknecht
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Cornelia Behm
Harald Ebner
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Sylvia Kotting-Uhl
Kerstin Müller ({17})
Friedrich Ostendorff
Elisabeth Scharfenberg
Dorothea Steiner
Markus Tressel
Daniela Wagner
fraktionsloserAbgeordneter
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({18})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({19})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({20})
Dirk Fischer ({21})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({22})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({23})
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({24})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({25})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({26})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({27})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({28})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({29})
Anita Schäfer ({30})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({31})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({32})
Dr. Kristina Schröder
({33})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({34})
Detlef Seif
Johannes Selle
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({35})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({36})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({37})
Peter Weiß ({38})
Sabine Weiss ({39})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({40})
Claudia Bögel
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({41})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({42})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({43})
Michael Link ({44})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({45})
Burkhardt Müller-Sönksen
({46})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({47})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
({48})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({49})
DIE LINKE
Raju Sharma
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ute Koczy
Monika Lazar
Hans-Christian Ströbele
Arfst Wagner ({50})
Enthalten
CDU/CSU
Günter Lach
DIE LINKE
Halina Wawzyniak
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({53})
Bärbel Höhn
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Oliver Krischer
Renate Künast
Dr. Tobias Lindner
Dr. Konstantin von Notz
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({54})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dann komme ich zum Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU und der FDP mit dem Titel „Rechtsextremismus
entschlossen bekämpfen“ auf Drucksache 17/13225:
Hier wurden ebenfalls 577 Stimmen abgegeben.
Mit Ja haben gestimmt 318. Mit Nein haben gestimmt 259. Es gab keine Enthaltung. Dieser Antrag
ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 318
nein: 259
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({55})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({56})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({57})
Dirk Fischer ({58})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({59})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({60})
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({61})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({62})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({63})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({64})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({65})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({66})
Anita Schäfer ({67})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({68})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({69})
Dr. Kristina Schröder
({70})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({71})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({72})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({73})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({74})
Peter Weiß ({75})
Sabine Weiss ({76})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({77})
Claudia Bögel
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({78})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({79})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({80})
Michael Link ({81})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({82})
Burkhardt Müller-Sönksen
({83})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({84})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
({85})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({86})
Nein
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({87})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({88})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Klaus Hagemann
({89})
Hubertus Heil ({90})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({91})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({92})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Christine Lambrecht
Christian Lange ({93})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({94})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Aydan Özoğuz
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({95})
({96})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({97})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({98})
Ulla Schmidt ({99})
Carsten Schneider ({100})
Swen Schulz ({101})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({102})
Dagmar Ziegler
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Caren Lay
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({103})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({104})
Volker Beck ({105})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({106})
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Susanne Kieckbusch
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn
Renate Künast
Monika Lazar
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({107})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({108})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({109})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloserAbgeordneter
Jetzt kommen wir zu unserer Debatte zurück. Ich
gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
({110})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zwei Jahre nach dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz haben wir jetzt ein Bundesbedarfsplangesetz vorliegen. Immerhin! Es war viel Arbeit, vor allen Dingen
für die Übertragungsnetzbetreiber und die Bundesnetzagentur. Nach allem, was man über die Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“, in die wir ja eingebunden
waren, und über Gespräche zum Beispiel mit Nichtregierungsorganisationen mitbekommen konnte, war das Verfahren insgesamt vergleichsweise transparent und die
Beteiligung angemessen - jedenfalls in weiten Teilen
des Verfahrens. Das ist gut so, und das kann man heute
in der Tat auch loben.
Auch die Länder haben sich in diese Verfahren konstruktiv eingebracht. Ich glaube, dass es zumindest eine
Bemerkung verdient, dass das mittlerweile im Wesentlichen rot-grün regierte Länder sind. Hier ist also eine
hohe Bereitschaft zur Kooperation selbst mit dieser Bundesregierung.
Gerade ist gesagt worden, dies sei ein wichtiger
Schritt zum Ausbau der Infrastruktur. Ja, in der Tat, es ist
ein Schritt; aber wir müssen uns auch klarmachen, dass
noch vieles fehlt. In diesem Falle beschränken wir uns
auf die Übertragungsnetze, wohl wissend, dass wir erhebliche Bedarfe auch im Bereich der Verteilnetze haben, zum Beispiel wenn ich an den qualitativen Ausbau
der Verteilnetze denke, den wir gerade auch im Hinblick
auf die intelligenten Netze brauchen angesichts dessen,
dass die Nachfrageseite flexibler werden soll.
Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Wir werden das aus einem ganz einfachen Grund machen - nicht weil dieses Gesetz in allen Teilen perfekt
wäre; es ist verbesserungsbedürftig; wir werden diesbezüglich Anträge vorlegen -: Es wäre für die Investoren,
für die Übertragungsnetzbetreiber, für die finanzierenden Banken ein schlechtes Signal, wenn wir sie kurz vor
einer Wahl im Zweifel lassen würden, ob denn die SPD
nach der Bundestagswahl möglicherweise eine 180-GradWende in Sachen Netzausbau plant. Das planen wir
nicht. Wir wollen, dass für den gesamten Sektor Planungssicherheit besteht, und deswegen senden wir das
Signal: Ja, wir unterstützen dieses Gesetz prinzipiell und
in den meisten Teilen. - Deswegen, wie gesagt, stimmen
wir zu.
({1})
Im Übrigen unterscheiden wir uns dadurch ganz erheblich von der Regierungskoalition,
({2})
die zurzeit am Ruder ist. Denn Sie haben im Jahr 2000
genau das Gegenteil gemacht.
({3})
Sie haben, als Rot-Grün ein Atomausstiegsgesetz vorgelegt hat und darüber mit den Marktakteuren verhandelt
hat, angekündigt: Wenn Sie einmal an die Regierung
kommen, werden Sie das komplette Gegenteil tun.
({4})
Damit haben Sie in den gesamten Sektor Planungsunsicherheit gebracht und gerade beim Netzausbau, aber
auch ansonsten im gesamten Energiesystemumbau
Attentismus verursacht. Genau das machen wir nicht.
({5})
Die Anträge die wir gestellt haben, will ich kurz im
Einzelnen begründen. Der erste Antrag - gemeinsam mit
Bündnis 90/Die Grünen - zielt darauf ab, dass wir eine
Deutsche Netzgesellschaft einrichten wollen. Im Übrigen haben Sie das in Ihrem eigenen Koalitionsvertrag
vor nur drei Jahren auch gesagt. Offensichtlich haben
Sie sich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist sozusagen eine weitere 180-Grad-Wende nach der, die Sie zwischenzeitlich auch vorgenommen haben: erst die Verlängerung der Laufzeiten, anschließend das Sich-Einfügen
in das Konzert derjenigen,
({6})
die den Atomausstieg wollen.
2009: Ja, wir wollen eine Deutsche Netzgesellschaft.
2013: Nein, wollen wir eigentlich lieber nicht. - Ihre
Verbraucherschutzministerin Aigner hat vor wenigen
Monaten gesagt, dass sie eine solche Deutsche Netzgesellschaft unterstützt. Sie hat auch den Zusammenhang
erkannt, nämlich dass man auf diese Art und Weise das
verhindern kann, was Sie vor wenigen Monaten verursacht haben, dass nämlich immer dann, wenn etwas
schiefgeht, immer dann, wenn Regressforderungen kommen,
({7})
die Haftung verschoben wird: weg von den Marktakteuren und hin zu den Endkunden. Das genau wollen wir
nicht.
({8})
Deswegen hat Frau Aigner recht. Wörtlich sagte sie:
Die Wähler verstehen nicht, warum sie über höhere
Strompreise für die Risiken der Energiewende haften
sollen, während die Netzbetreiber eine hohe garantierte
Rendite auf ihr Eigenkapital einstreichen.
({9})
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Das Zweite, was wir wollen, sind Bürgernetze. Wir
wollen den Bürgern die Möglichkeit geben, sich an der
Finanzierung der Netze zu beteiligen. Beteiligte haben
kein Problem mehr mit der Akzeptanz von Energieinfrastrukturen. Deswegen ist das der beste Weg.
Wir machen uns aber Sorgen bei dem, was zurzeit im
Kapitalanlagegesetzbuch geplant ist. Dadurch werden
Genossenschaften nicht mehr in der Lage sein, genau
solche Infrastrukturen mitzufinanzieren. Wir begrüßen
es daher, dass es mittlerweile einen Antrag der Fraktionen von Schwarz-Gelb gibt, dies jedenfalls bei der Ausgestaltung des Kapitalanlagegesetzbuchs zu verhindern.
Wir werden das unterstützen.
Drittens geht es um die Netzverknüpfungspunkte
- Herr Bareiß hat das gerade angesprochen - und in der
Tat nicht um die Positionierung der Verknüpfungspunkte, sondern um die der sogenannten Nebenanlagen.
Dieser Begriff ist vielleicht etwas irreführend. Man stellt
sich dabei etwas Kleineres, zum Beispiel ein Toilettenhäuschen, vor; es geht aber zum Teil um riesige Anlagen, große Konverter, Doppelkonverter möglicherweise.
Das kann in der Nähe von Wohnbebauung schon etwas
sein, was die Bürger auf die Palme bringt, was zum Widerstand gegen solche Infrastrukturen geradezu anreizt.
Deswegen begrüßen wir, dass Sie aufgrund der Anhörung, die wir gemeinsam durchgeführt haben, jetzt sagen: Wir wollen genau diese Konflikte verhindern, und
deswegen wollen wir mehr Flexibilität bei der Allokation dieser sogenannten Nebenanlagen.
Nur, die Art und Weise, wie Sie das sicherstellen wollen, läuft ins Leere. Sie wollen das in die Begründung
des Gesetzes schreiben. Die Fachjuristen sagen: Das
wird nicht reichen; Sie müssen es ins Gesetz schreiben. Wenn man Ihnen abnehmen soll, dass die Absicht ehrlich ist, dann folgen Sie bitte unserem Petitum und
schreiben Sie das ins Gesetz!
({10})
Das Vierte ist der Gesetzentwurf des Bundesrates, der
darauf abzielt, dass wir das erreichen, was wir eigentlich
schon vor Jahren wollten, unter anderem auch in der
Großen Koalition, nämlich dass die 110-kV-Erdverkabelung zur Regel wird. Wir unterstützen auch diesen Gesetzentwurf.
({11})
Er ist im Bundesrat im Übrigen mit sehr großer Mehrheit
verabschiedet worden, und auch Schwarz-Gelb war dabei nicht ganz unbeteiligt. Insofern: Vielleicht hören Sie
noch einmal in Ihre Länder hinein und folgen uns auch
bei diesem Vorhaben!
Meine Damen und Herren, ich habe es gerade angedeutet: Das Bundesbedarfsplangesetz ist ein Schritt zum
Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen aber auch erhebliche Fortschritte im Bereich der Verteilnetze, im Bereich der intelligenten Netze. Da geht es auch um intelligente Tarife, um eine flexible Nachfrage anreizen zu
können. Es geht um mehr Flexibilisierung auch auf der
industriellen Nachfrageseite. Da haben Sie einen ersten
Schritt mit der Abschaltverordnung gemacht. Aber man
kann da sehr viel kreativer sein und weitere Schritte un29730
ternehmen, um sozusagen eine Batteriefunktion, in Teilen jedenfalls, für die energieintensiven Industrien sicherzustellen. Wir brauchen mehr Speicherforschung,
damit wir die Speicher wenigstens dann, wenn wir sie
brauchen, zur Verfügung haben. Sie haben die Mittel in
diesen Bereichen reduziert.
Dann brauchen wir etwas, was noch ein bisschen
komplizierter ist. Deswegen haben Sie sich mit dieser
Frage, jedenfalls öffentlich, überhaupt noch nicht befasst. Sie kündigen immer etwas an, nämlich auf der einen Seite eine Reformierung des EEG, auch eine andere
Vermarktung von erneuerbaren Energien, und auf der anderen Seite einen neuen Marktrahmen für die Erzeugung
von Strom aus konventionellen Energieträgern. Wir hätten es begrüßt, wenn Sie sich mit dieser komplexen Materie, Herr Minister, befasst hätten und verhindert hätten,
dass stattdessen Ihr Kollege aus dem Umweltministerium zur Ablenkung eine oberflächliche Debatte über die
Strompreisbremse initiiert. Stellen Sie sich den eigentlichen Herausforderungen! Die sind komplex. Aber wir
sind bereit, Ihnen dabei die entsprechende Hilfestellung
zu geben.
({12})
Wir brauchen die Systemintegration der erneuerbaren
Energien. Wir brauchen aber auch den Systemumbau,
damit das System aufnahmefähiger für volatilen Strom
wird. Wir brauchen einen Marktrahmen für beide Energien, für erneuerbare wie konventionelle, der gleichzeitig für Versorgungssicherheit, für das Erreichen der Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien, aber auch für
Bezahlbarkeit sorgt. Das ist möglich. Man muss nur beginnen.
Vielen Dank.
({13})
Für die Bundesregierung hat das Wort der Bundesminister Dr. Philipp Rösler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Wir alle wissen, leistungsfähige
Netze sind entscheidend für die Versorgungssicherheit
im Rahmen der Energieversorgung in Deutschland. Wir
brauchen zur Netzstabilisierung bei einem zunehmenden
Beitrag der erneuerbaren Energien zur Stromversorgung
ein leistungsfähiges Netz im Bereich der Verteilnetze genauso wie im Bereich der Fernübertragung. Wir werden
aber auch weiterhin in der Umstellungsphase neue Netze
für die Energieerzeugung durch konventionelle Energieträger und die Integration der erneuerbaren Energien
brauchen.
Deswegen ist es gut, dass wir heute über das Bundesbedarfsplangesetz diskutieren und Sie es hoffentlich
nach der zweiten und dritten Lesung auch beschließen.
Damit kommen wir beim Netzausbau ein gutes Stück
voran. Wir zeigen: Wir sind im Plan. Es ist ein wesentlicher Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende in Deutschland.
({0})
Ich finde es gut, dass auch die Sozialdemokraten bereit sind, diesem Gesetz zuzustimmen. Ich glaube, bei
den Grünen ist das nicht der Fall. Das bedauere ich sehr;
denn sie könnten ein Versäumnis wiedergutmachen, das
ihnen unterlaufen ist, als sie damals den Ausstieg aus der
Kernenergie beschlossen haben.
({1})
Sie haben sich nämlich nur mit dem Ausstiegsbeschluss
zufriedengegeben, aber in der weiteren Umsetzung
nichts, aber auch gar nichts für einen beschleunigten
Netzausbau in Deutschland getan. Das zeigt, dass Sie es
mit dem Umbau der Energieversorgung in Deutschland
nie ernst gemeint haben.
({2})
In kürzester Zeit sind wir gut vorangekommen. Es hat
mit dem sogenannten Netzentwicklungsplan angefangen. Hier wurden die ersten Strukturen aufgezeigt. Es
ging nicht nur um das grobe Aufzeigen, sondern es ging
im ersten, frühen Stadium darum, mit den betroffenen
Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über den konkreten
Ausbaubedarf zu diskutieren. Dieses Beteiligungsverfahren ist beispielhaft für viele Infrastrukturmaßnahmen.
Denn es hat sehr frühzeitig begonnen, und zwar schon
auf der Ebene der Übertragungsnetzbetreiber, in der
Folge auch bei der Bundesnetzagentur.
Ich habe den Beitrag von Herrn Hempelmann so verstanden, dass mit dem Lob an die Übertragungsnetzbetreiber und an die Bundesnetzagentur vor allem die
Beschäftigten gemeint waren; denn sie haben bei der
Aufstellung des Netzentwicklungsplans in kürzester Zeit
Enormes geleistet. Er ist die Grundlage für das Bundesbedarfsplangesetz. Wir alle sollten uns, denke ich, bei
den Kolleginnen und Kollegen bedanken.
({3})
Vor allem aber ging es darum, sich mit den Menschen
über die künftigen Netzausbauvorhaben zu unterhalten
und zu erklären, warum wir diese neuen Strukturen brauchen und warum wir nur in wenigen Fällen die finanziellen Möglichkeiten für Erdverkabelungen haben. Wer etwas anderes verspricht oder fordert, der schummelt. Dies
wäre heute weder Stand der Technik, noch wäre es seriös
zu finanzieren. Deswegen ist es richtig, dass man mit den
betroffenen Menschen - es gab über 3 000 Eingaben - gesprochen hat. Man hat versucht, die Dinge auf den Weg
zu bringen, indem man sie ihnen erklärt hat, um von
vornherein Akzeptanz zu erreichen und Widerstände zu
vermeiden.
Es ist gelungen, den Zeitplan einzuhalten, um das
Bundesbedarfsplangesetz auf den Weg zu bringen. Ich
möchte mich bei Herrn Abgeordneten Bareiß bedanken,
der darauf hingewiesen hat, dass das Bundeskabinett
gestern die dazu passende Planfeststellungszuweisungsverordnung beschlossen hat.
({4})
Hinter diesem etwas komplexen Begriff verbirgt sich die
Bereitschaft der Länder - ich möchte mich bei allen Ländern ausdrücklich dafür bedanken -, dem Bund die Zuständigkeit nicht nur für die Fachplanung, sondern auch
für die konkrete Planfeststellung einzelner großer Trassenvorhaben zu übertragen. Bisher kam es beim Stromnetzausbau über Ländergrenzen hinweg zu erheblichen
Verzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass die großen
raumbedeutsamen Trassen, auch die grenzüberschreitenden Trassen, künftig in die Zuständigkeit der Bundesnetzagentur, also in die Zuständigkeit des Bundes, fallen.
Das hat einen erheblichen Beschleunigungseffekt zur
Folge. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit nur noch bei
einem Gericht, nämlich beim Bundesverwaltungsgericht. Auf diese Weise kommen wir unserem gemeinsamen Ziel, den Netzausbau in Deutschland deutlich zu
beschleunigen, näher.
Wir haben bisher Planungs- und Bauzeiträume von
zehn Jahren.
({5})
Mit diesem Gesetz und der dazu passenden Verordnung wird es gelingen, die Bauzeiträume von derzeit
zehn Jahren auf vier Jahre zu reduzieren. Das ist das erklärte Ziel dieser Regierungskoalition.
({6})
Ich verstehe Ihre Einlassung so, dass Sie nicht nur
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden, sondern
dass Sie vor Ort Widerstand gegen den notwendigen
Netzausbau zum Ausstieg aus der Kernenergie leisten
wollen.
({7})
Das ist Ihre „Glaubwürdigkeit“: Zwar fordern Sie den
Ausstieg aus der Kernenergie. Aber wenn es soweit ist,
kneifen Sie und zeigen Widerstand beim Netzausbau für
Deutschland.
({8})
Eines ist klar; das haben die Diskussionen gezeigt:
Nur gemeinsam - gemeinsam mit allen 16 Bundesländern, dem Bund und Europa - wird es gelingen, den
Netzausbau in Deutschland voranzutreiben. Das ist jetzt
in Form des Bundesbedarfsplangesetzes für die Übertragungsnetze gelungen. Das muss im Hinblick auf die Verteilnetze genauso gelingen. Das wird der nächste Schritt
sein.
({9})
Lassen Sie uns Folgendes festhalten: Wir liegen aktuell im Zeitplan, so wie sich das für diese Regierungskoalition gehört. Das ist ein guter Tag für die Energiewende. Das ist ein guter Tag für den Netzausbau in
Deutschland.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Liebe Kollegen, ich konnte nicht absehen, dass der
Herr Minister seine Redezeit nicht ausschöpft. Ich versuchte gerade, ihn auf Ihre Zwischenfrage oder Bemerkung aufmerksam zu machen.
({0})
- Wir debattieren aber jetzt nicht hier im Plenum darüber, wie sich das Präsidium verhält. Dafür haben wir
Regeln.
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Heute geht es um den Netzausbau beim
Strom.
({0})
Großkonzerne erwarten fette Profite, und die Stromkunden befürchten steigende Preise. Ständig tönt es von
CDU, CSU, SPD und Grünen: Der Netzausbau ist alternativlos. Denn im Norden weht der Wind, und der Windstrom muss nach Süden. Dafür braucht es zusätzliche
Leitungen. Dann klappt es aus deren Sicht mit der Energiewende. Wirklich?
Bei der Stromeinspeisung in die Netze gibt es eine
Reihenfolge: Zuerst dürfen die Erneuerbaren ran. Danach gilt: Je teurer ein Kraftwerk Strom produziert,
desto eher wird es abgeschaltet. Im Norden und Osten
gibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant:
Moorburg, Jänschwalde, Profen und andere. Derzeit
können diese Kohlekraftwerke Strom für 3 Cent je Kilowattstunde anbieten. Im Süden gibt es Strombedarf.
({1})
Dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke; zum
Beispiel in Irsching. Dort kostet der Strom 5 Cent je Kilowattstunde. Aber: Netzausbau und Stromtransport quer
durchs Land wären zu vermeiden.
Wie sieht die Realität heute aus? Wir haben einen
Engpass im Stromtransport zwischen Nord und Süd.
Weht viel Wind im Norden, geht der Windstrom übers
Netz. Für den Kohlestrom fehlt der Platz, und Irsching
kann umweltfreundlichen Strom liefern. Klimafeindlicher
Kohlestrom wird abgeschaltet.
Wenn die neuen Stromtrassen von der Küste bis zu
den Alpen reichen, ist Folgendes zu befürchten: Windkraftanlagen speisen weiterhin ihren Strom ins Netz ein;
sie haben Vorrang. Für den Restbedarf an Strom brummen die Kohlekraftwerke. Das Kraftwerk Irsching wird
abgeschaltet, es geht pleite. Dann fehlt aber nachts bei
Windstille der Gasstrom. Deshalb bekommt Irsching
Geld, damit es in Bereitschaft bleibt, und die Stromkunden zahlen doppelt. Irsching wird dann über Netzentgelte bezahlt. Von Netzentgelten sind Großkunden befreit. Sie profitieren damit vom Netzausbau. Alle
anderen bezahlen.
Fließt Strom von der Nordsee nach München, gibt es
bei 700 Kilometern Weg 20 Prozent Übertragungsverluste. Auch das wird über Netzentgelte bezahlt.
({2})
Wer macht bei diesem Netzausbau Kasse? Finanzinvestoren. Sie erhalten 9 Prozent Rendite für jede Investition
in Netze. Wo findet man so etwas heute noch, bei dieser
garantierten Sicherheit? Natürlich machen auch die Baufirmen und die Kohlekraftwerke Kasse. Und wer zahlt?
Handwerkerinnen und Handwerker, kleine und mittlere
Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher.
({3})
Deshalb lehnt die Linke diesen Netzentwicklungsplan
ab.
({4})
Der Bedarf, der diesem Netzausbauplan zugrunde
liegt, wurde wie folgt ermittelt: Die maximal erzeugbare
Menge an Strom aus Windenergie wird mit der maximal
möglichen Einspeisung von Strom aus Photovoltaik, der
kompletten Menge an Strom aus Biomasse und der kompletten Menge an Strom aus konventioneller Erzeugung
addiert, sodass auch die letzte Kilowattstunde abtransportiert werden könnte. Diese Rechnung dient nur dem
maximalen Netzausbau.
In eine realistische Netzplanung müssen für die Linke
folgende Punkte einfließen: Die künftige Stilllegung von
Atom- und konventionellen Kraftwerken wird eingerechnet. Die Erzeugung von Strom aus Biomasse wird
umgestellt, sodass sie nur erfolgt, wenn Wind und Sonne
nicht genug Energie liefern. Stromsteuerungsmaßnahmen wie beispielsweise die Verknüpfung von Fernwärme- mit Stromnetzen müssen vorgenommen werden.
Ein öffentlicher Hochspannungsnetzbetreiber ohne Interesse an Profit aus dem Leitungsbau ersetzt die jetzigen
vier Profitgesellschaften.
({5})
Die Technologie, Strom über Gas zu speichern und zu
transportieren, wird genutzt. Die Beteiligung großer
Stromerzeuger an den Netzkosten ist umzusetzen. Die
maximal mögliche Einspeisung von Strom aus Windenergieanlagen ist auf 80 Prozent der theoretisch möglichen Strommenge zu reduzieren. Dabei verliert man
nur 0,4 Prozent der jährlichen Windenergiemenge, spart
aber 20 Prozent Anschlussleistung. Bei Berücksichtigung dieser Punkte erhält man einen realistischen Bedarf
für den Netzausbau. Aber der Gesetzentwurf, den Sie
vorlegen, gefährdet die Energiewende, weil Kohlekraftwerke gefördert werden, umweltfreundlicher Gasstrom
verliert und regionale, verbrauchsnahe Stromerzeugung
vor Ort unterbleibt.
Die Bürgerinnen und Bürger haben sowohl in Meerbusch-Osterath als auch in Hessen und Thüringen mit ihrer Ablehnung der Ausbaupläne recht. Sie täten gut daran, die entsprechenden Initiativen ernst zu nehmen.
Bürgerinitiativen erkannten als Erste die Gefahren der
Asse. Bürgerinitiativen korrigierten über Volksbegehren
Fehler, etwa bei Kitas in Thüringen oder bei der Wasserversorgung in Berlin.
Bürgerinnen und Bürger werden notwendige Netzausbauten nur dann akzeptieren, wenn der entsprechende
Bedarf transparent und nachvollziehbar ermittelt wird
und die Belastungen gerecht verteilt werden. Anderenfalls wehren sie sich. Ohne einen nachvollziehbaren Bedarfsplan wird die Linke Netzausbauten ablehnen, sei es
der Konverter in Meerbusch-Osterath oder die 380-kVLeitungen in Hessen, im Thüringer Wald oder in der
Uckermark. Wir wollen die Energiewende - preiswert
für die Menschen, mit Gewinnen für die Umwelt statt für
Konzerne.
({6})
Nun hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Rösler, ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hören: Bei jeder Energiedebatte erzählen Sie uns hier, wir
wären verantwortlich dafür, dass es mit dem Netzausbau
nicht vorangeht, weil wir bis 2005, als hier Grüne Regierungsverantwortung getragen haben, nicht dafür Sorge
getragen hätten.
({0})
Meine Damen und Herren, ich sagen Ihnen eines: Seit
acht Jahren tragen Wirtschaftsminister von der Union
und der FDP in der Bundesregierung die Verantwortung.
In acht Jahren kann man alles bewegen, kann man alles
voranbringen. Dass beim Netzausbau im Rahmen der
EnLAG-Projekte heute nur 268 Kilometer von 2 000 Kilometern verwirklicht sind, das ist Ihre katastrophale Bilanz beim Netzausbau.
({1})
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, zu schauen,
was Sie denn in den Jahren 2000 bis 2005 hier zum
Thema Netzausbau vorgelegt haben, wenn Sie doch damals angeblich schon so weit voraus waren. Es gibt
nichts, keinen einzigen Antrag von Union und FDP zum
Thema Netzausbau. Sie singen nur Lobeshymnen auf die
Atomkraft, schwadronieren über Windindustriemonster
und bekämpfen den Ausbau erneuerbarer Energien. Das
war Ihre Energiepolitik in dieser Zeit. Darüber sollte
man reden, wenn Sie schon auf die Vergangenheit verweisen.
({2})
Eines ist völlig klar: Gerade für eine Energiewende
mit dezentralen Strukturen und einem Weg weg von
Kohle und Atom braucht man Netzausbau und Netzoptimierung auf allen Spannungsebenen. Deshalb haben wir
2009 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem
wir gefordert haben, dass man einen Bedarfsplan ausarbeitet und dass anhand des Energieszenarios ermittelt
wird, wie das Netz weiterentwickelt werden muss. Aber
Sie haben sich zwei Jahre lang nicht mit diesen Fragen
beschäftigt. Wir haben von Ihnen nur ein Schwadronieren über Laufzeitverlängerungen gehört. Erst als Sie damit nicht weiterkamen, haben Sie sich dem Thema Energiewende gewidmet.
({3})
- Frau Homburger, das waren zwei verlorene Jahre, in
denen wir hätten weiterkommen können.
({4})
Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, legen Sie einen
Plan vor. Das führt zu der Erkenntnis: Wir sind erst am
Anfang des Weges.
({5})
Es ist noch kein Kilometer Netz ausgebaut worden. Es
gibt zunächst nur einen Plan. Die Arbeit fängt gerade
erst an. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund zur
Selbstbeweihräucherung, Herr Bareiß und Herr Rösler.
({6})
Das Bundesbedarfsplangesetz, das vom Grundsatz
her richtig ist,
({7})
soll Legitimität und Akzeptanz für den Netzausbau
schaffen. Der Bundesrat hat Ihnen dazu etwas ins
Stammbuch geschrieben. Er hat Beschlüsse gefasst,
durch die genau diese Akzeptanz erhöht werden soll;
denn Sie haben in dem Gesetz eine Reihe von Maßnahmen verankert, die die Akzeptanz und damit das Kernelement des Gesetzes untergraben.
Zum Beispiel das Thema Erdkabel. Sie beschränken
den Erdkabelausbau auf zwei Pilotprojekte. Das ist aufgrund der Erfahrungen mit dem EnLAG-Projekt nicht
verantwortbar, weil nicht zu vermitteln ist, warum manche Menschen Erdkabel bekommen und manche nicht.
Damit untergraben Sie die Akzeptanz und provozieren
den Widerstand der Menschen.
({8})
Zum schönen Thema Meerbusch-Osterath. Aus dem
dortigen Planungsdesaster haben Sie überhaupt nichts
gelernt. Es grenzt an Volksverdummung - ich kann Ihnen das nicht anders sagen -,
({9})
wenn Sie jetzt nicht den Beschluss des Bundesrates
- den haben wir im Wirtschaftsausschuss zur Abstimmung gestellt - statt nur in die Gesetzesbegründung in
den Gesetzestext aufnehmen, der vorsieht - das ist das,
was Sie wollen; zumindest reden Sie davon -, dass es
Alternativenprüfungen für Nebenanlagen geben soll.
Auch das untergräbt die Akzeptanz des Themas Netzausbau.
Als dritter Punkt ist die Verkürzung des Klageweges
zu nennen. Sie glauben doch selbst nicht, dass die Reduzierung auf eine Instanz wirklich dazu führt, dass das
Ganze schneller geht. Die eine Instanz ist dann überlasteter, die Verfahren dauern länger, und das genau ist die
Erfahrung aus dem EnLAG-Projekt. Das ist eine Scheinverkürzung. Das führt nur dazu, dass sich die Menschen
wieder übergangen fühlen und dass wir am Ende wieder
Akzeptanz verlieren. Dazu darf es aus unserer Sicht
nicht kommen. Sie machen hier einen Fehler. Nehmen
Sie die Bürger ernst, und kommen Sie nicht mit Rechtswegverkürzungen, die die Akzeptanz am Ende wieder
nur zerstören.
({10})
Wir haben gemeinsam mit den Kollegen der SPD einen Antrag vorgelegt, mit dem wir eigentlich Punkte aus
dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umsetzen wollen,
nämlich eine Deutsche Netz AG zu gründen. Wir haben
dazu konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben vier Jahre
lang überhaupt nichts getan. Sie haben sich von diesem
Ziel verabschiedet.
({11})
Wir schlagen vor, dass wir die Probleme lösen, die
wir beim Netzausbau mit einzelnen Übertragungsnetzbetreibern haben. Von Ihnen kommt an der Stelle gar
nichts.
({12})
Sie sind einfach nur dagegen und kommen deshalb bei
dem Thema überhaupt nicht weiter.
({13})
Wir brauchen den Netzausbau. Das Bundesbedarfsplangesetz verfolgt einen richtigen Ansatz, den wir ausdrücklich unterstützen, ich möchte das hier noch einmal
betonen. Doch leider schaffen das diese Bundesregierung und diese Koalition trotz klarer Hinweise aus dem
Bundesrat nicht. Sie bräuchten nur das aufzugreifen, was
der Bundesrat beschlossen hat, um glaubwürdig zu werden und Akzeptanz zu erreichen. Aber am Ende wird die
Glaubwürdigkeit wieder untergraben.
Wenn Sie die Beschlüsse des Bundesrates aufgegriffen hätten, hätten wir diesem Gesetz gerne zugestimmt.
({14})
Aber so bleibt uns am Ende nur, uns zu enthalten.
({15})
Sie haben eine Chance verpasst.
Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Sie erweisen dem Netzausbau einen Bärendienst, und
damit untergraben Sie die Akzeptanz der Energiewende
und der Ziele, die Sie damit verfolgen. Am Ende können
und wollen Sie die Energiewende nicht erfolgreich voranbringen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Damit die Zuhörer auf den Tribünen die letzten beiden Reden verstehen können, muss man einmal generell erklären, was hier los ist:
({0})
Wir haben noch vier Sitzungswochen bis zur Bundestagswahl, und hier läuft nichts anderes als Wahlkampf.
Ihre Schuldzuweisungen von vorhin, Herr Krischer,
sind nichts anderes als platter, plumper Wahlkampf. Das
wird dem Thema aus meiner Sicht deshalb nicht gerecht,
weil ich der Auffassung bin, dass wir hier an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, nämlich an der Energiewende.
({1})
Man sollte sich klarmachen, dass diese Schuldzuweisungen und das Schlechtreden nicht nur bei einer Seite in
der Politik hängenbleiben, sondern die Menschen da
draußen allgemein irritieren.
({2})
Sie stellen jede Lösung, die angeboten wird, sofort infrage und können nicht auch einmal über den eigenen
parteipolitischen Schatten springen.
({3})
Sie sind nicht in der Lage, zu sagen: Im Grundsatz ist
das, was uns hier vorgelegt wird, ein gutes Gesetz, weil
es zeigt, wie man den Netzausbau in Deutschland vorantreiben kann.
({4})
Ich hätte erwartet, dass Sie an dieser Stelle Folgendes
würdigen: die Planung.
({5})
- Es ist ein Plan. Was Sie vorgetragen haben, war eher
ein bisschen wie Die Sendung mit der Maus.
({6})
- Zumindest auf den Zwischenruf des Kollegen muss ich
reagieren. - Das ist ein intensiv, auf Basis mehrerer Szenarien ausgearbeiteter Entwicklungsplan für die Netze,
die wir brauchen. Ich hatte gehofft - das wäre richtungsweisend gewesen -, dass zumindest die Grünen sagen,
dass wir diese Netze brauchen.
({7})
Denn ein System der Energieversorgung, bei dem, wie
Sie es wollen, die Erneuerbaren im Zentrum stehen, wird
immer Überkapazitäten haben müssen. Wenn man das
weiß und die Energieversorgung in diese Richtung ausbaut, muss man doch auch einmal ganz klar formulieren,
dass wir in größerem Umfang Netze bauen müssen.
({8})
- Ich sage gleich etwas zur Akzeptanz. Warten Sie es
doch ab, Frau Höhn. Seien Sie nicht immer so nervös.
Es hat doch keinen Sinn, Erneuerbare-Energien-Anlagen mangels Netzkapazitäten abzuschalten. Es müsste
doch Ihr Anliegen sein, die Netze möglichst zügig auszubauen, weil es keinen Sinn hat, Anlagen auszuschalten
und den theoretisch produzierten Strom zu vergüten, ihn
aber nicht zur Verfügung zu haben. Deshalb muss man
dieses Thema doch unterstützen.
({9})
Dieser Plan ist deshalb nicht trivial, weil er nicht
statisch, sondern dynamisch sein muss. Denn es geht
letztendlich darum, die derzeit ungesteuerte und vom
Verbrauch unabhängige Stromproduktion bei den Erneuerbaren zu integrieren. Außerdem müssen wir mit technischen Innovationen rechnen, die heute noch nicht im
Detail planbar sind.
Dazu gibt es die angesprochenen Pilotprojekte. Herr
Krischer, wenn Sie schon sagen, es gebe zu wenig Pilotprojekte, hätten Sie wenigstens dazusagen können, dass
uns diese Pilotprojekte immerhin im Bereich Forschung
und Entwicklung voranbringen können. Es sind deshalb
Pilotprojekte, weil sie nicht Stand der Technik sind. Bei
den Pilotprojekten kann man deshalb nicht sehr viel
mehr fordern.
({10})
Dieses Thema ist deshalb dynamisch, weil wir noch
nicht kalkulieren können, welche Rolle die Speicherung
letztendlich spielt.
Beim Netzausbau geht es natürlich zunächst einmal
um die Frage der Akzeptanz. Ich habe gerade gesagt,
dass die Parteien einen Beitrag zur Erhöhung der Akzeptanz leisten können, indem sie sagen, dass das alles notwendig ist. Ich glaube, dass wir die Akzeptanz auch dadurch erhöhen können, dass wir mehr Transparenz
schaffen; das tun wir. Ich glaube, dass wir auch dadurch
mehr Akzeptanz geschaffen haben, dass wir klar gesagt
haben, dass die Bestandsertüchtigung oberste Priorität
hat. Wenn der Netzausbau trotzdem nicht akzeptiert
wird, dann ist die Rechtswegverkürzung eine Möglichkeit, um schnell Rechtssicherheit zu schaffen. Das ist
nun einmal so. Es geht darum, schnell Rechtssicherheit
zu schaffen, und nicht darum, irgendjemandem Rechte
zu nehmen.
Jetzt sage ich etwas, was Sie überraschen wird: Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir über das Thema
Erdverkabelung noch einmal diskutieren müssen,
({11})
und zwar bezogen auf die 110-Kilovolt-Leitungen.
({12})
- Erstens stehen in dem Antrag des Bundesrates noch
mehr Dinge. Zweitens besitzt diese Koalition selbst genügend Weisheit, um im richtigen Moment die richtigen
Dinge zu entscheiden. Wir müssen nicht darauf warten,
dass uns der Bundesrat irgendetwas vorlegt. Das ist vollkommen unnötig.
({13})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Bezug auf
die 110-Kilovolt-Leitung eine Abwägungsentscheidung
treffen müssen. Wir müssen uns die Kosten, die Akzeptanz und den Nutzen anschauen, aber auch genau prüfen,
was das bezogen auf die Kilowattstunde kostet; denn
letztendlich kommt es darauf an. Damit will ich nicht irgendjemandem in die Parade fahren. Ich meine nur, dass
dies ein ganz wesentliches Thema ist, um die Akzeptanz
zu erhöhen.
Wir haben jetzt die Grundlage dafür geschaffen, dass
die Planungen in unserem föderalen Staat etwas einfacher laufen können. Bei länderübergreifenden Vorhaben
tritt eine Zentralisierung der Zuständigkeiten an die
Stelle paralleler Raumordnungsverfahren. Auch das wird
uns erheblich nutzen und die Realisierung der Maßnahmen erleichtern, die immerhin - ohne Erdverkabelung 10 Milliarden Euro kosten werden. Das ist ein stattlicher
Betrag. Er ist aber zu stemmen. Dieser Betrag ist finanzierbar, und die Maßnahmen sind somit letztendlich
auch umsetzbar. Damit die Leute sicher sind, dass die
Energiewende funktioniert - das ist unser Anliegen -,
muss man das immer wieder betonen. Wenn man immer
alles infrage stellt, sogar das, was man selbst vorgeschlagen hat, wird das natürlich nichts, Herr Krischer.
Nichtsdestotrotz müssen wir als Koalition unser Augenmerk stärker auf Themen jenseits des Netzausbaus
richten. Es ist klar, dass das EEG Teil eines Markteinführungskonzeptes ist und nur dann Teil eines Marktdurchdringungskonzeptes werden kann, wenn man es fortentwickelt. Auch das muss man gemeinsam machen. Ich
hoffe, dass wir diesbezüglich weniger Blockade als Unterstützung seitens des Bundesrates erfahren. Es kommt
hierbei auch auf den Bundesrat an. Auch er muss ein Interesse daran haben, dieses Thema voranzubringen.
({14})
Letztlich wird es darauf ankommen - das ist entscheidend -, dass wir ein neues Marktdesign entwickeln.
Hierzu hat die Koalition gute Vorarbeit geleistet. Letztendlich wird es darum gehen, die Fixkosten zu finanzieren, und zwar sowohl die Fixkosten, die im konventionellen Bereich entstehen, als auch die Fixkosten, die im
Bereich der erneuerbaren Energien entstehen.
({15})
Dafür braucht man neben dem Markt für elektrische Arbeit einen Leistungsmarkt. Einen solchen Leistungsmarkt schnell einzuführen, ist genauso wichtig wie das
Voranbringen des Netzausbaus. Das sage ich aber nur
am Rande.
Ich bin der Überzeugung, dass der heutige Tag einen
Meilenstein in Sachen Netzausbau und damit einen Meilenstein in Sachen Energiewende darstellt. Ich hätte mir
gewünscht, dass das aufseiten der Opposition nicht nur
die SPD erkennt.
Vielen herzlichen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Mir liegt eine
Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Heveling vor. Die nehmen
wir zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/12638 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und des Kollegen Heveling in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des
Kollegen Heveling angenommen.
Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 6 a
und kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/13276. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13277. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13278. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist
mit dem gleichen Abstimmungsverhalten wie die beiden
vorherigen abgelehnt.
Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 a.
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 17/11369 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 6 b. Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/13258 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12214 mit dem Titel „Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland
erhalten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktion
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Darf ich einen Hinweis Richtung Regierungsbank geben? Im Moment habe überwiegend ich das Wort. Wenn
Sie mit den Dingen, die Sie zu besprechen haben, nicht
ins Protokoll kommen wollen, wäre es sicherlich sinnvoll, die Lautstärke einzuschränken.
({0})1) Anlage 10
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 b.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/12681 mit dem Titel „Den Netzausbau bürger-
freundlich und zukunftssicher gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/12518 mit dem Titel „Ausbau der Übertra-
gungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finan-
zielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion und der Linken angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Lohndumping im Einzelhandel stoppen - Tarifverträge stärken, Entgelte und Arbeitsbedingungen verbessern
- Drucksache 17/13104 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Markus
Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung ({2})
- Drucksache 17/13106 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträgen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Tarifsystem stabilisieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern
- Drucksachen 17/8459, 17/8148, 17/4437,
17/10220 Berichterstattung:Abgeordnete Jutta Krellmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die meisten von uns kennen sie doch, die netten, freundlichen und zuvorkommenden Frauen und
Männer, die auch nach 20 Uhr ganz selbstverständlich
gute Miene zum bösen Spiel machen, etwa wenn genervte und gestresste Abgeordnete auf dem Weg nach
Hause vielleicht noch schnell einige Besorgungen erledigen wollen.
Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sich
anfühlt, auch um 22 Uhr noch dort sitzen zu müssen,
selbst am Samstag oder, je nach Bundesland, an vier bis
acht Sonntagen im Jahr? Haben Sie sich schon einmal
für die Arbeitsbedingungen dieser Kolleginnen und Kollegen interessiert? Was wissen Sie alle eigentlich über
Niedriglöhne und das Lohndumping in dieser Branche,
in der fast 3 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen,
arbeiten? Wir, die Linke, haben uns das gefragt. Wir haben mit Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften gesprochen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag
gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifverträge.
Nur falls es noch nicht jeder in diesem Saal weiß: Zu
Beginn dieses Jahres haben die Arbeitgeber des Einzelhandels in fast allen Bundesländern die Manteltarifverträge gekündigt. Sie wissen: Die Manteltarifverträge regeln die wesentlichen Arbeitsbedingungen für diese
Branche. Sie regeln auch die Eingruppierung und die
Höhe der Zuschläge für besonders ungünstige Arbeitszeiten. Kurz gesagt: Sie regeln den Wert einer Arbeit,
den wir alle schätzen sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Aber all das stellen die Arbeitgeber nun auf den Prüfstand. Diesen Generalangriff, wie ihn die Gewerkschaft
Verdi zu Recht nennt, können und dürfen wir in diesem
Haus nicht schweigend hinnehmen.
({1})
Schauen Sie sich die Lage der Beschäftigten im Handel an: Die Ladenöffnungszeiten wurden massiv ausgedehnt. Viele Verkäuferinnen arbeiten inzwischen rund
um die Uhr. Es gibt immer mehr unsichere Jobs. Die Beschäftigten arbeiten teilweise auf Abruf. Wissen Sie eigentlich, was es heißt, auf Abruf zu arbeiten? Das heißt
nichts anderes als weitgehenden Verzicht auf eigene Lebensgestaltung. Die Betroffenen können nicht einmal
mehr einen Kinobesuch einplanen; denn der Arbeitgeber
könnte sie ja zurückrufen.
Wird so viel zusätzliche Flexibilität aufseiten der Beschäftigten überhaupt honoriert? Nein, überhaupt nicht.
Im Gegenteil: Während den Beschäftigten immer mehr
abverlangt wird, sind Niedriglöhne auf dem Vormarsch.
Jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnbereich. Versuchen
Sie gar nicht erst, Ihre Hände in Unschuld zu waschen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Sie haben hier in diesem Hause die unsägliche Agenda 2010 beschlossen und
eine Lohnspirale nach unten in Gang gesetzt, die aufgehalten werden muss.
({2})
- Doch, Herr Lehrieder, genau so sieht es in der Arbeitswelt draußen aus.
({3})
Die Agenda 2010 hat die Löhne massiv gedrückt; das
kann man mit Zahlen belegen.
Die Linke schlägt vor, bestehende Hürden für eine
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abzubauen.
Wir wollen dafür sorgen, dass für alle Beschäftigten und
Arbeitgeber einer Branche verlässliche Regeln geschaffen werden können.
({4})
Auch viele Arbeitgeber müssen nämlich davor geschützt
werden, dass der Wettbewerb in der Arbeitswelt über die
Löhne und über die Arbeitsbedingungen geführt wird.
Die Damen und Herren FDP-Kollegen - der Herr
Vogel telefoniert jetzt - wollen uns wieder glauben machen, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber würden
das alles auch ohne Einflussnahme von außen mit großer
Vernunft regeln. Ich frage Sie, Herr Vogel: Was ist vernünftig daran, dass die Arbeitgeber vor gut zehn Jahren
ihre Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen aufgekündigt haben? Was ist vernünftig daran, wenn die Löhne im Handel so niedrig sind, dass der
Staat jährlich 1,5 Milliarden Euro fürs Aufstocken zur
Verfügung stellen muss? Das ist unzumutbar und das
muss abgeschafft werden.
({5})
Wir schlagen vor, dass alle repräsentativen Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären sind, auch
wenn sie bisher nicht für die Hälfte der Beschäftigten
gelten. Den Arbeitgebern soll zudem das Vetorecht entzogen werden. Wir wollen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird, sodass nur die Tarifverträge
wirksam werden, die über diesem gesetzlichen Mindestlohn liegen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft
in Deutschland gründen in der Tat darauf, dass wir ein
hochentwickeltes System von Tarifverträgen haben, die
Arbeitgeber und Gewerkschaften miteinander aushandeln und mit denen sie den Lohn und viele andere Dinge
- die Arbeitszeit usw. - regeln und mitgestalten.
Wir Bundestagsabgeordnete sollten tunlichst die Finger davon lassen, uns da einzumischen; denn - um es
kurz zu sagen - Arbeitgeber und Gewerkschaften regeln
das untereinander besser, als es der Bundestag regeln
könnte.
({0})
Bei dem, was die Kollegin Zimmermann vorgetragen
hat, muss man den Eindruck bekommen, dass sie gar
nicht von Tarifautonomie spricht.
({1})
Sie hat davon geredet, dass wir - der Bundestag, die
Politiker - uns einmischen sollten und per Gesetz - statt
durch die Tarifpartner - ein Mindestlohn in Deutschland
festgelegt werden sollte. Mit dem Antrag, der hier gestellt wird, ist offensichtlich nicht das gemeint, um was
es angeblich geht - in Wahrheit ist staatliche Einmischung in die Lohnpolitik gefordert.
({2})
Staatliche Einmischung in die Lohnpolitik - das zeigen sämtliche Beispiele aus Europa - führen in der Regel zu schlechteren Ergebnissen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Tarifverträge, die im Rahmen
der Tarifautonomie frei verhandelt wurden. Deshalb setPeter Weiß ({3})
zen wir uns für eine Stärkung der Tarifautonomie ein. In
der Tat haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten
erlebt, dass Flächentarifverträge infrage gestellt worden
sind. Spätestens die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, 2009, 2010 hat aber gezeigt: Deutschland - die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die deutschen Betriebe - wäre nicht so schnell und
so gut - besser als alle anderen Industrienationen Europas - aus dieser Krise herausgekommen, wenn es nicht
die Tarifautonomie gäbe. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht Vereinbarungen über Kurzarbeit getroffen hätten und wenn wir als Staat die Kurzarbeit
nicht massiv unterstützt hätten, wäre uns das nicht gelungen. Gerade die Krisenbewältigung zeigt: Die Tarifautonomie ist der beste Weg, um gute Lösungen für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu
schaffen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Jahr
2011 arbeiteten etwa 54 Prozent der westdeutschen und
37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben,
die an einen Tarifvertrag gebunden sind.
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung der Kollegin Zimmermann?
Bitte schön.
Vielen Dank, Kollege Weiß, dass Sie die Frage zulassen.
Sie kennen ja sicherlich die Callcenterbranche. Darin
arbeiten 500 000 Beschäftigte. Die Gewerkschaft Verdi
will für diese schon lange einen Tarifvertrag aushandeln,
aber auf der anderen Seite gibt es keinen Arbeitgeberverband. Ich frage Sie: Was machen wir mit diesen Kolleginnen und Kollegen dort - es sind immerhin 500 000 -,
die unter Lohndumping leiden und schwere Arbeitsbedingungen haben? Sie erhalten teilweise Löhne von 5, 6,
7 Euro in der Stunde.
Meine Frage an Sie: Wie können wir hier die Tarifautonomie walten lassen?
({0})
Frau Kollegin Zimmermann, ich habe mich mehrmals
mit Betriebsräten in der Callcenterbranche unterhalten
und habe große Sympathien dafür, dass wir zu einem Tarifvertrag für diese Branche kommen. Richtig ist: Dazu
muss es auf der anderen Seite einen Verhandlungspartner
geben. Ich gehe aber davon aus, dass die sehr konsequenten und, wie ich finde, inhaltlich auch gut vorgetragenen Argumente der Betriebsräte irgendwann zu diesem Erfolg führen werden.
Solange es den Tarifvertrag noch nicht gibt, bräuchten
wir für die Callcenter eigentlich eine Mindestlohnregelung. Sie wissen, dass von einer Arbeitnehmerorganisation ein solcher Antrag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt worden ist. Leider ist
dieser Antrag im Hauptausschuss unter Leitung von
Herrn von Dohnanyi abgelehnt worden. Ich habe den
Eindruck, dass er vor allem deshalb abgelehnt wurde,
weil er von der falschen Gewerkschaft gestellt worden
ist,
({0})
was zeigt: Es wäre besser, man würde beim Thema Mindestlöhne nicht die Organisationsinteressen gegeneinander ausspielen, sondern wirklich in der Sache handeln.
Ich hätte mich gefreut, wenn der Antrag auf eine Mindestlohnregelung für die Callcenterbranche im Hauptausschuss bewilligt und eine entsprechende Regelung in
Kraft gesetzt worden wäre.
({1})
Ich habe gerade vorgetragen, wie viele Beschäftigte
in einer Branche arbeiten, die einen Tarifvertrag hat.
Hinzu kommen etwa 7 Prozent der westdeutschen und
rund 12 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die in einem Betrieb arbeiten, der einen Firmentarifvertrag hat. Das heißt zusammengerechnet: Für 39 Prozent der Beschäftigten im Westen und für
51 Prozent im Osten gibt es keinen Tarifvertrag. Das ist
in der Tat ein Rückgang gegenüber früher.
Allerdings kommt jetzt etwas anderes hinzu: Für rund
20 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und rund 25 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird im Betrieb ein
Tarifvertrag angewandt, obwohl der Betrieb gar nicht tarifgebunden ist.
({2})
Hier haben die Zahlen zugenommen. Das zeigt doch,
dass in Deutschland nach wie vor die Tarifverträge für
die große Mehrheit der Arbeitgeber die Orientierungspunkte bei der Bezahlung sind.
Man kann meines Erachtens in der Tat die Frage stellen, ob bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, ihn also auch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben zu erstrecken,
die gar nicht tarifgebunden sind, auch die faktische Anwendung eines Tarifvertrags berücksichtigt werden
könnte; denn es ist natürlich gut, wenn man in einem Betrieb arbeitet, der tarifgebunden ist, und es ist schön,
wenn man in einem Betrieb arbeitet, der sich wenigstens
an einen Tarifvertrag hält, obwohl er gar nicht tarifgebunden ist, da er keiner Arbeitgeberorganisation angehört, aber eigentlich könnte man die faktische Anwendung des Tarifs hier mitzählen. Natürlich wäre es
wünschenswert, dass in mehr Bereichen Tarifverträge
abgeschlossen und für allgemeinverbindlich erklärt werden.
Peter Weiß ({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist heute
Morgen in der Debatte schon vorgetragen worden, aber
ich will es hier wiederholen: Es ist schon ein bemerkenswerter Fortschritt, dass es die Arbeitgeber und Gewerkschaften in einem Bereich, der in fast jeder Bundestagsdebatte für besonders niedrige Löhne an den Pranger
gestellt worden ist, dem Friseurhandwerk, geschafft haben, eine Verabredung für einen bundesweit gültigen Tarifvertrag zu finden, und dass sie angekündigt haben,
dafür eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu beantragen. Glückwunsch an das Handwerk! Es wäre eine
tolle Sache, wenn weitere Branchen es den Friseuren
nachmachen würden.
({4})
Das gilt natürlich auch für den Einzelhandel. Frau
Zimmermann hat hier verschwiegen, dass es jetzt über
zwei Jahre intensive Gespräche und Bemühungen gegeben hat, auch im Einzelhandel zu einer Vereinbarung zumindest über einen Mindestlohn oder aber über einen
Tarifvertrag zu kommen, für den die Allgemeinverbindlichkeit beantragt werden könnte. Es ist schade, dass das
den Tarifpartnern bis zur Stunde nicht gelungen ist. Aber
wir als Bundestagsabgeordnete können den Verhandlungspartnern diese Arbeit nicht abnehmen. Ich will
deutlich sagen: Ich wünsche den Verantwortlichen im
Einzelhandel, dass sie diese Gespräche wieder aufnehmen und versuchen, eine klare, eindeutige und gute tarifliche Vereinbarung zu finden; das wäre dringend notwendig.
({5})
Ich bin etwas verwundert darüber, dass die Linken
auch noch das Thema Kontrolle ansprechen. Es ist ihnen
entgangen, dass ausgerechnet CDU/CSU und FDP in ihrer jetzt bald vierjährigen Regierungszeit jedes Jahr die
Zahl derjenigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle, die für
die Aufdeckung von Schwarzarbeit und für die Kontrolle
von Mindestlöhnen zuständig sind, um 100 Personen
aufgestockt haben.
({6})
- Ja. Jedes Jahr ging diese Zahl um 100 nach oben. Entgangen ist ihnen auch, dass CDU/CSU und FDP die
Anzahl der Kontrolleure der Bundesagentur für Arbeit
um 30 Prozent aufgestockt haben.
Damit haben wir deutlich gemacht: Wir sind daran interessiert, dass es in der deutschen Wirtschaft für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für Unternehmen
gute vertragliche Regelungen gibt.
({7})
Wir sind auch bereit, sie zu kontrollieren.
Insofern ist klar und deutlich: Wir sind diejenigen, die
für Tarifautonomie stehen, die die Tarifautonomie stärken. Aber wir sollten bitte nicht per politischer Direktiven in die Tarifautonomie eingreifen. Das führt nur ins
Verderben.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Josip Juratovic
das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Kollege Peter Weiß, ich möchte Sie daran erinnern, dass auch Aufstockung eine Art von staatlicher Einmischung in Lohnpolitik ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es vergeht kein Tag,
an dem wir nicht in der Presse von Menschen erfahren,
die von ihrer Arbeit nicht leben können. Unser Land ist
stolz auf seine soziale Marktwirtschaft. Die Entwicklung
auf dem Arbeitsmarkt mit Niedriglöhnen, Befristungen,
Leiharbeit und Werkverträgen zeigt jedoch, dass die soziale Marktwirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten
ist. In unserem Wirtschaftssystem geht es zunehmend
darum, den Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten auszutragen. Die Unternehmer konkurrieren immer
mehr darum, den billigsten Preis anzubieten, sei es durch
Niedriglöhne ohne Tarif oder durch schlechte Arbeitsbedingungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Billiglohnkonkurrenz ist schlecht für die Arbeitnehmer, und sie ist
auch schlecht für unser Land; denn unsere Wirtschaft
wird sich nicht zukunftsweisend weiterentwickeln, solange es einigen Unternehmern nur um Strategien geht,
wie sie möglichst wenig Lohn zahlen. Wir brauchen dagegen einen Wettbewerb um die besten Ideen und Innovationen. Dafür braucht man gute und fair bezahlte Mitarbeiter.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Wettbewerb
um Innovationen und nicht die Konkurrenz um Niedriglöhne zu fördern, ist ein funktionierendes Tarifvertragssystem notwendig. Tarifverträge sind ein elementarer
Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Denn dadurch
werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter einen Hut gebracht. So kann sich die faire
und soziale Marktwirtschaft in unserem Land weiterentwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur möglich,
wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen stimmen.
Zu diesen Rahmenbedingungen gehört die Tarifautonomie. Leider gibt es jedoch immer mehr Unternehmen, in
denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert. Immer mehr Unternehmer sind entweder gar nicht mehr in
Arbeitgeberverbänden, oder sie haben eine OT-Mitgliedschaft, also eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. In
manchen Branchen wiederum sind die Arbeitnehmervertreter und die Gewerkschaften inzwischen nicht mehr
stark genug, um Tarifverhandlungen durchzusetzen und
durchzuführen.
Ein Blick nach Europa zeigt, dass die Tarifbindung in
Deutschland deutlich niedriger ist als in den meisten anderen Ländern. Deshalb ist die SPD-Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mehr
als berechtigt.
({2})
Aber es ist auch die Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für eine wirkliche Tarifautonomie mit Verhandlungen der Tarifpartner auf Augenhöhe zu schaffen.
Wir müssen das Tarifvertragssystem stärken und zuallererst die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen erleichtern, wie wir Sozialdemokraten in
unserem Antrag fordern. Wir dürfen die Tarifvertragsparteien nicht alleine lassen mit ihrer Tarifautonomie,
sondern müssen sie gesetzlich und politisch unterstützen.
Die Bundesregierung fällt beim Thema Tarifautonomie leider in ihre gewohnte Haltung: Sie lobt die Tarifpartner in Sonntagsreden. Politisch tut die Regierung
aber überhaupt nichts, um die Tarifautonomie tatsächlich
auch zu stärken. Mir ist es unverständlich, dass die CDU
im Ausschuss für Arbeit und Soziales sagt, es müsse
grundsätzlich auch Unternehmen ohne eine sogenannte
Unterwerfung unter einen Tarifvertrag geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, faire Tarife sind die
Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfen
nicht die Unternehmer in unserem Land politisch fördern, die sich von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet haben, sondern wir müssen die Unternehmer
fördern, die faire tarifliche Löhne zahlen.
({3})
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen sind auch im europäischen Kontext wichtig; denn
nur allgemeinverbindliche Löhne sind nicht nur für die
deutschen Arbeitnehmer bindend, sondern auch für Arbeitnehmer aus Europa, die bei uns arbeiten. So sorgen
wir dafür, dass Menschen - vor allem solche aus Osteuropa - nicht bei uns ausgebeutet werden, und wir sorgen dafür, dass sich die Arbeitnehmer in unserem Land
nicht vor Billigkonkurrenz fürchten müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Gesetze, die in unserem
Land im Tarifvertragssystem gelten, insbesondere das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz, auch wirksam sind.
({4})
Momentan kann dieses Gesetz gar nicht richtig angewandt werden, weil es extrem schwierig ist, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Bislang müssen 50 Prozent aller unter den Geltungsbereich des
Tarifvertrags fallenden Personen bei tarifgebundenen
Arbeitgebern beschäftigt sein, damit ein Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Dieses Kriterium wollen wir ersetzen. In Zukunft soll ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden können,
wenn er repräsentativ ist.
({5})
Es ist doch nicht sinnvoll, ein Gesetz zu haben, das
kaum angewandt werden kann. Eine Umsetzung des Gesetzes muss möglich sein. Auch deshalb ist es dringend
geboten, das Tarifvertragssystem zu reformieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und,
da ich in diesem Bereich aktiv bin, Kolleginnen und
Kollegen der Gewerkschaften und in den Betrieben: Die
SPD setzt sich dafür ein, dass die Tarifautonomie mit
fairen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wieder zur Regel in unserem Land wird.
Ich bitte um eure Unterstützung und danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
({6})
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland hat einen Niedriglohnsektor, ja, und zwar
als Ergebnis einer politischen Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung.
({0})
- Ja, das muss aber immer wieder gesagt werden. Verantwortung muss da abgeladen werden, wo Verantwortung auch besteht.
({1})
Die Kehrseite - ich mache das ja sehr fair und vollständig - dieses Niedriglohnsektors war, dass Rot-Grün gesagt hat: Wenn niedrige Löhne gezahlt werden, die nicht
reichen, um den eigenen Bedarf zu decken, dann soll
aufgestockt werden können. Beides gehört zusammen.
Sie wollten dies damals so; heute bekennen Sie sich
nicht mehr so richtig dazu.
({2})
Aber immerhin, es hat gewirkt. Als Sie diese Entscheidung getroffen hatten, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Heute haben wir 3 Millionen
Arbeitslose, und jeder Mensch, der einen neuen Arbeitsplatz gewonnen hat, hat ein Stück Autonomie und auch
die Möglichkeit gewonnen, eigene Chancen zu nutzen.
Oft sind Niedriglöhne ja auch nur eine Durchgangssituation.
({3})
Auch das muss man sehen: Sie bieten die Möglichkeit,
nach dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. Deswegen stehen wir auch heute noch zu den
Entscheidungen, die Sie damals getroffen haben, heute
aber nicht mehr wahrhaben wollen. - Das ist das Erste.
Das Zweite: Tarifautonomie wirkt und Tarifvertragspolitik funktioniert. Das haben wir bei den Friseuren in
dieser Woche gesehen. Ich gebe zu, es war schwer erträglich, im Bereich der Friseure immer wieder auf Tarifverträge verwiesen zu werden, die aus dem Jahr 1998
stammten. Es ist wirklich gut und zu begrüßen, dass die
Branche jetzt auch auf öffentlichen Druck reagiert hat
und einen gestuften Tarifvertrag abgeschlossen hat, beginnend im August dieses Jahres mit 6,50 Euro im Osten
und 7,50 Euro im Westen und einem anschließenden
Steigerungsziel. Das zeigt: Die Branche hat die Signale
verstanden. Es gibt überhaupt keinen Anlass für die Politik, in ein funktionierendes Tarifvertragsgeschehen einzugreifen.
({4})
Das Dritte, was ich ansprechen will, ist: Wir haben
ein gut funktionierendes und auch ausgereiftes Instrumentarium im Bereich der Tarifvertragspolitik. - Sie
schütteln den Kopf, Frau Müller-Gemmeke, aber es ist
doch so. Als Sie regiert haben, haben Sie es auch nicht
verändert. Wir haben bei Branchen mit einer sehr hohen
Tarifbindung, also über 50 Prozent der Beschäftigten,
nach dem Tarifvertragsgesetz die Möglichkeit, nicht nur
untere Lohnlinien, sondern ganze Lohngitter für allgemeinverbindlich zu erklären.
Wir haben mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz die
Möglichkeit, jedenfalls nach Maßstab unseres Handelns,
mit einer etwas abgesenkten Anforderung, nämlich bei
Repräsentativität der Tarifverträge, eine Lohnuntergrenze einzuziehen. Wir haben auch die Möglichkeit, in
praktisch nicht organisierten Bereichen mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einen von einer Kommission oder einem Fachausschuss ermittelten Lohn als
Lohnuntergrenze zu benennen. Das muss man beobachten, das funktioniert bisher anscheinend noch nicht so
gut. Das habe ich jedenfalls von Herrn von Dohnanyi gehört. Aber das zeigt insgesamt: Wir haben wirklich für
alle Fälle die Möglichkeit, zu handeln.
Ich bin nicht bereit - das sage ich hier sehr deutlich
für meine Fraktion -, auf das Votum des Tarifausschusses zu verzichten. - Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage, Frau Präsidentin.
Völlig überraschend möchte Ihnen die Kollegin
Zimmermann eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen. Sie lassen diese natürlich auch zu. - Bitte, Kollegin Zimmermann.
Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. - Ich schätze Sie sehr.
Aber mich interessiert wirklich: Was wäre bei Ihnen die
Lohnuntergrenze? Wo würde sie liegen? Ich habe es
nicht gelesen und auch noch keine Meinungsäußerung
von der FDP dahin gehend gehört, wo für die FDP die
Lohnuntergrenze liegt.
Ja, ich habe es verstanden.
Sie wissen, die Niedriglohnschwelle liegt bei
10,36 Euro. Das ist keine Zahl der Linken, sondern eine
Zahl vom Statistischen Bundesamt. Mich interessiert
wirklich, wie die FDP das sieht. Das finde ich jetzt richtig spannend.
Zunächst - so viel Zeit muss sein, Frau Kollegin
Zimmermann - will ich mich bei Ihnen und auch überhaupt bei den Kollegen der Linken einmal ausdrücklich
bedanken. Es funktioniert immer sehr gut: Meine Ausführungen führen dazu, dass es bei Ihnen Nachfragebedarf gibt, Herr Kollege Ernst, Herr Kollege Birkwald,
wer auch immer.
({0})
Das finde ich sehr erfreulich, weil es zeigt, dass von der
einen Seite des Plenarsaals zur anderen ein kommunikativer Draht besteht. Herzlichen Dank dafür!
({1})
Der zweite Punkt - Sie wollen mich natürlich aufs
Glatteis führen; das werde ich nicht zulassen - ist: Wenn
ich Ihnen eine Zahl nennen würde, würde ich genau in
diesen Über- oder Unterbietungswettbewerb einsteigen,
den wir gerade nicht wollen. Tarifautonomie heißt für
uns: Der Staat hält sich raus. Deswegen nennen wir keinen Wert. Es ist auch nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz vorgesehen, dass nicht der Staat eine Lohnhöhe festsetzt, sondern ein Fachausschuss, der nach der
Feststellung von sozialen Verwerfungen vom Hauptausschuss eingesetzt wird.
Diese Zahl ist der Referenzwert. Er ist nicht politisch
gesetzt, sondern wird der Politik von fachlich Betroffenen nahegelegt. Das ist eben etwas ganz anderes als das,
was in dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines
Mindestlohns des Bundesrates vorgesehen ist. Der Kollege Zimmer hat heute Morgen zu Recht auf die Mechanismen hingewiesen: Wenn nämlich die Tarifpartner
nicht handeln, dann soll der Staat selbst Zahlen nennen.
Wenn innerhalb einer bestimmten Frist kein Vorschlag
erarbeitet wurde, soll der Staat selbst einen Wert festsetzen. Das ist für uns Liberale absolut inakzeptabel. Wir
wollen keine staatlich festgelegte Lohnhöhe, sondern
wir wollen, dass die fachlich Betroffenen in den Branchen ihre Dinge regeln, weil sie selbst die beste und
nächste Anschauung dessen haben, was in den Betrieben
tatsächlich gezahlt werden kann. Vielen Dank für die
Frage.
({2})
Es gibt ein Instrumentarium. Wir sind nicht bereit, auf
die Mitwirkung des Tarifausschusses im Rahmen der
AVE zu verzichten, weil der Tarifausschuss eben eine
gesamtwirtschaftliche Perspektive herstellt. Die Erfahrung aus den letzten dreieinhalb Jahren zeigt: Es ist in jedem einzelnen Fall, teilweise mit erheblichen Geburtswehen - das gebe ich zu -, gelungen, ein entsprechendes
Votum zu erzielen, mit dem das in der Regel von uns allen gewünschte Ziel erreicht werden kann. Daran halten
wir fest. Es sollte zudem immer eine Kabinettsentscheidung geben und nicht allein das federführende Ressort
die Möglichkeit haben, per AVE zu handeln. All das ist
sinnvoll und richtig.
Ich finde, wir haben ein gutes Instrumentarium.
({3})
Es ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dass
wir auf unserem Nürnberger Parteitag am übernächsten
Wochenende darüber nachdenken werden, an welchen
Stellschrauben im Rahmen des bestehenden Systems
noch nachjustiert werden muss.
({4})
In der nächsten Sitzungswoche können wir Ihnen wahrscheinlich schon sehr viel Konkreteres zu unserer Nachjustierung berichten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Arbeitswelt läuft so einiges
schief. Heute geht es stellvertretend um den Einzelhandel. Verkäuferin ist ein Knochenjob, und das bei schlechter Bezahlung. 38 Prozent der fast 3 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten inzwischen im
Niedriglohnbereich. Das sind zu viele. Bei dieser Entwicklung ist der Verweis von Ihnen, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, auf die Tarifautonomie einfach zu wenig.
({0})
Früher hatten viel mehr Beschäftigte - gerade auch
im Einzelhandel - sozialen Schutz durch allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Heute aber wechseln zu
viele Arbeitgeber in Mitgliedschaften ohne Tarifbindung. Edeka und Rewe gliedern Filialen aus an selbstständige Kaufleute. Gleichzeitig gibt es immer mehr
zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. In der Folge
wird der Einzelhandel immer mehr zu einer Branche
ohne Betriebsräte. Vor allem aber funktioniert das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nicht
mehr, weil die Tarifbindung zu gering ist. Durch diese
unterschiedlichen Formen der Tarifflucht wird der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
({1})
Ich bin auch überzeugt, dass die Tarifbindung insgesamt weiter abnehmen wird. Unterstützung bei der Tarifflucht gibt es einmal mehr im Internet. So bietet beispielsweise die Haufe-Akademie ein Seminar an unter
dem Titel „Wege aus der Tarifbindung“ - ich zitiere -:
Praxisorientiert … lernen Sie, welche Möglichkeiten es gibt, Personalkosten zu sparen, flexibler zu
werden … und den Einfluss von Gewerkschaften
zu reduzieren.
Praktische Handlungsempfehlungen … zeigen Ihnen, wie Sie die Lösung aus tariflichen Bindungen
am besten umsetzen.
Die FDP sollte ruhig einmal zuhören. - Dann wird noch
die ganze Palette aufgeführt: OT-Mitgliedschaft, Wechsel des Arbeitgeberverbandes, Branchenwechsel, Umstrukturierung und Gestaltung der Arbeitsverträge. Es ist
unsäglich. Das hat nichts mehr mit Sozialpartnerschaft
zu tun. Hier geht der Anstand verloren.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie halten immer die Tarifautonomie hoch,
wie wir gerade wieder gehört haben. Sie müssen sich
aber langsam entscheiden, was Sie damit meinen und
was Sie wollen. Wenn es Ihnen nur um die negative Koalitionsfreiheit geht, dann sagen Sie das endlich ehrlich.
Dann wissen die Beschäftigten, was sie von Ihnen zu erwarten haben, nämlich gar nichts. Oder verstehen Sie
unter Tarifautonomie, dass den Tarifvertragsparteien
eine wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungskompetenz eingeräumt wird? Dann müssen Sie aber auch reagieren, wenn sich Arbeitgeber von dieser Verantwortung verabschieden. In der Konsequenz müssten Sie
dann, wenn auch nicht in allen Details, so doch zumindest im Grundsatz die vorliegenden Vorlagen unterstützen.
({3})
Wir brauchen erstens einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, zweitens mehr branchenspezifische
Mindestlöhne, und drittens muss die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtert werden;
denn wenn die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert,
dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt
werden.
({4})
Wir Grüne bringen heute noch einen kleinen Entwurf
eines Gesetzes ein, das unserer Meinung nach durchaus
große Wirkung erzielen kann, und zwar gegen zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. Wenn ein Scheinwerkvertrag gerichtlich festgestellt wird, dann ist das
verdeckte Leiharbeit - mit allen Konsequenzen: Ein
Bußgeld wird verhängt, die Sozialversicherungsbeiträge
werden nachgefordert, und die Beschäftigten haben automatisch ein Arbeitsverhältnis mit dem Werkvertragsbesteller. Eine Erlaubnis für Leiharbeit schützt die
Betriebe aber vor diesen Rechtsfolgen. Diese Gesetzeslücke im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wollen wir
schließen; denn manche Betriebe nutzen das schamlos
aus. Sie vergeben ihre dubiosen Werkverträge nur an
Fremdfirmen mit einer Erlaubnis für Leiharbeit. Damit
können sich die Unternehmen absichern und die Rechtsfolgen von Scheinwerkverträgen abmildern. Wir fordern
deshalb, dass die Erlaubnis nur für echte Leiharbeit gilt.
Wer mit Scheinwerkverträgen Löhne absenkt und Tarifflucht begeht, der soll künftig immer auch die rechtlichen Konsequenzen tragen. Das hat abschreckende Wirkung, und vor allem ist das gerecht, Herr Kolb.
({5})
- Sie haben das, glaube ich, einfach nicht verstanden.
Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, mit allen Anträgen, die heute vorliegen, soll
die Sozialpartnerschaft zum Schutz der Beschäftigten
gestärkt werden. Aber auch die tariftreuen Betriebe
brauchen diesen Schutz, damit sie von Schmutzkonkurrenz nicht vom Markt gedrängt werden. Reden Sie also
nicht nur von Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie,
sondern handeln Sie endlich!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktionen, studiert man die von Ihnen eingebrachten und heute
zur Debatte stehenden Anträge, so könnte man auf die
Idee kommen, dass es um die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Lage in Deutschland wirklich schlecht bestellt
ist.
({0})
Aber ich kann Sie beruhigen: Dem ist bei weitem nicht
so. Im Gegenteil: Betrachtet man die Entwicklung am
deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren,
dann sieht man, dass die Lage eigentlich kaum besser
sein könnte.
Im vergangenen Jahr waren mit nahezu 42 Millionen
Beschäftigten so viele Menschen in Deutschland in Beschäftigung wie nie zuvor.
({1})
Auch die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen ist mit
2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren
gefallen. 29,8 Millionen Personen, um die Zahl zu liefern, Frau Müller-Gemmeke, waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Darauf wollen Sie doch hinaus. Ich
kenne Ihre Fragen nach mehrjähriger Tätigkeit im Ausschuss.
({2})
In ihrer aktuellen Frühjahrsprognose geht die Bundesregierung für das laufende Jahr weiterhin von einem Anstieg der Beschäftigung um 200 000 sowie einem Rückgang der Arbeitslosigkeit auf deutlich unter 3 Millionen
Personen aus. Im europäischen Vergleich steht Deutschland, insbesondere was die geringe Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstand am besten da.
({3})
Die Vermittlung in Arbeit verläuft zügiger, und die
durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist gesunken. Das müssen auch Sie, Frau Kollegin Zimmermann,
bei aller Kritik zur Kenntnis nehmen. Wir werden im gesamten europäischen Ausland um unseren soliden und
äußerst robusten Arbeitsmarkt beneidet. Das sind die Erträge erfolgreicher christlich-liberaler Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik.
({4})
- Ich komme gleich dazu, lieber Toni Schaaf.
Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, entnehme ich eine ausgesprochen pessimistische Sicht auf
die Tarifbindung in Deutschland, die ich in keiner Weise
nachvollziehen kann. Auch die Sachverständigen haben
sich im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 6. Februar 2012 mit
Ihrer Sicht der Dinge sichtlich schwergetan. Zusätzlich
zur unmittelbaren Bindung der Unternehmen an Flächen- und Branchentarifverträge ist die Zahl der Hausund Firmentarifverträge deutlich gestiegen. Hinzu
kommt, dass sich ein erheblicher Teil der nicht tarifgebundenen Unternehmen an bestehende Flächen- und
Branchentarifverträge anlehnt.
({5})
Darauf wurde von Herrn Kollegen Kolb zutreffenderweise bereits hingewiesen.
Legt man diese Fakten zugrunde, kommt man entgegen Ihrer Ansicht zu dem Ergebnis, dass die Tarifbindung in Deutschland im europäischen Vergleich im oberen Bereich liegt. Laut dem Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung werden die Arbeitsbedingungen
von 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse immer noch
durch Tarifverträge bestimmt. Diese Zahlen belegen,
dass Tarifverträge trotz Ihrer Schwarzmalerei das wichtigste Element zur Aushandlung und Festsetzung von
Arbeitsentgelten, Arbeitsbedingungen und weiteren beschäftigungsrelevanten Fragen sind.
Mit einem Sammelsurium von Forderungen, angefangen bei einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der in jedem Ihrer Anträge steht, über eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bis hin zu
einer Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
von Tariflöhnen, versuchen Sie, einem angeblichen
Missstand entgegenzutreten.
Das Aushandeln von Löhnen muss grundsätzlich
Aufgabe der Sozialpartner sein. - Ich freue mich, dass
Kollege Klaus Ernst wieder unter uns ist, der natürlich
als alter Gewerkschafter hier von mir abermals hören
muss, dass es die christlich-liberale Koalition ist, die der
Tarifautonomie das Wort redet und die Rolle der Gewerkschaften würdigt und hochschätzt, anders als früher
Ihre Genossen.
({6})
Lassen Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen
Schaaf zu? ({0})
Bitte, Sie haben das Wort.
Sie lehnen den gesetzlichen Mindestlohn ja immer ab
mit dem Hinweis darauf, ein gesetzlicher Mindestlohn
sei eine Einmischung in die Tarifautonomie. Wir bzw.
unsere Vorgänger haben in diesem Haus eine Menge Gesetze beschlossen, die sich zum Beispiel damit befassen,
wie viel Urlaub mindestens gewährt werden muss, wie
hoch die Arbeitszeit in der Woche höchstens sein darf.
Wir haben die Betriebsverfassung. Sind das alles Einmischungen in die Tarifautonomie, oder sind das Mindeststandards, die wir in der sozialen Marktwirtschaft für
richtig halten?
({0})
Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie sind Arbeitnehmerschützer, genau wie ich.
({0})
Wir haben die Interessen der Arbeitnehmer im Fokus.
Gerade vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die Regelungen im Bundesurlaubsgesetz und in den
Arbeitszeitverordnungen betreffend die Urlaubsdauer
und die maximalen Wochenarbeitszeiten, quasi als Mindestlevel zum Schutz der Arbeitnehmer.
({1})
Allein der Umstand, dass wir bereits mehrere Grenzen
eingezogen haben, heißt aber doch nicht, dass wir weitere Grenzen einziehen müssen, die nicht zwingend erforderlich sind. Hier müssen wir eine weitere Einengung
der Verhandlungspositionen der Tarifvertragsparteien
gerade nicht vornehmen. Die branchenspezifische Lohnhöhe können sie doch viel besser selbst aushandeln.
Dass die minimale Urlaubsdauer als Arbeitsschutzrecht
vom Bundesgesetzgeber geregelt ist, ist richtig und auch
zutreffend. Das heißt aber nicht, dass das für alle Branchen einheitlich gemacht werden muss.
Frau Kollegin Zimmermann hat ja den netten Kollegen Kolb suggestiv gefragt: Wo würden Sie denn hier
die Lohnuntergrenze sehen? - Das ist doch etwas, was
von Branche zu Branche von den Tarifvertragsparteien
viel besser ausgehandelt werden kann. Wir sehen es
doch: Hier sind es 8,50 Euro, dort 10 Euro. Vielleicht
kommen wir auch irgendwann einmal zu 9 Euro oder
11,50 Euro.
({2})
Wir würden uns hier vor der Bundestagswahl in einem
Überbietungswettbewerb befinden, wer die besseren
Politiker sind, wer mehr Mindestlohn fordert - unabhängig davon, dass wir den Verlust von Arbeitsplätzen dann
gar nicht selber ausbaden müssten.
Lassen Sie uns den Tarifvertragsparteien etwas Vertrauen entgegenbringen und ihnen die Aushandlung der
Lohnhöhen in den einzelnen Branchen zugestehen! Das
können die besser als wir. Lieber Toni Schaaf, du weißt
so gut wie ich, dass wir die Tarifvertragsparteien ihr Geschäft machen lassen sollten.
Frau Präsidentin, da ist noch eine Wortmeldung.
Ich habe das gesehen, Kollege Lehrieder. Der Kollege
Ernst hat sich ebenfalls zu einer Frage oder Bemerkung
gemeldet. Ich entnehme Ihrem Hinweis, dass Sie diese
auch zulassen.
Herr Kollege Lehrieder, es geht mir um das Problem,
das eben angesprochen wurde. Ihre Argumentation
scheint mir nicht sehr schlüssig zu sein. Urlaubsdauer ist
ja etwas anderes als die Frage der Arbeitszeit. Wir haben
bezogen auf die Urlaubsdauer eine Mindestregelung im
Gesetz - 24 Werktage -; trotzdem haben die Tarifvertragsparteien die Freiheit, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren, zum Beispiel 30 Tage in der Metall- und Elektroindustrie. Inwiefern, glauben Sie, hat die Festlegung
einer Mindesturlaubsdauer die Gewerkschaften behindert, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren? Das ist eine
ganz konkrete Frage.
Zweitens. Wir haben ein Arbeitszeitgesetz. In diesem
Arbeitszeitgesetz haben wir Höchstarbeitszeiten vereinbart. Trotzdem haben sich die Gewerkschaften mit den
Arbeitgeberverbänden - wahrscheinlich zu Ihrer großen
Freude, weil das in die Tarifautonomie fällt - in verschiedenen Branchen auf die 35-Stunden-Woche geeinigt. Glauben Sie, dass die festgelegte Mindestarbeitszeit die Gewerkschaften behindert hat, als sie die
35-Stunden-Woche durchgesetzt haben? Oder war es
nicht so, dass sie auf Basis bestehender Gesetze eine
Verbesserung durchsetzen konnten?
Wenn Sie mir in diesen Fragen recht geben, Kollege
Lehrieder, ist es dann nicht so, dass selbstverständlich
die Gewerkschaften einen besseren Lohn als den Mindestlohn vereinbaren können, und zwar in den Bereichen, in denen sie selbst dazu nicht mehr in der Lage
sind, eine Basis, einen Mindestlohn zu verhandeln, auf
den sie aufsetzen können? Nur so können sie das in Anspruch nehmen, was Sie hier propagieren, nämlich eine
Tarifautonomie, die über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bessere Bedingungen bei Lohn, Urlaub usw. gewährt. Ist es
nicht sinnvoll, diesen Mindestlohn
({0})
zur Geltung der künftigen Tarifautonomie geradezu
zwingend einzuführen?
({1})
Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein. Ich begründe das sehr gern. - Lieber Kollege Ernst, bei den angesprochenen Regelungen zur Wochenarbeitszeit - wir
diskutieren auf der Brüsseler Ebene derzeit über
48 Stunden; diese Arbeitszeitobergrenze soll uns von der
Brüsseler Ebene vorgegeben werden - handelt es sich
schlicht um Arbeitnehmerschutzrechte. Gesundheit,
Wohlbefinden, Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers sind
von staatlicher Seite zu schützen.
({0})
Das ist etwas anderes, ein Aliud im Verhältnis zur Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es nicht um Arbeitnehmerschutz.
Beispiel: Urlaubszeit. Jede Mitbürgerin und jeder
Mitbürger braucht bei einer Vollzeitbeschäftigung eine
entsprechende Urlaubszeit, um sich wieder zu erholen
und die körperliche Fitness zu erhalten. Das ist logisch.
Das ist ein Arbeitnehmerschutzrecht. Das ist anders zu
betrachten als die Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es
darum: Wie ist die Produktivität in der Branche, an dem
Arbeitsplatz, möglicherweise in der Region? Das ist
durchaus differenziert zu betrachten. Da kann es keine
Einheitlichkeit geben.
Zu Ihrer Frage: Können die Gewerkschaften aus den
10 Euro nicht 11 Euro oder 12 Euro machen? Es besteht
das Risiko, lieber Klaus Ernst, dass tarifvertraglich vereinbarte höhere Löhne, etwa von 11 Euro oder 12 Euro,
auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden. Sie
geben den Mitbürgerinnen und Mitbürgern unter Umständen Steine statt Brot. Sie dürfen nicht glauben, dass
die Gewerkschaften auf die 10 Euro noch 1 Euro oder
2 Euro drauflegen müssen. Es kann genauso passieren,
dass bestehende tarifvertraglich vereinbarte Löhne in
Höhe von 11 Euro auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden.
Von daher: Ihr Optimismus in Ehren - ich glaube Ihnen das liebend gern; ich traue den Gewerkschaften
wahrscheinlich mehr zu als Sie -, aber das wird nicht
funktionieren, lieber Klaus Ernst. Die Arbeitszeitregelung auf der einen Seite und die Lohnhöhe auf der anderen Seite, das ist unterschiedlich zu betrachten. Die Arbeitszeit und die Lohnhöhe können in Tarifverträgen
zugunsten des Arbeitnehmers verbessert werden - da bin
ich bei Ihnen -; aber der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, der körperlichen Integrität des Arbeitnehmers
ist ein bisschen anders zu sehen als die Lohnhöhe. Da
bitte ich um Verständnis. Das wissen Sie als Gewerkschafter aber besser als ich.
Dass dies funktionieren kann, lieber Klaus Ernst - Sie
kommen aus Schweinfurt -, wissen Sie. Anfang der
Woche ist über dem Dom von Würzburg weißer Rauch
aufgestiegen. Man hat sich geeinigt. Die sogenannte
Würzburger Einigung der Friseure - unter dem Namen
mittlerweile weltbekannt - zeigt, dass die Tarifvertragsparteien hier tatsächlich eine Lösung erreichen können,
die eine Verdopplung von manchen Löhnen zur Folge
haben wird - zugegebenermaßen: erst in eineinhalb Jahren. Aber immerhin gibt es ein Ansteigen der Löhne im
Friseurgewerbe.
({1})
- Fragen Sie mich halt was, Frau Kollegin! Schreien Sie
nicht einfach dazwischen! - Ein Anstieg der Lohnhöhe
im Friseurgewerbe von 3,80 Euro oder 4,20 Euro auf zukünftig 8,50 Euro wäre, glaube ich, ein Supererfolg. Das
zeigt, was vernünftige Gewerkschaften in vernünftigen
Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite erreichen können - auch mit Erstreckung auf noch nicht tarifgebundene Unternehmen. Das Spannende bei den Friseuren ist
im Übrigen, wie das funktionieren wird, wie die sich
freiwillig bereit erklären, diese 8,50 Euro zu bezahlen.
({2})
- Ja, aber die Christlich-Liberalen haben es erreicht, lieber Herr Kollege.
({3})
Meine Damen und Herren, der richtige Weg der
Lohnfindung - ich habe bereits darauf hingewiesen sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Für den Fall,
dass eine zu geringe Tarifbindung auf Arbeitgeber- oder
auf Arbeitnehmerseite das nicht ermöglicht, hat Kollege
Kolb auf das MiArbG hingewiesen. Das funktioniert
noch nicht. Wir werden genau hinschauen müssen, wie
wir es über das MiArbG möglicherweise erreichen, die
Konditionen in den Branchen, in denen die Tarifbindung
recht schwach ist, zu verbessern.
Ich würde es begrüßen, wenn man im Einzelhandel
ähnlich wie bei den Friseuren mit vernünftigen Tarifvertragsparteien zu einer vergleichbaren positiven Lösung
im Interesse der Arbeitnehmer, aber auch im Interesse
der Branche kommen könnte. Lassen Sie uns in diesem
Sinne daran arbeiten!
Die vorgelegten Anträge sind in dieser Hinsicht nicht
zielführend. Deshalb werden wir sie - da bitte ich um
Nachsicht - samt und sonders ablehnen.
Danke schön.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte ist schon eigenartig. Hier wird zum Beispiel argumentiert, bei der Arbeitszeit müsse es einen Schutz
geben - das ist auch richtig -, aber es dürfe keinen gesetzlichen Schutz gegen Armut geben. Armut ist bekanntlich so gesund, und deswegen braucht man keinen
gesetzlichen Mindestlohn.
({0})
Dann wird hier allen Ernstes argumentiert, ein Mindestlohn von 8,50 Euro würde dazu führen, dass Löhne
auf diesen Mindestlohn gedrückt werden. Wir erleben im
Moment, dass durch den fehlenden Mindestlohn Löhne
gegen null gedrückt werden. Es ist also geradezu zwingend notwendig, dass wir hier eine Grenze ziehen.
({1})
Herr Kollege Weiß, Herr Kollege Lehrieder und die
Kollegen der FDP, ich finde es interessant, dass bei Ihnen die Tarifautonomie immer hochlebt, wenn es um den
gesetzlichen Mindestlohn oder gesetzliche Neuregelungen in diesem Bereich geht. Wir sehen doch an den genannten Beispielen, wie die Tarifautonomie durch den
gesetzlichen Rahmen beeinflusst wird. Man könnte jetzt
ausführen, wie der Druck auf die Arbeitsbedingungen
und die Tarifverträge in den letzten Jahren entstanden
ist, und zwar auch durch gesetzliche Veränderungen. Das
beste Argument haben Sie doch selber geliefert, als Sie
die Friseure nannten. Wie kommen die Friseure darauf,
zu sagen, dass es in anderthalb oder zwei Jahren einen
Mindestlohn von 8,50 Euro gibt? Genau das ist zufällig
die Forderung der SPD, der Grünen und zum Teil der
Linken.
({2})
Hier sieht man doch, wie Debatten über gesetzliche Regelungen auch Tarifverträge beeinflussen.
Ich wollte aber noch etwas anderes sagen, was in einer solchen Debatte immer untergeht. Wir alle wissen,
dass es noch anständige Arbeitgeber mit anständiger Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen gibt.
({3})
Die haben es aber immer schwerer, weil es immer mehr
Betriebe und Branchen gibt, die die Möglichkeiten der
prekären Beschäftigung und der Lohndrückerei nutzen,
zum Beispiel über befristete Verträge, Minijobs, Tarifflucht und Outsourcing. Deswegen habe ich vor einigen
Wochen gesagt: Amazon ist fast überall. Bei manchen ist
der Steuervermeidungstrieb stärker ausgeprägt als der
Sexualtrieb.
({4})
Bei manchen ist der Lohn- und Sozialdumpingtrieb stärker ausgeprägt als der Trieb zum Überleben. Der Einzelhandel ist ein Beispiel dafür. Insofern hat die Linke
recht, wenn sie dieses Thema anspricht.
Man muss auch noch einiges zum Einzelhandel sagen, um die Situation zu beschreiben. Im Einzelhandel
haben wir das Problem: immer mehr Fläche, immer längere Ladenöffnungszeiten, stagnierender privater Konsum aufgrund stagnierender Kaufkraft wegen niedriger
Löhne, ein brutaler Preiskampf und immer weniger
Beschäftigte. Dies kann doch bezogen auf die Arbeitsbedingungen nicht gut gehen. Was passiert also? Man
zimmert sich schnell einen Arbeitgeberverband, sucht
sich dann eine sogenannte christliche Gewerkschaft, genannt DHV - ich glaube, das heißt Deutscher Handlangerverband -,
({5})
und schon hat man Leiharbeitslöhne, die um 47 bzw.
44 Prozent unter dem Verdi-Tarif liegen. Gleichzeitig
bastelt man sich Dienst- und Werkverträge, um auch
noch den Mindestlohn in der Leiharbeit zu unterbieten.
Das alles geschieht unter der Überschrift „Tarifautonomie“. Oder man macht es wie Edeka und Rewe: Man
gründet immer mehr Filialen mit sogenannter Privatisierung aus. Dann hat man neben dem Tarifvertrag auch
noch den Betriebsrat vom Hals. Was ist das für ein Erfin29748
dungsreichtum! Ich wünschte mir, das Gehirnschmalz
würde darauf verwendet, etwas für die Kunden zu tun
oder es den Frauen zu ermöglichen, Erwerbsarbeit und
Familie zu vereinbaren, statt sich solchen Humbug auszudenken.
({6})
Wir brauchen andere gesetzliche Regelungen, damit so
etwas nicht Schule macht. Wir brauchen Regelungen,
wie sie in den heute vorliegenden Vorschlägen zur Arbeitnehmerüberlassung, Arbeitnehmerentsendung und
Allgemeinverbindlichkeit zu finden sind.
Zur Allgemeinverbindlichkeit, zum Thema des Antrags der SPD, muss man noch einmal deutlich machen:
Wir wollen keine Mindestlohnarbeitswelt, sondern wir
wollen allgemeinverbindliche Tarifverträge, die Leistungen und Erfahrungen honorieren, die Qualifikation und
gute Arbeit honorieren und die Aufstieg ermöglichen.
Wir wollen ein Gitter schaffen. Dieses Gitter kann man
nicht schaffen, indem sich nicht tarifgebundene Unternehmen an bestehende Tarifverträge anlehnen; denn
diese Unternehmen - wir alle wissen das - werden
sich nur die Rosinen herauspicken, also einen Tarifvertrag à la carte machen. Das kann nicht sein. Wir brauchen eine Verbindlichkeit der Tarifverträge. Ein Tarifvertrag ist geltendes Recht und muss im Zweifelsfall
auch durchgesetzt werden können.
({7})
Dann wird ein Schuh daraus; dann wird Missbrauch unterbunden, und dann wird es höhere Löhne und Einkommen geben. Das führt dann dazu, dass die Menschen,
Mann und Frau, wieder Geld haben, um im Einzelhandel
gute Preise für gute Ware zu bezahlen.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der zweiten sozialpolitischen Debatte des heutigen
Tages reden wir wieder einmal über das Thema Mindestlöhne.
({0})
- Nein, Frau Kollegin, wir haben Ihre Anträge sehr wohl
gelesen. Der Antrag der SPD beschäftigt sich aber eben
nicht nur mit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, sondern sieht auch wieder den einheitlichen
gesetzlichen Mindestlohn vor.
({1})
Ich will es Ihnen noch einmal erklären. Wir können leider in ganz Europa sehen - Guntram Schneider hat heute
Morgen das beste Beispiel dafür gegeben -, dass ein
Einheitsmindestlohn, der am Ende im Deutschen Bundestag festgelegt wird, den Einstiegschancen schadet.
Das sehen wir in Frankreich und anderen Ländern.
({2})
Ihr Sozialminister aus NRW hat sich heute Morgen hier
hingestellt und gesagt: Wir wollen eine unabhängige
Kommission; aber es müssen mindestens 8,50 Euro sein,
da fangen wir politisch an.
({3})
Das macht doch deutlich, wo Sie hinwollen. Sie wollen
politische Lohnfindung und lassen sich hier im Deutschen Bundestag von Klaus Ernst treiben. Das ist aber
falsch.
Wir wollen Tarifautonomie und Lohnfindung durch
die Tarifpartner. Das ist der bessere Weg.
({4})
Es ist richtig, dass wir diesen Weg weitergehen, dass wir
sagen: In den Branchen, in denen es Probleme gibt, kann
es Lohnuntergrenzen geben, wenn sich die Tarifpartner
darauf verständigen. Der Mindestlohn im Friseurhandwerk ist dafür das beste Beispiel.
({5})
Kollege Vogel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Gern sogar, aber eine Frage.
({0})
Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.
Sofern ich dann in Addition meiner Redezeit kurz reagieren darf, gern.
Die Uhr ist längst angehalten.
Herr Vogel, glauben Sie wirklich, dass die, die hier
für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten, die staatliche Festsetzung aller Löhne befürworten?
({0})
Wenn Sie behaupten, wir wären für die staatliche Festsetzung der Löhne, dann würde ich Sie bitten, dafür einen Beleg vorzulegen. Es geht nicht um die Festsetzung
staatlicher Löhne. Ich glaube, dass wir mit unserer Position die Tarifautonomie bei weitem mehr verteidigen als
Sie. Natürlich sind wir dafür, dass im Spiel der Kräfte, in
der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden - was allerdings starke Gewerkschaften voraussetzt, wenn dies Erfolg haben soll -,
Tariflöhne entstehen. Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Sicherung durch eine Untergrenze. Man muss
doch nicht, wenn man für einen gesetzlichen Mindestlohn ist, für festgesetzte Löhne sein. Ich weiß nicht, woher Sie diese Position haben. Ich kann nur für alle, die
ich kenne, die für einen gesetzlichen Mindestlohn sind,
sagen: Wir sind für die Tarifautonomie, aber auch für
Lohnuntergrenzen. Das ist etwas anderes.
({1})
Lieber Kollege Ernst, erstens sehen wir zum Beispiel
in Frankreich, dass der Mindestlohn sehr wohl Einfluss
auf das Tarifgeflecht hat.
({0})
- Aber keinen positiven Einfluss, Herr Ernst.
({1})
Zweitens. Wir reden hier über Untergrenzen. Die
Frage ist: Wer legt die Untergrenzen fest? Sie wollen ja
den politischen Einheitsmindestlohn
({2})
und leiten auch schon den politischen Überbietungswettbewerb ein. Man kann schon erkennen, wie die Kollegen
von SPD und Grünen mit Ihren Forderungen auf das,
was Sie von der Linkspartei als Zahlen vorgeben, reagieren. Die Frage der Lohnuntergrenze ist hochrelevant,
weil sie die Einstiegschancen von Menschen tangiert.
Deshalb sagen wir, wenn es um Lohnuntergrenzen geht:
politischer Einheitsmindestlohn, nein - tarifliche Lohnuntergrenzen, Branche für Branche differenziert, ja. Die
Friseure sind doch das beste Beispiel dafür, dass reale
Probleme mit diesem Ansatz gelöst werden können.
Das ist der bessere Weg - Kollege Kolb hat das schon
gesagt -; deshalb werden wir ihn weiter verfolgen.
({3})
In Ihren Anträgen kommt als Konglomerat so viel zusammen - leider auch viel Unsinn -, dass wir ihnen nicht
zustimmen können; sie bringen uns in dieser Frage nicht
weiter.
Ich will zum Abschluss meiner Rede - ich habe ja nur
drei Minuten - noch auf einen Punkt eingehen, den der
Kollege Barthel angesprochen hat. Herr Kollege Barthel,
Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass wir auf
den einzelnen Arbeitgeber schauen müssen. Das tun wir
ja auch. Wir reden viel darüber: Sind tarifliche Lohnuntergrenzen nicht deshalb richtig, weil es natürlich einzelne schwarze Schafe gibt? Wenn unanständig niedrige
Löhne gezahlt werden, dann ist das die richtige Antwort.
Deswegen hat diese Koalition die Festlegung mehrerer tariflicher Lohnuntergrenzen möglich gemacht.
Sie haben so schön gesagt: Wir wollen den anständigen Arbeitgeber, und wir müssen darauf achten, dass
Amazon nicht überall ist. - Das ist ein Anspruch, dem
wahrscheinlich alle hier zustimmen können. Die Frage
aber ist, lieber Kollege Barthel: Sollte man nicht persönlich mit bestem Beispiel vorangehen?
Ich fand es verblüffend oder zumindest bemerkenswert, was wir in den letzten Tagen lesen konnten, das
war ganz interessant. Uns alle erreichte wahrscheinlich
- so hoffe ich - aus dem hohen Norden die Nachricht,
dass Verdi für die Beschäftigten der SPD in SchleswigHolstein Arbeitskampfmaßnahmen angekündigt hat.
({4})
Lassen Sie mich zum Abschluss einige bemerkenswerte Sätze des Verhandlungsführers von Verdi zitieren.
({5})
„Wer alles gibt, hat mehr verdient!“:
({6})
Mit diesem Slogan wirbt die SPD in Schleswig-Holstein
für gute Arbeit und gerechte Löhne. Der Verdi-Verhandlungsführer stellt fest:
Im eigenen Hause jedoch herrschen andere Gesetzmäßigkeiten.
Das will man sich nicht mehr gefallen lassen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir
alle wollen anständige Arbeitgeber und keine schwarzen
Schafe. Aber wenn man dafür glaubwürdig politisch eintreten will, sollte man selber mit gutem Beispiel vorangehen, auch die SPD in Schleswig-Holstein.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist eine durchaus lohnenswerte und auch notwendige Debatte, die wir mit Blick auf die Bundestagswahl miteinander führen. Es geht um grundsätzliche Fragen, die sich uns Wirtschafts- und Sozialpolitikern in
diesem Land stellen.
Um den Versuch zu unternehmen, neben den vielen
Argumenten, die bereits genannt worden sind, die Debatte, die wir miteinander betreiben wollen, ein wenig
fortzusetzen: Herr Kollege Schaaf, Sie haben natürlich
völlig recht, wenn Sie sagen, dass es unsere Aufgabe als
Gesetzgeber ist, für die eine oder andere gesetzliche
Schutzfunktion zu sorgen. Das machen wir mit dem
Bundesurlaubsgesetz. Das stellt auch niemand in Frage.
Sie wissen aber genauso gut wie ich und wie wir alle,
dass es einen maßgeblichen Unterschied zwischen den
Urlaubsregelungen und den Entgeltregelungen gibt, die
alljährlich oder auch in einem längeren Zeitraum neu zu
treffen sind. Da gibt es eine ganz andere Dynamik.
Die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes stehen
fest. Es wird sicherlich das eine oder andere Mal eine
Anpassung vorgenommen; der eine oder andere Tarifvertrag wird auf den neuesten Stand gebracht, es gibt die
eine oder andere Besserstellung; denn wir müssen ja
auch auf den demografischen Wandel und die längere
Lebensarbeitszeit Rücksicht nehmen.
Bei den Entgeltbedingungen gibt es ständig den Bedarf, anzupassen: an die Produktivität, an die Inflation
oder an die spezifische Situation einer Branche oder
- wenn es ein Haustarifvertrag ist - innerhalb eines Unternehmens. Das heißt, hier muss - vielleicht nicht alljährlich, aber jedenfalls periodisch - in kurzen zeitlichen
Abständen immer wieder überprüft werden: Wie groß ist
der Kuchen, der zu verteilen ist? In welchem Umfang
verteilen wir ihn auf welche Beschäftigtengruppen? Das
findet in Deutschland in einer produktiven und auf eine
ganz tolle Art und Weise funktionierenden sozialpolitischen Auseinandersetzung statt, für die uns viele bewundern.
({0})
- Doch, das stellen Sie in Frage, wenn Sie den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden entscheidende
Möglichkeiten der Gestaltung nehmen wollen, indem
Sie per Gesetz regeln.
({1})
Ich will Ihnen etwas sagen: Schon der Begriff „Tarifautonomie“ beinhaltet Selbstbestimmung. Wenn Sie die
einschränken wollen, dann sagen Sie das auch offen.
Dann reden Sie aber in der nächsten Woche am 1. Mai
nicht mehr von Tarifautonomie, sondern dann sagen Sie
- die Linken schreibt das in ihren Antrag -: Wir wollen
ein gesetzliches System schaffen.
({2})
Wir stehen ohne Wenn und Aber dahinter, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diese Dinge alleine regeln können.
({3})
Damit ist Deutschland gut gefahren, damit sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut gefahren, und dabei
sollte es bleiben.
({4})
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Müller-Gemmeke?
Ja.
Ich habe mich die ganze Zeit zurückgehalten, aber
jetzt muss ich doch noch zwei Fragen stellen. Erstens
- aber das nur am Rande -: Sie haben schon zur Kenntnis genommen, dass wir, die Opposition, eine Kommission aus Vertretern von Arbeitgeberverbänden, der Arbeitnehmerseite und der Wissenschaft wollen, die einen
gesetzlichen Mindestlohn festsetzen und dann auch die
Anpassungen nach oben vornehmen soll?
Meine zweite Frage geht in eine andere Richtung: Sie
reden die ganze Zeit davon, dass wir Löhne und Lohngrenzen festsetzen wollen. Uns liegen jetzt aber Anträge
vor, bei denen es um etwas anderes geht. Wir haben
Gesetze wie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder das
Tarifvertragsgesetz, die klare Rahmenbedingungen dazu
enthalten, wie entweder Mindestlöhne oder Tarifverträge
allgemeinverbindlich erklärt werden können, sodass alle
unter diesen guten Bedingungen arbeiten können.
Die entsprechenden Rahmenbedingungen verändern
sich. Es gibt Tarifflucht, und wir haben eine niedrigere
Tarifbindung. Es geht jetzt darum, die genannten Gesetze und damit die Rahmenbedingungen an die Realität
anzupassen, sodass die Tarifparteien überhaupt wieder
Mindestlöhne und Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären lassen können.
Es geht um eine Stärkung der Tarifpartner. Wir wollen
gar nichts festlegen, sondern wir wollen die Tarifpartner
stärken, und zwar mit dem Ziel, dass nicht die Arbeitgeber Erfolg haben, die Tarifflucht begehen, sondern die
tariftreuen Betriebe und die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die sich wirklich noch um einheitlich gute Arbeitsbedingungen kümmern.
Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
({0})
Herzlichen Dank für die Anregung. Ich will gerne
noch einmal etwas dazu sagen. Indem Sie beginnen, einen gesetzlichen Mindestlohn festzulegen - und das
wollen Sie ja offenbar,
({0})
das soll wohl nicht infrage gestellt werden, auch wenn
die Grünen vor ihrem Bundesparteitag hier noch so manche Springprozession aufführen; wir warten einmal ab,
was sie letzten Endes beschließen -, bekommen Sie automatisch folgenden Effekt, den auch der Kollege Vogel
schon angesprochen hat: In dem Moment, in dem Sie ein
Minimalniveau festlegen, wird das Auswirkungen auf
das gesamte Tarifgefüge darüber haben. Außerdem wird
es, wenn wir uns auf eine solche Geschichte erst einmal
einlassen, selbstverständlich eine politische Debatte in
Form eines Überbietungswettbewerbes geben.
({1})
Den erleben wir bei Ihnen jetzt schon. Die Grünen
waren vor wenigen Wochen noch bei 7,50 Euro. Mittlerweile haben sie erkannt, dass die Sozialdemokraten bei
8,50 Euro sind, sie also aufholen müssen. Sie erhöhen
ihre Forderung jetzt auch auf 8,50 Euro. Wenn Sie die
Sache konsequent durchdenken, müssten Sie irgendwann die Argumentation der Linkspartei übernehmen,
({2})
die sagt: Frühestens ab einem Lohn von 10,00 Euro pro
Stunde ist man nicht mehr auf staatliche Ergänzungsleistungen angewiesen.
Wenn Sie ganz konsequent sind, werden Sie wahrscheinlich früher oder später diese Position übernehmen.
({3})
- Ich will das schon vor den Wahlen verdeutlichen, bei
denen alle wissen sollen, worum es geht.
Sie werden sich sehr schnell diesem Überbietungswettbewerb anschließen. Der Kollege Barthel hat das
selber sehr deutlich gemacht, indem er in seiner Rede
auf unternehmerische Gestaltungen bei Edeka und anderswo eingegangen ist und gesagt hat, er könne beurteilen, ob das Humbug ist oder nicht.
({4})
Das ist nicht unsere Aufgabe, Herr Kollege Barthel
und Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Unsere Aufgabe
ist es, soziale Rahmenbedingungen zu schaffen, die Armut verhindern.
({5})
In Deutschland haben wir soziale Rahmenbedingungen,
nach denen sich viele Menschen auf der ganzen Erde alle
zehn Finger lecken.
({6})
Dabei bleibt es auch; die stellen wir nicht infrage.
Außerdem wollen Sie einige Regelungen aufgrund
der von Ihnen behaupteten Tarifflucht und der aus Ihrer
Sicht nicht mehr so starken Wirkung des Tarifvertragssystems ausweiten. Anknüpfend an das, was Peter Weiß
schon gesagt hat, will ich Ihnen dazu zwei Dinge sagen:
Erstens ist es überhaupt nicht nachgewiesen, dass die
faktische Wirkung von Tarifverträgen in Deutschland
nachgelassen hat. Das völlig unabhängige IAB, auf das
Sie sich immer beziehen, hat festgestellt, dass für
80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse nach wie vor die
entsprechenden Tarifverträge maßgeblich sind. Dazu
sage ich Ihnen: Das ist gut so. Das sollte man nicht infrage stellen. Hören Sie auf, das Tarifvertragssystem in
Deutschland schlechtzureden!
({7})
Zweitens. Natürlich gibt es immer mal wieder
schwarze Schafe. Natürlich gibt es Formen von Tarifflucht und rechtsmissbräuchliche Gründungen von Arbeitgeberverbänden - das haben wir alles erlebt -; aber
wir haben auch eine Reaktion darauf erlebt - das Rechtssystem hat reagiert -: Das Bundesarbeitsgericht hat solche Vereinigungen zum Teil für rechtsunwirksam erklärt.
({8})
Das hatte zur Folge, dass entsprechende Nachzahlungen
an die Sozialkassen usw. vorzunehmen waren.
({9})
Das heißt, Sie werden nie ausschließen können, dass der
eine oder der andere eine Regelung missbraucht; aber
wir haben funktionierende Mechanismen, bis hin zum
Bundesarbeitsgericht. Das ist kein Grund, das System
insgesamt zu diskreditieren.
({10})
Damit sind wir bei den Kernfragen: Was wollen wir
im Bereich des Niedriglohnsektors machen, und was ist
der tatsächliche Grund dafür, dass sich der eine oder die
andere dort befindet? Denn das ist in der Tat nicht unbedingt wünschenswert. Wir müssen feststellen: Es verlas29752
sen mehr Menschen den Niedriglohnsektor, als Sie immer behaupten.
({11})
Das IAB hat festgestellt, dass etwa ein Viertel nach einem Jahr den Niedriglohnsektor, den Sektor des SGB-IIBezugs verlässt.
({12})
Das heißt, Wirtschaftswachstum und Stabilität des Arbeitsmarktes wirken sich auch auf Menschen in diesem
Sektor aus, und das ist gut so. Das wollen wir so fortsetzen.
({13})
Frau Müller-Gemmeke, weil Sie das abschließend
noch einmal angesprochen haben, möchte ich Ihnen vorhalten, was Ihr Parteikollege, Herr Boris Palmer, kürzlich gesagt hat - das sollten Sie sich bei der Formulierung weiterer Anträge vielleicht noch einmal vor Augen
führen; ich zitiere wörtlich -:
In der Summe machen wir damit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig, auf
die wir früher zu Recht stolz gewesen sind.
({14})
Hört! Hört!
({15})
Er sagte abschließend - dem kann ich mich auch nur anschließen -:
Ein Minijob oder eine Beschäftigung als Leiharbeiter bedeuten mehr Teilhabe an der Gesellschaft als
gar kein Job.
({16})
Mit unseren Worten: Sozial ist, was Arbeit schafft. Wir
haben für viel Arbeit in Deutschland gesorgt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/13104 und 17/13106 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 c. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/10220.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8459 mit dem Titel
„Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen - Sicherung
der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträ-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8148 mit dem Titel „Tarifsystem stabilisieren“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/4437 mit dem Titel „Tarifvertragssystem stärken -
Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifi-
sche Mindestlöhne erleichtern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Innenentwicklung in den
Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
- Drucksache 17/11468 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/13272 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Peter Götz-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela
Wagner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Baugesetzbuch wirklich novellieren
- Drucksachen 17/10846, 17/13272 Berichterstattung:Abgeordnete Peter GötzHans-Joachim Hacker
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
Vizepräsidentin Petra Pau
und der FDP sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Götz für die Unionsfraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die heutige Beratung freue ich mich ganz besonders. Die geplante Fortentwicklung des Bau- und Planungsrechts hat
einen längeren Entwicklungsprozess hinter sich. Als
Grundlage für die Beratungen wurden mit sieben Gemeinden Planspiele durchgeführt. Dies ist eine Praxis,
die sich in der Vergangenheit, die sich seit Jahrzehnten
beim Städtebaurecht bewährt hat. In den letzten Wochen
und Monaten gab es Zeitpunkte und Wegstrecken, bei
denen Zweifel am möglichen Abschluss dieses Projekts
aufkamen. Nun soll es aber gelingen. Es wäre ein toller
Erfolg für viele, die daran intensiv gearbeitet haben.
Ein gemeinsamer Änderungsantrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zu einem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nicht alltäglich und
deshalb besonders erwähnenswert.
Beim Baugesetzbuch ist mir persönlich und vielen
meiner Kollegen daran gelegen, notwendige Änderungen auf eine breite politische Basis zu stellen. Denn
diese Rechtsmaterie, über die wir heute abschließend beraten, ist die wesentliche Grundlage für die kommunale
Planungshoheit in Deutschland.
({0})
In den Rathäusern arbeiten viele Tausend Menschen
mit dem Baugesetzbuch. Es ist eines der wichtigsten Gesetze, das fast alle ehrenamtlichen Gemeinde- oder
Stadträte studieren, wenn sie in ihren kommunalen Gremien über Bauvorhaben befinden. Für Investoren ist es
ebenfalls von großer Bedeutung.
Die beste Grundlage für eine gute Zukunft von Städten und Gemeinden ist eine nachhaltige Stadtentwicklung. Wir wollen dafür noch bessere Voraussetzungen
schaffen und der Innenentwicklung künftig verstärkt den
Vorrang vor der Zersiedelung des Umlandes geben. Innenstädte und Ortszentren sollen wieder Kernbereich der
Stadtentwicklung werden. Sie bieten den Menschen Heimat. Urbanität, Attraktivität und Kultur stärken die Identifikation. Um die Flächeninanspruchnahme im Außenbereich zu reduzieren und eine Zersiedelung des
Umlands zu vermeiden, soll die Bebauung von Wiesen,
Äckern oder Waldflächen künftig stichhaltig begründet
werden.
Mit diesem Gesetz sollen neben der Stärkung der
Innenentwicklung kommunale Selbstverwaltung in
Deutschland und kommunale Planungshoheit weiter gefestigt und ausgebaut werden. Ich denke, dies ist in vielfältiger Form gut gelungen. So können Kommunen wieder rechtssicher Erschließungsverträge mit eigenen
Unternehmen abschließen. Ein Investitionsstau in Millionenhöhe wird damit aufgelöst.
Kindertagesstätten sind künftig in angemessener
Größe in reinen Wohngebieten generell zulässig. Die
Anzahl von Spielhallen und Vergnügungsstätten kann
auch im nicht beplanten Innenbereich besser als bisher
gesteuert werden. Ferner wird - ich nenne zusätzlich nur
eines von vielen Beispielen - die Ausübung des gesetzlichen Vorkaufsrechts der Gemeinde gegenüber Dritten
vereinfacht. Dies beschleunigt auch Investitionen in den
Städten und Gemeinden.
Für den schwierigen Komplex der Schrottimmobilien
haben wir für die Kommunen eine bessere verfassungskonforme Regelung gefunden. Verwahrloste Gebäude
können jetzt leichter rückgebaut werden. Dabei bekommen die Kommunen auch die Möglichkeit, Eigentümer
in begrenztem und vertretbarem Umfang finanziell am
Abriss zu beteiligen. Für viele Städte mit problematischen Gebieten kann diese Neuregelung das hilfreiche
Instrument sein, mit dem eine nachhaltige Aufwertung
ganzer Straßenzüge und Quartiere stattfinden kann. Das
ist auch für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Für die Aktivitäten einer klimagerechten Stadterneuerung werden ebenfalls unterstützende Änderungen vorgenommen. In einem Entschließungsantrag haben wir
die Anregungen aus dem Lebensmitteleinzelhandel aufgegriffen, die Fragen einer qualifizierten Nahversorgung
im Zusammenhang mit der ohnehin anstehenden Diskussion über eine grundsätzliche Neuordnung der Gebietstypologie der Baunutzungsverordnung zu untersuchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen sehr breiten
Raum in der öffentlichen und auch internen Diskussion
nahm die bestehende Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich ein. Die vorgenommenen Änderungen im Planungsrecht, bei der gewerblichen Tierhaltung, werden zu einer Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung und zu mehr Rechtssicherheit führen.
Ab einer bestimmten Größenordnung entscheidet künftig der Gemeinderat einer Kommune darüber, ob und wo
die Ansiedlung einer großen Tierhaltungsanlage möglich
ist. Uns war es wichtig, bei diesem sensiblen Thema eine
einvernehmliche Lösung zu entwickeln, die unserer heimischen Landwirtschaft den notwendigen Raum für eine
Weiterentwicklung lässt. Wir haben es geschafft, über
Fraktionsgrenzen hinweg in vielen Einzelfragen gute
Kompromisse zu finden. Dieser wichtige Gesetzentwurf
ertrinkt somit nicht im parteipolitischen Kleinkrieg.
Mein Dank geht - bei allen politischen Unterschieden an den Kollegen Hans-Joachim Hacker für das in einer
wahrlich nicht einfachen Gemengelage kollegiale und
konstruktive Miteinander.
({1})
In diesen Dank schließe ich selbstverständlich die vielen
Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ein, die sich
aus unterschiedlichen Bereichen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens engagiert und eingebracht haben.
Ich bedanke mich aber auch bei den Kolleginnen der anderen Fraktionen: bei Petra Müller, bei Bettina Herlitzius
und bei Heidrun Bluhm. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass wir heute mit einem überzeugenden Votum des federführenden Ausschusses die Annahme des
Gesetzentwurfes mit den vereinbarten Veränderungen
empfehlen. Ein besonderes Dankeschön sage ich abschließend Minister Peter Ramsauer und dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak Ferlemann für die konstruktive Begleitung dieses parlamentarischen
Verfahrens.
({2})
Ich bitte Sie, diesen Dank an die Mitarbeiter Ihres Ministeriums weiterzuleiten. Ich weiß sehr wohl: Wir haben es
Ihnen in den letzten Monaten nicht immer leicht gemacht.
({3})
Meine Damen und Herren, ein wichtiges innenpolitisches Gesetzgebungsverfahren findet heute einen guten
und erfolgreichen Abschluss. Ich empfehle deshalb uneingeschränkte Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege HansJoachim Hacker das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Damen und Herren auf der
Zuschauertribüne! Liebe Kommunalpolitiker in
Deutschland! Das ist heute ein guter Tag. Die heutige
zweite und dritte Lesung der Baurechtsnovelle könnte
die Überschrift tragen: „Ende gut, alles gut“. Die lange
Geschichte der Novelle des Bauplanungsrechts, die uns
die ganze 17. Legislaturperiode begleitet hat, geht heute
dem Ende entgegen.
Herr Götz, ich stimme Ihnen völlig zu: Wir haben
eine gute Tradition fortgesetzt, nämlich die, dass anzustreben ist, Änderungen im Bauplanungsrecht fraktionsübergreifend zu beschließen, wie es in der Vergangenheit
immer dann der Fall war, wenn es vernünftige Kompromisse gab. Nur dann ist das möglich. Ich denke, wir haben in vielen Punkten gute Kompromisse gefunden. Auf
einzelne Beispiele komme ich noch zu sprechen.
Hinter uns liegen 16 Monate eines zähen, harten Ringens. Daher möchte ich als Vertreter der Opposition
noch ein paar kritische Anmerkungen machen - das ist
in diesem Prozess wohl auch berechtigt -, die aber vielleicht eher als ein Appell an die Bundesregierung zu verstehen sind. Man hätte die SPD und die Opposition insgesamt bei diesen Themen eher einbinden können.
Einen Streit hätten wir uns ersparen können, Herr
Müller: In der Frage, wie weit wir an § 35 Abs. 1 Nr. 4
BauGB herangehen, gab es im Hause Aigner eine Blockadehaltung und unnötige Verzögerungen. Man hatte
den Eindruck, dass da andere Interessen als die Interessen der Allgemeinheit im Blick waren. Wie sonst kam
es, dass ein Referentenentwurf, der schon in der Öffentlichkeit war - er lag bei uns in den Fraktionen und bei
den Verbänden auf dem Tisch -, innerhalb weniger Stunden wieder einkassiert worden ist? Sie schmunzeln, Herr
Müller: Sie wissen, wer da im Hintergrund gewirkt hat.
Das wissen wir alle. Zum Glück kommen wir heute auf
einem guten Weg weiter.
Ich will unterstreichen, was Kollege Götz gesagt hat:
Die sachliche Grundlage für den Gesetzentwurf - deswegen ist ein Großteil des Gesetzentwurfs unstreitig gewesen - ist in den sogenannten Berliner Gesprächen zum
Städtebaurecht und in der Beteiligung der kommunalen
Spitzenverbände zu sehen. Das war eine gute Grundlage,
das war der richtige Weg - ein Weg, der sich in den letzten Jahren bewährt hat. Bei der nächsten Novelle - die
sicherlich irgendwann kommen wird - sollte man diese
Praxis wieder betreiben.
Ich will aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion die
Punkte ansprechen, die uns in den Beratungen ganz
wichtig waren: Die Regelung zur Intensivtierhaltung war
in dem Entwurf aus unserer Sicht nicht ausreichend.
Auch bei der Regelung zu den Schrottimmobilien bestand dringender Handlungsbedarf; über diese Thematik
waren wir mit den kommunalen Spitzenverbänden und
mit den Ländern intensiv im Gespräch. Auch im Hinblick auf Kinderbetreuungseinrichtungen waren Regelungen erforderlich.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode, Anfang 2010,
habe ich einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Der Titel lautete: „Kinderlärm - Kein Grund
zur Klage“. Die Koalitionsfraktionen haben diesen Antrag damals erwartungsgemäß abgelehnt. Nachdem wir
eine immissionsschutzrechtliche Regelung schon vor
zwei Jahren getroffen haben, werden wir hierzu heute
auch eine baurechtliche Regelung treffen. Das hätten wir
schon ein bisschen früher machen können.
({0})
Aber so ist das Spiel hier im Parlament: Das ist ein
Denkprozess. Auch in diesem Punkt sind wir nun auf einem guten Weg.
Es gibt noch ein paar kleine Kritikpunkte, auf die ich
aber heute im Sinne der Sache nicht weiter eingehen
möchte.
Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und
Herren, noch einige Punkte ganz konkret anzusprechen.
Das, was wir heute beraten und wo ich empfehle, dass
dem Änderungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDP
alle zustimmen - der Appell richtet sich vor allen Dingen an Bündnis 90/Die Grünen und an die Linke -, ist
das Ergebnis intensiver Verhandlungen.
Ganz herzlichen Dank, Peter Götz, für Ihr konstruktives Mitwirken! Die Zusammenarbeit mit den anderen
Kolleginnen und Kollegen war auch sehr vertrauensvoll.
Ganz herzlichen Dank!
({1})
Herr Ramsauer, Sie haben die SPD in dieser Legislaturperiode oft enttäuscht; aber hier haben Sie Stehvermögen bewiesen gegen Frau Aigner. Das war gut so.
Nehmen Sie das Lob ruhig an! Sie sehen, der Staatssekretär beglückwünscht Sie auch. Sie haben sich gegen
Frau Aigner und gegen die Agrarlobby durchgesetzt; das
war richtig so. Ihren Mitarbeitern - Ihren Mitarbeiterinnen natürlich auch -, die uns begleitet haben, gilt ebenso
ein herzliches Dankeschön. Das war ein kollegiales Verfahren, Herr Ferlemann. Wenn uns das in anderen Verfahren auch so begleiten würde, wäre das ein gutes Aushängeschild für den Parlamentarismus in Deutschland.
({2})
Die Problematik des § 35 Abs. 1 Nr. 4 - Anlagen zur
gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich war tatsächlich der Knackpunkt; das weiß jeder, der direkt oder indirekt damit zu tun hatte. Der Entwurf war
aus unserer Sicht, wie gesagt, eingangs nicht ausreichend. Aber der Widerstand von Frau Aigner - wo man
nicht wusste, ob sie sich auf die Seite des Verbraucherschutzes oder auf die Seite der Lobbyverbände schlägt ist überwunden worden. Im Außenbereich begrenzen
nun bereits die unteren Schwellwerte des UVP-Gesetzes
den weiteren Zubau von Großställen; sie sind Grundlage
für die Entprivilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 4, für die
Durchführung einer UVP-Prüfung - da kann man auch
Beispiele nennen -: Bei Mastgeflügel ist jetzt statt bei
85 000 Stellplätzen bei 30 000 Schluss, bei Puten - um
noch einmal ins Geflügelleben einzusteigen - statt bei
60 000 jetzt bei 15 000. So war das auch ursprünglich
vorgesehen. Wohlgemerkt, meine sehr verehrten Damen
und Herren: Bis heute, nach bisherigem Recht, gab es
überhaupt keine Begrenzung.
Wir haben auch für die Kumulierung eine Regelung
gefunden, indem wir eine Anpassung an das Umweltverträglichkeitsgesetz vorgenommen haben. Wir haben damit eine rundum abgestimmte Regelung gefunden, und
es bestehen auch keine Brüche in der Bundesgesetzgebung.
({3})
Es ist richtig, Peter Götz: Die Entscheidungsbefugnis
bezüglich der entsprechenden Anlagen wird jetzt dorthin
delegiert, wo sie hingehört, nämlich vor Ort. Die Kommunalpolitiker bekommen jetzt die Entscheidungsbefugnis, die ihnen zusteht. Auch deswegen ist das eine gute
Lösung.
Eine gute Lösung haben wir auch bei den sogenannten Schrottimmobilien gefunden. Im Regierungsentwurf
war lediglich eine Ausdehnung auf die Gebiete ohne Bebauungsplan und keine Kostentragungsregelung vorgesehen. Es gab hier in der Expertenanhörung - es war gut,
dass wir eine solche durchgeführt haben - unterschiedliche verfassungsrechtliche Bewertungen dazu, wie wir
die Kostenproblematik in den Griff bekommen können.
Am Ende wird jeder einen noch besseren Vorschlag haben. Ich glaube aber, wir haben eine verfassungssichere
Lösung gefunden, einen guten Kompromiss: Die Kommunen können die Eigentümer bis zur Höhe der durch
die Beseitigung der Immobilie erfolgten Wertsteigerung
heranziehen. Das muss ein Grundstückseigentümer gegen sich gelten lassen, der eine Immobilie verfallen lässt.
Das ist ein guter, verfassungsrechtlich sicherer Kompromiss.
Die städtebaulichen Verträge über Erschließungsmaßnahmen waren ein ganz wichtiger Punkt für die Fraktionen - ich nenne hier einmal meine eigene, die SPD -,
die ein starkes Herz für Kommunen haben. Viele SPDPolitiker sind in den Kommunen ehrenamtlich oder in
Funktionen tätig.
({4})
Gerade eine Regelung zu diesem Punkt ist von den
Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden
dringend erwartet worden. Wir alle standen hier unter einem moralischen Druck, eine Lösung zu finden. Eine
entsprechende Klarstellung ist uns gelungen. Die kommunalen Spitzenverbände, die Kommunen selber und
die Politiker haben dringend darauf gewartet. Jetzt können auch Kommunen städtebauliche Verträge über Erschließungsleistungen mit juristischen Personen abschließen. Das ist eine wichtige Klarstellung, die in der
Vergangenheit durch die Rechtsprechung ein Stück weit
ausgehöhlt worden ist und unsicher war.
({5})
Auch das ist ein gutes Ergebnis.
Ich hatte gesagt, die Summe der erreichten Kompromisse lässt es zu, dass heute alle Fraktionen ihre Zustimmung geben. Ein gutes Verhandlungsergebnis liegt auf
dem Tisch. Deswegen richte ich meinen Appell noch
einmal insbesondere an Sie, Frau Herlitzius. Sie haben
auch Vorschläge gemacht und Forderungen gestellt, die
im Änderungsantrag ihren Widerhall finden. Ich denke
hier insbesondere an das Problem der gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich auf Grundlage von
§ 35 Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch. Wenn Sie, wie auch
die Linken, dem Änderungsantrag zustimmen und damit
wichtige Punkte einer Regelung zuführen, dann können
Sie in der Konsequenz dem Gesetzentwurf doch nicht
die Zustimmung versagen.
({6})
Gleichwohl wird es keine Gegenstimmen zum Gesetzentwurf geben.
Auch das Medientheater, das von einigen Kollegen in
den letzten Tagen über Agrarzeitungen schon veranstaltet worden ist - vor allen Dingen von Kollegen, die am
Diskussionsprozess gar nicht beteiligt waren -, muss uns
nicht irritieren. Es gehört eben auch zum politischen Geschäft, Peter, dass man sich mit Lorbeeren schmückt, die
man selber nicht einmal gepflückt hat.
({7})
Es handelt sich insgesamt um eine gute Regelung.
Der Kompromiss kann sowohl in den Kommunen als
auch bei den Vertretern des Verbraucher- und Tierschutzes, aber auch - das sage ich nicht zuletzt, sondern da
gehört es zuallererst hin - vor den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes gut vertreten werden.
Ich finde, dass die parlamentarischen Beratungen und
die Ergebnisse, die wir hier heute vorgelegt haben, gute
Beispiele für die parlamentarische Arbeit im Deutschen
Bundestag sind: gegen engstirniges Denken, wo immer
es aufgetreten ist, auch gegen die Interessen von Lobbyisten, die sich einmischen und versuchen, Parlamentarier
zu vereinnahmen. Wenn dies die parlamentarische Arbeit in diesem Hause stärker prägen würde, ohne damit
politische Unterschiede zu verkleistern, dann würden
wir für unsere Arbeit noch ein Stück mehr Akzeptanz in
der Gesellschaft finden.
An die Bundesregierung richtet sich der Appell, Herr
Ramsauer, die Opposition ernst zu nehmen, uns immer
frühzeitig einzubinden und uns auf Fragen, die wir haben, ordentliche Antworten zu geben.
({8})
Diese Antworten sind manchmal kritikwürdig; das
könnte ich Ihnen seitenweise belegen.
Hier geht es um das Bauplanungsrecht. Wir haben
gute Gründe, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Für
meine Fraktion sage ich: Wir sind ein Stück weit stolz
auf das Erreichte, weil wir für bestimmte gesellschaftliche Gruppen und für Kommunen ein gutes Ergebnis erzielt haben. Noch einmal ganz herzlichen Dank all jenen,
die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben. Dir, Peter
Götz, ganz herzlichen Dank für deine Mitwirkung. Du
hast es in deiner eigenen Fraktion und mit der Landesgruppe der CSU nicht einfach gehabt.
({9})
Herr Kollege.
Dafür meine Anerkennung und alles Gute!
({0})
Petra Müller hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Verabschiedung der zweiten Novelle
des Baugesetzbuchs gehen wir einen großen und bedeutenden Schritt hin zu einem modernen, nachhaltigen und
zukunftsorientierten Stadtbaurecht. Ich glaube, das ist
die wichtige Botschaft des Tages. Ich will mit dieser
Rede aber nicht gleich schon enden, nachdem die Kollegen uns das bereits so ausführlich erklärt haben.
Was ganz wichtig war - das möchte ich auch noch
einmal betonen -: Wir sind diesen Schritt gemeinsam
gegangen. Wir haben Kompromisse geschlossen und Lösungen gefunden, und das nicht nur in diesem Hohen
Hause, in den Ausschüssen, sondern auch in Gesprächen
mit den Fachverbänden - auch das sei noch einmal erwähnt -, mit der Wohnungswirtschaft, mit den Kommunalverbänden, mit den Ländern. Wir haben Planspiele in
den Kommunen durchgeführt. Wir haben uns fraktionsübergreifend verständigt.
Der Dank der FDP-Bundestagsfraktion geht daher
erst einmal an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen hier
in diesem Hohen Hause, an den Minister Dr. Peter
Ramsauer, an die Staatssekretäre, an die Vertreter der
Länder, an die Verbandsvertreter und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BMVBS. Sie mussten für uns
teilweise über das Wochenende neue Entwürfe erstellen.
Nichtsdestotrotz: Wir haben 16 Monate gebraucht. Vielen Dank Ihnen allen!
({0})
Ich denke, wir alle können mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sehr zufrieden sein. Er stärkt die kommunale
Selbstverwaltung für die Städte und Gemeinden. Er
schafft Rechtssicherheit in vielen Fragen - ich glaube,
das ist ein ganz wichtiger Punkt - und, das freut die FDP
besonders, gibt ein wichtiges Signal an Investoren.
In der Kürze der Zeit möchte ich einige Punkte herausgreifen, die uns besonders wichtig sind, aber zuvor
nicht vergessen, die Inhalte, die dieses Gesetz ausmachen, und die damit verbundenen Ziele aufzugreifen: die
Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich,
die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen
- auch ein ganz wichtiger Punkt in diesem Gesetz -, die
Regelungen zur besseren Steuerung der Ansiedlung von
Vergnügungsstätten durch die Kommunen - dazu gab es
auch einmal einen Antrag der Grünen, nicht wahr? -, die
Erweiterung der Vorkaufsrechte der Gemeinden zugunsten Dritter.
Erlauben Sie mir, zu zwei Punkten zu kommen, die
ich näher erklären möchte.
Es gibt zum einen die Regelung für die sogenannten
Schrottimmobilien in § 179 Baugesetzbuch. Die Änderung dieser Vorschrift kommt vielen Händlern, Kaufleuten und Besitzern von Immobilien in Innenstädten zugute. Denn diese Schrottimmobilien verpesten ihr
Umfeld. Sie entwerten dieses Umfeld. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, über den wir nachher abstimmen,
regelt das Rückbaugebot auch außerhalb eines Bebauungsplanes. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Er regelt
Petra Müller ({1})
aber noch etwas: Er regelt die finanzielle Beteiligung der
Immobilienbesitzer. Denn wenn sie beim Rückbau einer
Schrottimmobilie einen Gewinn machen, dann werden
sie von den Kommunen künftig mit zur Kasse gebeten.
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch im
Hinblick auf die Eigenständigkeit der Städte und Gemeinden.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Lösung, die
ich Ihnen gerade vorgestellt habe, ausdrücklich, weil sie
im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates verfassungstreu und gerecht ist.
({2})
Aber diese Regelung gibt den Kommunen noch mehr:
Sie gibt ihnen Handlungsfähigkeit, sie entlastet sie finanziell, wie ich eben ausgeführt habe, und sie sichert
sie rechtlich ab. Das Ergebnis wird wachsende Attraktivität von Städten und Gemeinden sein. Das ist doch genau das, was wir alle wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Punkt:
Mit der Änderung der Erhaltungssatzung in § 172
BauGB stellen wir uns, die FDP-Bundestagsfraktion und
auch die christlich-liberale Koalition, an die Seite der
Wohnungswirtschaft und der Immobilienbesitzer. Hier
geht es um die Erhaltung und die Sanierung von Immobilien. Regelungswut und moralische Entrüstung erreichten ja in den letzten Monaten Höchststände; ich
nenne die Stichworte „Luxussanierung“ und „Genehmigungsverbote“ und das Beispiel des Pankower Bürgermeisters, der eine Milieuschutzsatzung erlassen hat. Was
hat er damit erreicht?
({3})
- Das mag sein. - Er hat unter anderem erreicht, dass
nicht energetisch saniert werden kann. Genau um diesen
Punkt haben wir uns gekümmert. Es wurde ein Genehmigungsanspruch geschaffen, der dem Vermieter erlaubt, bauliche Maßnahmen zu ergreifen, die dem Mindestmaß der EnEV entsprechen.
({4})
Damit wird einem sinnlosen Handeln einiger Bürgermeister nicht nur im Berliner Bereich der Riegel vorgeschoben. Ich glaube, auch dies ist eine ganz wichtige
Botschaft dieser Gesetzesnovelle.
({5})
Mit der im BauGB getroffenen Regelung haben wir einem wichtigen Anliegen, der Stärkung der Innenstädte,
Rechnung getragen.
Ziel der schwarz-gelben Koalition war es auch, die
Neuinanspruchnahme von Flächen einzudämmen. Flächenverbrauch auf der grünen Wiese wird jetzt weitestgehend vermieden. Auch dies ist ein wichtiger Punkt,
der in diesem Gesetz gelungen ist.
({6})
Ich habe eben schon darauf hingewiesen: 16 Monate
Verhandlungen. Das macht deutlich, dass wir es uns
nicht leicht gemacht haben. Es macht aber auch deutlich,
welch hohen Stellenwert dieses Baugesetzbuch fraktionsübergreifend hat. Es ist eine gute Tradition - Peter
Götz und Kollege Hacker haben es eben gesagt -, dass
insbesondere solche Regelungen für Städte und Gemeinden im Konsens getroffen werden, weil sie von großer
Wichtigkeit sind. Ich hoffe, dass diese Tradition bei der
nächsten Baugesetzbuchnovelle, die natürlich erst in
zehn Jahren kommen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch weiterhin in diesem Haus Bestand haben wird.
Ich danke allen Beteiligten und bedanke mich auch
für Ihre Aufmerksamkeit. - Vielen Dank.
({7})
Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Baugesetzbuch ist die gesetzliche Grundlage für alles, was in Deutschland geplant und gebaut wird. Es ist
nicht nur die Fibel für den planenden und bauenden Berufsstand sowie die Genehmigungsbehörden der Kommunen, nein, was wir hier alles zu regeln haben, hat auch
Auswirkungen auf das Leben der Menschen, also auch
auf die Nutzer des Gebauten, sowie auf die Umwelt.
Konkret untersetzt wird das Baugesetzbuch durch
länderspezifische Landesbauordnungen, um den regionalen Besonderheiten an dieser Stelle auch gerecht zu
werden. Somit ist nicht nur der Bund, sondern sind auch
die einzelnen Bundesländer in besonderer Planungsverantwortung für ihre Regionen. Die allgemeingültigen
Standards aber für das Bauen werden durch das Baugesetzbuch für alle vorgegeben. Diese Standards sind von
Zeit zu Zeit zu überprüfen, sie sind den sich entwickelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.
Das wollen wir mit der heute hier zu verabschiedenden
Novelle erreichen.
Dabei dürfen wir nicht nur den Wünschen derer nachgeben, die bauen wollen, sondern müssen auch immer
eine Güterabwägung hinsichtlich der Umwelt und derjenigen vornehmen, die mit dem Gebauten täglich leben
sollen und die auch ertragen müssen, was gebaut ist. Vor
allem aber müssen wir die gesamtgesellschaftlichen
Ziele im Auge haben, auf die wir uns alle gemeinsam
mehrheitlich verständigt haben. Aus dieser Betrachtung
heraus sagt auch die Linke: Ja, wir haben mit den vorliegenden Änderungen des Baugesetzbuchs den notwendigen Änderungsbedarf erfasst.
Herr Götz hat gestern im Ausschuss gesagt, Qualität
gehe vor Geschwindigkeit. Er hat damit gemeint, dass
wir etwas länger gebraucht haben, um zu diesem gemeinsamen Kompromiss zu kommen. Auch von mir
deshalb an dieser Stelle ein Lob für das Bemühen, die
Opposition auf den Weg zu dieser Novelle, zu diesem
Entwurf, mitzunehmen. Umfangreicher kann ich wegen
der Redezeit meinen Dank nicht ausfallen lassen.
({0})
Ja, wir haben bei vielen Fragen einen Konsens gefunden, so zum Beispiel beim Vorrang der Innenentwicklung vor der Bebauung des Außenbereichs.
Wir haben den Kommunen einen Umgang mit sogenannten Schrottimmobilien ermöglicht, ihnen die baurechtliche Planungskompetenz erleichtert und vor allem
strittige Paragrafen so konkretisiert, dass sie jetzt nicht
mehr vor Gericht ausgeurteilt werden müssen. Auch die
längst überfällige Klärung zum Bau und zu dem Betrieb
von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten ist hier
schon angesprochen worden. Auch dieser Punkt ist in
der Vorlage aufgegriffen worden; das loben wir.
Was aber eine wirklich revolutionäre Leistung dieser
Novelle des Baugesetzbuches für uns ist, ist, dass wir explizit die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen
in einer ganz neuen Qualität festgeschrieben haben. Das
ist etwas Neues. Das ist sicherlich für uns alle ein wichtiger Moment.
({1})
Selbst auf die vieldiskutierte Frage nach Ausmaß und
Größe industrieller Tierhaltung wird mit dieser Novelle
eine Antwort in die richtige Richtung gewiesen, wenn
auch die Massentierhaltung in Deutschland damit noch
nicht vom Tisch ist. Diesem Vorschlag hat sogar der
Landwirtschaftsausschuss zugestimmt.
Noch einmal zu Herrn Götz. Er hat sich bei allen
Fraktionen für den gefundenen Konsens bedankt. Dazu
sage ich: Bitte schön, Herr Götz, das ist gern geschehen.
Ich sage aber auch: Wir haben zu vielen Fragen einen
Konsens gefunden, weil sich alle bewegt haben. Leider
ist Ihnen das in einer für uns sehr wichtigen und wesentlichen Frage nicht gelungen. Deshalb können wir uns bei
der heutigen Abstimmung über die Novelle leider nur
der Stimme enthalten.
({2})
Mit unserem Antrag „Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln“ haben wir seinerzeit beantragt, die von Deutschland unterzeichnete UN-Konvention zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen
auch im Baugesetzbuch sicherzustellen. Diesen Antrag
haben Sie abgelehnt; das sind wir allerdings gewohnt.
Aber Sie hätten jetzt bei der vorliegenden Novelle die
Gelegenheit gehabt, diese selbstverpflichtende Konvention aufzunehmen. Mit dem Hinweis, dass das in den
Landesbauordnungen geregelt werden kann, haben Sie
unsere Bitte abgetan. Damit entziehen Sie sich leider der
Verwirklichung des Grundrechts auf Barrierefreiheit auf
Bundesebene und überlassen das dem Ermessen der
Länder.
Sie entziehen sich der Verpflichtung, die Rechte und
Belange älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung in angemessener Weise zu sichern, und bleiben
ihnen damit gleichberechtigte Teilhabe deutschlandweit
schuldig. Sie entziehen sich der Pflicht, bei Bau- und
Infrastrukturvorhaben deren Barrierefreiheit oder Barrierearmut sicherzustellen, und schließen somit einen
wachsenden Teil unserer Menschen aus. Diese Menschen teilhaben zu lassen, ist jedoch grundlegende Aufgabe eines Sozialstaates. Das haben Sie verpasst - leider.
({3})
Aber bei der nächsten Novelle - Frau Müller, da widerspreche ich Ihnen; sie wird nicht zehn Jahre dauern werden wir dieses Ziel weiter verfolgen.
({4})
Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister
Dr. Peter Ramsauer.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich persönlich könnte beinahe sagen: Das ist
für mich heute eine wirkliche Wohlfühldebatte,
({0})
wie sie selten vorkommt. Ich kann mich kaum an eine solche Debatte in meinen 23 Jahren im Deutschen Bundestag
erinnern. Dazu gehört auch die Feststellung, lieber Herr
Kollege Hacker - das ist quasi eine Selbstverpflichtung
für uns -, dass wir seitens der Bundesregierung natürlich
alle Ihre Fragen immer vollumfänglich beantworten werden,
({1})
sofern Ihre Fragen zur Beantwortung geeignet sind.
({2})
Meine Damen und Herren, es geht uns im Kern bei
diesem Gesetz, wie es der Titel des Gesetzes auch besagt, um die Stärkung der Innenentwicklung unserer
Städte und Gemeinden. In Anbetracht der kommunalen
Entwicklung in ganz Deutschland - das kann ich aus jahrelanger Erfahrung in der Kommunalpolitik sagen - sowie dessen, was sich in den letzten zehn Jahren im Außenbereich getan hat, müssen wir alles dafür tun, dass
sich unsere Ortskerne strukturell so entwickeln, dass
auch das soziale Herz, das kulturelle Herz eines Ortes im
innerörtlichen Bereich weiter schlagen kann, sich hier
also das wirkliche Leben eines Ortes abspielen kann;
denn das soziale und kulturelle Leben sowie Geschäftigkeit und Lebendigkeit eines Ortes kann man nicht an Autobahnausfahrten oder auf die grüne Wiese verlagern.
Das ist ein wichtiges Kernanliegen.
({3})
Der Kollege Franz-Josef Holzenkamp wird gleich
noch die Punkte im Detail beleuchten, die die Landwirtschaft betreffen. Nur so viel: Wir haben auch zwei wichtige Anliegen der Landwirtschaft aufgegriffen. So sind
wir der in immer stärkerem Maße erhobenen Forderung
des Deutschen Bauernverbandes nachgekommen, den
zusätzlichen Flächenverbrauch außerhalb der Orte, also
die vielen Hektar, die täglich in unterschiedlicher Weise
in Anspruch genommen werden, zu reduzieren, indem
wir den Kommunen mehr Möglichkeiten der baulichen
Gestaltung der Innenstädte - ich nenne als Stichworte
„Schrottimmobilien“ und „Verdichtung“ - gegeben haben.
Als ich als 24-Jähriger zum ersten Mal in den Stadtrat
meiner Heimatstadt gewählt wurde, habe ich mir schon
damals gedacht, welch fürchterliche Hürden und Hindernisse beim flexiblen Bauen im Außenbereich das Baurecht für die insbesondere für landwirtschaftliche Familien existenzielle Entwicklung bereithält. Ich war immer
überzeugt: Wenn wir den Strukturwandel in der Landwirtschaft zulassen und ihn den landwirtschaftlichen Familien - so weit gehe ich mit meiner Aussage - zumuten, dann müssen wir diesen Familien aber auch im
landeskulturellen Interesse die baurechtlichen Möglichkeiten geben, ihre landwirtschaftlichen Anwesen ordentlich zu erhalten und ihre familiären Existenzen zu
sichern.
({4})
Das bedeutet oft, eine Umnutzung zur Existenzerhaltung
zu ermöglichen. Genau diesen Weg gehen wir. In
Zukunft werden wir es erleichtern, landwirtschaftliche
Anwesen anders zu nutzen, wenn in etwa die Kubatur
und das Äußere eines Gehöfts erhalten bleiben; denn
landwirtschaftliche Anwesen prägen das Gesicht unseres
Landes und sind identitätsstiftendes Merkmal unserer
deutschen Kulturlandschaften in all ihren Ausprägungen.
({5})
Nachdem der Kollege Peter Götz zu erkennen gegeben hat, dass er dem nächsten Deutschen Bundestag
nicht mehr angehören wird, dir, lieber Peter Götz, von
mir persönlich und auch im Namen der Bundesregierung
ein herzliches Dankeschön oder - wie wir im Süden sagen - „Vergelt’s Gott“ für deine großartige Arbeit.
({6})
Ich kann mich gut erinnern: Als wir vor 23 Jahren gemeinsam in den Deutschen Bundestag einzogen, warst
du schon das kommunalpolitische und baurechtliche
Herz und Gewissen unserer Fraktion. Dass wir heute in
zweiter und dritter Lesung dieses schwierige Werk über
alle Fraktionsgrenzen hinweg abschließen können, ist
neben dem Verdienst der bereits Genannten vor allen
Dingen dein großartiges Verdienst. Dafür herzlichen
Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt Bettina Herlitzius für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie kennen mich auch schon ein paar Jahre. Insofern erwarten Sie, glaube ich, jetzt von mir nicht, dass
ich in diesen schwarz-rot-gelben Honeymoon einstimme.
({0})
Ich muss leider noch einmal ein Jahr zurückblicken. Vor
gut einem Jahr haben Sie uns einen Gesetzentwurf zum
Baugesetzbuch vorgelegt, der wirklich grottenschlecht
war.
({1})
Wir haben damals lange darüber debattiert. Seitdem ist
sehr viel Zeit vergangen. Je näher wir aber der Bundestagswahl kommen, desto mehr wird Ihnen klar, dass Sie
mit einem solch schlechten Gesetzentwurf nicht an die
Öffentlichkeit gehen können.
Auf unser Drängen und unsere guten Anträge hin haben Sie in einigen Punkten nachgebessert.
({2})
Jetzt gibt es endlich eine Klarstellung zur Zulässigkeit
von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten.
({3})
Auch sollen nun die Besitzer an den Kosten für den Abriss von Schrottimmobilien beteiligt werden. Das war
vor einem halben Jahr für die FDP noch undenkbar.
({4})
Zur Massentierhaltung hatte der Kabinettsentwurf
eine reine Augenwischerei vorgesehen. Mit dem aktuellen Änderungsantrag wird nun erstmals ein wirkungsvoller Ansatz gewählt. Doch der Durchbruch ist das noch
lange nicht.
({5})
Den Durchbruch würden Sie erreichen, wenn Sie unserem entsprechenden Entschließungsantrag zustimmen
würden. Darin wird deutlich, was wichtig ist und worauf
es ankommt. Unter dem falschen Deckmantel der bäuerlichen Landwirtschaft bleiben weiterhin zahlreiche
Riesenställe in Mecklenburg und in Brandenburg privi29760
legiert. Die Haltung von 85 000 Hähnchen in einem Stall
ist nach wie vor möglich. Unter bäuerlicher Landwirtschaft verstehen wir Grüne etwas anderes, Herr Minister.
({6})
Wir haben heute schon viel Lob über das Verfahren
gehört. Sie sind stolz auf die Beteiligung der Kommunen
im Planspiel und die umfangreiche Verbändeanhörung.
Doch echte Beteiligung sieht anders aus, Herr Götz, Frau
Müller.
({7})
Beteiligen ist nicht nur einladen. Zum Beteiligen gehört
auch das Zuhören. Haben Sie die Proteste der Verbände
gegen den Ersatzneubau im Außenbereich wahrgenommen?
({8})
Alles das, was der Herr Minister gerade als identitätsstiftende Baukultur bezeichnet hat, haben die Verbände abgelehnt.
({9})
Vom Bundesrat über den Naturschutzbund bis hin zum
Bauernverband - selten waren sich Experten bei einem
Thema im Baugesetzbuch so einig: Der Ersatzneubau im
Außenbereich, den Sie vorschlagen, fördert die Zersiedlung; der Ersatzneubau im Außenbereich gefährdet erhaltenswerte Bausubstanz, die identitätsstiftende Baukultur kann zerstört werden; und der Ersatzneubau im
Außenbereich ist ein Privatwunsch des Ministers, ein
Geschenk an seinen Wahlkreis.
({10})
Eine solche privat motivierte Gesetzesänderung habe ich
hier in diesem Hause noch nicht erlebt.
({11})
So etwas hat in der Baugesetzbuchnovelle nichts zu suchen. Das sind politische Geschenke, die uns alle in Verruf bringen. Die Neuregelung zum Ersatzneubau gehört
ersatzlos gestrichen.
({12})
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir dem
Gesetz nicht zustimmen. Es bleiben zu viele Punkte offen. Mit der Novelle wird eine große Chance vertan. Die
Gemeinden brauchen dringend Instrumente zur qualitativen Innenentwicklung. Dazu müssen Mietobergrenzen
- ich erinnere an die Debatte hier in Berlin - für Sanierungs- und Milieuschutzgebiete wieder zugelassen werden. Damit können Bewohner vor Verdrängung aus ihrem Stadtviertel geschützt werden. Das ist ein richtiger,
ein wichtiger Baustein für eine attraktive Städte- und
Gemeindepolitik.
In der letzten Baugesetzbuchnovelle haben Sie ursprünglich ein bemerkenswertes Instrument vorgeschlagen: Sanierungsgebiete für den Klimaschutz. Das ist ein
so grünes Instrument, grüner geht es gar nicht. Damit
könnte man die neuen Instrumente der Bundesförderung
und die bewährten Instrumente der Städtebauförderung
gemeinsam für einen sinnvollen Klimaschutz in den
Kommunen verwenden. Dieser Ansatz war sehr innovativ, aber Sie haben ihn buchstäblich in letzter Minute auf
Drängen der Lobbyisten wieder zurückgezogen.
({13})
Wer macht bei Ihnen eigentlich die Politik? Haus &
Grund?
({14})
Dabei brauchen die Kommunen bei der energetischen
Neuausrichtung unserer Städte und Gemeinden dringend
unsere Unterstützung. Aber Sie lassen sie im Städtebaurecht im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen.
Ein weiteres Thema, das Sie in Ihrem Koalitionsvertrag groß angekündigt haben, ist die Baunutzungsverordnung. Aber daraus ist nichts geworden. Papier ist geduldig, auch das Papier von Koalitionsverträgen. Das, was
Sie uns vorlegen, ist Stückwerk. Sie fordern eine Studie
zum Einzelhandel. Dabei wird das der Thematik nicht
gerecht. Damit beruhigen Sie höchstens die Einzelhandelslobby. Doch die Debatte zur Baunutzungsverordnung darf nicht auf diesen Teilaspekt reduziert werden.
Wir brauchen eine zeitgemäße Baunutzungsverordnung,
die nicht mehr auf den Leitbildern der 60er-Jahre beruht.
({15})
Insgesamt sind wir von der Novelle enttäuscht. Bei
der Innenentwicklung der Städte und beim Schutz der
kleinen Städte und Gemeinden vor Agrarfabriken gibt es
noch viel zu tun.
Auch wenn Sie mit Ihrem Änderungsantrag
Frau Kollegin.
- einen Satz noch? -, den wir unterstützen, einiges
korrigiert haben, so haben Sie mit dieser Novelle - wie
bei vielen anderen Novellen, die Sie in letzter Zeit vorgelegt haben - eine Chance einfach verstreichen lassen.
Frau Kollegin.
Nachhaltige grüne Stadtpolitik sieht anders aus.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Franz-Josef Holzenkamp.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch für mich
ist die heutige Debatte ein absolut freudiger Anlass. Es
geht richtig friedlich und sachlich zu. Das ist nicht unbedingt Tagesgeschäft. Ich freue mich insbesondere deshalb, weil es gelungen ist - trotz Vorwahlkampfzeit,
wenn man das so sagen darf -, die gute Tradition, eine
Novellierung im großen Konsens durchzuführen - die
wir gerade beim Baugesetz immer gepflegt haben -,
fortzusetzen. Das ist gut für unser Land, das ist gut für
die Planungssicherheit vor Ort, sorgt für mehr Gestaltungsfreiheit für unsere Kommunen und letztlich auch
für mehr Investitionssicherheit für unsere Wirtschaft.
Auch von mir ein herzliches Dankeschön an alle
Beteiligten, an alle Berichterstatter, an alle, die da mitgewirkt haben - insbesondere an das Ministerium, an
Bundesminister Peter Ramsauer, aber auch an Enak
Ferlemann als Staatssekretär. Herr Bundesminister, Sie
sind heute ja fast schon seliggesprochen worden,
({0})
aber in diesem Fall haben Sie es auch wirklich verdient,
oder?
({1})
Das meine ich jedenfalls.
Die Landwirtschaft ist von dieser Novelle in besonderem Maße betroffen. Deshalb möchte ich auf ein paar
Punkte eingehen.
Zunächst einmal möchte ich kurz etwas zum Thema
Flächenverbrauch sagen. Peter Ramsauer hat das angesprochen: Wir verbrauchen in Deutschland immer noch
80 bis 90 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche pro
Tag. Unser Ziel ist es, den Flächenverbrauch zu reduzieren.
({2})
Um dies hinzubekommen, bedarf es vieler Stellschrauben. Eine Stellschraube nutzen wir mit dem Baugesetzbuch, weil wir die Kommunen verpflichten, genauer zu
prüfen, ob zunächst nicht Flächen innerhalb der Kommune - Stichwort „Innenentwicklung“ - bebaut werden
können, bevor man in den Außenbereich geht.
Des Weiteren müssen die Kommunen künftig die
agrarstrukturellen Belange bei den Kompensationsmaßnahmen stärker berücksichtigen.
Zusammenfassend kann man also sagen: Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Das ist der richtige
Weg, vor allen Dingen angesichts der demografischen
Entwicklung in unserem Land.
({3})
Damit ist das Flächenproblem natürlich noch nicht
komplett gelöst - das ist richtig -, aber es ist ein guter
Schritt nach vorn.
Ein Hinweis ist mir noch wichtig, weil ich manchmal
darauf angesprochen werde oder es mir vorgehalten
wird: Dies ist nicht gegen den Naturschutz gerichtet,
sondern wir wollen den Naturschutz qualitativ verbessern. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten - insbesondere mit Geldersatzleistungen.
Ich will auch noch einmal das Thema Umnutzungen
unterstreichen. Peter Ramsauer hat auch das angesprochen, und ich bin dem Minister sehr dankbar dafür, dass
er sich hier eingesetzt und engagiert hat. Wir können bei
dem stattfindenden Strukturwandel im ländlichen Raum
mehr machen. Das bedeutet mehr Erhalt von Gebäudesubstanz und mehr Vielfalt im ländlichen Raum. Das ist
gut für den Erhalt unserer Dörfer.
({4})
Bei den Biogasanlagen haben wir mehr Flexibilisierung ermöglicht. Künftig kann, und zwar ohne Überschreitung der zulässigen Jahresmenge, der Strom dann
produziert werden, wenn er tatsächlich gebraucht wird.
Das ist wieder ein kleiner Schritt in Richtung mehr Effizienz, und deshalb ist es ein guter Schritt.
Meine Damen und Herren, ich will auch auf das
Thema Privilegierung eingehen. Um es vorwegzunehmen: Ich denke, es ist gelungen, einen vernünftigen
Kompromiss zu finden. Einerseits haben die Kommunen
mehr Steuerungsmöglichkeit. Sie können künftig einfacher entscheiden, ob größere Ställe zu den örtlichen
Strukturen passen oder nicht. Andererseits geht es darum
- das ist uns im Sinne der Landwirtschaft ein besonderes
Anliegen -, dass man kleine, flächenarme Betriebe
schützt.
Jetzt komme ich zu Ihrem Entschließungsantrag. Ich
finde, Sie müssen neu überlegen; da sollten Sie noch einmal tiefer einsteigen.
Voraussetzung für eine Privilegierung soll sein - das
schlagen Sie beispielsweise vor -: 50 Prozent des Futters
muss selbst angebaut worden sein. Das klingt wunderbar. Aber ein Landwirt kann das Futter dann beispielsweise nicht mehr vom Nachbarn kaufen; er muss es
selbst anbauen.
({5})
Was bedeutet dieser Zwang gerade für kleinere, flächenärmere Betriebe? Sie verlieren ihren Schutz, ihre
Privilegierung. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht
zu Ende gedacht. Wenn man das weiterspinnt, führt das
zum Schluss zurück zum Großgrundbesitzertum. Ich
denke, wir alle wollen eine solche Entwicklung in unserem Land nicht.
({6})
Was passiert, wenn dem kleineren Landwirt eine
Pachtfläche gekündigt wird? Der Pachtanteil in Deutschland beträgt bis zu 70 Prozent; es ist also ein sehr hoher
Pachtanteil. Wenn Pachtflächen gekündigt werden, verliert der Landwirt seine Privilegierung, und dann fällt er
auch als kleinerer Landwirt automatisch in die Gewerblichkeit.
Da wollen wir einen Schutz erreichen. Deshalb haben
wir diesen Kompromiss gemacht. Das war eine lange
Diskussion.
Wir wollen den Strukturwandel nicht zusätzlich anfeuern. Sie haben die Megaställe insbesondere in Ostdeutschland angeführt.
Herr Kollege.
Auch heute gibt es da schon Steuerungsmöglichkeiten. Ich kenne das aus meiner Region, wo schon seit
über zehn Jahren gesteuert wird. Wenn man will, dann
geht das, meine Damen und Herren. Wir haben ein gutes
Verhandlungsergebnis erzielt.
Herr Kollege.
„Kompromiss“ heißt „Es bewegen sich alle“. Es haben sich alle bewegt. Vielen Dank dafür! Ich bitte um
breite Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden
und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/13272, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/11468 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen will, der möge das
mit dem Handzeichen deklarieren. - Die Gegenstim-
men? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen; alle übrigen haben zugestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, möge sich bitte erheben. - Die Gegenstim-
men? - Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Zunächst Abstimmung über den Entschließungsan-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/13281. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch CDU/
CSU, FDP und Linke angenommen. Gegenstimmen gab
es keine. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13282. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Die Gegenstimmen? - Die
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linke
haben zugestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/13272 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10846
mit dem Titel „Baugesetzbuch wirklich novellieren“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke gestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthal-
ten.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c so-
wie Zusatzpunkt 8 auf:
9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine bewaffneten Drohnen für die Bundes-
wehr - Internationale Rüstungskontrolle von
bewaffneten unbemannten Systemen voran-
bringen
- Drucksache 17/13235 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Beschaffung unbemannter Systeme
überprüfen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung
({3}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({4})
Stand und Perspektiven der militärischen
Nutzung unbemannter Systeme
- Drucksachen 17/9414, 17/6904, 17/11083 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Reinhard BrandlDr. Hans-Peter BartelsRainer ErdelPaul Schäfer ({5})-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({7}), Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen für
die Bundeswehr
- Drucksachen 17/12437, 17/12725 Berichterstattung:Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({8})Rainer ArnoldRainer ErdelPaul Schäfer ({9})Agnes Brugger
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für eine umfassende Debatte zum Thema
Kampfdrohnen
- Drucksache 17/13192 Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.
Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Brugger für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuss hat gemeinsam ein Gutachten zu
„Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme“ initiiert. Die Gutachter kamen zu
dem Ergebnis, dass wesentliche ethische, menschen- und
völkerrechtliche Fragen in Bezug auf den Einsatz bewaffneter unbemannter Systeme zu prüfen und zu diskutieren sind. Diese Schlussfolgerungen haben wir in unserem ersten Antrag vom April 2012 aufgegriffen. In den
Ausschussberatungen haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sehr deutlich gemacht, dass Sie
diese Prüfung nicht wollen. Das halten wir für falsch.
({0})
Ein Aspekt, der bisher in der Diskussion um bewaffnete
Drohnen zu kurz kommt, ist die absehbare technologische
Entwicklung. Viele Experten halten eine zunehmende Automatisierung dieser Systeme für zwangsläufig. Die Debatte aus den Militärkreisen in den USA weist auch genau in diese Richtung. Deshalb müssen wir in weiser
Voraussicht dafür sorgen, dass die Entscheidung über
den Einsatz militärischer Gewalt beim Menschen verbleibt und nicht auf ein autonom agierendes System
übertragen wird. Wir müssen uns auf internationaler
Ebene für die Ächtung autonomer bewaffneter Systeme
einsetzen.
({1})
Auch im Hinblick auf diese erschreckende Vorstellung, dass bald Programme und nicht Menschen über
den Einsatz von Waffengewalt entscheiden, wäre ein
deutscher Einstieg in die bewaffnete Drohnentechnologie alles andere als unproblematisch.
Aber auch die jetzt verfügbaren bewaffneten Drohnen
sind nicht einfach eine Variante eines bereits bestehenden Systems. Bewaffnete Drohnen stellen eine technologische Entwicklung dar, die den Einsatz militärischer
Gewalt und die Kriegsführung ganz erheblich verändert.
Das hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die politischen Entscheidungen über ihren Einsatz. Mit der Ansicht, es würde keine Rolle spielen, ob wir über die Entsendung von Soldaten oder von Maschinen abstimmen,
macht man es sich zu leicht. Dort, wo bewaffnete Drohnen heute mehrheitlich eingesetzt werden, nämlich für
die sogenannten gezielten Tötungen durch die USA, erleben wir doch gerade eine Aushöhlung des Völker- und
Menschenrechts.
({2})
In einer Untersuchung dieser höchstumstrittenen Praxis kommt der UN-Sonderberichterstatter Alston zu dem
Ergebnis, dass zwischen der Technologie und der Entscheidung über die gezielten Tötungen ein Zusammenhang
besteht. Die Möglichkeit des risikoärmeren Tötens verleite
politische Entscheider, die rechtlichen Regelungen über
den Einsatz militärischer Gewalt zu weit auszulegen. Mit
anderen Worten: Die Verfügbarkeit bewaffneter Drohnen
befördert das Risiko, dass die Hemmschwelle zum Einsatz von militärischer Gewalt sinkt. Das sollte und darf
man nicht einfach ignorieren.
({3})
Die Behauptung, das könne uns mit unserer Tradition
der demokratischen Kontrolle nicht passieren, ist leichtgläubig. Oder wollen Sie behaupten, politische Kontrolle
sei den USA fremd? Natürlich wäre die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr auch ein Signal
für andere Staaten. Wir müssen doch nicht erst in die Geschichtsbücher schauen, um uns klarzumachen: Wenn
man sich nicht rechtzeitig um Regelungen und Begrenzungen für eine neue Waffentechnologie bemüht, son29764
dern dieser blind hinterherrennt, dann feuert man den
gleichen Beschaffungsdrang auch bei anderen an. Die
Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, die Gefahr einer
neuen Aufrüstungsspirale, ist deshalb nicht kleinzureden, sondern ernst zu nehmen.
({4})
Mit diesen und weiteren Fragen haben wir Grüne uns
sehr intensiv auseinandergesetzt. Ein Mitglied der
Unionsfraktion ließ dagegen Ende März verlauten, dass
aus den eigenen Reihen niemand mehr auf eine Entscheidung vor den Wahlen drängen werde. Dieser anonyme Abgeordnete ließ sich bei tagesschau.de mit den
Worten zitieren: „Das würde uns“ - also der Union - „im
Wahlkampf auf die Füße fallen“; das Thema sei wegen
der völkerrechtlichen Diskussion emotional zu stark besetzt.
Wenig später erschien die Ankündigung de Maizières
in den Medien, dass eine Entscheidung erst nach der
Bundestagswahl fallen werde. Meine Damen und Herren, das ist doch nichts anderes als ein durchsichtiges
Wahlkampfmanöver.
({5})
Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des
Drohneneinsatzes, nicht zuletzt durch die USA, mit den
Risiken einer neuen Aufrüstungsdynamik, mit dem Risiko
der Automatisierung und der sinkenden Hemmschwelle
bei der Entscheidung über den Einsatz von militärischer
Gewalt lässt für uns Grüne nur einen Schluss zu. Mit unserem zweiten Antrag fordern wir deshalb, auf die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr zu
verzichten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Das ist nicht demokratisch, was Sie hier auf der Besuchertribüne tun. Setzen Sie sich bitte hin, und folgen Sie
einfach der Diskussion.
Ich bitte Sie, die Besuchertribüne zu verlassen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie bereits vor einigen Wochen diskutieren
wir auch heute das Thema „Kampfdrohnen für die Bundeswehr“. Anlass ist übrigens nicht eine konkrete Beschaffungsanfrage der Bundeswehr, sondern sind zwei
Anträge, einer von der SPD und einer von den Grünen.
In beiden Anträgen finden Sie die Forderung, dass eine
gesellschaftliche Debatte zum Thema Kampfdrohnen
geführt werden muss. Da kann ich nur sagen: Herzlichen
Glückwunsch! Wie immer radeln Sie der Regierung hinterher; denn diese Debatte läuft bereits. Es war der Verteidigungsminister de Maizière, der schon vor Monaten
diese Debatte eröffnet hat. Damals wurde er übrigens
auch von Ihnen kritisiert. Weil inzwischen auch Sie die
Debatte wollen, sollten Sie ihm heute danken, dass er
diese in Gang gebracht hat.
Der Unterschied zwischen den Anträgen ist, dass die
SPD auf der einen Seite tatsächlich ein Für und ein Wider diskutieren möchte, während die Grünen auf der anderen Seite eine Debatte führen wollen, in der nur die
Gründe für ein Nein diskutiert werden sollen.
({0})
Das sieht man an der Überschrift „Keine bewaffneten
Drohnen für die Bundeswehr“. Das sieht man im Text an
der Formulierung, dass es „eine breite Debatte über die
damit verbundenen Risiken geben“ muss. Typisch für
die Grünen!
({1})
Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Chancen
und die Möglichkeiten zu beleuchten. Durch ein Auflisten von vermeintlichen Gefahren, von zum Teil konstruierten oder nichtexistenten Risiken versuchen Sie, den
Teufel an die Regierungswand zu malen. „Hauptsache
verhindern“ ist auch bei dieser Debatte einmal mehr Ihr
Motto.
({2})
Natürlich gibt es wie bei jedem Waffensystem Nachteile. Die wollen wir auch nicht unter den Teppich kehren.
({3})
Unter bestimmten Umständen Gewalt gegen andere einsetzen zu müssen, muss immer völkerrechtlich legitimiert und ethisch abgewogen sein.
({4})
Ich fordere Sie nur auf, Herr Ströbele, diese Debatte
sachlich zu führen. Es geht nicht darum, ob wir in Zukunft an völkerrechtswidrigen Einsätzen teilnehmen
oder nicht. Um Völkerrecht zu brechen, brauchen Sie
keine Drohne. Jedes Waffensystem kann völkerrechtswidrig eingesetzt werden.
({5})
Es geht auch nicht um einen Einsatz von vollautomatisierten Systemen, die völlig autonom agieren, bei denen die Software die Entscheidung trifft, wann oder wo
geschossen wird. Unterlassen Sie diese Täuschungsversuche! Lassen Sie uns sachlich über dieses Thema diskutieren.
({6})
- Ja, ich beginne damit. - Ein Argument ist Ihr Vorwurf,
mit einer Beschaffung von Kampfdrohnen würde
Deutschland eine Rüstungsspirale lostreten.
({7})
Da muss ich Ihnen ehrlich sagen: Das ist ein bisschen
naiv;
({8})
denn die weltweite Entwicklung und Produktion läuft
bereits. Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, ob
wir diese Technologie in Europa selbst beherrschen oder
ob wir uns im Zweifel von anderen abhängig machen
wollen.
({9})
Ein anderer Vorwurf von Ihnen: Kampfdrohnen sorgen dafür, dass die Hemmschwelle zum Einsatz militärischer Gewalt bei unseren Soldaten sinkt. - Schon heute
steht der Soldat meistens nicht mehr Face to Face seinem
Gegner gegenüber. Schon heute ist meistens ein Bildschirm dazwischen. Ich sehe nicht, dass dies dazu geführt hat, dass unsere Soldaten verantwortungslos handeln. Im Gegenteil: Unsere Soldaten machen in den
Einsätzen einen sehr verantwortungsbewussten Job. Daran wird eine Drohne nichts ändern. Hören Sie auf, unsere Soldaten in ein so schlechtes Licht zu stellen! Das
haben sie wirklich nicht verdient.
({10})
Ihr nächster Vorwurf lautet - auch meine Vorrednerin
hat ihn ins Feld geführt -,
({11})
dass die Zurückhaltung bei politischen Entscheidungen
über Militäreinsätze durch den Einsatz von Drohnen aufgeweicht werden könnte, sprich: Wir könnten im Bundestag leichtfertiger über Mandate entscheiden, weil es
Drohnen gibt. Ich muss ehrlich sagen: Es scheint fast so,
als wollten Sie sich durch ein Beschaffungsverbot in Bezug auf Drohnen vor sich selbst schützen, weil dann kein
Soldat mehr da wäre, hinter dem man sich verstecken
kann.
Natürlich ist die Gefährdung der eigenen Truppe ein
wichtiger Faktor, aber genauso wichtig sind die Faktoren
Völkerrecht, Verhältnismäßigkeit, Ethik und andere. Ich
habe großes Vertrauen in die Mehrheit dieses Hauses,
dass wir auch in Zukunft Auslandseinsätze wohlüberlegt
beschließen oder auch nicht beschließen werden.
Lassen Sie mich abschließend festhalten. Erstens.
Auch wenn es nicht um eine eilige Entscheidung geht:
Ich stehe grundsätzlich einer Beschaffung bewaffneter
Kampfdrohnen als zusätzliche Fähigkeit für unsere Bundeswehr positiv gegenüber;
({12})
denn sie schützen unsere Soldaten im Einsatz, sie senken
das Risiko für unsere Piloten, und sie ermöglichen in
vielen Situationen einen schnelleren, flexibleren und
präziseren Einsatz.
Zweitens. Es war richtig, dass der Minister das
Thema vor Monaten zur Diskussion gestellt hat und dass
wir diese Debatten führen.
Drittens. Diese Diskussion hat im Übrigen inzwischen dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerung
für eine Beschaffung und einen Einsatz im Notfall ist.
Das zeigt eine aktuelle forsa-Studie, die Sie unter anderem auf Spiegel Online nachlesen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die SPD-Fraktion gebe ich jetzt dem Kollegen
Dr. Hans-Peter Bartels das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich stelle fest: Sie haben aufgrund massiven öffentlichen Drucks, auch von uns Sozialdemokraten, hier in der letzten Plenardebatte, entschieden, jetzt
nicht über eine Beschaffung von Kampfdrohnen zu entscheiden. Sie stellen das zurück. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Wir hatten Sie vor Schnellschüssen gewarnt. Ihr Koalitionspartner hat kluge Fragen gestellt, die es zu beantworten gilt. Selbst Ihre eigene Unionsfraktion hat nachvollziehbar keine Neigung, ein paar Wochen vor der
Bundestagswahl eine umstrittene Eilentscheidung über
die Beschaffung dieser oder jener ausländischen Waffe
zu treffen. Es gibt überhaupt keinen Zeitdruck, eine Debatte über bewaffnungsfähige, unbemannte Luftfahrzeuge zu führen.
({0})
Es gibt keinen Zeitdruck, weil es keine Fähigkeitslücke gibt: nicht in der NATO, nicht in der EU und nicht
in der Bundeswehr. Es gibt keinen Zeitdruck; lassen Sie
sich das auch nicht von der Industrie einreden - nicht
schon wieder über den Tisch ziehen lassen!
Wir haben Zeit für eine vernünftige Debatte, eine Debatte über ethische Fragen: Sind Kampfdrohnen ethisch
neutral? Sind sie wirklich vergleichbar mit Pfeil und Bo29766
gen, wie der Minister gespottet hat? Wie blockiert man
international den technischen Trend hin zu autonomen
Systemen, bei denen kein Mensch mehr entscheidet?
({1})
Wie verhindern wir gegebenenfalls eine völkerrechtswidrige Praxis?
({2})
Und wie bekommen wir dieses Thema auf die Tagesordnung der Rüstungskontrolldiplomatie? Darüber müssen
wir reden, bevor hier Beschaffungsvorlagen geschrieben
werden.
({3})
Das Motto „Dabei sein ist alles“ ist hier als olympische Weisheit nicht zu gebrauchen. Wir sind auch gespannt auf die Antworten der Regierung auf unsere
Große Anfrage zu Kampfdrohnen, die seit einem halben
Jahr im Verteidigungsministerium liegt.
Eine Frage will ich heute näher betrachten: Was können eigentlich bewaffnete Drohnen, was herkömmliche
Waffensysteme nicht können? Keine Sorge, meine Antwort lautet nicht: nichts. Es gibt etwas, was moderne
Kampfdrohnen wie Predator, Reaper und auch Heron TP
besser können als andere Waffen:
({4})
Mit diesen Apparaten kann man zielgenau einzelne Personen töten, ohne dafür eigenes Personal in die Nähe der
Zielperson bringen zu müssen. Sie können das zu einem
beliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort tun, in einem beliebigen Land, in einem scheinbar rechtsfreien
Raum.
In einer gewissen Weise ähnelt diese Einsatzart des
Waffensystems dem Einsatz von Sondereinsatzkommandos der Polizei oder militärischen Spezialkommandos
bzw. den Geschichten, die man manchmal von Geheimdiensten hört, mit dem Unterschied, dass Polizisten,
KSK-Soldaten oder Geheimagenten niemanden, den sie
gefunden haben, gleich einfach töten dürfen. Sie versuchen vielmehr, den mutmaßlichen Übeltäter gefangen zu
nehmen. Das kann man mit einer bewaffneten Drohne
natürlich nicht. Man kann nur beobachten und gegebenenfalls zielgenau töten - in der US-Terminologie Targeted Killing genannt.
Aber auch in den USA gelten diese Missionen inzwischen als umstritten. Es darf nämlich nicht darum gehen,
wie es auf den Kaffeebechern im Andenkenshop von
Guantánamo steht, den Bösen Böses zu tun. Es geht darum, das Böse zu stoppen. Dafür dürfen wir die Prinzipien unserer freiheitlichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht aufgeben, auch nicht teilweise. Wir leben
nicht im permanenten Notstand.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen uns das
Gesetz des Handelns nicht von Terroristen diktieren lassen. Das CIA-Kampfdrohnenszenario kommt für uns in
Deutschland nicht infrage.
({6})
Wenn das aber der wichtigste Anwendungsfall ist, für
den bewaffnete Drohnen in der Realität heute überwiegend gebraucht werden, dann brauchen wir sie nicht dafür nicht.
({7})
Da wir uns in der Ablehnung der gezielten Tötung
mittels Kampfdrohnen hier im Hause vermutlich parteiübergreifend vollständig einig sind, bleibt die Frage, für
welchen Anwendungsfall die Bundesregierung dann
glaubt bewaffnete Drohnen anschaffen zu sollen. Minister de Maizière erwähnte die Möglichkeit des Schutzes
von NATO-Patrouillen mit deutscher Beteiligung in Afghanistan.
({8})
Eine Drohne kann den Konvoi lange begleiten, das Umfeld laufend aufklären und, wenn feindliche Kräfte aus
dem Hinterhalt schießen, diese aus der Luft sofort wirksam bekämpfen.
Das hört sich erst einmal plausibel an. Die Amerikaner haben Dutzende von Kampfdrohnen in Afghanistan,
auch im Norden, stationiert. NATO-Konvois sind permanent auf den gefährlichen Straßen dort unterwegs. Ich
habe die Bundesregierung gefragt, wie oft es denn vorkommt, dass US-Drohnen eingreifen, wenn deutsche
Kräfte beteiligt sind. Die Antwort, die ich bekam, lautet:
In den zwölf Jahren der deutschen Präsenz in Afghanistan ist das genau zweimal vorgekommen.
Im Übrigen gelten für jedes Wirken aus der Luft im
NATO-Rahmen die NATO-Einsatzregeln, die wir ja
im Kunduz-Untersuchungsausschuss besonders intensiv
kennengelernt haben. Das sind aus guten Gründen für
Drohnen die gleichen restriktiven Regeln wie für Jagdbomber oder Kampfhubschrauber, die in Afghanistan zu
dem gleichen Zweck - Aufklärung und Wirken aus der
Luft - auch eingesetzt werden.
({9})
Ich will nicht für alle Zeit ausschließen, dass es sinnvolle Einsatzaufgaben für diese neuen Waffensysteme
geben mag.
({10})
Die beiden eben von mir beschriebenen Anwendungsbereiche jedenfalls drängen uns nicht zu einer eiligen
Beschaffung.
({11})
Völlig unbestritten ist dagegen, dass wir unbemannte
Aufklärungssysteme dringend brauchen. Heron 1 in AfDr. Hans-Peter Bartels
ghanistan ist sehr nützlich. Eine Verlängerung des Mietvertrages werden wir unterstützen.
Eine echte Fähigkeitslücke ist bei der signalerfassenden Aufklärung, SIGINT, dringend zu schließen. Seit
Jahren sind die Bréguet-Atlantique-Flugzeuge außer
Dienst gestellt. Der Euro-Hawk sollte mit etwas Zeitverzug die Lücke füllen. Jetzt hören wir von der Bundesregierung, dass er vielleicht niemals für die Luftwaffe
fliegen wird. Das erste Exemplar steht seit zwei Jahren
in Manching und bereitet Kummer.
Bis zum Ende dieses Haushaltsjahres wird uns das
Euro-Hawk-Abenteuer 688 Millionen Euro gekostet haben. Es gibt keine Zulassung, keine Dokumentation,
keine Zertifizierung und keinen Flugbetrieb. Außerdem
stellt man in den USA möglicherweise die Produktion
des zugrunde liegenden Global Hawk ein.
Dieses Programm, Herr Minister, ist ein Desaster.
Über eine halbe Milliarde Euro für nichts! Wieso hat bis
heute niemand die Reißleine gezogen?
Herr Minister, ich sage Ihnen: Die Zukunft dieses
Drohnenprojekts ist möglicherweise doch noch einmal
ein bemanntes Flugzeug.
Schönen Dank.
({12})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde es gut, dass unsere Kollegen von der
Opposition darauf bestehen, dass wir eine Debatte über
die Einführung eines neuen technologischen Systems bei
der Bundeswehr führen.
Nur, ich habe Ihr Debattenverhalten beobachtet: Als
der Kollege Hahn von unserem Koalitionspartner seine
Argumente vorgetragen hat - ganz unstreitig gehört zu
einer Debatte das Vortragen kontroverser Argumente -,
haben einige Kollegen von Ihnen weder die Geduld noch
die Höflichkeit besessen, ihm genau zuzuhören, sondern
sie haben das, was der Kollege Hahn hier vorgetragen
hat, in Bausch und Bogen abgelehnt und als nicht relevant bezeichnet. Wenn Sie hier im Hause über dieses
Thema debattieren wollen, dann gehört eine gewisse
Form der Debattenkultur dazu.
({0})
- Verehrte Frau Kollegin, ich habe hinreichend Redezeit,
um noch das vorzutragen, was ich hier heute zu diesem
Thema sagen möchte. Im Übrigen führen wir diese
Debatte in diesem Hause nicht zum ersten Mal. Wir be-
schäftigen uns schon seit einiger Zeit mit dieser wichti-
gen Thematik.
Erster Punkt. Ich denke, völlig unbestritten ist, dass
der Einsatz von unbemannter Technologie in dem zurzeit
längsten und gefährlichsten Einsatz unserer Soldatinnen
und Soldaten eine notwendige Fähigkeit ist, um den
Schutz unser Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen.
Zweiter Punkt. Sie versuchen seit geraumer Zeit - das
adressiere ich insbesondere an einige Kollegen von der
Fraktion der Grünen -, die Situation in Amerika völlig
undifferenziert eins zu eins auf die Bundesrepublik
Deutschland zu übertragen. Aber das wird Ihnen nicht
gelingen, weil die Bundesregierung a) so etwas nicht
darf und b) dieses Thema nicht ansteht. Hören Sie auf,
die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen, indem Sie
hier sagen, dass wir an der Schwelle zum Targeted
Killing stehen. Sie wissen, dass die Verfassung das verbietet, dass das Gesetz das verbietet und auch der politische Wille dieses Hauses.
({1})
Jetzt komme ich zu einem in diesem Zusammenhang
ganz wichtigen Punkt: Die Entscheidung über die Beschaffung - das gilt für alle Beschaffungsvorschläge des
Bundesministeriums der Verteidigung - fällt nicht der
Minister, sondern das Parlament und die dafür zuständigen Ausschüsse.
({2})
In diesem Rahmen werden alle notwendigen Debatten
geführt.
Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen - das
haben wir oft genug wiederholt -: Wir brauchen eine
saubere sicherheitspolitische Begründung. Wir wollen
wissen, was man mit diesem System in Bezug auf die
Fähigkeit „Close Air Support“, also Luftnahunterstützung, tun kann, was man mit bereits vorhandenen
Systemen nicht tun kann. Das sind Dinge, die die Bundesregierung im Vorfeld einer Entscheidung selbstverständlich darlegen muss.
({3})
- Herr Kollege Ströbele, hören Sie doch einfach einmal
zu! Sie können sich zu Wort melden und eine Frage stellen. Dann kann man über alles diskutieren.
Eigentlich geht es hier um Folgendes - diesbezüglich
sind wir vielleicht viel näher zusammen, als diese Diskussion den Eindruck erweckt -: Selbstverständlich werden wir uns auf internationaler Ebene darum bemühen
müssen, dass es klare Normen und Regeln für den Einsatz von unbemannter Technologie in Kampfzonen gibt.
Ich betone: in Kampfzonen. Hier haben wir zurzeit ein
erhebliches Defizit, weil die Definition nicht klar ist:
Wer ist in asymmetrischen Szenarien Kombattant? Wer
ist Angreifer? Wer ist als legitimes Ziel im Sinne des
Völkerrechts zu identifizieren?
Dazu höre ich von Ihnen keine Vorschläge. Ich sehe
auch nicht, dass Sie versuchen, der Öffentlichkeit auch
die andere Seite der Medaille näherzubringen. Sie sagen
zwar, dass Zivilisten umgebracht werden und dass das
schrecklich ist. Aber ich höre von Ihnen nie, dass al29768
Qaida, Taliban, Tahrik-i-Taliban und wie sie alle heißen
genau das Gleiche tun und unschuldige Menschen töten.
({4})
Jetzt kommen wir zu dem Punkt, um den es geht: Was
ist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft? Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es, dafür zu
sorgen - das betrifft auch die Bundesrepublik Deutschland -, dass klar definiert wird, wer Gegner ist; auch unsere Soldatinnen und Soldaten müssen das wissen. Denn
auch sie brauchen Klarheit über die Dinge, die von ihnen
in asymmetrischen Konflikten erwartet werden. Hier
gibt es Defizite.
Frau Hoff?
Ja, bitte?
Herr Nouripour würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne, Kollege Omid Nouripour. Aber ich würde
den Gedanken gerne erst zu Ende führen.
Wenn wir uns dieses Themas gemeinsam annehmen
- ich glaube, dass die Bundesregierung hier noch mehr
Druck machen kann, als das in der Vergangenheit der
Fall war -, dann haben wir auch die Möglichkeit, uns auf
internationaler Ebene auf Standards zu einigen.
Aber eines ist klar - ich sage es noch einmal -: Jetzt
steht keine Beschaffungsentscheidung für ein bewaffnetes unbemanntes System an. Es gibt keine Anfrage an
wen auch immer hinsichtlich der Beschaffung eines bewaffneten unbemannten Systems.
({0})
Wenn eine Entscheidung hier ansteht, wird die Bundesregierung erklären müssen, was sie mit diesem System
tun will. Last, but not least wird dieses Parlament dann
darüber entscheiden. - Jetzt möchte ich die Zwischenfrage des Kollegen Nouripour zulassen.
Herr Nouripour, bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. - Verehrte Kollegin, Sie
haben am Anfang angemahnt, dass wir eine sachliche
Debatte führen sollen. Ich teile diese Auffassung. Aber
Sie haben hier etwas wider besseres Wissen gesagt. Davon gehe ich jedenfalls aus.
Es gab hier viele Debatten zum Thema Afghanistan,
und im Ausschuss haben wir Woche für Woche auch
über die Zahl der zivilen Opfer geredet, die natürlich in
der Mehrzahl von Aufständischen verursacht werden;
darüber sprechen wir hier im Plenum, und darüber sprechen wir im Ausschuss. 90 Prozent derjenigen, die in
Afghanistan getötet werden, werden von den Aufständischen getötet. Deshalb ist dieser Einsatz ja auch damals
von diesem Hohen Hause beschlossen worden.
Natürlich ist es sinnvoll, dass wir eine ganz andere
Anspruchshaltung gegenüber unseren eigenen Truppen
haben. Wir müssen natürlich versuchen, die Zahl ziviler
Opfer so weit wie möglich zu reduzieren bzw. dafür zu
sorgen, dass es keine gibt. Finden Sie, dass es ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte ist, wenn Sie uns
vorwerfen, dass wir nur über diese 10 Prozent der zivilen
Opfer reden würden, die nicht von Aufständischen getötet werden?
Herr Kollege Nouripour, wenn Sie sich an meine
Ausführungen erinnern, wissen Sie, dass ich von einigen
Kollegen Ihrer Fraktion gesprochen habe. Ich nehme Sie
ausdrücklich aus.
({0})
- Der junge Mann, der vor Ihnen sitzt - Kollege
Ströbele.
Wir haben oft erlebt, dass unseren Streitkräften permanent unterstellt wird, dass sie sozusagen in einem illegitimen Kampf Zivilisten töten.
({1})
Das entspricht weder der Wahrheit noch wird dadurch
anerkannt, welchen Anteil die Taliban, al-Qaida und andere Kämpfer an dieser Situation haben.
Ich wünsche mir wirklich sehr, an dieser Stelle auch
einmal einen Vorschlag von Ihrer Seite vorgelegt zu bekommen, der aufzeigt, wie man mit dem Problem von
asymmetrischer Kriegsführung umgeht. Man kann über
alles diskutieren. Aktuell wird mit dem Finger immer
nur auf die regulären Streitkräfte gezeigt. Dies habe ich
in dieser Debatte häufig genug erlebt. Das ist meine
Meinung. Sie haben eine andere Meinung.
({2})
Ich glaube, ich habe Ihre Frage damit beantwortet.
Frau Hoff, Sie hätten die Gelegenheit, Ihre Redezeit
weiter zu verlängern, indem Sie die Frage von Frau Zapf
zulassen. Möchten Sie das?
Mit Rücksicht auf die anderen Kollegen, auch auf die
Kollegen, die hier noch zu anderen Tagesordnungspunkten einen Redebeitrag vortragen möchten, möchte ich
die letzten Sekunden meiner Redezeit für ein paar abschließende Sätze nutzen.
({0})
Kollege Nouripour, ich höre gerne, dass Sie zu einer
Versachlichung der Diskussion beitragen wollen. Dies
ist auch dringend geboten. Denn wir müssen unseren
Soldatinnen und Soldaten erklären, warum wir das, was
von dem Minister vorgeschlagen worden ist, nämlich ein
solches System ausschließlich zum Schutz der eigenen
Soldaten zu beschaffen,
({1})
jetzt nicht tun. Aber hören Sie doch auf, uns eine
Debatte über die Anwendung dieser Technologie aufzuzwingen, die in Deutschland de jure ausgeschlossen ist.
Wenn Sie das tun, dann kann man über alles reden.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Zapf.
Herzlichen Dank. - Liebe Kollegin Hoff, ich hätte Ihnen ja gerne eine Zwischenfrage gestellt. Jetzt frage ich
im Rahmen einer Kurzintervention, ob eine Debatte, die
hier im Deutschen Bundestag schon oft geführt worden
ist, in einer solch merkwürdigen Konstellation stattfinden muss.
({0})
Sie müssten genauso wie die CDU/CSU und alle
anderen Fraktionen wissen, dass wir schon zwei Expertenanhörungen zu dem Thema im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
durchgeführt haben und dass es eine Große Anfrage der
SPD zu diesem Thema gibt, die leider noch nicht beantwortet wurde. Es gab im Unterausschuss die Verabredung, dass wir, wenn diese Anfrage beantwortet ist
- dies ist uns jetzt für Mai signalisiert -, eine öffentliche
Veranstaltung durchführen, bei der wir transparent über
das Für und Gegen solcher Anschaffungen diskutieren.
Ich habe im Moment das Gefühl, dass der völkerrechtliche Aspekt, obwohl er immer wieder betont wird,
nicht klar ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist
überhaupt nicht klar - das hat der Kollege Bartels gerade
erwähnt -, welche Szenarien notwendig sind, um solches
Gerät anzuschaffen. Frau Kollegin Hoff, eine Antwort
auf die Frage, ob man einer asymmetrischen Bedrohung
ausgerechnet mit unbemannten bewaffneten Drohnen
beikommt, würde ich gerne auch einmal von Experten
hören.
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich in Großbritannien gerade verschiedene Initiativen bilden, die sich insbesondere für die völkerrechtliche Ächtung automatisierter Drohnen einsetzen. Auch diese Unterscheidung
ist wichtig. Darüber sollten wir hier im Deutschen
Bundestag tiefgehend diskutieren. Ich fordere alle auf,
die Anhörung noch in dieser Legislaturperiode durchzuführen.
Danke sehr.
({1})
Bevor sich Frau Hoff entscheidet, ob und wie sie antwortet, gebe ich zu einer zweiten Kurzintervention dem
Kollegen Ströbele das Wort.
Frau Kollegin, ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie dem Gedanken der Anschaffung von
Killerdrohnen - ich nenne sie ganz bewusst so, weil das
auch die Amerikaner tun - das Wort reden, mit der Begründung, es gebe eine asymmetrische Kriegsführung
und wir müssten mit den Aufständischen gleichziehen.
Ich sage Ihnen: Sie haben recht. Damit stellen wir uns
auf eine Stufe mit denen, die die alliierten Soldaten in
Afghanistan mit Bombenanschlägen und aus Hinterhalten bekämpfen.
({0})
Dann sollten wir darüber auch nicht mehr die Nase
rümpfen und von gemeinen, hinterhältigen Anschlägen
reden. Denn worin besteht der Unterschied zwischen einem hinterhältigen Anschlag mit einem irgendwo auf
der Straße deponierten Sprengkörper und einer lautlos
operierenden Drohne? Die Folgen für die Menschen sind
identisch.
({1})
Nur dann, wenn man keine Killerdrohnen verwendet,
kann man verhindern, dass sie zu solchen Zwecken gebraucht oder missbraucht werden, wie es die USA fast
täglich - nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, im Jemen und in Somalia - tun. Deutschland darf
das auf gar keinen Fall tun.
({2})
Frau Hoff, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Ströbele, Sie sind Jurist und wissen, dass es im Kriegsvölkerrecht den Begriff des legitimen Ziels gibt.
({0})
- Jetzt bin ich dran, Herr Kollege; ich habe Ihnen doch
auch zugehört.
({1})
In dem Moment, in dem erkennbar ein Angriff stattfin-
det, wissen wir also, dass auch unsere Soldatinnen und
Soldaten darauf reagieren dürfen.
Den Begriff „Killerdrohne“ habe ich übrigens nicht
verwendet. Zudem kann ich mich nicht daran erinnern,
mich in dem Zusammenhang, den Sie skizziert haben,
für den Einsatz einer solchen Technologie ausgespro-
chen zu haben. Vielmehr habe ich gesagt: Wenn der
Bundesminister der Verteidigung einen Schutz unserer
Soldatinnen und Soldaten in einem ganz besonderen
Einsatzsegment durch die neue Technologie für notwen-
dig hält, nämlich bei der Luftnahunterstützung - „Close
Air Support“ ist der gängige Begriff -, dann muss er die
Gründe darlegen.
Wir müssen uns dann die Frage stellen: Können wir
unsere Ziele auch durch Verwendung anderer Systeme
erreichen? Wenn diese Frage verneint werden muss, sehe
ich, was dieses Szenario - und nur dieses Szenario -
angeht, keinen Grund, warum nicht auf dieses System
zurückgegriffen werden sollte. Das heißt aber auch, dass
im Rahmen der sicherheitspolitischen Begründung, die
das Plenum des Deutschen Bundestages schon mehrfach
gefordert hat, auch deutlich gemacht werden muss, wo-
für diese Waffensysteme nicht eingesetzt werden sollen.
Auch für uns Parlamentarier, für die politischen Ent-
scheider, muss vollkommen klar sein, um was es geht.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bundesminister
der Verteidigung a) dies tun wird und b) selbstverständlich jederzeit in der Lage ist, dies zu begründen.
Frau Kollegin Zapf, eine Anhörung ist sicherlich
sinnvoll; aber das sind Sachen, die entscheiden wir nicht
hier. Sie sagten, Sie wollen, dass im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung darüber diskutiert wird. Deswegen möchte ich die Bemerkung machen: Viel mehr
Öffentlichkeit als im Deutschen Bundestag kann man eigentlich nicht herstellen. Die Debatte, die in diesem Moment stattfindet, findet in der Öffentlichkeit statt. Das ist
gut so, das ist richtig so, das war explizit auch von der
Bundesregierung so gewollt. Fragen, die aus Ihrer Sicht
möglicherweise unbeantwortet geblieben sind, können
selbstverständlich in einer solchen Anhörung zur Sprache kommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die
Diskussion an irgendeiner Stelle verhindert würde; diesen Vorwurf kann ich jetzt nicht nachvollziehen.
Noch einmal - ich wiederhole das an dieser Stelle explizit -: Mir sind wichtig: eine sicherheitspolitische Begründung, eine klare Beschreibung der Fähigkeiten und
des Wofür, eine klare Beschreibung, warum man das
Ziel mit anderen Systemen nicht erreichen kann, und
eine klare Beschreibung dessen, was mit dem System
eben nicht gemacht werden soll. Ich glaube, dass wir unter Beachtung dieser vier Punkte durchaus auch im Sinne
des Schutzes unserer Soldaten dann, wenn es notwendig
ist, darüber entscheiden können.
({2})
Jetzt hat der Kollege Jan van Aken das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Welcome to the drone zone! Frau Hoff, Sie haben den Einsatz von Kampfdrohnen in Ihrer Rede eben gerechtfertigt mit dem Argument: Wenn die uns umbringen, wie
soll man dann anders reagieren?
({0})
Das ist das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ein
Mord für einen Mord. Dafür sollten Sie sich schämen!
({1})
Hier sind sehr viele gute Argumente gegen Kampfdrohnen genannt worden, zum Beispiel dass damit natürlich ein neues Wettrüsten ausgelöst wird. Es ist schon
peinlich, Herr Hahn, wenn Sie sagen: „Wieso Wettrüsten? Das beschaffen doch eh schon alle.“
({2})
Sie haben das Prinzip einer Rüstungskontrolle nicht verstanden. Rüstungskontrolle funktioniert nicht so, dass
sich alle eine bestimmte Waffe anschaffen und danach in
Abrüstungsverhandlungen eintreten. Rüstungskontrolle
funktioniert so, dass - um von vornherein zu verhindern,
dass ein Wettrüsten entsteht - diese Waffe gar nicht erst
angeschafft wird.
({3})
Ein zweites Argument: Es besteht die drängende Gefahr, dass die Entwicklung direkt weitergeht hin zu vollautonomen Kampfdrohnen bzw. Kampfrobotern; dass
Maschinen ganz allein über Leben und Tod entscheiden.
({4})
Ich finde, das ist eine grauenvolle Vorstellung. Das allein
reicht als Ablehnungsgrund.
Drittens. Eine Verletzung des Völkerrechts durch den
Einsatz von Kampfdrohnen findet heute schon jeden Tag
statt: durch die USA. Auch deswegen lehnen wir diese
Kampfdrohnen ab.
Viertens - das ist für mich ein ganz entscheidender
Grund - droht durch diese Kampfdrohnen eine Enthemmung und eine Entgrenzung des Krieges.
({5})
Der Einsatz von Kampfdrohnen führt unweigerlich zu
einer Ausweitung von Kriegen und zu einer Enthemmung bei der Anwendung von Gewalt. Bei Herrn
de Maizière hört sich das immer einfach an: Wenn ich
ein Kampfflugzeug mit Pilot losschicke, riskiere ich sein
Leben. Wenn ich das gleiche Flugzeug ohne Pilot losschicke, schütze ich damit deutsche Soldaten.
({6})
Das hört sich zwar ganz simpel an; aber das ist komplett falsch, und Sie wissen, dass es falsch ist und dass es
mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat.
({7})
Kampfdrohnen werden doch nicht da eingesetzt, wo bewaffnete Kampfflugzeuge eingesetzt werden, sondern
sie werden doch für ganz andere Einsätze eingesetzt,
({8})
für Einsätze, die mit bewaffneten Flugzeugen nie geflogen würden, weil sie zu riskant sind.
Es ist doch ganz eindeutig - Sie müssen das nur einmal an sich heranlassen -: Wer Maschinen für sich
kämpfen lässt, entscheidet schneller, andere Menschen
zu töten. Wer Maschinen für sich kämpfen lässt, entscheidet schneller, Gewalt anzuwenden: weil er das aus
sicherer Entfernung tun kann.
({9})
Das ist die Realität; da können Sie den Kopf schütteln,
so viel Sie wollen. Das findet heute schon jeden Tag
statt.
Wir brauchen nur nach Amerika zu schauen. Was ist
dort in den letzten Jahren passiert? Mit der Einführung
der Kampfdrohnen hat sich der amerikanische Krieg völlig entgrenzt. Tausende von Menschen sind mit diesen
Kampfdrohnen umgebracht worden, und zwar nicht nur
in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, auch im Jemen, auch in Somalia. All diese Einsätze wären niemals
mit bewaffneten Kampfflugzeugen geflogen worden.
Das wäre für die Piloten viel zu riskant gewesen, und natürlich schickt man kein bewaffnetes Kampfflugzeug
nach Somalia, nach Pakistan oder in den Jemen. Mit diesen Ländern befinden sich die USA nicht im Krieg.
Diese Länder würden nicht hinnehmen, wenn eine bewaffnete Flotte vor ihrer Küste auftauchte. Diese tödlichen Angriffe sind nur mit Kampfdrohnen möglich, und
das wissen Sie. Das ist für uns ein sehr guter Grund,
diese Drohnen abzulehnen.
({10})
Herr de Maizière hat gesagt, dass er die Entscheidung
im Prinzip schon getroffen hat. Er hat sie jetzt vertagt.
Ich finde die Entscheidung falsch; aber seine Aussage ist
wenigstens ehrlich.
Was mich richtig wütend macht, ist das Herumgeeiere
seitens der SPD. Sagen Sie endlich einmal konkret, was
Sie wollen und was Sie nicht wollen! Alle guten Argumente sind hier genannt worden. Sie haben sie selbst
vorgetragen, aber Sie sagen nicht, dass Sie gegen eine
Einführung von Kampfdrohnen sind. Sie wollen sich bis
zur Bundestagswahl einfach jedes Hintertürchen offenhalten und hinterher die Dinger dann doch anschaffen.
Das finde ich wirklich unehrlich.
({11})
Das wirklich einzig Konkrete, das ich von den Sozialdemokraten in den letzten Wochen über Drohnen gehört
habe, hat Herr Arnold von der SPD vor einigen Wochen
hier zu Protokoll gegeben, nämlich: wenn schon Kampfdrohnen, dann bitte deutsche oder europäische Kampfdrohnen. Bloß nicht in Amerika kaufen! - Auch Sie,
Herr Bartels, haben heute wieder gesagt: Bloß keine ausländischen Drohnen anschaffen! Glauben Sie denn, für
Menschen, die an einer Hochzeitsfeier in Pakistan teilnehmen, macht es einen Unterschied, ob sie von einer
deutschen oder von einer amerikanischen Drohne getötet
werden? Ich finde Sie an dieser Stelle wirklich unsäglich.
({12})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, keine Kampfflugzeuge, keine Kampfdrohnen, gar nichts.
Danke schön.
({13})
Jetzt hat der Kollege Bernd Siebert für die CDU/CSU
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Die heutige Debatte ist die Fortsetzung der
Diskussionen der letzten Monate. Im Januar haben wir
unsere Argumente bereits ausführlich und, ich denke,
zum Teil auch erschöpfend ausgetauscht. Ich muss am
Ende dieser Debatte allerdings feststellen: Neue Argumente habe ich von der Opposition heute nicht zur
Kenntnis nehmen können.
Der Verteidigungsminister hat die Debatte vor einigen
Monaten angestoßen und mittlerweile entschieden, in
dieser Legislaturperiode keinen Beschaffungsbeschluss
für bewaffnete Drohnen mehr herbeizuführen. Ich kann
nach der heutigen Diskussion nur denjenigen zustimmen, die auf die Frage, warum denn diese Debatte jetzt
geführt wird, antworten: In den Reihen der Opposition
glaubt man, dass hier ein Wahlkampfthema gefunden
werden kann. - Ich denke aber, Sie täuschen sich. Die
Menschen sind weit klüger, als Teile der Opposition mitunter glauben.
({0})
- Ich habe von Teilen der Opposition gesprochen. - Eine
aktuelle Umfrage zeigt, dass nur 27 Prozent der Befragten bewaffnete Drohnen ablehnen. Über 70 Prozent stehen dieser Technologie eher positiv und offen gegenüber.
Interessant ist, dass die Stimmen der Vernunft, die bei
den Sozialdemokraten und den Grünen bei dieser Thematik in der Vergangenheit meiner Ansicht nach durchaus zu hören waren, mittlerweile verstummt sind. Seltsam, denn die Aussagen von geschätzten Kollegen wie
Rainer Arnold, der noch im Juli vorigen Jahres erklärt
hat, dass „an der Anschaffung von bewaffneten Drohnen
kein Weg“ vorbeiführe, oder von Herrn Nouripour, der
ebenfalls im Juli vorigen Jahres erklärt hat, es gebe eine
„sehr, sehr schmale graue Zone, in der gezielte Tötungen
erlaubt sein können, wenn für eine größere Gruppe von
Menschen unmittelbar Gefahr bevorsteht“,
({1})
lassen den Schluss zu, dass die Meinungen zu Drohnen
unserer nicht ganz unähnlich sind.
({2})
- Ich habe das Zitat aus der Frankfurter Rundschau vom
30. Juli 2012 vollständig hier, Herr Nouripour. Ich habe
nicht gelesen, dass Sie sich von diesen Aussagen damals
distanziert haben.
({3})
Ich habe den Eindruck, dass es noch immer den einen
oder anderen in der Opposition gibt, die differenziert
über diese Fragen nachdenken. Ich sage ganz offen: Das
hat mich eben etwas überrascht. Kollege Hans-Peter
Bartels hat das Thema an einigen Stellen ja durchaus differenziert betrachtet. Deswegen denke ich, dass wir,
nachdem der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen
ist, auch über diese Frage wieder konstruktiv in den Dialog eintreten und dazu beitragen können, dass vernünftige Lösungen für die Bundeswehr und für die Verbesserung der Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz
gefunden werden können.
All das, was Verteidigungsminister de Maizière und
meine Kollegen von den Koalitionsfraktionen bereits im
Januar gesagt haben, besitzt auch heute noch Gültigkeit:
Drohnen, ob groß oder klein, werden längst eingesetzt auch bei der Bundeswehr. Ihr Einsatz ist günstiger, sicherer und flexibler als die Nutzung bemannter Maschinen. Sie können wesentlich länger über einem Einsatzgebiet in der Luft bleiben als ein bemanntes Flugzeug.
Die deutschen Regularien, die für den Waffeneinsatz bemannter Systeme gelten, gelten selbstverständlich auch
für Drohnen.
Völkerrechtlich bedenkliche Szenarien wie in Nordpakistan oder im Jemen wären für deutsche Streitkräfte
meiner Ansicht nach undenkbar. Die Verantwortung für
die Nutzung unbemannter Systeme obliegt einem Menschen. Das Gleiche gilt für die Kontrolle des Fluggerätes, wie bei anderen Systemen übrigens auch. Es gibt bei
uns keinen „Roboterkrieg“ und keine Automatismen.
({4})
Dies heißt, mittelfristig wird auch die Bundeswehr
diese neuartigen Fähigkeiten ausbauen. Das gebietet die
Vernunft; denn es ist umständlich, fehleranfällig und
teuer, eine unbewaffnete Drohne zunächst aufklären zu
lassen und dann ein bemanntes Flugzeug oder ein anderes Waffensystem herbeizuholen, um ein Ziel bekämpfen
zu lassen. Diese derzeit in Afghanistan mögliche Option
kann deshalb nur eine Übergangslösung sein, die im Übrigen durch eine Entscheidung der Bundesregierung bis
zum Jahr 2015 gesichert worden ist.
Ich selbst sage daher ganz klar, dass eine übereilte
Beschaffungsentscheidung zum heutigen Zeitpunkt auch
aus dem oben genannten Grund noch nicht notwendig
ist.
({5})
Dafür gibt es viele Gründe. Bei einer technologisch so
wichtigen Weichenstellung für die Zukunft geht Sorgfalt
eindeutig vor Eile. Auch die Diskussion, die wir hier
heute führen, muss fortgesetzt werden. Auch das wurde
bereits mehrfach gesagt.
Abschließend möchte ich noch einmal meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass wir uns im Herbst wieder
auf eine vernünftige Art und Weise über dieses Thema
unterhalten können. Umso wichtiger ist es, dass wir uns
heute keine Beschränkungen in Form von Anträgen auferlegen. Daher sind die vorliegenden Anträge von uns
abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass unbemannte, unbewaffnete Drohnen nützlich sein
können, ist doch unbestritten. Ich habe in dieser Diskussion eines gehört: Es wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass die Opposition Kritik anbringt, ohne dass
dazu eigentlich ein Anlass besteht.
Erster Punkt. Ich weise darauf hin: Die Friedensforschungsinstitute werden über dieses Thema der bewaffneten Kampfdrohnen eine öffentliche Diskussion in
Gang setzen, die ich für richtig halte. Die Gefahr, dass
sich solche Waffensysteme sozusagen automatisieren, ist
vorhanden, und zwar international. Daher können wir
doch nicht so tun, als hätten wir damit nichts zu tun. Zu
Recht hat Harald Müller in einer Diskussion mit Herrn
de Maizière vor wenigen Tagen die Frage gestellt: Was
passiert eigentlich, wenn die amerikanische Seite „Das
sind Bündnisverpflichtungen“ sagt? - Die Automatisierung ist eine echte Gefahr, und deshalb muss man rechtzeitig vor ihr warnen.
Zweiter Punkt. Auch die Proliferation kommt in
Gang. Es gibt Länder, die Millionen und Milliarden aufbringen können, um solche Systeme aufzubauen. Was
heißt das, wenn es weltweit Praxis wird, dass entsprechende Aktionen gegen andere Länder durchgeführt
werden? Beispielsweise könnte davon die Zivilbevölkerung in unserem Land betroffen sein.
Dritter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
sage schon einmal vorbeugend: Auch ich halte die Entwicklung solcher bewaffneten Systeme auf europäischer
Ebene für falsch. Sie kosten Milliarden Euro. Wichtiger
wäre ein Signal der internationalen Abrüstung und der
Ächtung dieser Systeme sowohl durch Deutschland als
auch durch die Europäische Union.
({0})
Europa hat den Friedensnobelpreis nicht dafür erhalten,
dass es neue Waffensysteme exportiert, sondern dafür,
dass es soziale und ökologische Entwicklungen in die
Welt exportiert, um zu helfen. Daran sollten wir uns
orientieren.
Vielen Dank.
({1})
Herr Siebert, möchten Sie entgegnen? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13235
mit dem Titel „Keine bewaffneten Drohnen für die Bun-
deswehr - Internationale Rüstungskontrolle von bewaff-
neten unbemannten Systemen voranbringen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Zugestimmt haben dem Antrag Bünd-
nis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der SPD-
Fraktion. Gegen den Antrag hat die Koalition gestimmt.
Der überwiegende Teil der SPD-Fraktion hat sich genau
wie die Fraktion Die Linke enthalten. Der Antrag ist da-
mit abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache
17/11083. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9414 mit dem Titel „Die Beschaffung unbe-
mannter Systeme überprüfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen
waren SPD und Grüne. Die Fraktion Die Linke hat sich
enthalten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäfts-
ordnung auf Drucksache 17/6904 zu „Stand und Per-
spektiven der militärischen Nutzung unbemannter Sys-
teme“ zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Das ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen
für die Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12725, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12437
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linke
war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-
ten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13192 mit dem Ti-
tel „Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampf-
drohnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag wurde abgelehnt
bei Zustimmung durch die einbringende SPD-Fraktion.
Dagegen waren CDU/CSU, FDP und Linke, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 17/12678 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
- Drucksache 17/13279 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13280 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Barthle-
Rolf Schwanitz-
Dr. Florian Toncar-
Roland Claus-
Sven-Christian Kindler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren
Maßnahmen spürbar verbessern
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Drucksachen 17/11041, 17/13279 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Das Wort gebe ich der Kollegin Dorothee Bär für die
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich
sehr, dass wir nach der ersten Lesung und nach einer
sehr konstruktiven Zusammenarbeit mit fast allen Fraktionen hier im Deutschen Bundestag heute die Änderungen zum Conterganstiftungsgesetz mit einer großen
Mehrheit verabschieden werden, weil wir alle - deswegen noch einmal ganz herzlichen Dank besonders an die
Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD - erkannt haben,
({0})
dass die Ergebnisse der Studie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg eine unmittelbare und
vor allem deutliche Verbesserung der Situation der contergangeschädigten Menschen erforderlich machen. Ich
freue mich wirklich sehr, dass wir nicht nur ab heute,
sondern rückwirkend zum 1. Januar 2013 die Conterganrenten um jährlich 90 Millionen Euro erhöhen werden.
Wir wollen uns im Namen der Koalition ganz herzlich
bei den Betroffenen bedanken, die in den letzten Wochen
und Monaten ein wirklich konstruktiver Partner waren.
Wir wollen gerade wegen der Gespräche mit den Betroffenen eine noch wesentlich größere Einzelfallgerechtigkeit gewähren können. Deswegen haben wir auf Wunsch
der Betroffenen in der Rententabelle, die als Anlage zu
den Richtlinien veröffentlicht wird, zusätzliche Schadensstufen eingeführt. Wir haben für diejenigen, die
wirklich mit schwersten Behinderungen leben müssen,
die prozentual höchste Anhebung der Renten vorgesehen. Das heißt, künftig soll mit einem Betrag von monatlich 6 912 Euro dafür gesorgt werden, den Schwerstgeschädigten ein Stück Unabhängigkeit zurückzugeben,
und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, ohne Antragstellung selbst zu entscheiden, welche Leistungen sie
brauchen und was ihrer momentanen Situation am allerbesten entspricht, beispielsweise der behindertengerechte Umbau des Autos und der Wohnung oder Hilfen
im Alltag.
Wir werden zusätzlich 30 Millionen Euro für die Deckung spezifischer Bedarfe in den Haushalt einstellen,
zum Beispiel für Rehabilitationsleistungen, für Heilmittel, für Hilfsmittel und - das ist ganz besonders wichtig;
das habe ich auch in meiner Rede in der ersten Lesung
angesprochen - für zahnärztliche und kieferchirurgische
Behandlungen.
Das ist ein wichtiger Schritt. Das sollten wir positiv
herausstellen. Ich verstehe nicht, Herr Kollege Seifert,
warum Sie die ganze Zeit so destruktiv an die Sache herangehen, wenn sich sogar Betroffene freuen und sich
bedanken.
({1})
Das wird weder unserer Arbeit noch dem Anliegen der
Betroffenen gerecht. Das finde ich sehr schade.
Das von uns gewählte Antrags- und Bewilligungsverfahren ist sehr gut und vor allem - das ist für mich das
Entscheidende - sehr bürokratiearm. Wenn die vom Arzt
verordnete Leistung bei den Kassen beantragt wird und
die Erstattung der Leistung abgelehnt wird, dann leiten
diese den Antrag direkt an die Conterganstiftung weiter.
Dann entscheidet die Conterganstiftung auf Grundlage
der Richtlinien des BMFSFJ über den Antrag.
Wir haben über die finanziellen Maßnahmen hinaus
Verbesserungen aufgenommen: zum Beispiel dass unterhaltspflichtige Angehörige von Conterganopfern, die Sozialhilfe beziehen, vom Träger der Sozialhilfe nicht in
Anspruch genommen werden können; denn Eltern, Kinder und Ehepartner von contergangeschädigten Menschen sind durch die mit der Behinderung verbundenen
Anforderungen ohnehin schon belastet. Das ist eine ganz
wichtige Maßnahme, um Sicherheit für die Angehörigen
zu schaffen, die neben der finanziellen Belastung seit
vielen Jahrzehnten eine ganz große physische und psychische Belastung zu schultern haben.
In diesem Zusammenhang ist eine weitere Änderung
konsequent, die wir im Rahmen eines Änderungsantrages vorgenommen haben, nämlich dass das Einkommen
und das Vermögen einerseits der Betroffenen selbst und
andererseits das ihrer Ehepartner bei der Gewährung der
anderen Leistungen des SGB XII, die unmittelbar mit
der Behinderung zusammenhängen, wie beispielsweise
Hilfen zur Gesundheit, Hilfen zur Pflege, Eingliederungshilfe, vollkommen außer Betracht gelassen werden.
Natürlich ist uns bewusst, dass mit den Neuregelungen nicht allen und nicht jedem einzelnen Wunsch entsprochen wird, weil er nicht zu erfüllen war. Das ist
selbstverständlich, weil kein Gesetz der Welt jedem Einzelfall wirklich zu 100 Prozent gerecht werden kann.
({2})
Aber ich bin wirklich zuversichtlich, dass diese Neuregelungen den Menschen mit Conterganschäden helfen
werden, im Alltag selbstständiger und eigenbestimmter
zu werden und den Alltag besser zu bewältigen.
Deswegen noch einmal vielen herzlichen Dank an
alle Kolleginnen und Kollegen für die nicht einfache und
auch emotionale Arbeit der letzten Wochen und Monate.
Noch einmal ein ganz großes Dankeschön nicht nur an
die Geschädigten, sondern vor allem auch an deren Angehörige für den langen Weg, den sie gemeinsam gegangen sind.
Vielen Dank.
({3})
Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir werden heute am Ende der Debatte den Entwurf eines Drittes Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes mit großer Mehrheit, wie ich denke, hier
im Parlament verabschieden. Man muss sich natürlich
fragen: Was war der Grund für dieses Gesetz? Diese
Frage muss man immer dann stellen, wenn etwas schon
lange zurückliegt; denn dann vergisst man: Warum müssen wir handeln?
In den 50er-Jahren gab es ein Medikament, das allgemein unter dem Namen „Contergan“ bekannt war.
Frauen, die es in der Schwangerschaft eingenommen haben, haben schwer geschädigte Kinder zur Welt gebracht. Etwas über 10 000 Kinder waren es. Von diesen
etwas über 10 000 leben heute noch etwa 2 700 Personen, etwa 2 450 in Deutschland und etwa 250 im Ausland.
Damals gab es noch nicht das, was wir heute unter
dem Stichwort „Arzneimittelhaftung“ kennen. Man hat
eine Lösung gesucht und gefunden. Sie war nicht einfach, weder für die Eltern noch, wie ich denke, für die
Politik, die überhaupt nicht abschätzen konnte, was auf
sie zukam.
Die Firma Grünenthal, die damals das Medikament
auf den Markt gebracht hat, hat 100 Millionen D-Mark
in einen Fonds eingezahlt und Entschädigung geleistet.
Dann wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerk
für behinderte Kinder“ gegründet. Deshalb werden die
Angelegenheiten der contergangeschädigten Menschen
im Familienausschuss und nicht im Ausschuss für Arbeit
und Soziales behandelt, in dem wir uns üblicherweise
mit Angelegenheiten von Menschen mit Behinderung
befassen. Wir sind seither dafür zuständig; denn seit der
Gründung der Stiftung ist die Bundesrepublik Deutschland in die Rechtsnachfolge der Firma getreten. Das darf
man nicht vergessen; sonst weiß man nicht, warum wir
heute solche Gesetze machen.
In all den Jahren hat die genannte Stiftung den betroffenen Menschen Entschädigungszahlungen geleistet.
Heute verabschieden wir hoffentlich mehrheitlich das
Dritte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes.
({0})
- Es ist sehr schön, wenn Sie mitstimmen, Herr Seifert.
({1})
- Wunderbar.
Bislang haben wir ein erstes und ein zweites Änderungsgesetz verabschiedet. Schon beim zweiten haben
wir gedacht, dass wir ganz viel geregelt haben. Aber wir
müssen es erneut revidieren. Es war zwar der richtige
Weg, aber wir sind nicht weit genug gegangen. Wir haben 2008 die Renten der Betroffenen von 545 Euro auf
1 090 Euro verdoppelt. Wir haben noch etwas anderes
geregelt - das weiß kaum jemand -: Diese Zahlungen
dürfen auf keine anderen Leistungen, auf sogenannte
Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, angerechnet werden. - Das war ein Riesenschritt. Wir haben
des Weiteren eine Regelung zur automatischen Anpassung dieser Renten verabschiedet. Damals betrug die
durchschnittliche Rente etwa 982 Euro.
Ein weiterer Punkt, über den wir sehr lange debattiert
haben, war die Ausschlussfrist. Nach Ablauf dieser Frist
konnte kein Betroffener mehr seine Ansprüche geltend
machen. Diese Ausschlussfrist haben wir aufgehoben.
Diese Änderung war im Hinblick auf die damals noch
gar nicht abzuschätzenden gesundheitlichen Folgen,
zum Beispiel für Gefäße und Nerven, wichtig. So konnten auch diese berücksichtigt werden.
Wir hatten damals zudem jährliche Sonderzahlungen
über 25 Jahre verabredet. Derzeit werden Sonderzahlungen in Höhe von durchschnittlich 2 200 Euro ausgezahlt.
Wir haben damals aber noch mehr getan. Wir haben in
einem Antrag festgehalten: Da wir überhaupt nicht wissen, wie sich die betroffenen Menschen entwickeln werden, wollen wir, dass dazu eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben wird. Damals haben die
Betroffenen gesagt: Wir wollen nicht vermessen werden. Das haben wir gut verstanden. Aber eine solche Untersuchung war notwendig; denn erst mit dem Untersuchungsbericht ist uns in aller Deutlichkeit klar geworden, dass es sich bei den gravierenden Veränderungen,
die bei den betroffenen Menschen im Laufe der Jahre
eingetreten sind, nicht um Einzelfälle handelt. Diese
Menschen haben große Bedarfe, um am Leben teilzuhaben und es zu gestalten.
Der Zwischenbericht, der im Sommer letzten Jahres
vorgestellt und zu Weihnachten eingebracht wurde und
zu dem eine Anhörung mit über 200 Betroffenen im Februar dieses Jahres durchgeführt wurde, führt nun zur
Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des
Conterganstiftungsgesetzes. Frau Bär hat schon die wesentlichen Punkte genannt. Ich nenne zur Verdeutlichung
noch einmal die alten Rentenwerte: Von etwa 1 100 Euro
gibt es nun eine Steigerung auf bis zu 7 000 Euro monatlich. Diesen Höchstbetrag erhalten 119 Betroffene. Die
drei- und vierfach Betroffenen werden am meisten bekommen. Aber alle werden mehr bekommen. Nur die
prozentuale Steigerung fällt unterschiedlich hoch aus.
Das alles bringen wir nun auf den Weg. Sollte sich
aber herausstellen, dass wir erneut nachjustieren müssen,
wird sich der nächste Bundestag sicherlich wieder auf
den Weg machen, erneut aus den Erfahrungen und dem
Leben der Betroffenen lernen und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen.
Wir haben lange auch darüber diskutiert, wie wir das
abdecken können, was die gesetzlichen Sozialversicherungen nicht bezahlen, weil sie sich weigern. Deshalb
wurde dieser Fonds in Höhe von 30 Millionen Euro jährlich eingerichtet. Diese 30 Millionen Euro sollen - Frau
Bär hat es gesagt - möglichst bürokratiearm in Anspruch
Marlene Rupprecht ({2})
genommen werden können. Aber Sie wissen ja - so sagt
man das bei uns -: Das Teufele steckt im Detail. Um zu
verhindern, dass sich einige Sozialversicherungszweige,
die zahlen müssten, weigern und die Anspruchsberechtigten gleich an den Fonds verweisen, muss dem Bundestag nach zwei Jahren berichtet werden, ob es einen
Verschiebebahnhof gibt oder nicht, damit wir feststellen
können, ob das Geld wirklich den Menschen zugutekommt oder ob sich einige der Lasten entledigen, die sie
eigentlich tragen müssten.
Was man gar nicht so sieht - das ist, denke ich, neben
der Rentenerhöhung das Wichtigste -, ist, dass jetzt
jemand zum Beispiel eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmen kann, ohne dass er wie andere Menschen, die diese in Anspruch nehmen, mit seinem Einkommen, seinem Vermögen oder dem Einkommen oder
Vermögen seiner Angehörigen herangezogen wird. Das
ist ein enormer Paradigmenwechsel, der zeigt, dass der
Bundestag seine Verantwortung, die er gegenüber den
Menschen hat, die durch Contergan geschädigt sind,
ernst nimmt.
Was ich aber auch gelernt habe - jetzt war ich
17 Jahre für dieses Thema zuständig -: Wir werden nie
aufhören, zu lernen, und wir werden nie aufhören, zu begreifen, dass wir eine Verantwortung haben und im Notfall nachjustieren müssen. Wenn die 30 Millionen Euro
nicht reichen, dann - das sage ich Ihnen - wird der Bundestag darüber noch einmal nachdenken müssen. Das ist
das Leben. Ich wünsche mir, dass heute alle gemeinsam
den Gesetzentwurf verabschieden und damit das Signal
setzen, dass rückwirkend ab 1. Januar alle Betroffenen
mehr Geld bekommen. Das ist das Wichtigste. Die Betroffenen stoßen hier im Parlament immer auf offene
Ohren, und zwar bei allen Fraktionen.
Vielen Dank an die Kollegen dafür, dass es geklappt
hat.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es
steht außer Frage, dass es die Contergangeschädigten
und deren Eltern waren, die von Anfang an für Gleichstellung und Teilhabe eingetreten sind. Der Weg beim
Kampf dieser Eltern für die Rechte ihres Kindes war
steinig. Es war der Kampf gegen den ärztlichen Rat, gegen eine behindertenfeindliche Gesellschaft und gegen
Grünenthal. Den damaligen gesellschaftlichen Umgang
mit Behinderung und Behinderten infrage zu stellen, begründete den Weg, der zur gesellschaftlichen Teilhabe
von Menschen mit Behinderung führen soll.
Diese Teilhabe kostet Geld. Die Rente aus der Conterganstiftung wird den heutigen Bedürfnissen der Betroffenen nicht mehr gerecht. Die finanziellen Belastungen durch die Folgen der Conterganschädigung nehmen
immer weiter zu, da die körperlichen Einschränkungen
immer größer werden. Mit der Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes wollen wir sicherstellen, dass sich die Lebenssituation der Contergangeschädigten nun endlich ganz
entscheidend verbessert.
Ich darf ganz ehrlich sagen: Ich freue mich sehr, dass
wir bei diesem bewegenden Thema wieder eine sehr
breite Mehrheit im Bundestag erreichen können, über
die Parteigrenzen hinweg. Ich möchte mich hier ganz
ausdrücklich bei den Betroffenen, bei der SPD und beim
Bündnis 90/Die Grünen für die konstruktiven Gespräche
bedanken. Es ist im Sinne der Geschädigten, dass wir geschlossen und schnell handeln.
Vor fast genau vier Jahren, am 22. Januar 2009, hat
der Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und der FDP zugestimmt, der
eine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung
der Conterganopfer zum Ziel hatte. Ich zitiere:
Die Lebensleistung der Contergangeschädigten verlangt uns größten Respekt ab. Sie haben sich in bewundernswerter Weise ihren Platz in Familie und
Beruf erkämpft, ihre Selbständigkeit mit großem eigenen Engagement und Selbstbewusstsein erstritten. Doch jetzt stoßen sie an schmerzliche Grenzen.
Den Antragstellern war damals bewusst, dass wir genauere Fakten benötigen, um gegenüber dem Steuerzahler eine Lösung zu rechtfertigen, die über den Beschluss
von 2008 deutlich hinausgeht. Es ging damals um die
Verdopplung der sogenannten Conterganrenten. Bereits
diese Verdopplung war angesichts der eigentlich geplanten Erhöhung um circa 5 Prozent ein enormer Schritt. Frau Rupprecht, Sie nicken. Ich war leider nicht dabei,
aber ich weiß es aus Erzählungen.
Trotzdem war den Fachpolitikern bewusst, dass dieser Schritt nicht ausreichen würde, da sich der Gesundheitszustand der Betroffenen verschlechterte. In diesem
gemeinsamen Antrag haben die Fraktionen von Union,
SPD und FDP den Auftrag an das Familienministerium
formuliert, eine Studie durchzuführen. Ziel war es, den
Gesundheitszustand der circa 2 700 Conterganopfer zu
untersuchen, die in den Geltungsbereich des Conterganstiftungsgesetzes fallen. Die drei Fraktionen wollten in
einer umfassenden, lebensbegleitenden und auf Teilhabe
angelegten Längsschnittstudie ein genaues Bild über die
Lebenssituation Contergangeschädigter zeichnen, und
zwar unter Einbeziehung von Folge- und Spätschäden,
mit dem Ziel, geeignete Handlungsempfehlungen für
weitere angemessene Hilfe darzustellen.
Fraktionsübergreifend hatten wir das Ziel, ein weiteres Gesetz zu verabschieden, um die Spätfolgen der
Conterganschädigung abzumildern. Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend. Die Spätfolgen der Conterganopfer sind gravierender, als Mediziner vorausgesagt
hatten. Überlastete Gelenke, schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- und Unterstützungsbedarf
erheblich.
Die Situation stellt sich weit dramatischer dar, als es
auch den Fachpolitikern bewusst war. Inzwischen leiden
85 Prozent der Conterganopfer an chronischen Schmerzen. Die Hälfte von ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele haben Depressionen. Damit wird auch die
unabhängige Lebensperspektive derjenigen Menschen
mit Conterganschäden gefährdet, die trotz aller Widrigkeiten eine stabile Lebenssituation für sich erkämpft haben.
Ich finde es bei aller Schwere des Conterganskandals
erfreulich, dass wir heute wieder darüber diskutieren, die
Leistungen - sprich: die finanziellen Zuwendungen - an
die Opfer zu verbessern. Es ist gut, dass wir die Zustimmung aller Fraktionen hierzu haben. Dies war mir immer
ein persönliches Anliegen.
Bei allem verständlichen Frust, den die Betroffenen
im Hinblick auf die Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Contergan haben, halte ich das seit dem letzten
Jahr gemeinsam Erreichte für enorm: Für die Schwerstbetroffenen hat sich seit 2008 die monatliche Rente fast
verdreizehnfacht. Hinzu kommen Einmalzahlungen, die
auf andere Sozialleistungen nicht angerechnet werden,
und eine bessere medizinische Versorgung.
Dabei ist sich die FDP immer bewusst, dass alle
finanziellen Leistungen den Schaden für die Gesundheit
und die schwere seelische Belastung der Betroffenen
nicht ausgleichen können. Die Koalition - wir alle wollen, dass Contergangeschädigte eine gute Lebensperspektive haben. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen,
das muss das Ziel sein.
Wir stehen zu unserer Verantwortung. 6 912 Euro
Höchstrente statt bislang 1 152 Euro lindern zumindest
in finanzieller Hinsicht das entstandene Leid. Dieser
Rentenanspruch wird rückwirkend zum 1. Januar 2013
ausgezahlt. Zusätzlich werden anrechnungsfrei andere
notwendige Sozialleistungen gewährt. Im Bereich von
Zahnersatz und Reha bekommen die Geschädigten die
notwendigen Therapien über den Leistungskatalog der
Krankenkassen hinaus.
Trotz der schwierigen Bemühungen, einen strukturell
ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen,
ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen, für die
Conterganopfer die eindrucksvolle Summe von 120 Millionen Euro jährlich dauerhaft zu verankern. Dafür
möchte ich auch einmal Danke sagen.
Die Koalition hat vier Jahre lang erfolgreiche und
gute Politik für Deutschland gemacht. Auch für die Contergangeschädigten können wir heute dieses wirklich
deutliche Zeichen der Hoffnung und Zuversicht und der
Übernahme der Verantwortung setzen.
Auch ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank allen, die wir zusammengearbeitet haben, und ich freue
mich wirklich über das Ergebnis. Ich bedauere, dass die
Fraktion Die Linke da leider nicht mitmachen konnte.
({0})
Der Kollege Dr. Ilja Seifert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu sagen, dass wir „leider nicht mitgemacht“ hätten, ist wirklich eine Frechheit. Obwohl Sie uns die ganze Zeit aus
allen Verhandlungen zu diesem Gesetz systematisch ausgegrenzt haben, wird die Linke selbstverständlich zustimmen, weil es die Lebensbedingungen für viele Conterganopfer und ihre Angehörigen verbessert.
({0})
Das ist in erster Linie ein großer Erfolg des jahrzehntelangen und sehr engagierten Kampfes der Contergangeschädigten selbst und ihrer Familien. Und ich meine,
auch die Unterstützung der Linken trug dazu bei. Dies
begann mit einer Kleinen Anfrage im Juni 2006 und
zieht sich bis zu unserem Antrag durch, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht.
Wir feiern heute einen Erfolg! Ja. Auch ich. Und zwar
an der Seite der Betroffenen.
({1})
Dennoch ist Kritik angesagt, und sie muss auch einmal
ausgesprochen werden.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FünfParteien-Koalition, hatten - genau wie ich - in den letzten Wochen eine Vielzahl von Gesprächen sowie schriftlichen Kontakten mit den Conterganopfern. Sie lasen die
Studie und die Handlungsempfehlungen der Uni Heidelberg. Sie erlebten die Anhörung am 1. Februar mit mehr
als 200 Teilnehmern. Sie haben die Sachverständigen im
nichtöffentlichen Fachgespräch am 15. April angehört.
Es gab sehr einleuchtende, sehr vernünftige, kluge Vorschläge.
Die Linke legte bereits im Oktober 2012 ihren Antrag
vor. Dieser entstand in sehr intensivem Dialog mit den
Betroffenen. Es gibt Stellungnahmen und Vorschläge
von verschiedenen Conterganverbänden sowie von der
Anwaltskanzlei Menschen & Rechte. Und trotzdem: Sie
schusterten - vergleichbar mit dem Gesetzgebungsverfahren vor der Bundestagswahl 2009 - in unnötigem Eiltempo einen Gesetzentwurf hin, der viele Fragen offen
und viele Probleme ungelöst lässt.
Meinen Sie wirklich, dass eine Entschuldigung seitens des Bundestages, der Bundesregierung, der Justiz
und des Landes NRW für ihren Anteil an dem fortwährenden Conterganskandal nicht nötig wäre?
Meinen Sie wirklich, dass es richtig ist, wenn die
Schadensverursacher - die Firma Grünenthal und die
milliardenschwere Familie Wirtz - nicht angemessen an
den Kosten beteiligt werden?
Meinen Sie wirklich, dass die Conterganrente, vor allem bei wirklich Schwerstgeschädigten mit hohem As29778
sistenzbedarf, reicht, um diese aus der Armutsfalle des
SGB XII herauszuholen?
Meinen Sie wirklich, dass man trotz der Ergebnisse
aus der Studie der Uni Heidelberg die Spät- und Folgeschäden weiterhin unberücksichtigt lassen kann?
Meinen Sie wirklich, trotz der Deckelung des Fonds
für besondere Bedarfe ein praktikables Verfahren hinzubekommen?
Meinen Sie wirklich, dass die im Fachgespräch vorgelegte - nicht erklärbare - Rententabelle gerechter sei
als ein einheitlicher Wert je Schadenspunkt?
Meinen Sie wirklich, dass man ohne strukturelle Änderungen in der Stiftung den Rechtsfrieden herstellen
kann?
Meinen Sie etwa, die berechtigten Ansprüche und
Forderungen der Conterganopfer mit weniger als zehn
Schadenspunkten, der von Ausschlussfristen Betroffenen sowie der im Ausland lebenden Opfer mit den Gesetzesänderungen wirklich befriedigend berücksichtigt
zu haben?
Nein, Sie meinen das nicht wirklich. Das, was Sie hier
tun, ist vorsätzliche Unterlassung!
({2})
Ja, auch ich teile die Freude auf die zu erwartende
Rentenerhöhung. Aber sie wird für rund 20 Prozent der
Opfer nicht reichen, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben oberhalb des Existenzminimums zu ermöglichen.
Das betrifft vor allem diejenigen mit hohem Bedarf an
Assistenz und Pflege. Es erfolgt eben kein vollständiger
Schadensausgleich.
Eine Reihe von Fragen wird über Richtlinien geklärt.
Hier ist der Bundestag leider nicht beteiligt. Ich verhehle
nicht, dass ich der Exekutive gegenüber sehr skeptisch
bin.
Aber ich bin sicher: Was wir heute hier beschließen,
darf kein Schlussgesetz sein. Der kommende Bundestag
wird sich sehr bald nach seiner Konstituierung - nicht
erst nach zwei Jahren - erneut mit der Problematik befassen müssen und befriedigende Lösungen für all die
von mir genannten und noch etliche weitere Fragen finden müssen.
Im Zeichen der UN-Behindertenrechtskonvention
wird die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen mit
den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen dazu führen,
dass die Regelungen für die Conterganopfer aufgegriffen
und weiterentwickelt werden.
Einkommens- und vermögensunabhängig. Diskriminierungsfrei.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt
dem Kollegen Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Seifert, ich bin seit gut zehn Jahren
Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich muss sagen:
Die meisten Gesetze haben es so an sich, dass nicht alle
Wünsche und Probleme, die damit verbunden sind, auf
einen Schlag damit gelöst werden, sonst müsste man sie
nicht auch noch manchmal ändern.
({0})
Selbstverständlich ist auch uns bewusst, dass noch
eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten ist. Ich
werde auf die Details gleich noch näher eingehen. Natürlich muss man sehen, wie das Gesetz umgesetzt wird.
Aber das kann doch kein Grund sein, nicht noch in dieser Legislaturperiode wirklich einen Durchbruch zu
schaffen und die Situation der Betroffenen ganz erheblich zu verbessern.
({1})
Wir können wirklich froh sein, dass an dieser Stelle Einigkeit in diesem Hause herrscht.
Die Beharrlichkeit, die viele Kolleginnen und Kollegen an den Tag gelegt haben, hat sich gelohnt. Ich nenne
hier insbesondere Frau Rupprecht. Vor vier Jahren, als
die Entschädigungszahlungen, gemeinhin auch als Conterganrente bekannt, verdoppelt worden sind, haben eine
ganze Reihe von Abgeordneten gesagt: Das ist toll und
reicht jetzt. Diejenigen, die sich mit dem Thema intensiv
beschäftigt hatten, wussten schon damals, dass die Zahlungen nicht ausreichen würden. Damals zeichneten sich
schon längst die Folgeschäden ab bzw. waren schon vorhanden. Der Prozess der sogenannten Dekompensation
hatte eingesetzt. Aufgrund der besonderen Leistungen
mit den verbleibenden Gliedmaßen, dem Mund, mit anderen Hilfsmitteln, die die Geschädigten vollbracht hatten, hatte der Verschleiß auch vor vier Jahren schon
längst eingesetzt.
Die Studie der Universität Heidelberg fand dann Eingang in einen Entschließungsantrag. Deren Ergebnisse,
so die Hoffnung vor vier Jahren, würden dazu beitragen,
die Situation in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit ungeschminkt zu sehen, und das würde zu einer Anpassung
der Entschädigungszahlungen führen. Das ist bis heute
ein gutes Stück weit gelungen.
({2})
Der Änderungsantrag - deswegen stimmt auch meine
Fraktion für den Gesetzentwurf, auch wenn sie nicht auf
dem ursprünglichen Gesetzentwurf stand - enthält wesentliche Punkte. Hier sind vor allen Dingen die Nichtanrechnung von Leistungen der Behindertenhilfe und
der Hilfe zur Pflege sowie Einkommen und Vermögen
zu nennen. Ich betone ausdrücklich, auch mit Blick auf
Herrn Seifert, dass wir auch Veränderungen bei der Conterganstiftung selbst vorgenommen haben.
({3})
Die Sitzungen der Stiftung sind öffentlich. Die Nichtöffentlichkeit muss ausdrücklich erklärt werden. Weitergehende Änderungen, die etwa die Mehrheitsverhältnisse betreffen, werden selbstverständlich auch in der
kommenden Legislaturperiode weiter geprüft. Aber solange öffentliche Mittel in diese Stiftung fließen, wird es
kein Finanzminister, egal welcher Partei, zulassen, dass
zum Beispiel der Bund nicht auch die Mehrheit hat. Solche Rechtsverhältnisse muss man berücksichtigen.
Auch die Deckung spezifischer Bedarfe wird hoffentlich funktionieren. Dabei muss man natürlich darauf
achten, dass nicht die vorgelagerten Sozialleistungsträger, insbesondere die Krankenkassen, rundweg alles ablehnen und dass die Stiftung die Widerspruchsverfahren
für die Betroffenen in die Hand nehmen muss. Diesen
Bereich müssen wir uns sehr genau ansehen.
Der Umgang mit den Folgeschäden, die in dem Gesetzentwurf nicht enthalten sind, verdient in der kommenden Legislaturperiode eine genauere Betrachtung.
Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Firma Grünenthal sich das ebenfalls noch einmal ansieht und klarer
die Verantwortung für das übernimmt, was auf ihr geschäftliches Verhalten zurückgeht.
({4})
Es ist nicht nur der Bund, der gefragt sein wird. Aus
dem Bundeshaushalt werden künftig jährlich 155 Millionen Euro gezahlt. Wir werden also in einigen Jahren bei
den Kosten für die Folgeschäden die Milliardengrenze
überschreiten. Hinzu kommen die Ausgaben der Sozialversicherungsträger.
Die Firma Grünenthal hat 1972 114 Millionen D-Mark
bezahlt, 2009 noch einmal 50 Millionen Euro. Wenn
man sich die Verhältnisse ansieht, ist das geradezu lächerlich. Ich weiß, dass man das rechtlich - es gibt Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes - jetzt natürlich nicht mehr revidieren kann. Aber die moralische
Verantwortung der Firma Grünenthal ist unzweifelhaft.
Ich bin schon etwas irritiert, wenn ich sehe, dass die
Firma Grünenthal in den vergangenen drei Jahren für
100 Millionen Euro an ihrem Standort in der Nähe der
Uni Aachen den Grünenthal-Campus gebaut und gefördert, aber für die Geschädigten keine finanzielle Verantwortung übernommen hat. Uns bleibt hier im Deutschen
Bundestag leider nur der immer wieder neue Appell. Damit, dass wir in diesem Hause gemeinsam Verantwortung übernommen haben, können wir erst einmal einigermaßen zufrieden sein.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Hubert Hüppe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über Jahrzehnte fühlten sich contergangeschädigte
Menschen verraten und verkauft. Sie fühlten sich von
der Firma Grünenthal ausgetrickst, und sie fühlten sich
auch von diesem Staat im Stich gelassen. Aus der Öffentlichkeit kennen wir Menschen mit Conterganschädigungen. Wir kennen Künstler, Paralympics-Gewinnerinnen und -Gewinner, die ihren Sport inzwischen aber
längst nicht mehr ausüben können und Schmerzen haben. Aber es gibt auch ganz viele Menschen, die wir nie
gesehen haben. Es sind Menschen - durch die Studie
haben wir gelernt, dass es im Alter immer schlimmer
wird -, die jeden Tag, zu jeder Stunde Schmerzen haben
und die sich nur mit Schmerzmitteln am Leben erhalten
können. Es sind Menschen, die organische Schäden haben, die ohne Assistenz nicht aus dem Haus kommen.
Was viele auch nicht wussten: Es gibt zum Beispiel
auch Menschen, die aufgrund des Contergans gehörlos
sind und die einen besonderen Assistenzbedarf haben.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Arme und wären
gehörlos: Sie könnten noch nicht einmal Gebärdensprache.
Diese Menschen waren immer misstrauisch. Sie waren übrigens auch misstrauisch, als 2009 die Studie in
Auftrag gegeben wurde, weil sie gedacht haben, dass die
Politik wieder auf Zeit spielt und hinterher doch nichts
dabei herauskommt. Es gab sogar einige, die zum Boykott aufgerufen haben; auch das ist die Wahrheit. Dann
kam diese Studie, die zeigte, wie dramatisch die Schäden
sind, und dass sie zum Teil noch schlimmer sind, als
selbst die Fachleute geglaubt haben.
Als wir mit den Betroffenen gesprochen haben - das
haben ja alle Parteien bzw. Fraktionen getan -, zeigte
sich, dass es drei Punkte gab, die sie sich gewünscht haben und die ihnen wichtig waren. Das Erste war, dass die
Renten bzw. die Entschädigungsleistungen erhöht werden, damit man, ohne jemals einen Antrag stellen zu
müssen, selbst bestimmen kann, was man mit diesem
Geld macht. Das Zweite war, dass die Sonderbedarfe
schnell eingeführt werden. Das Dritte war - Kollege
Seifert, es ist kein Problem, sondern es war richtig -,
dass diese Leistungen schnell kommen, weil diese Menschen sagen: Wir haben nicht mehr viel Zeit, uns läuft
die Lebenszeit weg.
({0})
Deswegen war es richtig, dass, drei Wochen nachdem
dieses Gutachten vorgelegt worden ist, die Koalitionsparteien sofort gesagt haben: Wir stellen über einen
Haushalt nachträglich - das bitte ich auch einmal anzuerkennen - ab dem 1. Januar 2013 zusätzlich 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Das heißt, hier hat man
wirklich einmal für die Betroffenen gesorgt, und alle
Parteien haben mitgemacht. Das ist auch gut so. Es gehört sich, das hier noch einmal zu betonen.
({1})
Sicherlich sind nicht alle Forderungen erfüllt worden.
Ich habe mit den betroffenen Menschen gesprochen.
Alle erhalten von uns ein Schreiben, jeder hat seinen Ansprechpartner, oft sind es dieselben. Die Betroffenen
schreiben, dass sie trotz aller Kritik erst einmal dankbar
sind, dass endlich etwas geschehen und auch nachhaltig
geschehen ist.
({2})
Ich weiß noch, dass mich jemand anrief und sagte: Ich
muss protestieren! 120 Millionen für die restliche Lebenszeit, das ist viel zu wenig. - Da habe ich gesagt:
Nicht für die restliche Lebenszeit, sondern für jedes
Jahr! - Das war zu Beginn der Diskussion. Da kamen
natürlich viele Dinge zusammen. Aber ich denke, dass
die Entschädigungsleistung eine wirklich gute Sache ist;
da sie nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, umso
mehr.
Noch einmal: Die Betroffenen sind dankbar. Ich bin
dankbar, dass alle Beteiligten dafür gesorgt haben, dass
wir zügig handeln konnten. Es ist auch ein Beitrag zur
Verbesserung der Glaubwürdigkeit der Politik,
({3})
dass wir die Empfehlungen der Studie umgesetzt haben
und nicht noch weiter diskutiert haben, vielleicht sogar
bis in die nächste Legislaturperiode. Der Gesetzentwurf
ist vor allen Dingen ein Fortschritt für die Menschen, die
die Hilfe dringend benötigen.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Thomas Jarzombek von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Bevor ich im Jahr 2009 in
den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, war mir
natürlich bekannt, dass es Contergangeschädigte gibt,
aber mit den Einzelheiten dieser Schicksale war ich bis
dahin nicht vertraut. Seit ich im Familienausschuss für
meine Fraktion Berichterstatter zu diesem Thema bin,
habe ich von den Schicksalen vieler Betroffener erfahren. Angesichts der Schilderungen muss ich sagen: Ich
bin wirklich betroffen.
Es sind unvorstellbare Schicksale aus der Sicht von
jemandem, der selber so etwas nicht erlebt hat. Ich kann
nur sagen: Ich habe wirklich großen Respekt vor denjenigen, die gelernt haben, mit diesen Schädigungen umzugehen, die trotzdem ihr Leben gestaltet haben. Diesen
Respekt zolle ich ihnen heute.
({0})
Ich habe bereits in der Anhörung gesagt - ich möchte
das heute wiederholen -: Als ob das Schicksal, das durch
dieses Medikament verursacht wurde, nicht schon schlimm
genug wäre, so sind den Opfern, den Betroffenen, im
Laufe der Jahrzehnte verdammt viele Steine in den Weg
gelegt worden. Manche Art und Weise im Umgang war
unwürdig. Ich finde, wir haben die Pflicht, uns bei allen
Betroffenen dafür zu entschuldigen.
({1})
An dieser Stelle möchte ich meinen Dank und meine
Anerkennung auch denjenigen Kollegen aussprechen,
die in der letzten Legislaturperiode mit dem Zweiten
Conterganstiftungsänderungsgesetz viel Gutes auf den
Weg gebracht haben. Ich finde es großartig, dass wir es
hinbekommen haben, das heute mit dem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz fortzuführen, dass wir
den Geschädigten, den Opfern, unkompliziert und ohne
lange Antragsverfahren helfen; und das in einer Haushaltssituation, in der es in Anbetracht der Schuldenbremse so gut wie unmöglich ist - das weiß ich aus
meinen anderen Themenbereichen -, auch nur kleine
Summen für neue Projekte zu erhalten. Wir stellen nun
jedes Jahr 120 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
Wir tun hier einen großen Schritt, um für ein weiterhin
selbstbestimmtes bzw. verbessertes Leben der Geschädigten zu sorgen, und darauf kommt es an.
Ich kann dem Kollegen Kurth nur zustimmen: Wenn
sich unser Staat eine Entschädigungszahlung von zusätzlich 120 Millionen Euro pro Jahr leistet - ausdrücklich
keine Sozialleistung; das ist mir wichtig; das wurde übrigens durch die vorgenommenen Änderungen gewährleistet -, die nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet wird, dann fände ich es nur angemessen, wenn auch
die Firma Grünenthal ihren Beitrag zur Entschädigung
leisten würde.
({2})
Man kann auch einen großen Dank an diejenigen
richten, die in der Stiftung viel Gutes getan haben, auch
wenn es manchmal sicher schwierige Situationen gewesen sind. Ich bedanke mich an dieser Stelle und wünsche
mir - auch das im Hinblick auf Änderungen, die wir im
Beratungsverfahren erreicht haben und in die ich große
Hoffnungen setze -, dass öfter öffentlich getagt wird.
Am Ende bin ich stolz, an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet zu haben. Selten hat man ein so sicheres Gefühl, genau das Richtige zu tun. Wenn man sich das
Schicksal der Betroffenen anschaut, kommen wir hier
wohl allesamt zu der Überzeugung, heute genau das
Richtige zu tun.
Darauf bin ich stolz, und ich danke allen, die das ermöglicht haben. Ich hoffe, dass die Betroffenen damit
wieder ein bisschen mehr Mut für ihr Leben fassen können.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13279, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf
Drucksache 17/12678 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend auf Drucksache 17/13279 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/11041 mit dem Titel „Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen
mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz
und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen
1814 ({1}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({2})
vom 2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom 7. Oktober
2008, 1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1851
({5}) vom 16. Dezember 2008, 1897 ({6})
vom 30. November 2009, 1950 ({7}) vom
23. November 2010, 2020 ({8}) vom 22. November 2011, 2077 ({9}) vom 21. November
2012 und nachfolgender Resolutionen des
Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union ({10}) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012
- Drucksache 17/13111 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({11})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dieser
Aussprache nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen,
damit die anderen dem Redner folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle, das Wort.
({12})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr geehrte
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Atalanta
ist eine erfolgreiche Mission. Seit Beginn des Einsatzes
konnte sichergestellt werden, dass über 150 im Auftrag
des Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffstransporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichten.
Insgesamt konnte 1 Million Tonnen Nahrungsmittel und
Hilfsgüter nach Somalia gebracht werden. Das ist der eigentliche Grund, warum wir diese Mission begonnen haben. Wir wollen den Menschen helfen.
Es ist auch einen Dank wert, dass die Frauen und
Männer der Bundeswehr so erfolgreich gearbeitet haben.
({0})
Als wir hier vor einem Jahr über Atalanta debattierten, waren sieben Schiffe und über 200 Geiseln in den
Händen von Piraten. Heute sind es noch zwei Schiffe
und 60 Geiseln. Die letzte Entführung eines Schiffes
liegt fast ein Jahr zurück. Auch die Zahl der versuchten
Kaperungen ist eindeutig rückläufig. Das heißt nicht,
dass alles gut ist. Wenn sich die Dinge gut entwickeln,
dann sollte man aber einfach einmal einen Augenblick
innehalten und die Geschehnisse Revue passieren lassen.
Dabei stellt man fest, dass die Bedenken, die im letzten
Jahr bezüglich der Anpassung des Atalanta-Mandates
geäußert worden sind, von der Realität augenscheinlich
nicht bestätigt worden sind. Mit anderen Worten: Ich
bitte die Opposition, die dem Mandant damals nicht zugestimmt hat, weil sie Zweifel an der Ausweitung des
Mandats hatte, diesem Mandat heute ihre Unterstützung
zu gewähren. Die Bedenken, die Sie geäußert haben, waren augenscheinlich nicht zutreffend.
({1})
Das ist eigentlich ein guter Anlass, wieder zu einer gemeinsamen Haltung des Deutschen Bundestages zurückzukehren.
Das Engagement der Europäischen Union mit deutscher Unterstützung war erfolgreich. Die Mandatserweiterung, nach der die Europäische Union bzw. unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt auch Waffen und Ausrüstung
der Piraten am Strand zerstören dürfen, war beim letzten
Mal Gegenstand einer großen Kontroverse. Heute sehen
wir: Das war eine wirksame Mandatserweiterung. Ich
meine, das wäre ein guter Anlass, die Verweigerung der
Zustimmung vom letzten Jahr dieses Mal nicht zu wiederholen.
({2})
Natürlich ist der militärische Einsatz am Horn von
Afrika in einen politischen Gesamteinsatz für Somalia
eingebettet. Bei der Verfolgung der Hintermänner der
Piraterie und der Aufdeckung ihrer Finanzen können wir
Fortschritte verzeichnen. Auf Betreiben der Bundesregierung erhält dieses Thema auf internationaler Ebene
nun deutlich mehr Aufmerksamkeit. Wir haben neue
Strukturen geschaffen und die Zusammenarbeit der Polizeibehörden verbessert. Das erhöht den Druck auf die
Hintermänner der Piraten. Es darf auf keinen Fall vergessen werden, dass es nicht ausreicht, die Piraten zu bekämpfen, indem man sie von ihren unrechtmäßigen
Handlungen abhält. Es ist auch wichtig, die Hintermänner bei der Ausübung ihres blutigen Handwerks zu stören. Auch diesbezüglich ist durch die politische Arbeit
einiges vorangekommen.
Die Sicherheitslage in und um Mogadischu und in
Teilen Süd- und Zentralsomalias hat sich deutlich verbessert. AMISOM, also die Mission der Afrikanischen
Union in Somalia, hat bei der Verdrängung Al-SchababMilizen gute Erfolge erzielt. Die jüngsten Anschläge haben aber auch gezeigt, dass die Lage immer noch fragil
ist. Das heißt, es ist richtig und geboten, dass wir mit unserem Engagement zum Beispiel die Schifffahrtsrouten
weiter schützen, dass wir als Handelsnation die Seefahrtswege verteidigen, dass wir unsere Staatsbürger,
aber auch die Bürger unserer Partner weiter schützen.
Beim Aufbau der staatlichen Strukturen in Somalia
gibt es ebenfalls Fortschritte. Seit September hat Somalia mit Hassan Sheikh Mohamud einen neuen Präsidenten und seit November eine vom Parlament bestätigte
Regierung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
hat bereits am 18. September letzten Jahres einstimmig
das Ende der Übergangsphase anerkannt. In vier Jahren
soll es dann zu allgemeinen Wahlen kommen. Ich darf
Ihnen mitteilen, dass Deutschland seit kurzem wieder
durch eine Botschafterin bei der somalischen Regierung
akkreditiert und Deutschland damit wieder vor Ort vertreten ist. Damit konnten wir eine mehr als 20-jährige
Phase ohne förmliche Vertretung beenden. Auch das ist
Ausdruck der Normalisierung der Lage in Somalia.
Abermals will ich aber hinzufügen, dass die Lage unverändert fragil ist.
Es ist also nicht alles gut in Somalia. Es bleibt noch
viel zu tun, bevor wir von einer stabilen Staatlichkeit in
Somalia sprechen können. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen den eingeschlagenen Weg entschlossen fortsetzen: durch politische Unterstützung,
durch Entwicklungszusammenarbeit - übrigens auch
durch humanitäre Hilfe, wo sie weiterhin nötig ist - und
nicht zuletzt durch unsere Beteiligung an der EU-geführten Operation Atalanta.
Die völkerrechtlichen Grundlagen dieses Einsatzes
bilden weiterhin die Resolutionen des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen, die Beschlüsse des Rates der
Europäischen Union sowie die Zustimmung der somalischen Regierung.
Für die Bundesregierung beantragen der Bundesverteidigungsminister und ich hier die Verlängerung des
Mandats ohne inhaltliche Veränderung. Was wir im letzten Jahr beschlossen haben, hatte Hand und Fuß. Es war
erfolgreich. Wir sollten es in diesem Jahr fortsetzen.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Karin Evers-Meyer.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Bundestagsfraktion ist für eine Fortsetzung der
EU-geführten multinationalen Operation Atalanta auf
See. Ich wiederhole das noch einmal: auf See. Die Operation ist erfolgreich. Die Bundeswehr hat im Rahmen
von Atalanta mitgeholfen, die Piraten vor der somalischen Küste zurückzudrängen. Seit Mai 2012 hat es dort
keine Schiffsentführungen mehr gegeben, immerhin in
einem Seegebiet, das größer als der ganze europäische
Kontinent ist. Die professionelle Einsatzplanung und das
konsequente Vorgehen der beteiligten Truppen haben bewirkt, dass sich das Geschäftsmodell Piraterie nicht
mehr lohnt. Die Bundeswehr hat ihren Anteil an diesem
Erfolg, einen großen Anteil.
Als SPD-Fraktion hätten wir daher heute gern für eine
Verlängerung des Mandats gestimmt. Leider macht die
Bundesregierung uns diese Zustimmung erneut unmöglich.
({0})
Wieder verbindet sie in ihrem Antrag die Mandatsverlängerung mit einer Ausweitung des Einsatzes auf die
Küstengewässer und das Staatsgebiet von Somalia einschließlich des Luftraums. Dem stimmen wir auch heute
nicht zu. Der Auftrag von Atalanta ist der Schutz der
Schiffe, die im Rahmen des UN-Welternährungsprogramms mit Hilfsgütern für Somalia unterwegs sind. Die
Erfolgsquote von Atalanta liegt bei 100 Prozent. Wir bezweifeln allerdings nach wie vor den militärischen Nutzen der Mandatserweiterung.
({1})
Mit dieser Einschätzung sind wir nicht allein. Im vergangenen Jahr wurden nur ein einziges Mal tatsächlich
Ziele an der somalischen Küste angegriffen.
({2})
Über dieses eine Mal hinaus haben die Militärs vor Ort
offensichtlich keine Notwendigkeit für weitere Einsätze
an der Küste gesehen. Atalanta und die Bundeswehr sind
erfolgreich, ohne dass der Operationskorridor auf Küstengewässer hätte ausgedehnt werden müssen.
({3})
Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines erweiterten Mandats
für die Bundeswehr haben daher nicht zuletzt auch Fachleute aus den Reihen der Bundeswehr selbst.
({4})
Noch etwas, verehrte Kolleginnen und Kollegen
- seien Sie sich dessen bitte bewusst -: Jede Erweiterung
des Mandats erhöht auch die Risiken für die Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz. Wollen Sie die Bundeswehr an
Somalias Stränden dem Risiko aussetzen, in unübersichtliche Gefechtssituationen zu geraten, obwohl sie dafür gar nicht ausgerüstet ist?
({5})
Wollen Sie das Risiko eingehen, dass Unbeteiligte von
der Bundeswehr in Kampfhandlungen verwickelt werden?
({6})
Es ist auch unsere Aufgabe, die Truppe und Zivilisten
vor unnötigen Risiken zu schützen. Genau das tun wir
als SPD-Fraktion. Wir sind unverändert gegen diese
Mandatserweiterung. Wir brauchen sie nicht, um erfolgreich zu sein. Deswegen werden wir unsere Soldatinnen
und Soldaten keinem zusätzlichen Risiko aussetzen.
Wir unterstützen ausdrücklich das deutsche Engagement am Horn von Afrika, wir unterstützen die Operation Atalanta, aber der Ausweitung des Mandats auf die
Strandgebiete und küstennahe Gewässer haben wir nicht
zugestimmt, und wir werden dies auch heute nicht tun.
({7})
Wir brauchen die Mandatsverlängerung - die brauchen
wir wirklich -, aber wir brauchen keine Mandatserweiterung.
Sehr geehrte Damen und Herren aus den Regierungsfraktionen, ich werde Sie trotz guter Argumente heute sicherlich nicht von Ihrer Überzeugung abbringen, dass
die Bundeswehr auch an der somalischen Küste aktiv
werden muss. Wenn aber schon das nicht geht, dann erlauben Sie mir die Frage: Warum stimmen wir über die
Mandatserweiterung nicht getrennt von der Mandatsverlängerung ab? Wir haben Ihnen mehr als einmal vorgeschlagen, dies getrennt zu behandeln: eine Abstimmung
über die Ausweitung des deutschen Einsatzes am Horn
von Afrika,
({8})
eine Abstimmung über die Verlängerung des Mandats
für Atalanta.
({9})
Sie haben das ohne Angabe von Gründen abgelehnt.
({10})
- Das tun wir; das habe ich ja eben gesagt. - Stattdessen
legt uns die Bundesregierung heute einen Antrag vor, der
die Verlängerung des Mandates inklusive der von uns
schon beim letzten Mal abgelehnten Ausweitung vorsieht.
Kolleginnen und Kollegen, damit haben Sie keine
Größe bewiesen.
({11})
Ihre Spielchen gehen doch zulasten der Soldatinnen und
Soldaten. Diese haben ein Recht darauf, dass sich aus
den Ergebnissen der Abstimmungen des Bundestages
über die Einsätze der Bundeswehr ein differenziertes
Bild ergibt.
({12})
Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir hier im
Hause größtmöglichen Rückhalt für ihre Einsätze organisieren.
({13})
Mit zwei getrennten Anträgen wären Sie diesen Erwartungen gerecht geworden.
({14})
Aber das wollten Sie nicht. Das Ergebnis lautet: Mit der
Verquickung von Mandatsverlängerung und -erweiterung haben Sie die berechtigten Erwartungen der Soldatinnen und Soldaten in Sachen Atalanta enttäuscht.
({15})
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben auch viele Mitglieder dieses Hauses vor den Kopf
gestoßen. Denn Sie wissen: Jede Entscheidung über einen Einsatz der Bundeswehr ist für viele Kolleginnen
und Kollegen eine schwerwiegende Gewissensentscheidung.
({16})
Meine Fraktion und ich hätten uns gewünscht, dass Sie
den Kolleginnen und Kollegen den gebotenen Respekt
zollen
({17})
und ihnen die Möglichkeit geben, das Gute und Richtige
vom Unnötigen zu trennen. Einsatzverlängerung und
-ausweitung sind zwei Paar Schuhe und nicht zwei Seiten derselben Medaille.
({18})
Lassen Sie mich nach der Feststellung dieses Ergebnisses noch etwas zur Situation in Somalia sagen. Wir
sind uns darin einig, dass es in der Region weiter darum
gehen muss, Ursachen zu bekämpfen. Symptome zu behandeln, reicht auf Dauer nicht aus. Die wesentlichen
Impulse, durch die die bewaffneten Kämpfer auf See gestoppt werden können, müssen aus Somalia selbst kommen, und da gibt es noch ganz viel zu tun.
Seit 1991 versinkt Somalia im Strudel aus Gewalt und
Chaos. Nicht nur Piraten bereiten Sorge, sondern auch
Islamisten der Terrorgruppe al-Schabab, die mit al-Qaida
kooperieren. Vornehmlich sind es bisher Soldaten aus
Uganda und Kenia, die sich den Al-Schabab-Milizen
entgegenstellen, sie zurückdrängen und aus den Städten
vertreiben. Eine dauerhafte Stabilisierung der Lage kann
nur die somalische Regierung in Mogadischu selbst herbeiführen.
Wir können allerdings helfen: bei der Herstellung einer verlässlichen Gerichtsbarkeit, der Errichtung rechtsstaatlicher Strukturen und der Eindämmung der Korruption.
({19})
Es gibt vieles, bei dem wir mithelfen können, um den
Piraten und den Al-Schabab-Milizen das Wasser abzugraben. Es gibt genug Möglichkeiten, Atalanta durch
durchdachte Maßnahmen an Land zu flankieren. Die
Ausbildung somalischer Rekruten im Rahmen der European Union Training Mission in Uganda ist ein gutes
Beispiel dafür. Hier zeigt die Bundeswehr ihre Leistungsfähigkeit, unter zum Teil schwierigsten Bedingungen. Seit April 2010 haben Soldaten der EU, auch der
Bundeswehr, etwa 3 000 somalische Soldaten ausgebildet. Sie sollen helfen, Somalia von innen zu stabilisieren.
Diesen Weg wollen wir als SPD-Fraktion weitergehen. Dafür haben Sie unsere Unterstützung. Wir fordern
Sie auf, hier endlich entschlossener zu Werke zu gehen,
anstatt die Glaubwürdigkeit eines guten und richtigen
Mandates durch eine nach wie vor fragwürdige Erweiterung aufs Spiel zu setzen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister
Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in den letzten Wochen und Monaten viel über die
Rolle der Europäischen Union im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik diskutiert. Wir stehen
mitten in der Vorbereitung eines Gipfels, auf dem wir
uns im Dezember dieses Jahres erstmalig mit der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschäftigen werden.
Wir können in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
gemeinsam mehr machen; wie viel mehr, darüber diskutieren wir. Wir sollten mehr tun. Deswegen fange ich
meine Rede in dieser Debatte über die EU-geführte Operation Atalanta so an.
Somalia ist, jedenfalls seit einiger Zeit, ein gutes Beispiel dafür, dass der Mehrwert der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht
darin besteht, dass man nur auf die Soldaten, das Zivile,
die Polizei oder das Ökonomische blickt, sondern darin,
dass man im Rahmen eines vernetzten Ansatzes wirkt.
Ich sage das deswegen, weil ich - gerade als Verteidigungsminister - zu denen gehört habe, die kritisiert haben, dass die ganze Last dessen, was in Somalia zu leisten war, auf den Soldaten lag, die Piraten bekämpft
haben, und der Kampf gegen die Hintermänner, das Wirken am Strand - dazu komme ich gleich -, die Stabilisierung der Regierung, all das vernachlässigt worden war.
Seit einiger Zeit ist vieles besser geworden. Darüber
freuen wir uns, und deswegen geht es in Somalia - der
Außenminister hat das vorgetragen - auch voran.
Das Mandat, über das wir heute diskutieren - Atalanta -, ist ein EU-Mandat. Für die gleichen Gewässer
gibt es aber auch ein NATO-Mandat, in diesen Gewässern agieren auch andere Staaten - ich weiß nicht, ob das
bekannt ist; ich nenne einmal einige dieser Staaten - die
Vereinigten Arabischen Emirate, China, Thailand, sogar
der Iran, Indien, Malaysia, Russland, Saudi-Arabien,
Singapur und Japan. Sie alle versuchen teils mit eigenen,
unabhängig operierenden Schiffen Piraten zu bekämpfen
und sind erfolgreich dabei.
Interessanterweise wird das alles von einer Stelle aus
koordiniert. Ich erwähne das nicht nur deswegen, weil es
eine gute Zusammenarbeit zwischen EU und NATO
gibt, die einen leise fragen lassen kann, ob die Mandate
nicht auf Dauer - in welcher Weise auch immer - zu einem Mandat zusammengelegt werden könnten, ich erwähne das auch deswegen, weil wir es schaffen, mit einzelnen Staaten, die sich einem gemeinsamen Anliegen
verbunden fühlen, so zusammenzuarbeiten, dass ein gutes Ganzes dabei herauskommt.
Die Dinge sind nicht nur durch den Einsatz der Soldaten besser geworden, sondern auch durch eine Verbesserung der Ausrüstung der Schiffe und durch - natürlich
haben wir darüber diskutiert, und das ist durchaus zu
problematisieren - die Entsendung privater Escort
Teams, die Schutz bieten sollen. Wir haben in der letzten
Woche ein entsprechendes Gesetz für deutsche Zertifizierungen verabschiedet. Das alles sind Beiträge, die die
Situation verbessert haben, und die zeigen: So ein Einsatz geht nur gemeinsam.
Die nötige Gemeinsamkeit hatten wir auch in diesem
Parlament. Liebe SPD, als ich Frau Evers-Meyer gehört
habe, musste ich an einen alten Spruch von Konrad
Adenauer denken: Geht es nicht eine Nummer kleiner?
Sie haben behauptet, wir würden das Leben der Soldaten
gefährden, wenn es um das Wirken am Strand geht, und
wir sollten Sie in Ihrer Gewissensnot nicht überfordern
mit all dem.
Ich will Ihnen einmal sagen: Wir reden über einen
Wunsch der Soldaten. Es war ein einstimmiger Beschluss aller EU-Staaten - egal wer dort regiert hat -,
den Einsatz so durchzuführen. Wir haben von Anfang an
gesagt: Das ist keine große qualitative Veränderung, sondern nicht mehr und nicht weniger als eine nützliche
kleine zusätzliche Option.
Sie haben da eine riesige Eskalationsgefahr gesehen
und haben danach gefragt, ob man Zivilpersonen wie
Fischer überhaupt von Piraten unterscheiden könne. Es
hat einen Vorfall gegeben; Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 2012
führte ein solcher Einsatz von Hubschraubern auf dem
Land zur Zerstörung mehrerer Piratenskiffs und mehrerer Außenbordmotoren. Es gab keine zivilen Verletzten,
aber der Einsatz hatte eine ziemlich abschreckende Wirkung. Wir wissen ja ganz genau, wo sich die Infrastruktur der Piraten befindet, und wir haben beim letzten Mal
im Ausschuss die Bilder alle gezeigt. Wir können Ihnen
jetzt auch Bilder zeigen: Es gibt diese Infrastruktur nicht
mehr am Strand; daher muss man sie auch nicht mehr
bekämpfen. Deswegen sollten wir aber dieses Mandat
- so wie es ist - fortsetzen.
({0})
Denn wir haben gezeigt, dass unsere Soldaten mit solchen Optionen maßvoll, vernünftig, deeskalierend und
im Ergebnis effektiv umgehen. Deswegen wiederhole
ich: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?
Ich verstehe, dass Sie Schwierigkeiten damit haben,
so kurz vor der Bundestagswahl aus einer Ablehnung
eine Zustimmung zu machen. Das kann ich politisch verstehen. In der Sache ist es jedoch nicht richtig. Bitte machen Sie Ihre Kritik eine Nummer kleiner; das ist auch
eine Ermunterung an den nächsten Redner von den Grünen, der vielleicht Ähnliches vortragen wollte. Ich bitte
Sie also für die Bundesregierung - gemeinsam mit meinem Kollegen Westerwelle - um die Verlängerung dieses Mandats.
Wir sind uns einig: Das kann nur in einem gemeinsamen, vernetzten Ansatz funktionieren. Wir alle sollten
unsere Soldaten in der ganzen Breite des Mandats unterstützen.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vor beinahe genau 20 Jahren, am
21. April 1993, befahl der damalige Verteidigungsminister Rühe von der CDU den Bundeswehreinsatz im Rahmen der Mission UNOSOM II. Ich erinnere mich noch,
dass ich damals bei einer Protestaktion vor dem Kanzleramt in Bonn eine Salami zerschnibbelt habe.
({0})
Damit wollte ich darauf hinweisen, dass dieser Einsatz
Bestandteil einer Salamitaktik ist, um die deutsche Öffentlichkeit daran zu gewöhnen, dass deutsche Soldaten
wieder in Kriege ziehen.
({1})
Diese damalige Salamitaktik ist leider aufgegangen,
und auch Sie, Herr Minister, praktizieren sie weiter;
denn durch die schrittweise Ausweitung
({2})
wollen Sie sozusagen immer weitere Kreise für diese
Militäreinsätze ziehen.
Heute wird die Bundeswehr in aller Welt eingesetzt,
als ob das selbstverständlich wäre. Die Kollegin EversMeyer hat eine vorsichtige Anfrage zu einem ganz konkreten Mandat gestellt und ist hier mit der geballten
Macht der Ministerreden abgestraft worden. Das kann
doch wohl so nicht sein!
({3})
Wir müssen heute wieder über die Verlängerung des
Atalanta-Militäreinsatzes sprechen, und zwar auch deshalb, weil alle Bundesregierungen seit 1990 immer wieder auf militärische Lösungen für die Probleme dieser
Welt gesetzt haben. Wir müssen uns aber 20 Jahre später
fragen: Welches dieser Probleme ist wirklich gelöst worden?
({4})
Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ich
als Geschäftsführerin einer Friedensorganisation gearbeitet. Dabei habe ich gelernt: Wenn ich staatliche Mittel
für Friedensprojekte haben möchte, dann muss ich sehr
überzeugende Anträge stellen und vor allem begründen,
dass die Projekte innovativ und nachhaltig sind. Das
Ganze muss man evaluieren, um die Wirksamkeit zu belegen. Sonst gibt es kein Geld.
Großzügig sind Sie immer nur dann, wenn es um Militäreinsätze geht. Die Bundesregierung lässt sich diesen
Einsatz von 340 Soldaten jedes Jahr mehr als 100 Millionen Euro kosten. Das ist mehr als dreimal so viel, wie
Sie für alle 300 Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes,
die in 40 Ländern der Welt für Frieden und Versöhnung
arbeiten, insgesamt ausgeben.
({5})
Ihre militärfixierte Politik verschleudert aber nicht
nur Geld. Das Schlimme ist: Sie kostet auch Menschenleben. - Das ist wirklich ein Skandal.
({6})
Innovation und Nachhaltigkeit: Wo sind sie in diesem
Konzept? Sie greifen immer wieder zum gleichen untauglichen Mittel, und wenn dieses Mittel keinen Erfolg
bringt, dann erhöhen Sie einfach die Dosis oder definieren die Ziele so um, dass es nach Erfolg aussieht.
Ich habe im Antrag der Bundesregierung einen ganz
richtigen Satz gelesen. Er lautet:
Die nachhaltige Lösung des Piraterieproblems liegt
… in der nur langfristig zu erreichenden Stabilisierung der Verhältnisse an Land.
({7})
Ich muss Sie wirklich fragen: Wie nachhaltig ist das,
was wir hier tun? Wie nachhaltig ist es, wenn Sie diesen
Einsatz Mal um Mal verlängern? Wir alle wissen nämlich: Es müsste eigentlich eine politische Lösung geben,
die nicht nur auf eine Bürgerkriegspartei setzt, sondern
alle Konfliktparteien, die lokalen Autoritäten und die Zivilgesellschaft auch in politische Prozesse einbindet.
({8})
Tun Sie doch ein einziges Mal das, was Sie von jeder
kleinen Entwicklungsorganisation verlangen: Evaluieren
Sie diesen Einsatz!
Ich habe hier nur davon gehört, dass alles erfolgreich
ist. Natürlich ist die Zahl der Piratenangriffe zurückgegangen, aber auf die Frage, was die konkreten Ursachen
dafür sind, haben ja selbst die Minister zugegeben, dass
sie sich nicht sicher sind, woher das kommt.
({9})
Ist das wirklich eine Folge von Atalanta, oder hat das
vielleicht mit der veränderten Situation an Land oder mit
dem veränderten Umgang der Reedereien mit den Risiken zu tun? Das müsste man doch durch unabhängige
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einmal ordentlich evaluieren, bevor man diesen Einsatz hier wieder verlängert.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von den Grünen, Sie haben sich letztes Jahr mit teilweise
guten Argumenten gegen die Ausweitung des Mandates
auf das Festland gewandt. Ich hoffe, das haben Sie noch
nicht vergessen.
Die Linke war jedenfalls von Anfang an gegen diesen
Militäreinsatz,
({11})
und so wird es auch bleiben.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion hat dem Atalanta-Einsatz bis zum letzten
Jahr immer zugestimmt. Im Auftrag der UNO werden
die Schiffe des Welternährungsprogramms zur Versorgung der Bevölkerung gegen Piraten geschützt, und der
freie Zugang zur hohen See für die zivile Schifffahrt in
der Region wird gesichert. Das ist richtig. Das unterstützen wir ausdrücklich.
Aber letztes Jahr hat die Bundesregierung gravierende Änderungen am Mandat vorgenommen.
({0})
Es war und ist hoch riskant, das Mandat auf Luft-BodenOperationen über dem Land auszuweiten, und zwar
2 Kilometer tief ins Landesinnere auf 3 000 Kilometer
Küstenlänge.
({1})
Das sei unbedingt notwendig, um die Piraterie erfolgreich zu bekämpfen, wurde gesagt. Da habe ich gedacht,
Herr Minister: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?
Wir alle wissen: Gerade bei Angriffen aus der Luft
drohen zivile Opfer. Das ist eine bittere Lehre der vergangenen Jahre. Das muss nicht, aber könnte die Gewaltspirale weiter antreiben und eine politische Lösung
des Somalia-Konflikts erschweren.
({2})
Solche Einsätze gehen natürlich einher mit zusätzlichen
Risiken für die Soldaten.
Das Argument „Es ist bisher nicht passiert, es hat nur
einen Einsatz gegeben, und es wird auch weiter nichts
passieren“ überzeugt uns in doppelter Hinsicht leider
nicht.
({3})
Dass es elf Monate keine entsprechenden Operationen
gab, heißt ja nicht, dass es sie in den nächsten Monaten
nicht geben wird oder nicht geben muss.
({4})
Und umgekehrt: Die Tatsache, dass es kaum entsprechende Operationen gab, entkräftet ja Ihr Argument, die
Mandatsveränderung sei für eine erfolgreiche Bekämpfung der Piraterie unbedingt erforderlich gewesen. Das
ist ja dann offenkundig nicht so.
({5})
Deswegen werde ich meiner Fraktion empfehlen, sich
bei der Abstimmung über die Verlängerung dieses Mandats wie letztes Jahr zu enthalten.
({6})
In den vergangenen Monaten haben wir eine zunehmende Stabilisierung in Somalia erlebt. Die Piraterie ist
weiter zurückgegangen. Die Al-Schabab-Milizen wurden durch den Einsatz der Afrikanischen Union und insbesondere durch Kenia zurückgedrängt. Der politische
Prozess macht Fortschritte, wenn auch sehr kleine. Doch
es bleibt unklar, welche weiteren Schritte die Bundesregierung unternehmen will.
Wir haben im letzten Jahr einen Evaluierungsbericht
zum bisherigen Einsatz gefordert. Ein solcher Bericht
liegt wieder nicht vor. Dabei wäre das notwendig, um zu
sehen, welche Fortschritte oder auch Rückschritte es
gibt. Damit meine ich insbesondere den zivilen Bereich.
Wir brauchen eine intensive zivile Aufbauarbeit. Wir
brauchen einen Versöhnungsprozess, der lokale Führungseliten aus allen Landesteilen und die Zivilgesellschaft umfasst. Dazu gehört auch, die neue Regierung
unter Scheich Mahmud viel gezielter beim Wiederaufbau zu unterstützen. Die Weltbank macht es, der Internationale Währungsfonds auch, die Bundesregierung aber
leider nicht. Deswegen fordern wir von Ihnen: Füllen Sie
endlich Ihr eigenes Somalia-Konzept mit Leben, damit
die Menschen dort die Friedensdividende mehr spüren.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Als Herr Schmidt ans Rednerpult getreten
ist, habe ich zunächst einmal die Hoffnung gehabt, dass
er den eigenen Argumentationen im Ausschuss und an
anderer Stelle, etwa dort, wo sich die Grünen öffentlich
zu diesem Thema äußern, folgt und dann zu dem Schluss
kommt, diesem Mandat zustimmen zu können. All das,
was Sie als Konditionalität hier genannt haben, ist genau
das, worüber vorhin beide Minister gesprochen haben.
Nichts anderes hat die Bundesregierung hier getan, als
die Fortschritte im Rahmen dieser Mission zu beleuchten.
Ich wiederhole, worum wir gemeinsam mit unserer
Regierung bei jeder Mandatsverlängerung bitten: Wir erklären, dass wir davon überzeugt sind, dass eine rein militärische Lösung nie von Dauer sein kann. Vielmehr
sind wir davon überzeugt, dass militärische Komponenten Teil einer Lösung sind. Auch deshalb widerspreche
ich der Linkspartei, die hier sehr engagiert eine Totalablehnung vorgetragen hat. Gerade das Beispiel Atalanta
zeigt doch, wie hoch die Akzeptanz innerhalb der deutschen Bevölkerung ist, wenn eine Mission nachhaltig erfolgreich ist
({0})
und wenn sie in einen größeren politischen Rahmen eingebettet ist, wie ihn Herr Schmidt von uns hier so engagiert eingefordert hat. Es ist doch in der Tat so, dass wir
- nicht nur, was den bemerkenswerten Einsatz der Soldatinnen und Soldaten angeht, sondern auch, was die Entwicklungshelfer und das diplomatische Korps angeht alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen,
um Somalia in dieser schwierigen Phase zu unterstützen.
Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie, Herr
Schmidt - Sie haben am Ende gar keine Meinung geäußert; denn Enthaltung ist gar keine Meinung -: Geben
Sie bitte im Verlauf der Ausschussberatungen Ihrem
Herzen noch einmal einen Ruck und folgen Sie unserer
Argumentation. Wir sind ja auch gerne bereit, noch weiter mit Ihnen zu diskutieren und dies auch öffentlich zu
tun; das machen wir ja bei vielen Gelegenheiten. Aber
Ihre Enthaltung an dieser Stelle kann ich nicht nachvollziehen. Da empfinde ich es fast schon als konsequenter,
was die Fraktion die Linke macht, die sich hier wie bei
allen Mandaten verantwortungslos zeigt und sich dabei
in ideologischen Widersprüchen verheddert.
Was ich allerdings am wenigsten verstehe, Frau
Evers-Meyer, ist Folgendes: Sie hatten ja hier sehr groß
vorgetragen, dass Sie von uns die Trennung der Mandate
einfordern.
({1})
Es ist zu offensichtlich - Minister de Maizière hat es ja
auch angesprochen -, dass Ihr jetziges Verhalten mit
dem Wahltermin zusammenhängt;
({2})
denn Sie verabschieden sich hier aus einem Mandat, das
wir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben
({3})
und das aus Ihren eigenen Reihen - leider sehe ich Herrn
Kollegen Bartels gerade nicht - ja sogar gelobt wird.
Kollege Bartels lobt nicht das Mandat der Vergangenheit, vielmehr fand ich als aufmerksamer Leser der
Kieler Nachrichten vom 16. Januar dieses Jahres Folgendes - ich lese Ihnen das vor; ich kann Ihnen das nicht
ersparen -: Für besonders erfolgreich hält Bartels auch
die laufenden Marine-Missionen. Der Anti-PiratenEinsatz „Atalanta“ vor der somalischen Küste sei zu Beginn belächelt worden. Doch nach und nach sei es gelungen, den Piraten das Kaper-Geschäft deutlich zu erschweren: durch gesicherte Korridore für Handelsschiffe
und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen der Reeder. In
der Folge sind die Angriffe drastisch zurückgegangen.
2012 konnten die Piraten nur noch fünf Schiffe in ihre
Gewalt bringen - nach 25 im Vorjahr.
Wenn das Ihre Expertise dazu ist, dann verstehe ich
nicht, warum die SPD hier dem Mandat nicht zustimmen
will;
({4})
denn Herr Bartels hat recht mit dem, was er gesagt hat,
und er spricht hier deutlich von dem aktuellen Mandat
und von nichts anderem.
({5})
- Ich lasse die Zwischenfrage von Herrn Arnold natürlich gern zu; darauf freue ich mich.
({6})
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie
unsere Kollegen immer so gerne zitieren.
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass all das, was Sie vorgelesen haben, ausschließlich mit der Aufgabe der Bundeswehr auf See zu tun hat? All das, was Sie vorgelesen
haben, hat die Bundeswehr auf See erledigt.
Nein, stimmt ja gar nicht!
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass der
entscheidende Faktor für den Erfolg der Mission neben
dem großen Engagement der Streitkräfte - das ist wirklich wichtig - die Sicherheitsmaßnahmen der Reeder an
Bord sind? Ist Ihnen bekannt, dass kein einziges Schiff
mehr gekapert wurde, auf dem bewaffnete Sicherheitskräfte waren? Deshalb müssen wir auch darüber reden.
Ich stelle eine dritte Frage, Herr Kollege. Man kann ja
darüber reden, was an Land Sinn macht oder nicht. Aber
wenn wir etwas mandatieren, dann muss es doch Sinn
machen.
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass es in der ganzen Zeit nur ein erkanntes sogenanntes Piratencamp am Strand gab? Ist es
Ihnen ein Mandat wert, drei kleine Boote und eine Handvoll Außenborder zu zerstören?
({1})
Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass überhaupt kein
Piratengerödel am Strand liegt, weder vorher noch nachher, das bekämpft werden konnte und bekämpft werden
kann, sondern dass die Piraten vor und nach Ihrer
Mandatserweiterung immer alles aus den Dörfern herangeschleppt und sofort auf die größeren Schiffe hinausgebracht haben?
Das heißt, Herr Kollege: Müssen wir etwas mandatieren, was so marginal ist? Ich glaube, dazu sind unsere
Mandate zu ernsthaft. Darum geht es uns im Kern,
({2})
um genau das, was Ihr Minister gesagt hat.
Herr Kollege Arnold!
Ich bin fertig. - Das ist also genau das, was Ihr Minister gesagt hat: eine Nummer kleiner bei Ihrer Erweiterung.
({0})
Bleiben Sie bitte stehen, Herr Arnold?
Das Adenauer-Zitat muss Sie sehr getroffen haben,
Frau Evers-Meyer, nicht wahr? Aber Adenauer kann
man immer gut zitieren. Wir präsentieren Ihnen bei einer
der nächsten Debatten noch ein paar Zitate.
Ich habe Ihnen dazu nur Folgendes zu sagen, Herr
Arnold: Wir glauben und sind der festen Überzeugung
- ansonsten hätten wir es ja hier gar nicht so eingebracht -,
dass beide Komponenten zusammengehören. Wir sind
davon überzeugt - Sie können das gerne anders sehen -,
dass die Erweiterung des Mandats dazu beigetragen hat,
dass sich die Piraten um ihrer eigenen Sicherheit willen
defensiver verhalten. Wir würden es bedauern - das fänden wir nicht gut -, wenn die Zahl der Zwischenfälle gestiegen wäre. Wir sagen: Die Wirksamkeit eines Mandats macht sich auch daran fest - das haben wir übrigens
auch bei anderen Missionen schon diskutiert -, dass die
Zahl der Zwischenfälle sinkt. Dies darf unter militärischen Gesichtspunkten nicht außer Acht gelassen werden.
({0})
Wie gesagt, ich habe Herrn Bartels deshalb zitiert, weil
er sich auf das Mandat als Ganzes bezieht und hier keine
Differenzierung macht. Das gibt das Zitat eindeutig her,
und auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Wir werben dafür - damit beantworte ich Ihre Frage
ganz klar -, im Rahmen dieses Mandats die Piraten an
diesem Küstenstreifen auch logistisch zu bekämpfen.
Ein Detail: Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir
die Erweiterung des Mandats in unserer eigenen Fraktion kritisch begleitet haben. Ich habe damals an einer
Unterrichtung teilgenommen, die inhaltlich nicht dem
entspricht, was Sie in Ihrer Frage 2 oder 3 an mich behauptet haben. Vielleicht haben wir an unterschiedlichen
Unterrichtungen teilgenommen. Aber ich habe das anders in Erinnerung und widerspreche Ihnen deshalb in
diesem Punkt.
Ich bin der Meinung, dass wir das politische Engagement für Somalia bzw. für ganz Afrika - das soll mein
abschließender Punkt sein - fortsetzen sollten. Wenn
hier im Plenum nur schlaglichtartig über einzelne Mandate oder einzelne Aktivitäten in Afrika diskutiert wird,
dann ist das bedauerlich. Dass ausgerechnet heute
Abend so viele Kolleginnen und Kollegen da sind, finde
ich eine erfreuliche Tatsache.
({1})
Sie zeigt aber auch, dass wir unser Engagement in
Afrika auch dann, wenn es um nichtmilitärische Maßnahmen geht, genauso eifrig angehen müssen.
Ich bin deshalb der Meinung, dass die Afrika-Politik
insgesamt einen größeren Stellenwert verdient hat. Unser Kollege Hartwig Fischer, der sich auf diesem Gebiet
in den vergangenen Jahren sehr viel Ruhm erarbeitet hat,
macht immer wieder deutlich, dass wir uns dann, wenn
wir in Afrika nachhaltig erfolgreich sein wollen, dauerhaft verpflichten müssen. Deshalb ist ein militärischer
Beitrag, der zeitlich begrenzt ist und der mit einem dauerhaften Engagement im Idealfall wenig zu tun hat, nur
eine Komponente.
Ich bin Minister Westerwelle außerordentlich dankbar, dass er in die Debatte die politische Dimension
eingebracht hat, um so unser großes außenpolitisches
Engagement für Somalia zu begleiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Michael Groß, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konsens für eine moderne Infrastruktur - Die
Bundesverkehrswege solide finanzieren
- Drucksache 17/13191 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Infrastruktur verfällt. Die Industriebosse in Deutschland haben Angst davor, den großen Standortvorteil, den wir
hatten, zu verspielen. Ich glaube, das ist nach vier Jahren
kein gutes Zeugnis für die schwarz-gelbe Regierung,
ausgestellt von einer Gruppe, die eher Ihnen zugerechnet
wird.
In dem Bericht der Kommission „Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ wird ebenso die Sorge
um den Wirtschaftsstandort Deutschland zum Ausdruck
gebracht. Es ist genau diese Daehre-Kommission, die einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von jährlich
7,2 Milliarden Euro für die Straße, die Schiene und die
Wasserstraßen sieht. Auch das ist nach vier Jahren kein
gutes Fazit für die Regierung. Es geht aber nicht nur um
Arbeitsplätze, Güterverkehre und Logistik, sondern auch
um die Lebensqualität in Deutschland, bezahlbare Mobilität, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Die Akzeptanz
von Infrastrukturvorhaben wird letztendlich vom Nutzen
und von der Belastung der Menschen in diesem Land abhängen. Der Schutz vor Verkehrslärm beispielsweise ist
enorm relevant, wenn es darum geht, ob wir die Infrastruktur wie das Straßen- und das Schienennetz weiter
ausbauen können. Sie haben aber weder beim Klimaschutz noch beim Verkehrslärm noch bei der Barrierefreiheit etwas erreicht. Wir sehen hier eher Rückschritte
statt Fortschritte.
({0})
Sie werden mir recht geben, dass NRW eine große
Verkehrsdrehscheibe in Deutschland ist.
({1})
Aus gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Gründen brauchen wir gerade in Nordrhein-Westfalen
eine funktions- und leistungsfähige Infrastruktur aus
Straßen und Brücken; sonst sind Auswirkungen auf die
gesamte Bundesrepublik und die angrenzenden Länder
zu spüren. NRW darf nicht zum Nadelöhr der Bundesrepublik werden. Sonst muss demnächst bei den Prognosen ein Elefant durch das Nadelöhr. Das gilt es zu verhindern.
Von den 8,6 Milliarden Euro im Investitionsrahmenplan der Bundesregierung für den Neu- und Ausbau von
Schienenwegen soll NRW bis 2015 sage und schreibe
2 Prozent erhalten. Das sind circa 170 Millionen Euro.
So wenig wie noch nie! Das wird dem Bedarf nicht gerecht. Von den bundesweit rund 7 Milliarden Euro Bundesregionalisierungsmitteln erhält NRW etwa 16 Prozent. Das ist viel zu wenig.
Die SPD-Fraktion hat seit drei Jahren Dialoge geführt
und einen Infrastrukturkonsens erarbeitet. Die Ergebnisse dieses Konsenses sind in unserem Antrag zusammengefasst, der Ihnen heute vorliegt. Wir wollen wesentlich mehr Geld in die Infrastruktur stecken, und zwar
zusätzlich circa 2 Milliarden Euro jährlich. Wir brauchen ein Programm zur Sanierung der Bundesautobahnen mit dem Schwerpunkt Autobahnbrücken. Wir fordern ein nationales Verkehrswegeprogramm mit einer
klaren Priorisierung und der Beseitigung von Engpässen,
Knoten und Staus.
({2})
Die Finanzierung muss überjährig für fünf Jahre fixiert
werden, um Planungssicherheit herzustellen. Außerdem
brauchen wir eine verkehrsträgerübergreifende Netzplanung.
Wir brauchen einen verkehrsträgerübergreifenden
Finanzierungskreislauf und dürfen die Kommunen nicht
alleinlassen.
({3})
Es gibt Städte, die im nächsten Jahr nur zwei Straßen sanieren können, obwohl sie 21 sanieren müssten. Die
Bürger müssen in ihren Autos mit 10 Kilometern pro
Stunde über die Straßen fahren, weil Sie die Kommunen
alleinlassen, sie nicht unterstützen. Sie sorgen letztendlich dafür, dass die Menschen keine Lebensqualität mehr
in den Städten haben.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({4})
Das Wort hat der Kollege Reinhold Sendker von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende SPD-Antrag proklamiert nicht wirklich viel
Neues. In der Forderungsliste befinden sich Positionen,
die schon vorher bekannt waren. Etliches ist durch die
Koalition längst auf den Weg gebracht worden.
({0})
Im Blickpunkt des Antrags Ihrer Fraktion, Herr Kollege Groß, steht die Forderung nach zusätzlich 2 Milliarden Euro für die Verkehrsinfrastruktur.
({1})
Ja, wir benötigen dringend mehr Mittel für den Erhalt
sowie für den Aus- und Neubau der Verkehrsanlagen.
2012 und 2013 haben die Koalitionsfraktionen mit den
Investitionsbeschleunigungsprogrammen I und II fast
2 Milliarden Euro zusätzlich erreichen können. Ich füge
dem hinzu: Vor dem Hintergrund und den Ansprüchen
einer erfolgreichen Haushaltskonsolidierung ist dies ein
klarer Erfolg der Koalition und des Ministers, der dafür
sehr erfolgreich gestritten hat.
({2})
Sie sprechen den Substanzerhalt an und fordern Priorität für den Erhalt vor Aus- und Neubau mit Blick auf
Brückenbauwerke und insbesondere mit Blick auf Autobahnbrücken. In dieser Legislaturperiode hat die christlich-liberale Koalition dem Erhalt in der Infrastrukturfinanzierung ganz klar Vorrang eingeräumt.
({3})
Der Löwenanteil der Haushaltsmittel - hören Sie gut
zu! - wird mittlerweile für die Erhaltungsinvestitionen
verwandt;
({4})
bei den Bundesfernstraßen sind es in 2013 2,5 Milliarden Euro. Darunter ist aktuell bei Brücken und Tunneln
ein Bedarf von 830 Millionen Euro angezeigt, in den
nächsten Jahren von 1 Milliarde Euro. Allein diese Zahlen unterstreichen: Die Grunderneuerungen sind unausweichlich; Erhalt hat Priorität vor Neubau. Da sind wir
uns einig, und da werden wir auch Kurs halten.
({5})
Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,
LuFV, hat unser Minister gestern im Verkehrsausschuss
im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Brücken,
Tunneln und Bahnhöfen klar Stellung bezogen. Auch die
Instandsetzung von Schleusen steht längst auf der
Agenda.
({6})
Allein die Finanzmittel, die im Investitionsbeschleunigungsprogramm II für die Bundeswasserstraßen vorReinhold Sendker
gesehen sind, fließen zu 54 Prozent - das sollten Sie
festhalten - in dringende Erhaltungsmaßnahmen, zu
16 Prozent in die Verstärkung laufender Ausbau- und
Neubaumaßnahmen und zu 30 Prozent in wichtige Neubeginne. Aber gerade die Erhaltungsinvestitionen - das
lassen Sie mich hier bemerken ({7})
setzen Bestandsaufnahme und teils zeitaufwendige technische Untersuchungen voraus. Insofern sind zeitliche
Verzögerungen nicht unbedingt kritikwürdig.
Kritikfähig hingegen ist, dass in früheren Wahlperioden - lassen Sie uns auch davon einmal sprechen ({8})
unter den SPD-Verkehrsministern eindeutig zu wenig im
Bereich der Instandhaltung investiert worden ist. Hier
liegen die Versäumnisse.
({9})
Die SPD fordert in ihrem Antrag ferner, die infrastrukturellen Voraussetzungen für den Deutschland-Takt
auf der Schiene zu schaffen. Auch dieser Ansatz befindet sich bereits in der gutachterlichen Prüfung, wenngleich er nach dem Schweizer Modell wohl kaum in
Deutschland umsetzbar ist.
Die Kapazität des Schienennetzes für den Güterverkehr wollen Sie bis 2030 verdoppeln. Einerseits, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, fordern Sie
Vorrang für die Erhaltungsinvestitionen und viel Geld,
was aber den Spielraum für die Neu- und Ausbauinvestitionen weiter deutlich verringert, andererseits wollen Sie
hier verdoppeln. Wie Sie das machen wollen, bleibt
wohl Ihr Geheimnis. Ich stelle fest: Wirklich seriös ist
das nicht.
({10})
Wenn Sie schließlich das Instrument des Finanzierungskreislaufs ansprechen, dann verweise ich auch bei
diesem Punkt darauf, dass wir es längst geschaffen haben. Besonders der Finanzierungskreislauf Straße hat zu
Recht viel Lob erfahren. Im Gegensatz zu dem von Ihnen geforderten verkehrsträgerübergreifenden Finanzierungskreislauf leisten die Kreisläufe Schiene und Straße
mehr Transparenz und verdeutlichen vor allem den Bedarf des einzelnen Verkehrsträgers. Transparenz in der
Mittelverwendung und Transparenz beim Mittelbedarf das ist zielführend, und dieser Weg ist richtig.
({11})
In Ihrem Antrag geben Sie an, auch die Erschließung
der Fläche nicht zu vernachlässigen. Das beantragen Sie
hier in Berlin. Lassen Sie mich, Herr Kollege Groß, einmal vom Landtag von Nordrhein-Westfalen reden. Dort,
wo Sie regieren, erhalten wichtige Umgehungsstraßenprojekte in ländlicher Region keine Planungspriorisierung. Das passt nun gar nicht zusammen; da sind Sie
schlicht unglaubwürdig. Ich darf feststellen, dass auch in
dieser Beziehung der Antrag nicht gelungen ist.
({12})
Also: alles in allem wenig Neues im Antrag der SPD.
Er gibt uns aber Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass
die Koalition in der Schaffung moderner Infrastruktur in
dieser Wahlperiode
({13})
auf gutem Wege ist. Wir werden in Deutschland - lassen
Sie mich das abschließend feststellen ({14})
als starkem Logistikstandort, als Transitland und als
Wachstumslokomotive in Europa dank der christlich-liberalen Koalition vor allem bei den Güterverkehren
noch enorme Zuwächse zu verkraften haben. Dazu müssen wir das Verkehrsnetz insgesamt ertüchtigen. Diese
Herausforderung - eine große Herausforderung - ist
auch in der nächsten Wahlperiode bei der christlich-liberalen Koalition in guten Händen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine
Leidig das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
insbesondere von der SPD, wir Linke haben zu Beginn
und nicht zum Ende dieser Wahlperiode bereits einen
umfassenden Antrag eingebracht und die grundlegende
Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik verlangt,
und zwar für Klima- und Umweltschutz, für Barrierefreiheit, für soziale Gerechtigkeit und für neue Arbeitsplätze.
Es gibt tatsächlich einige Parallelen zu dem, was die
SPD-Kollegen hier fordern. Vor allem der Ausbau der
Schiene und das Ziel, die Bahn in der Fläche so zu entwickeln, dass Deutschland-Takt funktioniert, gehören
dazu.
({0})
Dies gilt auch für den Vorschlag, die Lkw-Maut auszuweiten. Wir haben vor zwei Jahren beantragt, dass sie
auf das gesamte Straßennetz ausgedehnt und in der Höhe
angehoben wird, wie in der Schweiz. Also: Einverstanden!
Sie wollen den Schutz vor Verkehrslärm deutlich verbessern. Das wollen wir auch. Deshalb hatten wir im November letzten Jahres in einem Antrag gefordert, dass
alle Menschen gleichermaßen vor Verkehrslärm geschützt werden müssen - egal ob sie an Straßen, an Güterzugtrassen oder unterhalb der Einflugschneisen von
Flughäfen wohnen. Das soll nicht nur gelten, wenn Strecken neu gebaut werden. Es geht um die Gesundheit und
das Wohlbefinden von Hunderttausenden, die schon
heute unter Verkehrslärm leiden. Wir verlangen, dass in
zehn Jahren an allen bestehenden Strecken Lärmschutz
verwirklicht ist und die lautesten Abschnitte in den
nächsten fünf Jahren saniert werden.
({1})
Die SPD hat übrigens mit den Koalitionsfraktionen gegen diesen Antrag gestimmt. Das finde ich sehr schade.
Aber das ist nicht der einzige Punkt, den ich hier kritisch
anmerken will.
Klar, was Sie hier vorstellen, ist mit Abstand sinnvoller als die Verkehrspolitik aus dem Hause Ramsauer.
Aber das ist auch nicht schwer.
({2})
Es gibt allerdings berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Immerhin - darauf wurde gerade verwiesen hat die SPD elf Jahre lang die Verkehrsminister gestellt.
({3})
Die A-Modelle, also die Privatisierung von Autobahnen,
sind zum Beispiel auf Ihrem Mist gewachsen.
Sie fordern in Ihrem Antrag den Vorrang für die
Schiene. Fehlanzeige! 2001 hat Ihr Verkehrsminister
Bodewig stolz verkündet, dass die Bundesregierung die
Ausgaben für den Straßenbau auf Rekordniveau erhöht
hat. Das war übrigens unmittelbar nach dem Klimagipfel. In der mittelfristigen Finanzplanung der zweiten
Schröder-Regierung sind die Straßenbaumittel gegenüber 2003 auf 4,9 Milliarden Euro erhöht, die Investitionen in die Schiene dagegen um 10 Prozent auf 4 Milliarden Euro gekürzt worden. Das ist wirklich skandalös.
In einem Kabinettsbeschluss vom August 2000 hat
sich die damalige Regierung aus SPD und Grünen übrigens für einen massiven Ausbau der deutschen Flughäfen ausgesprochen, um eine Verdopplung des Flugverkehrs bis 2015 zu ermöglichen. Tatsächlich ist diese
hoch subventionierte und umweltschädlichste Verkehrsart seither um über 50 Prozent gewachsen. Dazu schreiben Sie kein einziges Wort. Aber wir brauchen eine
Wende auch in der Flugverkehrspolitik. Rund ein Viertel
aller Flüge könnte relativ zügig auf die Bahn verlagert
werden. Genau das fordern wir mit unserem Konzept,
dazu ein ausreichendes Nachtflugverbot von 22 bis
6 Uhr mindestens und die Deckelung der Zahl der Flugbewegungen. Außerdem müssen endlich die direkten
und indirekten Subventionen abgeschafft werden. Dann
wäre auch mehr Geld da, zum Beispiel für ordentliche
Fahrradwege. Auch dazu, werte Kollegen von der SPD,
schreiben Sie kein Wort. Wer mit dem Fahrrad oder gar
zu Fuß unterwegs ist, kommt in Ihrem Verkehrsinvestitionskonzept gar nicht vor. Dabei werden die meisten aller Wege nicht motorisiert zurückgelegt.
Wie der Teufel das Weihwasser scheuen Sie den Begriff der Verkehrsvermeidung. Damit sind Sie ganz beim
Bundesverband der Deutschen Industrie. Der will nämlich mehr öffentliche Mittel für Lärmschutz - das hat der
Kollege Sendker gerade ausgeführt -, damit die Akzeptanz für noch mehr Lkws und noch mehr Flugzeuge
steigt. Aber auf keinen Fall soll darüber geredet werden,
wie man Wohlstand mit weniger Güterverkehr organisieren kann. Genau das aber ist unser Ansatz.
({4})
Verkehr ist keine Leistung, auf die man stolz sein sollte;
Verkehr ist Aufwand, den man möglichst gering halten
sollte, und vor allem ist er eine zunehmend unverantwortliche Last für Menschen und Natur. Davon ist in Ihrem Antrag leider nichts zu erkennen. Ich sage Ihnen:
Hier ist die Linke weiter. Wir wollen Mobilität für alle
mit weniger Verkehr.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Oliver
Luksic das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mobilität ist Ausdruck von Lebensqualität und wichtiger
Baustein für Wirtschaftswachstum. Ja, trotz vielfältiger
Bemühungen haben wir in der Tat Bedarf, hier noch ein
Stück mehr zu tun. Kollege Groß, Sie haben ein Zerrbild
der Realität dargestellt, beispielsweise in den Ländern,
in denen Sie mit den Grünen regieren, etwa in Rheinland-Pfalz. Was passiert denn da bei der Infrastruktur?
Die A 1 - der Kollege Schnieder hat mehrfach darauf
hingewiesen - soll nicht ausgebaut werden.
({0})
Die SPD hat ein bisschen Asphaltallergie. Insofern: Halten Sie sich mit Ihrer Kritik da mal ein bisschen zurück!
({1})
Wir haben in der Tat mehr Bedarf. Deswegen werden
wir in der nächsten Wahlperiode mit dieser Koalition zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssen. Wir
brauchen geschlossene Finanzierungskreisläufe für
Straße und Schiene.
Bei der Schiene - Kollege Groß hat es angesprochen haben wir die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, die wir in dieser Woche diskutiert haben. Es ist so,
dass nicht alle Gelder, die vorgesehen sind, von der Bahn
auch verbaut werden. Insofern gibt es hier ein Stück weit
Nachholbedarf.
Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön.
Herr Kollege Luksic, nachdem Sie Rheinland-Pfalz
erwähnt haben und Ihrem CDU-Generalsekretär in
Rheinland-Pfalz offenbar auf den Leim gegangen sind,
frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Koalition in Rheinland-Pfalz klar politisch beschlossen hat, dass der Lückenschluss der A 1 zum Bundesverkehrswegeplan angemeldet wird?
({0})
Lieber Kollege Herzog, ich glaube, die Kollegen der
Grünen in Rheinland-Pfalz sehen das massiv anders.
({0})
Alle Verlautbarungen dort besagen doch, dass das für die
Landesregierung keine Priorität hat. So ist es auch in
zahlreichen anderen Bundesländern: in Baden-Württemberg das Gleiche, in NRW auch.
({1})
Dort, wo Sie mit den Grünen zusammen regieren - der
Kollege Kühn wird es Ihnen nachher noch einmal sagen -,
wollen Sie die Infrastruktur nicht ausbauen. Deswegen
ist das, was die CDU in Rheinland-Pfalz gesagt hat, absolut richtig.
({2})
- Die Aufregung zeigt, dass da offenbar ein wunder
Punkt getroffen wurde.
({3})
Zum Thema Schiene. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass die Bahn nicht alle vorhandenen Mittel ausgenutzt hat! Deswegen ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung jetzt vorschlägt, 500 Millionen Euro
zusätzlich für Bahnhöfe und Brücken auszugeben.
({4})
Es ist ein gutes Programm, das wir jetzt auf den Weg
bringen.
({5})
Wir sehen es anders als Sie, was das Thema der zusätzlichen Belastung angeht. Sie wollen in Ihrem Antrag
unter die 12-Tonnen-Grenze gehen. Sie wollen die Ausdehnung der Maut auf Landes- und Kommunalstraßen.
Unsere Befürchtung ist, dass das, was Sie vorschlagen,
insbesondere das Handwerk und den Mittelstand trifft.
({6})
Deswegen sind wir dagegen, da bis auf 3,5 Tonnen herunterzugehen. Das ist der falsche Ansatz.
Die Daehre-Kommission hat die Daten vorgelegt; das
ist gut und richtig. Das ist eine wichtige Handreichung
für die Kollegen in Bund und Land. Wir, die Verkehrspolitiker aller Fraktionen, sind uns völlig einig, dass wir
stärker dafür werben müssen, dass die Infrastruktur als
Standortfaktor wahrgenommen wird.
({7})
Die Bodewig-Kommission wird hier mit Sicherheit weiter in die richtige Richtung arbeiten.
({8})
Entscheidend ist die Planungssicherheit. Herr Groß,
Sie sagen, dass wir mehr Geld für die Infrastruktur brauchen; das teilen wir. Kollege Sendker hat aber absolut zu
Recht darauf hingewiesen, dass in der mittelfristigen
Planung von Herrn Steinbrück die Mittel für die Verkehrsinvestitionen noch niedriger waren.
({9})
9,4 Milliarden Euro waren damals vorgesehen.
({10})
Die Große Koalition hat auch ungefähr in dem Rahmen
geplant.
({11})
Wir haben das Ganze jetzt auf 10 Milliarden Euro erhöht, zusätzlich 1 Milliarde Euro und 750 Millionen
Euro in diesem Jahr sozusagen auf den Tisch gelegt.
Klar ist: Immer dann, wenn Sie in der Verantwortung
waren, haben Sie durch Steuererhöhungen belastet, aber
die Verkehrsinvestitionen zurückgefahren. Das gehört
zur Wahrheit dazu.
({12})
Sie planen in der Tat eine Reihe von Steuererhöhungen. Ob davon etwas bei der Infrastruktur ankommt, da
haben wir wirklich große Fragezeichen zu setzen.
({13})
Völlig klar ist, Kollege Kahrs, dass das, was Sie uns vorschlagen, wirklich wenig Substanz hat.
({14})
Sie haben während Ihrer eigenen Verantwortung weniger
Geld ausgegeben. Insofern sind Sie da leider wenig
glaubwürdig. Ich erinnere beispielsweise an die Mautlüge. Insofern hat die SPD während ihrer Verantwortung
den Stau, den sie jetzt beklagt, mit verursacht.
Es ist festzuhalten, dass diese Koalition in dieser Legislatur einiges vorangebracht hat: lärmabhängige Trassenpreise, Schienenbonus, Eisenbahnregulierungsgesetz,
VZR-Reform, NABEG, Reform der WSV,
({15})
BF17, Liberalisierung des Fernbusverkehrs, Planungsvereinfachung. Das ist wirklich eine beachtliche Bilanz,
die wir vorlegen können.
Der Investitionshaushalt ist gestiegen. Wir haben zusammen mit dem Bundesverkehrsministerium zusätzliche Gelder erstritten, trotz der Sparbeschlüsse.
({16})
Wir haben auf der einen Seite konsolidiert, und auf der
anderen Seite wurden die Investitionen angehoben. Wir
können sagen, dass wir in Deutschland vier gute Jahre in
der Verkehrspolitik hatten und weitere vier gute Jahre
haben werden.
Vielen Dank.
({17})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Stephan Kühn das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Industrieland sind wir auf hochwertige
Verkehrsnetze angewiesen. Angesichts knapper Staatsfinanzen müssen wir aber klug investieren und die Infrastruktur klug anpassen und ausbauen. Deshalb ist es
wichtig und richtig, dass wir heute hier zusammensitzen.
Allerdings stelle ich fest, dass hier fast nur Verkehrspolitiker sind und wenige Haushaltspolitiker; die sollten aber
eigentlich auch an der Debatte beteiligt sein.
Der Abschlussbericht der Daehre-Kommission zeigt
die Baustellen in der Infrastrukturpolitik, die wir in der
nächsten Legislaturperiode anpacken müssen. Auch die
Erhaltungsbedarfsprognose für das Bundesfernstraßennetz offenbart einen stark ansteigenden Bedarf für den
Erhalt in Höhe von jährlich 3,7 Milliarden Euro. Derzeit
werden jährlich nur 2,5 Milliarden Euro für den Erhalt
aufgebracht. Die Ursache für den Nachholbedarf ist die
sträfliche Vernachlässigung des Substanzerhalts durch
eine auf Neubau fixierte Politik der Spatenstiche gerade
dieser Bundesregierung. Das sogenannte Infrastrukturbeschleunigungsprogramm von Verkehrsminister Peter
Ramsauer, die sogenannte Zusatzdreiviertelmilliarde im
Haushalt, ist genau das: ein Spatenstichprogramm. Der
Straßenneubau geht zulasten des Substanzerhalts. Bereits jetzt fehlen für die laufenden Projekte über 2 Milliarden Euro. Sie beginnen neue Projekte, obwohl Ihnen
das Geld fehlt und die Finanzierung der Projekte nicht
gesichert ist. „Erhalt vor Neubau“ bleibt oft ein Lippenbekenntnis. Jedes Jahr findet eine Zweckentfremdung
von Bundesmitteln statt, die eigentlich für den Erhalt
vorgesehen sind, aber in Neubauprojekte gesteckt werden, gerade vor Wahlen. Das führt zum Substanzverzehr.
Nach der Grundkonzeption für den nächsten Bundesverkehrswegeplan soll Investitionen in den Erhalt der Infrastruktur Vorrang vor Neu- und Ausbau eingeräumt
werden. Ohne eine längst überfällige verkehrspolitische
Neuausrichtung der Infrastrukturpolitik bleibt der Ruf
nach neuen Finanzierungsinstrumenten wirkungslos. Zuerst brauchen wir eine verbindliche Prioritätensetzung
über Verkehrsprojekte, dann können wir über mehr Geld
reden, nicht andersherum.
({0})
Es schadet auch der Glaubwürdigkeit von Politik,
wenn die Länder immer längere Wunschlisten mit neuen
Vorhaben einreichen, obwohl jedem klar sein müsste,
dass die Kluft zwischen verfügbaren Mitteln und Projektwünschen unüberbrückbar ist. Ich nenne eine Zahl:
Das Restvolumen des sogenannten vordringlichen Bedarfs bei der Straße im Bundesverkehrswegeplan beträgt
42 Milliarden Euro. Das heißt, der aktuelle Bundesverkehrswegeplan ist hoffnungslos überzeichnet.
({1})
Es besteht keine Chance, all diese Projekte zu realisieren. Das gehört zur Ehrlichkeit.
({2})
Wir brauchen eine Reform der Bundesverkehrswegeplanung, damit der verkehrsträgerübergreifende Ausbau
des Kernnetzes, also die Engpassbeseitigung auf den
Hauptachsen des Autobahn- und Schienennetzes, endlich im Vordergrund steht.
Nach so viel Übereinstimmung mit dem Antrag der
SPD zum Abschluss ein kritischer Hinweis zu Ihrer Forderung, die Erschließung der Fläche nicht zu vernachlässigen. Wir haben in dieser Woche die Ergebnisse einer
von der grünen Bundestagsfraktion beauftragten Studie
zu den regionalwirtschaftlichen Effekten von Straßenbau
erhalten. Ergebnis: Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen neuen Autobahnen und überdurchschnittlicher regionalwirtschaftlicher Entwicklung. Durch
den Bau weiterer Autobahnen lassen sich weder Erreichbarkeitsdefizite mindern noch die daraus resultierenden
Wachstumsschwächen beseitigen. - Als Instrument zur
Förderung der regionalen Wirtschaft taugt Autobahnbau
also leider nicht.
({3})
Trotzdem sollen weitere 1 000 Kilometer Asphaltschneisen durch die Republik gezogen werden. Milliardenteure
Autobahnprojekte wie die Nordverlängerung der A 14,
die Westverlängerung der A 20 oder die A 39 müssen
bei der Aufstellung des neuen Bundesverkehrswegeplans infrage gestellt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Karl
Holmeier das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem uns heute vorliegenden Antrag stellt die SPDFraktion ihren Ministern für die elf Jahre von 1998 bis
2009, in denen sie das Ministerium geführt haben, ein
miserables Zeugnis aus.
({0})
Im Antrag werden die Defizite in der Verkehrsinfrastruktur unseres Landes, die die SPD-Verkehrsminister verursacht haben, zutreffend beschrieben. Ich darf der Vollständigkeit halber ergänzen, dass wir dies schon zu
Beginn der Legislaturperiode erkannt haben. So heißt es
in unserem Koalitionsvertrag:
Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblieben.
Die Schlussfolgerung der SPD ist insofern nicht ganz
korrekt. Es war ihre Politik, die die heutigen Engpässe
verursacht hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsminister Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und
Tiefensee. Sie haben es über elf Jahre hinweg versäumt,
sich um den Erhalt der Bundesstraßen, der Autobahnen
und zahlreicher Brücken zu kümmern.
({1})
Die Straßen und Brücken sind doch nicht in den letzten
drei Jahren so schlecht geworden. Die Versäumnisse haben schon viel früher begonnen.
({2})
Der CSU-Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer muss
nun die Suppe auslöffeln, die ihm die SPD eingebrockt
hat.
({3})
Doch anstatt sich in Demut zu üben, schieben Sie die
Schuld auf die jetzige Bundesregierung. So geht es nicht.
({4})
Lassen Sie mich das korrekt darstellen: Die SPD war
es, die über Jahre hinweg zu wenig Geld in den Verkehrshaushalt gesteckt hat. Wir hingegen haben im
Jahr 2012 1 Milliarde Euro erkämpft und 2013 750 Millionen Euro.
({5})
Die SPD war es, die die Einführung der Lkw-Maut
verstolpert hat. Ihr Minister hat uns eine Verurteilung
durch das Oberverwaltungsgericht Münster beschert.
({6})
Wir müssen das nun mit einem Maut-Änderungs-Gesetz
ausbügeln. Ihr Minister Stolpe hat uns ein Schiedsverfahren beschert, weil er dilettantisch verhandelt und
keine klaren vertraglichen Regelungen für den Fall der
verspäteten Mauteinführung getroffen hat. Er hat sich
von Toll Collect über den Tisch ziehen lassen. Das müssen wir heute ausbügeln.
({7})
Die SPD war es, die nach der Einführung der Maut
die Mittel im allgemeinen Haushalt abgesenkt hat. Wir
hingegen haben mit dem neuen Finanzierungskreislauf
Straße einen historisch wichtigen Schritt für mehr Unabhängigkeit vom Verkehrsetat getan.
({8})
Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. Wilms?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie handhaben ja hier
mit allen möglichen Zahlen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass wir als Ergebnis der Daehre-Kommission
zwar ein Vermögen in Form der Infrastruktur in Höhe
von 1,1 Billionen Euro haben, aber auch einen täglichen
Vermögensverzehr von 13 Millionen Euro durch unterlassene Instandhaltung? Wir beschäftigen uns nämlich
nur mit Kosmetik. Ich hätte von Ihnen gerne einmal gehört, wie Ihr Verkehrsminister damit umgeht. Er macht
nämlich nur Spatenstiche und kümmert sich nicht um die
Substanz.
({0})
Wir haben den Etat im Jahr 2012 um 1 Milliarde Euro
und 2013 um über 700 Millionen Euro aufgestockt, und
ein großer Teil dessen wurde für Unterhalt und Sanierung verwendet. Aber das, was Sie sagen, reicht ja in die
Zeit der SPD zurück. Nicht die letzten drei Jahre sind am
Zustand der Straßen schuld.
({0})
Die SPD war es, die in den elf Jahren, in denen sie an
der Regierung war, den Bestand sträflich vernachlässigt
hat und sich stattdessen lieber auf dem internationalen
Parkett gesonnt und Verträge für grenzüberschreitende
Projekte mit teuren Verpflichtungen unterschrieben hat.
Wir hingegen legen einen klaren Schwerpunkt auf die
Sanierung des Bestandes der Straßen und sehen dabei einen erheblichen Nachholbedarf in Westdeutschland.
Ich könnte meine Auflistung beliebig fortführen. Wer
hat denn eigentlich den Verkehrswegeplan 2003 konzipiert mit all den falschen Prioritäten, den unzähligen
Projekte, die überhaupt nicht realisiert werden können?
Andere wichtige Projekten wurden nicht aufgenommen.
Ich könnte Bahnlinien usw. aufzählen.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole,
muss ich noch einmal klarstellen: Schuld an der aktuellen Misere
({1})
ist nicht die christlich-liberale Bundesregierung, schuld
ist die SPD.
({2})
Jetzt wollen Sie uns gute Ratschläge geben. Vielen
Dank, auf die können wir verzichten. Wir von der christlich-liberalen Koalition sind auf einem guten, auf einem
sehr guten Weg.
({3})
Wir werden es auch nach dem September 2013 sein.
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
die Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf Plus“
schaffen, durch die gewährleistet wird, dass besonders
dringliche Projekte ganz vorne angestellt werden.
({4})
Wir werden in der nächsten Legislaturperiode die
Einführung einer Pkw-Maut auf Autobahnen und ausgewählten Bundesstraßen angehen, um den Finanzierungskreislauf Straße zu stärken.
({5})
- Jawohl. Als ich hingegen den Vorschlag der SPD zum
Thema Maut gelesen habe, wäre ich fast vom Stuhl gefallen. Sie sollten über dieses Thema mit Ihren Mittelstandspolitikern sprechen. Heute Vormittag haben diese
erklärt, sie wollen den Mittelstand in Deutschland stärken. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen das gründlich
misslingen wird, wenn Sie auf allen Bundes-, Landesund Kommunalstraßen eine Lkw-Maut einführen. Die
kleinen und mittleren Handwerksbetriebe werden Ihnen
dann aufs Dach steigen.
({6})
Was Sie heute vorschlagen, ist ein Existenzvernichtungsprogramm. Ungeachtet der negativen Auswirkungen wird Ihnen jeder, der etwas von diesem Thema versteht, erklären, dass sich der technische Aufwand und
vor allen Dingen der Kontrollaufwand im Zuge der
Mauterhebung auf allen Straßen nicht im Ansatz rechnet.
Meine Ausführungen zeigen, dass unser Land alles
andere braucht als ein SPD-geführtes Verkehrsministerium und die Ratschläge der SPD.
({7})
Daher kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass wir den
vorliegenden Antrag der SPD ablehnen.
Vielen Dank.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Johannes Kahrs.
Sehr geehrter Herr Präsident! An dieser Stelle würde
man normalerweise sagen: Sehr geehrter Herr Minister;
aber er ist ja nicht da. Wenn wir über den Haushalt diskutieren, dann ist er mit seinen fünf Staatssekretären immer anwesend. Daran merkt man, welchen Stellenwert
man Fachpolitikern in diesem Hause beimisst. Statt fünf
Staatssekretären und einem Minister sitzt immerhin der
Kollege Scheuer hier, den ich sehr schätze.
({0})
Bei einem Minister und fünf Staatssekretären ist das allerdings ein bisschen ärmlich.
Wenn Sie die heutige Debatte verfolgt haben, werden
Sie festgestellt haben, dass CDU/CSU und FDP behaupten: Wir brauchen mehr Geld, sie hätten mehr Geld herangeschafft.
({1})
Als Haushälter kann ich nur sagen: Manchmal dient der
Wahrheitsfindung ein Blick in den Haushalt; denn dann
würden Sie merken, dass der Eckwertebeschluss zu Ihrem Haushalt - das sollten Sie sich als Fachpolitiker einmal näher betrachten - jährlich um 1 Milliarde Euro abgesenkt worden ist. In den nächsten vier Jahren werden
Sie jedes Jahr 1 Milliarde Euro weniger bekommen.
({2})
Das steht in dem Eckwertebeschluss. Lesen Sie das einmal nach. All das, was Sie hier erzählt haben, ist in der
Sache falsch. Ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern,
dass Sie noch keinen Blick in den Haushalt geworfen haben.
({3})
Angesichts der Tatsache, dass alle von Ihnen getroffenen Feststellungen auf der Sachebene falsch sind, sollten
Sie nachlesen, was in unserem Antrag steht. Wir fordern,
dass der Verkehrsetat um 2 Milliarden Euro erhöht werden soll, und das gegenfinanziert. Das sagen wir nicht
deswegen, weil die Straßen in einem guten Zustand sind,
sondern weil wir alle wissen, in welchem beklagenswerten Zustand die Straßen, die Verkehrswege und - auch
darauf muss man hinweisen - die Kanäle, zum Beispiel
der Nord-Ostsee-Kanal, in Deutschland sind. Wir hatten
das Geld zur Verfügung gestellt, wir haben für die Planungsreife gesorgt. Sie haben nichts gemacht, außer das
Geld aus diesem Bereich abzuziehen.
({4})
In der Sache wissen wir, dass Sie versagt haben. Hätte
es die Wahl in Schleswig-Holstein nicht gegeben und
hätte das Parlament keinen Druck ausgeübt, dann hätten
Sie kein Geld für den Nord-Ostsee-Kanal zur Verfügung
gestellt. Allein dem Druck der Opposition, unserem
Druck, ist es zu verdanken, dass wir jetzt ein Gesamtkonzept hinbekommen.
({5})
Ihr Minister ändert alle zwei Wochen seine Meinung. Ihr
Minister hat im Hinblick auf die Sanierung von einer
Perlenkette geredet: eine Maßnahme nach der anderen.
({6})
- Es ist ja schön, dass Sie hier herumbrüllen. Trotzdem
haben Sie Ihren Haushalt pro Jahr um 1 Milliarde Euro
abgesenkt.
Wenn man feststellt, wie Sie bei der Verkehrspolitik
versagt haben, dann fragt man sich natürlich, warum Sie
hier so laut herumhupen.
({7})
Ich glaube, dass liegt daran, dass Sie das Versagen der
- wie Sie immer so schön sagen - christlich-liberalen
Koalition in den letzten dreieinhalb Jahren hier verbergen wollen.
Wir wissen doch, dass wir für die Bundesfernstraßen
800 Millionen Euro mehr brauchen. Für die Brücken
brauchen wir 1 Milliarde Euro. Für die Schienenwege
brauchen wir 1 Milliarde Euro. Und bei den Bundeswasserstraßen brauchen wir sogar 1,5 Milliarden Euro.
({8})
Was Sie dem Industriestandort Deutschland bieten,
ist, dass Sie pro Jahr 1 Milliarde Euro aus dem Etat streichen, und sich dann hier hinstellen und herumhupen.
Das ist doch peinlich. Das kann doch gar nicht wahr
sein. CDU/CSU haben mit ihrer Politik in diesem Lande
versagt.
Dass Ihr Minister heute nicht hier ist, kann ich gut
nachvollziehen. Ich würde mich an seiner Stelle bei der
Leistungsbilanz, die ich hier vorlege, auch schämen.
({9})
Weil das so ist, sitzt auf der Regierungsbank nur der
arme Kollege Scheuer. Mit ihm kann man es ja machen.
Er muss es stellvertretend für all die anderen aushalten.
({10})
- Er ist ein feiner Kerl, aber in der Sache wissen wir,
dass die Regierung nichts gerissen hat.
Wenn man über Haushaltsklarheit und -wahrheit redet, dann muss man diese Blackbox Verkehrsetat vielleicht einmal aufbrechen. Vielleicht müsste jede neue
Maßnahme über 25 Millionen Euro durch den Fachausschuss und den Haushaltsausschuss gehen und einzeln
beschlossen werden, damit nicht die Mitarbeiter im
Ministerium, in den Landesministerien entscheiden, was
gebaut wird, sondern eine parlamentarische Kontrolle
stattfindet. Dann müsste jedes große Projekt individuell
im Haushalt abgebildet werden. Dann könnte man jährlich den Baufortschritt nachvollziehen. Dann kämen nur
noch Großprojekte in den Haushalt, die durchfinanziert
sind. Dann hätte man nicht dieses Elend, das Sie in den
letzten drei Jahren verbockt haben.
Von der SPD lernen heißt: Alles wird besser.
({11})
Senken Sie den Etat nicht um 1 Milliarde Euro pro
Jahr ab, sondern lesen Sie unseren Antrag. Lesen bildet,
und Denken hilft.
Glück auf!
({12})
Das war angesichts der späten Stunde eine muntere
Debatte. Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13191 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
- Drucksache 17/13082 29798
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/13259 Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingLothar Binding ({1})Dr. Barbara Höll
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13268 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthlePetra Merkel ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({5})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz, dessen wesentliche Maßnahmen wir bereits vor
knapp sechs Monaten in diesem Haus beschlossen haben
und das dann an der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat
gescheitert ist. Deshalb wende ich mich heute ganz besonders an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün. Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen wirklich
ernst mit dem Schließen sogenannter Steuerschlupflöcher ist.
Es besteht in diesem Haus in weiten Teilen Einigkeit,
dass es bei der Erbschaftsteuer im Hinblick auf die sogenannten Cash-GmbHs einen Missbrauchstatbestand gibt.
Es gibt deshalb auch eine Vorlage des BFH an das Bundesverfassungsgericht. Heute können wir eine Regelung
beschließen, die jenen Missbrauch und jene Gestaltungsmöglichkeit ganz massiv einschränkt. Nur zur Steuerverkürzung gegründete bzw. konstruierte Unternehmen
können auf Basis unseres Vorschlags, den wir heute beschließen, nicht mehr als Vehikel zur Vermögensverschiebung genutzt werden.
Es gibt auch einen Vorschlag des Bundesrats, den Sie
favorisieren; aber dieser Vorschlag ist hochgradig gefährlich. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Verwaltungsvermögenstest wäre für die Unternehmen ein Anreiz, jegliche Liquidität im Unternehmen zu vermeiden.
Das wäre eine dahin gehende Steuerung, dass man Liquidität aus dem Unternehmen heraushält. Was das für
den betrieblichen Alltag bedeutet, was das gerade in Zeiten der Krise bedeutet, ist klar: Verlust von Arbeitsplätzen und Gefährdung des ganzen Unternehmens.
Unser Vorschlag, den wir heute hier vorlegen, ist erheblich besser. Er ist vor allem praxistauglich. Die verfassungsrechtlich gebotene Zielgenauigkeit der Vergünstigungsregelungen wird mit unserem Vorschlag deutlich
erhöht. Indem wir die Zielgenauigkeit deutlich erhöhen,
schaffen wir auch die Missbrauchs- und Gestaltungsanfälligkeit ab. Wenn es Ihnen also ernst ist mit Ihrem Anliegen, Steuergestaltungsmodelle zu verhindern, dann
stimmen Sie heute zu.
({0})
Sie können heute auch beweisen, ob es Ihnen mit dem
Anliegen, den Mittelstand von Bürokratie zu entlasten,
wirklich ernst ist. Sie werden erklären müssen, warum
Sie sich hier gegen die Verkürzung der Fristen zur Aufbewahrung von Unterlagen bei Mittelständlern wenden,
({1})
obwohl das einer Entlastung beim Bürokratieaufwand in
Höhe von über 2 Milliarden Euro entspricht. Sie wenden
sich dagegen,
({2})
und das, obwohl Ihr Kanzlerkandidat, Peer Steinbrück
- ich muss es noch einmal sagen, auch wenn ich weiß,
dass das wehtut -, erst vor wenigen Wochen auf einer
Mittelstandstagung gesagt hat, dass man den Mittelstand
von unnötigen kostenträchtigen Regelungen befreien
muss.
({3})
Er hat dabei explizit die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen angesprochen.
({4})
Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen ernst ist mit
dem Wunsch, dass man rechtliche Betreuer und Leistungen von Bühnenregisseuren und Choreografen von der
Umsatzsteuer befreit.
({5})
Wenn Sie wie wir den besonderen Gewerbesteuerzerlegungsmaßstab bei Photovoltaikanlagen tatsächlich
wollen, dann stimmen Sie heute zu. Sie werden den
Menschen erklären müssen, warum Sie diesen Gesetzentwurf aufhalten. Sie werden ihnen erklären müssen,
warum Sie dadurch die längere Geltungsdauer bei Freibeträgen im Lohnsteuerabzugsverfahren verhindern, obwohl das nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern gerade
auch für die Steuerverwaltungen in den Ländern eine
Vereinfachung bedeuten würde. Sie werden erklären
müssen, warum Sie das nicht möchten.
Eine Frage, die ich Ihnen hier letzte Woche schon einmal gestellt habe, muss ich wiederholen:
({6})
Glauben Sie, dass zum Beispiel die zivilen Freiwilligendienstleistenden Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün
die von uns gewollte Steuerbefreiung ihres Taschengeldes aufhält, dass Rot-Grün das im Bundesrat weiterhin
blockiert? Ich glaube nicht, dass sie dafür Verständnis
haben.
Nehmen Sie die im Bundesrat aufgehaltenen Steuerbefreiungsvorschriften für die freiwillig Wehrdienstleistenden und die Reservisten. Wir wollen sie entlasten.
Wir wollen sie steuerlich gerecht behandeln. Hier liegt
der Gesetzentwurf. Stimmen Sie zu!
({7})
Die Opposition und damit auch die rot-grün regierten
Bundesländer müssen sich jetzt ihrer Verantwortung
stellen. Sie müssen ihre Blockadehaltung aufgeben, und
sie müssen aufhören, für dieses Land wichtige Maßnahmen immer nur mit Blick auf die Bundestagswahl im
Bundesrat zu blockieren und zu verhindern.
({8})
Sie von der Opposition waren es, die im Vermittlungsverfahren, das die meisten der heutigen Punkte enthielt,
den Stock in das laufende Rad gesteckt haben.
({9})
Damit haben Sie für den Crash dieses Gesetzentwurfs
gesorgt. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass dieser
Gesetzentwurf nicht noch einmal im Bundesrat scheitert.
Stimmen Sie zu, und sorgen Sie dafür, dass die Blockade
im Bundesrat endlich aufhört.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Ingrid Arndt-Brauer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gutting,
ich weiß nicht so recht, ob mir bei Ihrer Rede die Tränen
kommen sollten oder welchen Effekt Sie hier produzieren wollten.
({0})
- Ja, Sie hätten schon beim Jahressteuergesetz im
Vermittlungsausschuss zusammen mit dem Bundesrat
zustimmen können.
({1})
Alle Maßnahmen, über die wir heute reden, waren dabei: die Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer,
Bühnenbildner, Regisseure und Choreografen, die Steuerbefreiung des Taschengeldes beim zivilen Freiwilligendienst,
({2})
die Steuerbefreiung für Reservisten und Wehrdienstleistende. All diese Personengruppen hätten Sie schon vor
sechs Monaten beglücken können.
({3})
Sie haben von einem Stock zwischen den Speichen gesprochen. Was war das denn? Sie hätten auch noch die
Lebenspartnerschaften beglücken können. Sie hätten das
ganze Land mit einem Schlag glücklich machen können.
Das ging aus irgendwelchen ideologischen Gründen
nicht.
Jetzt werfen Sie uns vor, dass wir Ihr Gesetz verhindern. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen, den Sie hier einbringen, ist lediglich eine Krücke. Was bedeutet das im Ergebnis?
({4})
- Unser Kanzlerkandidat hat das bei einer Konferenz angedeutet.
({5})
Unser Kanzlerkandidat hat aber nicht angedeutet, dass
wir 2,5 Milliarden Euro übrig haben, um diese als Beglückung über die Welt zu schütten. So viel würde dieses
Gesetz kosten. Dieses Geld haben wir nicht.
({6})
Es kommt noch etwas dazu. Welche Konsequenzen
hat es, wenn wir die Aufbewahrungsfristen nur verkürzen, so wie Sie das möchten?
({7})
Sie springen nur ein kleines Stück. Sie wollen Bürokratieabbau, verzichten aber auf Steuereinnahmen, weil Sie
die Maßnahmen, die wir bräuchten, nicht vollziehen. Sie
wollen nicht mehr Steuerbeamte einstellen. Sie wollen
nicht mehr Betriebsprüfer einstellen.
({8})
- Moment, diese Forderung erheben Sie nicht gleichzeitig mit diesem Gesetzentwurf. Das müssten Sie aber ehrlicherweise tun. - Sie produzieren hier Steuerausfälle,
die nicht zu verantworten sind. Deswegen können wir
Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({9})
Jetzt schieben Sie da unseren Kanzlerkandidaten vor
nach dem Motto: Der hat das mal angesprochen. - Wenn
Sie all das umsetzen würden, was er angesprochen hat,
wären wir in dieser Republik schon ein Stück weiter.
({10})
Noch einmal. Ich finde das, was Sie hier tun, sehr
scheinheilig.
({11})
Sie hätten all die Maßnahmen, die Sie angesprochen haben und die wir bis auf die Verkürzung auch für sinnvoll
halten,
({12})
schon vor einem halben Jahr umsetzen können. Das haben Sie nicht getan, obwohl Sie im Koalitionsvertrag
auch Lösungen für die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften angekündigt haben.
({13})
Sie haben im Vermittlungsausschuss die ganze Sache
platzen lassen. Deswegen sitzen wir hier heute Abend
noch einmal. Für uns ist das kein Problem; denn wir sind
Arbeit am Abend gewohnt.
({14})
Aber Sie blockieren hier heute Abend den ganzen Apparat. Sie bekommen von uns natürlich keine Zustimmung.
Sie glauben, Sie könnten uns hier vorführen, aber jeder,
der das verfolgt hat, sieht, wie durchsichtig das ganze
Verfahren ist. Ich finde es schade, dass wir uns allen das
hier zumuten.
Ich möchte Sie noch einmal ermutigen: Gehen Sie mit
vernünftigen Zielsetzungen in den Vermittlungsausschuss, dann bekommen Sie auch vernünftige Ergebnisse.
({15})
Der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ohne mehr
Steuerbeamte, ohne mehr Betriebsprüfer und ohne angepasstes Verhalten können wir nicht zustimmen.
({16})
Ich möchte die Debatte hier nicht unnötig verlängern.
Ich denke, ich habe alles dazu gesagt. Ich finde es
schade, dass Sie so uneinsichtig sind; auch ein Tenor in
Richtung Mitleid wird Ihnen nicht helfen.
({17})
Wir können leider nicht zustimmen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie in den letzten vier Wochen eine gute
Politik gemacht hätten. Leider haben Sie das nicht geschafft. Das ist eine Sache mehr, die wir machen müssen. Wir werden es im September angehen. Einige von
Ihnen werden wir dann ja wiedersehen, alle wahrscheinlich nicht. Ich wünsche uns allen einen schönen Sommer.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk von der
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD! Liebe
Frau Arndt-Brauer, wir legen heute den Entwurf eines
Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen vor
und beziehen uns damit ausdrücklich auch auf die Aussage Ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.
({0})
Es ist erstaunlich, wie viel Beinfreiheit Sie Ihrem Kanzlerkandidaten zugestehen, wenn Sie sich hier hinstellen
und sagen, er habe das nur angedeutet.
({1})
- Sie können unserem Gesetzentwurf heute zustimmen.
Ich möchte nur kurz darauf hinweisen: Ihrem Kanzlerkandidaten scheint die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ja nicht so wahnsinnig wichtig zu sein;
({2})
denn er nimmt an dieser Debatte noch nicht einmal teil.
({3})
Insofern muss man feststellen: Vielleicht haben Sie gar
nicht so unrecht, dass Ihr Kanzlerkandidat wolkige Andeutungen macht. Aber wenn es wirklich zum Schwur
kommt, dann ist er ganz schnell weg. Er macht also
keine vernünftige Politik für den Mittelstand in Deutschland und keine vernünftige Steuerpolitik. Aber das kennen wir ja schon aus seiner Amtszeit als Finanzminister.
Insofern sind wir auch nicht besonders überrascht.
({4})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, um ein weiteres Thema aufzugreifen:
({5})
Eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen führt in den
Unternehmen, insbesondere in den mittelständischen
Unternehmen, zu einer Einsparung von Bürokratiekosten im Milliardenbereich.
({6})
Das kostet keinen einzigen Euro Steuergeld. Es sind
wirklich überflüssige Bürokratiekosten, die wir damit
einsparen.
({7})
Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist, die Bundesregierung aufzufordern, mehr Finanzbeamte und mehr
Betriebsprüfer einzustellen. Darf ich Sie von der SPD
einmal fragen: Was machen Sie denn in den Bundesländern, in denen Sie dafür verantwortlich sind, dass mehr
Finanzbeamte eingestellt werden?
({8})
Dazu höre ich von Ihnen nämlich gar nichts.
({9})
In Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in BadenWürttemberg höre ich dazu gar nichts von Ihnen.
({10})
Insofern: Kommen Sie doch bitte nicht mit diesem Argument! Führen Sie nicht das, was in der Verantwortung
der Bundesländer liegt, hier auf Bundesebene als Argument gegen diesen Gesetzentwurf an!
Sie sagen natürlich zu Recht, dass wir uns mit den
Themen, um die es in unserem Gesetzentwurf geht,
schon einmal befasst haben, nicht nur mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen, sondern zum Beispiel
auch mit der Umsatzsteuerbefreiung für Bühnenregisseure und der Steuerfreiheit des Taschengeldes für die
Jugendfreiwilligendienste. Übrigens, dadurch würden
80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende entlastet und
unterstützt werden.
({11})
80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende, das ist, denke
ich, eine beachtliche Zahl. Die jungen Menschen, die
diesen Dienst leisten, müssen wir unterstützen.
({12})
Deswegen sollten Sie diesem Gesetzentwurf hier im
Bundestag zustimmen.
Aber Sie haben natürlich vollkommen recht: Diese
Themen wurden, wie gesagt, schon im Bundesrat und im
Vermittlungsausschuss behandelt.
({13})
Aus dem Vermittlungsausschuss kam ein Vorschlag zur
Erbschaftsteuer. Dabei geht es um die sogenannten
Cash-GmbHs.
({14})
Mit dem Vorschlag, den der Vermittlungsausschuss gemacht hat - man muss Vorschläge ja auch einmal in
Ruhe bewerten -, hätte man deutlich über das Ziel hinausgeschossen.
({15})
Das wäre wirklich ein Angriff auf die Finanz- und Kapitalausstattung insbesondere von Familienunternehmen
gewesen.
({16})
Deswegen haben wir die Regelung zu den Cash-GmbHs
eindeutiger, detaillierter, treffsicherer gemacht, und zwar
wirklich nur im Hinblick auf missbräuchliche Gestaltungen.
({17})
Dass Sie an Themen wie der Kapitalausstattung, dem
Betriebsvermögen und der Bedeutung der Finanzausstattung insbesondere für mittelständische Unternehmen
überhaupt kein Interesse haben, sieht man daran, dass
Sie planen, eine Vermögensteuer einzuführen, die zwingend dazu führen würde, dass die Betriebsvermögen und
damit auch die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen reduziert würden.
({18})
Sie haben die Bedeutung von Eigenkapital in Unternehmen offenbar noch immer nicht verstanden.
({19})
Wenn Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gesagt hat,
dass eine Vermögensteuer Betriebsvermögen auf jeden Fall
nicht treffen würde - oder hat er das nur angedeutet? -,
({20})
muss man deutlich darauf hinweisen: Er kann das nicht
verhindern, Sie können das auch in Ihrer vollen Pracht
und Schönheit als SPD-Fraktion
({21})
nicht verhindern: weil eine Unterscheidung zwischen
Privatvermögen einerseits und Betriebsvermögen andererseits nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich ist.
({22})
Dementsprechend muss man deutlich sagen: Die Steuerpolitik, die Sie vorschlagen und die Sie über Ihre
Blockademehrheit im Bundesrat vertreten, ist ein Frontalangriff auf die mittelständischen Unternehmen in
Deutschland.
({23})
Wir haben in den letzten vier Jahren genau den umgekehrten Kurs eingeschlagen: Wir haben dafür gesorgt,
dass insbesondere die mittelständischen Unternehmen
gut arbeiten können, dass es genügend Arbeitsplätze
gibt. Das waren vier gute Jahre für Deutschland,
({24})
und das werden wir fortsetzen.
({25})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Axel Troost.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
meinen fast acht Jahren Bundestag habe ich in diesem
Parlament einiges an Mätzchen und Spielchen erlebt.
({0})
Die Abläufe im Zusammenhang mit dem Jahressteuergesetz 2013 bekommen in einer Liste der Absurditäten auf
jeden Fall einen Spitzenplatz: Der Bundestag hat gegen
die Opposition ein Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetz
ging an den Bundesrat. Im Vermittlungsausschuss war
im Prinzip Konsens hergestellt; doch dann ist alles an einem Punkt gescheitert. Anstatt dass man versuchte, wenigstens die restlichen Punkte vernünftig abzuarbeiten,
wurde ein neuer Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag
wurde vom Bundestag verabschiedet, ging wieder an
den Bundesrat und lag wieder im Vermittlungsausschuss. Jetzt sollen in einem dritten Anlauf noch einmal
Veränderungen vorgenommen werden.
({1})
Meine Redezeit ist leider begrenzt; aber ich will noch
einmal auf die geplante Verkürzung der Aufbewahrungszeiten eingehen. Zurzeit müssen Unternehmen Unterlagen zehn Jahre aufbewahren. Jetzt wird vorgeschlagen,
diese Frist auf fünf Jahre zu verkürzen.
({2})
- Es sind je nachdem zehn Jahre oder acht Jahre; es geht
ja um unterschiedliche Unterlagen.
({3})
Für die Unternehmen ist eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen natürlich angenehm. Ich habe selbst ein
Unternehmen und weiß, was für Aktenberge man da aufbewahren muss.
Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf geschätzt, dass die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
für den Staat Kosten von 1 Milliarde Euro verursacht.
Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie kommt
diese Milliarde zustande? Die Antwort war: Ursächlich
ist, dass die Auswertung von Steuerunterlagen für Betriebsprüfungen und Steuerfahndung zeitlich nur eingeschränkt möglich ist.
({4})
Zu deutsch: Wenn die Aufbewahrungsfristen verkürzt
werden, sind die Steuerprüfer nicht mehr in der Lage, so
zu prüfen, wie sie das eigentlich machen müssten, und
dadurch entstehen Steuerausfälle von - geschätzt; es
sind möglicherweise viel mehr - 1 Milliarde Euro. Das
ist doch absurd. Haben Sie denn aus dem Fall Hoeneß
und aus anderen Fällen überhaupt nichts gelernt?
({5})
Sie marschieren genau in diese Richtung weiter.
Jetzt sagen Sie: Da müssen die Länder ran, das ist
doch deren Problem. Nehmen wir einmal das Land Bayern. In Bayern wird ein mittelgroßes Unternehmen im
Durchschnitt nur alle 20 Jahre geprüft, ein Kleinunternehmen sogar nur alle 40 Jahre.
({6})
- Alles ordentliche Steuerzahler, und es gibt keinerlei
Rückstände. Aber warum sollen dann die Aufbewahrungsfristen verkürzt werden mit dem Argument, dass
die Unternehmen entlastet werden sollen? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Es geht nicht nur um die Einnahmen,
({7})
es geht in dieser Republik auch um Steuergerechtigkeit.
({8})
Was Sie hier machen, hat damit überhaupt nichts zu tun,
sondern ist das genaue Gegenteil.
({9})
Das Gleiche gilt für die Cash-GmbH im Bereich der
Erbschaftsteuer. Sie haben sich sozusagen durchgesetzt
damit, dass bei der Vererbung von Betriebsvermögen ein
Sonderweg gewählt werden kann.
({10})
Jetzt ist aber klar: Der wird, wie immer, bis zum Gehtnichtmehr missbraucht.
Sie haben jetzt einen Kompromiss aufgelegt, der aber
kein wirklicher Kompromiss ist, weil er das Ganze nur
eingeschränkt verändert. Der ursprüngliche Vorschlag
vom Bundesrat und vom Vermittlungsausschuss hätte
wesentlich mehr Ergebnisse gebracht. Insofern ist auch
dieser Weg für uns nicht akzeptabel.
Wegen dieses ganzen Kuddelmuddels werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wohl wissend, dass
darin zum Beispiel Regelungen für Bühnenregisseure
und andere enthalten sind, denen wir gerne helfen würden.
({11})
Wir können aber nicht zustimmen, wenn das mit solchen
Kröten verbunden ist.
Insofern wird das Gesetz noch einmal in den Vermittlungsausschuss gehen, und wir werden dann mit RotRot-Grün und nach Diskussionen mit Ihnen hoffentlich
zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat nun Thomas Gambke für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs hatte ich eigentlich denselben Eindruck wie
heute Morgen, als der Herr Minister Rösler hier gesprochen und sich mit dem Thema Energiewende beschäftigt
hat.
({0})
Er hat gesagt: Wir sind in der Regierung, aber Sie von
der Opposition tragen die Verantwortung dafür, dass wir
das nicht hinkriegen.
({1})
Der Satz, Herr Volk, beinhaltet zwei richtige Aussagen.
Es ist erstens in der Tat richtig: Schwarz-Gelb stellt die
Regierung.
({2})
Die zweite richtige Aussage ist: Sie kriegen das nicht
hin. - Genau das trifft auch auf den vorgelegten Gesetzentwurf zu.
({3})
Das ist doch kein Gesetzentwurf; das sind Bruchstücke eines Jahressteuergesetzes. Wir hatten doch einen
fertigen Gesetzentwurf. Den haben Sie gekippt. Jetzt haben wir ein paar Einzelregelungen.
({4})
Herr Gutting, als Berichterstatter haben Sie das ja in bemerkenswerter Offenheit geschrieben. Sie haben geschrieben - ich darf das zitieren -:
Allen sei aber klar, dass dann sicherlich noch an der
einen oder anderen Stelle nachgebessert werden
müsse.
Und das legen Sie uns heute hier vor, einen Gesetzentwurf, zu dem Sie selber sagen: „Da muss man nachbessern“? Das ist doch unmöglich. Das können Sie uns hier
doch nicht vorlegen.
Dabei gibt es ein fertiges Vermittlungsergebnis. Dem
könnten wir sofort zustimmen. Wir haben den Antrag
gestellt. Sie haben ihn abgelehnt, nicht wir.
({5})
Das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik - Sie haben das sehr
schön beschrieben - ist ein Flickenteppich, genauso wie
Ihr Gesetzentwurf. Sie sagen das ja selber. Er hat Mängel; das räumen Sie selber ein.
({6})
Oder, schlicht und einfach: Sie machen Steuerpolitik, indem Sie gar nichts tun. Gucken Sie sich doch einmal die
Umsatzsteuerreform an! Da haben Sie versagt. Sie haben
sie einfach zurückgezogen. Ich kann nur sagen: Erbärmlich.
({7})
Ich will Ihnen ein paar Beispiele aus dem vorliegenden Gesetzentwurf nennen:
Erstes Beispiel: Cash-GmbH. Das, was Sie hier vorlegen - das ist schon angesprochen worden -, durchlöchert
das Vermittlungsergebnis. Sie nehmen nach unserer Auffassung im Prinzip billigend in Kauf, dass das Bundesverfassungsgericht das wieder kippen wird, und das Gemeine ist: Sie legen etwas vor, was die Länder am Ende
ausbaden müssen; denn ihnen steht die Erbschaftsteuer
zu. Deshalb wird das wieder im Vermittlungsausschuss
landen.
({8})
Zweites Beispiel: RETT-Blocker. Wo ist hier die Regelung? Das ist ein Steuersparmodell für die Konzerne.
Das wollten wir beenden; das war ein Vermittlungsergebnis. Wo ist die Regelung geblieben? Das ist einfach
nicht akzeptabel und geht wieder zulasten der Länder.
({9})
Drittes Beispiel: Aufbewahrungsfristen. Wir Grüne
sind auch sehr für Bürokratieabbau, aber
({10})
nicht zulasten des Staates. Sie schreiben hier - ich zitiere
wieder aus der Beschlussempfehlung -, dass man
zu dem Ergebnis kommen könne, dass erhebliche
Steuerausfälle entstehen würden.
Das wird darin dann auch noch vorgerechnet und beziffert: 1,05 Milliarden Euro pro Jahr. Und das legen Sie
uns hier vor!
({11})
Sie machen in diesem Fall den zweiten Schritt vor dem
ersten. Das ist wirklich toll.
({12})
Der erste Schritt wäre doch, dass die Finanzämter so
ausgestattet werden, dass sie wirklich Betriebsprüfungen
durchführen können.
({13})
Sie gehen davon aus - Herr Volk hat das sehr schön gesagt -, dass alle steuerehrlich sind. Ja, dann schaffen Sie
doch die Aufbewahrungsfristen gleich ganz ab, wenn Sie
der Auffassung sind: Wir brauchen die nicht,
({14})
wir machen sowieso keine Betriebsprüfungen, wir haben
keine Leute, die das regelmäßig prüfen können, sondern
sie prüfen nur alle 20 bis 40 Jahre.
({15})
- Sie kommen doch aus Bayern, Herr Volk. Ihre Partei
regiert dort doch noch mit.
({16})
Wenn ich mich richtig erinnere, gehört die FDP dort der
Regierung an. Dann tun Sie doch endlich etwas!
({17})
- Nein, Sie tun es nicht.
Meine Damen und Herren, das ist eine Regierung, die
manchmal offensichtlich ins Stolpern gerät; sie macht
den zweiten Schritt vor dem ersten. Das kann nicht funktionieren.
({18})
Greifen Sie auf das Vermittlungsergebnis zurück!
({19})
Wenn Sie uns hier das Vermittlungsergebnis vorlegen,
dann stimmen wir sofort zu. Dann brauchen wir keine
Zeit mehr zu verschwenden, Zeit, die im Übrigen weder
die Bürger noch die Unternehmen haben. Dann wäre
auch die Verunsicherung der Finanzbeamtinnen und -beamten beendet, und dann hätten wir ein gutes Ergebnis.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf in diesem Haus seit über zehn Jahren Kulturpolitik machen.
Bislang war es in der Kulturpolitik so, dass es einen breiten Konsens in allen Fraktionen gab, dass wir Kultur
nicht nur als etwas sehen, was uns besonders lieb ist,
sondern auch als etwas, was uns besonders teuer ist. Wir
waren uns immer einig, dass wir gemeinsam für unsere
kulturellen Schätze kämpfen. Wir haben den Rohstoff
Geist.
({0})
Wir sind diejenigen, die immer, auch parteiübergreifend,
versucht haben, zu guten Lösungen zu kommen, das ehrenamtliche, aber eben auch das oft sehr gering bezahlte
Engagement zu unterstützen. Das macht unsere gesellschaftliche Identität in Deutschland aus. Wir konnten gerade für den Haushalt des Kulturbereichs - das war in
unserem Haushalt nicht immer üblich - in den letzten
Jahren bei unseren Haushaltspolitikern immer wieder einen Aufwuchs durchsetzen.
({1})
Das macht deutlich, dass es dieser Bundesregierung
ganz besonders wichtig ist, die Kultur zu fördern.
Insofern wundert es mich schon - deswegen darf ich
für meine Fraktion heute hier sprechen -, dass die SPD
nun versucht, ganz billig auf Kosten von Kulturschaffenden Wahlkampf zu machen.
({2})
- Hören Sie mir zu! Schreien Sie nicht herein! Sie verstehen es hoffentlich dann, wenn ich es Ihnen jetzt erkläre.
({3})
Sie machen Wahlkampf auf Kosten von Theaterregisseuren in unserem Land, und Sie machen Wahlkampf auf
Kosten derjenigen, die sich im FSJ Kultur engagieren.
({4})
Alle Obleute aller Fraktionen im Ausschuss für Kultur und Medien waren sich nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs einig,
({5})
dass das geltende Recht im Ergebnis nicht entgegen dem
Willen des Gesetzgebers ausgelegt werden sollte. Deshalb - jetzt hören Sie gut zu; dann können Sie etwas lernen - sollte die Umsatzbesteuerung für Theaterregisseure gesetzlich geregelt werden. Um hier zu einer
klaren Regelung zu kommen, sollten sowohl die Steuerbefreiung für Theaterregisseure als auch die Steuerbefreiung für das Taschengeld - das Taschengeld! - im
Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur in das Jahressteuergesetz 2013 aufgenommen werden.
({6})
Mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat haben Sie dafür gesorgt
- das ist schofel, und deswegen muss man das hier auch
ansprechen -, dass das Jahressteuergesetz nicht umgesetzt werden konnte. Das war ein Tritt in den Hintern für
alle Theaterregisseure in unserem Land und für alle, die
sich im FSJ Kultur befinden.
({7})
Sie wussten ganz genau, dass das ein wichtiger Erfolg
für alle Kulturschaffenden in unserem Land war. Gerade
für Mitglieder Ihrer Fraktion ist es immer besonders
chic, sich wie Buddies bzw. Spezis neben Künstler zu
stellen und wichtigtuerisch Fotos zu machen.
({8})
Ihr Altkanzler Schröder war Meister darin, immer so zu
tun, als ob er mit Künstlern auf Du und Du ist, ließ sie
immer Wahlkampf für sich machen. Das ist ein uralter
Trick der SPD - und jetzt fallen Sie den Künstlern so in
den Rücken. Das ist wirklich eine absolute Unverschämtheit.
({9})
Nicht genug damit, dass Sie die bisherige Regelung
gekippt haben und allen Theaterregisseuren den besagten Tritt in den Hintern gegeben haben: Jetzt besitzen Sie
auch noch die Unverfrorenheit, von der Bundesregierung - ich zitiere - eine „Klarstellung der Umsatzbesteuerung freier Regisseure“ zu fordern, obwohl Sie diejenigen waren, die diese Klarstellung verhindert haben.
({10})
Folglich sind Sie dafür verantwortlich, dass die Frage
der Umsatzsteuerbefreiung für Theaterregisseure noch
immer nicht geklärt ist und Kulturschaffende immer
noch um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen.
({11})
Da muss ich einmal ganz ehrlich sagen: Entweder haben die Kulturpolitiker in Ihrer Partei keine Lobby und
können sich in Ihrer eigenen Partei auch nicht durchsetzen, wenn es darum geht, Regisseure und vor allem
Menschen im FSJ besserzustellen. Oder Sie haben ein
sehr kurzes und noch kürzeres Kurzzeitgedächtnis, weil
Sie von Steuererhöhungen für Reiche reden, aber Steuerfreiheit für Taschengelder verhindert haben. Das ist
wirklich ein starkes Stück, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen.
({12})
Da wir aber als christlich-liberale Koalition weiterhin
an sachorientierter Politik interessiert sind, gehen wir
heute einen ganz neuen Weg, um Theaterregisseure und
Menschen im FSJ zu entlasten. Deswegen haben wir unser Vorhaben erneut in den Bundestag eingebracht, diesmal im Rahmen des Gesetzes für die Verkürzung von
Aufbewahrungsfristen.
({13})
Deswegen heißt es im Gesetzentwurf schlicht und einfach:
Zu den weiteren entlastenden Maßnahmen gehören
z. B. die Umsatzsteuerbefreiungen für rechtliche
Betreuer, Bühnenregisseure und -choreographen
sowie die Steuerbefreiung des Taschengeldes bei zivilen Freiwilligendiensten.
Lassen Sie uns also gemeinsam für die Kulturschaffenden und die im Kulturbereich Engagierten heute einmal ein Zeichen setzen, indem wir gemeinsam für den
Gesetzentwurf stimmen. Sollten Sie das nicht tun, weiß
ich genau, was auf den Bühnen dieser Welt los sein wird.
({14})
Dann wird nämlich jedem klar, das Sie hier auch nur
Theater machen. Schade!
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung
auf Drucksache 17/13259, den Gesetzentwurf der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/13082 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der
zweiten Lesung angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der
Fehmarnbelt-Querung sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand - Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
dem Königreich Dänemark verhandeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten - Verhandlungen mit dem Königreich
Dänemark über den Ausstieg aus dem
Staatsvertrag über den Bau einer Festen
Fehmarnbeltquerung aufnehmen
- Drucksachen 17/11365, 17/8912, 17/9407,
17/13154 Berichterstattung:Abgeordneter Gero Storjohann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die feste Fehmarnbelt-Querung ist wieder einmal Gegenstand einer
hochspannenden Debatte; darüber freuen wir uns alle.
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der im Wesentlichen darauf abzielt, eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs im Umfeld der zukünftigen Baustelle auf See zu veranlassen.
Die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass viele
Forderungen der SPD sich bereits in der Umsetzung befinden und die Seesicherheit bei den Bauarbeiten gewährleistet ist. Die Betonung liegt auf: Bauarbeiten. Ich
freue mich, dass die SPD weiterhin zu diesem Projekt
steht.
({0})
- Herr Hacker, Sie kennen doch die Vorgeschichte. Es
war nicht einfach, Minister Tiefensee überhaupt dazu zu
bewegen, diese Nummer mitzumachen,
({1})
die für uns im Norden sehr wichtig ist.
({2})
Ich komme zu den beiden Anträgen der Linken und
der Grünen und möchte betonen, dass es im Bundestag
eine breite Mehrheit für die Realisierung des Projektes
„feste Fehmarnbelt-Querung“ gibt. Das hat bereits die
Debatte zu den Anträgen gezeigt. Ich halte es auch nicht
für hilfreich, diese Ausstiegsforderung immer wieder zu
erheben. Deutschland und Dänemark wollen die feste
Fehmarnbelt-Querung realisieren, und die Bundesrepublik Deutschland wird sich auch an die eingegangene
Verpflichtung halten, die deutsche Hinterlandanbindung
zeitgerecht fertigzustellen.
({3})
Die Hinweise von Linken und Grünen auf Art. 22 des
2008 abgeschlossenen Staatsvertrages über eine feste
Fehmarnbelt-Querung laufen ins Leere. Es ist auf dänischer Seite kein Wille erkennbar, nicht einmal ansatzweise, auf dieses Bauvorhaben zu verzichten. Nur bei
übereinstimmender Willenserklärung auf dänischer und
deutscher Seite wäre über einen Ausstieg zu verhandeln;
das ist unter angesehenen Juristen völlig unstreitig.
Was mir bei Ihrer Betrachtungsweise fehlt, ist der Ertrag, der Mehrwert dieser Baumaßnahme. Das meine ich
sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.
({4})
Es geht beim Bau des Absenktunnels um ein großes europäisches Projekt, das wir von der Union ausdrücklich
begrüßen. Mit der Fehmarnbelt-Querung schaffen wir
eine feste Direktverbindung zwischen Skandinavien und
Kontinentaleuropa,
({5})
und zwar als Straßen- und Schienenverbindung.
Die Zukunft wird von der Elektromobilität bestimmt
sein. Eine neue Schienenverbindung zwischen Dänemark und Deutschland ist somit nur zu begrüßen. Die
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen
Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.
({6})
Der 17,6 Kilometer lange Absenktunnel durch den Fehmarnbelt wird Nordeuropa und Zentraleuropa enger zusammenwachsen lassen. Das ist auch ein großer Wunsch
unserer Nachbarn aus Schweden und aus Dänemark.
({7})
Die Linken und die Grünen stellen sich gegen dieses
Projekt, ein Projekt mit europäischen Dimensionen. Sie
präsentieren uns Anträge, in denen sie uns auffordern,
aus dem Staatsvertrag quasi auszusteigen.
({8})
Aber wie weit sind wir denn jetzt schon?
({9})
Die Beratungen haben Folgendes ergeben: Die technischen Planungen sind praktisch abgeschlossen.
({10})
Die Umweltuntersuchungen sind abgeschlossen. 2015
ist mit dem Baubeginn beim Tunnel zu rechnen. Für die
CDU/CSU-Fraktion bestätige ich Ihnen gerne: Wir stehen uneingeschränkt zu diesem Projekt.
({11})
Deshalb können Sie sich schon ausmalen, was mit Ihren
Anträgen passieren wird.
Wir wollen dieses Projekt. Wir wollen die 4 000 Arbeitsplätze, mit denen bei diesem Projekt Jahr für Jahr zu
rechnen ist, generieren.
({12})
500 dieser Arbeitsplätze werden auf deutscher Seite in
der Region von Puttgarden entstehen.
({13})
Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für
die Menschen im Großraum Hamburg und Ostholstein.
Die Dänen haben ihre Tunnelprojekte in Krisenzeiten
konzipiert und waren nachher, als die Wirtschaft
boomte, rechtzeitig mit den Projekten fertig. Das war genau die richtige Entscheidung für das dänische Staatswesen. Das ist ein Vorbild, wie man Geld sinnvoll einsetzen
kann.
({14})
Linke und Grüne wollen jetzigen und zukünftigen
Generationen diese großartigen Chancen verwehren. Sie
verweigern sich der Zukunftsgestaltung. Das machen
wir nicht mit. Wir sind inzwischen so weit, dass wir über
die konkrete Ausgestaltung der Hinterlandanbindung
auch auf deutscher Seite des Tunnels sprechen. Wir
nehmen die Anregungen der Menschen vor Ort auf.
Deshalb wird aktuell über den Bau einer sogenannten
2 + 1-Trasse im Schienenverkehr diskutiert. Sie könnte
festgeschrieben werden, sobald ein entsprechendes
Raumordnungsverfahren abgeschlossen wird. 2 + 1 bedeutet: Der Nahverkehr würde weiter über die Bäderorte
an der Ostsee verlaufen. Zwei neue Trassen würden parallel zur A 1 für den Fern- und Güterverkehr gebaut
werden.
({15})
Diese neue Trasse muss natürlich noch im Bundesverkehrswegeplan berücksichtigt werden und muss dazu
von Schleswig-Holstein angemeldet werden. Das ist
aber schon angegangen worden. Insofern können wir
sehr zuversichtlich sein, dass die Landesregierung das
mitmacht.
Ein wesentlicher Kritikpunkt ist der Schienenlärm
durch die Zunahme des Güter- und Fernverkehrs. Hier
haben wir uns in der Koalition und auch parteiübergreifend geeinigt, den Schienenbonus ab 2015 abzuschaffen.
({16})
So. Das ist ein gutes Signal für Schleswig-Holstein,
auch, Ingo Gädechens, für Ostholstein. Es muss jetzt ein
bisschen neu geplant werden. Aber das macht, wie ich
glaube, die Sache ein bisschen einfacher.
Meine Damen und Herren, das, was die Grünen und
die Linken hier vorgelegt haben, ist ein Armutszeugnis.
Wir werden der Beschlussempfehlung des Ausschusses
unsere Zustimmung geben und damit die Anträge versenken.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Einen herzlichen, schönen Abend zu später Stunde! Die späte Stunde ist wohl auch der Grund dafür, Herr Kollege Storjohann, dass Sie sich mit dem
SPD-Antrag überhaupt nicht auseinandergesetzt haben.
({0})
Der SPD-Antrag geht nämlich auf ganz wichtige Fragen
ein, über die wir bereits in Verbindung mit der Ratifizierung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Dänemark vom
3. September 2008 hier in diesem Hause am 18. Juni
2009 diskutiert haben. Ich will in Erinnerung rufen: Herr
Storjohann, damals waren Abgeordnete der CDU aus
Mecklenburg-Vorpommern dabei, die gegen den Staatsvertrag gestimmt haben. Nicht, dass Sie versuchen, hier
ein falsches Bild zu malen. So verlief die damalige Abstimmung.
({1})
Heute sind wir einen Schritt weiter. Die SPD hat mit
ihrem Verkehrsminister Tiefensee den Vertrag vom Ergebnis her gut ausverhandelt. Ob man für das Projekt ist
oder nicht, darüber kann man lange diskutieren; diese
Debatten führen wir auch. Aber der Vertrag ist hinsichtlich der finanziellen Belastung für Deutschland vorteilhaft. Deshalb hat am Ende der Deutsche Bundestag diesen Vertrag ratifiziert.
Wir waren uns aber schon vor der Debatte am 18. Juni
einig, dass die Planungsphase mit gründlichen Untersuchungen verbunden werden muss. Ich nenne als Beispiele nur Fragen der Schiffssicherheit, Fragen nach
Auswirkungen auf Flora und Fauna - in dem infrage stehenden Bereich der Ostsee gibt es Schweinswale ({2})
sowie die Fragen nach Auswirkungen auf Wirtschaft und
Tourismus. All diese Fragen werden im Moment von der
Planungsgesellschaft Femern A/S untersucht. Damit
wird im Grunde genommen ein Auftrag erfüllt, den der
Deutsche Bundestag mit der Ratifizierung des Vertrags
verbunden hatte.
Genau hier, meine sehr verehrten Damen und Herren,
setzt der SPD-Antrag an. Wir wollen, dass der Schutz
vor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung
sichergestellt wird. Dazu hat die SPD-Bundestagsfraktion einen ganzen Katalog vorgelegt, der den Inhalt der
damaligen Debatte sinngemäß aufgreift. In diesem Zusammenhang soll sich die Bundesregierung für verschiedene Maßnahmen der IMO, der EU, der Ostseeanrainer
und der zuständigen Bundesländer einsetzen. Am Ende
geht es der SPD-Bundestagsfraktion darum, mit diesem
Antrag die Akzeptanz des Staatsvertrags in der Region
zu erhöhen. Wir möchten, dass Unsicherheiten, die in einigen Teilen der Bevölkerung noch vorhanden sind, ausgeräumt werden. Wir möchten Fragen der Sicherheit im
Bereich der Baustelle nicht nur stellen, sondern auch von
der Bundesregierung ganz klare Antworten darauf haben.
({3})
Ich finde, das liegt nicht nur im legitimen Interesse der
Bürgerinnen und Bürger in Ostholstein. Vielmehr kommen wir damit auch einer Verantwortung nach, die wir
als Bundestagsabgeordnete, insbesondere als Verkehrspolitiker, tragen.
({4})
Die Planungsfirma Femern A/S hat im Januar dieses
Jahres berichtet, dass sie selber einen Vertrag mit den
Organisationen RINA und SINTEF geschlossen hat, der
die Beurteilung der Sicherheit der Eisenbahnverbindung
zum Gegenstand hat und die Konformität mit EU-Vorschriften prüfen soll. Ich finde, das ist genau der richtige
Weg, den auch die Bundesregierung gehen muss. Die
Bundesregierung hat Verantwortung dafür, dass die
Sicherheitsbelange geprüft und dass die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Prüfungsprozess mitgenommen
werden. Die Menschen in Schleswig-Holstein dürfen
nicht den Eindruck gewinnen, dass in Berlin Politik über
ihre Köpfe hinweg gemacht wird.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, SchleswigHolstein hat zu Beginn des Jahres 2013 das Raumordnungsverfahren eingeleitet. Hier werden die notwendigen Untersuchungen vor Ort angestellt. Herr Ferlemann,
noch ein Appell an Sie: Herr Storjohann hat ja die rückwärtigen Bahnverbindungen angesprochen. Es ist ja jetzt
nicht mehr klar, was aus der Sundbrücke werden soll.
Die Frage, die ich Ihnen dazu gestellt habe, hat zwar Ihr
Haus beantwortet. Aber auch Fragestellungen wie Auslastung der Sundbrücke und Sanierungsmaßnahmen
müssen in die weiteren Untersuchungen einbezogen
werden. Diese werden wir in den nächsten Jahren noch
zu behandeln haben.
Kollege Storjohann, vor diesem Hintergrund ist nicht
nachvollziehbar, dass Sie sich der Beschäftigung mit einer Thematik widersetzen, über die wir hier bereits 2009
diskutiert haben. Dass man sich damit beschäftigt, dass
umfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden,
und zwar auch im Sicherheitsbereich, war jedenfalls für
die zustimmenden Fraktionen essenziell für ihr Abstimmungsverhalten. Das erinnert mich ein wenig daran,
dass Sie bestimmte Verkehrssicherheitsfragen nicht ernst
nehmen. Das hier ist in etwa vergleichbar mit den Sicherheitsfragen betreffend die Kabinenluft in Flugzeugen, Herr Staffeldt. Dafür sind Sie als Freizeitpilot ja
Spezialist. Sie gehen mit diesem Thema, mit dem sich ja
unser Antrag beschäftigt, ähnlich oberflächlich um wie
mit dem Thema der -
Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Hacker, ich habe den Antrag der SPD
sehr genau gelesen.
Das ist schön.
Er stammt vom November. Wenn man ihn liest,
könnte man meinen, die SPD glaube immer noch, dass
die feste Fehmarnbelt-Querung in Form einer Brücke
ausgeführt werden soll; nur dann spielt das große Thema
der Schiffskollisionen und der Schiffssicherheit im Fehmarnbelt eine Rolle. Nun soll es aber ein Tunnel werden.
Gleichwohl ist uns die Schiffssicherheit in der Ostsee
genauso wichtig wie in der Deutschen Bucht oder in der
Nordsee.
An dieser Stelle möchte ich gerne einhaken, weil Sie
gerade den Staatssekretär Ferlemann erwähnt und behauptet haben, dass die Regierung die Schiffssicherheit
nicht ernst nehme. Ist Ihnen bekannt, dass so wie auf
Helgoland bereits ein Radar installiert wurde, um die
Deutsche Bucht zu überwachen, die Regierung mittlerweile veranlasst hat, dass auch ein Radar auf Fehmarn
installiert wird, um nicht nur den Fehmarnbelt, sondern
auch die Kadetrinne zu überwachen und damit eine erhöhte Schiffssicherheit zu gewährleisten? Das alles geschah im Vorgriff auf die beginnenden Bautätigkeiten.
Deshalb ist Ihr Antrag, Kollege Hacker, eigentlich obsolet, aber vielleicht wissen Sie nicht, was ich eben erwähnt habe.
Herr Gädechens, diese Maßnahme der Bundesregierung ist nur zu unterstützen. Ich habe die Bundesregierung doch nicht dafür kritisiert, dass sie die Verkehrsund Bausicherheit nicht gewährleisten würde. Dieser
Antrag richtet sich doch zuerst einmal an die Fraktionen
im Deutschen Bundestag, die gemeinsam die Bundesregierung auffordern sollen, etwas zu unternehmen.
({0})
Das ist doch die Zielrichtung.
Wenn Sie der Auffassung sind, die Bundesregierung
sei schon auf einem guten Weg, dann stimmen Sie doch
unserem Antrag zu. Wir können die Bundesregierung
anregen, noch mehr Verkehrssicherheit zu schaffen, und
zwar im Bereich der Baustelle, nicht im Bereich der Brücke. Da haben Sie völlig recht. Über die Brücke diskutiert heute keiner.
({1})
Wir sprechen über die Baustelle für den Absenktunnel.
({2})
Da gibt es genug zu tun. Sie, Herr Gädechens, haben die
Chance, in einer halben Stunde unserem Antrag zuzustimmen. Für Ihre Frage bedanke ich mich. Ich hoffe,
Sie haben ein bisschen was mitgenommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt
komme ich aber doch zu den beiden Anträgen vom
Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Darauf ist
an dieser Stelle schon mehrfach eingegangen worden.
Sie, Herr Storjohann, haben mit Ihrem Einwand ausdrücklich recht. Das will ich Ihnen attestieren. Sie haben
hier Art. 22 zitiert. Jeder, der sich mit der Evaluierung
des Vertrages und dem Ausstieg aus dem Vertrag beschäftigt, sollte einen Blick in den Vertragstext werfen.
In Art. 22 steht ganz klar:
Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Vertragsstaaten geändert, ergänzt oder aufgehoben werden.
({3})
Das ist unbestritten. Dann verpflichten sich die Vertragspartner im Weiteren, alles in ihrer Macht Stehende zu
unternehmen, um das Projekt gemäß den Annahmen zu
verwirklichen.
({4})
Mir ist nicht bekannt, dass bei unserem Vertragspartner, der Regierung des Königreichs Dänemark, oder im
dänischen Parlament Überlegungen angestellt werden,
diesen Vertrag zu ändern oder aufzuheben. Die dänische
Seite tut alles, um den Gegenstand des Vertrages, nämlich die Herstellung einer festen Fehmarnbelt-Querung,
umzusetzen. Demzufolge sage ich: Das ständige Wiederholen, dass eine Ausstiegsmöglichkeit und Nachverhandlungsmöglichkeit gemäß Art. 22 bestehe, führt
nicht zum Ziel. Das streut den Menschen in Ostholstein
Sand in die Augen, weckt bei den Bürgerinnen und Bürgern dort, die den Vertrag nicht gelesen haben - es muss
nicht jeder Bürger jeden Vertrag lesen, den wir hier im
Deutschen Bundestag verabschieden -, möglicherweise
Hoffnung. Es gibt diese Möglichkeit im Moment nicht.
Was wir zu tun haben, ist, die Verpflichtungen aus
dem Vertrag für die nächsten Jahre zu prüfen. Hierbei
geht es zum Beispiel darum, die rückwärtigen Anbindungen zu ertüchtigen. Genau dort setzt das an, was ich
angesprochen habe: Die Bundesregierung hat noch eine
Bringschuld.
Ich bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren,
deshalb darum, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion
zu unterstützen - es gibt gute Gründe dafür; das hat ja
auch die Frage von Herr Gädechens jetzt noch einmal
deutlich gemacht -, weil wir genau das aufgreifen und
umsetzen, was ein wesentlicher Begleitbestandteil der
Ratifizierung des Vertrages war.
Zu den beiden Anträgen vom Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linken -
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wilms?
Aber gerne.
Herr Kollege, herzlichen Dank.
Bitte schön.
Herr Kollege, wenn Sie schon auf Art. 22 des Vertrages Bezug nehmen, dann sollten Sie sich diesen Artikel
vielleicht einmal genau anschauen. Da steht nämlich
durchaus noch etwas mehr drin.
Ja.
Ich zitiere einmal:
Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln
als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt
des Abschlusses des Vertrags bekannt ist, werden
die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern.
Dies gilt unter anderem für wesentliche Kostensteigerungen im Zusammenhang mit dem Projekt.
Insofern wundert es mich, wie Sie zu Ihrer Aussage
kommen. Wie können Sie sich das erklären? Also, in
dem Vertrag ist - gerade über den Art. 22 - eine eindeutige Möglichkeit vorgesehen, zumindest in Verhandlungen über einen Ausstieg einzusteigen.
Liebe Frau Wilms, Sie suggerieren erneut, dass es
hier Verhandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten
gibt. Die dänische Seite hat eindeutig die Kostenlast für
die Errichtung des Bauwerkes übernommen. Wenn sich
dort Kostenentwicklungen ergeben, die für die dänische
Seite nicht Verhandlungsgegenstand sind, dann wird
Dänemark mit uns keine Verhandlungen aufnehmen,
weil Dänemark dann in eigener Verantwortung eine Kostenentwicklung bewertet und darüber entscheidet.
Wir sind jetzt genau an dem Punkt, dass in Dänemark
- in der Regierung und im Parlament - nicht von einer
Fraktion und nicht von einem Regierungsmitglied überhaupt eine Diskussion zu Nachverhandlungen geführt
wird.
Wir erwecken hier mit diesen beiden Anträgen offenbar den Eindruck, als stünde es kurz vor Nachverhandlungen. Es gibt diese Grundlage nicht.
({0})
Ich bleibe noch einmal dabei - unter Hinweis auf Art. 22
Abs. 1 -:
Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Vertragsstaaten geändert, ergänzt oder aufgehoben werden.
Dafür gibt es im Moment, soweit ich das beurteilen
kann, keine Grundlage. Im Gegenteil,
({1})
die bauvorbereitenden Maßnahmen, die Planungsmaßnahmen, laufen auf Hochtouren. Einiges befindet sich im
Zeitverzug - darüber haben wir hier vor einem Jahr
schon einmal diskutiert -; das ist offenkundig.
({2})
Es gibt auch hinsichtlich der Kosten keine Grundlage für
Nachverhandlungen.
Deswegen, liebe Frau Wilms, haben Sie die Chance,
Ihren Antrag zurückzuziehen. Wir können ihm jedenfalls
nicht zustimmen, genauso wenig wie dem Antrag der
Linken.
An die Koalition der Appell: Sie können aus gutem
Grund zustimmen, auch wenn Herr Storjohann das an
dieser Stelle noch nicht erklärt hat. Sie haben jetzt noch
die Chance, das nachzuschieben oder das nachher im
Abstimmungsverhalten deutlich zu machen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was wir
gerade hier erlebt haben, war ein wenig das Abbild dessen, wie es in Schleswig-Holstein in Kiel im Moment
zugeht. Dort sagt die Landesregierung: Ja, das Projekt ist
gut. - Ich zitiere beispielsweise den Ministerpräsidenten
Torsten Albig: Ich bin überzeugt, die Feste FehmarnbeltQuerung bietet neue Perspektiven und große Entwicklungschancen, besonders für Lübeck und Ostholstein. ({0})
Die Grünen hingegen, die grüne Fraktion im Landtag
von Schleswig-Holstein, versuchen nach wie vor, dieses
Projekt zu torpedieren. Das ist doch interessant. Darauf
sollte man an der einen oder anderen Stelle immer wieder hinweisen. Die streiten sich immer noch, obwohl sie
eigentlich zu dem Projekt stehen müssten.
Die SPD vertritt da klar die Position - wie wir auch -:
Die Fehmarnbelt-Querung muss kommen, soll kommen,
wird kommen.
Die Grünen sind wie immer, wie auch der heute vorliegende Antrag ausweist, der Meinung: Das soll alles
tatsächlich - aktualisiert mit Daten, Informationen, zusätzlichen Prozessen - zu einem Ausstieg führen. So
kann man den Antrag der Grünen, der recht voluminös
ist, zusammenfassen. Er sagt im Endeffekt aber nur eines: Alle unsere Ziele machen deutlich, dass wir nicht
aussteigen wollen; es soll alles so bleiben, wie es ist.
Ähnlich ist es mit dem Antrag der Linken, der einige
Punkte anspricht. Da soll das Dialogforum gestärkt werden, da soll der Staatsvertrag neu verhandelt werden.
Aber am Ende soll als Ergebnis der Ausstieg stehen, und
der Güterverkehr soll nach wie vor über die JütlandRoute rollen.
({1})
Der einzige vielleicht halbwegs konstruktive Hinweis
bei den Linken ist, dass die Bauarbeiten außerhalb der
Saison stattfinden sollen.
Der Antrag der SPD, dem ich mich jetzt ein wenig intensiver widmen werde - da haben Sie Glück, Herr
Hacker; ich habe das genauso gelesen wie mein Kollege
Kammer, der gleich noch an der Reihe sein wird -, ist eigentlich ein Sammelsurium von „Wünsch dir was“, nach
der Devise „Jeder darf schreiben, was ihm dazu einfällt“.
Er glänzt - das muss ich als jemand, der sich mit Schifffahrt, Häfen und insbesondere Schiffssicherheit ein bisschen auskennt, ganz klar und eindeutig sagen - durch
völlige Ahnungslosigkeit. Das ist so. Da redet der Blinde
von der Farbe.
({2})
- Ich bin auch Seemann; da haben Sie Pech gehabt. Ich
kann beides.
({3})
- Nein, ich bin nicht alles, aber ich bin gelernter Seemann, Herr Hacker. Im Gegensatz zu Ihnen und zur SPD
weiß ich, dass AIS zum Beispiel längst Standard ist. Da
gibt es eine Vorschrift. Gemäß SOLAS - Safety of Life
at Sea - sind alle Schiffe ab einer Größenordnung von
500 Bruttoregistertonnen heutzutage ohnehin verpflichtet, diese AIS, diese Automatic Identification Systems,
an Bord zu haben.
({4})
Wenn Sie so etwas noch fordern, kann ich nur sagen tut mir leid -: Da besteht völlige Unkenntnis. Sie haben
keine Ahnung von dem, was Sie da schreiben.
Auch die Überwachung, die Sicherheit auf den 19 Kilometern zwischen Puttgarden und Rodbyhavn gibt es
schon längst. Es wurden eben schon die Radarketten angesprochen. Wir haben in dem Fall sogar noch eine
schwierigere Situation, weil wir eine Staatsgrenze dazwischen haben. Aber das funktioniert seit Jahren und
Jahrzehnten glücklicherweise sehr gut, sowohl auf deutscher als auch auf dänischer Seite.
({5})
Denn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dort
ist gewährleistet.
In Ihrem Antrag finde ich, dass insbesondere die Bauphase unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Geltung
zusätzlicher Sicherheitskriterien erfolgen soll. Da fallen
Ihnen solch geniale Ideen ein wie: Jedes Schiff soll von
einem Escort-Schlepper begleitet werden. Hallo?! Wissen Sie, was das bedeutet? Ob man da über 66 000 oder
35 000 Schiffsbewegungen redet: Wenn Sie jedem
Schiff, das durch den Bereich fährt, einen Escort-Schlepper zur Seite stellen wollen, brauchen Sie da keine
Schifffahrt mehr.
Die Bergungsschlepper gibt es schon jetzt,
({6})
und die werden während der Bauphase - da bin ich sicher - auch garantiert da sein. Es gibt da Verantwortliche. Zum Beispiel die deutsch-dänische maritime Koordinierungsgruppe kümmert sich schon jetzt darum, Herr
Hacker. Die Bergungsschlepper werden also da sein. Die
werden Stand-by sein, wie sich das gehört, wie das ganz
normal ist.
Insofern sind Ihre Forderungen - so kann ich nur sagen - völlig absurd. Sie gehen ja noch weiter. Sie schreiben, dass die Havariekommission mit mehr Personal
ausgestattet werden soll, dass die Berufsfeuerwehren an
Land speziell für den Fall ausgebildet werden sollen,
dass auf der Baustelle einmal etwas passiert. Herr
Hacker, grundsätzlich ist es erst einmal die Verantwortung des bauenden Unternehmens, für Sicherheit zu sorgen, und nicht unsere Verantwortung als Staat, zumal wir
nur bis zur Hälfte der Strecke zuständig sind. Nicht wir
als Staat haben dort einen Sicherheits- und Rettungsapparat aufzubauen, den wir an anderer Stelle auch nicht
haben.
Wir haben jetzt eine ähnliche Diskussion bei den Offshoreanlagen in der Nordsee und in der Ostsee. Da wird
auch immer verlangt, der Staat müsse alles machen. Es
ist aber die originäre Aufgabe der Unternehmen, sich darum zu kümmern, dass es funktioniert und dass entsprechende Rettungsketten vorhanden sind. Ich gehe auch
fest davon aus, dass es funktioniert, dass es so gemacht
wird wie an anderer Stelle auch.
({7})
Dann haben Sie noch darauf hingewiesen, Herr
Hacker, dass angeblich der Vertrag mit Dänemark von
Tiefensee so gut verhandelt worden sei. Ich habe durchaus auch andere Meinungen dazu gehört. Man kann auch
in den Anträgen lesen, dass es dazu eine unterschiedliche Wahrnehmung gibt. Sei es drum!
Ich bin sicher, dass Ihr Antrag so überflüssig ist wie
ein Kropf, weil wir die notwendigen Sicherungssysteme
längst haben. Ich habe das an einigen Beispielen beleuchtet.
Ich bin sicher, dass die Fehmarnbelt-Querung kommt.
Ich bin genauso sicher, dass wir unseren Part leisten,
dass wir die Hinterlandanbindungen, die natürlich notwendig sind, zeitgerecht, elektrifiziert, zweigleisig, idealerweise, wie vom Kollegen Storjohann schon dargestellt
wurde, parallel zur Autobahn realisieren, um die Belastung der Bürgerinnen und Bürger durch Schienenlärm zu
reduzieren.
Ich bin froh und dankbar, dass wir es in dieser Koalition geschafft haben - das wurde schon gesagt -, den
Schienenbonus abzuschaffen. Das heißt, solche Neubauprojekte müssen im Endeffekt leise sein.
Insofern ist alles auf dem richtigen Weg. Weil alles
auf dem richtigen Weg ist und weil die beiden Ausstiegsvarianten der Grünen und der Linken für uns keine Alternative darstellen, werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Ich bin froh, dass wir in den vier Jahren hier Gutes für
Deutschland leisten konnten; wir werden das auch weiterhin so machen.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat Herbert Behrens für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele Arbeitnehmer und auch Unternehmer in Ostholstein bangen um ihre berufliche Existenz. Sie leben nämlich davon, dass über 1 Million Touristen die landschaftliche Schönheit und das gute Klima an SchleswigHolsteins Ostseeküste schätzen.
({0})
Kommt die Feste Fehmarnbelt-Querung, droht ihnen
Tag und Nacht der Lärm von 80 Güterzügen, und zwar
jeden Tag und jede Nacht, entlang der Ostseeküste über
die Insel Fehmarn und durch die Tourismusregionen hinauf nach Dänemark. Und diese Lärmbelästigung kostet
auch noch unendlich viel Geld. Über 10 Milliarden Euro
für ein Tunnelprojekt mit Hinterlandanbindung, das den
Lärm überhaupt erst nach Ostholstein bringen soll. Wir
wollen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in
Ostholstein mit guten touristischen Angeboten und einer
guten Verkehrsinfrastruktur. Das geht nicht mit einem
Milliardenprojekt, das diesen Teil des Landes zu einer
reinen Transitstrecke für Gütertransporte zwischen
Schweden und Kontinentaleuropa macht.
({1})
Fast 2 Milliarden Euro kostet allein Deutschland der
Bau der Hinterlandanbindung. Bei diesen Riesenbeträgen könnte man denken, in der Region gäbe es keine
Verkehrswege. Das stimmt aber nicht. Die Fährverbindung als schwimmende Brücke zwischen Lolland und
Fehmarn bringt schon heute viele Güter und viele Menschen sicher und schnell über den Belt, egal ob mit dem
Auto, dem Lkw, dem Personenzug oder dem Güterzug
transportiert wird.
({2})
Die Verkehrspolitik der Mammutprojekte vernichtet
das Geld, das wir für Instandhaltung, Lärmschutz und
gute Eisenbahnverbindungen zu den Ostseebädern brauchen. Darum fordern wir den Ausstieg aus dem Projekt,
bevor Fakten geschaffen werden.
({3})
Das fordern auch viele Betroffene vor Ort.
({4})
Bereits vor 15 Jahren gab es große Zweifel, ob die
Fehmarnbelt-Querung überhaupt sinnvoll ist. Die Bürgerinnen und Bürger hatten gute Argumente, um die PlaHerbert Behrens
nungen schon damals zu stoppen. Da ist zum Beispiel
das Nutzen-Kosten-Verhältnis. Das bedeutet, jeder investierte Euro muss mindestens das wieder hereinbringen, was investiert worden ist. Aber von vielen anderen
Großprojekten wissen wir, dass schöngerechnet wird,
dass zweifelhafte Annahmen von Planern dafür sorgen,
dass diese Bauprojekte überhaupt durchgedrückt werden
können. So ist es auch bei der Fehmarnbelt-Querung.
Die Bürgerinitiativen sind beharrlich geblieben. Der
Bund und das Land Schleswig-Holstein sahen sich gezwungen, das Dialogforum einzurichten. Aber sie wollten die Bürgerinnen und Bürger damit eigentlich dazu
bringen, endlich einzulenken. Das ist nicht gelungen. Ihr
Verständnis von Bürgerbeteiligung ist, dass Bürgerinnen
und Bürger ihren Widerstand aufgeben sollen. Dieses
Konzept von nachgelagerter Bürgerbeteiligung ist eindeutig gescheitert.
Die Bundesregierung steckt natürlich in der Klemme.
Sie hat ein Projekt der letzten Bundesregierung geerbt.
Aber heute haben wir die Große Koalition wieder auferstehen sehen. Beteiligt waren alle, die dafür sprechen.
Heute behaupten Sie immer wieder, der Staatsvertrag sei
nicht veränderbar. Auch das stimmt nicht. Es gibt eine
Verständigungsklausel in dem Vertrag, die schon angesprochen wurde, nach der die Vertragspartner Deutschland und Dänemark bei gravierenden Veränderungen neu
verhandeln können. Es gibt sogar einen gemeinsamen
Ausschuss, der regelmäßig tagt und in dem solche Fragen verhandelt werden können. Da muss nichts aufgekündigt werden.
Es ist nicht hinnehmbar, dass Sie sehenden Auges
Milliarden Euro versenken und zusätzlich auch noch die
Wirtschaftskraft Schleswig-Holsteins nachhaltig schwächen. Schluss damit!
({5})
Nach gravierenden Planungsänderungen - von der
Brücke zum Tunnel -, der Halbierung der Verkehrsprognosen, einer gravierenden Kostenexplosion, tausendfachen Einwendungen, großen Bürgerprotesten ist die
Zeit reif, den Sinn oder den Unsinn dieses Projektes festzustellen. Eine ergebnisoffene Neubewertung des Projektes muss her. Noch ließe sich das Projekt stoppen.
Noch sind keine Baufahrzeuge angerollt. Die Linke fordert Neuverhandlungen, nicht gegen den Staatsvertrag,
sondern mit den Mitteln, die dieser Staatsvertrag bietet.
Sollten Sie heute dazu nicht den Mut aufbringen - das ist
zu erwarten -, muss die neue Bundesregierung ran. Diejenigen, die sich schon heute als Regierungsalternative
anbieten, sollten wissen: Die Bürger sind beharrlich.
Aber auch die Linke wird den Auftrag, Verkehrspolitik
für die Bürger und mit den Bürgern zu machen, in die
neue Fraktion mitnehmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zu
dieser späten Stunde: Schön, dass noch Besucher anwesend sind. Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist
eine erstaunliche Debatte. Manche lernen aus Fehlern,
manche nicht. Zu Letzteren gehören leider
({0})
diese Bundesregierung und scheinbar auch einige aus
der Fraktion der SPD.
Seit Jahren diskutieren wir über die Risiken von
Großprojekten.
({1})
Wir streiten über Stuttgart 21. Wir erleben im ganzen
Land, dass Bürger mehr Mitsprache verlangen. Die
Menschen wollen umfassend eingebunden werden,
wenn die Politik ihr Lebensumfeld umgestalten will.
({2})
- Herr Hacker, genau das ist entscheidend. Das tun wir
so nicht.
({3})
Große Verkehrsprojekte greifen oft massiv in das Leben der Menschen vor Ort ein. Deswegen müssen wir
die Menschen beteiligen und es ihnen erklären. Aber das
reicht nicht. Es muss auch echte Möglichkeiten zur Änderung der Pläne geben,
({4})
sonst fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen.
Pseudobeteiligung ist schlimmer als gar keine Beteiligung; denn da weiß man von Anfang an, dass man nichts
ändern kann.
({5})
So etwas möchte ja scheinbar eine große Koalition
hier in diesem Hause. Durch den Staatsvertrag hat man
all die Erfahrungen mit Großprojekten in den letzten
Jahren offensichtlich wieder komplett vergessen. Der
Vertrag wurde geschlossen, das Projekt festgelegt. Erst
dann wurden die Bürgerinnen und Bürger als Alibi beteiligt. Deswegen ist unsere Forderung eine tatsächliche
Abwägung des Nutzens und der Risiken. Wir brauchen
endlich einmal einen wirklich ergebnisoffenen Dialog.
Ergebnisoffen bedeutet auch die Möglichkeit, aus dem
Projekt auszusteigen.
({6})
Nur wenn wir diese Möglichkeit schaffen und in den
Prozess ernsthaft einbeziehen, können wir auch die
Menschen vor Ort endlich einbinden. Andernfalls können wir es bleiben lassen.
({7})
Denn, werter Herr Storjohann, das ist unser Weg: mit
den Menschen, für die Menschen und nicht nur für die
hauptamtlichen Politikerinnen und Politiker.
({8})
Wir dürfen aber nicht nur über einzelne Projekte diskutieren. Das haben wir viel zu lange getan. Die Zukunft
der Mobilität muss im Gesamtzusammenhang gedacht
werden. Wir müssen erst festlegen, was wir mit unserer
Mobilität wirklich erreichen wollen. Wir müssen uns
Ziele setzen, was unser Verkehrsnetz zukünftig leisten
muss und wie wir das so günstig und umweltschonend
wie möglich schaffen. Erst dann dürfen wir uns um die
einzelnen Projekte und deren Verbindung kümmern.
Derzeit machen wir es genau umgekehrt. In der nächsten
Legislatur läuft der jetzige, völlig überholte Bundesverkehrswegeplan aus. Diesen müssen wir endlich zu einem
Bundesmobilitätsplan weiterentwickeln,
({9})
und zwar mit klaren Zielen und eindeutigen Prioritäten.
Wenn wir dazu ein Grundkonzept haben, können wir
auch wieder darüber reden, auf welchen Wegen wir zukünftig nach Dänemark kommen.
({10})
Die Bundesregierung hat das leider überhaupt nicht
verstanden. Stattdessen wurstelt sie weiter herum und
benutzt die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
mit der Deutschen Bahn, um Gelder für die Hinterlandanbindung der Fehmarnbelt-Querung zu parken.
Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen. Es gibt kein vernünftiges Gesamtkonzept für unseren Verkehr. Es gibt auch keine klaren Vorgaben für
die Deutsche Bahn, wie sie das Netz mit Steuergeldern
erhalten soll. Stattdessen werden ein unfertiges Verkehrsprojekt, Fehmarnbelt-Querung genannt, und eine
halbgare Vereinbarung mit der Bahn zusammengeworfen. Es geht zu wie auf dem Jahrmarkt. Das versteht kein
Mensch mehr.
({11})
Dieser Regierung fehlt eine Grundrichtung. Sie können nicht einfach alles so zusammenwerfen, wie es
gerade auf Ihrem Schreibtisch landet. Die Leute in unserem Land wollen endlich einmal wissen, ob die Regierung weiß, wo sie hinwill. Aber das ist von dieser Bundesregierung ganz offensichtlich nicht mehr zu erwarten.
Abgewirtschaftet hat sie.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Kollege Gero Storjohann hat vor knapp einem Jahr und
auch heute wieder zu den Anträgen der Linken und der
Grünen ausführlich Stellung genommen. Insofern, Herr
Kollege Hacker, werde ich mich im Wesentlichen mit Ihrem Antrag beschäftigen, weil er ja doch einige interessante Perspektiven aufweist.
Herr Behrens, vorab noch einige Worte. Sie sprechen
von einer nachhaltigen Entwicklung, die in SchleswigHolstein einsetzen muss, und von der Wirtschaftskraft,
die dahinterstehen muss. Ich habe Ihren Antrag von vor
zwei Jahren bezüglich der Weser-Vertiefung gelesen.
Wirtschaftskraft besteht bei Ihnen offenbar darin, dass
Sie Container mit Kajaks befördern wollen. Das ist das
Verständnis der Linken von Wirtschaftspolitik.
({0})
Ihnen, Frau Dr. Wilms, muss ich eines sagen. Sie haben hier ja vehement für Bürgerbeteiligung geworben
und dafür, dass wir das einfordern müssen, dass wir mit
den Bürgern etwas machen.
({1})
Das finde ich prima. Aber wenn die Ergebnisse nicht so
sind, wie Sie das erwartet haben, Beispiel Stuttgart 21,
dann zählt für Sie der Bürgerentscheid auf einmal nicht
mehr. Da müssten Sie dann konsequent sein.
({2})
Nun zum Antrag der SPD-Fraktion, der zwei gute Ansätze enthält. Erstens haben Sie erkannt, dass diese Bundesregierung auch nach dem Wahltag an der Entwicklung weiterarbeiten wird. Sie haben richtig erkannt, dass
diese Bundesregierung weitermachen wird.
({3})
Zweitens enthält Ihr Antrag ausnahmsweise einmal einen wahren Satz, nämlich dass die Feste FehmarnbeltQuerung eine große Herausforderung darstellt. Das haben Sie richtig erkannt.
({4})
Ich möchte in diesem Zusammenhang lobend erwähnen, dass die Sozialdemokraten sehr verlässlich sind.
Man kann sich darauf verlassen, dass sie auf Veränderungen reagieren, und zwar mit Angstmacherei. Sie wollen Angst schüren, Angst verbreiten. Genau so ist das
hier.
({5})
Der Staatsvertrag über den Bau der Fehmarnbelt-Querung wurde am 3. September 2008 unter Mitwirkung eines sozialdemokratischen Ministers geschlossen, der
- das habe ich hier noch stehen - wie kaum einer für
Pleiten, Pech und Pannen steht; aber das verkneife ich
mir jetzt einmal. Er hat den Vertrag damals geschlossen.
Da konnte einem schon angst und bange werden.
({6})
- Sie hatten den schwachen Minister zu verantworten.
({7})
Gott sei Dank tragen jetzt Bundeskanzlerin Merkel
und Peter Ramsauer die Verantwortung für dieses Projekt, sodass Ihre Angst, meine Damen und Herren von
der Opposition, völlig unbegründet ist. Die FehmarnbeltQuerung ist nicht der BER; das muss man deutlich sagen.
Diese Bundesregierung wird alles dafür tun, die Beeinträchtigungen für den Schiffsverkehr so gering wie
möglich zu halten.
({8})
Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion werden
sie dabei unterstützen.
({9})
Diese Bundesregierung wird alles tun, um Gefahr für
Leib und Leben der Menschen und für die Natur abzuwenden. Die Regierungskoalition wird dabei helfen. Wir
brauchen keine Nachhilfe von den Sozialdemokraten.
({10})
Das können wir auch so. Wir können es sogar besser.
Muss man Angst vor der Fehmarnbelt-Querung haben? Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Ja, wenn man
ein roter Berufspessimist ist.
({11})
Für normal denkende Menschen sieht die Sache ganz anders aus. Diese Menschen sehen die Chance, die dieses
Projekt mit sich bringt. Bei der Planung des Tunnels
zwischen Lolland und Fehmarn ist nichts von Dilettantismus, Gigantonomie oder möglichen Luxustrends zu
verspüren. Das ist übrigens keine Einschätzung der
CDU-Pressestelle, sondern dem Hamburger Abendblatt
vom 20. April dieses Jahres entnommen. Die Zeitung hat
recht: Hier geht es nicht um Prunk und Prestige, sondern
um dringend benötigte Infrastruktur, Herr Behrens: Infrastruktur gegen Stau und Stillstand, Infrastruktur für
Handel und Wandel in Europa, Infrastruktur für den
Fortschritt.
Uns ist auch klar, Herr Behrens und Frau Wilms, dass
es den Fortschritt nur mit den Anwohnern geben darf,
nicht gegen sie. Es ist nachvollziehbar, dass sich die
Menschen auf Fehmarn Gedanken über die Auswirkungen der Fehmarnbelt-Querung auf ihre Insel, ihr Umfeld
und ihre berufliche Existenz machen. Das sind berechtigte Fragen. Das verstehen wir. Diesen Fragen haben
wir uns gestellt und werden wir uns auch weiterhin stellen.
({12})
Ich glaube, dass gewisse Bedenken ausgeräumt sind. Die
guten Gespräche im Dialogforum Feste Fehmarnbeltquerung haben sicherlich einen Teil dazu beigetragen.
Ein sachlicher Dialog kann einiges bewegen.
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer wird sich für
eine zweite Bahntrasse an der Autobahn A 1 abseits der
Ferienorte einsetzen, damit die schweren Güterzüge
nicht durch die Zentren der Ortschaften auf der Insel rollen müssen. Die neue Trasse nimmt den Güterverkehr
auf, die alte Trasse bleibt zum Wohle der Anwohner und
Touristen erhalten. Das ist ein vernünftiger Kompromiss.
Das ist die Politik der Union. Das ist Verantwortung für
die Menschen. So müssen die großen Herausforderungen dieses Jahrhundertprojekts gemeistert werden: mit
den Menschen für die Menschen. Seien Sie mit uns optimistisch: Wir werden das gemeinsam hinbekommen.
Ihre Anträge werden wir selbstverständlich ablehnen.
Danke.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/13154. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Empfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/11365 mit dem Titel „Schutz vor Schiffs-
unfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstel-
len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von
Linken und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8912 mit dem Titel „Feste Fehmarnbeltquerung
auf den Prüfstand - Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
dem Königreich Dänemark verhandeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9407
mit dem Titel „Chancen und Risiken ergebnisoffen be-
werten - Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark
über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau
einer Festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen der Linken und Grünen ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. November 2011 zur Änderung der Richtlinie 98/78/EG, 2002/87/EG, 2006/48/EG und
2009/138/EG hinsichtlich der zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen eines
Finanzkonglomerats
- Drucksachen 17/12602, 17/12997 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/13245 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Ralph Brinkhaus-
Manfred Zöllmer-
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente ({1})
- Drucksache 17/12295 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 17/13131 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Patricia Lips-
Dr. Carsten Sieling-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,
Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren
- Drucksachen 17/8182, 17/13131 Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Carsten SielingBjörn Sänger
Zum Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes
liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in der aktuellen Debatte unter den Stichworten
„Honoraranlageberatung“ sowie „Finanzkonglomerate“
und im weiteren Sinne dann auch hinsichtlich der Besteuerung von Erlöspools in der deutschen Seeschifffahrt
gleich mehrere Maßnahmen. Lassen Sie mich zu zwei
Punkten Stellung nehmen.
Mit dem Gesetz zur Anlageberatung schaffen wir
Rahmenbedingungen und stärken damit die Finanzberatung auf Honorarbasis. Zu oft war im Zuge der Finanzkrise zu beobachten, dass Menschen in diesem Land
einen Schaden davongetragen haben, weil sie unzureichend - im schlimmsten Falle sogar falsch - beraten
wurden, wenn das Provisionsinteresse des Beraters stärker war als das eigentliche Anliegen des Kunden. Aus
den genannten Gründen haben wir die provisionsgestützte Beratung bereits reguliert, unter anderem im Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz sowie
im Finanzanlagenvermittlergesetz.
Nun wollen wir zusätzlich die Honorarberatung aus
ihrem Nischendasein herauslösen, um den Kunden eine
transparentere Wahlfreiheit als bisher zu geben. Hierfür
gehen wir heute einen ersten Schritt. Es ist ein erster
Schritt, weil wir uns, erstens, auf den auch für die Krise
maßgeblichen Finanzbereich konzentrieren. Der Versicherungsbereich bleibt in der Tat ausgeklammert. Das
hat neben den erforderlichen sehr umfangreichen Vorarbeiten auch einen anderen sehr guten Grund: Denn,
zweitens, wir nehmen bei diesem Gesetz erneut parallele
Verhandlungen auf europäischer Ebene zu einem vergleichbaren Thema vorweg. Bis zum Ende dieser Verhandlungen dauert es uns nicht zum ersten Mal zu lange.
Deshalb lösen wir einen Bereich heraus, bei dem bestimmte Inhalte absehbar sind, um wenigstens an einer
sehr wichtigen Stelle bereits den sprichwörtlichen Fuß in
die Tür zu bekommen. Wir schaffen damit eine gute
Grundlage. Diese Regulierung ist uns wichtig. Wir wollen damit ein weiteres Signal setzen.
({0})
Absehbar ist bereits, dass es am Ende keine komplette
Abschaffung der provisionsgestützten Beratung geben
kann. Sie ist und bleibt Bestandteil des Angebots. Beide
Varianten, die honorar- und die provisionsgestützte Beratung, haben Vor- und Nachteile. Keines der Modelle ist
frei von Interessenskonflikten. Viele Menschen haben
einen guten Kontakt zu ihren Vermittlern und Beratern,
oft über viele Jahre hinweg. Sie vertrauen ihnen, zumeist
auch zu Recht. Es ist deshalb nicht an uns, eine ganze
Branche unter Generalverdacht zu stellen. Unser Ziel ist
es auch nicht, die Kunden zu bevormunden. Der Berater
auf Honorarbasis soll jedoch in der Wahrnehmung der
Verbraucher gestärkt werden. Der Verbraucher soll erkennen, dass es mehr als eine Form der Anlageberatung
gibt.
Was sind die wichtigsten Eckpunkte? Die Honoraranlageberatung wird zu einem Berufsbild mit geschütztem
Begriff. Nur wer bestimmte Kriterien erfüllt, darf sich
künftig entsprechend bezeichnen. Das Regulierungsniveau inklusive der Qualifizierung wird darüber hinaus
angepasst. Das reicht von der Registrierung über die
Aufsicht und die Wohlverhaltenspflichten bis hin zur
Sachkunde und vielem anderen mehr.
Im Gegensatz zur Opposition wollen wir aber nicht,
dass dabei einseitig sogenannte Nettofinanzprodukte in
die Beratung einfließen. Das würde bedeuten, dass der
Berater rundweg gar keine Produkte einbeziehen dürfte,
die über einen Emittenten eigentlich mit einer Provisionsvergütung versehen sind. Die Nettoprodukte sollen
natürlich in erster Linie empfohlen werden. Auch von
uns wird dieser Weg verfolgt. Nur wenn das empfohlene
Finanzinstrument nicht provisionsfrei erhältlich ist, darf
dieser Weg eingeschlagen werden.
Doch auch dann gelten Regeln: Fällt eine Provision
an, darf diese nicht beim Berater verbleiben. Er hat also
keinen Vorteil davon. Er muss die Provision unverzüglich an den Kunden weiterleiten. Es gilt: Am Ende darf
ein Produkt dem Kunden auf keinen Fall zum Schaden
gereichen, aber auch nicht zu einem Mehraufwand führen. Für uns gilt aber auch: Nicht das Verfahren und
nicht Prinzipienreiterei, die zum Ausschluss von Dingen
führen könnten, die für den Kunden vielleicht sogar von
Vorteil wären, dürfen am Ende im Mittelpunkt stehen,
sondern das beste Produkt für den Kunden.
({1})
Ich möchte etwas zitieren:
Eine Honorarberaterin bzw. ein Honorarberater
muss aus dem gesamten Bereich von Finanz- und
Versicherungsinstrumenten optimale individuelle
Lösungen für seine Kundinnen und Kunden bereitstellen können.
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dies ist ein
Zitat aus Ihrem Antrag. Ich hätte es nicht besser formulieren können.
({2})
Abschließend sage ich: Der vorliegende Gesetzentwurf steht in einer Reihe mit den Gesetzen aus den letzten Jahren, mit denen diese Koalition nicht nur die Finanzbranche stärker reguliert hat, sondern vor allem
auch für den Verbraucher ein hohes Maß an Sicherheit
und Transparenz schaffen konnte. Er bildet eine Basis
für weitere Schritte. Damit können wir in einem wichtigen Bereich kurzfristig für mehr Sicherheit und Transparenz sorgen.
Lassen Sie mich in einem weiteren Teil meiner Ausführungen ein anderes Thema ansprechen. Es geht um
die sogenannten Schiffserlöspools im Bereich der deutschen Seeschifffahrt. Diese Pools sind ein Instrument zur
gemeinsamen flexiblen Vermarktung der in einem Pool
vereinten Schiffe, also im Prinzip eine gute Sache.
Die Frage, inwieweit eine Versicherungsteuer für
diese zur Anwendung kommen soll, ist kürzlich aufgeworfen worden. Das führt zur Verunsicherung. Wir wollen heute klarstellen, dass für diese Pools weder rückwirkend noch bis Ende 2015 eine Pflicht zur Zahlung einer
Versicherungsteuer entsteht. Damit wird Planungssicherheit gegeben. In der Folge soll es zu einer umfassenden
Neuregelung der Versicherungsteuerpflicht kommen.
Letztendlich ergibt sich diese Maßnahme aus den Lehren, die wir aus der Finanzkrise seit 2008 gezogen haben. Gerade auf den Schifffahrtsmärkten gab und gibt es
langanhaltende Verwerfungen. Wir wollen unsere maritime Wirtschaft damit unterstützen.
Danke schön.
({3})
Carsten Sieling hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der
Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf mit dem
wunderschönen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente“ ist leider ein weiterer Beleg dafür,
dass Sie zwar schöne Überschriften formulieren, der Inhalt aber selten hält, was die Überschrift verspricht.
Weil wir hier schon mehrfach darüber diskutiert haben und die Zeit schon fortgeschritten ist, möchte ich direkt sagen, dass es so leider nicht gelingen wird, eine
vernünftige und nachvollziehbare Alternative zu einer
standardisierten provisionsbezogenen Beratung und zu
einem provisionsbezogenen Vertrieb für die Menschen
zu schaffen.
Ich glaube, man hat bei meiner Vorrednerin sehr deutlich gemerkt, wie kompliziert und verworren das Konstrukt ist, das produziert worden ist. Dies hat ja viel mit
Konflikten in Ihren Reihen zu tun.
({0})
Bundesverbraucherministerin Aigner, die Sie ja jetzt
wieder zurück nach Bayern schicken, weil Sie dort eine
Reihe von Ersatzpersonal brauchen - auch gerade nach
dem heutigen Tag -,
({1})
hat einen umfangreichen Vorschlag gemacht, der in vielerlei Hinsicht vernünftige Elemente beinhaltet hat. Das
ist dann leider vom Bundesfinanzminister mit tätiger
Hilfe der FDP zersägt worden.
({2})
- Ich bedanke mich für diese Frage. Sie zeigt, man
konnte mir bislang gut folgen.
({3})
Ich will Ihnen meine Kritik kurz erläutern.
Erstens. Sie ermöglichen eben nicht eine durchgreifende und umfassende Beratung. Die Menschen brauchen Sicherheit, sie brauchen ein breit strukturiertes Angebot zu unterschiedlichen Produkten.
({4})
Darum ist es falsch, dass Sie kein umfängliches Berufsbild für Honorarberater vorsehen und auch keine produktübergreifenden Anlageberatungen ermöglichen.
Zweitens. Sie trennen nicht deutlich zwischen den
Vertriebskosten und den Produktkosten. Das ist der entscheidende Punkt. Die verpflichtende Ausweisung von
Nettotarifen wäre ein wichtiges Element. Sie sehen nur
vor - das ist der dritte Kritikpunkt -, denen, die etwas
verkaufen, die Möglichkeit zu geben, die Provision an
die Kunden weiterzuleiten. Damit geben Sie ein völlig
falsches Signal und irritieren an einer wichtigen Stelle.
({5})
Letztlich schaffen Sie es nicht, die Aufsicht in diesem
Bereich endlich einmal zu ordnen. Ich finde nach wie
vor, dass es ein Skandal ist, dass die Industrie- und Handelskammern und die Gewerbeaufsichtsämter, die in der
Gastronomie die Bedingungen kontrollieren, sich um
diesen schwierigen Bereich kümmern müssen. Wir haben von Beginn an gesagt, dass das alles von der BaFin
kontrolliert werden soll, aber Sie sehen dies wieder nicht
vor.
Im Ergebnis wird der Beratungssektor weiterhin eine
Subkultur bilden. Das ist schade. Das ist wirklich ein
Verlust für die Sicherheit und für die Perspektiven. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab und haben einen
eigenen Antrag vorgelegt. Wir bitten um Zustimmung
für diesen Antrag.
Ich darf, weil dies eine Debatte ist, in der verschiedene Punkte thematisiert werden, auch das Thema der
Schiffspools und der Versicherungsteuer ansprechen.
Frau Kollegin Lips, eines will ich ausdrücklich sagen.
Sie haben hier so schön formuliert: Und dann kam da
plötzlich irgendwoher der Vorschlag, diese Dinge einer
Versicherungsteuer zu unterwerfen. - Nennen Sie doch
bitte Ross und Reiter. Dieser Vorschlag ist von Bundesfinanzminister Schäuble gemacht worden, er hat weder
Hand noch Fuß und ist von Grund auf falsch und auch
nicht sachgemäß.
({6})
Das hat die Anhörung im Finanzausschuss sehr deutlich
gezeigt.
Sie haben jetzt versucht, zu reparieren. Ich hatte bis
vorgestern noch geglaubt, dass Sie richtig reparieren und
einsichtig geworden sind. Aber nein, Sie trauen sich
nicht. Sie machen eine befristete Regelung bis Ende
2015.
({7})
Damit schaffen Sie nur eine vorübergehende Rechtssicherheit. Ich habe heute eine Presseerklärung dazu gelesen, in der es hieß: „Das Damoklesschwert … ist an die
Seite gelegt worden.“ Richtig, es wird bis Ende 2015 an
die Seite gelegt, aber es liegt noch da, um dann wieder
aufgehängt zu werden.
Meine Damen und Herren, entweder sind diese Pools
versicherungsteuerpflichtig oder nicht. Ein bisschen
schwanger geht nicht. Sie legen hier einen solchen Unsinn vor. Gut, es gibt einen positiven Aspekt dabei: Wir
haben nach dem 22. September, wenn wir regieren, die
Aufgabe, daraus etwas Konsistentes zu machen und dafür zu sorgen, dass die Versicherungsteuer an der Stelle
wirklich der Vergangenheit angehören wird.
Angesichts dieser späten Stunde habe ich etwas Redezeit eingespart.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zuge der Finanzkrise gab es bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern, bei den Anlegerinnen und Anlegern eine große Verunsicherung. Sie wussten nicht,
wie sie mit der Situation umgehen sollten. Misstrauen ist
entstanden. Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU
und FDP hat reagiert. Rückblickend kann man mit Fug
und Recht feststellen: Es waren vier gute Jahre für
Deutschland im Bereich des Anlegerschutzes.
({0})
Wir haben Sicherheit und Vertrauen geschaffen,
({1})
indem wir beispielsweise das Anlegerschutzgesetz verabschiedet haben. Wir haben die Beratungsprotokolle
eingeführt. Wir haben die Produktinformationsblätter
eingeführt, die wir zukünftig reformieren werden; wir
wollen versuchen, sie zu vereinheitlichen. Wir haben ungedeckte Leerverkäufe verboten und die Kreditverbriefungen geregelt. Wir haben eine Initiative zu den Eigenkapitalquoten im Zuge des Basel-III-Prozesses gestartet.
Wir haben den Hochfrequenzhandel und den Derivatehandel reguliert.
({2})
Jüngst haben wir uns im Ausschuss mit dem AIFMUmsetzungsgesetz beschäftigt und den grauen Kapitalmarkt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Insgesamt
kann man wirklich mit Fug und Recht feststellen: Bislang waren es vier gute Jahre für Deutschland. Wir machen sie aber noch besser,
({3})
und zwar durch das Honoraranlageberatungsgesetz, das
wir vorgelegt haben.
({4})
Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und
Herren, schaffen wir Wahlfreiheit. Auf die Wahlfreiheit
kommt es uns nämlich an. Die Kundinnen und Kunden,
die Anlegerinnen und Anleger sollen die Wahl haben, zu
entscheiden, wie sie sich in ihren privaten Geldangelegenheiten beraten lassen.
({5})
Das ist eben der Unterschied zwischen uns und Ihnen:
Bei uns entscheidet der Kunde, bei Ihnen entscheidet das
Wir. Wir sind der Meinung, es ist besser, wenn der
Kunde entscheidet.
({6})
Aus diesem Grund haben wir das Berufsbild des
Honoraranlageberaters geschaffen. Wir haben klar festgelegt, welche Voraussetzungen er erfüllen muss, was er
machen darf und was er nicht machen darf. Vermutlich
wird es auch bei der Honorarberatung schwarze Schafe
geben. Davor ist man allerdings nie gefeit; auch die provisionsgestützte Beratung hat Vor- und Nachteile. Aber
jetzt kann der Kunde selbst entscheiden,
({7})
und ein Markt kann sich entwickeln.
In der Tat ist die Honorarberatung, Kollege Sieling,
noch nicht ganz so umfassend geregelt, wie wir es uns
wünschen würden. Allerdings muss man berücksichtigen: Im Rahmen der MiFID ist eine europäische Regulierung zu erwarten. In etwa zwei Jahren wird es so weit
sein, dass sie auch bei uns landet.
({8})
Damit wir dieses Gesetz dann nicht werden ändern müssen, sondern weiterhin Rechtssicherheit haben, haben
wir aus dieser europäischen Regulierungsrichtlinie das
herausgegriffen, was man schon jetzt umsetzen kann.
Dabei geht es im Wesentlichen um Wertpapiere, bedauerlicherweise nicht um Versicherungen. Weil es noch
keinen vernünftigen Markt für sogenannte Nettoprodukte gibt, also für Produkte, die keinen Provisionsanteil
enthalten, haben wir die Vorschrift eingeführt, dass der
Berater, wenn das für den Kunden beste Produkte eine
Provision beinhaltet, diese Provision an den Kunden
weiterleiten muss.
Insofern haben wir einen Ordnungsrahmen geschaffen, der für mehr Wettbewerb zwischen den Beratungsformen und für mehr Wettbewerb zwischen den Beratern
führen wird. Anbieter, die sagen: „Ich möchte meinen
Kunden zukünftig Honorarberatung anbieten“, können
dies tun, ohne in zwei Jahren möglicherweise mit einer
weiteren Gesetzesänderung rechnen zu müssen. Ich
finde, in Anbetracht sich ständig ändernder Rahmenbedingungen ist das eine gute Lösung.
Ich fasse zusammen: Der Kunde entscheidet, und wir
haben Wettbewerb geschaffen. Es waren in der Tat vier
gute Jahre für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat Harald Koch für die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verbraucherinnen und Verbrauchern entsteht jedes
Jahr durch falsche Anlageberatung und schlechte Finanzinstrumente ein Schaden von über 50 Milliarden Euro.
({0})
- Stellen Sie die Frage; dann sage ich Ihnen das.
({1})
Mit dem Honoraranlageberatungsgesetz will die Bundesregierung die Beratung auf Honorarbasis stärken, um
wenigstens ein klein wenig für bessere Finanzberatung
zu sorgen. Doch das gelingt ihr leider nicht. Das liegt
zum einen daran, dass sie zwei entscheidende Gründe
für massenhafte Falschberatung im Finanzbereich völlig
ignoriert: die provisionsgestützte Beratung und Vermittlung sowie den Vertriebs- bzw. Verkaufsdruck, der oft
auf Vermittlern und Beratern lastet. Zum anderen liegt es
daran, dass sie, um die manipulative Finanzlobby nicht
zu vergrätzen, nicht den Blick über den Tellerrand wagt.
Aus diesem Grund lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab. Wir haben aber zugleich einen Entschließungsantrag eingebracht, den ich Ihnen allen dringend zur
Lektüre empfehlen möchte.
Es reicht nicht aus, wenn man sich, wie es die SPD
und die Grünen mit ihren Anträgen tun, stur auf die Honorarberatung stürzt. Ihre Forderungen zur Stärkung der
Honorarberatung teilen wir aber weitestgehend.
Wir wollen unter anderem, dass der Begriff „Berater“
unter Bezeichnungsschutz gestellt wird. Es müssen natürlich auch Nettotarife für alle Finanzmarktinstrumente
eingeführt werden. Eine bundeseinheitliche Aufsicht für
alle Honoraranlageberater hat durch die BaFin zu erfolgen. Die Vergütung der Beratenden muss zum Schutz
einkommensschwacher Menschen besser geregelt werden. Honorarberatung darf auch nicht zum Privileg der
Reichen werden. Schließlich sollte die Beratung finanzinstrumenteübergreifend erfolgen und zum Beispiel Versicherungen mit einschließen.
({2})
Deswegen habe ich Ihre Aussage, Frau Lips, wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Doch nun muss der Blick weiter reichen als von der
Tapete bis zur Wand: Wir brauchen eine wirklich unabhängige und flächendeckende verbrauchergerechte
Finanz- und Anlageberatung auf einer viel breiteren Basis. Daher müssen neben der Honorarberatung vor allem
die Beratungsangebote der Verbraucherzentralen und der
Schuldnerberatungsstellen gestärkt werden, aber auch
die öffentliche Rechtsberatung zum Anlegerschutzrecht.
Die Verbraucherzentralen müssen personell, strukturell,
rechtlich und finanziell in die Lage versetzt werden, ihr
Beratungsangebot und ihre Marktwächterfunktion ausbauen zu können.
Im Gegensatz zu SPD und Grünen will die Linke das
System der provisionsgestützten Finanzberatung und -vermittlung überwinden.
({3})
An dieser Stelle merkt man ganz deutlich, dass auch
SPD und Grüne das Problem der Falschberatung nicht
ernst genug nehmen
({4})
und der Finanzlobby nicht an den Karren fahren wollen.
({5})
Solange es eine provisionsgestützte Finanzberatung gibt,
hat die Honorarberatung wenige Chancen.
Produktbezogene Verkaufsvorgaben der Kredit- und
Finanzinstitute, der Versicherungen und Finanzvertriebe
sind ebenso gesetzlich zu verbieten. Schließlich brauchen wir neben einer Verbraucherschutzbehörde für
Finanzmärkte einen Finanz-TÜV, der allen Finanzmarktakteuren, -instrumenten und -praktiken nur bei Unbedenklichkeit eine Zulassung erteilt.
({6})
Ohne Zulassung kein Geschäft, nur so vermeidet man etliche weitere Verlustgeschäfte für die Bürgerinnen und
Bürger, die sich in der Folge auch in steigender Altersarmut bemerkbar machen.
Alles in allem getraut sich nur die Linke, das Goldene
Kalb der Provision zu schlachten. Die Finanzberatung
muss endlich von den Bedürfnissen, Lebensumständen
und Anlagezielen der Verbraucherinnen und Verbraucher
ausgehen, und zwar nur davon. Es bestehen also
noch große Probleme im finanziellen Verbraucherschutz.
Eine deutliche Stärkung der Verbraucherinteressen und
-rechte ist dringend notwendig. Nur die Linke ist hier
Anwältin der Bürgerinnen und Bürger.
Die Zahlen, Herr Brinkhaus, habe ich von Professor
Dr. Andreas Oehler von der Universität Bamberg, nachzulesen im Handelsblatt vom 27. Dezember 2012.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Ziel des Gesetzentwurfes, die Honorarberatung in Deutschland zu fördern und zu regulieren - Frau
Lips hat dieses Ziel schön vorgetragen -, unterstützen
wir aus vollem Herzen.
({0})
Leider wird dieses Ziel mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht erreicht. Anstelle eines umfassenden,
an den Kundenbedürfnissen orientierten Berufsbildes
zur Honorarberatung, das alle Finanzprodukte einschließt - Sie haben da aus dem Entschließungsantrag
der Linken zitiert -, produzieren Sie weiteres Chaos auf
dem Markt.
Mit Begriffen wie „Honoraranlagenberater“ und „Honorarfinanzanlagenberater“, die mitnichten über alle für
die Verbraucher relevanten Produkte beraten können,
schaffen Sie bei den Verbrauchern Verwirrung. Stellen
Sie sich die Situation vor: Sie gehen zu einem Honorarfinanzanlagenberater. Der darf Sie aber nicht dahin gehend beraten, dass Sie zum Beispiel erst einmal eine
private Haftpflichtversicherung oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen sollten, bevor Sie sich
Gedanken über Aktien, Sparpläne und geschlossene
Fonds machen. Wir finden: Das hat nichts mit umfassender Finanzberatung zu tun.
({1})
Ich denke, es ist keine Kaffeesatzleserei, wenn ich prognostiziere, dass nur ein kleiner Kundenkreis bereit sein
wird, für eine derart eingeschränkte Form der Beratung
überhaupt Honorare zu zahlen.
Die Bundesregierung und die Fraktionen von Union
und FDP vergeben die Chance auf einen Paradigmenwechsel im Markt für Finanzberatung in Deutschland.
Wenn Sie einen wirklichen Paradigmenwechsel, einen
echten Wettbewerb zwischen Honorar und Provision, gewollt hätten, dann wären Sie mutige Schritte gegangen,
zum Beispiel mit der Pflicht zur Einführung von Nettotarifen und der steuerlichen Gleichstellung von Provision und Honorar.
({2})
Frau Lips, Sie haben gesagt, die Durchleitung von
Provisionen sei eine Alternative zu den Nettotarifen.
Mitnichten! Die Provisionsdurchleitung kann nur ein
Modell für einen Übergang sein. Danach brauchen wir
die Pflicht zur Einführung von Nettotarifen, damit die
Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich verständliche Alternativen am Markt haben, die sie ohne ein
Ökonomiestudium miteinander vergleichen können.
Das Instrument der Provisionsdurchleitung wurde in
der Anhörung hart kritisiert. Damit öffnen Sie neuen
Fehlanreizen Tür und Tor. Sie erlauben damit eine vermeintliche Schnäppchenjagd für die Verbraucherinnen
und Verbraucher und verlagern Fehlanreize vonseiten
der Anbieter und Vermittler zu den Verbrauchern. Hier
kann man sich nur fragen: Halten Sie das wirklich für
sinnvoll?
Meine Damen und Herren, die Kritik aus dem Bundesrat, aus der Anhörung und vonseiten der Opposition
haben Sie mit wenigen Ausnahmen ignoriert.
({3})
Von Ilse Aigners großen Ankündigungen, die sie 2011 in
Form eines durchaus brauchbaren Eckpunktepapiers
vorgelegt hat, ist nur wenig übrig geblieben.
({4})
Herausgekommen ist dieser Gesetzentwurf, den man,
denke ich, mit Fug und Recht als Entwurf eines Honorarberatungsverhinderungsgesetzes bezeichnen kann,
und so etwas lehnen wir ab.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat nun Ralph Brinkhaus für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Maisch, ich glaube, das, was Frau Aigner in ihr
Eckpunktepapier geschrieben hat, ist schon zu großen
Teilen umgesetzt worden.
({0})
Man muss auch einfach einmal eines sagen: Das, was
davon in dieser Legislaturperiode umzusetzen war, ist
auch umgesetzt worden. Wir müssen hier einfach auch
einmal realistisch bleiben.
({1})
Die Honoraranlageberatung ist von dieser Bundesregierung und von dieser Regierungskoalition das erste
Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzlich
verankert worden.
({2})
Das Honoraranlageberatungsgesetz steht als ein Element
in einer ganz langen Reihe von vielen Verbraucherschutzmaßnahmen, die diese Bundesregierung auf den
Weg gebracht hat.
({3})
Diese Bundesregierung hat so viel für den Verbraucherschutz im Bereich der Finanzen getan wie keine Bundesregierung zuvor. Auch das gehört zur Wahrheit.
({4})
Um Ihnen das nur noch einmal in Erinnerung zu rufen, nenne ich: das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, die
Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie, die Verbesserungen der Aufsichtsstrukturen, das AIFM-Umsetzungsgesetz, das gestern durch den Ausschuss gegangen ist, die
Deckelung der Provisionen bei der privaten Krankenversicherung und bei der Lebensversicherung, unsere Mitwirkung an MiFID II - daran wirken wir noch immer
mit - und Maßnahmen in Bezug auf die Geldautomaten
und Verjährungsfristen.
({5})
Ich glaube, wenn Sie in der Zeit, in der Sie Verantwortung getragen haben, so viel vorzuweisen gehabt hätten, dann könnten Sie stolz sein. Das haben Sie aber
nicht.
({6})
Kommen wir zum zweiten Gesetzentwurf, den wir
heute hier verabschieden werden. Es geht dort um Finanzkonglomerate. Dazu hat sich noch keiner geäußert.
Ich glaube, der Kollege Zöllmer wird sich dieser Aufgabe gleich annehmen.
Ich mache es einmal ganz kurz und bündig: Was ist
ein Finanzkonglomerat? Das ist ein Konzern, in dem
- ganz grob vereinfachend gesagt - sowohl ein Versicherungsunternehmen als auch eine Bank ist. Das bedeutet,
dass es da durchaus Probleme geben kann, weil Banken
und Versicherungen getrennt beaufsichtigt werden. Deswegen ist es notwendig, dass die gemeinsame Aufsicht
koordiniert wird. Deswegen ist es notwendig, dass man
bei Organisation und Eigenmitteln besondere Anforderungen beachtet.
Das Ganze war im deutschen Recht bisher in einigen
Gesetzen geregelt, aber noch nicht europarechtskonform. Das wird jetzt nachgeholt. Wir werden europäische Vorgaben umsetzen, und wir werden aus verschiedenen Gesetzen ein neues Gesetz machen: ein
Finanzkonglomerate-Aufsichtsgesetz, in dem verschiedene Paragrafen vereint sind. Wir werden auch diesen
Bereich vernünftig überwachen lassen. Ich glaube, das
ist im Wesentlichen unstrittig. Wir haben darauf verzichtet, in größerem Umfang etwas hinzuzufügen. Dementsprechend war es in den Ausschussberatungen eigentlich
einhellige Meinung, dass dieses Gesetz ein gutes Gesetz
ist. Ich bedanke mich bei den Koberichterstattern für die
vertrauensvolle Zusammenarbeit.
„Was machen eigentlich zwei Gesetze wie das Honoraranlageberatungsgesetz, also ein Gesetz zum Verbraucherschutz, und ein Gesetz zu Finanzkonglomeraten in
ein und derselben Debatte?“, könnte man sich fragen.
Die erste Antwort darauf ist: Wir verabschieden so unglaublich viele Gesetze im Bereich der Finanzmarktregulierung und des finanziellen Verbraucherschutzes,
dass wir von unseren Parlamentarischen Geschäftsführern immer weniger Debattenzeiten für Themen dieser
Art bekommen. Dementsprechend müssen wir diese beiden Gesetzentwürfe an dieser Stelle zusammen beraten.
Die zweite Antwort darauf ist: Zwischen diesen beiden Bereichen gibt es doch eine Verbindung. Wir haben
gerade sehr viel über den finanziellen Verbraucherschutz
gesprochen, über Transparenz, über Informationen, über
Beratungen, über Vertrieb, über Provisionen und ähnliche Dinge. Aber eigentlich ist es so, dass der beste finanzielle Verbraucherschutz stabile Finanzmärkte sind.
Genau das hat diese Bundesregierung mit auf den Weg
gebracht, und zwar durch über 25 Initiativen, Gesetzgebungsverfahren, Umsetzungen von europäischen Normen. Das haben wir eigentlich richtig gut gemacht.
({7})
Wir haben dabei ein System gehabt: Wir haben dafür
gesorgt, dass bei Finanzinstituten, Banken und Versicherungen weniger Fehler gemacht werden. Wir haben
Fehlanreize bei den Vergütungsstrukturen beseitigt. Wir
haben den Unsinn, der bezüglich Ratingagenturen gemacht worden ist, abgestellt. Wir haben Verbriefungen
und Großkredite reguliert.
Wir haben in einem zweiten Schritt dafür gesorgt,
dass die Fehlertragfähigkeit dieser Institute größer wird.
Das heißt, wir haben Eigenkapital- und Liquiditätsregeln
geschaffen. Bestimmte Sachverhalte, bestimmte Geschäfte, wie Leerverkäufe, haben wir aus dem Gesetz herausgenommen.
Wir haben in einem dritten Schritt die Aufsicht gestärkt und haben erst einmal Transparenz geschaffen.
Bestimmte Informationen sind für die Aufsicht das erste
Mal überhaupt sichtbar. Wir haben europäische Aufsichtsstrukturen verändert, wir haben deutsche Aufsichtsstrukturen verändert, und - was ganz wichtig ist wir haben ganz viele Bereiche, die nie reguliert waren,
das erste Mal überhaupt in die Aufsicht hineingenommen: den grauen Kapitalmarkt, Hedgefonds. Das ist etwas, wofür diese Bundesregierung verantwortlich ist.
Diese Punkte werden deswegen ein wesentlicher Bestandteil in der Bilanz dieser Bundesregierung und dieser Koalition nach vier Jahren Regierungszeit sein.
Wir haben darüber hinaus Neues auf den Weg gebracht, nämlich ein Restrukturierungsregime für Banken. Das ist erstmals in Europa geschehen. Es ist sehr
schade, dass es ein solches Restrukturierungsregime
noch nicht auf europäischer, sondern nur auf deutscher
Ebene gibt. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode daran arbeiten, dass sich das ändert.
Der letzte Punkt, den wir im Bereich „sichere Finanzmärkte“ umgesetzt haben: Wir waren die Ersten, die dafür gesorgt haben, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, sich auch an den Kosten beteiligen.
({8})
Wir haben die Bankenabgabe auf den Weg gebracht. Es
war diese Bundesregierung, die es geschafft hat, das Instrument der Finanztransaktionsteuer in den europäischen Verhandlungsprozess einzubringen.
({9})
Ich schließe meinen Redebeitrag zu dieser nächtlichen Zeit. Man kann eines sagen: Wir haben eine ziemlich gute Bilanz im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes. Wir haben eine super Bilanz im Bereich
der Finanzmarktregulierung. Das Ganze werden wir in
der nächsten Legislaturperiode fortsetzen, und darauf
freuen wir uns schon.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Manfred Zöllmer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Brinkhaus, hat die merkwürdige Zusammenlegung der Beratung dieser beiden Gesetzentwürfe
vielleicht etwas damit zu tun, dass Sie verschleiern wollen, dass Sie etwa im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes und der Honorarberatung inhaltlich gar
nichts vorzuweisen haben? Kann das nicht der Grund
sein? Ich glaube, das ist er.
({0})
- Nein, ich habe jetzt noch eine Minute und 36 Sekunden Redezeit.
({1})
Eine Erkenntnis der Finanzkrise war, dass die Aufsicht über Finanzinstitute verbessert werden muss. Der
Kollege Brinkhaus hat eben definiert, worum es bei diesen Finanzkonglomeraten geht. Wir halten es für richtig,
dass deren Beaufsichtigung in Deutschland verbessert
wird. Wir haben zwar nur relativ wenige solcher Unternehmen hier in Deutschland; aber trotzdem können sie
im Fall einer Krise systemische Wirkungen entfalten.
Sie setzen dabei die europäische Finanzkonglomeraterichtlinie um. Es ist im Wesentlichen eine Eins-zueins-Umsetzung europäischer Vorgaben. Ich darf daran
erinnern: Sie loben sich hier immer für Gesetzentwürfe,
die im Wesentlichen nur Umsetzungen europäischer
Vorgaben sind.
({2})
Das muss man, glaube ich, auch einmal sagen.
Sie haben auf der Ebene der Finanzkonglomerate nur
einen Stresstest neu eingeführt. Das halten wir in diesem
Zusammenhang für richtig.
({3})
In einem Fachgespräch ist deutlich geworden, dass
dieser Gesetzentwurf auch von den Experten insgesamt
begrüßt wird. Es gab Fragen, wie Bundesbank und
BaFin bei der Aufsicht eigentlich zusammenarbeiten sollen, und es gab den Wunsch der Versicherungen, deutlich zu machen, dass es hier schlanke Strukturen geben
solle und es nicht sinnvoll sei, dass zweimal berichtet
wird. Wir hoffen, dass das insgesamt dann auch umgesetzt wird. Doppelte Berichtswege sollten hier vermieden werden. Wir müssen hier etwas mit weniger Bürokratie schaffen. Wir werden diesem Gesetzentwurf
zustimmen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 zur
Änderung verschiedener EG-Richtlinien hinsichtlich der
zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen eines Finanzkonglomerats. Der Finanzausschuss empfiehlt
in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13245, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/12602
und 17/12997 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13131, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12295 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dieser Empfehlung folgen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13247. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/13248. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der
Linken mit den Stimmen des Hauses abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13249. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von Grünen und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/13131 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8182 mit
dem Titel „Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen
bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, Beate
Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz bei Steinkohleimporten
- Drucksachen 17/10845, 17/12228 Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. Lämmel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil für
die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute fand in Karlsruhe die Hauptversammlung der
Energie Baden-Württemberg AG statt; die von RWE
fand vor einer Woche in Essen statt. Beide Veranstaltungen haben eines gemein: Sowohl in Karlsruhe als auch in
Essen wurde ein kunterbuntes Schauspiel vorgeführt,
und zwar von Aktivisten, denen Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, mit Ihrem Antrag hier
und heute das Wort reden. Ein paar Kollegen von der
SPD machen munter mit.
({0})
Dazu bedarf es einer Erklärung. Umwelt-NGOs fahren den Häuptling eines indigenen Volkes aus dem Norden Kolumbiens, wo Steinkohle abgebaut wird, von
Hauptversammlung zu Hauptversammlung der großen
Energieversorger in Deutschland. Dabei inszenieren sie
dessen Auftritt zur Verfolgung ihrer eigenen Zwecke wie
eine Zirkusvorführung mit Trommeln und Federn.
Ich finde das aus zwei Gründen unter aller Kritik:
Erstens haben wir die Zeiten, in denen es solche plakativen Vorführungen aus einer anderen Welt gegeben hat,
hinter uns gelassen - Gott sei Dank! Zweitens ziehen
diese Organisationen mit solchen Kampagnen im Ausland das Ansehen deutscher Unternehmen durch den
Dreck, und damit auch das von Deutschland.
({1})
Auch wenn Sie in Ihrem Antrag etwas anderes behaupten: Der Handel mit fungiblen Commodities - dazu
zählt die Steinkohle - wird über organisierte Warenterminbörsen abgewickelt. Das bedeutet: Einzelnen Rechnungsposten einen Fußabdruck oder Footprint anzuheften, ist schlichtweg unmöglich. Aber das ist auch gar
nicht nötig. Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Finanzierung rohstofffördernder Unternehmen berichten.
Die deutschen EVU beziehen ihre Kohle von weltweit aktiven Unternehmen aus der Rohstoffförderung.
Diese Unternehmen sind schon durch ihre Eigentümerstrukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten Standards einzuhalten. Lassen Sie mich das erklären: Kapitalsammelstellen, wie zum Beispiel das California
Public Employees’ Retirement System, auch als Calpers
bekannt, aber auch andere bekennen sich zu strengen sozialen und ökologischen Selbstverpflichtungen.
({2})
Gemäß dieser Selbstverpflichtungen entscheiden sie
über Veräußerung oder Akquise von Beteiligungen an
Unternehmen in Milliardenhöhe.
Es ist nicht schwierig, nachzuvollziehen, dass Auftritte wie der heutige oder der der vergangenen Woche
auch für deutsche Unternehmen nicht unbedingt hilfreich sind; denn auch hier achten Investoren mehr und
mehr auf ethisch-ökologische Anlagekriterien. Was hilft
es zum Beispiel unserem gemeinsamen Projekt, der
Energiewende, wenn wir in der ohnehin schon stark belasteten Energiebranche auch noch die Anleger verschrecken?
({3})
Damit machen wir es ihnen doch noch schwerer, in dringend benötigte Gaskraftwerke - hören Sie zu, Herr Kollege Krischer - oder den Zubau erneuerbarer Energien
zu investieren. Das wollen Sie doch.
Nachhaltigkeit kann und darf für diese Unternehmen
schon aufgrund ihrer Eigentümerstrukturen nicht nur
eine Worthülse im CSR-Bericht sein. Also müssen viele
Aktiengesellschaften nachhaltig wirtschaften, soziale
und ökologische Standards einhalten, allein schon deshalb, um ihre Kapitalgeber bei der Stange zu halten. Ein
Schelm, wer Böses dabei denkt. Vielleicht ist das aber
auch gerade das Ziel dieser NGOs oder Ihres Antrages.
Ich sehe zusätzlich einen betriebswirtschaftlichen
Punkt, weshalb diese Unternehmen soziale und ökologische Standards einhalten. Sie führen nämlich zu Nachhaltigkeit und damit über sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand in den Förderregionen zu Produktivität
und Verlässlichkeit. Diese Produktivität und Verlässlichkeit liegen doch im Interesse aller.
Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben zur Flankierung dieser Handelsaktivitäten gemacht. Es gibt weltweit Initiativen und Abkommen, die der Verbesserung
der Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstandards dienen. Wir sind in vielen Fällen aktiv eingebunden. Wir unterstützen die Initiative zur Verbesserung der
Transparenz in der Rohstoffindustrie politisch und finanziell. Wir sind derzeit Mitglied im internationalen Aufsichtsgremium. Zahlreiche Staaten haben die formulierKlaus Breil
ten Standards anerkannt, ebenso eine Reihe von
Unternehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWE
und die KfW dazu - eigeninitiativ und ohne Zwang. Das
im Antrag genannte Lieferland Kolumbien ist Mitglied
der International Labour Organization, und es hat die
ILO-Konvention 169 ratifiziert. Die Überwachung obliegt alleine der ILO. Damit sind die im Antrag erhobenen Forderungen entweder unnötig oder bereits erfüllt.
Wir unterstützen die betreffenden Länder mit unserer
Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Gerade
erst haben wir hier über ein Rohstoffabkommen mit Peru
und Kolumbien debattiert. Auch damit wirken wir auf
die Anerkennung und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards hin. Alles, was darüber hinausgeht, widerspricht jedenfalls meinem Verständnis von der nationalen Souveränität einzelner Staaten. Aber diese Bedenken
blenden Sie einfach aus.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Zuerst einmal ein Kompliment, Klaus Breil: Sie haben
gerade in Ihrer Rede einen sehr langen englischen Begriff verwendet und haben ihn fehlerfrei vorgetragen.
Das war ganz hervorragend.
({0})
Ich fange deshalb auch mit zwei englischen Begriffen
an. Liebe Freunde von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antrag, in dem es letztlich um Transparenz im Rohstoffsektor geht, sind Sie nicht First Movers, sondern
Late Followers; denn die SPD hat bereits im Januar 2013
zwei Anträge zu diesem Thema eingebracht: erstens den
Antrag „Transparenz in den Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien“
und zweitens den Antrag „Transparenz für soziale und
ökologische Unternehmensverantwortung herstellen Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Arbeits- und Umweltbedingungen europäisch einführen“.
Im ersten Antrag zur Transparenz der Zahlungsflüsse
im Rohstoffbereich geht es vor allem um die Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft in solchen rohstoffreichen Ländern, die Gewinne aus dem Bergbau in
erster Linie in die Taschen korrupter Eliten lenken und
dadurch eine Wohlstandsentwicklung bei den zumeist
völlig verarmten Bevölkerungen gar nicht erst zulassen.
Außerdem soll durch Zertifizierung von Minen sichergestellt werden, dass Rohstoffe aus Konfliktregionen nicht
auf die Weltmärkte gelangen und auf diese Weise zur
weiteren Finanzierung bewaffneter regionaler Konflikte
beitragen.
Im zweiten Antrag zur Transparenz von Arbeits- und
Umweltbedingungen finden sich ähnliche Ansätze wie
im heute zu diskutierenden Antrag der Grünen. Allerdings beschränkt sich unser Antrag nicht auf einen einzigen Rohstoff, die Steinkohle, sondern adressiert den
gesamten Bereich der energetischen und nicht energetischen Rohstoffe. Das ist uns wichtig, Herr Krischer, weil
erst gar nicht der Eindruck entstehen soll, es gehe uns in
Wahrheit nicht um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Minensektor oder die Umweltbedingungen bei
der Förderung, sondern um die Diskriminierung eines
bestimmten Rohstoffes.
({1})
Wir fordern in unserem Antrag, die Unternehmen gemäß der OECD-Leitsätze zu verpflichten, vollständige
Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten
ihrer Geschäftstätigkeit entlang der gesamten Lieferkette
abzugeben. Wir verlangen außerdem, dass die Informationen durch unabhängige Prüfgesellschaften geprüft
und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Aspekte öffentlich verfügbar gemacht werden.
Wir fordern des Weiteren ein europäisches bzw. möglichst internationales Akkreditierungs- und Zertifizierungssystem sowie die gesetzliche Verankerung eines
Indikatorensystems für die verpflichtende Unternehmensberichterstattung. Dieses Indikatorensystem soll
sich an den OECD-Leitlinien, den ILO-Kernarbeitsnormen, der ILO-Erklärung für grundlegende Prinzipien
und Rechte bei der Arbeit sowie an der Global Reporting
Initiative - auch das ist englisch - und der ISO 26 000
orientieren.
({2})
Der Antrag der Grünen berücksichtigt in Punkt 13 lediglich die ILO-Konvention 169 über indigene Völker,
nicht aber die ILO-Konventionen 176 und 182 zum Arbeitsschutz in Bergwerken und zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Das ist uns, ehrlich gesagt, zu wenig.
({3})
Unsere Anträge sind also in jeder Hinsicht umfassender, weshalb wir uns bei dem Antrag der geschätzten
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
heute leider enthalten müssen.
({4})
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dass
die Kohle, die Braunkohle und die Steinkohle, im deutschen Energiemix im Moment eine ganz entscheidende
Rolle spielt; denn ansonsten, liebe Freunde von der grünen Partei, könnten Sie heute diese Debatte gar nicht
führen, weil wir keine Grundlast hätten. Denn die Sonne
scheint nicht, auch ist es draußen windstill.
({0})
Ohne den Strom aus Kohlekraftwerken und Atomkraftwerken könnten Sie heute diese Debatte überhaupt nicht
führen.
({1})
Ich danke Ihnen für Ihren Antrag ganz herzlich.
Schon auf der ersten Seite kann man eine wichtige Erkenntnis lesen. Das ist interessant. Da steht der Satz,
dass „Deutschland noch für eine längere Zeit weiterhin
Steinkohle importieren“ wird.
({2})
Sehr gut! Sie haben gelernt, dass wir in Deutschland einen guten Energiemix aus verschiedenen Energieträgern
brauchen. Es hat sich offensichtlich nun auch bei Ihnen
festgesetzt, dass die Steinkohle wie auch die Braunkohle
im Energiemix in Deutschland eine sehr wichtige Rolle
spielen. Das werde ich mir für andere Debatten merken.
Wir werden ja gelegentlich wieder darauf zurückkommen.
Dann hört es aber auf, was Erkenntnisse in Ihrem Antrag betrifft. Gefordert wird, wie oft in Ihren Anträgen,
die Einführung einer Reihe zusätzlicher Berichtspflichten für deutsche Unternehmen. Sie richten die weitere
Forderung an die Bundesregierung, dass sie sich auf EUEbene für noch mehr Bürokratie engagieren soll. Aber
Sie wissen auch ganz genau, dass die deutsche Wirtschaft nicht mehr Bürokratie braucht, sondern mehr Zeit,
um unternehmerisch tätig zu sein.
Für uns als christlich-liberale Koalition ist der Bürokratieabbau Politikziel. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode das Ziel gesetzt, 25 Prozent Bürokratie
abzubauen. Wir stehen kurz davor.
({3})
Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, bei
dem es wieder um mehr Bürokratie geht. Außerdem
muss man auch deutlich sagen: Nicht jedes Problem auf
der Welt kann mit deutschen Gesetzen und deutschen
Verordnungen gelöst werden. Das wissen auch Sie eigentlich ganz genau; denn bei den Förderländern, die Sie
in Ihrem Antrag aufgeführt haben, handelt es sich um
souveräne Staaten.
({4})
Wir sind keine Kolonialmacht, die ihre Verordnungen
diesen Ländern aufzwingen kann, um dort für Ordnung
zu sorgen.
({5})
So etwas würden Sie sich vielleicht wünschen, aber das
geht eben nicht, Herr Krischer.
Bei den aufgezählten Forderungen geht aus meiner
Sicht jedes Maß verloren. Die Privatautonomie und die
Organisationshoheit privater Unternehmen haben in Ihrem Gedankengut keinerlei Bedeutung. Ich will auf all
Ihre Forderungen gar nicht eingehen; mein Kollege Breil
hat dazu schon einiges gesagt.
Auf eine Unklarheit Ihres Antrages muss man aber
schon hinweisen: Sie wollen die Verpflichtung von Unternehmen einführen, „innerhalb ihrer Einflusssphäre“
auf Standards zu achten, die sie nicht unmittelbar beeinflussen können. Das ist doch sehr fraglich. Das müssen
Sie mir einmal erklären. Wie wollen Sie das denn definieren? Wie soll das abgegrenzt werden?
({6})
Das ist im Prinzip außerhalb der internationalen Standards, die schon existieren. Sie werden uns sicherlich sagen, was Sie damit meinen. Denn Sie wissen ja auch genau, dass es beim internationalen Rohstoffabbau eine
Unzahl von NGOs gibt. Die Medien werfen einen sehr
genauen Blick auf die Abbaubedingungen vor Ort nicht bloß bei der Kohle, sondern auch bei anderen Rohstoffen.
({7})
Insofern ist Öffentlichkeit in großem Umfang hergestellt. Ich verweise hierzu auch auf den Artikel zum
Kohleabbau in Kolumbien vom 18. April 2013 in einer
großen Wochenzeitung.
Sie versäumen, in Ihrem Antrag zumindest einmal zu
erwähnen, was die christlich-liberale Koalition in diesem Bereich schon geleistet hat.
({8})
Deshalb will ich Ihnen das gern noch einmal kurz sagen.
({9})
Die Bundesregierung setzt sich bereits im Rahmen
der G-8- und auch der G-20-Verhandlungen für eine
breite internationale Unterstützung der EITI-Initiative
ein - das hat ja selbst Kollege Hempelmann schon erAndreas G. Lämmel
wähnt -, und wir ermuntern Unternehmen ganz intensiv,
sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen.
({10})
Diese Schwerpunkte sind schon in der Rohstoffstrategie
der Bundesregierung von 2010 festgelegt. Hätten Sie
einmal einen Blick hineingeworfen, hätten Sie uns diese
Debatte heute ersparen können. Dann hätten Sie eine
Menge Energie gespart und wären auch eher zu Hause
gewesen.
Ich will nicht noch einmal auf das Thema Rohstoffpartnerschaften eingehen. Denn genau diese Rohstoffpartnerschaften erfüllen ja das, was Sie in Ihrem Antrag
fordern. Hier geht Deutschland also ganz neue Wege,
und es ist, so glaube ich, international auch sehr anerkannt, dass diese Rohstoffpartnerschaften in den Beziehungen zwischen einzelnen Staaten ein völlig neues Niveau herstellen.
Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe - auch das ist nicht unbekannt - führt bereits ein
Pilotprojekt im Rahmen der G 8 zur Zertifizierung von
Handelsketten - in diesem Fall für mineralische Rohstoffe - durch. Aber Kollege Hempelmann hat ja schon
darauf hingewiesen, welche schmale Spur Ihr Antrag
fährt. Es geht eben nur um die Kohle. Das ist ja sozusagen Ihr Hauptangriffspunkt.
Ich will damit schließen, dass an Ihrem Antrag auch
interessant ist, dass Sie indirekt beschreiben, dass das
deutsche Bergrecht und die deutschen Gesetzlichkeiten
für die Rohstoffgewinnung eigentlich hervorragend sind,
dass sie das Vorbild sein sollen für die Rohstoffgewinnung in der Welt.
({11})
Dafür bedanken wir uns natürlich sehr; denn Sie haben ja schon in mehreren Anträgen versucht, gegen das
aktuelle Bergrecht und für ein modernes Bergrecht zu argumentieren. Jetzt wollen Sie das in die Welt tragen.
Also, Sie müssen sich einmal für irgendeine Variante
entscheiden.
({12})
Sie merken, Ihr Antrag ist voller Widersprüche, ist
sehr schmalspurig, und deswegen können wir ihm heute
leider auch nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind immer noch mitten im fossil-atomaren Zeitalter gefangen.
({0})
Obwohl wir in Deutschland aus der Atomkraft und aus
der Steinkohleförderung ausgestiegen sind, werden immer noch 20 Prozent des deutschen Stroms aus Steinkohle gewonnen. Die Tendenz ist steigend, und Planungen für den Bau neuer Steinkohlekraftwerke werden
vorangetrieben.
({1})
Zwei Studien haben uns in der letzten Zeit gezeigt,
warum eine echte Energiewende mit den großen Energiekonzernen nicht zu machen ist. Das Schwarzbuch
Kohlepolitik von Greenpeace hat die Verfilzung von
Politik und Kohlewirtschaft aufgedeckt, die den sozialökologischen Umbau blockiert.
({2})
- Dass Sie das ärgert, glaube ich.
Das beste Beispiel dafür ist die STEAG. Für die sechs
NRW-Stadtwerke war die Übernahme durch die STEAG
ein einträgliches Geschäft. Sie werden dieses Jahr mit einer Gewinnausschüttung von 25 Millionen Euro rechnen
können.
Aber mit der öffentlich-rechtlichen Kontrolle waren
auch Hoffnungen auf einen sozial-ökologischen Umbau
verbunden. Die wurden bisher enttäuscht. Statt ausreichend in die Erzeugung erneuerbarer Energien zu investieren, setzt die STEAG auf fragwürdige Geschäfte im
Ausland. Vorschläge der Linken vor Ort, über einen Beirat aus Kommunalvertretern, Gewerkschaften und Umweltverbänden mehr Transparenz und mehr Druck für
einen Umbau zu erreichen, werden blockiert.
Dabei wäre der Ausstieg aus der Kohleverstromung,
wie ihn die Linke fordert, auch wirtschaftlich geboten.
({3})
Denn Kohlekraftwerke lassen sich nicht mehr rentabel
betreiben. Selbst für das hochmoderne Kraftwerk Lünen
- Herr Kollege, hören Sie zu! -, das diesen Herbst ans
Netz gehen soll, lässt sich das nachweisen. Um aber an
der Kohleverstromung festhalten zu können, steigt nun
der Druck der Lobby auf die FDP - oder die FDP ist
selbst die Lobby, wie wir gehört haben -, die Energiewende zu blockieren.
Die Konzerne setzen derweil auf den Import von Billigkohle. Das ist Gegenstand der zweiten Studie: Die
beiden NGOs FIAN und urgewald haben recherchiert,
woher RWE und andere die Steinkohle für deutsche
Kraftwerke beziehen, und haben in ihrer Studie „Bitter
Coal“ Erschreckendes festgestellt: In Kolumbien soll für
einen neuen Tagebau der Ranchería-Fluss umgeleitet
werden, die Lebensader für die dort lebenden Indigenen
und für die Landwirtschaft in dieser Region. In den USA
werden in den Appalachen die Bergspitzen weggesprengt. Im russischen Kusbass hat die Kohleförderung
Luft, Böden und Trinkwasser enorm belastet. Im trockenen Südafrika bedroht der hohe Wasserverbrauch der
Kohleminen die Trinkwasserversorgung. Der RWE-Lieferant Drummond aus den USA steht in Verdacht, für die
Ermordung von zwei kolumbianischen Gewerkschaftern
verantwortlich zu sein.
Der Antrag der Grünen will in einem ersten Schritt
Transparenz bei Handelswegen, Zahlungen, Krediten
und den sozialen und ökologischen Standards in den Lieferbeziehungen erreichen. Das ist gut so, aber es ist nicht
ausreichend.
({4})
Es geht dabei auch darum, dass über multilaterale und
bilaterale Verträge Spielräume wieder eingeschränkt
werden. Das wollen wir alle nicht. Deshalb müssen
künftig Menschenrechte, Sozialstandards und Umweltschutz Vorrang bei allen Handels- und Rohstoffabkommen bekommen.
({5})
Wenn wir aber mit der umweltzerstörenden und sozial
verheerenden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss machen wollen, müssen wir in den Industrieländern beginnen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas,
Kohle und Metallen zu entkoppeln.
({6})
An einem Kohleausstieg, der absoluten Senkung des
Rohstoffverbrauchs und einer fairen Welthandelsordnung kommen wir deshalb nicht vorbei.
Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Und nun hat Oliver Krischer für die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin froh, dass wir diese Debatte heute hier führen, wenn
auch zu später Stunde, und darf ganz herzlich Gäste aus
Kolumbien auf der Tribüne begrüßen; Herr Breil hat
eben schon auf Kolumbien hingewiesen.
Ich muss schon sagen, dass Sie, Herr Breil und Herr
Lämmel, mit Ihren Beiträgen hier ein Bild abgegeben
haben,
({0})
das irgendwo zwischen Kabarett und Sarkasmus anzusiedeln ist.
({1})
Wenn Sie sich mit der Situation vor Ort auseinandersetzen würden - ich möchte am Beispiel Kolumbien deutlich machen, was die Menschen dort erleben, die vom
Kohlebergbau betroffen sind -, dann würden Sie, glaube
ich, hier anders sprechen.
({2})
Kolumbien ist für Deutschland inzwischen zum wichtigsten Lieferland für Steinkohle geworden. Dort betragen die Förderkosten unter 20 Euro die Tonne. Das geben die Unternehmen jedenfalls hinter vorgehaltener
Hand zu. Der Weltmarktpreis liegt bei 80 bis 100 Euro
die Tonne. Selbst wenn man Förderzins und Transportkosten abzieht, ist das ein absolutes Riesengeschäft.
Wenn Sie nach Nordkolumbien kommen und sich die
Gegend angucken, in der die Kohle abgebaut wird, werden Sie feststellen: Das ist das Armenhaus des Landes.
Bei den Menschen, die dort in der Region leben, kommt
überhaupt nichts an. Dass Rohstoffsegen in Wahrheit ein
Fluch ist, das können Sie dort besichtigen.
({3})
Die Menschen, die das Pech haben, dass sie gerade
auf der Kohle leben, die von internationalen Konzernen
wie Cerrejón, Glencore, Xstrata, Prodeco und anderen
- Drummond, ein amerikanischer Konzern, ist eben
schon erwähnt worden - abgebaut werden soll, trifft es
ganz besonders hart. Sie müssen erleben, dass sie von ihrem Land vertrieben werden, dass sie vielfach nicht entschädigt werden, weil es in Kolumbien oft keinen Nachweis gibt, dass man Land besitzt. Wenn sie vielleicht
doch entschädigt werden, bekommen sie ein Haus, aber
ihre Existenzgrundlage ist weg. Das Ganze endet in den
Slums von Städten. Das ist das Ergebnis der Politik des
Rohstoffabbaus ohne Rücksicht auf Verluste. Das kann
uns an dieser Stelle nicht egal sein.
({4})
Ich will hier gar nicht über die Naturzerstörung reden.
Ich will nicht über die Umweltverschmutzung reden. Ich
will nicht über den Wasserverbrauch reden. Das Allerschlimmste, das man zur Kenntnis nehmen muss, ist,
dass die Verantwortlichen vor Ort, die Unternehmen und
die Regierungsstellen, das alles gar nicht abstreiten. Die
sagen: Wir haben ein Riesenproblem. Das findet alles so
statt, wie ich es eben beschrieben habe. - Es gibt dort
eine organisierte Verantwortungslosigkeit. Einer schiebt
die Verantwortung auf den anderen. Am Ende gucken
alle weg, und das alles nur, um den Gewinn zu maximieren auf Kosten von ein paar Tausend betroffenen Menschen, denen man mit einem verschwindend geringen
Betrag zu einer vernünftige Existenz verhelfen könnte.
Dass Sie dies nicht ernst nehmen und hier nicht einmal
darüber reden wollen, finde ich beschämend.
({5})
Wir haben den Antrag eingebracht, damit endlich etwas passiert - Herr Kollege Hempelmann, es ist richtig,
dass man das alles viel umfassender machen kann; insoweit haben wir Ihrem Antrag zugestimmt -: Man kann
im Kohlebergbau die Verbindung vom Abbau, also dem
Bagger, bis zum Kessel, in dem die Kohle verbrannt
wird, herstellen. Damit ist auch klar, wer die Verantwortung trägt, nämlich dass Unternehmen wie RWE, Eon,
STEAG, EnBW und andere, die die Kohle beziehen,
Verantwortung für das tragen, was dort passiert. Dort
muss sich etwas ändern.
({6})
Wir sind der festen Überzeugung - die Europäische
Kommission ist mit ihrem Richtlinienentwurf schon viel
weiter; er wird leider von der Bundesregierung blockiert -,
dass nur durch diese Transparenz, dass die Menschen sehen, woher die Kohle kommt, die im Kraftwerk vor Ort
verbrannt wird, erreicht werden kann, dass sich hier tatsächlich etwas ändert.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss. - Ich glaube und gebe auch
die Hoffnung nicht auf - auch wenn Sie heute den Antrag wieder ablehnen -, dass wir erreichen, dass die Unternehmen in diesem Land die Verantwortung dafür
übernehmen werden, was dort passiert. Dies kann uns
nicht egal sein. Es zerstört die Existenzgrundlage von
vielen Menschen, die an den Rohstoffen überhaupt nicht
partizipieren. Das müssen wir ändern.
Ich danke Ihnen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Transparenz bei Steinkohleimporten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12228, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10845 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes
- Drucksache 17/12012 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0})
- Drucksache 17/13219 Berichterstattung:Abgeordnete Johannes SelleAngelika Krüger-LeißnerDr. Claudia WintersteinKathrin Senger-SchäferClaudia Roth ({1})
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/13219, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12012 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmen
will, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
29. Juni 2012 zur Gründung einer Assoziation
zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika
andererseits
- Drucksache 17/12355 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2})
- Drucksache 17/13176 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerKlaus BarthelHans-Werner EhrenbergWolfgang GehrckeKerstin Müller ({3})
1) Anlage 13
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute zu später Stunde
über das Assoziationsabkommen der Europäischen
Gemeinschaft mit Zentralamerika, ein Abkommen, das
seinesgleichen sucht. Wir reden heute nicht über irgendeinen bilateralen Vertrag oder eine x-beliebige Freihandelszone. Wir reden über ein Assoziationsabkommen,
wie es umfassender nicht sein könnte. Ich meine damit
wirklich alle Aspekte.
Gestatten Sie mir, Ihnen diese Bedeutung ein wenig
zu veranschaulichen. Es geht hier nämlich nicht vorrangig um den wirtschaftlichen Aspekt und um bestimmte
Zollquotenregelungen, wie das von meinen Kollegen
von der Opposition und von einigen wenigen deutschen
Hilfswerken behauptet wird.
({0})
Jene haben das Abkommen einfach nicht verstanden.
Nochmals: Es geht bei dem Assoziationsabkommen vor
allem um die Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union in den Bereichen Demokratie, Stärkung der Zivilgesellschaft, Umweltschutz, Achtung der Menschenrechte, Schaffung von nachhaltigem Wohlstand, Integration und Frieden.
Was ist daran eigentlich auszusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition? Welche Geisteshaltung steckt dahinter, dass Sie dieses Abkommen im
Ausschuss rundweg abgelehnt haben? Dass hierbei auch
die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Herabsetzung von Handelsbarrieren nicht ausgeklammert werden dürfen, versteht sich von selbst. Wirtschaftliche
Freiheit und der bessere Zugang zu einem breiten Warenangebot und freien Märkten schaffen Wohlstand und
Arbeitsplätze. Das sind Dinge, die die Länder Lateinamerikas dringend benötigen. Ich finde es geradezu lächerlich, wenn bestimmte Hilfswerke und meine Kollegen von der Opposition in diesem Zusammenhang
behaupten, durch dieses Abkommen würden Arbeitsplätze in Zentralamerika zerstört.
({1})
Ich habe sehr ausführlich mit allen Botschaftern der
zentralamerikanischen Länder in Berlin über den Inhalt
und die Auswirkungen dieses Abkommens gesprochen.
Ich habe vor kurzem Guatemala und Nicaragua besucht
und dort mit Regierungsvertretern diskutiert. Stellen Sie
sich vor: Die Rückmeldungen waren von allen Seiten
positiv.
({2})
Dass die Europäische Union mit Zentralamerika ein
solch umfassendes Abkommen nicht nur auf Augenhöhe, fair und ohne Druck verhandelt hat, sondern in
vielen Punkten sogar in Vorleistung geht, ist für alle
Zentralamerikaner hochattraktiv.
Es ist nicht nur immer wieder zur Sprache gekommen, dass die EU als Vorbild für Zentralamerika in Sachen Integration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
betrachtet wird, sondern man ist vor allem stolz darauf,
dass es ein Abkommen zwischen zwei Regionen ist;
denn das existiert in dieser Form bis dato nur einmal auf
der Welt. Darauf sind die Zentralamerikaner stolz. Man
spricht sogar von einem Modellcharakter dieses Abkommens für andere Regionen.
({3})
Die Attraktivität des Abkommens ist de facto so hoch,
dass auch die Regierung von Panama die EU gebeten
hat, ihm beitreten zu dürfen.
Nun hatte ich vor meinem Besuch in Nicaragua vermutet, dass speziell die linksorientierte sandinistische
Regierung von Daniel Ortega das Abkommen ablehnen
würde, wie es ja auch von den Linken und anderen abgelehnt wird. Weit gefehlt. Man versicherte mir nicht nur,
dass man Vorteile im Abkommen erkennen könne, sondern auch, dass man es sogar als erstes Land ratifiziert
habe.
Auch wenn ich mich wahrlich nicht als Freund sandinistischer Politik bezeichnen möchte, frage ich mich,
warum meine Kollegen von den Linken eine andere
Position als Ortega vertreten. Sie sollten sich einmal vor
Ort mit Ihren Freunden genauer darüber informieren; das
hilft.
({4})
Wir verpflichten die Länder Zentralamerikas durch
dieses umfangreiche Vertragswerk vor allem dazu, einen
gemeinsamen Wertekonsens zu achten und ihn in Zusammenarbeit mit uns weiterzuentwickeln. Deshalb verdient Zentralamerika auch in Zukunft unsere Partnerschaft auf Augenhöhe. Jetzt gilt es, von unserer Seite
Druck aufzubauen, damit auch alle anderen EUMitgliedstaaten das Abkommen zügig ratifizieren. Hier
sehe ich die Bundesregierung auf europäischer Ebene in
der Pflicht. Lassen wir die Länder Zentralamerikas, die
die Ratifizierung dieses Abkommens von europäischer
Seite dringend wünschen und benötigen, jetzt nicht im
Stich.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Ehrenberg, in Ehren:
({0})
Was Sie eben über das Abkommen gesagt haben, hat
sich unheimlich schön angehört: Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat usw.
({1})
Sie haben gesagt, es wäre ein umfassendes Abkommen,
aber das können Sie nur Menschen erzählen, die dieses
Abkommen nicht gelesen haben.
({2})
Deswegen will ich vor allen Dingen darauf eingehen,
was in diesem Abkommen wirklich steht.
Zunächst einmal wollen wir festhalten, was Assoziierung im eigentlichen Wortsinn bedeutet, nämlich Zusammenschluss, Vereinigung. Assoziierung meint etwas im
umfassenden Sinn. Im Handlexikon der Europäischen
Union von Bergmann, aus dem ich hoffentlich mit Zustimmung des Präsidenten zitieren darf, steht dazu:
Die Assoziierungsabkommen haben völkerrechtsverbindliche Wirkung, beruhen auf einem System
wechselseitiger Rechte und Pflichten und sehen gemeinsame paritätisch besetzte Ausführungsorgane
vor. … Assoziationsräte, -ausschüsse und Parlamentarische Assoziationsausschüsse.
Assoziierungsabkommen sind also damit eine besondere
Form mit politischen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Dimensionen.
Wir müssen uns aber fragen: Genügt dieses Abkommen den hehren Ansprüchen, die an das Abkommen gestellt werden? Um das herauszufinden, müssen wir uns
erst einmal die Situation in den Partnerländern anschauen. Ich glaube, dazu wird noch einiges gesagt werden.
Die zentralamerikanischen Länder haben Diktaturen
und Bürgerkriege erlebt, sie sind enorm gewaltintensiv,
sie haben hohe Mordraten zu verzeichnen, und als Demokratien sind sie sehr labil. Honduras, zum Beispiel,
hat vor nicht allzu langer Zeit einen Putsch hinter sich
gebracht. Das haben Sie von der FDP zwar richtig gefunden, aber mit Demokratie hatte das wenig zu tun.
({3})
Minimalste Menschenrechtsstandards werden in vielen
dieser Länder überhaupt nicht erfüllt. Man darf nicht nur
mit Regierungen reden, sondern man muss sich selbst
ein Bild von der Lage des Landes machen.
({4})
Es ist allgemein bekannt, dass Honduras nach Kolumbien die höchste Mordrate an Gewerkschafterinnen und
Gewerkschaftern hat, es ist eine Hochburg von Drogenhandel, Menschenhandel und Geldwäsche. Das alles
kann man überall nachlesen, aber auch an Ort und Stelle
beobachten.
Das Abkommen selber verrät alles. Ja, es ist ein sehr
detailliertes Freihandels- und Marktöffnungsabkommen, aber die Erwähnung von Menschenrechten, Demokratie usw. - Herr Ehrenberg hat das eben beschworen ist reine Dekoration.
Das fängt beim Volumen an. Ein Fünftel dieses Abkommens beschäftigt sich mit den hehren Zielen der
Einhaltung der Menschenrechte und der Förderung der
Demokratie, auch mit Arbeitsrecht, vier Fünftel beschäftigen sich mit dem Freihandel und der Wirtschaft.
Schauen wir uns die Sprache an. Sie ist verräterisch,
wenn es darum geht, zu klären, wie belastbar die Ankündigungen, für mehr Demokratie zu sorgen, sind. Da heißt
es so schön - wer solche Abkommen kennt, der kennt
auch die Sprache -, dass man für die Grundsätze der
Rechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführung
eintreten will, dass man die Grundsätze der Demokratie,
der Menschenrechte und der Grundfreiheiten achten
will, dass man zusagt, bei der Armutsbekämpfung zusammenzuarbeiten, dass es ein Bewusstsein gibt der
Notwendigkeit eines umfassenden Dialogs über Migration, dass es Ziele gibt wie die privilegierte politische
Partnerschaft. Und - das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen - es geht zumindest um die - ich zitiere
wörtlich -:
… Aufrechterhaltung und vorzugsweise Weiterentwicklung des Niveaus der guten Regierungsführung
und der Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen, dass
durch die wirksame Anwendung der internationalen
Übereinkünfte erreicht wird, die zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens dieses Abkommens für die Vertragsparteien gelten …
Das bedeutet zunächst: Künftige Abkommen werden
nicht eingehalten. Das heißt auch: Wir verpflichten uns,
etwas einzuhalten, wozu wir ohnehin schon verpflichtet
sind. Das ist ja sensationell. Dann geht es weiter mit dem
institutionellen Rahmen. Der Assoziationsrat empfiehlt
und braucht Konsens. Der Assoziationsausschuss unterstützt, gibt sich eine Geschäftsordnung und beschließt.
Dann gibt es noch einen Unterausschuss, der sich auch
eine Geschäftsordnung gibt und beschließt. Der Parlamentarische Assoziationsausschuss erarbeitet Empfehlungen.
Das kann man alles nachlesen - alles, bloß nichts Verbindliches: keine Kontrolle, keine Umsetzung, keine
Sanktionen. Und das bei der Situation in diesen Ländern.
Das geht so bis zu dem Passus im Hinblick auf die „Achtung der wesentlichen Grundsätze und Rechte am Arbeitsplatz, die in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation festgelegt sind“.
Dann war da noch etwas, was man bei der Debatte
dieser Tage hervorheben muss - ich zitiere wörtlich -:
… erkennen die Vertragsparteien die gemeinsamen
und international vereinbarten Grundsätze der guten Regierungsführung im Steuerbereich an und bekennen sich zu ihnen.
Sensationell - bei dem, was wir über die Steueroase
Panama gehört haben! Zum Glück für alle Adams und
Evas im Steuerparadies Panama sucht man im Abkommen vergebens nach einer Umsetzung oder gar Kontrolle
dieses Bekenntnisses.
So geht es im ersten Fünftel bis auf Seite 25 weiter.
Man könnte sagen: So ist das nun einmal in internationalen Verträgen - da bekommt man nichts Verbindlicheres
hin, wenn die Bedingungen so unterschiedlich sind.
Aber dann - auf den restlichen rund 70 Seiten kommt es: Da geht es um Wirtschaft und Handel, und da
ändern sich Inhalt und Sprache dieses Abkommens
plötzlich. Das muss man sich einmal durchlesen. Plötzlich ist die Rede von Rechten und von Pflichten. Zum
Beispiel ist die Rede von der „Schaffung eines wirksamen, fairen und berechenbaren Streitbeilegungsmechanismus“. Einen solchen gibt es im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie nicht.
Anders als bei den Menschenrechten gibt es klare Definitionen, zum Beispiel dazu, was unter „Tage“ zu verstehen ist. Es wird nicht aufgeführt, was unter Demokratie und Menschenrechten zu verstehen ist, aber was unter
„Tage“ zu verstehen ist, nämlich Werktage. Es wird bis
ins letzte Detail beschrieben, was unter „Person“ oder
unter „Maßnahme“ zu verstehen ist. Da geht es um
Rechtssicherheit, um Maßnahmen und Verwaltungsverfahren.
Plötzlich lauten die Verben nicht mehr „sollen“ und
„streben wir an“, sondern „muss“, „wir verpflichten uns“
usw. Da wird es dann plötzlich verbindlich.
Da werden branchenweite Marktzugänge und Niederlassungsfreiheit, Liberalisierung im elektronischen Geschäftsverkehr, bei Dienstleistungen, bei verpflichtenden
Überprüfungen zum Investitionsschutz, bei Kurierdiensten, Post, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen,
im öffentlichen Beschaffungswesen, Urheberrecht usw.
bis ins letzte Detail geregelt.
Dann kommen zum Schluss noch einmal die Gremien
zum Tragen. Die haben bei allen Handelsfragen - bei allen Handelsfragen! - umfassende Kompetenzen, Kontrollrechte und Sanktionsmöglichkeiten.
Also: Wir gestalten intensiv die Wirtschaft. Regelungen zum Alltagsleben, zur Umwelt der Menschen bleiben im Handelsteil. Da soll die Welt am europäischen
Wesen genesen. Aber bei den Menschenrechten, der Arbeit, der Umwelt und den Steuern, da sind wir unheimlich flexibel, tolerant und geduldig.
Deswegen genügt ein solches Abkommen, das sich
auch noch Assoziationsabkommen nennt, unseren Ansprüchen nicht. Das hat einfach etwas damit zu tun, dass
wir Politik für die Menschen und nicht für die Märkte
machen wollen.
({5})
Das Wort hat nun Egon Jüttner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem in den 1980er-Jahren begründeten Dialog
von San José haben sich die Beziehungen zwischen den
Ländern der Europäischen Union und den Ländern Zentralamerikas stetig intensiviert. Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Guadalajara bekräftigten beide Regionen
ihren Entschluss, diesen Prozess weiter voranzutreiben
und die Beziehungen weiter auszubauen. Die Verhandlungen zu dem jetzt vorliegenden Abkommen begannen
unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im Oktober
2007. Mit dem Assoziationsabkommen stellen die beiden Regionen ihre langjährigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen auf eine neue und intensivere Grundlage.
Durch den Handelsteil des Abkommens werden neue
Geschäftsmöglichkeiten geschaffen, die zusätzliche Arbeitsplätze in Zentralamerika und in der Europäischen
Union nach sich ziehen. Der Zugang für Produkte aus
Zentralamerika zum europäischen Markt wird deutlich
verbessert. Europa bietet den zentralamerikanischen
Staaten einen Absatzmarkt mit rund 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Natürlich spielen hier
auch andere Faktoren wie die Wettbewerbsfähigkeit der
Preise sowie die Qualität der Produkte eine Rolle. Dennoch stellt das Handelsabkommen einen wichtigen
Schritt für die Exportausweitung der zentralamerikanischen Länder auf den europäischen Markt dar.
({0})
Die Rate der Exporte aus der Europäischen Union in
die zentralamerikanischen Staaten ist mit rund 0,2 Prozent bislang sehr niedrig. Auf der anderen Seite gehen
rund 12,3 Prozent der zentralamerikanischen Exporte in
die Europäische Union, wobei zwei Drittel davon aus
Costa Rica kommen. Die zentralamerikanischen Staaten
kommen durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Erhöhung der Importquoten in den Genuss weitreichender
neuer Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Markt.
In Studien, die für die EU-Kommission durchgeführt
wurden, wird der positive wirtschaftliche Effekt für Zentralamerika auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt. Insbesondere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Ausfuhrerzeugnissen wirken sich die Senkung der Einfuhrzölle
und die Erhöhung der Importquoten aus, beispielsweise
bei Bananen, Zucker, Rindfleisch, Fisch und Rum.
Darüber hinaus gewährt die Europäische Union mit
dem Inkrafttreten des Abkommens volle Zollfreiheit für
gewerbliche Erzeugnisse zentralamerikanischen Ursprungs. Umgekehrt werden auch die europäischen Exporteure, die gewerbliche Erzeugnisse und Fischereierzeugnisse nach Zentralamerika ausführen, vollständig
von der Pflicht zur Entrichtung von Zöllen befreit. Europäischen Investoren bietet das Abkommen auf dem zentralamerikanischen Markt ein stabiles Wirtschafts- und
Investitionsumfeld. So werden für Investoren Anreize
geschaffen, vermehrt in den zentralamerikanischen Ländern zu investieren.
Weiter verpflichten sich die Vertragspartner mit dem
Abkommen, im Rahmen ihrer Handelsvereinbarungen
Nachhaltigkeits- und Umweltschutzstandards einzuhalten.
Damit wird deutlich, dass dieses Assoziationsabkommen
weit über ein herkömmliches Freihandelsabkommen hinausgeht. Zentrales Anliegen der Europäischen Union
ist dabei auch die Stabilisierung und Demokratisierung
Zentralamerikas. So bilden die Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einen wichtigen Teil des Abkommens. Weiter thematisiert das Abkommen die Zusammenarbeit auf konkreten Gebieten,
so etwa beim Kampf gegen Terrorismus, Drogen, Geldwäsche und organisierte Kriminalität.
({1})
Gegner des Assoziationsabkommens kritisieren die
ihrer Meinung nach einseitige Akzentuierung der Handelspolitik in dem Abkommen. Tatsächlich dürfen Menschenrechte und wirtschaftliche Interessen sich nicht
ausschließen und kein Hindernis für den Aufbau sozialer
Wirtschafts- und demokratischer Gesellschaftsstrukturen
in den mittelamerikanischen Staaten sein. Die EU muss
und wird alles daransetzen, etwa die Beachtung der
Rechte der indigenen Bevölkerung einzufordern.
({2})
Sie wird ihre Möglichkeiten nutzen, etwa im Bereich
großer Bergbauprojekte oder bei der Abholzung, auf die
zentralamerikanischen Staaten so einzuwirken, dass eine
Verschärfung bestehender Konflikte, die die Gegner des
Abkommens befürchten, vermieden wird.
({3})
- Davon gehe ich aus.
({4})
Viele politische Akteure in den Staaten Zentralamerikas, nicht nur Mitglieder der jeweiligen Regierungen erhoffen sich von diesem Abkommen eine Verbesserung
der wirtschaftlichen Situation aller Bevölkerungsschichten in ihren Ländern. Wir befürworten deshalb das Abkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika, und wir sind überzeugt davon, dass es sich für
beide Partner positiv auswirken wird. Daher bitte ich Sie
um Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren zwar heute zu sehr später Stunde
über dieses Assoziationsabkommen, aber das ist noch
lange kein Grund, daraus eine Märchenstunde zu machen, wie die Bundesregierung es hier betrieben hat.
({0})
Wir haben darauf bestanden, hier über dieses zu
schließende Assoziationsabkommen zu debattieren, weil
wir die Möglichkeit haben, mit darüber zu entscheiden.
Das ist nicht bei vielen Entscheidungen der EU möglich.
Dieses Recht müssen wir nutzen. Vor allem haben wir
als Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine große
Verantwortung, weil wir hier auch über die Zukunft von
Millionen von Menschen in Zentralamerika entscheiden.
({1})
Ähnlich wie bei dem Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru, über das wir hier auch sehr kontrovers diskutiert haben, gibt es viele Vorbehalte. Denn
Freihandel schafft Vorteile für die Industriestaaten, für
wirtschaftlich starke Staaten, aber nicht für die Länder
des Südens. Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab.
({2})
Es wurde bereits erwähnt, dass es in Zentralamerika
Staaten wie Honduras und Guatemala gibt, die zu den
gefährlichsten der Welt zählen, in denen es die höchsten
Mordraten und massive Menschenrechtsverletzungen
bei Landkonflikten gibt. Vor allem in Honduras - auch
das wurde schon erwähnt - hat die Zahl der Menschenrechtsverletzungen seit dem Putsch 2009 massiv zugenommen. In diesem Zusammenhang muss ich einen Satz
in Richtung FDP sagen: Der Kollege Breil hat vorhin in
der Debatte zu den Steinkohlenimporten das Festlegen
sozialer und ökologischer Standards als Einmischung in
innere Angelegenheiten bezeichnet. Die FDP und die
Friedrich-Naumann-Stiftung haben aber kein Problem
damit, einen Putsch in Honduras zu unterstützen. Ich
frage mich: Was ist denn eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Länder?
({3})
Da gibt es einen sehr großen Unterschied. Sie pervertieren wirklich die Ansprüche an die wirtschaftliche Zusammenarbeit.
({4})
Ich muss dazu sagen: Wir haben ja bereits Erfahrungen mit Freihandel. Zentralamerika hat bereits mit den
USA ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, CAFTA.
Dort konnten wir die Folgen solch eines Freihandelsabkommens sehr genau sehen: Es gibt billige US-Importe
im Nahrungsmittelbereich, die regionalen Märkte sind
zusammengebrochen, die eigene landwirtschaftliche
Produktion auch. Jetzt sind diese Länder abhängig von
Nahrungsmittelimporten. Bei steigenden Preisen führt
das zu mehr Hunger und zu mehr Armut. Dies ist eine
Gefahr für die Ernährungssicherheit. Das können wir als
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
nicht verantworten.
({5})
Was war die Antwort aus dem Wirtschaftsministerium, als wir im Ausschuss darüber diskutiert haben?
Die Bevölkerung kann zukünftig nicht nur US-Waren
kaufen, sondern auch EU-Waren und EU-Nahrungsmittel.
({6})
Was ist denn das für eine zynische Logik? Das ist doch
keine Problemlösung, sondern verschärft diese Problemlage. Wir müssen die eigene Produktion in diesen Ländern stärken, damit sie zu einer Ernährungssouveränität
kommen.
({7})
Das stellt Ihre Argumentation wirklich auf den Kopf.
Wir lehnen es ab, dass in diesem Abkommen Privatisierungen im Wassersektor und im Gesundheitswesen
vorgesehen sind, dass die lokale Produktion von Generika erschwert wird und dass die Einführung von Patenten auf Saatgut Bäuerinnen und Bauern dazu zwingen
wird, ihr Saatgut bei europäischen Konzernen teuer einzukaufen. All das können Folgen dieses Freihandelsabkommens sein. Deshalb lehnen wir es ab.
Es gibt noch einen weiteren sehr gewichtigen Grund.
Es ist völlig verantwortungslos, dass in Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union
in diesem Abkommen die weitere Liberalisierung von
Finanzdienstleistungen festgeschrieben wird. Das trägt
die Krise nach Lateinamerika.
({8})
Deswegen stimmen wir gegen dieses Abkommen.
Ich richte meinen Appell an Rot-Grün. Es hängt jetzt
wirklich davon ab, wie im Bundesrat entschieden wird.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen, dass ich es
gut fand, dass die Grünen aus Rheinland-Pfalz gegen das
Abkommen mit Kolumbien und Peru gestimmt haben,
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- aber die SPD hat dies leider nicht getan. Deswegen
lautet mein Appell: Rot-Rot-Grün muss im Bundesrat
beide Abkommen verhindern.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion der
Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union
und ihren Partnerländern sind bisher meist unter hoher
Geheimhaltungsstufe ausgehandelt worden. Parlamentariern, kritischen Journalisten und NGOs wurden kaum
Einblicke gewährt, wohl aber den Wirtschaftsverbänden
und den Vertretern großer Unternehmen. Um kaum eine
andere Abteilung der Europäischen Kommission scharten und scharen sich mehr Lobbyisten als um die DG
Trade, um die Generaldirektion Handel. Aber inzwischen haben das Europäische Parlament und - das ist
neu - auch die nationalen Parlamente mehr Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen. Sie sind zwar noch unzureichend, aber immerhin: Handelspolitik kann nicht
mehr in der Dunkelkammer gemacht werden, und das ist
auch gut so.
({0})
Das hat sich auch schon im Deutschen Bundestag
ausgewirkt. Handelsabkommen werden nicht einfach
nur nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern es wird
endlich auch in unseren Ausschüssen über sie diskutiert,
sie werden auf den Prüfstand gestellt, in Anhörungen
durchleuchtet, kritisch hinterfragt und - wenn auch, wie
jetzt, zu später Stunde - im Plenum öffentlich debattiert.
Da hat sich wirklich schon etwas verändert. Das sieht
man auch daran, dass das Freihandelsabkommen der EU
mit Peru und Kolumbien hier im Bundestag kürzlich von
der Opposition geschlossen abgelehnt wurde.
Spannend wird sein, was im Bundesrat geschieht.
Denn dieses Abkommen kann nur dann ratifiziert werden und in Kraft treten, wenn auch der Bundesrat zustimmt. Dort haben SPD, Grüne und Linke die Mehrheit.
Wir warten also gespannt darauf, was am 3. Mai dieses
Jahres geschieht. Es kann sein, dass dieses Abkommen
die erforderliche Zustimmung nicht bekommt. Was dann
geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen.
Nach unserer Meinung - sie wird gestützt durch ein
neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages und durch Studien von Wirtschaftswissenschaftlern und Völkerkundlern - tritt dann nicht, wie
hier behauptet, der Handelsteil des Abkommens in Kraft
und nur die anderen Teile nicht, sondern nach dieser
Rechtsauffassung muss dann das gesamte Abkommen
nachverhandelt werden. Das wäre ein starkes Signal in
Richtung der DG Trade der EU-Kommission: kein Weiter-so in der Handelspolitik, kein Festhalten am Liberalisierungsdogma um jeden Preis, sondern stärkere Beachtung von Sozial- und Umweltstandards und von
Menschenrechtskriterien!
({1})
Heute geht es um ein Assoziierungsabkommen mit
Zentralamerika, das genauso umstritten ist wie das Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Auch im
Hinblick auf dieses Abkommen ist zu befürchten, dass
die kleinbäuerliche Landwirtschaft in den Partnerländern
unter die Räder kommt und von hochsubventioniertem
Milchpulver und anderen Molkereiprodukten aus europäischer Überschussproduktion überschwemmt wird.
Es ist auch zu befürchten, dass Wirtschaftssektoren
stimuliert werden, in denen es schon jetzt zu massiven
Umweltschäden, zu Zwangsvertreibungen von Indigenen und Kleinbauern und zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Debatte über die kolumbianische Steinkohle, die gerade ausgetragen wurde, haben wir alle ja
noch im Ohr. Das gleiche Problem besteht auch in Zentralamerika. Bestimmte Wirtschaftssektoren, gerade der
exzessive Anbau von Palmöl und Bergbauaktivitäten,
würden durch dieses Abkommen enorm stimuliert werden. Das würde zu Gewinnen für einige wenige führen,
hätte aber fatale Folgen gerade für arme Bevölkerungsgruppen. Sogar die von der EU-Kommission selbst in
Auftrag gegebene Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung
kommt zu dem Ergebnis, dass durch das Abkommen der
Druck auf das Land erhöht wird und dadurch auch Landkonflikte - Stichwort „Land-Grabbing“ - weiter verschärft werden.
Es waren nicht nur einige wenige, sondern mehr als
40 Nichtregierungsorganisationen, darunter auch das
evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ und das katholische Hilfswerk „Misereor“, die dringend an uns appelliert haben, dieses Abkommen in dieser Form nicht
zu unterzeichnen. Auch der katholische Bischof von
Guatemala, Bischof Ramazzini - viele Kolleginnen und
Kollegen aus dem Bundestag kennen ihn -, hat uns bei
mehreren Podiumsveranstaltungen eindringlich gebeten, dieses Abkommen genau zu prüfen und es in dieser
Form nicht zu unterzeichnen.
Wir könnten ein klares Signal setzen
Kollege, Sie möchten bitte zum Schluss kommen.
- pardon -, zuerst wir im Bundestag, dann der Bundesrat. Müsste dieses Abkommen nachverhandelt werden, könnte es im Sinne einer sozialen und ökologischen
Marktwirtschaft verbessert werden, und zwar dahin gehend, dass genau diese Flankierungen gestärkt werden.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam eintreten!
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf - ({0})
- Entschuldigung, es ist schon spät. - Bitte, Herr Kollege Holmeier.
({1})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist wieder einmal einer der seltenen Tage, an denen wir im Deutschen Bundestag ein Stück Geschichte
schreiben dürfen. Mit der Zustimmung zu dem vorliegenden Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika schließen wir einen
Prozess erfolgreich ab, der als Friedensprozess schon im
Jahr 1984 begonnen hat - unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich
Genscher.
({0})
Dieses Abkommen steht ganz in der Tradition der europäischen Idee, auf der Grundlage wirtschaftlicher Zusammenarbeit für Frieden und Stabilität zu sorgen. Es
bildet die Grundlage für eine politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Integration zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika.
Das Abkommen ist aber auch noch aus einem anderen
Grund historisch: Es ist das erste biregionale Assoziierungsabkommen, das die Europäische Union seit dem
Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon unterzeichnet
hat. Umso bedauerlicher finde ich es, dass sich die Opposition im Deutschen Bundestag nicht zu einer Zustimmung zu diesem Abkommen durchringen konnte.
Wenn man sich dieses Abkommen einmal in seiner
gesamten Breite anschaut, wird schnell klar, dass es ei29836
nem übergeordneten Ziel folgt: Es geht nicht darum, aus
rein wirtschaftlichem Eigennutz ein Abkommen mit
Schwellenländern zu schließen, die ohne Zweifel vielerorts durch hohe Armut, soziale Ausgrenzung sowie soziale und ökologische Instabilitäten geprägt sind. Es geht
vielmehr darum, die politische und gesellschaftliche
Entwicklung in Zentralamerika durch eine enge Zusammenarbeit und wirtschaftliche Verzahnung positiv zu beeinflussen und zu begleiten. Wer dieses Abkommen auf
seine wirtschaftliche Dimension reduziert, hat schlicht
nicht verstanden, worum es eigentlich geht.
({1})
Dieses Assoziierungsabkommen ist weit mehr als nur
ein Handelsabkommen: Es bildet die Grundlage für eine
privilegierte Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer
Werte und Zielvorstellungen.
({2})
Der Handelsteil ist der letzte von drei Grundpfeilern des
Abkommens. Ihm gehen die Abschnitte „Politischer
Dialog“ und „Zusammenarbeit“ voraus. Hierin wird
klargestellt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
die Achtung der Menschenrechte sowie der bürgerlichen
und politischen Rechte das Fundament des Assoziierungsabkommens mit Zentralamerika bilden. Diesen
Grundprinzipien wird eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da sie das Kernstück des gemeinsamen europäischen und zentralamerikanischen Wertesystems darstellen. Als weitere Ziele werden ausdrücklich genannt:
Armutsreduzierung, Bekämpfung von Ungleichheit,
nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klimaschutz. Auch die Abrüstung und Nichtverbreitung von
konventionellen, chemischen und biologischen Waffen
finden sich als Zielvorgabe in diesem Abkommen,
({3})
ebenso wie der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus,
gegen Drogen, Geldwäsche, Korruption und organisierte
Kriminalität. Das zeigt, wie umfassend dieses Assoziierungsabkommen tatsächlich ist.
Angetrieben vom Interesse an einem gegenseitigen
Handel und einem weitreichenden Zugang zum europäischen Markt, fördert das Abkommen eine politische, soziale und gesellschaftliche Integration. Dieser vielversprechende Entwicklungsprozess ist nicht nur im
Interesse einiger weniger Unternehmen oder politischer
und wirtschaftlicher Eliten. Nein, er ist im Interesse der
Menschen in Zentralamerika und in Europa. Ich kann
Sie daher nur um Ihre Zustimmung zu diesem Abkommen bitten.
Danke schön.
({4})
Jetzt schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer
Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika andererseits.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
17/13176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/12355 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zusammenbruch des Emissionshandels abwenden - Überschüssige Zertifikate aus dem
Markt nehmen
- Drucksache 17/13193 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Das Europäische Parlament hat den BackloadingVorschlag der Kommission erst einmal abgelehnt.
Doch noch sind wir nicht am Ende der Debatte. Das
Erreichen einer Preissteigerung durch Herausnehmen
der Zertifikate ist noch nicht endgültig gescheitert.
Diese Preissteigerung ist aber nötig, damit der Emissionshandel seine Funktion erfüllen kann.
Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den
Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich gemeinsam mit dem Europäischen Rat und der Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Dieses
Ergebnis kann dann dem Plenum erneut vorgelegt werden.
Aber auch der Positionierung des Rates kommt entscheidende Bedeutung zu. Ich unterstütze daher
ausdrücklich die eindringlichen Bemühungen von
Bundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Denn die Bundesregierung muss hier
ein klares Signal setzen. Ich fordere die Bundesregierung auf, eindeutig Stellung für ein fest umrissenes
Backloading und eine Erhöhung des Reduktionsziels
innerhalb der EU auf 30 Prozent bis 2020 zu beziehen.
Andreas Jung ({0})
Denn gelingt es nicht, das ETS zu stabilisieren,
dann gehen der Europäischen Union für den Klimaschutz die kommenden Jahre bis 2020 verloren. Von
dem zu erwartenden Zertifikatepreis für diese Handelsperiode werden sicherlich kaum klimapolitische
Impulse ausgehen.
Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in
der letzten Woche ist ein herber Rückschlag für die internationalen Bemühungen um ambitionierte Klimaschutzziele.
Es geht darum, mit dem Emissionshandel das Herzstück der europäischen Klimapolitik zu stabilisieren.
Der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zertifikaten wird in absehbarer Zeit nicht zu einem signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise führen.
Wir sprechen beim Backloading über eine temporäre Reduzierung des immensen Zertifikateüberschusses. Das vorgeschlagene Backloading beendet diesen
Überschuss an Zertifikaten nicht, sondern begrenzt ihn
lediglich. Nach wie vor hätte es für die Industrie ausreichend Zertifikate am Markt gegeben, um auch bei
steigender Produktion nach der Wirtschaftskrise ohne
Härten in den Klimaschutz investieren zu können. Vielmehr hätte es diese Investitionen möglich gemacht.
Allerdings - und das ist das Entscheidende bei dieser
Diskussion - hätte das Herausnehmen von 900 Millionen Zertifikaten das Signal gegeben, dass es der EU
ernst ist mit der Umsetzung ihrer klimapolitischen
Ziele.
Dabei kann das Backloading selbst nur ein erster
Schritt sein. Mindestens genauso wichtig wird es sein,
sich über eine langfristige Strukturreform des Emissionshandels klar zu werden. Die marktorientierte Ausrichtung des Emissionshandels halte ich weiterhin für
richtig. Allerdings sollte alles dafür getan werden, die
Geburtsfehler und Kinderkrankheiten des Systems wie
beispielsweise eine zu großzügige Zertifikatsaustattung am Anfang oder die Bereitstellung von zu vielen
Zertifikaten aus ökologisch fragwürdigen Klimaschutzprojekten zu beheben bzw. zu heilen.
Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese
beiden Eingriffe. Nur durch die klar definierte Herausnahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraum
und eine daran anschließende grundlegende Reformierung der nächsten Handelsperiode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerelement als Kernelement
der europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten.
Daher muss es neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaftliches Instrument auch darum gehen, die
Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,
um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.
Die Bundesregierung muss sich geschlossen dafür
einsetzen, dass die Europäische Union ihre Ziele bis
2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbst gesteckten Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu
senken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse gegeben. Darauf gilt es aufzubauen. Auch die EU muss
diesen Schritt gehen. Insgesamt haben wir in der Europäischen Union schon jetzt zu einem Großteil unsere
Reduktionsziele für 2020 erreicht und würden in unseren Anstrengungen in den nächten Jahren unnötig
nachlassen, wenn wir hier nicht nachbessern.
Bundesumweltminister Altmaier setzt sich innerhalb der EU zusammen mit einigen seiner Kolleginnen
und Kollegen stark für diese Position ein, und ich
unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Die
Bundesregierung ist nun am Zug, sich hier klar zu
positionieren und den Klimaschutz in Europa voranzubringen.
Letzte Woche hat das Europaparlament die Reform
des Emissionshandels abgelehnt. Dies war ein Schock
und ein schwarzer Tag für den Klimaschutz. Die kirchliche Hilfsorganisation Brot für die Welt sprach richtigerweise von einem „Votum der Unvernunft“. Hauptverantwortlich waren in der Mehrheit konservative
und liberale Abgeordnete aus ganz Europa.
Eine ganz entscheidende Verantwortung trägt aber
auch die deutsche konservative Partei und deren Parteivorsitzende Angela Merkel. Die jahre- und monatelange regierungsinterne Lähmung hat fatale Signale in
Richtung Brüssel ausgesendet. Die Bundesregierung
hatte keine einheitliche Position; Wirtschaftsminister
Rösler und Teile der Koalitionsfraktionen haben offensiv daran gearbeitet, die Reform des Emissionshandels
zu verhindern. Bis heute hat die Bundesregierung
keine Meinung, obwohl die Bundeskanzlerin erklärt
hat, dass sie nach der Abstimmung im Europaparlament für eine einheitliche Position sorgen wird.
Nach diesem Rückschlag im Europaparlament muss
die Bundesregierung ihre destruktive Rolle aufgeben
und retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächsten
Wochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Entscheidung geben wird, werden wir bis zum Jahr 2020
keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Der Emissionshandel würde keinen Anreiz zum Klimaschutz geben und wäre als politisches Instrument praktisch tot.
Besonders absurd ist diese Situation, da andere Staaten wie Australien oder China in Emissionshandelssysteme einsteigen wollen. Und die EU, die Pionierin des
Emissionshandels mit dem derzeit größten Emissionshandelssystem der Welt, lässt ihr mühsam aufgebautes
System sehenden Auges kollabieren und sorgt so bei all
denen für Auftrieb, die schon immer gegen marktwirtschaftliche Instrumente waren.
Wir werden nun Debatten über ordnungsrechtliche
Lösungen bekommen, wie wir in der Debatte zum Antrag der Linken für ein Kohleausstiegsgesetz gesehen
haben. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Regelungen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systems
entstehen. Großbritannien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis für CO2 eingeführt; die Niederlande und Spanien haben eine Steuer auf Kohle; Italien debattiert über eine Steuer. Ich habe den Eindruck,
dass viele Industrievertreter und konservative AbgeZu Protokoll gegebene Reden
ordnete nicht verstanden haben, was sie angerichtet
haben, und dass wir genau das Gegenteil des „level
playing field“ erhalten werden, von dem die Industrie
immer redet.
Die Mehrheit der Europaabgeordneten wollte aber
die Reform des Emissionshandels nicht endgültig
scheitern lassen. Mit großer Mehrheit haben die Abgeordneten dafür gestimmt, die Backloading-Entscheidung wieder in die Ausschüsse zurückzuüberweisen.
Nun hat der Umweltausschuss des Europaparlaments
maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich mit Rat und Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Noch ist
unklar, wie solch ein zustimmungsfähiger Kompromiss
aussehen kann. Das Ergebnis könnte dann wieder dem
Plenum vorgelegt werden.
Dies ist auch der Hintergrund, warum wir unseren
neuen Antrag zum Backloading in den Bundestag eingebracht haben. Wir wollen eine Abstimmung, aus der
klar hervorgeht, wie sich die schwarz-gelbe Koalition
zum Backloading verhält. Die Haltung Deutschlands
ist entscheidend, wenn es darum geht, im Rat eine
Mehrheit zu organisieren. Die irische Ratspräsidentschaft ist auf eine aktive Rolle Deutschlands angewiesen. Hierzu muss sich die Kanzlerin endlich gegen den
Wirtschaftsminister durchsetzen.
Über die Zukunft des Emissionshandels wird jedoch
nicht nur in der Backloading-Debatte entschieden,
sondern auch in einer weiteren Debatte, nämlich der
aktuellen Diskussion, welche Ziele im Klimaschutz
sich die EU für die Zeit nach 2020 geben wird. Wenn
wir ein Klimaziel für das Jahr 2030 wählen, das zu
dem abnehmenden berechenbaren Reduktionspfad zum
2050-Ziel passen soll, so muss dieses Ziel mindestens
40 Prozent Minderung bedeuten. Dies hätte mit dem
bestehenden 2020-Ziel zur Folge, dass die Industrie
bis 2020 sehr wenig machen muss, nach 2020 aber
plötzlich ihre Anstrengungen vervielfachen müsste.
Solch ein Bruch kann nicht im Interesse der Planbarkeit von Investitionen sein.
Deshalb müssen wir zeitnah, unabhängig von einer
noch ausstehenden abschließenden Entscheidung des
Europäischen Parlamentes und des Europäischen
Rates zum Backloading, einen Diskurs in den europäischen Institutionen über eine ambitioniert ausgestaltete Handelsperiode nach 2020 führen. Es muss eine
Lösung angestrebt werden, um über eine ehrgeizige
Absenkung des Caps umfängliche Innnovationen und
Investitionen und damit Effizienzsteigerungen in den
vom Emissionshandel betroffenen Unternehmen anzustoßen bzw. zu unterstützen.
Die Ausgestaltung muss so sein, dass diese Investitionen in die Emissionssenkung auch schon in der laufenden Handelsperiode ausgelöst werden. Wichtig ist
eine zeitige Einigung, sodass auch die gewünschten
Investitionsziele möglichst bald eintreten können.
Ohne einen funktionierenden Emissionshandel mit anspruchsvollen Emissionsobergrenzen würden die nicht
dem Emissionshandel unterliegenden Sektoren Verkehr, Haushalte und Gebäude vor Herausforderungen
gestellt, die kaum zu bestehen sind. Auf diesen Zusammenhang haben wir in unserem Antrag explizit hingewiesen.
Nach diesem „Votum der Unvernunft“ wachen nun
hoffentlich einige konservative und liberale Abgeordnete aus ihrem Koma auf und zeigen sich konstruktiv,
um noch in letzter Minute eine Lösung zu erreichen.
Viel Zeit haben sie nicht mehr. Die Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen können schon einmal vormachen, wie es geht, und diesem Antrag zustimmen.
Die SPD fordert in ihrem erfreulich übersichtlichen
Antrag, dass die Bundesregierung die Position der
EU-Kommission unterstützt, zur Stabilisierung des
CO2-Preises das sogenannte Backloading anzuwenden, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handelsperiode zurückzuhalten. Aber schon im ersten Absatz
der Antragsbegründung klingen Sie nicht mehr so
überzeugt von Ihrem Vorhaben und räumen „instrumentelle Vorbehalte“ ein. Diese Vorbehalte sind in der
Tat nicht von der Hand zu weisen. Denn Sinn und
Zweck des Emissionshandels ist nicht ein Mindestpreis
für CO2-Emissionen, sondern die Einhaltung des Cap,
das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an
CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen ausstoßen. Schraubt man willkürlich an der Zertifikatmenge,
um einen bestimmten Preis anzupeilen, führt man das
System ad absurdum. Zudem basiert das Vertrauen der
Wirtschaftsakteure in das System auf stabilen Rahmenbedingungen. Eine willkürliche Änderung dieser Rahmenbedingungen würde das Emissionshandelssystem
mehr gefährden als der aktuell sehr niedrige Preis.
Ich gebe zu, dass dieser Preis unerfreuliche Seiten
hat: Er führt zu einem niedrigeren Anreiz, in neue
CO2-arme und nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU
nach 2020 das Emissions-Cap absenkt, um auf dem
Klimaschutzpfad bis 2050 voranzukommen. Daneben
brechen die Einnahmen des Energie- und Klimafonds
ein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung
der Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelle
Jahr konnte dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der
Einnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kompensiert werden. Somit können Programme für internationalen Klimaschutz, die Gebäudesanierung und
die Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden.
Auch das neu eingeführte Speicherförderprogramm für
die Photovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die
Finanzierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr somit eine gangbare Lösung gefunden.
Die Bundesregierung hat in der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen, dass sie eine AnheZu Protokoll gegebene Reden
bung des Klimaziels für 2020 auf 30 Prozent befürwortet, wenn Deutschland sein nationales 40-Prozent-Ziel
nicht erhöhen muss und alle EU-Staaten einen angemessenen Beitrag leisten. Diesen Ansatz sollte man
nach dem Scheitern der Backloading-Pläne im Europäischen Parlament jetzt noch einmal forcieren. Denn
dies ist ein systematischerer Ansatz als das doch recht
willkürliche Backloading.
Man mag zum EU-Emissionshandel, ETS, stehen,
wie man will. Fakt ist, dass von der ersten zur dritten
Handelsperiode etliche Kardinalfehler behoben wurden, die das System zutiefst diskreditiert hatten. So
werden seit diesem Jahr zumindest an die Energiewirtschaft die geldwerten CO2-Emissionsrechte nicht mehr
verschenkt, sondern versteigert. Das Problem der leistungslosen Extragewinne wäre also hier vom Tisch.
Zudem wurde die Nutzung neuer missbrauchsanfälliger CDM-Zertifikate für die dritte Handelsperiode extrem eingeschränkt.
Leider sind durch die in der Vergangenheit von der
einschlägigen Lobby aufgebrochenen Lücken im ETS
- zu denen auch eine Überzuteilung an die Industrie
gehört - jede Menge überschüssiger Zertifikate aufgelaufen. So macht allein der Zufluss von CDMGutschriften aus zweifelhaften Klimaschutzprojekten
im globalen Süden etwa 1,6 Milliarden der 2 Milliarden Überschüsse aus, ist also Hauptursache für die
Krise des Handelssystems. Von diesen 1,6 Milliarden
sind auch noch die Hälfte faul. Die CDM-Gutschriften
lassen nicht nur die Preise in den Keller stürzen - aktuell kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 ja nur so viel
wie ein Brot beim Bäcker statt der ursprünglich erwarteten 30 Euro -, sie führen auch zu einem zusätzlichen
Klimagasausstoß. Die Wirtschaftskrise tat ein Übriges
für die derzeitige Zertifikateschwemme.
Würde man nun diese ungenutzten, aber leider
übertragbaren Emissionsrechte endgültig stilllegen
und würde man zudem den linearen Minderungspfad
entsprechend den veränderten Rahmenbedingungen
verschärfen, so könnte sich dieses marode Cap-andTrade-System erstmalig zu einem tatsächlichen Klimaschutzinstrument wandeln.
Genau dies hat zumindest die EU-Kommission mit
ihrem Backloading-Vorschlag im Blick. Das zeitweise
„Zurücklegen“ von Zertifikaten über 900 Millionen
Tonnen CO2, anstatt sie zu versteigern, würde den Zertifikatepreis zwar zunächst nur wenig anheben. Denn
die Märkte antizipieren ja, dass die Menge 2019 und
2020 doch noch in den Markt geht, die 2013 bis 2015
bei den Auktionen aufgespart wird. Das Backloading
würde aber den Weg für eine grundlegende Reform des
Emissionshandels freimachen, weil es Zeit schindet.
Und die braucht man, da Strukturreformen vor 2015
sicher nicht wirksam werden.
Diese zwei bis drei Jahre hätten die Mitgliedstaaten
tatsächlich Zeit; denn das Backloading soll ja genau
verhindern, dass ein großer Teil der überschüssigen
Zertifikate in diesem Zeitraum marktwirksam wird. Sie
könnten mit den dann hoffentlich erfolgten Strukturreformen schließlich endgültig stillgelegt werden - und
mit ihnen auch die restlichen Überschüsse. In diesem
Zug könnten nach einem weiteren Vorschlag der Kommission der genannte Minderungsfaktor verdoppelt
und jegliche Anrechnungen von Auslandsgutschriften
untersagt werden.
Dieser Fahrplan stand letzte Woche in Straßburg im
Raum, als es um die Backloading-Abstimmung ging.
Und genau deshalb gab es eine beispiellose Lobby-Arbeit von Industrie und Energiewirtschaft gegen den
Vorschlag. Die FDP und der Wirtschaftsflügel der
Union waren ihre parlamentarische Speerspitze. Sie
hatten erkannt, dass hier der Schlüssel zum ({0})Raum
eines wirksamen Emissionshandels ins Schloss geführt
wurde. Darum war um jeden Preis zu verhindern, dass
die Parlamentarier ihn umdrehten.
Christdemokraten und Liberale haben sich im EUParlament leider knapp gegen den Klimaschutz durchgesetzt. Parallel hat sich in Berlin die Kanzlerin dem
Druck der FDP ergeben. Die Bundesregierung war auf
EU-Ebene entsprechend handlungsunfähig. Beide
Blockaden drohen das jahrelang aufgebaute und
schrittweise verbesserte EU-Emissionshandelssystem
komplett und endgültig zu zerschießen. Die Parteien
ziehen einer gemeinsamen europäischen Klimaschutzpolitik lieber eine kleinkarierte Klientelpolitik für Teile
der Wirtschaft vor. Sie wird wohl zur Nationalisierung
und weiteren Schwächung des Klimaschutzes in Europa führen.
Die Linke hat als Alternative ein nationales Kohleverstromungsausstiegsgesetz vorgeschlagen, sofern
der EU-Emissionshandel scheitert. Das können Sie auf
unserem Antrag auf Drucksache 17/12064 lesen, der
ebenfalls heute im Plenum abgestimmt wird. Aus unserer Sicht ist das ETS nicht nur bereits tot; es hat, was
seine ökologische Wirkung betrifft, nie wirklich gelebt.
Gleichzeitig haben Energiekonzerne damit Milliarden
verdient - eine Schande auf der ganzen Linie.
Die SPD versucht nun mit ihrem Antrag, die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Sie soll in der
zweiten Verhandlungsrunde darauf hinwirken, dass
das Backloading in der EU doch noch Anwendung findet. In der Begründung will die Fraktion allerdings
grundlegende Reformen erst nach 2020. Das ist natürlich kompletter Unsinn, denn diese müssen spätestens
Mitte dieses Jahrzehnts greifen. Zudem sehen wir die
ausufernden Kompensationszahlungen für die Industrie skeptisch, die die SPD feiert.
Dennoch werden wir diesem Antrag zustimmen.
Zum einen sind die genannten Fehler nur Teil der für
die Beschlussfassung unwichtigen Begründung. Zum
anderen halten wir bei der Frage des Backloadings in
diesen Wochen eine gemeinsame Stimme aller Parteien
für dringend erforderlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Allerdings sehen wir bei der derzeitigen Konstellation wenig Chancen auf einen Backloading-Erfolg und noch weniger für eine grundlegende ETS-Reform.
Deshalb wird die Linke die Greenpeace-Idee eines
Kohleausstiegsgesetzes weiter vorantreiben, egal was
in Brüssel geschieht. Denn was ist einfacher, als nach
einem Abschaltplan planmäßig aus der Kohle auszusteigen? Und zwar so, dass spätestens 2040 der letzte
Meiler vom Netz ist!
Ich hoffe, irgendwann unterstützen uns in dieser
Frage auch Sozialdemokraten und Grüne, die diesen
Schritt bislang entweder ablehnen oder sich zu unserem Antrag im Ausschuss enthalten haben.
Die europäische Klimaschutzpolitik steckt in der
wohl tiefsten Krise ihrer Geschichte. Konservative und
Liberale haben im Europäischen Parlament die dringend erforderliche Reparatur des europäischen Emissionshandels gestoppt. Nicht einmal den Minischritt
eines Backloading, einer kurzfristigen Verknappung
von Emissionsberechtigungen, wollten die Parteifreunde der Regierungsfraktionen mitgehen. Damit
bleibt das zentrale Instrument der EU-Klimapolitik auf
absehbare Zeit ohne Wirkung. Der Preis für Verschmutzungsrechte ist auf rund 3 Euro je Tonne CO2
eingebrochen - das ist viel zu wenig, um Anreize für
Investitionen in saubere Technologien zu setzen.
Die Folgen dieses Politikversagens sind dramatisch: Die Braunkohle boomt, während hocheffiziente
Gaskraftwerke stillstehen. Die deutschen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch die EEG-Umlage steigt,
weil Wind- und Sonnenstrom mehr Unterstützung
brauchen, um mit der künstlich verbilligten Kohle konkurrieren zu können. Dem Energie- und Klimafonds
der Bundesregierung fehlen Milliarden, die für die Finanzierung der Energiewende und den internationalen
Klimaschutz eingeplant waren.
Für den Niedergang des Emissionshandels trägt
Bundeskanzlerin Merkel maßgebliche Verantwortung.
Bundeswirtschaftsminister Rösler hat die Emissionshandels-Reform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn
gewähren lassen. Sie hat mit stillschweigender Billigung hingenommen, dass die Abgeordneten ihrer Partei dem europäischen Klimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hat sie gerührt, die ehemalige
„Klima-Kanzlerin“. Ihr Umweltminister Altmaier hat
wenigsten noch Appelle nach Brüssel geschickt und
vor einem massiven Rückschlag für den Klimaschutz
gewarnt. Doch die große Mehrheit seiner Parteifreunde hat nicht auf ihn gehört. Jetzt stehen wir vor
einem Scherbenhaufen.
Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zu
einer Richtungsentscheidung über die Zukunft des Klimaschutzes. Wir Grünen treten ein für die überfällige
Anhebung des EU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020. Wir wollen eine
deutliche Verknappung der Verschmutzungsrechte, um
das Überangebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem
Markt zu nehmen. Und wir wollen eine grundlegende
Reform des Emissionshandels, die auch die Einschränkung der Zufuhr billiger und ökologisch fraglicher
Zertifikate aus China und Indien einschließt.
Die Schwächung des europäischen Klimaschutzes
macht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebene
notwendig. Deshalb setzen wir uns für ein nationales
Klimaschutzgesetz ein, ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele verbindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle der Klimaschutzmaßnahmen etabliert
und bei Abweichungen vom Zielpfad ein Gegensteuern
der Politik erzwingt.
Es ist Zeit, dass Deutschland wieder Vorreiter wird
und Antreiber beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen
dafür bereit.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht
rechtlichen Vaters
- Drucksache 17/12163 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13269 Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf will dem leiblichen,
nicht rechtlichen Vater die Möglichkeit einräumen, mit
seinem Kind, das einen rechtlichen Vater hat und in einer intakten Familie lebt, Kontakt aufzunehmen und
sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Derzeit
hat er diese Möglichkeit nicht.
Bei dem Gesetzentwurf geht es im Kern um das Verhältnis von leiblicher und rechtlich-sozialer Elternschaft. Dabei geht es um unterschiedliche Vorstellungen von Elternschaft, Familie und Wohl des Kindes. In
unserem Recht sind Eltern diejenigen, die das Elternrecht haben. Die, die das Kind gezeugt haben, Vater
und Mutter des Kindes, haben in Bezug auf das Kind
keine Rechte und keine Verpflichtungen, wenn das
Kind einen rechtlichen Vater und eine rechtliche Mutter hat und in einer sozialen rechtlichen Familie lebt.
Dies ändert jedoch nichts daran, dass die natürlichen
Eltern des Kindes Vater und Mutter sind.
In unserer Rechtsordnung hat die rechtliche Elternschaft den Vorrang vor der natürlichen Elternschaft.
Dies ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Im Urteil vom 19. Februar
2013 zur Sukzessivadoption missachtet das Gericht die
natürliche Elternschaft von Vater und Mutter und geht
dabei soweit, dass es auch eine eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als rechtliche Eltern anerkennt. Dies entspricht jedoch nicht Art. 6 GG.
Unsere Verfassung versteht unter Eltern Vater und
Mutter und nicht Mama und Mama oder Papa und
Papa. Der Versuch des Verfassungsgerichtes, den Begriff „Eltern“, wie er in Art. 6 aufgeführt wird, umzudeuten, sodass darunter auch ein gleichgeschlechtliches Paar zu verstehen ist, verstößt gegen die
Verfassung. Wer das nicht will, muss die Verfassung
ändern. Dazu aber fehlt dem Verfassungsgericht die
Kompetenz.
Der vorliegende Gesetzentwurf will diese Entwicklung, dass die natürliche Elternschaft keine Bedeutung
mehr hat, wenigstens zum Teil korrigieren. Er will das
natürliche Recht des leiblichen, aber nicht rechtlichen
Vaters gegenüber seinem Kind und gegenüber den
rechtlichen Eltern stärken. Dabei bleibt jedoch der
Grundsatz, dass der leibliche, aber nicht rechtliche
Vater nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes nicht Träger des Elternrechts nach Art. 6
Abs. 2 Satz 1 GG ist, erhalten. Deshalb hat er auch
nicht „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ nach Art. 6 Abs. 2 GG,
für die Pflege und Erziehung der Kinder zu sorgen.
Der nur leibliche Vater hat also nicht die lebenslange Verantwortung für das Kind. Diese verbleibt bei
den rechtlichen Eltern. Die Folge ist, dass das Kind
keinen Unterhaltsanspruch gegenüber dem nur leiblichen Vater hat, was umgekehrt natürlich auch für den
leiblichen Vater gegenüber seinem Kind Geltung hat.
Der Grundsatz des § 1601 BGB, dass Verwandte in gerader Linie einander zu Unterhalt verpflichtet sind,
gilt nicht im Verhältnis des nur leiblichen Vaters gegenüber seinem Kind, da dieser gemäß § 1592 BGB
nicht Vater des Kindes ist.
Das Kind hat auch keinen Erbanspruch gegenüber
dem leiblichen Vater, wenn es einen rechtlichen Vater
hat, also kein uneheliches Kind im Sinne des Art. 6
Abs. 5 GG ist. Wird das Kind, das von der verheirateten Mutter außerhalb der Ehe mit einem fremden Mann
gezeugt wurde, in eine bestehende Ehe hineingeboren,
erhält es automatisch den Ehemann seiner Mutter zum
rechtlichen Vater ({0}). Lebt das Kind in
einer sozial-familiären Beziehung mit seinem rechtlichen Vater, kann der leibliche Vater die Vaterschaft
nicht anfechten und nicht selbst rechtlicher Vater des
Kindes werden. Der leibliche Vater hat also unter diesen Voraussetzungen derzeit hinsichtlich des Kindes
keinen Rechtsanspruch. Er hat kein Recht zur Kontaktaufnahme und auch kein Auskunftsrecht. Er ist ein
Fremder.
Diese Situation des leiblichen Vaters kritisiert der
EGMR in mehreren Urteilen. Nach Auffassung des Gerichtes hat auch der nicht rechtliche Vater das Recht
auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne
des Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Verletzung sieht der Gerichtshof darin, dass dem leiblichen Vater die Auskunft über das
Kind und der Umgang mit ihm versagt wird, ohne dass
das Familienrecht die Frage erlaubt, ob es denn im
Sinne des Kindeswohles ist, dem leiblichen Vater das
Auskunfts- und Umgangsrecht zu verweigern. Es kann
ja im Interesse des Kindes sein, dass sein leiblicher
Vater ein Auskunftsrecht und auch ein Umgangsrecht
mit ihm hat. Die Frage nach dem Kindeswohl bleibt insoweit außen vor. Dies kritisiert der EGMR.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll in der
Neureglung des § 1698 a BGB dieser Mangel behoben
werden. Dem nur leiblichen Vater soll jetzt ein Umgangs- und Auskunftsrecht unter bestimmten Voraussetzungen eingeräumt werden. Dabei achtet der Gesetzentwurf darauf, dass der Schutz der gelebten
sozialen Familie mit Mutter und rechtlichem Vater und
eventuell weiteren Geschwistern erhalten bleibt. Der
biologische Vater soll keine Chance haben, diese Einheit zu zerstören. Es ist jedoch im Einzelfall zu prüfen,
ob nicht durch die Verweigerung von Auskunft und
Umgang das Wohl des Kindes geschädigt bzw. nicht
gefördert wird.
Der Entwurf macht also vor allem das Wohl des
fraglichen Kindes zum Maßstab, ob dem nur leiblichen
Vater Auskunft und Umgang gestattet wird. Das Kind
bedarf des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu entwickeln, wie
das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen ausgeführt hat. Für diesen Schutz haben vor allem
die Eltern zu sorgen, mit denen zusammen das Kind
eine rechtlich-soziale Einheit bildet. Das ist zum Wohl
des Kindes. Wird diese schützende Familieneinheit
durch das Auskunfts- und Umgangsverlangen des leiblichen Vaters ernsthaft gestört, kann das Verlangen des
nur leiblichen Vaters durch das Gericht zurückgewiesen werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um den
Schutz der Familie an sich, sondern um das Wohl des
Kindes, das den Schutz der Familie für die eigene Entwicklung dringend nötig hat.
Zu den Interessen des Kindes gehört aber auch das
Wissen um seine Abstammung. Es widerspricht daher
in der Regel nicht dem Wohl des Kindes, wenn es Kontakt mit seinem leiblichen Vater hat. Dem leiblichen
Vater steht aber dieses Recht des Umgangs und der
Auskunft über das Kind nur zu, wenn er durch sein Verhalten gezeigt hat, dass er ein ernsthaftes Interesse an
seinem Kind hat. Neugier allein genügt nicht, und
schon gar nicht können ihm solche Rechte zugestanden
werden, wenn es ihm gar nicht um das Kind, sondern
um den Kontakt mit dessen Mutter oder gar darum
geht, Unfrieden in die Familie des Kindes zu bringen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Außerdem hat der biologische Vater diese Rechte
nur, solange die rechtliche Vaterschaft eines anderen
Mannes besteht. Fehlt eine solche Vaterschaft, ist der
biologische Vater auf die Feststellung seiner Vaterschaft zu verweisen.
Der Gesetzentwurf sieht in § 167 a FamFG vor, dass
der biologische Vater nur dann Anspruch auf Auskunft
und Umgang hat, wenn er eidesstattlich versichert, der
Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Dabei kann es auch zu einer Inzidentprüfung der biologischen Vaterschaft kommen ({1}). Eine solche Situation kann dann doch
noch zu einer starken Belastung der sozial-rechtlichen
Familie führen.
Deswegen erscheint der Vorschlag des Bundesrates,
der sich auf eine Empfehlung des 19. Deutschen Familiengerichtstages 2011 beruft, sachgerechter. Danach
sollte die biologische Vaterschaft in einem isolierten
Vorverfahren nach § 1598 a BGB geklärt werden. Die
Überlegung ist, dass durch die Inzidentprüfung das
Umgangs- und Auskunftsverfahren überfrachtet wird.
Ein außergerichtlicher Vaterschaftstest gemäß § 1598 a
BGB würde, wenn er für den mutmaßlichen leiblichen
Vater negativ ausfällt, erst gar nicht zu dem Auskunftsund Umgangsverfahren führen. Die Inzidentprüfung
setzt im Gegensatz dazu voraus, dass ein Verfahren auf
Auskunft und Umgang bereits eingeleitet wird.
Die Bundesregierung und der Rechtsausschuss haben jedoch an der inzidenten Prüfung festgehalten.
Die Gesetzespraxis wird es erweisen, ob nicht doch
eine Vorabprüfung gemäß § 1598 a BGB der Situation
gerechter wird. Dann kann ja immer noch durch eine
Novellierung ein solcher Mangel, wenn er sich wirklich herausstellen sollte, behoben werden.
Wichtig ist vor allem, dass die Situation der Kinder
in solchen rein rechtlichen Ehen wissenschaftlich näher untersucht wird, um herauszufinden, welche Folgen es für das Kindeswohl hat, wenn der leibliche
Vater seine Ansprüche geltend macht.
Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht
rechtlichen Vaters. Lassen Sie mich Ihnen zunächst einen Überblick über die bislang geltende Rechtslage
geben, bevor ich einige Aspekte aus den Beratungen
skizzieren und die wesentlichen Punkte der Neuregelung zusammenfassen werde.
Der leibliche Vaters eines Kindes, der mit der Mutter des Kindes nicht verheiratet ist und auch nicht die
Vaterschaft anerkannt hat, konnte bisher ein Umgangsrecht nur unter zwei Voraussetzungen durchsetzen: Er musste eine enge Bezugsperson des Kindes
sein, für dieses tatsächlich Verantwortung tragen oder
getragen haben - also mit ihm in einer sozial-familiären Beziehung stehen. Zusätzlich musste der Umgang
dem Kindeswohl dienen. Konnte der leibliche Vater zu
seinem Kind keine Beziehung aufbauen, war ihm der
Kontakt zu ihm bisher verwehrt.
Die Gründe, warum keine Beziehung zu dem Kind
bestand, waren dabei unerheblich. Selbst dann, wenn
der leibliche Vater zum Beispiel bereit war, für das
Kind Verantwortung zu übernehmen, dies aber aufgrund der Weigerung der rechtlichen Eltern nicht
möglich war, gab es für ihn kein Umgangsrecht. Außerdem hatte der leibliche Vater bisher auch ohne
Rücksicht darauf, ob der Umgang dem Wohl des Kindes dient, keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme.
Ein leiblicher, nicht rechtlicher Vater hatte darüber
hinaus bislang auch nicht das Recht, Auskunft über die
persönlichen Verhältnisse des Kindes zu erlangen.
Nach § 1686 Satz 1 BGB kann jeder Elternteil vom anderen bei berechtigtem Interesse Auskunft über die
persönlichen Verhältnisse des Kindes verlangen, soweit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Diesen
Auskunftsanspruch haben jedoch nur die Eltern im
rechtlichen Sinne. Der leibliche Vater kann diesen Weg
nicht gehen.
Ein weiterer Punkt ist das Recht auf Anfechtung der
Vaterschaft. Dies hatte der leibliche Vater bislang nur
dann, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem
Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Außerdem konnte der leibliche Vater nicht gegen den Willen
der rechtlichen Eltern die Einwilligung in eine genetische Untersuchung verlangen, um Gewissheit über
seine vermutete Vaterschaft zu erlangen ({0}). Auf diese Aspekte werde ich später noch einmal
eingehen.
Der Überblick über die bestehende Rechtslage
zeigt, dass das Erscheinen eines - mutmaßlichen leiblichen Vaters erhebliche Interessenkonflikte hervorrufen kann. Das geltende Recht räumt in diesem
Spannungsverhältnis dem Schutz der bestehenden sozialen Familie absoluten Vorrang vor der ungewollten
Einmischung des mutmaßlichen leiblichen Vaters ein.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat in drei Entscheidungen zwischen 2010 und 2012
festgestellt, dass es mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar ist, den leiblichen - biologischen - Vater, der keine Bezugsperson
für das Kind ist, von einem Umgang mit seinem Kind
und dem Recht auf Auskunft über dessen persönliche
Verhältnisse auszuschließen. Art. 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention garantiert das Recht auf
Achtung des Privat- und des Familienlebens.
Die Verweigerung des Rechts auf Anfechtung der
Vaterschaft bei Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind
sowie der Ausschluss des - mutmaßlichen - leiblichen
Vaters aus dem Kreis der Klärungsberechtigen nach
§ 1598 a BGB ist im Gegensatz dazu aber mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbaren.
So haben nur die rechtlichen Eltern und das Kind einen Anspruch darauf, auf diesem Weg die leibliche AbZu Protokoll gegebene Reden
stammung durch eine genetische Untersuchung zu klären.
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des jetzigen
Gesetzentwurfes, nach den Vorgaben des Gerichts ein
Umgangs- und Auskunftsrecht für leibliche, nicht
rechtliche Väter einzuführen. Dabei muss allerdings
ein bestmöglicher Schutz der sozialen Familie erhalten
bleiben. Eine noch weiter gehende Stärkung der
Rechtsposition des leiblichen Vaters ist nach unserer
Auffassung abzulehnen. Diese Position haben so auch
die Experten in den Ausschussberatungen bestätigt.
Eine im Rahmen dieser Beratungen auch diskutierte
Forderung nach einem uneingeschränkten Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters ist auf erhebliche
fachliche Bedenken gestoßen. Das Argument, die sozialen Kontakte zwischen Kind und bisherigem rechtlichem Vater würden durch eine Anfechtung der Vaterschaft nicht zerstört, Letzterer bleibe vielmehr
weiterhin Bezugsperson für das Kind, ist nicht überzeugend. Durch die Anfechtung und Feststellung seiner Vaterschaft erhielte der biologische Vater die Stellung des rechtlichen Vaters und damit auch die
Möglichkeit, das Sorgerecht zu beantragen. Außerdem
hätte er dann in jedem Fall auch ein Umgangsrecht.
Unterhalts- und Erbansprüche bestünden dann nicht
mehr zwischen dem Kind und seinem sozialen Vater,
sondern zwischen ihm und seinem biologischen, nun
auch rechtlichen Vater. Der bisherige rechtliche Vater
könnte nur noch als enge Bezugsperson einen Umgang
mit dem Kind pflegen. Wenn in der sozialen Familie
noch weitere Kinder mit ihren Eltern zusammenleben,
wäre dies - vor allem mit Blick auf das Kindeswohl eine erhebliche Belastung.
Ein unbeschränktes Anfechtungsrecht würde außerdem auf einen Paradigmenwechsel im Abstammungsrecht und auf eine völlige Neubewertung des Spannungsverhältnisses zwischen rechtlicher, sozialer und
biologischer Elternschaft hinauslaufen. Dieser Paradigmenwechsel wäre so nicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu begründen
und wurde auch von der Mehrzahl der befragten Sachverständigen abgelehnt.
Der Bundesrat hatte im Vorfeld der Beratungen um
Prüfung gebeten, ob dem mutmaßlichen Vater nicht
statt der im Gesetzentwurf vorgesehenen sogenannten
inzidenten Prüfung der biologischen Vaterschaft unter
einschränkenden Voraussetzungen auch ein Recht auf
Klärung der Abstammung nach § 1598 a BGB eingeräumt werden sollte. Eine „inzidente Prüfung“ bedeutet hier eine ausschließliche Prüfung im Rahmen des
gerichtlichen Umgangs- und Auskunftsverfahrens. Der
Bundesrat hatte befürchtet, dass dann gerichtliche
Umgangs- bzw. Auskunftsverfahren auch in Fällen angestrengt werden müssten, in denen noch gar nicht
feststeht, ob der Antragsteller tatsächlich der Erzeuger
des Kindes ist. Diese Belastung für alle Beteiligten
könne vermieden werden, wenn dem mutmaßlichen
biologischen Vater stattdessen gegenüber Mutter und
Kind ein Anspruch auf Einwilligung in eine genetische
Untersuchung zur Klärung der leiblichen Abstammung eingeräumt würde.
Eine solche Aufnahme des leiblichen Vaters in die
Regelungen des § 1598 a BGB wäre nach unserer Auffassung nicht mit dem Ziel eines bestmöglichen Schutzes für die soziale Familie zu vereinbaren. Wenn leibliche Väter neben dem Recht auf Umgang und Auskunft
auch ein Recht auf Klärung der Abstammung erhalten
würden, würden nicht nur diejenigen leiblichen Väter
ein gerichtliches Verfahren anstrengen, die Umgang
oder Auskunft erhalten wollen, sondern auch diejenigen, denen es nur um die Klärung der Abstammung
geht. Der Kreis der potenziellen Antragsteller wäre
deutlich erweitert, ohne dass daran die vom Bundesrat
vorgeschlagenen einschränkenden Voraussetzungen
etwas ändern könnten. Die Hürden für die Nutzung
dieses Klärungsanspruchs wären niedriger als die
Hürden zur Geltendmachung der Rechte nach § 1686
BGB-E. Außerdem steht - anders als beim Umgangsverfahren - beim Klärungsverfahren nach § 1598 a
BGB nicht das Kindeswohl, sondern das Klärungsinteresse des Vaters im Zentrum.
Die rechtsfolgenlose Klärungsmöglichkeit nach
§ 1598 a BGB steht aus gutem Grund neben der Mutter
nur dem zweifelnden rechtlichen Vater offen. Dieser
hat so die Möglichkeit, zunächst die biologische Herkunft des Kindes durch ein privates Abstammungsgutachten zu klären. Dann kann er im nächsten Schritt
entscheiden, ob er daraus rechtliche Konsequenzen
ziehen will. Der an seiner Vaterschaft zweifelnde Vater
ist damit nicht gezwungen, seine Vaterschaft direkt
durch ein Anfechtungsverfahren zu klären.
Der mutmaßliche leibliche Vater hat kein vergleichbares schutzwürdiges Interesse an Klärung der Abstammung, da ihn mit dem Kind kein rechtliches Band
verbindet. An die Klärung der Abstammung wären
folglich auch keinerlei rechtliche Konsequenzen geknüpft. Sie würden allein das Klärungsinteresse des
Vaters befriedigen. Bei Einführung des § 1598 a BGB
wurde der leibliche Vater daher bewusst nicht in den
Kreis der Klärungsberechtigten aufgenommen. Er
sollte nicht allein mit seinem - rechtsfolgenlosen - Interesse an der Klärung der Abstammung Unfrieden in
die soziale Familie hineintragen können.
Der heute von uns hier abschließend beratene Gesetzentwurf stärkt die Rechte des biologischen Vaters
also in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll es für das
Umgangsrecht künftig nicht mehr darauf ankommen,
ob bereits eine enge Beziehung zwischen dem Kind und
seinem leiblichen Vater besteht, sondern vielmehr darauf, ob dieser ein ernsthaftes Interesse an seinem
Kind gezeigt hat und ob der Umgang dem Kindeswohl
dient. Durch diese im Rahmen der Ausschussberatungen präzisierte Formulierung soll den Gerichten ermöglicht werden, im Einzelfall entsprechend des Kindeswohls zu entscheiden.
Zum anderen wird dem leiblichen Vater die Möglichkeit eingeräumt, Auskunft über die persönlichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Verhältnisse und die Entwicklung seines Kindes zu erhalten. Voraussetzung ist auch hier, dass er ein ernsthaftes Interesse an seinem Kind gezeigt hat und dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Aktuell steht der
Auskunftsanspruch nach § 1686 BGB nur den Eltern
im rechtlichen Sinne zu.
Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung soll - auch
um die Sonderstellung des biologischen Vaters zu zeigen - durch die Einführung eines neuen § 1686 a in
das Bürgerliche Gesetzbuch, gestützt von entsprechenden flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen
in § 167 a FamFG, erfolgen. Danach muss der Antragsteller an Eides statt versichern, der Mutter während
der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Hier wird
künftig das Umgangs- und Auskunftsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters geregelt sein. Von dieser
Vorschrift sollen aber nur die Fälle erfasst werden, in
denen das Kind bereits einen rechtlichen Vater hat.
Weiterhin wird das Umgangs- und Auskunftsrecht
des vermeintlichen biologischen Vaters an die Bedingung geknüpft, dass der Antragsteller auch wirklich
der biologische Vater ist. Dies bedeutet zugleich, dass
er die Möglichkeit haben muss, seine biologische Vaterschaft klären zu lassen, ohne dass die Mutter dies
vereiteln kann. Der Gesetzentwurf sieht daher die inzidente Klärung der Vaterschaft im Rahmen des Umgangs- und Auskunftsverfahrens vor. Die Vor- und
Nachteile dieser Lösung habe ich ja bereits ausführlich erläutert.
Zum Schluss noch eine Anmerkung: Das Bundesjustizministerium bereitet derzeit eine Evaluation auch
des Umgangsrechts vor. Es soll vor allem untersucht
werden, welche Auswirkungen die Durchsetzung von
Umgangsregelungen auf das Eltern-Kind-Verhältnis
hat. Daneben soll auch das FamFG evaluiert werden,
in dessen Buch 2 das Familienverfahrensrecht - und
somit also auch das Verfahren in Umgangssachen 2009 neu geregelt wurde. Im Rahmen dieses Vorhabens kann dann auch untersucht werden, ob sich die
Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen
Vaters in der Praxis bewährt.
Abschließend können wir sicherlich sagen, dass wir
mit dem Gesetzentwurf einen guten Weg gefunden haben, der der übergeordneten Bedeutung des Kindeswohls gerecht wird. Darüber hinaus setzt er das berechtigte Interesse des leiblichen Vaters an einem
Umgangs- und Auskunftsrecht in einen angemessenen
Ausgleich mit den Interessen der sozialen Familie an
einem ungestörten Familienleben.
Oft heißt es: Familie kann man sich nicht aussuchen. Andererseits heißt es auch: Blut ist dicker als
Wasser. Wie man es dreht oder wendet, Familie ist eines der wichtigsten, aber auch eines der kompliziertesten Dinge in unserem Leben. Familien gibt es mittlerweile in jeder erdenklichen Form und Konstellation.
Um diesen Lebenswirklichkeiten gerecht zu werden,
müssen wir auch unser Familienrecht immer wieder
anpassen und weiterentwickeln.
Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, etwas
über ihre Familie und Herkunft zu erfahren. Ob adoptierte Kinder, die sich auf den Weg machen, das Land
ihrer Geburt zu besuchen, ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen und mehr über ihre Wurzeln zu erfahren; oder Eltern, die versuchen, zu ihrem bis dahin unbekannten Kind Kontakt aufzunehmen und an seinem
Leben teilzuhaben.
Letzteres hat unser Familienrecht bisher für einen
bestimmten Personenkreis, den der leiblichen, aber
nicht rechtlichen Väter, nur sehr eingeschränkt vorgesehen. Zum Schutz der sozialen Familie und des Kindeswohls haben diese Väter nach derzeitigem Recht
keinerlei Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten
oder ein Umgangs- oder Auskunftsrecht einzufordern,
wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiären
Beziehung zu dem Kind steht.
Es ist richtig, dass die soziale Familie unter einem
besonderen Schutz steht. Aber es ist falsch, dass der
biologische Vater in dieser Konstellation keinerlei
Möglichkeit hat, zu seinem leiblichen Kind eine Verbindung aufzubauen. Wir werden dies heute mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf ändern und damit die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte, EGMR, umsetzen. Nach Meinung des
EGMR hat der biologische Vater durch sein in Art. 8
der Menschenrechtskonvention geschütztes Recht auf
die Achtung seines Privat- und Familienlebens unter
bestimmten Voraussetzungen auch ein Recht auf Umgang mit seinem leiblichen, aber nicht rechtlichen
Kind. Wir werden daher die Möglichkeit eines Auskunfts- und eines Umgangsrechts für diese Gruppe der
Väter schaffen und damit ihre Rechte stärken.
Einvernehmlich haben wir jedoch sinnvolle Hürden
eingebaut, um die soziale Familie so weit wie möglich
zu schützen. Das Bekanntwerden eines leiblichen Vaters stellt in den meisten Fällen eine enorme Belastung
für die Familie und im Zweifelsfall auch für das Kind
dar. Wir haben uns deshalb gegen eine Erweiterung
der Regelungen zur Anfechtung der Vaterschaft entschieden. Auch wird das Erreichen eines Umgangsoder Auskunftsrechts über den neuen § 1686 a BGB
möglich sein, wenn bestehende Anfechtungsrechte
noch nicht ausgeschöpft wurden.
Bei den Umgangs- und Auskunftsrechten wird es zudem einen kleinen, aber sehr wichtigen Unterschied
geben: Ein Recht auf Umgang soll dem leiblichen Vater nur eingeräumt werden, wenn dies dem Kindeswohl
dient. Denn das Kind ist hiervon direkt betroffen, und
damit muss sein Wohl im Mittelpunkt stehen. Dagegen
kann der Vater Auskunftsrechte bereits erhalten, wenn
dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.
In jedem Fall muss der Vater ein „ernsthaftes Interesse“ an dem Kind gezeigt haben. Wir haben hier den
Begriff des „nachhaltigen Interesses“ ausgetauscht
und damit eine praxistauglichere Lösung gefunden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die unterschiedlichen Ausgestaltungen von Familienkonstellationen sind in unserer Gesellschaft sehr
facettenreich. Es ist keine Besonderheit mehr, dass ein
Mann und eine Frau gemeinsam ein Kind zeugen, ohne
dass beide heiraten oder der Mann die Vaterschaft für
das Kind anerkennt. Das hat zur Folge, dass der Mann
nicht der rechtliche Vater des Kindes ist, sondern nur
der leibliche Vater. Dies gilt insbesondere dann, wenn
die Frau zum Zeitpunkt der Geburt mit einem anderen
Mann verheiratet ist ({0}).
Will der leibliche Vater sein Kind aber sehen und
mit ihm Umgang haben, kann er dies nach den Voraussetzungen des § 1685 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1
BGB beantragen. Damit ihm der Umgang gewährt
werden kann, muss der leibliche Vater eine enge
Bezugsperson für das Kind sein und tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen haben; der Vater
muss eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind haben. Zudem muss der Umgang des leiblichen Vaters
mit dem Kind dem Kindeswohl dienen. Liegen diese
Voraussetzungen nicht vor, kann ein Umgang nicht gewährt werden.
Die erforderliche sozial-familiäre Beziehung kann
aber nur entstehen, wenn der Vater regelmäßig
Kontakt zu seinem Kind hat. Es gibt jedoch Konstellationen, in denen die rechtlichen Eltern dem leiblichen
Vater jeglichen Umgang mit seinem Kind verwehren.
In solchen Fällen hat der leibliche Vater nach bisherigem Recht keine Chance auf Umgang mit seinem Kind.
Darüber hinaus hat ein leiblicher, nicht rechtlicher
Vater derzeit auch keinen Anspruch auf Auskunft über
die persönlichen Verhältnisse des Kindes. § 1686 BGB
gewährt jedem Elternteil einen entsprechenden Anspruch gegenüber dem anderen Elternteil, wenn dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Allerdings gilt
dies nur für Eltern im rechtlichen Sinne. Folglich steht
einem leiblichen Vater eines Kindes, der weder mit der
Mutter des Kindes verheiratet ist noch die Vaterschaft
über das Kind anerkannt hat, der Anspruch aus § 1686
BGB nicht zu. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, hat darin einen Verstoß gegen die
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK, erkannt. Der vorliegende Gesetzentwurf soll diesen Missstand beheben.
Nachdem die Bunderegierung ihren Gesetzentwurf
am 31. Januar 2013 in den Deutschen Bundestag eingebracht hat, hat der Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestages am 27. Februar 2013 ein erweitertes
Berichterstattergespräch mit sechs externen Experten
geführt. Darin wurden verschiedene Ansätze beraten,
wie der Rechtsprechung des EGMR Folge geleistet
werden kann.
Ein Vorschlag ging zum Beispiel dahin, dem leiblichen Vater ohne einschränkende Voraussetzungen die
Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft zu ermöglichen. Ziel dieses Vorschlages ist, dass die leibliche Vaterschaft sich gegenüber der rechtlich-sozialen Vaterschaft immer durchsetzen kann.
Eine weitere Anregung sah vor, den leiblichen Vater,
der Umgang mit seinem Kind begehrt, auf den Weg der
Anfechtung der bestehenden Vaterschaft zu verweisen,
anstatt ihm, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, unter
engen Voraussetzungen ein Umgangsrecht und einen
Auskunftsanspruch einzuräumen. Dies hätte den
Vorteil, dass dem leiblichen Vater nicht Rechte wie
Umgang und Auskunft eingeräumt würden, ohne dass
ihm gleichzeitig auch Pflichten entstehen.
Darüber hinaus wurde die Frage erörtert, den leiblichen Vater in die Liste der Antragsberechtigten im
Sinne des § 1598 a BGB - Einwilligung in eine Untersuchung zur Klärung der Abstammung - aufzunehmen.
Nach intensiven Diskussionen haben wir uns in großer Übereinstimmung der Berichterstatter aller Fraktionen dafür entschieden, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf nur an einer Stelle
sprachlich zu überarbeiten, ansonsten aber unverändert zu verabschieden. Die drei im erweiterten Berichterstattergespräch beratenen Vorschläge wurden
im Ergebnis verworfen. Dafür sprechen folgende
Gründe:
Das Auftauchen des leiblichen Vaters in einer bis
dahin intakten sozialen Familie birgt eine enorme
Sprengkraft. Insbesondere das Leben des betroffenen
Kindes kann dadurch in große Unordnung gestürzt
werden. Das kann aber nicht gewollt sein. Wir wollen,
dass die bislang bestehende soziale Familie so wenig
wie möglich beeinträchtigt wird. Steht dem leiblichen
Vater nach dem neuen Recht ein Anspruch auf Umgang
und Auskunft zu, soll die bestehende soziale Familie
selber entscheiden können, ob der leibliche Vater diese
Rechte frei von Pflichten erhalten soll. So kann zum
Beispiel der rechtliche Vater, der überraschend erfährt, dass er gar nicht der leibliche Vater ist, wenn er
nicht mehr für das Kind verantwortlich sein will, seine
Vaterschaft anfechten. Diese Entscheidung muss aber
der sozialen Familie vorbehalten bleiben und darf
nicht in die Hände des leiblichen Vaters gelegt werden.
Daher muss man die nach der Rechtsprechung des
EGMR erforderlichen Änderungen mit dem nötigen
Augenmaß und viel Fingerspitzengefühl vornehmen.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diese Voraussetzungen.
In § 1686 a BGB neu werden die Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters geregelt. Voraussetzungen für den Umgang des leiblichen Vaters mit seinem
Kind und den Auskunftsanspruch des leiblichen Vaters
über die persönlichen Verhältnisse seines Kindes sind,
dass die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes
besteht und dass der leibliche Vater ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt hat. Zusätzlich muss der
leibliche Vater beim Auskunftsanspruch ein berechtigtes Interesse an der Auskunft haben. Darüber hinaus
muss der Umgang des leiblichen Vaters mit seinem
Zu Protokoll gegebene Reden
Kind dem Kindeswohl dienen. Der Auskunftsanspruch
darf dem Kindeswohl nicht widersprechen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren gemeinsam mit der Union darauf hingewirkt, dass das Tatbestandsmerkmal „nachhaltiges“
Interesse aus § 1686 a Abs. 1 BGB neu in „ernsthaftes“ Interesse geändert wird. Diese Formulierung wird
dem familienrechtlichen Kontext besser gerecht und
wird auch von den Familiengerichten besser ausgelegt
werden können.
Der Gesetzentwurf nimmt die erforderlichen Änderungen mit dem nötigen Augenmaß vor, ohne die bestehende rechtliche Familie durch die neuen Rechte des
leiblichen, nicht rechtlichen Vaters über Gebühr zu
belasten. Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzentwurf
gemeinsam mit meiner Fraktion zu unterstützen.
Bislang stand einem leiblichen Vater, der nicht mit
der Kindesmutter verheiratet war oder die Vaterschaft
nicht anerkannt hatte, ein Umgangsrecht mit seinem
Kind nur dann zu, wenn er eine enge Bezugsperson ist,
für das Kind Verantwortung trägt oder getragen hat
und der Umgang dem Kindeswohl dient. Auch wenn
der Vater sich um sein Kind kümmern wollte, konnte er
dies bei Weigerung der rechtlichen Eltern nicht tun.
Allen Vätern, die aus welchen Gründen auch immer
eine solche sozial-familiäre Beziehung nicht aufbauen
konnten, blieb der Kontakt zum Kind verwehrt. Das
Umgangsrecht wurde kategorisch ausgeschlossen,
ohne Rücksicht darauf, ob der leibliche Vater eine
Chance zur Verantwortung für das Kind hatte, und
ohne Prüfung etwaiger Auswirkungen auf das Kind.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
sah in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2010 in
dem geltenden Recht in Deutschland eine Verletzung
des Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Insbesondere stellte der EGMR darüber hinaus fest, dass es
jeweils einer Einzelfallentscheidung bedarf, ob der
Umgang mit dem biologischen Vater dem Kindeswohl
dienen würde.
Die Frage, die sich uns als Gesetzgeber aufdrängte,
war, wie die soziale Familie bestmöglich zu schützen
ist. Von daher waren auch die Überlegungen, das Umgangsrecht von einer Vaterschaftsanfechtung abhängig zu machen, abzulehnen, da dies darauf hinausgelaufen wäre, dass der biologische Vater ein
Umgangsrecht nur erlangen kann, wenn er dazu den
rechtlichen Vater aus dessen Rolle verdrängt. Dies
dürfte im Regelfall aber kaum dem Kindeswohl entsprechen. Von daher ist der Verzicht auf eine vorherige
Anfechtungsverpflichtung des leiblichen Vaters sehr zu
begrüßen.
Da jedoch auch der EGMR das Kindeswohl in das
Zentrum der Entscheidung gestellt hat, soll dies auch
höchste Priorität für eine entsprechende Umsetzung
im deutschen Recht sein. Im Interesse des Kindeswohls
waren deshalb die Hürden für ein solches Umgangsrecht hoch anzusetzen. So muss der leibliche Vater zunächst an Eides statt versichern, der Kindesmutter
während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, um
missbräuchliche Behauptungen auszuschließen. Des
Weiteren muss er ein ernsthaftes Interesse an dem Kind
gezeigt haben, und der Umgang muss dem Kindeswohl
dienen. Dabei sollte es als selbstverständlich gelten,
dass im Falle des Erleidens von Gewalt der Kindesmutter durch den leiblichen Vater wegen der damit einhergehenden seelischen Beeinträchtigung der Mutter
auch ein Umgang dem Kindeswohl nicht dienen kann.
Nun gibt es nach wie vor eine Meinung - auch in
meiner Fraktion -, welche ein Umgangsrecht des leiblichen Vaters in Abhängigkeit zu seiner Bereitschaft,
Unterhalt zu zahlen, setzen möchte, dies vor dem
Hintergrund der Möglichkeit, dass bei Feststellung der
leiblichen Vaterschaft eine Vaterschaftsanfechtung des
rechtlichen Vaters droht. Allerdings birgt dieser
Lösungsansatz gleichzeitig die Gefahr, dass der finanziell besser gestellte leibliche Vater gegenüber dem finanziell schlechter gestellten Vater privilegiert würde.
Nach dem Gesetzentwurf ist ein entsprechender Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller an Eides
statt versichert, der Mutter des Kindes in der
Empfängniszeit beigewohnt zu haben. So werden damit
biologische Väter qua Samenspende ausgeschlossen,
ohne dass dabei plausibel dargelegt würde, weshalb
die in Rede stehenden Begehren von vornherein nur
von Männern erhoben werden können sollen, die
behaupten, mit der Mutter „natürlich“ verkehrt zu
haben. Aber dies dürfte sich im Ergebnis jedenfalls
gegenwärtig nur als theoretisches Problem darstellen
mangels Kenntnissen der entsprechenden Personendaten der Beteiligten.
Trotz einzelner Kritikpunkte ist der Gesetzentwurf
in der Fassung des Änderungsantrags im Ergebnis zu
befürworten, weil er das nach der Rechtsprechung des
EGMR bestehende Recht des biologischen Vaters auf
Umgang mit Nachkommen in einer insgesamt überzeugenden Weise schützt. Richtig ist insbesondere, dass
das „nachhaltige“ Interesse als Voraussetzung für ein
Umgangsrecht des biologischen Vaters im Änderungsantrag durch ein „ernsthaftes“ Interesse ersetzt wird.
Ein grundsätzlicher Ausschluss des Umgangs wird
vermieden; unter gewissen Voraussetzungen wird dem
leiblichen Vater ein solcher Umgang ermöglicht,
wobei gleichzeitig die soziale Familie weitestgehend
geschützt wird.
In dieser Legislaturperiode hat der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in meh-
reren Entscheidungen festgestellt, dass das deutsche
Familienrecht nicht der Europäischen Menschen-
rechtskonvention entspricht. Auch heute debattieren
wir wieder über einen Gesetzentwurf, der die Recht-
sprechung des Gerichtshofs umsetzt. Das ist eine ge-
Zu Protokoll gegebene Reden
sellschaftlich notwendige Fortentwicklung unseres
Familienrechts.
Wir alle wissen: Es gibt Familienkonstellationen, in
denen der leibliche Vater eines Kindes nicht identisch
ist mit dessen rechtlichem Vater. Die bisherige deut-
sche Rechtslage sieht vor, dass der leibliche Vater, der
keine enge Bezugsperson für sein Kind ist, kategorisch
und ohne Prüfung des Kindeswohls vom Umgang mit
seinem Kind ausgeschlossen ist. Dies gilt auch dann,
wenn ihm der Umstand, dass er bisher keine Bezie-
hung zu seinem Kind aufbauen konnte, nicht zuzurech-
nen war. Beispielhaft sind die Fälle, in denen die so-
ziale Familie, in der das Kind lebt, jeglichen Kontakt
zwischen leiblichem Vater und Kind blockiert. Dieser
Vater ist machtlos und rechtlos.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat entschieden: Das deutsche Recht muss eine Rege-
lung finden, die leiblichen Vätern ermöglicht, eine Be-
ziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Voraussetzung
ist, dass es dem Kindeswohl entspricht.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
setzt diese Rechtsprechung um: Wenn es dem Kindes-
wohl dient, steht dem Vater zukünftig ein Umgangs-
recht zu. Wenn es dem Kindeswohl nicht widerspricht,
hat er ein Recht auf Auskunft über die persönlichen
Verhältnisse seines Kindes. Der leibliche Vater hat
jetzt die Möglichkeit, Informationen über sein Kind zu
erhalten und eine Beziehung zu seinem Kind herzustel-
len. Sachgerecht ist aus unserer Sicht auch, dass der
Gesetzentwurf eine abgestufte Kindeswohlprüfung
vorsieht, orientiert an der Frage, ob der Vater Aus-
kunfts- oder Umgangsrechte geltend macht. Und auch
für das Kind ist es wichtig, dass klar geregelte Kon-
taktmöglichkeiten für den Vater bestehen. Ermöglicht
dies doch dem Kind, Informationen über seine Her-
kunft, seine familiären Wurzeln, zu erhalten und im
besten Fall eine Beziehung zu seinem leiblichen Vater
aufzubauen. Und auch das Interesse der sozialen Fa-
milie, Störungen des Kindesinteresses durch Außenste-
hende zu vermeiden, wird berücksichtigt.
Wir Grünen begrüßen, dass wir heute fraktions-
übergreifend das Familienrecht weiter modernisieren.
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.
Allerdings hätten wir uns noch mehr Modernisie-
rung gewünscht. Der Gesetzentwurf aus der Regie-
rungskoalition regelt die Fälle, die der konkreten
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zugrunde lagen: Dies waren typische
„Seitensprung-Fälle“. Die Regelung, über die wir
heute debattieren, hilft Vätern weiter, die der Mutter
ihres Kindes „beigewohnt“ haben.
Vor kurzem hat das „Samenspende-Urteil“ des
Oberlandesgerichts Hamm für Aufsehen gesorgt. Das
Gericht hat festgestellt, dass ein Kind, das mithilfe ei-
ner Samenspende gezeugt worden ist, das Recht hat,
vom behandelnden Arzt Auskunft über die Identität des
Samenspenders zu verlangen. Dieses Urteil ist mittler-
weile rechtskräftig. Nun sind wir als Gesetzgeber
aufgefordert, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dazu
gehört die Klärung der Rechtsstellung des Samenspen-
ders. Er ist es, der in diesem Fall der leibliche Vater
ist. Leider blendet der heute beratene Gesetzentwurf
den Komplex „Samenspende“ komplett aus. Ebenso ist
die Situation des weiblichen homosexuellen Paares,
dessen Kind naturgemäß auch einen männlichen leib-
lichen Elternteil hat, weiter ungeklärt.
Alle diese Fälle haben eines gemeinsam: Sie zeigen,
dass Kinder mehr als nur zwei Elternteile haben können.
In allen diesen Fällen, seien es Patchworkfamilien mit
verschiedengeschlechtlichen Eltern oder Regenbogen-
familien, brauchen wir klare Regeln, die die Rechte
und Pflichten aller Elternteile normieren.
Wir Grünen hätten uns gewünscht, dass Sie, meine
Damen und Herren von der Regierungsbank, die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zum Anlass nehmen, das Familien-
recht insgesamt zu novellieren und konsequent weiter-
zudenken. Einen wichtigen Ansatz hierfür haben Sie
schon in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. Sie er-
möglichen erstmals, dass zusätzlich zum rechtlichen
Vater ein zweiter Vater gerichtlich festgestellt wird.
Dieser zweite Vater ist der leibliche Vater. Ihr Gesetz-
entwurf erkennt also an, dass Mehrelternkonstellatio-
nen nicht nur im sozialen, sondern auch im rechtlichen
Sinne möglich sind.
Das ist ein Paradigmenwechsel, der bedeutend ist.
Er ist aber auch dringend notwendig. Es wird höchste
Zeit, dass wir hier im Parlament das Verhältnis von
genetischer, sozialer und rechtlicher Elternschaft
grundlegend neu klären. Denn alle Kinder haben die
gleichen Rechte, unabhängig davon, in welcher Fami-
lienkonstellation sie aufwachsen und welchen Lebens-
entwurf ihre Eltern gewählt haben.
Ich freue mich, dass weitere Bewegung in das über-
kommene Familienrecht kommt. Nach der Reform des
Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Paare
und der Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht
rechtlichen Vaters ist es nun Zeit für eine umfassende
Modernisierung des Familienrechts. Wir Grünen wer-
den uns weiterhin dafür einsetzen, das Familienrecht
konsequent weiterzuentwickeln und an die gesell-
schaftlichen Realitäten anzupassen. In der nächsten
Legislaturperiode werden neue politische Mehrheiten
uns das erleichtern.
Zur Abstimmung liegen mehrere Erklärungen gemäß
§ 31 der Geschäftsordnung vor.1)
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
17/13269, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/12163 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
1) Anlagen 11 und 12
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, der sollte sich erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Franz
Thönnes, Dr. Rolf Mützenich, Christoph Strässer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Viola von CramonTaubadel, Volker Beck ({1}), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umfassende Modernisierung und Respektierung der Menschenrechte in Aserbaidschan
unabdingbar machen
- Drucksachen 17/12467, 17/13177 Berichterstattung:Abgeordnete Joachim HörsterFranz ThönnesMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({2})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden auch hier zu Protokoll genommen.
Aserbaidschan ist für Deutschland und die EU eine
wichtige Brücke nach Zentralasien. Die politischen
Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan sind gut. Beide Länder unterhalten seit über
20 Jahren diplomatische Beziehungen und sprechen
alle bilateralen Fragen offen an.
Bundesaußenminister Westerwelle hat dies durch
seinen Besuch in Baku im März 2012 gewürdigt und
dabei auch das deutsche Interesse unterstrichen, die
Beziehungen zwischen beiden Ländern in ihrer vollen
Bandbreite auszubauen.
Für Deutschland ist Aserbaidschan der wichtigste
Wirtschaftspartner im Kaukasus und von strategischer
Bedeutung für eine von Russland unabhängige Versorgung. Aserbaidschan seinerseits sieht in Deutschland
einen seiner wichtigsten Partner in Westeuropa.
All dies zeigt die Intensität der Beziehungen. Auch
die entwicklungspolitische und kulturelle Zusammenarbeit ist hervorzuheben, ebenso eine ganze Reihe von
Maßnahmen der finanziellen und technischen Zusammenarbeit.
Aserbaidschan unternimmt seit Jahren Bemühungen, sich schrittweise westlichen Demokratie- und
Rechtsstaatsstandards anzunähern.
2001 ist es dem Europarat beigetreten und hat sich
durch seine Mitgliedschaft auch zur Achtung und Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte verpflichtet. 2009 wurde Aserbaidschan Gründungsmitglied der Östlichen Partnerschaft im Rahmen der
Nachbarschaftspolitik der EU und führt seit 2010 Verhandlungen mit der EU über ein Assoziierungsabkommen. Auch dabei spielt die Einhaltung von Grund- und
Menschenrechten eine zentrale Rolle.
Aserbaidschan hat Fortschritte beim Aufbau eines
modernen demokratischen Rechtsstaates gemacht.
Dies bestätigt auch der Europarat. An dieser Entwicklung hat die Unterstützung durch Deutschland und die
EU erheblichen Anteil.
Deutschland begleitet im Rahmen der Östlichen
Partnerschaft und der Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen die aserbaidschanischen Reformbemühungen. Gleichzeitig erwarten wir weitere deutliche
Verbesserungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,
insbesondere bei der Gewährleistung der Grund- und
Menschenrechte sowie der Unabhängigkeit der Justiz,
Demokratisierung und Medienfreiheit.
Unbestreitbar ist, dass hier noch erheblicher Verbesserungsbedarf besteht. Dies wiederum ist dem
Fortschrittsbericht der EU-Kommission im Rahmen
der EU-Nachbarschaftspolitik zu Aserbaidschan zu
entnehmen. Wir müssen beständig und mit Nachdruck
darauf hinwirken, dass der bisher unbefriedigende Zustand in diesem Bereich so schnell wie möglich behoben wird.
Freilich kann nicht erwartet werden, dass ein Land
wie Aserbaidschan mit einer völlig anderen Geschichte und Kultur in kurzer Zeit westlichen Maßstäben hinsichtlich politischer und rechtsstaatlicher Standards entsprechen kann.
Bei der Frage der weiteren positiven Entwicklung
Aserbaidschans spielt natürlich der Berg-KarabachKonflikt eine wichtige Rolle. Tatsache ist, dass Armenien Teile des Territoriums von Aserbaidschan militärisch besetzt hält und die aserbaidschanische Bevölkerung nicht nur aus Berg-Karabach, sondern auch aus
den benachbarten Gebieten rund um Berg-Karabach
vertrieben hat. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat dies in mehreren Resolutionen verurteilt und
den Rückzug der armenischen Besatzungstruppen gefordert. Dies ist bis heute nicht erfolgt. Wer vom
Selbstbestimmungsrecht der Menschen in Berg-Karabach spricht, der muss auch vom Selbstbestimmungsrecht der vertriebenen Aserbaidschaner sprechen.
Eine friedliche Lösung dieses Konflikts, die für die
Stabilität und Prosperität der Region notwendig ist,
erfordert die Bereitschaft beider Seiten zu ernsthaften
und entschlossenen Schritten. Dies hat Bundesaußenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Baku und
Erivan Mitte März 2012 deutlich gemacht. Die Arbeit
der Minsk-Gruppe der OSZE und die Bemühungen der
EU leisten einen wichtigen Beitrag zu einer friedlichen
Lösung.
Im Hinblick auf die im Oktober dieses Jahres anstehenden Präsidentschaftswahlen wäre es des Weiteren
wünschenswert, dass die angekündigte Reform des
Wahlrechts vorher noch umgesetzt wird.
Abschließend möchte ich feststellen: Uns muss daran gelegen sein, Aserbaidschan auf seinem Weg der
Öffnung nach Westen, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Partnerschaft mit der EU weiter zu unterstützen. Der vorliegende Antrag dient diesen Zielen
nicht und wird deshalb von uns abgelehnt.
Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass ich viele
der Anliegen in dem vorliegenden Antrag teile. Der
Antrag nimmt Bezug auf den Bericht zu politischen
Gefangenen in Aserbaidschan, über den die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Januar
entschieden hat. Auch wenn der Bericht dort insgesamt
nicht die erforderliche Zustimmung erhalten hat,
möchte ich doch hervorheben, dass er eine nahezu geschlossene Unterstützung sowohl von den Vertretern
der antragstellenden Fraktionen der SPD und der
Grünen wie auch von den Vertretern der deutschen Koalitionsparteien in der Parlamentarischen Versammlung erfahren hat. Nicht nur einzelne Mitglieder der
deutschen Delegation, auch Deutschland als Ganzes
ist in diesem Zusammenhang Objekt scharfer und persönlicher Angriffe von Vertretern Aserbaidschans geworden. Für uns sollte dies umso mehr Anlass sein,
hinsichtlich der Wahrung der Grundprinzipien des
Europarates Einigkeit zu demonstrieren.
In diesem Zusammenhang ist auch die Durchführung von Wahlen von Bedeutung, gerade auch im Blick
auf die Präsidentschaftswahl, die im Oktober in Aserbaidschan stattfinden wird. Nach den letzten Parlamentswahlen vom November 2010 hat die OSZE-Wahlberichterstattermission auf eine Reihe erheblicher
Probleme verwiesen, die infrage stellen, ob es sich dabei um eine wirklich kompetitive Wahl handelte. Einer
der wesentlichen Kritikpunkte betrifft das weitgehende
Fehlen freier Medien. Wir sollten allerdings auch nicht
außer Acht lassen, dass der Wahlprozess selbst friedlich und ordentlich verlief, unter Beteiligung aller
politischen Parteien des Landes.
Als einen weiteren Punkt möchte ich das Erfordernis einer Bewältigung des Berg-Karabach-Konflikts
hervorheben. Dieser Konflikt hemmt die Entwicklung
sowohl Aserbaidschans wie Armeniens. Es kommt
noch immer regelmäßig zu Opfern an der Kontaktlinie.
Flüchtlinge, die nicht zurückkehren können, werden
vieler Lebenschancen beraubt. Und nicht zuletzt können wir auch eine - nicht selten aggressive - Vertiefung der gegenseitigen Feindbilder beobachten. Der
Fall Ramil Safarov ist dafür ein besonders bestürzendes Beispiel. Dabei sind die Verhandlungen über eine
Konfliktlösung in der Minsk-Gruppe weit fortgeschritten. Die Madrider Prinzipien zeichnen deren Grundzüge vor. Ich sehe dazu keine Alternative. Es kommt
jetzt darauf an, deren Umsetzung endlich zu konkretisieren.
Wir sollten uns aber auch nicht ausschließlich auf
problematische Entwicklungen beschränken. Aserbaidschan bleibt für Deutschland ein wichtiger Partner.
Das betrifft nicht nur die Bedeutung Aserbaidschans
für die Energieversorgung der EU, sondern auch die
Rolle Aserbaidschans in einem schwierigen geopolitischen Umfeld. Und so wenig, wie wir Abstriche an den
Grundprinzipien des Europarates machen sollten, so
wenig sollten wir die schwierige innen- und außenpolitischen Ausgangslage außer Acht lassen, die die Entwicklung Aserbaidschans in den vergangenen 20 Jahren bestimmt hat. Bei allen Problemen ist diese
Entwicklung auch nicht ohne Erfolge geblieben. Von
vielen meiner Gesprächspartner in verantwortlichen
Positionen in Aserbaidschan habe ich den Eindruck,
dass es weder an Problembewusstsein fehlt noch an
der Absicht, die Modernisierung Aserbaidschans in
wirtschaftlicher, aber auch politischer und nicht zuletzt rechtsstaatlicher Hinsicht voranzubringen.
Das ist der Punkt, wo mir der vorliegende Antrag zu
einseitig in der Tonlage ist. Kritik ohne Engagement,
Kritik ohne Angebot birgt immer nur die Gefahr, eine
selbsterfüllende Prophezeiung zu werden. Denn wo
wir keine Perspektive zur Zusammenarbeit eröffnen,
können wir auch nicht erwarten, dass unsere kritischen Argumente positive Resonanz finden. Im Gegenteil: Wer als Gegner wahrgenommen wird, dessen Kritik wird zwangsläufig auch nur als eine Form von
Angriff wahrgenommen. In dieser Hinsicht fehlt es mir
an Ausgewogenheit.
Bei einer Reihe anderer Punkte hätte ich mir Gespräche über einen gemeinsamen interfraktionellen
Antrag vorstellen können. Dafür hätte es mehr zeitlichen Vorlauf und eine rechtzeitige Ansprache gebraucht. So spät in der Legislaturperiode ist das jetzt
nicht mehr möglich gewesen.
Grundlage unserer heutigen Debatte ist die Entwicklung in Aserbaidschan und der dazu eingebrachte
gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen.
Aserbaidschan vollzieht seit seiner Unabhängigkeit
eine betont westlich orientierte Außenpolitik und hat
enge und vielfältige Beziehungen zur Europäischen
Union. Seit 2009 verläuft der Großteil dieser Zusammenarbeit im Rahmen der Östlichen Partnerschaft.
Diese Form der europäischen Nachbarschaftspolitik
zielt auf eine weitreichende Annäherung zwischen den
Partnerländern und unterstützt dort umfassende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen.
Seit dem Jahr 2010 wird über ein Assoziierungsabkommen mit dem Ziel einer vertieften partnerschaftliZu Protokoll gegebene Reden
chen Kooperation verhandelt. Innerhalb der EU ist
Deutschland einer der wichtigsten Partner für Aserbaidschan. Für die Weiterentwicklung und Vertiefung
der Beziehungen und die weitere Stabilität Aserbaidchans ist aus unserer Sicht aber eine Intensivierung
der Aktivitäten für eine umfassende Modernisierung
erforderlich. Dies gilt insbesondere im politischen und
gesellschaftlichen Bereich.
Am 16. Oktober 2013 finden die Präsidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber Ilham Alijew, der schon die
Wahlen von 2003 und 2008 gewonnen hatte, tritt zum
dritten Mal an. Dies ist nach zweimaliger Wahl für ihn
nur möglich, weil durch ein Referendum 2009 die
Amtsbegrenzung des Präsidenten aufgehoben wurde.
Im internationalen Beobachterkreis geht man davon
aus, dass er auch diesmal wiedergewählt wird.
Das Präsidentenamt in Aserbaidschan ist geprägt
von weitreichenden Vollmachten. So ernennt und entlässt das Staatsoberhaupt den Ministerpräsidenten
und die Minister, die allein ihm verantwortlich sind.
Dem Parlament gegenüber muss er sich nicht rechtfertigen, ja er kann es sogar auflösen. Und er kann
Rechtsverordnungen erlassen, hat das Vorschlagsrecht
für die Ernennung aller Richter und setzt die Verwaltungschefs der 66 Provinzen ein.
Die Nationalversammlung wird als ein faktisch
machtloses Einkammerparlament mit 125 Abgeordneten, die nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt werden, eingeschätzt. Hier hat die Regierungspartei
Neues Aserbaidschan, YAP, mit 72 Sitzen die Mehrheit.
Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre sowie die
stattgefundenen Wahlen zeigen auch vor dem Hintergrund von Wahlbeobachtungsmissionen, dass es de
facto in diesen beiden Jahrzehnten keine freien und unabhängigen Wahlen gegeben hat. Wir sehen es sehr
kritisch, dass weder in den Bereichen Demokratie
noch Rechtsstaatlichkeit in der zurückliegenden Zeit
wirklich nennenswerte Fortschritte erfolgt sind oder
dass nachhaltige Schritte in diese Richtung erkennbar
gewesen wären. Leider sehen wir mit Sorge zunehmend einen autoritären Kurs der aserbaidschanischen
Regierung mit systematischer Unterdrückung der Opposition. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 und auch
bei der Parlamentswahl 2010 gab es schwerwiegende
Verstöße gegen die internationalen Standards. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, OSZE, kritisierte erhebliche Unregelmäßigkeiten und Manipulationen vor, während und nach den
Wahlgängen. Dies gilt insbesondere für die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die
Behinderung der unabhängigen Berichterstattung und
die Benachteiligung von oppositionellen Kandidatinnen und Kandidaten.
Die von Präsident Alijew 2009 durchgesetzte Möglichkeit zur unbegrenzten Verlängerung seiner Amtszeit ist als schwerer Rückschlag für die Demokratisierung Aserbaidschans zu werten.
Die internationale Gemeinschaft ist also aufgerufen, sich vor den anstehenden Wahlen frühzeitig darum
zu bemühen, dass demokratische Verfahren strikt eingehalten und durch die OSZE überwacht werden. Leider verstärken sich nämlich auch die Anzeichen dafür,
dass der Status der OSZE herabgestuft werden soll, um
ihr das Mandat zur Wahlbeobachtung im Oktober zu
entziehen.
Aserbaidschan benötigt für eine umfassende Modernisierung eine selbstbewusste und vielfältige Zivilgesellschaft. Doch auch hier müssen wir feststellen,
dass sich die Menschenrechtslage in den letzten Jahren weiter verschlechtert hat. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt, und
regierungskritische Kundgebungen werden nicht genehmigt. Proteste werden häufig gewaltsam aufgelöst,
die Teilnehmer verhaftet und in verkürzten Verfahren
zu längeren Haftstrafen verurteilt. Immer häufiger
trifft es vor allem Jugend- und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Mit großer Sorge sehen wir
auch Berichte aus dem Land, die uns über Misshandlungen und Folter von Inhaftierten, leider auch mit Todesfolge, informieren.
Nichtregierungsorganisationen, NGOs, und oppositionelle Parteien haben große Schwierigkeiten bei ihrer Registrierung, was zu faktischer Arbeitsunfähigkeit
führt. Seit dem 1. März 2013 müssen nach dem sogenannten Grant-Gesetz inländische NGOs jede Förderung über 200 Manat - das entspricht circa 200 Euro bei den staatlichen Finanzbehörden anzeigen. Und sie
dürfen nur von registrierten Organisationen Gelder
empfangen. Da aber die meisten internationalen Akteure nach wie vor nicht registriert sind, ist eine effektive zivilgesellschaftliche Aktivität nahezu unmöglich.
Im weltweiten Vergleich in der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen steht
Aserbaidschan auf Platz 162 von 179. Fernseh- und
Radiosender werden vom Staat umfassend kontrolliert.
Behörden behindern Journalistinnen und Journalisten
bei ihrer Arbeit. Häufig werden sie mit willkürlichen
Verhaftungen und Misshandlungen bedroht, massiv bedrängt; ihre Ausrüstung wird beschlagnahmt oder gar
zerstört. Ebenso kommt es zu Verurteilungen in unter
Vorwänden begründeten, politisch motivierten Prozessen.
Entscheidend für die politische und langfristige
wirtschaftliche Modernisierung Aserbaidschans ist die
Unabhängigkeit des Justizwesens, sowohl bei der Auswahl der Richter als auch bei der Urteilsfindung. Für
ein souveränes, berechenbares und transparentes
Rechtssystem sind umfassende rechtsstaatliche Reformen dringend erforderlich.
Die notwendige ökonomische Modernisierung sowie eine breitere Aufstellung seiner Wirtschaft kann
Aserbaidschan aus eigener Kraft alleine nicht leisten.
Unterstützung ist hier geboten; denn wir sind über verschiedenste Kooperationen verbunden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für die EU gehört das Land zu den bedeutendsten
Lieferanten und wichtigsten Transitländern fossiler
Rohstoffe, und ihre Mitgliedstaaten sind seine wichtigsten Handelspartner und Abnehmer von Exportgütern. Immer noch setzt Aserbaidschan jedoch einseitig
auf Abschöpfung von Gewinnen aus dem Rohstoffexport statt auf Nachhaltigkeit. Viele Industrieanlagen
sind marode; die Infrastruktur ist veraltet; ganze
Industriezweige liegen brach. Die mangelnde Bekämpfung von struktureller Korruption und Klüngelwirtschaft behindern die wettbewerbsorientierte Weiterentwicklung der Wirtschaft und die internationale
Zusammenarbeit in diesem Bereich.
Auch in der Bevölkerung ist eine zunehmende Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage zu spüren. Das Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem in Aserbaidschan bedarf dringend einer grundlegenden Reform.
Hier herrscht ebenfalls Korruption statt sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Von den Einnahmen aus den Rohstoffexporten profitiert vor allem ein
kleiner Kreis autokratischer Eliten. Die Bevölkerung
hat so gut wie nichts davon. Die wachsenden privaten
Bildungsangebote kann kaum jemand bezahlen, und
die Qualität der öffentlichen Bildung sinkt. Die Gesundheitsversorgung ist für den Großteil der Bevölkerung mangelhaft.
Schließlich ist der andauernde Konflikt mit Armenien um Berg-Karabach eine große Belastung für jegliche Modernisierungsbemühungen. Das manifestiert
sich durch die massive Aufrüstung und die laufende
Kriegsrhetorik der Konfliktparteien. Aus unserer Sicht
gilt hier: Nur die Erarbeitung einer langfristigen Friedenslösung, die Aserbaidschan und den Menschen in
der Region Berg-Karabach gerecht wird, kann den
Konflikt lösen. Der jahrelange Stillstand der Verhandlungen gibt jedoch zu Befürchtungen Anlass, dass die
Bereitschaft zur Konfliktlösung auf beiden Seiten eher
unzureichend hierfür ist.
Der derzeitige politische Kurs der aserbaidschanischen Regierung steht leider dem Ausbau der Zusammenarbeit mit der EU im Weg. Denn auch nach dem
2001 erfolgten Beitritt Aserbaidschans zum Europarat
bleiben Zweifel an der Respektierung und Umsetzung
der Werte, die in der dortigen Satzung festgeschrieben
sind. Das Land muss sich, wie alle anderen auch, messen lassen an der Gewährleistung von Grund- und
Menschenrechten sowie der Einhaltung von demokratischen und rechtsstaatlichen Standards. Eine weitere
Annäherung an die europäische Wertegemeinschaft
kann es daher nur mit eingehenden politischen Reformen und der aktiven Bereitschaft zum gesellschaftlichen Wandel im Land geben.
Im bilateralen wie europäischen Dialog müssen wir
dies deutlich entschiedener einfordern. Und die Kräfte
in Aserbaidschan, die sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten bekennen, verdienen unsere Unterstützung durch die stärkere Förderung des grenzüberschreitenden Austauschs.
Wir haben in unserem gemeinsamen Antrag 18 konkrete Forderungen an die Bundesregierung formuliert,
die zu einer umfassenden Modernisierung und Respektierung der Menschenrechte in Aserbaidschan beitragen sollen. Darunter sind unter anderem: das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten der EU bei
Maßnahmen zur Behebung rechtsstaatlicher Defizite
sowie Schritte zur Demokratisierung und Stärkung der
Zivilgesellschaft.
Dazu gehört auch das gemeinsame Drängen, dass
die aserbaidschanische Regierung bereits ausgehandelte Teile des Assoziierungsabkommens mit der EU
einhält bzw. umsetzt. Gemeinsam müssen wir Aserbaidschan auf seine mit der Mitgliedschaft im Europarat
und in der OSZE übernommenen Verpflichtungen hinweisen; das gilt auch für die Durchführung einer
Langzeit-Wahlbeobachtungsmission bei den bevorstehenden Wahlen.
Neben einer bilateralen und internationalen Kooperation zur Förderung der Pressefreiheit müssen wir
uns auf höchster politischer Ebene für die sofortige
Freilassung und Rehabilitierung inhaftierter Medienvertreterinnen und -vertreter und aller politischen Gefangenen einsetzen.
Und wir sollten unsere Besorgnis über die zunehmende Inhaftierung von Jugend- und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die Einschränkung der
Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie über die
Misshandlung durch Staatsbedienstete noch deutlicher
ausdrücken.
Des Weiteren sollte Aserbaidschan mehr Mittel in
die öffentliche Bildung investieren, die Korruption
hier ernsthaft und gezielt bekämpfen und die Qualität
insgesamt für alle steigern. Studierende, die wegen ihres Eintretens für europäische Werte zwangsexmatrikuliert wurden, sollten innerhalb der EU Studienmöglichkeiten und Stipendien erhalten.
Zur Förderung intensiverer Kontakte der aserbaidschanischen Bevölkerung mit EU-Bürgern plädieren
wir auf europäischer Ebene für eine Lockerung der
Visabestimmungen, um insbesondere den zivilgesellschaftlichen Austausch und die Begegnungen mit den
Demokratien Europas zu fördern. Natürlich bleiben
Sicherheitsinteressen dabei beachtet. Schon jetzt sollten jedoch bei der Visavergabe von den deutschen Auslandsvertretungen vorhandene Spielräume des geltenden EU-Rechts offensiv genutzt werden.
Den wirtschaftlichen Fortschritt wollen wir durch
die Förderung von Alternativen zum Export fossiler
Rohstoffe, den Ausbau erneuerbarer Energien und die
Erhöhung der Energieeffizienz unterstützen, mit Kooperationsprojekten sowie Wissens- und Technologietransfer. Auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit muss entschiedener auf Fortschritte im
Bereich der Menschenrechte, bei der Demokratisierung sowie der Rechtsstaatlichkeit gedrängt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
All dies würde Aserbaidschan und die Europäische
Union näher zusammenbringen und der friedlichen,
demokratischen Entwicklung zum Vorteil der Menschen im südöstlichen Teil unseres Kontinents dienen.
Im letzten Jahr haben wir das 20. Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und
Aserbaidschan begangen. Deutschland hat sich stets
als konstruktiver Partner Aserbaidschans verstanden,
der auch problematische Entwicklungen offen anspricht.
Der Antrag befasst sich sowohl mit der außenpolitischen Rolle Aserbaidschans im Südkaukasus als auch
mit den innen- und menschenrechtspolitischen Problemen Aserbaidschans. Sicherlich greift der Antrag
manchen wichtigen Kritikpunkt auf. Allerdings unterschlägt er auch sämtliche Anstrengungen der Bundesregierung, zu Menschenrechten, Pressefreiheit und
auch wirtschaftlicher Modernisierung in Aserbaidschan beizutragen. Das ist nicht akzeptabel.
Ich beginne zunächst mit der Außenpolitik. Was
Deutschlands Rolle beim Berg-Karabach-Konflikt anbelangt, so fordert die Bundesregierung gemeinsam
mit den EU-Partnern sowie den Staaten der MinskGruppe beide Konfliktparteien zur Mäßigung und zur
Aufnahme eines substanziellen Dialogs auf. Die entscheidenden Impulse müssen aber von innen heraus
kommen und können nicht von außen erzwungen werden. Dass eine Lösung dieses Konflikts für die Stabilität der Region des Südkaukasus von zentraler Bedeutung ist, darüber besteht innerhalb des Deutschen
Bundestages wohl kein Dissens. Nur: Der Ball liegt
hier bei den Armeniern und Aserbaidschanern.
Nun zum bilateralen Verhältnis zwischen Deutschland und Aserbaidschan: In der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und
Deutschland liegen die Schwerpunkte in den Bereichen nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft außerhalb des Öl- und Gassektors, Schutz der Biodiversität,
erneuerbare Energien sowie Kommunalentwicklung
und Rechtsstaatlichkeit. Deutschland ist für Aserbaidschan beispielsweise im Bereich der erneuerbaren
Energien ein wichtiger Partner. So wurde 2010 der
erste Windpark in Aserbaidschan unter Beteiligung
von deutschen Unternehmen fertiggestellt; weitere
Projekte sind geplant. Die von SPD und Grünen im
Antrag formulierte Aufforderung, solche Projekte zu
fördern, ist somit überholt.
Schließlich zur innenpolitischen Situation Aserbaidschans: Die EU führt mit Aserbaidschan einen Menschenrechtsdialog im Rahmen des Unterausschusses
Menschenrechte des Europäischen Parlaments, und
seit seiner Aufnahme in den Europarat 2001 unterliegt
Aserbaidschan einem Sondermonitoring durch das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Dass die Regierung Aserbaidschans einen
Besuch des Sonderberichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, dem Bundestagsabgeordneten Christoph Strässer, bisher verhindert hat, ist nicht akzeptabel. Auch die gegen die
deutsche Delegation durch den Vorsitzenden der aserbaidschanischen Delegation beim Europarat, Elkhan
Suleymanov, vorgebrachten Unterstellungen, unter anderem Erpressung und Bedrohung, sind inakzeptabel.
Die Regierung in Baku muss wissen, dass sie durch
Verweigerung eines Dialogs Zweifel an ihrer Menschenrechtspolitik nicht ausräumen kann. Aserbaidschan hat die Europäische Menschenrechtskonvention
unterschrieben. Jetzt muss es sie auch einhalten.
Auch in bilateralen Gesprächen wird die Menschenrechtslage durch Mitglieder der Bundesregierung kontinuierlich angesprochen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, hat sich
zu Recht mehrfach für die Freilassung von inhaftierten
Demonstranten eingesetzt. Bei seinem Besuch im vergangenen Jahr hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, sich auch mit Menschenrechtsorganisationen getroffen und bei den
entsprechenden Gesprächen die Menschenrechtslage
sowie die Pressefreiheit in Aserbaidschan thematisiert,
ebenso wie viele Mitglieder des Deutschen Bundestages. Die Begnadigung politischer Gefangener im Jahr
2012 wurde andererseits nicht nur in Deutschland als
ein Signal der aserbaidschanischen Regierung für den
Willen zu mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und zum
Schutz der Menschenrechte gewertet.
Wir haben in diesem Parlament mehr als einmal
deutlich gemacht, dass Aserbaidschan noch einen weiten Weg zu gehen hat und weitere Reformen notwendig
sind. Gerade im letzten Jahr ist diese Diskussion auch
öffentlich intensiv geführt worden. Gleichzeitig hat die
Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse daran, über Kontakte das Bewusstsein für diese Fragen
zu stärken und in Gesprächen immer wieder auf Veränderungen zu drängen.
Die Beziehungen zu Aserbaidschan sind vielfältig
und vom Interesse geprägt, die Situation in der Region
zu befrieden, die wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung voranzubringen und zu einer guten, tragfähigen und dauerhaften Zusammenarbeit zu kommen.
Mit der einseitigen Beschäftigung des Antrags von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Aserbaidschan
wird man den Anforderungen deutscher Außenpolitik
nicht gerecht. Denn es bleibt festzuhalten, dass auch
andere Länder in der Region, wie beispielsweise Armenien, noch weiteren Entwicklungsbedarf in Fragen
von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten haben.
Der Bundestag hat sich in den zurückliegenden Jahren bereits intensiv mit der Situation der Menschenrechte in Aserbaidschan beschäftigt. Auch Die Linke
hat in dieser Wahlperiode einen eigenen Antrag eingebracht, der sich ganzheitlich und kritisch mit der Menschenrechtslage in allen drei Südkaukasus-Republiken
auseinandersetzt. Die Situation in Armenien und GeZu Protokoll gegebene Reden
orgien ist nämlich aus unserer Sicht keineswegs zufriedenstellender als in Aserbaidschan. SPD und Grüne
haben seinerzeit unseren Antrag abgelehnt und beschränken sich in ihrem aktuellen gemeinsamen Antrag auf Aserbaidschan. Darin offenbaren sich nicht
nur unterschiedliche politische Herangehensweisen,
regionalspezifisch versus länderspezifisch, bei diesem
Thema. Der rot-grüne Antrag blickt vor allem hochgradig selektiv auf die komplexe Situation in Aserbaidschan, indem er ausschließlich Defizite thematisiert.
Dadurch entsteht praktisch der Eindruck, als herrsche
dort eine der finstersten Diktaturen der Welt, der irgendwie zu Leibe gerückt werden müsse. Ein kritischer
Menschenrechtsdialog kann so jedenfalls nicht geführt
werden, hierfür müsste eine differenzierte Gesamtbilanz der Situation gezogen werden.
Die gesellschaftlichen Realitäten werden zudem an
zahlreichen Stellen fehlerhaft beschrieben. Das liegt
unter anderem daran, dass dem Antrag eine zu dünne
Informationsbasis zugrunde liegt. Rot-Grün akzeptiert
beim Thema Aserbaidschan bekanntlich nur das, was
der eigenen Weltsicht entspricht. Der Antrag ist somit
ideologisch gefärbt. SPD und Grüne schenken nur
denjenigen Informationsquellen Glauben, die sie in ihrer eigenen Meinung bestätigen. Dabei handelt es sich
meist um einzelne Dissidentinnen und Dissidenten, die
im Ausland leben oder Vorträge halten. Natürlich müssen auch radikal-kritische Stimmen bei der Informationsgewinnung Berücksichtigung finden, dies allein
reicht allerdings nicht aus. Um sich einen objektiven
Eindruck von der komplexen Lage in Aserbaidschan zu
verschaffen, muss mit möglichst vielen unterschiedlichen Kräften kommuniziert werden: sowohl mit Vertreterinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und der konstruktiv-kritischen
Opposition, aber auch mit der amtierenden Regierung
und regimekonformen Gruppen. Das ist von grundsätzlicher Bedeutung, nicht nur im Fall Aserbaidschans. Es ist für Fortschritte bei Menschenrechten
und Demokratie unerlässlich, insbesondere auch mit
denjenigen politischen Entscheidungsträgern zu reden, die die Situation real beeinflussen können, eben
weil sie an der Macht sind. Das Alijew-Regime ist
jedenfalls kein monolithischer Block, der nur aus Betonköpfen besteht. Anstelle die Türen für Gespräche
zuzuknallen, wie dies Rot-Grün macht, müsste mit
Aserbaidschan ein offener und kritischer Dialog gesucht werden. Menschenrechte haben eine zivile Logik
und können nur durch innergesellschaftliche Konsensbildungsprozesse durchgesetzt werden. Deshalb spricht
sich Die Linke auch stets gegen Sanktionen und für
Dialog aus. Menschenrechte können nicht von außen
aufgepfropft und schon gar nicht mit militärischen
Mitteln im Rahmen sogenannter humanitärer Interventionen erzwungen werden. Und dass sich ausgerechnet
SPD und Grüne als Anwältinnen bzw. Anwälte der
Menschenrechte in Aserbaidschan profilieren wollen,
entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wer in seiner gemeinsamen Regierungszeit im eigenen Land mit der
Agenda 2010 einen systematischen Raubbau vor allem
an den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten
der Schwachen in der Gesellschaft getrieben hat, der
sollte sich besser zurückhalten, andere Länder zu belehren. Rot-Grün ist menschenrechtspolitisch genauso
unglaubwürdig wie die amtierende Bundesregierung.
Es spricht Bände, wenn Rot-Grün allen Ernstes die
Ansicht vertritt, dass für eine weitere Annäherung
Aserbaidschans an die Europäische Union zunächst
Bedingungen diktiert werden könnten. Woher nehmen
SPD und Grüne eigentlich die Gewissheit, dass eine
Annäherung an die EU für Aserbaidschan überhaupt
Priorität habe? Das Land ist ja nicht nur seit 2011
auch offiziell Mitglied der Bewegung blockfreier Staaten, sondern verfolgt vor dem Hintergrund seiner gewachsenen ökonomischen Stärke bereits seit geraumer
Zeit eine selbstbewusste, ausbalancierte Außenpolitik.
Und angesichts ihres missratenen Krisenmanagements
dürfte die EU erheblich an Attraktivität für andere
Länder eingebüßt haben. Worin soll für Aserbaidschan
der Anreiz liegen, sich der EU weiter anzunähern?
Eine Beitrittsperspektive ist nicht vorgesehen, und mit
Blick auf die Versorgungssicherheit mit Erdöl und Erdgas ist die EU jedenfalls Bittstellerin bei Aserbaidschan und nicht umgekehrt.
Hinter dieser unrealistischen Konditionierung der
europäisch-aserbaidschanischen Beziehungen steckt
allerdings die altbekannte politische Vorstellung, dass
sich andere Länder der EU möglichst bedingungslos
unterordnen und haargenau das europäische Demokratiemodell bei sich einführen sollten. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die wilhelminisch-imperiale Maxime von „Am deutschen Wesen soll die Welt
genesen“ - nur in einer zeitgemäß mit Menschenrechten garnierten, eurozentrischen Version. Das sind des
Kaisers neue Kleider, die imperiale Politik ist allerdings die alte geblieben.
Rot-Grün verkennt ebenfalls, dass Demokratisierungsprozesse in der Regel längere Zeiträume
beanspruchen. Die postsowjetischen Transformationsländer sind erst seit etwas mehr als 20 Jahren unabhängig. Auch die heutigen westeuropäischen Demokratien haben für die Etablierung von demokratischen
und menschenrechtlichen Standards wesentlich längere Zeit benötigt. Demokratieentwicklung ist zudem
kein geradliniger Prozess. Es kann mitunter auch
Rückschläge geben, wie dies aktuell am Beispiel des
EU-Mitglieds Ungarn beobachtet werden kann. Deshalb müssen bei der Gesamtbeurteilung der Menschenrechtssituation in Transformationsgesellschaften
Erfolge wie Misserfolge gleichermaßen Berücksichtigung finden und auf überprüfbaren Fakten basieren.
Die Beschreibung der wirtschaftlichen und sozialen
Lage, wonach in Aserbaidschan außerhalb des Ölsektors praktisch ganze Produktionszweige brach lägen,
hat mit der Realität nichts zu tun. Das Gegenteil ist
richtig: Die Volkswirtschaft entwickelt sich sehr dynamisch, gerade auch außerhalb des Energiesektors.
Laut Angaben der Weltbank konnte dadurch der Anteil
derjenigen, die unter 1,25 Dollar pro Tag zur VerfüZu Protokoll gegebene Reden
gung haben, bis zum Jahr 2008 auf 4 Prozent gedrückt
werden. Auch der sogenannte Gini-Koeffizient, der die
soziale Ungleichheitsverteilung misst, weist einen
rückläufigen Trend auf. Die aktuellen Werte dürften
vermutlich noch deutlich besser sein, da die Weltbank
ihre Daten seit 2008 nicht aktualisiert hat und in den
zurückliegenden drei Jahren die staatliche Sozialpolitik nochmals massiv ausgeweitet wurde. Die Armut ist
deutlich zurückgegangen, und die Masseneinkommen
haben zugelegt. Obzwar durchaus weitere Umverteilungsspielräume existieren, hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen spürbar verbessert.
Anlass zu berechtigter Kritik an Aserbaidschan bietet hingegen die Situation bei bestimmten bürgerlichen
und politischen Menschenrechten, insbesondere die
Einschränkungen bei der Versammlungs- und Pressefreiheit, die noch nicht ausreichenden demokratischen
Standards bei politischen Wahlen und die Defizite bei
der Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz.
Korruption ist ebenfalls weit verbreitet. In diesen Bereichen sind zweifellos Verbesserungen vonnöten. Bezeichnenderweise fehlen im rot-grünen Antrag aber
Aussagen zum bürgerlichen Recht auf Religionsfreiheit. Aserbaidschan ist eines der wenigen traditionell
mehrheitlich muslimisch geprägten Länder, in denen
der Bau von neuen Kirchen und Synagogen ermöglicht
wird. Die säkulare Identität der aserbaidschanischen
Gesellschaft und das friedliche Zusammenleben der
unterschiedlichen Religionen konnten trotz des schwierigen geopolitischen Umfelds und der anhaltenden militärischen Besatzung von Teilen des aserbaidschanischen Staatsgebiets durch Armenien aufrechterhalten
werden. Das ist keineswegs selbstverständlich und
sollte daher mit Nachdruck gewürdigt werden.
Insgesamt bestehen zwischen dem rot-grünen
Antrag und unserem eigenen Antrag gravierende Unterschiede in der inhaltlichen Bewertung und strategischen Ausrichtung. Die rot-grüne Holzhammermethode wird auch in diesem Fall versagen. Deshalb
kann Die Linke diesen Antrag nur ablehnen.
Mit dem vorliegenden Grünen-Antrag möchten wir
die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan stärker von
dringend notwendigen politischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Reformen abhängig machen.
Wir freuen uns, dass sich die SPD diesem Anliegen angeschlossen hat. Wir sind überzeugt davon, dass die
Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der EU
und Aserbaidschan in beiderseitigem Interesse ist.
Entscheidend hierfür wird die ernsthafte Bereitschaft
Aserbaidschans zur Demokratisierung des Landes und
zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit sein. Die systematische Unterdrückung von Grund- und Menschenrechten durch die aserbaidschanische Führung muss
ein Ende haben.
Aserbaidschan ist aufgrund seiner Einnahmen aus
der Ölförderung kein armes Land. Es ist wirtschaftlich
interessant für Europa. Davon zeugt auch die Eröffnung einer deutschen Außenhandelskammer in Baku
im November 2012. Die AHK Aserbaidschan vertritt
über 130 deutsche und aserbaidschanische Mitgliedsunternehmen im jeweiligen anderen Land. Sie sollte
die Diversifizierung der aserbaidschanischen Wirtschaft vorantreiben, die bislang nahezu vollständig
vom Rohstoffexport abhängig ist. Kooperationsprojekte zum Beispiel im Bereich erneuerbarer Energien
und Energieeffizienz sind denkbar und wünschenswert.
Leider beschränkt sich die regierende Elite darauf,
die Gewinne aus den Rohstoffexporten abzuschöpfen,
während andere Wirtschaftszweige brachliegen oder
zunehmend verfallen. Korruption ist systemimmanent
und nimmt erschreckende Dimensionen an. Ein erheblicher Mangel an Rechtssicherheit steht bislang umfangreicheren ausländischen Investitionen entgegen.
Wir wissen, dass der ungelöste Konflikt um BergKarabach ein Hemmschuh ist bei der Entwicklung
Aserbaidschans. Wir bedauern den Stillstand in den
Verhandlungen der OSZE-Minsk-Gruppe und fordern
hier ein entschlosseneres Engagement Deutschlands
und der EU. Jedoch müssen alle Konfliktparteien ehrliche Kompromissbereitschaft zeigen, statt sich weiterhin in der Reproduktion nationalistischer Feindbilder
zu überbieten.
Am stärksten steht einem modernen und fortschrittlichen Aserbaidschan jedoch der Umgang mit Grundund Menschenrechten entgegen. Hier hat sich die Lage
im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Daher begrüßen wir, dass die Parlamentarische Versammlung des
Europarates am 23. Januar 2013 mit großer Mehrheit
eine Resolution angenommen hat, die die Mängel im
Bereich der Demokratie, des Rechtswesens und der
Korruptionsbekämpfung aufzeigt. Die Situation der
politischen Gefangenen, Misshandlungen und Folter,
die Einschränkung von Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit werden ebenso kritisiert wie
Defizite bei der Gewissens- und Religionsfreiheit.
Aserbaidschan hat sich - mit seiner Mitgliedschaft im
Europarat - selbst verpflichtet, europäische Standards
einzuhalten und derartige Defizite zu beseitigen.
Bisher aber konnten leider keine Fortschritte in diesen Bereichen festgestellt werden - im Gegenteil. Wir
beobachten das Austrocknen der Oppositionszeitung
„Azadliq“. Des Weiteren beklagt das Institut für die
Freiheit und Sicherheit von Reportern, IRFS, in Baku
die Ergänzungen am Art. 58 der aserbaidschanischen
Verfassung, der das Recht auf Gründung von Nichtregierungsorganisationen regelt. Dadurch sind NGOs in
ihrer Existenz bedroht.
Am 10. April 2013 wurde die Free Thought University, AFU, in Baku ohne Angabe von Gründen durch
die Staatsanwaltschaft geschlossen. Vorlesungen und
Seminare zu Demokratie und Geschichte wurden hier
seit 2009 durchgeführt. Wir verurteilen die Schließung
Zu Protokoll gegebene Reden
dieser Einrichtung in aller Schärfe! Denn gerade der
öffentliche Bildungssektor muss gestärkt, vor allem
nichttechnische Studiengänge von der Regierung gefördert werden. Die Korruption im Bildungssektor
muss bekämpft werden, um die Teilhabemöglichkeiten
derjenigen zu erhöhen, die studieren möchten, horrende Bestechungsgelder aber nicht zahlen wollen
oder können.
Nachdem die aserbaidschanische Regierung durch
massives Lobbying das Zustandekommen einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung, PV,
des Europarates zu politischen Gefangenen in Aserbaidschan verhindert hat, befinden sich weiterhin
zahlreiche Personen aufgrund ihrer politischen Überzeugung in Haft. Und es werden wieder mehr. So wurden am 4. Februar 2013 der aserbaidschanische Oppositionsführer Ilqar Mammadow von der REALBewegung und Tofiq Yaqublu von Musavat verhaftet.
Amnesty International und Human Rights Watch haben
diese Verhaftungen verurteilt; Thorbjorn Jagland, der
Generalsekretär des Europarates, hat Kontakt zu den
Anwälten der Inhaftierten aufgenommen.
Wir verfolgen die politische Entwicklung in Aserbaidschan mit größter Aufmerksamkeit und zeigen uns
solidarisch mit unterdrückten Demokratieaktivisten
und -aktivistinnen. Wir müssen deshalb Projekte wie
Meydan TV unterstützen, einen unabhängigen Sender,
den der bekannte aserbaidschanische Blogger und
Dissident Emin Milli und andere aserbaidschanische
Aktivisten und Aktivistinnen in Berlin ins Leben gerufen haben. Der Sender soll zunächst über Internet,
später über Satellit nach Aserbaidschan senden und
einen „Raum für demokratische Meinungsbildung“
bieten, „denn ein freies Fernsehen ist die größte Gefahr für eine Diktatur“, so Emin Milli.
Am 12. Februar 2013 wurden zwei Aktivisten, die
für das Election Monitoring and Democracy Studies
Center, EMDS, eine Schulung zur zivilgesellschaftlichen Wahlbeobachtung durchführten, polizeilich bedroht. Das EMDS ist Mitglied der Initiative EPDE,
Europäische Plattform für Demokratische Wahlen. Die
Präsidentschaftswahlen in Aserbaidschan sollen am
16. Oktober 2013 stattfinden. Da es seit 20 Jahren in
diesem Land keine freien Wahlen gegeben hat, ist eine
umfassende und langfristige Wahlbeobachtung extrem
wichtig. Die internationale Gemeinschaft sollte sich
frühzeitig darum bemühen, dass demokratische Verfahren strikt eingehalten und durch die OSZE, insbesondere im Rahmen einer Langzeit-Wahlbeobachtungsmission, überwacht werden.
Bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates haben wir - mit Ausnahme der Linken - fraktionsübergreifend feststellen müssen, dass es in Aserbaidschan im Bereich der Menschenrechte seit
Dezember 2011 keine Verbesserung gegeben hat. Zwar
wurden im Januar 2013 einige Gefangene amnestiert,
aber das ist keine systemische oder strukturelle Verbesserung. Wir befürchten, dass sich die Situation in
Aserbaidschan bis zu den Wahlen im Oktober 2013
weiter verschlechtern und der Druck auf kritische
Stimmen noch zunehmen wird. Daher werbe ich überfraktionell dafür, die Bundesregierung aufzufordern,
eine entschlossenere Haltung gegenüber dem autoritären Kurs der aserbaidschanischen Regierung einzunehmen. Dabei sollte sie sich für ein abgestimmtes
Agieren der Europäischen Union im Umgang mit Aserbaidschan starkmachen.
Deutlich werden muss: Einen weiteren Ausbau der
Zusammenarbeit kann es nur geben, wenn Grund- und
Menschenrechte gewahrt sowie eine ernsthafte Bereitschaft zu tiefgreifenden Reformen erkennbar wird.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13177, den Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12467 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/12013 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13270 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert GeisAnsgar HevelingBurkhard LischkaStephan ThomaeHalina WawzyniakJerzy Montag
Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Die Umsetzung einer EU-Richtlinie in deutsches
Recht wird oft als komplizierter und bürokratischer
Vorgang dargestellt. Aus „Brüssel“ kommen die Vorlagen und Vorschriften, an denen sich „Berlin“ abarbeiten muss. In manchen Fällen mag das auch durchaus
der Fall sein. Doch der vorliegende Gesetzentwurf ist
ein Beispiel dafür, dass die Umsetzung einer EURichtlinie nicht zwangsläufig ein komplizierter oder
unbequemer Vorgang sein muss. In diesem Fall schaffen wir damit eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung
von Künstlern und Kreativen, die gleichzeitig für eine
Harmonisierung der rechtlichen Bedingungen von Urhebern innerhalb der Europäischen Union sorgt.
Wir werden mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes die Richtlinie endgültig umsetzen
und somit die Verlängerung der Schutzdauer von
Rechten ausübender Künstler und Tonträgerhersteller
von 50 auf 70 Jahre beschließen.
Mit der Gesetzesänderung erreichen wir vor allem drei
Ziele. Zunächst setzen wir die Richtlinie 2011/77/EU über
die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter
verwandter Schutzrechte um. Sie nimmt die Anpassung
einer im Jahr 2006 vorgelegten Richtlinie vor. Bei der
Harmonisierung der Schutzdauer von Musikkompositionen mit Text knüpft die Richtlinie dabei an eine vergleichbare Bestimmung zu Filmwerken- und audiovisuellen Werken in der Schutzdauerrichtlinie an.
Die vorliegende Gesetzesänderung, die wir heute
abschließend beraten, ist damit im Wesentlichen technischer Natur. So schaffen wir auf EU-einheitlicher
Ebene ein angemessenes Schutzniveau für Künstler,
das in deutschem Recht bisher nicht besteht. Dies ist
eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung von Künstlern
sowie zur Weiterentwicklung des deutschen Urheberrechts. Bisher erloschen die Rechte 50 Jahre nach der
Erstveröffentlichung beziehungsweise der ersten öffentlichen Wiedergabe. Mit der neuen Regelung erlöschen die Rechte an den Aufzeichnungen auf einem
Tonträger nach nunmehr 70 Jahren.
Außerdem erhalten die Künstler durch diese Gesetzesänderung eine bessere Teilhabe an den Einnahmen, die durch ihre ausschließlichen Rechte erzielt
wurden. So wollen wir gewährleisten, dass der ausübende Künstler an den Einnahmen beteiligt wird, die
der Tonträgerhersteller aus der durch die Verlängerung der Schutzdauer weiterhin möglichen Verwertung
von Tonträgern erzielt.
Schließlich beseitigen wir durch die Umsetzung der
EU-Richtlinie Harmonisierungslücken, die zwischen
den Mitgliedstaaten bei der Schutzdauer von Urheberrechten bestanden haben.
Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen des
Gesetzentwurfs gab es noch Änderungsbedarf mit
Blick auf die Rechte von Künstlergruppen. Für
Orchester etwa war offen, ob und wie sie von einem
Kündigungsrecht, das für einzelne Urheber besteht,
Gebrauch machen können. Daher haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP einen gemeinsamen Änderungsantrag vorgelegt, um auch solchen Künstlergruppen die Kündigungsmöglichkeit
einzuräumen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist.
Somit haben nun nicht nur einzelne Künstler, sondern
auch Gruppen von Künstlern einfacher die Möglichkeit, einen Vertrag mit einem Werkmittler zu kündigen,
wenn Werke nicht zum Verkauf angeboten werden.
Zudem wird in dem Gesetzentwurf durch die darin
vorgesehene Übergangsregelung in § 137 m des Urheberrechtsgesetzes sichergestellt, dass der Zuwachs,
der bei Musikkompositionen mit Text durch den wiederauflebenden Schutz von einer bereits gemeinfreien
Komponente entstehen kann, dem jeweiligen Urheber
zusteht. Das vorgesehene Wiederaufleben der Rechte
beim Urheber kann auch dazu führen, dass zugleich
die vertraglich vereinbarte Übertragung der Rechte
wieder auflebt, soweit dies im Vertrag zwischen dem
Urheber und seinem Vertragspartner, etwa dem Werkmittler, vorgesehen war.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir
nicht nur eine EU-Richtlinie erfolgreich in deutsches
Recht um, sondern erwirken eine sinnvolle Ergänzung
bestehender verwandter Schutzrechte im Urheberrecht. Somit erhöhen wir das Schutzniveau für Künstler und Kulturschaffende in Deutschland und leisten
damit einen Beitrag zur Stärkung der Urheber und
Kreativen.
Der vorliegende Regierungsentwurf harmonisiert
die Schutzfristen für die Rechte ausübender Künstlerinnen und Künstler und Tonträgerhersteller an
Musikaufnahmen und verlängert diese - basierend auf
der Richtline 2011/77/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter
Schutzrechte - auf 70 Jahre. Gleichzeitig wird die
Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text auf
70 Jahre festgelegt.
Bisher erloschen die Rechte an Aufzeichnungen und
Darbietungen ausübender Künstlerinnen und Künstler
50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Dieser Schutz
verlängert sich jetzt um weitere 20 Jahre. An den Zusatzeinnahmen, die die Plattenfirmen in dieser Zeit erzielen, sollen die Künstlerinnen und Künstler partizipieren, indem sie zu einem Fünftel daran beteiligt
werden. Diese Teilhabe gilt für alle Tonträger ab dem
50. Jahr der Verwertung bis zum Ende der Schutzdauer
von 70 Jahren.
Darüber hinaus haben ausübende Künstler zukünftig das Recht, den Übertragungsvertrag mit der Plattenfirma zu kündigen, wenn diese es unterlässt, eine
Aufzeichnung, die ohne die Verlängerung der Schutzdauer gemeinfrei wäre, zu verwerten.
Gegen Regelungen, die Urhebern und Künstlern zu
ihren Lebzeiten fortlaufende Einnahmen aus der Verwertung ihrer Werke sichern, ist grundsätzlich nichts
einzuwenden. Eben diesen Effekt wird der vorliegende
Entwurf jedoch nicht erzielen. Die Annahme, dass eine
große Anzahl ausübender Künstlerinnen und Künstler
von der Schutzfristverlängerung durch zusätzliche
Einnahmen profitieren wird, trügt - darauf haben viele
Urheberrechtsexperten bereits frühzeitig hingewiesen.
In Wirklichkeit können nur sehr wenige Werke
50 Jahre nach Erscheinen überhaupt noch kommerziell
verwertet werden; die Masse wirft schon nach einem
Jahr keine nennenswerten Einnahmen mehr ab. Wir
wissen daher, dass das Gesetz im Wesentlichen nur den
Zu Protokoll gegebene Reden
großen Plattenlabels, beispielsweise den Inhabern der
Rechte an den Liedern der Beatles, zusätzliche Einnahmen bescheren wird. Damit verpufft das oft genannte Argument, die Schutzfristverlängerung diene
insbesondere der sozialen Absicherung der Künstlerinnen und Künstler im Alter.
Wir begrüßen allerdings ausdrücklich, dass es gelungen ist, für das Kündigungsrecht in Fällen gemeinsamer Darbietung mehrerer Künstler - zum Beispiel
Orchester-, Chor- oder Bandeinspielungen - eine
Lösung zu finden, die die Ausübung des Kündigungsrechts durch einen gewählten Vertreter oder Leiter der
Gruppe ermöglicht und damit in der Praxis handhabbarer macht.
Der Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache
17/12013 setzt die Richtlinie 2011/77/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September
2011 zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG über
die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter
verwandter Schutzrechte in deutsches Recht um.
Die öffentliche Wahrnehmung des Urheberrechts
hat sich in den vergangenen 15 Jahren drastisch verändert. Fristete es noch Ende der 90er-Jahre ein Mauerblümchendasein, das lediglich von einigen Experten
wahrgenommen wurde, ist es spätestens mit der Debatte um ACTA und den daraus resultierenden Protesten in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die
Frage, ob die bestehenden urheberrechtlichen Schutzfristen angemessen sind, wird dabei immer wieder erörtert. Kritiker wünschen sich kürzere Schutzfristen
und somit ein früheres Gemeinfreiwerden der Inhalte.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich sehr, dass die
EU mit der Richtlinie 2011/77/EU ein klares Zeichen
für den Schutz geistigen Eigentums setzt. Die Richtlinie sieht eine Harmonisierung der Schutzdauer für
Musikkomposition mit Text sowie eine Verlängerung
der Schutzdauer von Rechten ausübender Künstler und
Tonträgerhersteller von 50 auf 70 Jahre vor. Hierbei
muss man berücksichtigen, dass Urheber und Rechteverwerter eine Symbiose eingehen. Viele Urheber sind
auf professionelle Unterstützung bei der Verwertung
ihrer Werke durch Werkvermittler angewiesen, da sie
selber oftmals gar nicht in der Lage sind, eine aufwendige Selbstvermarktung vorzunehmen. Die Verlängerung der Schutzfristen für Werkvermittler wirkt sich
mittelbar auch positiv für die Urheber aus. Sie müssen
an den Einnahmen, die von den Werkvermittlern im
Rahmen der verlängerten Schutzfrist erzielt werden,
anteilig beteiligt werden.
Da das deutsche Urheberrecht entsprechende Regelungen bislang nicht enthalten hat, muss es angepasst
werden. Dies wird durch den vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung erreicht. Die FDP-Bundestagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren
gemeinsam mit der Unionsfraktion lediglich eine inhaltliche Änderung vorgenommen.
In § 80 Abs. 2 UrhG wird die Angabe „§§ 77 und
78“ durch die Wörter „§§ 77, 78 und 79 Abs. 3“ ersetzt. Dies hat folgenden Hintergrund. Die Richtlinie
räumt ausübenden Künstlern ein Kündigungsrecht gegenüber dem Tonträgerhersteller ein, wenn dieser es
unterlässt, 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung des
Werkes Kopien des Tonträgers in ausreichender
Menge zum Verkauf anzubieten oder öffentlich zugänglich zu machen. § 80 UrhG regelt die Rechte mehrerer
gemeinsam ausübender Künstler. Die Norm findet in
der Praxis insbesondere Anwendung auf Orchester
oder ähnliche große Musikgruppen. Mit der Ergänzung in § 80 Abs. 2 UrhG wird geregelt, dass eine
Gruppe ausübender Künstler ihr neues Kündigungsrecht aus § 79 Abs. 3 UrhG-neu nur gemeinsam, vertreten durch ihren Vertreter, Vorstand, oder Leiter, ausüben kann. Damit stellen wir sicher, dass die Norm
praktikabel bleibt. Die Zusammensetzung eines Orchesters kann sich innerhalb von 50 Jahren erheblich
verändern. Müsste man zur Ausübung eines Kündigungsrechts die Einwilligung jedes betroffenen Mitglieds einholen, könnte dies in der Praxis zu unlösbaren Problemen führen. Es bestünde die Gefahr,
den ausübenden Künstlern Steine statt Brot zu geben,
weil zum Beispiel einzelne Mitglieder des Orchesters,
das einen Tonträger eingespielt hat, nicht mehr auffindbar sind. Dieses Problem wird mit der von den Koalitionsfraktionen vorgenommenen Änderung gelöst.
Die Richtlinie 2011/77/EU und damit auch die Umsetzung in deutsches Recht verfolgen mit der Verlängerung der Schutzdauer das Ziel, den Genuss der
Früchte eines Werkes auch noch den Kindern und Kindeskindern des Urhebers zukommen zu lassen. Ich
halte dies für richtig. Anders als bei gegenständlichen
Vermögenswerten wie zum Beispiel Immobilien kann
ein Urheber ohne gesetzliche Schutzfristen nichts an
seine Nachkommen weitergeben. Wir wollen aber gerade Anreize setzen, damit Menschen Zeit und Kraft in
die Entwicklung und die Umsetzung von Ideen und
kreativen Leistungen stecken. Nur so können wir die
kulturelle Vielfalt in Deutschland und Europa erhalten.
Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf gemeinsam
mit meiner Fraktion zu unterstützen.
Ich bekomme immer einen Schweißausbruch, wenn
ich auf der Tagesordnung dieses Hauses das Wort
„Urheberrecht“ entdecke, weil ich dann weiß: Jetzt
kommt wieder ein Versuch, die Rechte der Medienindustrie zu stärken, entweder zulasten der Urheberinnen und Urheber oder zulasten der Rezipientinnen und
Rezipienten. So auch diesmal. Sie wollen die Fristen
der Leistungsschutzrechte von ausübenden Künstlern
und Tonträgerherstellern verlängern. Ausübende
Künstler, also die Interpreten der Lieder, sollen nicht
hinnehmen müssen, dass noch zu ihren Lebzeiten ihre
Aufnahmen gemeinfrei werden, sodass sie nichts mehr
daran verdienen. So argumentieren die Befürworter
dieses Gesetzentwurfs.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sie kennen wahrscheinlich den Song „Twist and
Shout“, der durch die Beatles bekannt wurde. Dieser
Song wurde ursprünglich von Phil Medley und Bert
Russell für die Gruppe Top Notes geschrieben, also
nicht von John Lennon und Paul McCartney. Die Beatles besitzen an diesem Song keine Urheberrechte, aber
sie sind damit reich geworden. Warum? Nun, weil sie
den Song nachgespielt haben und als Interpreten Leistungsschutzrechte an der Aufnahme besitzen. Ebenso
wie ihre Plattenfirma, nämlich als sogenannter Tonträgerhersteller.
Die Aufnahme der Beatles wurde erstmals am
2. März 1964 in den USA veröffentlicht. Sie wäre nach
dem alten Recht nur noch bis zum 31. Dezember 2015
geschützt gewesen, jedenfalls in Europa; denn in den
USA beträgt die Schutzfrist ohnehin 95 Jahre. Mit der
Verlängerung der Leistungsschutzrechte von 50 auf
70 Jahre wird sie nunmehr auch in Europa bis 2035
geschützt sein.
Cui bono? Die meisten ausübenden Künstler verdienen an ihren Leistungsschutzrechten ziemlich wenig.
Universal, Sony und Warner Music streichen bis zu
72 Prozent der Einnahmen aus verwandten Schutzrechten ein. Das erfolgreichste Fünftel der Künstler
erhält weitere 24 Prozent. Die verbleibenden 4 Prozent
kommen bei 80 Prozent der ausübenden Künstler an.
Diese Zahlen können Sie einer Studie entnehmen, die
unter Federführung des Centre for Intellectual
Property Policy & Management an der Bournemouth
University entstanden ist.
Die Rechte an den Beatles-Songs liegen heute zum
großen Teil bei Sony/ATV, einem Joint Venture von
Sony mit dem Jackson Estate, der das Erbe von
Michael Jackson verwaltet. Anscheinend gilt das auch
für „Twist and Shout“, obwohl ich Ihnen das nicht mit
Sicherheit sagen kann, da ich die Verträge natürlich
nicht kenne. Aber etwas anderes kann ich Ihnen mit
Sicherheit sagen: dass weder Sony noch die Beatles
am Hungertuche nagen. Die Rechte an BeatlesAufnahmen werden heute etwa auf das 500 000-Fache
der ursprünglichen Wertsumme geschätzt.
Wenn Sie Kreative schützen wollen, indem Sie das
Schutzniveau immer weiter hinaufsetzen, dann sind Sie
auf dem Holzweg. Schutzfristen zu verlängern oder
den Schutzumfang zu erweitern, ihn auf immer kleinere
Elemente auszudehnen, auf einzelne Wörter oder
Soundschnipsel - all das bringt nichts außer gesellschaftlichen Kollateralschäden. Sorgen Sie stattdessen
lieber dafür, dass von dem Geld, das mit Urheber- und
Leistungsschutzrechten verdient wird, mehr dort ankommt, wo es dringend benötigt wird! Nämlich nicht
bei den großen Stars und Unternehmen, sondern bei
den vielen unbekannten Urhebern und Künstlern, die
von ihrer Arbeit tatsächlich kaum leben können. Stärken Sie nicht die Major Labels, stärken Sie die Rechte
der Kreativen im Urhebervertragsrecht!
Die Geschichte des Urheberrechts ist auch eine Geschichte fortwährender Schutzfristverlängerungen.
Die Reformen des Urheberrechts der letzten Jahrzehnte haben gleich mehrfach zu einer Verlängerung
der Schutzfristen geführt. So betrug die Regelschutzfrist urheberrechtlich geschützter Werke Anfang des
letzten Jahrhunderts noch 30 Jahre - heute sollen mit
diesem Gesetzentwurf sogar die Schutzfristen der tonträgerherstellenden Leistungsschutzberechtigten auf
nunmehr 70 Jahre angehoben werden.
Argumentiert wird bei der wiederholten Verlängerung der Schutzfristen von Urhebern und Leistungsschutzberechtigten häufig mit der gesteigerten Lebenserwartung, bei Schutzfristverlängerungen post mortem
mit dem Urheberpersönlichkeitsrecht oder mit der Vergleichbarkeit zum Sacheigentum, bei der heute anstehenden Verlängerung mit einer angeblich nötigen Harmonisierung. Schutzfristen haben zwar einerseits für
die Mitglieder der Familie des Urhebers die Funktion
einer sozialen Absicherung und bilden oft den Hauptinhalt des Erbes, das grundsätzlich unter gesetzlichem
Schutz steht; andererseits schwindet nach dem Tod der
personale Bezug zwischen dem Urheber und seinem
Werk, weshalb besonders Fristverlängerungen post
mortem problematisch sind.
Tatsächlich hat die Verlängerung der Schutzfrist für
Leistungsschutzberechtigte, die wir heute diskutieren,
deutlich weniger mit der Stärkung der im Musikbereich tätigen Künstlerinnen und Künstler zu tun, als
die Koalition den Anschein zu wecken versucht. Vielmehr ist sie das Ergebnis konsequenter Lobbyarbeit
der Major Labels auf nationaler, supra- und internationaler Ebene. Sie mündete in der Richtlinie 2011/77/EU
vom 27. September 2011, welche die Schutzdauerrichtlinie 2006/116/EG ändert und von den Mitgliedstaaten
eine entsprechende Anpassung nationalen Urheberrechts fordert.
So werden mit dem heute vorliegenden Umsetzungsgesetz auch und insbesondere die Schutzfristen für
leistungsschutzberechtigte Tonträgerhersteller von
50 auf 70 Jahre ab Erstveröffentlichung verlängert.
Hier zeigt sich mehr als deutlich, dass der Vergleich
mit dem Sacheigentum oder dem Urheberpersönlichkeitsrecht hinkt - geht doch die Richtlinie auf Initiativen derjenigen zurück, die die Pressrechte an Tonträgern von Beatles-Liedern halten und daraus noch
einige Jahre mehr Gewinn erzielen möchten.
Wir müssen bedenken, dass alle Schutzfristverlängerungen der Gemeinfreiheit neue Grenzen setzen, obwohl die Gemeinfreiheit in Wissensgesellschaften von
integraler Bedeutung ist. Schließlich wird die Durchsetzung der Urheberrechte in der Zeit einer fortschreitenden Digitalisierung und Globalisierung immer
schwieriger und kollidiert mit datenschutzrechtlichen
sowie bürgerrechtlichen Vorgaben. Auch geistige
Werke der Literatur und der Musik gehören, mit gleichem Anspruch auf Achtung, zum geistigen Erbe von
Kultur- und Sprachgemeinschaften, ohne dass einzelne
Zu Protokoll gegebene Reden
Rechteinhaber dies reglementieren oder lizensieren
dürften. Die Welt der Kultur sähe arm aus, wenn Werke
von Goethe oder Mozart nicht der Allgemeinheit gehören würden, wenn sie nicht gemeinfrei wären.
Wir Grünen werden uns daher auch weiterhin auf
europäischer und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass es zu einer Kehrtwende im Bereich der
Schutzfristen kommt, um bei gleichzeitiger Stärkung
der Urheberinnen und Urheber gegenüber den Verwertern mehr Raum für Kreativität und Gemeinsinn zu
schaffen und zu verhindern, dass Gesetze lediglich zugunsten der großen Plattenfirmen gemacht werden.
Immerhin wird den Urhebern als Ausgleich für die
Schutzfristverlängerung eine Beteiligung an den Erlösen und ein Kündigungsrecht zugestanden, wenn der
Tonträgerhersteller es unterlässt, Kopien des Tonträgers in ausreichender Menge zum Verkauf anzubieten.
Meine Bedenken bezüglich der Ausgestaltung des
Kündigungsrechts von Künstlergemeinschaften, welche ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs geäußert habe, wurden aufgenommen und sind
in einen Änderungsantrag der Regierungskoalitionen
eingeflossen. So ist sichergestellt, dass das Kündigungsrecht beispielsweise von Orchestermitgliedern
50 Jahre nach der Aufnahme nicht faktisch leerläuft.
Wenn wir heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung diskutieren, so dürfen wir nicht lediglich
als Urheberrechtler, sondern müssen auch als Europäer diskutieren. Die EU-Richtlinie, die diesem
Gesetzentwurf zugrunde liegt, lässt keinerlei Umsetzungsspielraum zu. Sie fordert klar und ohne Interpretationsmöglichkeit, die Zahl 50 durch die Zahl 70
auszutauschen. Europarechtlich ist dies ein gewollter
und aus den europäischen Verträgen resultierender
Vorgang der fortschreitenden Vereinheitlichung in der
Europäischen Union.
So müssen wir als Europäer auch zur Kenntnis nehmen, dass sich der Umsetzungsauftrag dieser Richtlinie eben nicht lediglich an die Bundesregierung oder
nur an die sie tragende Koalition, sondern an das gesamte Parlament richtet. Dieser europäischen Verantwortung können und wollen wir Grüne uns nicht entziehen. Deshalb werden wir als Europäer heute diesem
Gesetz zustimmen, auch wenn wir uns als Urheberrechtler deutlich gegen Schutzfristverlängerungen
aussprechen.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13270, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12013 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition und der Grünen
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden
- Drucksachen 17/585, 17/12908 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelGabriele FograscherDr. Stefan RuppertUlla JelpkeWolfgang Wieland
Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der
Fraktion Die Linke. Die Fraktion Die Linke fordert in
ihrem Antrag, dass der Tag der Befreiung ein gesetzlicher Feiertag werden muss.
Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht
wurde der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet.
In den Folgejahren wurden zuerst Besatzungszonen
gebildet, und wenig später, nämlich im Jahr 1949, entstanden zwei deutsche Staaten. Mit der Bildung der
zwei Staaten ging die Etablierung unterschiedlicher
Lebensformen sowie persönlicher Entwicklungen und
Erfahrungen einher. Für den Zeitraum der Teilung
Deutschlands war ein gemeinsamer Feier- oder Gedenktag praktisch unmöglich.
Unbestritten ist der 8. Mai in zahlreichen Ländern
Europas ein Gedenktag. Dabei wird in erster Linie an
die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit einhergehend an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa erinnert. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird Jahr für Jahr an den 8. Mai
erinnert. Zweifelsfrei ist dies ein Tag der Mahnung,
dass Antisemitismus und Rassismus keinen Platz in unserer Gesellschaft haben dürfen.
In der Bundesrepublik Deutschland war der 8. Mai
1945 seit der Staatsgründung 1949 zu keinem Zeitpunkt ein Feiertag. In der ehemaligen DDR wurde der
Manfred Behrens ({0})
8. Mai bis 1966 und einmalig im Jahre 1985 als Feiertag begangen.
Mit dem vorliegenden Antrag verfolgt die Fraktion
Die Linke das Ziel, den früheren Gedenktag in der ehemaligen DDR wieder einzuführen. Aber dies ist unter
mehreren Aspekten nicht plausibel und politisch damit
nicht zu vertreten. Denn der 8. Mai 1945 war für viele
Deutsche auf dem Gebiet der späteren DDR nur bedingt ein Tag der Freiheit. Denn die Gefängnisse, welche bis 1945 mit Opfern des Nationalsozialismus belegt waren, wurden später mit Kritikern des DDRRegimes gefüllt. Von daher ist es eine berechtigte
Frage, ob der 8. Mai für alle Deutschen als Tag der
Befreiung zählen kann.
Die CDU/CSU-Bundesfraktion hat in der Beschlussempfehlung und im Bericht des Innenausschusses gegen den Antrag der Fraktion Die Linke gestimmt. Die
CDU/CSU sieht keine Notwendigkeit für einen neuen
und damit weiteren gesetzlichen Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere vor der historischen Teilung der deutschen Staaten und der Tatsache, dass die Bewohner der ehemaligen DDR erst ab
1989 die Chance erhielten, eine Demokratie aufzubauen, erscheint der Antrag nicht schlüssig.
Final bleibt damit festzuhalten, dass die CDU/CSUBundesfraktion den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Bundestagsdrucksache 17/585 ablehnt.
Der 8. Mai 1945 war der Tag, der die nationalsozialistische Schreckensherrschaft beendet hat, ein Tag,
der eine Wende für Deutschland bedeutete.
Leider führte das Ende der Zeit der Nationalsozialisten und das Ende des Zweiten Weltkrieges auch
dazu, dass Deutschland geteilt wurde. Diese Trennung
konnte zum Glück mit der Wiedervereinigung beendet
werden.
Ganz Deutschland ist heute ein angesehenes, souveränes, demokratisches und rechtsstaatliches Land. Es
wird respektiert in der ganzen Welt.
Der 8. Mai hat für Deutschland zwei Bedeutungen:
Zum einen ist der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung
von einer menschenverachtenden Gewaltherrschaft
der Nationalsozialisten; zum anderen ist der 8. Mai
1949 der Tag, an dem der Parlamentarische Rat unser
Grundgesetz, unsere demokratische, auf den Menschenrechten basierende Verfassung, beschlossen hat.
Seit 1996 ist der 27. Januar gesetzlicher Gedenktag.
Es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus; denn 1945 wurde an diesem Tag das
Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Seit
2005 ist dieser Tag auch Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.
Der Deutsche Bundestag erinnert jährlich in einer
Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus;
rund um dieses Datum finden zahlreiche Veranstaltungen statt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Und nun wollen Sie von der Linksfraktion, dass der
8. Mai auch ein gesetzlicher Gedenktag wird. Doch ich
meine, wir brauchen keinen weiteren Gedenktag; wir
brauchen ein lebendiges Gedenken, und das nicht nur
an einem Tag mit besonderer historischer Bedeutung,
sondern an jedem Tag.
Sie schreiben in der Begründung Ihres Antrags,
dass es in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr gäbe
und deshalb ein solcher Gedenktag für die gesellschaftspoltische Diskussion wichtig sei. Das sehen wir
anders.
Zeitzeugen spielen immer noch eine wichtige Rolle
bei der Vermittlung der nationalsozialistischen Vergangenheit unseres Landes. Doch brauchen wir keinen
weiteren Gedenktag, sondern zusätzliche und neue
Formen, um junge Menschen über diese dunkelste Zeit
der deutschen Vergangenheit zu informieren und über
die Gefahren des Nationalsozialismus und Rechtsextremismus aufzuklären.
Richard von Weizsäcker hat in seiner beeindruckenden Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag angemahnt, die Erinnerung wachzuhalten: „Wer
sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der
wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Das müssen und werden wir mit allen Mitteln zu
verhindern suchen.
Wolfgang Thierse erklärte als damaliger Bundestagspräsident zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945:
„Die Bewahrung der Erinnerung und das Gedenken
an die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg - sie
verpflichten uns zur Verteidigung der Demokratie
heute und zu aktiver Friedenspolitik heute.“
Leider gibt es immer noch Menschen in unserem
Land, die die Verbrechen der Vergangenheit leugnen,
die NS-Schreckensherrschaft glorifizieren, menschenverachtende Ideologien vertreten und für sie kämpfen,
sich von rechtsextremem Gedankengut anstecken lassen.
Das wissen wir nicht erst seit dem Aufdecken der
NSU-Morde. Seit 1990 gab es nach Recherchen von
„Mut gegen rechte Gewalt“ und der Amadeu-AntonioStiftung 183 Morde mit rechtsextremem und rassistischem Hintergrund; eine höhere Dunkelziffer ist zu
befürchten. Die Zahl der rechtsextremen Straftaten ist
in 2012 um 4 Prozent auf 17 600 Fälle gestiegen.
Unsere Aufgabe als Politik, Staat und Gesellschaft
ist es, die Erinnerung wachzuhalten. Das ist aber nur
das eine. Wir müssen auch aktiv gegen rechtsextremes,
rassistisches, antisemitisches und fremdenfeindliches
Gedankengut vorgehen.
Wir müssen die Menschen ermutigen, für unsere Demokratie einzustehen, für sie zu kämpfen. Ohne gesellschaftliches Engagement werden wir nichts erreichen
können. Und wir als Politikerinnen und Politiker, wir
müssen die Hürden für Engagement gegen Rechts und
gegen die Verherrlichung der NS-Zeit senken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die seit 2001 von den jeweiligen Bundesregierungen durchgeführten Modellprojekte gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben schon einiges erreicht. Doch mit befristeten
Modellprojekten allein kommen wir nicht weiter. Wir
brauchen eine langfristige Förderung von erfolgreichen Projekten, die Streichung der Extremismusklausel und die Möglichkeit, auch ohne Kofinanzierung
durch Länder und Kommunen Projekte zu finanzieren.
Wir müssen das Bewusstsein und die Sensibilität hinsichtlich des Rechtsextremismus und seiner Gefahren
für Vertreter aller Bereiche des öffentlichen Lebens
stärken.
Die Erinnerung, die Aufklärung und das aktive
Handeln können ein Wiedererstarken des Rechtsextremismus verhindern. Ein gesetzlicher Gedenktag ist zu
wenig. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab.
Schließen möchte ich mit Worten von Richard von
Weizsäcker: „Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land!
Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.“
Die erste Debatte im Mai 2010 zum heute abschließend zu beratenden Antrag der Linksfraktion demonstrierte eindrücklich, wie vielschichtig der 8. Mai
1945 in der deutschen Erinnerungskultur diskutiert
wird und auch betrachtet werden sollte. Abgeordnete
berichteten zum Teil sehr persönliche Erinnerungen
und Eindrücke.
Dr. Lukrezia Jochimsen von der Linksfraktion schilderte beeindruckend, wie sie das Kriegsende an diesem Tag als neunjähriges Kind in einem Tagebucheintrag als „schweren Tag für alle Deutschen“ bezeichnet
hatte. Sie beschrieb ihre Überraschung später in der
Rückschau, dass Ängste vor Rache oder Vergeltung,
die vielleicht aus diesem Tagebucheintrag gesprochen
hatten, für sie unbegründet blieben. Sie sagte: „Fast
ungläubig stellten wir von nun an von Jahr zu Jahr an
jedem 8. Mai fest, wie gut mit uns umgegangen wurde,
wie schonend, wie auf die Zukunft setzend.“ Sie erlebte
des Kriegsende in Westdeutschland, in Frankfurt am
Main.
Joachim Selle von der CDU/CSU-Fraktion beschrieb aus eigener Erfahrung, mit welch verzerrter
Wahrnehmung dieser Tag in der DDR begangen
wurde. In der DDR wurde am 8. Mai, dem dort sogenannten Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom
Hitlerfaschismus, nicht der Beitrag aller Alliierten zur
Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewürdigt. Es wurde nicht berücksichtigt, dass
Stalin zwar entscheidend zum militärischen Sieg über
den Nationalsozialismus beigetragen hatte, wie der
Historiker Hubertus Knabe feststellt, diesen Sieg aber
zur Errichtung einer neuen Diktatur nutzte, die viele
Millionen Opfer forderte. Dieser Teil der Geschichte
wurde in der DDR ausgespart. Stattdessen erging sich
die SED-Einheitspartei in Glorifizierungen der
Sowjetunion und der Roten Armee und nutzte den antifaschistischen Gründungsmythos zur Befestigung ihrer
Diktatur. Für 16 Millionen Ostdeutsche kam der demokratische Wiederaufbau erst ab 1989.
Richard von Weizsäcker definierte in seiner bemerkenswerten Rede vor dem Deutschen Bundestag zum
40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 den
8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft“ für alle Deutschen, für West- wie
für Ostdeutschland und darüber hinaus. Er stellte
auch fest, dass wir im Ende des Krieges nicht die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen
dürfen, sondern sie in seinem Anfang sehen müssen.
Daran gibt es keinen Zweifel.
Dennoch müssen wir den Tag der Befreiung in seiner Bedeutung für West- und Ostdeutschland vor dem
Hintergrund der unterschiedlichen Geschichte der beiden Teile Deutschlands differenziert betrachten. Vor
diesem Hintergrund ist der 8. Mai nicht als gesetzlicher, staatlich verordneter Gedenktag geeignet. Das
ändert nichts an der wichtigen Bedeutung dieses Tages.
Seit der ersten Beratung des Antrags der Linksfraktion im Plenum vor etwa zwei Jahren hat sich unsere
Haltung nicht geändert: Wir Liberale halten die staatliche Verordnung eines Gedenktages am 8. Mai nicht
für den richtigen Weg, mit diesem geschichtsträchtigen
Datum umzugehen. Eine lebendige und aktive Erinnerungspolitik aus der Mitte der Gesellschaft, wie sie in
vielen gesellschaftlichen Initiativen in jedem Jahr und
nicht nur am 8. Mai zum Ausdruck kommt, ist uns
wichtiger. In unserer Gesellschaft möchten wir die
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit
und mit dem schweren Erbe fördern, das der Nationalsozialismus uns hinterlassen hat. Dieser Verantwortung müssen wir uns täglich neu stellen, ob im Widerstand gegen den Rechtsextremismus in unserer
Gesellschaft oder bei der bedingungslosen Aufklärung
der grauenhaften Gewalttaten durch die NSU-Terrorzelle, an der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages im NSU-Untersuchungsausschuss gemeinsam arbeiten.
Bundeskanzlerin Merkel ist in vielen europäischen
Ländern, die unter dem deutschen Spardiktat leiden, zu
einer Hassfigur geworden. Die bittere Medizin, die die
Kanzlerin den Krisenländern verabreicht, hat die Lage
in fast allen Ländern dramatisch verschlechtert. Den
reichen Gläubigern, die in der Regel in Deutschland
leben, wird geholfen, die Schuldner werden ihrem
Schicksal überlassen. Zum Beispiel bekam Portugal
28 Milliarden Euro im vergangenen Jahr an „Hilfsgeldern“. Davon flossen 0,8 Milliarden Euro in den portugiesischen Staatshaushalt, und 27,2 Milliarden Euro
flossen an die Gläubiger.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit großer Härte und Hochmut wird eine zerstörerische Politik von der Bundesregierung halsstarrig fortgesetzt. Auf Demonstrationen in Spanien, Portugal,
Griechenland, Zypern und Italien wird gegen die desaströse Kürzungspolitik demonstriert. Auf Plakaten
wird das Gesicht von Frau Merkel mit Hitler-Bärtchen
verunstaltet. Darüber kann man sich empören, man
muss aber auch darüber nachdenken.
Wir machen uns große Sorgen, dass die Bundesregierung den guten Ruf unseres Landes vollständig
verspielt und Deutschland in Europa und darüber hinaus isoliert. Wir brauchen einen Bruch mit dieser
Politik. Die Kanzlerin darf nicht länger die selbstherrliche Oberlehrerin geben.
Doch die grundsätzliche Änderung der Politik allein reicht noch nicht aus, um den angeschlagenen Ruf
Deutschlands wiederherzustellen. Es bedarf einer
deutschen Geste der Dankbarkeit gegenüber unseren
europäischen Nachbarn. Jetzt wäre es an der Zeit, ein
deutliches Zeichen zu setzen. Wenn Deutschland zeigen würde, dass es die weltweite Hilfe zur restlosen
Zerschlagung des schlimmsten Terrorregimes in der
Geschichte der Menschheit, des Faschismus, als eine
Befreiung begreift, dann würde das auch als ein Akt
der Demut verstanden werden.
Die Linke hatte 2010 den Vorschlag gemacht, dem
Beispiel der SPD-Linke-Regierung in MecklenburgVorpommern zu folgen und den Tag der Befreiung zu
einem gesetzlichen Gedenktag zu machen. Unser Vorschlag wurde im Innenausschuss des Bundestages von
allen anderen Parteien abgelehnt. Bemerkenswert ist,
dass die Vertreter von SPD und Grünen im Kulturausschuss sich der Stimme enthalten haben. Das ändert
leider auch nichts an dem Ergebnis.
Die Bundesregierung will keinen gesetzlichen Gedenktag zum Tag der Befreiung. Für sie ist das Ende
des 2. Weltkrieges immer noch nur eine Niederlage.
Wir könnten am Tag der Befreiung unsere Dankbarkeit gegenüber Menschen und Völkern äußern, die uns
damals befreit haben.
Die Bundesregierung vermittelt den Eindruck, als
ob Deutschland aus eigener Kraft den Wohlstand erreicht hätte. Ohne die Befreiung vom Faschismus
könnten wir heute nicht unsere Freiheit genießen.
Ohne die Hilfe nach dem 2. Weltkrieg hätten wir jetzt
nicht den Wohlstand für zumindest zwei Drittel der Gesellschaft.
Es ist ja nicht nur das Verhältnis Deutschlands zu
den EU-Ländern zerrüttet, auch das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland ist auf einem Tiefpunkt. Die Sowjetunion hat ohne Frage den größten
Beitrag zur Zerschlagung des Faschismus geleistet.
Diese Leistung wurde von der Bundesregierung nie
anerkannt.
Mit dem Tag der Befreiung als gesetzlichem Gedenktag könnten wir einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland einleiten.
Doch das ist von der Bundesregierung nicht gewollt.
Wir als Die Linke werden am 8. Mai 2013, wie jedes
Jahr, mit vielen Menschen den Tag der Befreiung feiern. Wir werden der Menschen gedenken, die ihr Leben gegeben haben, damit wir heute in Freiheit leben
können.
Dieser Antrag, in all seiner Kürze, ist ein ganz klassisches Produkt aus der Geschichtswerkstatt der
Linkspartei: formal ziemlich unsinnig, geschichtspolitisch einseitig und in der Botschaft deswegen höchst
fragwürdig.
Das Formale mal vorweg: Dass die Linkspartei immer beantragt, dass der Bundestag als Legislative
doch die Bundesregierung als Exekutive ersuchen
möge, einen Gesetzentwurf vorzulegen, daran haben
wir uns gewöhnt. Das kann man ja noch rechtfertigen,
wenn es um ein kompliziertes Artikelgesetz geht, da
kann man ja sagen: Das kann eine Oppositionspartei
kaum stemmen, dazu braucht es den Regierungsapparat. Das kann man aber bei der Komplexität dieses Antrags wohl kaum ins Feld führen.
Aber offenbar überfordert auch die Ausrufung eines
Gedenktages die Geschäftsordnungskenntnisse der
Antragsteller. Denn sie könnten schon wissen, dass es
der Bundespräsident ist, der einen Gedenktag proklamiert, da braucht es kein Gesetz. Das könnten Sie ganz
besonders deshalb wissen, weil die Fraktion Die Linke
kürzlich auch die Initiative für einen Gedenktag
18. März unterstützt hat, der war nämlich formal - inhaltlich natürlich auch - richtig.
Sei es, wie es sei, für uns macht sich die Ablehnung
Ihres Antrags an seinem Inhalt und seiner Begründung
fest, nicht an diesen formalen Skurrilitäten.
Klar ist: Unsere Ablehnung hat nichts damit zu tun,
dass wir nicht auch der Meinung wären, dass der
8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Diese richtige
Bewertung des endgültigen Endes des Naziregimes hat
der damalige Bundespräsident von Weizsäcker 1985 in
seiner beeindruckenden Rede in eindrucksvoller Weise
getroffen und hat damit das gesellschaftliche Selbstverständnis in unserem Land verändert. Was bis dahin
viele dachten, was aber die Ewiggestrigen nicht wahrhaben und nicht laut ausgesprochen haben wollten,
wurde so zum breit getragenen Konsens.
Und das ist eben das Problem mit Ihrem Antrag: Sie
tun so, als habe es das alles nicht gegeben! Als seien
nicht in der Bundesrepublik lange und erfolgreiche
Kämpfe um die Deutung des Nazisregimes geführt
worden, an deren Ende nun wirklich jeder sagt: Das
war ein menschenverachtendes System des Völkermordes, sein Untergang war eine Befreiung.
Sie stellen es in Ihrer Begründung so hin, als sei das
alles umstritten, als würde die ganze Gesellschaft
- und nicht nur eine Handvoll Ewiggestrige - den
Zu Protokoll gegebene Reden
8. Mai immer noch als Niederlage bewerten. Die Debatten, die Sie angeblich auslösen wollen, die werden
aktiv geführt. Und die hochbetagten Zeitzeugen ins
Feld zu führen, ist nun auch ganz billig. Gerade das
Gedenken, das sie verkörpern, das Gedenken an das
Mordsystem Nationalsozialismus, das ist zu Recht mit
dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar verbunden.
An diesem Tag geht es um die Opfer des NS-Regimes,
um die Menschen, die unter dem System gelitten haben
und in seinen Lagern ermordet wurden. Das ist der
richtige Tag, um die historische Lektion des Nationalsozialismus in Erinnerung zu behalten.
Sie unterstellen etwas, das nicht zutrifft, und fordern
dann im hohen Ton des historischen Rechthabens ganz
dringend eine Korrektur. Das ist die Attitüde dieses
Antrags, das wird aber der Sache nicht gerecht, das ist
nur selbstgerecht!
Und es kommt noch schlimmer, es gibt noch eine
ganz andere Dimension dieser Frage in der Linkspartei - darauf hat mich der Kollege Bartsch kürzlich in
der Debatte über die Aufarbeitung des SED-Unrechts
wieder gestoßen -; Sie verbinden mit dem 8. Mai ganz
offenbar auch, dass er in der DDR als Tag der Befreiung begangen wurde. Und auch darauf kochen Sie Ihr
Süppchen.
Den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begehen, war
zwar richtig. Aber Ihnen dient diese Tatsache als Fassade, hinter der Sie verbergen können, dass in der
DDR ein System der Unterdrückung und Entrechtung
wirkte, das Sie und Ihre Altvorderen zu verantworten
haben. Es spricht Bände über Ihr Selbstverständnis
und Ihr Geschichtsbild, dass Sie auf der einen Seite einen unreflektierten, ja reaktionären Umgang mit der
Geschichte in der Bundesrepublik unterstellen und
Jahrzehnte der Debatte nicht zur Kenntnis nehmen
wollen. Auf der anderen Seite nehmen Sie den allzu oft
nur oberflächlich wirksamen, staatlich verordneten
Antifaschismus in der DDR für bare Münze und wollen
sich selbst damit entlasten. Als hätte das verordnete,
verquaste, marxistische Geschichtsbild der SED irgendetwas mit der Beschreibung der Realität zu tun!
Natürlich gab es in der DDR unzählige Naziopfer
und Antifaschisten, die mit dem neuen Staat eine Überwindung von Entrechtung und Gewalt erkämpfen wollten, das ist unbestritten. Aber Sie missbrauchen diese
Menschen, wenn gerade Sie als Nachfolger der SED so
tun, als habe das von Ihren Vorgängern betriebene Unterdrückungssystem irgendetwas mit solchem Idealismus zu tun gehabt!
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12908, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/585 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Handelsgesetzbuchs
- Drucksache 17/13221 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Handelsgesetzbuches wird ein wichtiger Gesetzentwurf im Interesse
kleiner Unternehmen und kleiner Unternehmer vorgelegt. Dies ist eine gute Nachricht. Mit dem Änderungsgesetz zum Gesetz über elektronische Handelsregister
und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister werden wir entbürokratisieren und die
Verfahrensabläufe bei der Offenlegung von Rechnungslegungsunterlagen erleichtern.
Der Deutsche Bundestag hat 2006 ein Gesetz über
elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister, das EHUG, beschlossen, das grundlegende Änderungen des Verfahrens zur Durchsetzung der Pflichten insbesondere der
Kapitalgesellschaften zur Offenlegung ihrer Rechnungsunterlagen mit sich brachte. Durch das EHUG
wurde das Bundesamt für Justiz mit der Durchsetzung
der Offenlegungspflichten betraut. Seit Inkrafttreten
des EHUG können wir feststellen, dass über 90 Prozent der betroffenen über 1,1 Millionen Kapitalgesellschaften ihre Rechnungslegungsunterlagen rechtzeitig
offenlegen.
Nachdem inzwischen fünf Jahre seit Einführung des
EHUG verstrichen sind, hat der Deutsche Bundestag
in seiner Entschließung vom 29. November 2012
({0}) festgestellt, dass etwaiger Änderungsbedarf an dem seit 2006 geltenden Ordnungsgeldverfahren zu prüfen war. Änderungsbedarf hat der
Deutsche Bundestag nunmehr in drei Bereichen festgestellt.
Erstens sollten die Mindestordnungsgelder für
Kleinstkapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesellschaften deutlich gesenkt werden, wenn diese Unternehmen am Verfahren der Offenlegung ihrer Rechnungsunterlagen mitwirken. Nach derzeit geltendem
Recht beträgt das Mindestordnungsgeld unabhängig
von der Unternehmensgröße stets 2 500 Euro. Nach
dem Gesetzentwurf soll das Mindestordnungsgeld für
Kleinstkapitalgesellschaften auf 500 Euro gesenkt
werden.
Zweitens werden Fragen zum Verschulden und der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geregelt. Damit
können unbillige Härten durch knappe Fristen aufgefangen werden. Das Instrument der Wiedereinsetzung
würde dem Bundesamt die Möglichkeit geben, den Besonderheiten des Einzelfalles besser als bisher gerecht
zu werden.
Drittens sollte ein Verfahren geschaffen werden, um
eine einheitliche Rechtsprechung in Ordnungsgeldverfahren zu erreichen. Zwar sieht das EHUG jetzt schon
vor, dass nur das für den Sitz des Bundesamtes für Justiz zuständige Landgericht Bonn über Beschwerden
gegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes
zu entscheiden hat. Die große Zahl der Verfahren und
die Befassung mehrerer Kammern des Landgerichts
hat in den vergangenen Jahren jedoch in wichtigen
Einzelfragen zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung
geführt. Ziel ist es, ein Verfahren zu schaffen, durch
das beispielsweise bei einer Divergenz zwischen einzelnen Kammern eine einheitliche Entscheidung erreicht wird. Das hilft betroffenen Unternehmen, damit
sie sich auf eine möglichst einheitliche Rechtsprechung verlassen können.
Es freut mich sehr, dass die Änderungen zu einer
spürbaren Verbesserung der Rechtslage im Bereich
der kleinen Unternehmen führen werden. Ich bin davon überzeugt, dass dies ein richtiger Schritt ist, und
freue mich auf die parlamentarischen Beratungen.
Alle Kapitalgesellschaften und Personenhandelsgesellschaften ohne haftende natürliche Person, GmbH
und Co KG, müssen ihren kaufmännischen Jahresabschluss im elektronischen Bundesanzeiger offenlegen
oder mindestens dort hinterlegen. 90 Prozent der Unternehmen kommen diesen Pflichten reibungslos nach.
In den letzten Jahren gab es öfter Verdruss, wenn
kleine Unternehmen gegen diese Pflicht verstoßen
haben. Das Bundesamt für Justiz musste dann nach
§ 335 HGB ein Ordnungsgeldverfahren durchführen.
Das Ordnungsgeld beträgt mindestens 2 500 Euro und
höchstens 25 000 Euro.
Bereits bei den Beratungen zum Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz oder MicroBilG hatte der Bundesrat geringere Bußgeldhöhen bei
sogenannten ruhenden Gesellschaften gefordert, die
Grünen haben darüber hinaus in einem Antrag im
Deutschen Bundestag mehr Ermessen des Bundesamtes für Justiz gefordert. Das MicroBilG wurde zwar
ohne Rücksicht auf diese Änderungswünsche verabschiedet, aber die Koalitionsfraktionen haben immerhin die Regierung in einem Entschließungsantrag aufgefordert, einen Gesetzentwurf mit Erleichterungen
hinsichtlich Ordnungsgeldhöhe und Ordnungsgeldverfahren vorzulegen, hier insbesondere unter Berücksichtigung der Erforderlichkeit eines Verschuldens und
der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand bis März 2013 vorzulegen, inklusive Regelungen, die eine einheitliche Rechtsprechung ermöglichen.
Der Gesetzentwurf setzt diesen Antrag um, allerdings nicht sehr großzügig: Bei Nichtverschulden gibt
es nun die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand, das ist gut. Wenn die Unternehmen
nach Androhung des Ordnungsgeldes, bei der eine
sechswöchige Frist gesetzt wird, diese zwar überschreiten, aber die Offenlegung nachholen, bevor das
Bundesamt weitere Schritte eingeleitet hat, beträgt das
Mindestbußgeld nur 500 Euro bei Kleinstkapitalgesellschaften bzw. 1 000 Euro bei kleinen Kapitalgesellschaften.
Außerdem gibt es gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts nun die Möglichkeit der
Rechtsbeschwerde zum OLG - aber nur dann, wenn
das Landgericht sie zugelassen hat.
Der Gesetzentwurf geht eindeutig in die richtige
Richtung, tastet sich aber zu behutsam vor. Ich nehme
an, dass das Bundesministerium der Justiz befürchtet,
bei genereller Herabsetzung der Ordnungsgelder
- auch wenn nicht offengelegt wird - das ganze Verfahren zum zahnlosen Tiger werden zu lassen. Ich kann
verstehen, wie man auf diesen Gedanken kommt, aber
ich teile die Befürchtung nicht. Wichtiger wäre es
gewesen, im Interesse einer europaweit gültigen Regelung die Akzeptanz insbesondere bei den Kleinstkapitalgesellschaften durch ein vernünftiges Maß beim
Ordnungsgeld und einen Schwerpunkt auf nachvollziehbares Verfahren zu fördern.
Die Erleichterungen, die der Gesetzentwurf schafft,
sind zu gering. Die SPD-Bundestagsfraktion ist insbesondere der Auffassung, dass die Rechtsbeschwerde
ohne Zulassung möglich sein sollte. Denn auch bei einer Verurteilung in einem normalen Bußgeldverfahren
ist die Rechtsbeschwerde ohne Zulassung schon ab einem Bußgeld von 250 Euro zulässig. Hier geht es auch
nach der Änderung um mindestens 500 Euro.
Beim Mindestbußgeld fragen wir uns, warum Sie
die 2 500 Euro nicht auch auf 1 000 Euro herabsetzen
und dem Bundesamt für Justiz bei Miniunternehmen
oder ruhenden Unternehmen mehr Spielraum geben
konnten. Wir wissen von vielen kleinen Unternehmen,
die mit der Veröffentlichungspflicht ihrer Daten hadern - nicht weil sie böswillig ihrer Pflicht nicht nachkommen wollen, sondern weil sie schlecht informiert
sind, den Zwang der Übermittlung sensibler Unternehmensdaten an ein privates Unternehmen nicht
einsehen, mit den umständlichen und wirklich nutzerfeindlichen Verfahren zur Übermittlung der Jahresabschlussdaten überfordert sind oder Wettbewerbsnachteile durch die Veröffentlichung allzu detaillierter
sensibler Unternehmensdaten fürchten. Sie sollten mit
Ihrem Gesetzentwurf, den wir im Kern sehr begrüßen,
den politischen Spielraum ausnutzen und die Chance
wahrnehmen, diesen Unternehmen zu helfen, ihre
Offenlegung auf europaweit einheitlichem Niveau vorzunehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Reform des Ordnungsgeldverfahrens des elektronischen Handels- und Unternehmensregisters. Er geht zurück auf eine Entschließung
des Deutschen Bundestages vom 29. November 2012.
Damit wollen wir das Ordnungsgeldverfahren bei Verstößen gegen die handelsregisterrechtlichen Offenlegungspflichten im Sinne kleiner und kleinster Kapitalgesellschaften anpassen und der Lebenswirklichkeit
des Mittelstandes weiter entgegenkommen. Insbesondere wollen wir für diese Gruppe Härtefälle besser in
den Griff bekommen und das Sanktionsinstrumentarium abstufen.
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Handelsgesetzbuches führt konsequent die Ziele des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes fort.
Kleine Unternehmen und der Mittelstand insgesamt
werden durch unsere Initiative über die Erleichterung
bei der Bilanzierung weiter entlastet - nunmehr eben
im Bereich des Ordnungsgeldverfahrens. Mit dem vorliegenden Koalitionsentwurf haben wir einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den widerstreitenden
Interessen der Erleichterung für Unternehmen im
Ordnungsgeldverfahren sowie den bewährten Publizitätserfordernissen und der Gefährdung der ausgezeichneten Offenlegungsquote von nunmehr 90 Prozent gefunden.
Der Gesetzentwurf greift im Wesentlichen drei Anliegen auf: Die Ordnungsgelder werden abgesenkt; es
werden die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingeführt und eine einheitliche Rechtsprechung durch
ein neues Rechtsmittel gegen die gerichtliche Beschwerdeentscheidung gefördert.
Bislang setzte das Bundesamt für Justiz Ordnungsgelder in Höhe von einheitlich 2 500 Euro fest. Beibehalten wird dies für mittelgroße und große Unternehmen; für kleine Kapitalgesellschaften kann künftig
jedoch maximal ein Betrag von 1 000 Euro und für
Kleinstkapitalgesellschaften sogar nur von 500 Euro
festgesetzt werden.
Um jedoch einen gleichbleibend stabilen Offenlegungsanreiz zu schaffen, müssen die Unternehmen
am Verfahren mitwirken: kleine Kapitalgesellschaften
durch Offenlegung der Bilanz und des Anhangs und
Kleinstkapitalgesellschaften durch elektronische Hinterlegung ihrer Bilanz beim Bundesanzeiger. Das ist
schon deshalb notwendig, weil für die Festsetzung des
niedrigen Ordnungsgeldes Bilanzkennzahlen erforderlich sind, um zur Qualifizierung als kleine oder
Kleinstkapitalgesellschaft zu gelangen.
Ein Ordnungsgeld kann künftig von Gesetzes wegen
nur dann festgesetzt werden, wenn das Unternehmen
tatsächlich ein Verschulden trifft. Um unbillige Härten
zu vermeiden, kann beispielsweise der Alleingeschäftsführer, der an der Offenlegung durch längere Erkrankung gehindert war, innerhalb von zwei Wochen nach
Wegfall dieses Hindernisses Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand beantragen.
Einen entscheidenden Beitrag zu mehr Rechtssicherheit leistet der Gesetzentwurf mit der Einführung
eines neuen Verfahrens zur Vereinheitlichung der
Rechtsprechung im Ordnungsgeldverfahren. Künftig
soll gegen die Entscheidungen des einzig zuständigen
Landgerichts Köln das Rechtsmittel der zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerde zum OLG Köln gegeben sein. So können zwischen verschiedenen Kammern
divergierende Rechtsprechungen eingefangen und
grundsätzliche Fragen des Ordnungsgeldverfahrens
geklärt werden.
Mit diesem Gesetzentwurf werden wir künftig unbillige Härten im Ordnungsgeldverfahren des elektronischen Handels- und Unternehmensregisters vermeiden
und kleine Kapitalgesellschaften sowie Kleinstkapitalgesellschaften insgesamt stärken.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP die ohnehin
schon niedrigen Mindestordnungsgelder für Kleinstkapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesellschaften
drastisch senken, wenn auch nur für Unternehmen, die
innerhalb von wenigen Monaten nach Fristablauf
doch noch ihre Unterlagen einreichen, Verschulden
und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regeln sowie die Rechtsbeschwerde im Ordnungsgeldverfahren
einführen.
Wir hatten uns bereits bei der Verabschiedung des
Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes am 29. November 2012 dagegen ausgesprochen,
dass bei Verstößen gegen die Offenlegungsfrist Ordnungsgelder verhängt werden können, die so niedrig
sind, dass sie keinen Anreiz für die Einhaltung des Gesetzes bieten. Bereits in meiner Rede am 29. November
2012 hatte ich darauf hingewiesen, dass Kapitalgesellschaften wegen der beschränkten Haftung bestimmte
Publizitätspflichten erfüllen müssen, damit sich Gläubiger ein Bild über die finanzielle Lage machen können. Außerdem haben kleine Kapitalgesellschaften
sechs Monate nach dem Geschäftsjahr Zeit, den Jahresabschluss zu erstellen. Der dann vorliegende Jahresabschluss ist innerhalb von weiteren sechs Monaten
elektronisch zu hinterlegen. Dieser lange Zeitraum von
insgesamt zwölf Monaten reicht nach meiner langjährigen Erfahrung vollkommen aus - wenn man diese
lästige Aufgabe nicht immer wieder verschieben
würde.
Ich hatte aber bereits bei der letzten Beratung im
Rahmen des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes ausgeführt, dass wir für Härtefallregelungen sind, mit denen dem Bundesamt für Justiz
mehr Flexibilität ermöglicht werden soll. Das gilt sowohl für die Frage nach dem Verschulden bei Überschreiten von Fristen als auch für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Gemeint sind damit die
Verlängerung der Frist zur Einreichung des Jahresabschlusses und der Verzicht auf Ordnungsgelder in diesen Fällen. Diesen neuen Regelungen können wir somit zustimmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Regelungen im Handelsgesetzbuch sind jetzt
klarer und transparenter - auch das freut uns.
Die dritte geplante Änderung, nämlich die Einführung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des allein zuständigen Landgerichts Bonn, sollte nach unserer Meinung für jeden Anhänger eines Rechtsstaates
eine Selbstverständlichkeit sein. Bisher entscheidet
über Beschwerden gegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes für Justiz ausschließlich das
Landgericht Bonn. Es gibt keine Rechtsmittel gegen
dessen Entscheidungen.
In einem sich selbst Rechtsstaat nennenden Land
sollte dagegen immer eine Berufung oder Beschwerde
gegen ein erstinstanzliches Gerichtsurteil möglich
sein. Dass das jetzt endlich nachgeholt wird, damit gegen Willkürentscheidungen vorgegangen werden kann
und zu widersprüchlichen Entscheidungen der Kammern des Landgerichts Bonn eine einheitliche Rechtsprechung und damit Rechtsanwendung in Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes für Justiz
endlich geschaffen werden soll, halten wir für dringend geboten.
Aufgrund der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes
über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister, also
dem EHUG, im Jahre 2006 verstrichenen Zeit wäre es
aus meiner Sicht erforderlich gewesen, auch die zwischenzeitlich mit der Offenlegungspflicht in der Wirtschaftspraxis gemachten Erfahrungen bei dem vorliegenden Gesetzentwurf einzubeziehen.
Dann wäre Ihnen aufgefallen, dass sich in einer Befragung mittelständischer Unternehmen im Jahre 2011
gezeigt hatte, dass durch das EHUG kleine und/oder
nichtdiversifizierte Familienunternehmen tendenziell
benachteiligt werden. Viele Unternehmen nehmen daher hohe Kosten in Kauf, um die negativen Wirkungen
des elektronischen Bundesanzeigers, in dem die Unternehmen ihre Jahresabschlüsse publizieren müssen, zu
minimieren. Im Ergebnis wird das EHUG von den mittelständischen Unternehmen auch unter Anerkennung
seiner Vorteile mehrheitlich abgelehnt, das heißt also:
obwohl diese Unternehmen nicht nur die Nachteile des
EHUG tragen, sondern auch von dessen Vorteilen profitieren. Reformvorschläge der Wirtschaft und mögliche Alternativen zum elektronischen Bundesanzeiger
scheinen die Regierungsfraktionen offenkundig nicht
einbezogen zu haben. Warum nicht? Die Regierungsparteien, insbesondere die FDP, stellen sich doch sonst
immer auf die Seite des Mittelstands und vertreten angeblich dessen Interessen - hier nicht. Aber nicht nur
hier nicht, sondern beispielsweise auch nicht bei der
Zahlungsverzugsrichtlinie.
Nach dem Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz folgt nun - nach zahlreicher
Kritik von Verbänden und Unternehmen - ein Gesetzentwurf zur Änderung des Handelsgesetzbuches.
Lange genug wurden wir auf die Folter gespannt. Die
Inspiration durch unseren damaligen Antrag ist überdeutlich, das freut uns natürlich. Schade nur, dass das
Vorhaben nicht ganz bis zu Ende gedacht wurde. Doch
schauen wir uns den Entwurf doch etwas näher an.
Das eigentliche Problem blieb vom ursprünglichen
Entwurf der Bundesregierung zunächst unberührt: die
unangemessen hohen Ordnungsgelder ab 2 500 Euro
aufwärts, die zu entrichten waren, wenn die Rechnungsunterlagen nicht spätestens zwölf Monate nach
Abschluss des Geschäftsjahres beim Bundesanzeiger
elektronisch eingereicht wurden und die sechswöchige
Androhungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelaufen war.
Um zu verstehen, wer von diesen Ordnungsgeldern
am stärksten betroffen ist, muss man wissen: In den
Ordnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurden
laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage
von uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfahren gegen kleine Unternehmen eingeleitet. Aber gerade für kleine Unternehmen ist der buchhalterische
Aufwand zur Erstellung des Jahresabschlusses schwerer zu erfüllen als für mittlere und große Unternehmen.
2 500 Euro sind für kleine Unternehmen außerdem ein
harter Schlag - bis hin zur Existenzbedrohung.
Jetzt will Schwarz-Gelb unserem Vorschlag nachkommen, die Höhe der Ordnungsgelder zu senken.
Man könnte fast meinen, unser Antrag wäre plagiiert
worden. Aber leider haben die Autorinnen und Autoren
es nicht richtig zu Ende geführt. Wenn abschreiben,
dann schon richtig! Denn CDU/CSU und FDP gehen
davon aus, dass 1 000 Euro für kleine Unternehmen
durchaus verträglich seien. Also sagen wir mal so: Natürlich ist es besser, als alle pauschal mit 2 500 Euro
oder mehr zu bestrafen. Aber wir glauben, dass auch
eine geringere Summe ausreicht, um Unternehmen zur
Ordnung zu rufen. Der Vorschlag geht uns nicht weit
genug.
In unserem Antrag forderten wir im vergangenen
Jahr echte Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse: Wir wollten, dass die Ordnungsgelder
an die Größe der Unternehmen angepasst werden.
Dabei haben wir als Mindesthöhe für Kleinstunternehmen 250 Euro vorgeschlagen, für Kleinunternehmen
500 Euro. Das ist aus unserer Sicht ausreichend abschreckend und kann ja immer noch progressiv gestaltet werden.
Und außerdem ist da noch etwas versteckt, was die
geplante Senkung der Ordnungsgelder gleich weniger
spektakulär erscheinen lässt. Was im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung etwas befremdlich erscheint, ist vor allem die Tatsache, dass diese geringeren Ordnungsgelder nur dann greifen sollen, sofern
Unternehmen ihre „Pflicht, wenn auch verspätet“ erfüllt haben. Die Mindesthöhe der grundsätzlich angesetzten Ordnungsgelder soll demnach für alle Kapitalgesellschaften, gleich welcher Größe, bestehen
bleiben - nämlich bei 2 500 Euro. An unserer Kritik
Zu Protokoll gegebene Reden
ändert sich damit wenig, denn diese Gleichbehandlung
aller Unternehmensgrößen ist zu pauschal.
Zudem erscheint fraglich, inwiefern sich der Verwaltungsaufwand durch diese Vorgehensweise erhöhen würde - denn so wird zunächst die Summe von
2 500 Euro angedroht, nur um dann bei verspäteter
Zahlung zu prüfen, ob nicht doch eine Senkung greifen
könnte und, wenn ja, welche der drei Stufen zutreffen
würde.
Ein Versäumnis ist es aus unserer Sicht auch, die
Höhe der Ordnungsgelder auf einem Höchstbetrag von
25 000 Euro belassen zu wollen - diese Summe ist für
Großunternehmen doch vergleichsweise eine Mücke
gegenüber einem Elefanten. Schauen Sie doch nur einmal, was 2 500 Euro für einen kleinen Handwerksbetrieb bedeuten, und überlegen Sie im Gegenzug, was
25 000 Euro an Auswirkungen für einen millionenschweren Großkonzern mit sich bringen. Finden Sie
das wirklich verhältnismäßig?
Wir wollten in unserem Antrag damals außerdem,
dass das Bundesamt für Justiz in Härtefällen ganz vom
Ordnungsgeld absehen oder zumindest die Frist verlängern kann. Ich habe es in der ersten Rede zu diesem
Thema ja bereits erwähnt: Gerade in kleinen Betrieben
ist nur eine Person für die Rechnungslegung und
Buchhaltung verantwortlich. Vertretungskräfte sind
ein Luxus, die sich die Kleinen nicht unbedingt leisten
können. Im Krankheitsfall kann sich logischerweise
die Einreichung der Bilanz drastisch verzögern.
Im Gesetzentwurf wird deshalb nun vorgeschlagen,
dass Wiedereinsetzungsverfahren greifen sollen. Zunächst muss vonseiten der Unternehmerinnen und Unternehmer „glaubhaft“ geschildert werden, dass ein
wirklich unverschuldetes Hindernis der rechtzeitigen
Offenlegung entgegenstand. Wenn das Bundesamt für
Justiz der Erklärung Glauben schenkt, gibt es eine zusätzliche sechswöchige Nachfrist, die mit dem Wegfall
des Hindernisses startet. In so einem Fall soll das Ordnungsgeld entfallen. Fraglich erscheint jedoch, ob die
angedachte Frist, in der ein solcher Wiedereinsetzungsantrag gestellt werden kann, praktikabel ist.
Nach dem momentanen Entwurf müssen Betroffene
spätestens zwei Wochen nach Ende des Hindernisgrundes einen solchen Antrag stellen. Nach einer langen schweren Krankheit sofort an die rasche Antragstellung zu denken, ist womöglich zu rational, zu
bürokratisch gedacht.
Im Fazit stehen wir also einem Gesetzentwurf gegenüber, der die richtigen Tendenzen aufweist. Er lässt
aber den Mut missen, die Erleichterungen sinngemäß
zu Ende zu denken. In einem Rundumschlag hätte jetzt
die Gelegenheit bestanden, die Kleinsten und Kleinen
praktisch und einfach zu entlasten und die Großen fair
zu beteiligen. Einen solchen Entwurf können wir
schlecht mittragen, auch wenn uns die Richtung gefallen hätte.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Monika Lazar, Beate WalterRosenheimer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ahndung
von Therapien mit dem Ziel der Änderung der
sexuellen Orientierung bei Minderjährigen
- Drucksache 17/12849 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
„Da muss immer jeder für sich entscheiden, glaube
ich. Also ich würde jetzt sagen, natürlich kann man das
so oder anders sehen, und würde auch immer akzeptieren, dass andere eine andere Position haben“, so
zitiert die Zeitung „Die Welt“ am 26. März 2013 die
Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin
Göring-Eckardt. Diese leicht verschachtelte Antwort
gab sie auf die Frage, wie sie zum Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stehe, den wir heute
in erster Lesung beraten.
Die Grünen beantragen damit, einen Ordnungswidrigkeitstatbestand zu schaffen, wonach „ordnungswidrig handelt, wer berufs- oder gewerbsmäßig Therapien anbietet oder durchführt, die das Ziel haben,
die sexuelle Orientierung von Minderjährigen zu verändern.“
Die leicht schlingernden Einlassungen der Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen zeigen sehr deutlich, was es mit dem Gesetzentwurf auf sich hat. Es
wird plakativ etwas beantragt, wofür es in der Sache
überhaupt keine Notwendigkeit gibt. Alles das geschieht nur, um ein Thema in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, dessen Bedeutung im Einzelnen
zwar nicht von der Hand zu weisen ist, bei dem sich
aber die Frage nach der Notwendigkeit eines Eingreifens durch den Gesetzgeber stellt.
Vordergründig ist das Ziel des Antrags, einen Ordnungswidrigkeitstatbestand neu zu schaffen. Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist vom Strafrecht abgeleitet
und hat den gleichen Charakter. Das Strafrecht ist die
gleichsam schärfste Waffe des Rechtsstaates, um missbilligtes Verhalten mit Sanktionen zu ahnden. Dementsprechend geht der Staat damit in gegebenem Maße
umsichtig um. Denn umgekehrt bedeutet die Tatsache,
dass ein Verhalten von einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand nicht umfasst ist, nicht automatisch, dass es vom Staat gutgeheißen wird.
So verhält es sich auch bezüglich der im Antrag angesprochenen Therapien. Ausdrücklich wird darauf
hingewiesen, dass auch die Bundesregierung diese
Therapien missbillige. Und ja, zweifelsohne sind sie
auch fragwürdig. Aber bedeutet das gleichzeitig, dass
es deshalb eines Straf- beziehungsweise Ordnungswidrigkeitstatbestandes bedarf? Nach Ansicht der CDU/
CSU-Fraktion ist dies nicht der Fall.
Zunächst geht es hier nicht um Zwangstherapien,
sondern um die autonomen Entscheidungen Einzelner.
Hier stellt sich die Frage, in welchem Maße es dem
Staat zusteht, durch gesonderte Vorschriften in diese
Entscheidungen einzugreifen. Sicherlich geht es bezogen auf Minderjährige darum, dass diese ihre Entscheidung nicht alleine treffen, sondern deren Erziehungsberechtigte. Sofern es aber um fragwürdige
Entscheidungen der Erziehungsberechtigten geht und
die Gefährdung des Kindeswohls eine Rolle spielt,
finden sich im Familienrecht bereits ausreichende Instrumente, um der - ohne Zweifel gegebenen - Wächterfunktion des Staates über das Kindeswohl nachkommen zu können. Einer eigenständigen Vorschrift bedarf
es somit aus diesem Gesichtspunkt nicht.
Des Weiteren haben wir mit den Körperverletzungsvorschriften des Strafgesetzbuches sowie der Vorschrift des § 228 StGB bereits jetzt entsprechende
strafrechtliche Regelungen, die vor fragwürdigen Therapien schützen, wenn diese in den Bereich der Körperverletzung umschlagen. Gerade bezüglich solcher
Fragen existiert eine ausdifferenzierte Rechtsprechung. Auch hier hat der Staat, sogar mit seinem
schlagkräftigsten Instrument, dem Strafrecht, Möglichkeiten an der Hand, gegen entsprechendes Handeln vorzugehen, soweit es denn die Schwelle der Körperverletzung überschreitet. Dies ist aber ohne Zweifel
im Einzelfall zu beurteilen. Die Notwendigkeit einer
eigenständigen Vorschrift besteht auch in dieser Hinsicht nicht, da keine Schutzlücke besteht.
Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
greift also in tatsächlicher Hinsicht ein Problem auf,
das nicht von der Hand zu weisen ist, für dessen rechtliche Regelung es aber gleichzeitig keinen eigenständigen Bedarf gibt. Es besteht keine Schutzlücke, die zu
schließen ist. Denn auf verschiedenen rechtlichen Ebenen, angesprochen habe ich Familienrecht und Strafrecht, gibt es entsprechende rechtliche Möglichkeiten
für ein Eingreifen. Wir lehnen den Gesetzentwurf daher ab.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen das Anbieten und die Durchführung von Therapien an Minderjährigen untersagt werden, die eine Änderung der
gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung verfolgen.
Die Annahme, dass Homosexualität überhaupt einer Therapie bedarf, mutet heutzutage nicht nur äußerst merkwürdig und reaktionär an. Diese Denkweise
ist schlichtweg dumm, respektlos und diskriminierend.
Seit Jahrzehnten wird Homosexualität in der Medizin nicht mehr als Krankheit definiert. Die Diskriminierung wegen der sexuellen oder geschlechtlichen
Identität und Orientierung ist längst gesetzlich verboten. Schritt für Schritt hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren die Lücken in
den Rechtsbereichen geschlossen, in denen homosexuelle Menschen gegenüber Heterosexuellen benachteiligt wurden.
Wir haben in diesem Hause dazu bunte Debatten geführt, zuletzt nachdem das Bundesverfassungsgericht
gleichgeschlechtliche Paare im Adoptionsrecht gestärkt hat. All die Diskussionen haben gezeigt, dass
wir in einem aufgeklärten und toleranten Land leben
und dass es nur noch ein Häuflein von Ewiggestrigen
ist, den Menschen mit einer von der heterosexuellen
abweichenden Sexualität für minderwertig oder gar
krank hält. Diese Ewiggestrigen sind es jedoch, die dafür sorgen, dass sich junge Menschen von derartigen
Therapien überhaupt angesprochen fühlen, dass solche Angebote nicht einfach ins Leere laufen.
Dass wir heute über das Verbot dieser Therapien reden, ist richtig. Solchen Methoden muss aber nicht nur
rechtlich Einhalt geboten, sondern auch der ideelle
Nährboden entzogen werden. Nur ein gesamtgesellschaftlicher Prozess kann es schaffen, dass unsere Kinder ohne Angst und Einschränkungen aufwachsen können.
Kinder müssen so gefördert werden, dass sie in allen Aspekten ihrer Entwicklung die Möglichkeit haben,
sich entsprechend ihren Voraussetzungen zu entwickeln, und dass sie zu starken Persönlichkeiten werden
und ihren Weg im Leben finden. Dabei müssen wir ihnen das Gefühl geben, sich in einer sicheren Welt bewegen zu können.
Es ist auch die Aufgabe der Politik, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wenn ein Verbot von gefährlichen und dubiosen Therapieangeboten dafür einen
Beitrag leisten kann, sollten wir das auch eingehend
prüfen und in die Wege leiten.
Eine längst überfällige Maßnahme ist in diesem Zusammenhang auch, das ausdrückliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität im
Grundgesetz zu verankern, wie es die SPD-Fraktion
fordert.
Alle Menschen haben eine sexuelle Identität, die wir
als hetero-, bi-, homo-, asexuell oder wie auch immer
bezeichnen können. Menschen, die mit der gesellschaftlichen Norm Heterosexualität brechen, sind
keine kranken Leute. Daher erübrigt sich auch die
Frage nach einer Behandlung oder Therapie. Was wir
stattdessen brauchen, ist Akzeptanz und Toleranz für
alle Menschen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass Homosexualität keine Krankheit ist, sondern Teil der
menschlichen Natur und deshalb Therapien grundsätzlich nicht zugänglich. Auch ich beobachte mit
Sorge diese Konversionstherapien und die damit verbundenen Aktivitäten, die auch aus meiner Sicht belegt
zu negativen und schädlichen Effekten führen können.
Ich halte dennoch nichts von einer Bußgeldbewehrung eines entsprechenden Angebots. Gegen diese Bestrebungen muss mit Aufklärung und Hilfe vorgegangen werden, die erfreulicherweise auch bundesweit
angeboten wird. Eine Bußgeldbewehrung erscheint
mir nicht angezeigt. Mir erscheint auch fraglich, ob
die in dem Antrag zitierte Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes wirklich alle verfassungsrechtlichen Fragen aufwirft und diese auch zutreffend
würdigt. Interessanterweise wird das Grundrecht der
Religionsfreiheit und damit auch einer religiös motivierten kritischen Betrachtung von gleichgeschlechtlichen Handlungen und Beziehungen im Antrag nicht
zitiert. Aber auch dieses Grundrecht ist in die Abwägung miteinzubeziehen.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist deshalb klar:
Homosexuelle Menschen bedürfen weder der Therapie
noch einer Umerziehung. Entsprechenden Angeboten
ist mit Aufklärung und Hilfe entgegenzutreten. Einer
Bußgeldbewehrung bedarf es nicht.
Am 7. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation, WHO, Homosexualität aus dem Krankheitskatalog. Dieser längst überfällige Schritt hatte eine
Signalwirkung und führte zu einem steigenden Respekt
gegenüber Lesben und Schwulen und einer zunehmenden Anerkennung ihrer sexuellen Orientierung. Nicht
überall ist dies so. Auch heute noch gibt es Menschen,
die Homosexualität als Krankheit auffassen, welche
heilbar wäre. Insbesondere in den USA gibt es christlich-evangelikale Gruppen, die verbreiten, dass man
Menschen von der Homosexualität „heilen“ könne. In
den USA existiert die Ex-Gay-Bewegung, die vermeintlich Menschen helfen möchte, indem sie vorgibt,
dass sie ihre homosexuellen Neigungen unterdrücken
können oder sie gar heterosexuell werden könnten. Sie
betrachten Homosexualität als anormal. Auch in
Deutschland existieren Gruppen, die sich die Ex-GayBewegung zum Vorbild genommen haben.
Natürlich steht es jedem Menschen frei, seinen religiösen Überzeugungen nachzugehen oder auch die eigene Sexualität als falsch zu empfinden. Versuche, jemanden davon zu „heilen“, sind von vornherein zum
Scheitern verurteilt, da selbst Krankheiten nur zum
Teil heilbar sind. Aber wie die WHO unterstrich, ist
Homosexualität keine Krankheit. Die sexuelle Orientierung gehört zur Identität eines Menschen. Das sexuelle Begehren ist ein Teil der Persönlichkeit. Menschen
können nicht umgepolt werden. Im Gegenteil: Ein Ansatz, der Menschen einredet, Homosexualität wäre
schlecht, unnatürlich oder Ähnliches, ist gefährlich!
Gerade junge Menschen brauchen in der schwierigen
Phase der Selbstfindung Rückhalt und Sicherheit und
müssen angenommen werden, wie sie sind. „Heilversuche“ gefährden diesen Prozess, können schlimme
psychische Folgen haben, im Extremfall bis zum
Suizid.
Auch die Bundesregierung hat diese Therapieansätze in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von
Bündnis 90/Die Grünen für falsch befunden. Umso befremdlicher ist es, dass Bundeskanzlerin Angela
Merkel zu Anfang dieses Jahres den Gnadauer Gemeinschaftsverband für seine Arbeit würdigte. Dieser
fordert die „Korrektur“ von Homosexuellen. Frau
Merkel plant, am 12. Juli am Landesjugendtreffen der
„Apis“ teilzunehmen und dort zu reden. Die „Apis“
sind junge Menschen, die im evangelischen Gemeinschaftsverband Württemberg engagiert und zu der festen Überzeugung gelangt sind, Homosexualität sei
eine veränderbare Persönlichkeitsstörung. Dies ist das
falsche Signal, Frau Bundeskanzlerin.
„Homoheiler“ betreiben wissenschaftlichen Mumpitz und gefährden junge Menschen.
Zum Glück haben evangelikale Gruppen in
Deutschland im Gegensatz zu den USA nur eine sehr
geringe Bedeutung, und „Homoheiler“ sind eine verschwindend kleine Minderheit. Natürlich müssen wir
alles darangeben, dass unsere Kinder vor ihnen
geschützt werden und Eltern nicht aus einer falsch
verstandenen Religiosität ihre Kinder ins Unglück
stürzen. Doch der Gesetzgeber sollte nicht neue
Straftatbestände schaffen, sondern zunächst prüfen,
inwiefern wir dies mit den bestehenden Gesetzen verhindern können.
Meine Fraktion ist skeptisch, ob der Vorschlag der
Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten
der geeignete Weg ist, „Homoheilern“ das Handwerk
zu legen. Zunächst sollten wir prüfen, ob nicht das geltende Recht ausreichend Möglichkeiten bietet. Hier ist
zu prüfen, ob nicht die Gewerbeaufsicht der Ämter dies
mit Rückgriff auf die Gewerbeordnung unterbinden
kann und ob man „Homoheilern“ ihre Tätigkeit nicht
untersagen kann, da sie auf wissenschaftlich haltloser
Basis agieren und deshalb Betrug begehen, und ob ihr
Handeln nicht im Angesicht der psychischen Folgen
eine Körperverletzung darstellt.
Des Weiteren ist zu prüfen, ob das bestehende Recht
Anwendung findet.
Falls dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, so
können wir über eine Verschärfung des Strafrechts
nochmals nachdenken.
Anlässlich der Streichung von Homosexualität aus
dem Krankheitskatalog der WHO wird seit dem Jahr
2005 der Internationale Tag gegen Homophobie am
17. Mai begangen. Ich wünsche mir, dass Frau
Dr. Merkel an diesem Tag lesbische und schwule
Gruppen besucht und damit ein deutliches Zeichen geZu Protokoll gegebene Reden
gen Homophobie in dieser Gesellschaft setzt, statt sich
gegen die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu
stellen und „Homoheiler“ zu besuchen.
Homosexualität ist keine Krankheit. Am 17. Mai
1990 hat die WHO dieser Tatsache in ihren Richtlinien
Rechnung getragen. Man kann deswegen auch nicht
von Homosexualität „kuriert“ oder „geheilt“ werden.
Jeder Mensch hat seine eigene sexuelle Identität und
persönliche Entwicklung.
Allerdings gibt es weiterhin Menschen, die glauben,
die sexuelle Orientierung ließe sich durch Therapien
ändern. Frei nach dem Motto: „Es kann nicht sein,
was nicht sein darf.“ Für bestimmte religiös-fundamentalistische Gruppen ist der Befund, dass Homosexualität eine natürliche Ausprägung der sexuellen
Identität ist unerträglich. Sie bieten deswegen Seminare und Therapiegruppen an, bei denen vermeintlich
Kranke und Leidende auf den „richtigen Weg“ geführt
werden sollen. Sie nutzen dabei die Unsicherheit von
Menschen, insbesondere von Jugendlichen und ihren
Eltern, aus und versprechen eine Änderung der sexuellen Identität. Sie changieren dabei in unredlicher
Weise zwischen Begriffen und Sphären: Sünde und
Krankheit, theologische Überzeugung und scheinbar
wissenschaftliche Befunde werden in intellektuell unzulässiger Weise vertauscht und vermengt.
Natürlich ist die Findung der sexuellen Identität
nicht immer einfach, und gerade der Coming-outProzess kann schmerzhaft und schwierig sein. Psychologische Therapien zur Beratung und Selbstfindung
gehen deswegen von einem ergebnisoffenen Therapieverlauf aus. Einziges Ziel muss Selbstfindung und
Selbstversöhnung der Patienten mit sich selbst sein.
Diese Form von Beratung und Unterstützung ist wertvoll und hilft den Menschen, ihr Leben erfüllt und
glücklich zu gestalten und fördert die Annahme der eigenen sexuellen Orientierung, sei sie homo-, heterooder bisexuell. Nicht der Therapeut gibt hierbei das
Ziel normativ vor, sondern er macht sich mit seinem
Patienten auf die Suche nach dessen Identität und versucht, die Selbstentfaltungsprozesse zu unterstützen.
Im Gegensatz dazu ist das Ziel der von Wüstenstrom, manchen Siebenten-Tag-Adventisten oder dem
Bund Katholischer Ärzte vermittelten bzw. durchgeführten Therapien klar vorgegeben: Homosexualität
wird als negativ und falsch dargestellt. Der Bund Katholischer Ärzte spricht in seiner Stellungnahme zu
dem heute debattierten Gesetzentwurf zum Beispiel
ausführlich über angeblich stark gefährdende Sexualpraktiken wie Oral- und Analverkehr, die natürlich nur
von Homosexuellen praktiziert würden. Hier zeigt sich
deutlich die Grundeinstellung dieser Leute: Sie begegnen den Hilfesuchenden nicht unvoreingenommen,
sondern vorurteilsbelastet. Solchen Menschen darf
man Jugendliche nicht ausliefern!
Denn diese Therapien sind nicht einfach ein sinnloser Zeitvertreib, der schlicht zu nichts führt. Vielmehr
sind sie für die behandelten Menschen schädlich und
gesundheitsgefährdend. Zahlreiche Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass die Folgen dieser sogenannten Therapien Ängste, soziale Isolation und
Depressionen sind, die nicht selten zu Selbstmordversuchen führen. Die American Psychiatric Association
kommt in einem Gutachten für den Senat von Kalifornien im Jahr 2007 zu dem Ergebnis, dass die Wirksamkeit von diesen Therapien nicht gegeben sei. Die Organisation hatte Dutzende Studien ausgewertet und dabei
Belege gefunden, dass zu den negativen Nebenwirkungen unter anderem der Verlust sexueller Gefühle und
Suizidalität zählten. Die American Psychiatric Association kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit solcher
Therapien trotz jahrzehntelanger Bemühungen der jeweiligen Kreise nicht gegeben sei. Im Gegenteil seien
Berichte über aufgrund der Behandlung aufgetretene
Schädigungen dokumentiert. Die Organisation der
amerikanischen Psychiater lehnt diese Behandlungen
deswegen ab.
Der Professor für Psychologie der Universität Basel, Herr Professor Dr. Rauchfleisch, kommt zu dem
Ergebnis, dass die Behandlung fehlliefe und zudem
„die Änderung im Sexualverhalten häufig mit schweren Depressionen, zentralen Selbstwertproblemen und
tiefer Verzweiflung erkauft“ wird und bis „zum Suizid
der betreffenden Menschen führen“ könne.
Nicht zuletzt hat auch die Bundesregierung die Gefährlichkeit dieser Therapien bestätigt. Demnach
gründet diese Einschätzung sich „auf die Ergebnisse
neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen, nach denen bei der Mehrzahl der so therapierten Personen
negative und schädliche Effekte ({0})
auftraten und die versprochenen Aussichten auf „Heilung“ enttäuscht wurden.“ ({1}).
In Kalifornien ist der Gesetzgeber aufgrund all dieser Erkenntnisse zu dem Ergebnis gekommen, dass solche „Heilungsversuche“ für Minderjährige zu verbieten seien. Unser Gesetzentwurf, den wir heute
einbringen, verfolgt dasselbe Ziel. Wir schlagen vor,
das Anbieten und Durchführen solcher Therapien als
ordnungswidrig zu verbieten.
Der Staat kommt damit seiner Pflicht des Jugendund Gesundheitsschutzes nach, die sich aus dem Art. 2
Abs. 2 und des Art. 6 Abs. 2 unseres Grundgesetzes ergibt. Bei Überschreitung der Grenzen des Elternrechts
durch kindeswohlbeeinträchtigenden Missbrauch des
Rechts berechtigt und verpflichtet der Art. 6 Abs. 2
Satz 2 zu staatlichen Interventionen zugunsten des
schutzbedürftigen Kindes. Der Wissenschaftliche Dienst
des Bundestages hat in einem Gutachten ({2}) geprüft, ob einem solchen Verbot in Deutschland verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen.
Der Dienst kommt zum Ergebnis, dass keine solchen
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({3})
Bedenken vorliegen. Die Gefährdung des Kindeswohls,
die bei den angesprochenen Therapien zweifelsfrei vorliegt, stellt eine materielle Anforderung dar, die den
Staat verpflichtet, das staatliche Wächteramt auszuüben.
Wir müssen diese Quacksalberei und Scharlatanerie verbieten!
Ich erwarte eine interessante Debatte in den Ausschüssen und hoffe, dass wir dort zügig zu einem Ergebnis kommen.
Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf
Drucksache 17/12849 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes und anderer registerrechtlicher Vorschriften zum Zweck der Zulassung
der elektronischen Antragstellung bei Erteilung einer Registerauskunft
- Drucksache 17/13222 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll gegeben.
Bisher war es grundsätzlich notwendig, persönlich
bei der entsprechenden Meldebehörde vorzusprechen,
wenn man einen Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses aus dem Zentralregister oder einen Antrag
auf Erteilung einer Auskunft aus dem Gewerbezentralregister stellen wollte. Wenn der Wohnsitz im Ausland
besteht, war es nach bisheriger Gesetzeslage nach § 30
Abs. 3 BZRG sogar notwendig, einen schriftlichen Antrag mit Identitätsnachweis durch Bescheinigung einer
deutschen Konsularbehörde einzureichen.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses
Verfahren nun erheblich erleichtert.
Die Regelungen im Bundeszentralregistergesetz
werden dahin gehend geändert, dass zukünftig der Antrag auf elektronischem Wege unmittelbar bei der Registerbehörde gestellt werden kann. Die entsprechende
Regelung enthält der neue § 30 c BZRG.
Das Konzept für die Antragstellung auf Erteilung
eines Führungszeugnisses soll auf den elektronischen
Antrag zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbezentralregister übertragen werden. Für die Gewerbeordnung wird eine entsprechende Regelung in § 150 e
GewO geschaffen.
Die Identifizierung des Antragsstellers wird mittels
eID erreicht. Ein Abgleich mit dem Melderegister wird
insoweit entbehrlich. Die Grundlage für den elektronischen Identitätsnachweis wurde in § 18 Abs. 2 PAuswG
geschaffen und die entsprechende elektronische Identifikation allgemein im Rechtsverkehr zugelassen.
Durch dieses Verfahren profitieren vor allem Bürgerinnen und Bürger und im Bereich der Gewerbeordnung die Wirtschaft. Das Verfahren wird erleichtert,
beschleunigt und verbilligt. Die Antragstellung kann
nun online erfolgen. Somit wird Zeitaufwand bei der
Antragstellung eingespart.
Da die Gebühr im elektronischen Rechtsverkehr wegen des verkleinerten Aufwandes sicher geringer ausfällt, findet auch eine Kostenreduzierung statt.
Zuerst wird das Angebot sicher eher durch die Wirtschaft wahrgenommen werden. Um nämlich den elektronischen Identitätsnachweis zu führen, bedarf es eines entsprechenden Lesegerätes, das derzeit nur
wenige Bürgerinnen und Bürger haben. Die zukünftige
Entwicklung hin zu mehr elektronischem Rechtsverkehr wird aber dafür sorgen, dass die Möglichkeit der
elektronischen Antragstellung auch von Bürgerinnen
und Bürgern mehr und mehr genutzt wird. Insbesondere bei der Auskunft aus dem Bundeszentralregister
bedarf es nur einer einfachen Identifizierung, sodass
die Sicherheitsschwelle eher gering anzusetzen ist.
Auch dies wird dazu führen, dass sich die elektronische
Antragstellung durchsetzen wird.
Ebenfalls die Kommunen werden auf Dauer von der
elektronischen Antragstellung profitieren. Zwar werden die Gebühren nicht mehr den Kommunen, sondern
dem Bund zufließen. Die Auskunftserteilung erfolgt
eben nicht mehr durch die Meldebehörde, sondern
durch die Registerbehörde; mithin fließen die Gebühren direkt an den Bund. Da die Kommunen aber erhebliche Kosteneinsparungen für Personal und Sachmittel
haben werden, wird in Zukunft ein finanzieller Gewinn
der Kommunen zu verzeichnen sein.
Der Bundeshaushalt kann mit Mehreinnahmen von
zu Beginn 2,5 Millionen Euro pro Jahr und nach Erreichen des mittelfristig geschätzten Antragsaufkommens
von rund 10,2 Millionen Euro pro Jahr rechnen.
Die voraussichtlichen Kosten, solche, die zu Beginn
einmalig anfallen, wie etwa für die Anschaffung der
notwendigen Hard- und Software, und die laufenden
Kosten, beispielsweise für die Instandhaltung der IT
und den Mehrbedarf an Personal, werden durch die
größer ausfallenden Einnahmen der Registerbehörde
gedeckt sein; diese gehen nämlich weit über die nötigen Beträge hinaus.
Unbedingt zu betonen sind die Vorteile, die durch
das neue System entstehen. Neben der erheblichen Erleichterung des Verfahrens, welches eine Antragstellung ermöglicht, ohne persönlich bei der zuständigen
Behörde vorstellig werden zu müssen, ist auch die
massive Beschleunigung zu nennen. Bei einer Erspar29872
nis von durchschnittlichen 16 Minuten pro Fall ergeben sich 128 000 Stunden pro anno, welche für diesen
bürokratischen Aufwand eingespart werden können.
Neben der Verbesserung für die Bürgerinnen und
Bürger wird sich auch ein geringerer Verwaltungsaufwand bei der Registerbehörde selbst beobachten lassen. Grund dafür ist, dass zukünftig nur noch diese
eine Instanz zuständig ist und ein sogenanntes OneStop-Shop-System entsteht. Mit der aktuellen, immer
weniger zeitgemäßen Regelung sind immer mindestens
zwei Instanzen involviert: zum einen die, die den Antrag entgegennimmt, und zum anderen die, welche die
Identität und Meldedetails bestätigt.
Die zuvor genannten Vorteile und Verbesserungen
für viele Teile unserer Gesellschaft überwiegen anfängliche Herausforderungen, wie zusätzlicher Personalbedarf und neue praktische Prüfaufgaben bei der
Registerbehörde auf Bundesebene. Diese werden zu
bewältigen sein.
Da bereits bundeseinheitliche Regelungen bestehen, ist die Gesetzgebungszuständigkeit gegeben. Die
Wahrung der Rechtseinheit, welche im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist, kann nur so garantiert
werden. Eine Regelung durch die Länder kann dies
nicht erreichen.
Im Laufe der Zeit ist durch die weitere Verbreitung
des neuen Personalausweises auch mit einer Zunahme
der elektronischen Anträge zu rechnen. Die Einführung neuer Anwendungen wird die Attraktivität der
eID-Funktion steigern. Auch der vorliegende Gesetzentwurf trägt dazu bei.
Um auch im internationalen Bereich weiter mithalten zu können und das E-Government mitzugestalten
und weiterzuentwickeln, braucht die Bundesrepublik
solche modernen und vorausschauenden Gesetzesänderungen.
Die Union ist hier Vorreiter bei einem modernen
E-Government und beim Bürokratieabbau. Die Opposition hatte viele Jahre Zeit, etwas zu machen, und hat
nichts auf den Weg gebracht. Wir tun was.
Schon 2008 hat die damalige SPD-Justizministerin
Brigitte Zypries eine grundlegende Überarbeitung der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung
des Bundeszentralregistergesetzes vorgelegt, der wir
dann auch hier im Parlament zugestimmt haben. Damit konnten die Meldebehörden beim Bundeszentralregister das Führungszeugnis elektronisch anfordern.
Durch den Übergang von der schriftlichen auf die
elektronische Antragstellung schufen wir die erste
Grundlage dafür, dass Anträge von Bürgerinnen und
Bürgern auf Erteilung eines Führungszeugnisses wesentlich schneller bearbeitet werden konnten.
Doch die Bürgerinnen und Bürger mussten auch
weiterhin einen Antrag auf Erteilung des Führungszeugnisses bei der Meldebehörde stellen. Problematisch war nämlich der elektronische Identitätsnachweis.
Nachdem mit dem neuen Personalausweis der elektronische Identitätsnachweis realisiert wurde, ist nun
auch die elektronische Antragstellung durch die Bürgerinnen und Bürger bei Gewährung des dafür notwendigen Datenschutzes möglich. Die Datensicherheit
muss natürlich zwingend gegeben sein. Wir wissen ja
alle, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine besonders hohe Bedeutung genießt.
Mit der geplanten Rechtsänderung werden die Verfahrensabläufe bei Auskünften aus dem Bundeszentralregister weiter beschleunigt. Durch die Einführung des
elektronischen Datenaustauschs können Anfragen der
Bürgerinnen und Bürger künftig rascher und einfacher
erledigt werden; denn der Umweg über die Meldebehörden entfällt.
Die beschleunigte Datenverarbeitung bei der Erteilung von Führungszeugnissen im Bundeszentralregister kommt vor allem den Bürgerinnen und Bürgern zugute. Wer ein einfaches oder erweitertes
Führungszeugnis aus dem Zentralregister benötigt,
zum Beispiel, wenn bei einer Bewerbung ein Führungszeugnis verlangt wird, braucht also künftig nicht
mehr wie bisher zum Einwohnermeldeamt zu gehen.
Der Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses
kann direkt online beim Bundesamt für Justiz als zuständige Registerbehörde gestellt werden.
Damit werden auch die Kommunen entlastet. Allerdings muss auch gesagt werden, dass dann auch entsprechend die Gebühreneinnahmen für die bisherigen
Antragstellungen wegfallen. Die Umstellung auf das
automatisierte Verfahren aber verringert den bisherigen personellen Aufwand und rationalisiert das Registerverfahren.
Das elektronische Antragsverfahren beim Führungszeugnis wird nun ermöglicht, weil das Personalausweisgesetz den elektronischen Identitätsnachweis
allgemein im Rechtsverkehr zulässt. Für Ausländer
können auch Aufenthaltstitel, die mit einem elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmedium versehen
sind, für die elektronische Antragstellung verwendet
werden.
Allerdings ist für die Überprüfung der Angaben zur
Person auch der Geburtsname für die registerrechtliche Zuordnung von Bedeutung. Erst mit dem neuen
Personalausweis ist die elektronische Übermittlung
des Geburtsnamens möglich. Damit kann die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben zur Person und
zum Wohnort, die bei elektronischer Übermittlung denen des Personalausweises entsprechen müssen, durch
den Empfänger überprüft werden. Ein Abgleich mit
den Daten im Melderegister ist dann nicht mehr erforderlich.
Das ist erst seit dem 21. Juni 2012 möglich. Um
auch Personen, die Dokumente besitzen, in denen der
Geburtsname nicht gespeichert wurde, die elektroniZu Protokoll gegebene Reden
sche Antragstellung zu ermöglichen, können sie den
Geburtsnamen im Antrag angeben. In diesen Fällen
wird die Registerbehörde dann jedoch einen Datenabgleich mit dem Melderegister vornehmen müssen.
Es ist sinnvoll, die elektronische Antragstellung
auch zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbezentralregister zu ermöglichen, wie es der vorliegende
Gesetzentwurf vorsieht. Auch hier soll der neue Personalausweis eine sichere Identifizierung des Antragstellers gewährleisten.
Der Petitionsausschuss des Bundestages befürwortet die Zulassung der elektronischen Beantragung des
Führungszeugnisses. Anders als der Regierungsentwurf hält er aber eine Gesetzesänderung zur Schaffung
dieser Möglichkeit nicht für erforderlich.
Nun, das Bundeszentralregistergesetz regelt die
Grundlagen der Organisation, Führung und Verwaltung des Zentralregisters, ferner Inhalt, Reichweite,
Dauer und Tilgung der Eintragungen sowie die Voraussetzungen zur Erlangung von Auskünften aus dem
Register. Da ist es doch notwendig und sinnvoll, die effiziente und vereinfachte elektronische Antragstellung
im Gesetz zu verankern und so an die moderne Informationstechnologie anzupassen.
Das Gesetz führt also das zu Ende, was eine sozialdemokratische Justizministerin konzeptionell angelegt
hatte.
Die Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses oder die Erteilung der Auskunft aus einem
Register ist für Bürgerinnen und Bürger nach wie vor
nicht einfach und unkompliziert möglich. Begrenzte
Öffnungszeiten in den Ämtern, lange Wartezeiten,
unflexible Bearbeitung, schriftliche Antragstellung:
Diese Dinge machen für Bürgerinnen und Bürger oftmals ihre Erlebnisse mit der Verwaltung in Deutschland aus.
Die christlich-liberale Koalition möchte diesen Zustand beenden. Wir möchten, dass zukünftig Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, auf verschiedenen Wegen mit der Verwaltung zu kommunizieren. Mit
dem E-Government-Gesetz des Bundes haben wir den
Grundstein dafür gelegt. Mit dem Gesetz zur Änderung
des Bundeszentralregistergesetzes möchten wir einen
weiteren Baustein der liberalen Strategie zur Verwaltungsmodernisierung setzen. Denn auch in der Verwaltungsmodernisierung waren es vier gute Jahre für
Deutschland.
Moderne Verwaltung muss für Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit bieten, auf verschiedenen Wegen mit ihr zu kommunizieren. Die Zeiten, in denen
man Nummern in Ämtern ziehen muss, können zu Ende
gehen.
Das Bundeszentralregistergesetz ermöglicht den
Bürgerinnen und Bürgern ab sofort nicht nur persönlich die Ausstellung von polizeilichen Führungszeugnissen. Auch auf elektronischem Weg können sie zukünftig beantragt werden.
Wir werden im Detail noch einmal überprüfen, ob
hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Aber wir
sind der Ansicht, dass mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ein gelungener erster Wurf auf dem Tisch
liegt. Wir prüfen, ob und wie wir diesen Vorschlag
noch weiter verbessern können.
Mit dem neuen Bundeszentralregistergesetz schaffen wir für Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit,
einfach und ohne großen Aufwand die Informationen
beizutreiben, die sie zum Beispiel für Bewerbungen benötigen. Ich würde mich daher freuen, wenn Sie uns
dabei unterstützen.
Im Endspurt der Wahlperiode und bemüht um eine
Aufbesserung ihrer miesen Bilanz, führt die Koalition
auf ziemlich halsbrecherische Weise einige ihrer fragwürdigen oder sogar gescheiterten Großprojekte im
Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik, IKT, zusammen. Keine Rolle spielen dabei Gefahren für die Daten der Bürgerinnen und Bürger, klare
Defizite und systembedingte Sicherheitslecks.
Der Zufall hilft manchmal der Wahrheit auf die
Sprünge. Wenige Stunden vor der Vorlage der Bundestagstagesordnung, auf der der Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes auftauchte,
wurde eine Stellungnahme des Bundesrechnungshofs,
BRH, bekannt, in der dieser mit deutlichen Worten bemängelte, dass es dem Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik, BSI, in mehr als zwei Jahren
nicht gelungen sei, eine zertifizierte Software zur Nutzung der elektronischen Identität im neuen elektronischen Personalausweis zur Verfügung zu stellen.
Und wie hängt beides zusammen? Der vorliegende
Gesetzentwurf soll die - im Grunde ja wünschenswerte Nutzung eines elektronischen Zugangs zu Führungszeugnissen und Auskünften aus dem Gewerbezentralregister eröffnen. Die bisher unbedingt vorgeschriebene persönliche Antragstellung wäre damit hinfällig.
Der Bundesrechnungshof schreibt dazu, dass zwar
über 4 Millionen Euro ausgegeben worden sind, eine
zertifizierte Software für den Identitätsnachweis der
notwendigen Ausweis-App aber nicht vorliege.
Was ist die Folge? Nach der Personalausweisverordnung sollen die Nutzer dieser Ausweis-App auf ihrem PC, Laptop oder anderem sicherstellen, dass sie
nur eine vom BSI zertifizierte Software einsetzen, weil
damit hinreichende Sicherheit gegeben sei. Tun sie das
nicht - und das ist das Entscheidende -, gehen sie unkalkulierbare Haftungsrisiken ein, sowohl was Datenverluste, als auch was kommerzielle Aktivitäten betrifft.
Laut BRH wurden die Nutzerinnen und Nutzer weder über die Nichtzertifizierung noch über die damit
verbundenen rechtlichen Probleme und Risiken informiert. Die Deutsche Rentenversicherung biete gar den
elektronischen Zugang auf die Versichertendaten an
Zu Protokoll gegebene Reden
und verweise - wahrheitswidrig - auf eine zertifizierte
Ausweis-App des BSI.
In einer ersten Zusicherung hatte das BMI die Zertifizierung verbindlich zugesagt. Der BRH zitiert sie
aber nun in dem Sinne, dass eine Zertifizierung in ihren Augen nicht mehr nötig sei, da das BSI bei der Entwicklung der Software ja schon alles geprüft habe.
„Auftretende Schwachstellen ({0}) frühzeitig erkannt und zeitnah behoben werden“ ({1}).
Ich halte es ja tatsächlich für ein Problem, wenn die
softwareentwickelnde Behörde, hier also das BSI, dieselbe ist, die das Produkt zertifizieren soll. So eine Interessenkollision haben wir im Gegensatz zu Ihnen immer kritisiert und vor den Folgen gewarnt. Dass diese
Konstruktion jetzt aber auch noch dafür herhalten
muss, eine Zertifizierung ad acta zu legen, auf eine öffentlich nachvollziehbare Sicherheitsbewertung zu
verzichten und die Nutzerinnen und Nutzer unwissend
zu lassen, das ist schon ein ziemlicher Hammer.
Dieses Vorgehen entspricht aber - und damit zurück
zum vorliegenden Gesetzentwurf und dem nächsten
Systemproblem - dem standardisierten fahrlässigen
Umgang dieser Bundesregierung mit zum Teil hochsensiblen Daten der Bürgerinnen und Bürger: Schon
auf der ersten Seite der Gesetzesbegründung wird
nämlich auf die neuen Regelungen des Entwurfs eines
„Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung …“, Bundestagsdrucksache 17/11473, verwiesen.
Dieses erst vor wenigen Tagen verabschiedete sogenannte E-Government-Gesetz basiert auf dem DeMail-Gesetz und der damit verbundenen unsicheren
Technik: ein hochgefährlicher Systemfehler der angestrebten elektronischen Verwaltung. Auf der Sachverständigenanhörung wurde das ausgesprochen anschaulich dargestellt. Die Bundesregierung wollte das
nicht ändern und senkte stattdessen die Sicherheitsstandards in den Behörden zur Weitergabe von Daten
ab.
Eine kleine Zwischenbilanz: Der vorliegende Gesetzentwurf zwingt die Bürgerinnen und Bürger, möglicherweise unsichere Technik einzusetzen und der Bundesregierung zu glauben, dass das schon in Ordnung
gehe. Derselbe Gesetzentwurf fußt in einer Regelung
- zum Umgang mit dem Geburtsnamen - auf dem gerade erst verabschiedeten Gesetz zur elektronischen
Verwaltung, das wiederum auf der unsicheren DeMail-Technik basiert.
Beide zusammen würden nicht funktionieren, hätte
die Bundesregierung nicht das unsichere Projekt der
eID auf dem neuen Personalausweis gegen alle Kritik
auf Biegen und Brechen ohne jede Notwendigkeit
durchgesetzt.
Kaum eines der Versprechen auf optimale Datensicherheit in den Großprojekten der Regierung konnte
eingehalten werden. Alle - bis auf das in aller Schönheit gestorbene ELENA - wurden und werden jetzt im
Endstadium der Legislaturperiode durchgedrückt, um
vollendete Tatsachen zu schaffen und im Dienste
wirtschaftlicher Interessen. Ich erinnere hier nur an
E-Perso, E-Government, ePass und elektronische Gesundheitskarte.
Dagegen steht die Vernunft der Bürgerinnen und
Bürger: 17,5 Millionen Personalausweise mit eIDFunktion wurden bis Oktober 2012 ausgegeben. Bei
70 Prozent davon haben klugerweise die Ausweisinhaberinnen und -inhaber die eID-Funktion ausschalten
lassen. Denn noch kann man das, obwohl immerhin
130 behördliche und kommerzielle Internetdienste damit anzuzapfen wären.
Hier zeigt sich korrektes bürgerliches Misstrauen.
Die Regierung scheint darauf zu setzen, durch vollendete Tatsachen und immer mehr per gesetzlichem
Zwang eingeleitete Angebote dieses Misstrauen aus
der Welt schaffen zu können. Ich bin mir sicher, dass es
sich dann eben anderswo wieder zeigen wird.
Als wir hier vor ein paar Jahren die Einführung des
elektronischen Personalausweises debattiert haben,
da war ein ganz laut vorgetragenes Argument immer:
Damit kann man sich elektronisch identifizieren, das
schafft Sicherheit im Onlinehandel und macht den Umgang mit staatlichen Behörden ganz einfach.
Inzwischen haben wir gelernt: Niemand hat es besonders eilig, diese Segnungen für sich nutzbar zu machen. Genau wie bei der elektronischen Signatur ist
die meistgestellte Frage: Wozu brauche ich das? Und
wie bei der Signatur beantworten die meisten diese
Frage mit einem Schulterzucken. Die Bundesregierung
hat das auch bemerkt, und in der Begründung dieses
Gesetzes festgehalten: Kaum einer will die Identifikationsfunktion, und selbst die Bundesregierung erwartet
nicht, dass es mehr werden.
Kein Wunder, es gibt keine Verwendung für diese
Funktion, nur Risiken. Und weil die Infrastruktur zu
teuer ist, wird sich das auch in der Tat nicht ändern.
Also nimmt es die Regierung nun auf sich, ein Angebot
zu schaffen, das dann auch wieder keiner nutzt.
Was sind die Zahlen? Nach zwei Jahren haben
17,5 Millionen Menschen den neuen Personalausweis.
Bei 75 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, die in Deutschland leben, hat also knapp ein
Viertel den neuen Ausweis. Bei einer Geltungsdauer
von fünf bzw. zehn Jahren, bei Verlusten und Ersatz ist
das einfach genau die Zahl, die man nach zwei Jahren
erwarten kann. Also kein Run auf den neuen Ausweis
mit seinen tollen Fähigkeiten.
Von diesen 17,5 Millionen neuen Ausweisen ist bei
nur 30 Prozent - also knapp 4,5 Millionen - die Funktion zur elektronischen Identifikation eingeschaltet.
Erstes Mysterium: Die Bundesregierung erwartet
jährlich 500 000 Anträge auf elektronische Registerauskunft. Nun mag man sagen: Es werden ja mehr
Ausweise, also auch mehr mit Identifikationsfunktion stimmt, aber werden die wirklich alle dann einen Antrag elektronisch stellen? Ich habe meine Zweifel. Und
nimmt man mal an, dass nur die Hälfte von denen, die
Zu Protokoll gegebene Reden
es könnten, den elektronischen Weg wählt, dann warten wir noch eine ganze Weile, bis solche Zahlen erreicht sind.
Das zweite Zahlenrätsel bezieht sich auf die Zahl
der Anträge: Es sind jedes Jahr 4 Millionen. Anders
gesagt: Knapp jeder Zwanzigste stellt im Jahr einen
Antrag. Oder: Jeder nur alle knapp 20 Jahre. Warum
sollte ich mir für so eine seltene Notwendigkeit eine
elektronische Identifikationsfunktion in meinem Ausweis anschalten lassen?
Mich überzeugen diese Zahlen keinesfalls von der
Notwendigkeit, dieses neue Verfahren einzuführen. Die
Kosten jetzt sind garantiert, der Nutzen wirklich überschaubar. Keine Bürgerin und kein Bürger wird sich je
darüber beschweren, dass es so umständlich sei, wenn
man für einen Antrag, den man nur alle 20 Jahre stellt,
zum Amt gehen muss - zumal an solchen Anträgen zumeist ja auch einschneidende Ereignisse wie ein Wechsel des Arbeitsplatzes hängen; es also nicht darum
geht, die Bürokratiebelastung im Alltag zu reduzieren.
Wer die technischen Schwierigkeiten mit dem neuen
Ausweis kennt, wer weiß, dass alle Projekte dieser Art
noch immer teurer geworden sind als geplant, der
fragt sich wirklich, ob es die Millionen an einmaligen
Kosten wert sind, hier einen elektronischen Zugang zu
bauen, den ohnehin niemand nutzen will. Und es wird
ja bei einer Doppelstruktur bleiben müssen, der papierene und persönliche Antrag bleibt ja möglich.
Der Entwurf räumt auch jegliche Sicherheitsbedenken nonchalant beiseite. Es soll ein einfaches Verfahren sein, also können auch schriftliche Nachweise eingescannt und zugeschickt werden, und selbst eine
Versicherung an Eides statt über die Echtheit der
Nachweise kann elektronisch abgegeben werden. Alles
ohne ernstzunehmende technische Sicherung. Wie befürchtet, wird die Identifikationsfunktion zur Signatur
light - auch elektronisch, dafür aber nicht sicher.
Alles in allem: Ein Projekt, das keiner braucht,
technische Mängel absehbar, damit auch Datenschutzprobleme. Aus unserer Sicht die falsche Anwendung eines überflüssigen Ausweises.
Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf
Drucksache 17/13222 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Angelika Graf ({1}),
Petra Crone, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenrechte älterer Menschen stärken
und Erarbeitung einer UN-Konvention fördern
- Drucksachen 17/12399, 17/13220 Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichAngelika Graf ({2})Pascal KoberKatrin WernerTom Koenigs
Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Lassen Sie mich mit einer persönlichen Beobachtung beginnen. Da stehe ich - noch keine 50 Jahre alt morgens vor dem Spiegel, betrachte die Falten in meinen Augenwinkeln und denke: Du solltest es vielleicht
mal mit einer Anti-Ageing-Creme probieren. AntiAgeing-Creme - ein Produkt gegen Falten, das sich
dreist damit schmückt, dem Altern vorzubeugen: „Gegen-das-Altern-Creme“ hieße sie zu Deutsch. Sprache
verrät ja bekanntlich eine Menge über Inhalte und Absichten. Und die Werbesprache ist häufig ein besseres
Indiz für gesellschaftliche Normen, als alle politischen
Debatten und intellektuellen Diskurse es sein können.
Dem Altern kann man nicht vorbeugen. Die Haut
kann man pflegen. Um die Fitness kann man sich kümmern. Doch jeder Mensch wird alle 24 Stunden einen
Tag älter. C’est la vie - so ist das Leben.
Historisch neu und in der Geschichte bisher einmalig ist, dass wir alle, unsere gesamte Gesellschaft, jeden Tag älter werden. Das Altern der Bevölkerung ist
einer der bedeutenden Trends des 21. Jahrhunderts.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Kimoon schreibt: „Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieses Phänomens sind tiefgreifend und reichen in
beispielloser Weise weit über das Individuum und die
Familie hinaus bis in die Gesamtgesellschaft und die
Weltgemeinschaft.“ Die weltweiten Zahlen besagen,
dass 2050 mit 2 Milliarden Menschen ein Fünftel der
Menschen dieser Erde über 60 Jahre alt sein wird. Heute
ist es nur ein Neuntel. 80 Prozent der über 60-Jährigen
werden 2050 - das ist der geografische Unterschied in Entwicklungsländern leben. Die Organisation
HelpAge hat gesagt: „Die Welt wird grau.“
Das ist ein gesellschaftlicher Wandel, den es wahrzunehmen und zu gestalten gilt. Eine Herausforderung
nicht nur für die Politik. Das Altwerden ist Teil meines
Lebens. Und ich erschrecke, wenn ich das immanente
Vorurteil wahrnehme, das da bei mir selber mitschwingt, indem ich zur Anti-Ageing-Creme greife.
Oder besser gesagt: wenn ich diesen Begriff nutze.
Wenn schon die tägliche Körperpflege sich mit einem
Reflex gegen das Altwerden an sich verbindet, dann ist
das ein schlechtes Zeichen.
Die Haltung, die dahintersteckt, kulminiert in keinem Begriff stärker als im Wort „Überalterung“. Für
mich ist dieser Begriff schon eine Diskriminierung in
sich. Da wird ein gesellschaftlicher Konsens infrage
gestellt, der den eigentlichen Kitt unseres Zusammenlebens darstellt: das Miteinander der alten und der
jungen Menschen, der sogenannte Generationenvertrag. Hier wird ein Problem - das es ja tatsächlich gib,
und dem wir uns stellen müssen -, das Problem des demografischen Wandels, einseitig einer Generation angelastet, nämlich der älteren.
Ich plädiere erneut dafür, hier einen anderen Begriff
in die Debatte einzuführen: die „Unterjüngung der
Gesellschaft“. Wir haben zu wenig Kinder - nicht zu
viele alte Menschen. Wir werden nicht nur älter, wir
werden auch weniger. Und das verändert die Gesellschaft. Herbert Henzler und Lothar Späth schlagen in
ihrem lesenswerten Buch „Der Generationen-Pakt“
sogar einen Paradigmenwechsel vor, im Untertitel
heißt es: „Warum die Alten nicht das Problem, sondern die Lösung sind“. Die Alten, das zeigen die beiden Autoren an vielen Daten und praktischen Beispielen, werden gebraucht. Ja, ich möchte verstärken: Sie
werden heute mehr gebraucht denn je: die Erfahrung
und das Engagement der alten Menschen - welches
sich in nicht zuletzt in unzählbaren Stunden ehrenamtlicher Arbeit ausdrückt, deren volkswirtschaftlicher
Beitrag sich zu mehrstelligen Milliardensummen summiert und deren eigentlicher Wert nicht diesen beeindruckenden ökonomischen Kennzahlen, sondern im
sozialen Miteinander sichtbar wird.
Um zwei Beispiele zu nennen: Wie oft ist es nicht
eine wirtschaftliche Maßnahme wie etwa das Elterngeld - so richtig und wichtig und politisch notwendig
das Elterngeld ist! -, die ein Paar dazu bewegt, den
Kinderwunsch zu realisieren, sondern es sind ganz andere, soziale Gründe. Es sind Oma und Opa und ihre
Bereitschaft, die junge Familie zu unterstützen und zu
entlasten, die Kinder von der Kita oder der Schule abzuholen, sie mal abends ins Bett zu bringen oder auch
mal den einen oder anderen finanziellen „Zuschuss“
zu geben. Oder das andere Beispiel: Wie oft sind es
nicht die professionellen Pflegedienste, die sich um die
Kranken kümmern, so wichtig es für die Politik ist,
Pflege institutionell zu organisieren und - wie das mit
der Pflegeversicherung geschehen ist - sie wirtschaftlich gesund und langfristig stabil aufzustellen. Es sind
in überwältigender Mehrheit die Angehörigen, die Lebenspartner, die den Pflegebedürftigen liebevoll und
unter großem zeitlichem Aufwand pflegen.
Alte Menschen sind ein Schatz und eine Bereicherung für eine Gesellschaft. Und das gilt nicht nur für
die fleißigen und fitten „jungen Alten“, das gilt auch
dann, wenn diese älteren Menschen „wunderlich“
oder „gebrechlich“ werden, um zwei ältere Adjektive
zu bemühen. Ich persönlich habe als Kind 14 Jahre
meines Lebens in einem Altenheim gelebt; meine Eltern haben diese Einrichtung mit geleitet. Viele dieser
Menschen werde ich nie vergessen. Ich erinnere mich
an Gesichter, und ich erinnere mich an Begegnungen.
Wie ich bereits in meiner letzten Rede erwähnte, erinnere mich an Oma Berta, wie wir sie alle nannten;
schon 99 Jahre alt, war sie doch quicklebendig und ein
aufmunternder Gesprächspartner für die Menschen
um sie herum, nicht nur im Haus selber, sondern auch
im Dorf, in dem das Heim stand. Ich erinnere mich
auch an Opa Walther, der überhaupt kein Problem
hatte, sich mit den Jugendlichen zu unterhalten, und
der ihnen mit seinem reichen Erfahrungsschatz und
seinem breiten Wissen in vielen Diskussionen das Wasser reichen konnte. Wir jungen Leute hingen an seinen
Lippen und konnten gar nicht genug von seinen Geschichten hören.
Ältere Menschen - ich wiederhole mich und werde
an dieser Stelle auch nicht müde, mich zu wiederholen - sind ein sozialer Schatz für unsere Gesellschaft.
Sie verdienen unsere Wertschätzung. Daneben brauchen sie aber auch unseren Schutz. Die Menschenrechte älterer Menschen stärken und Altersdiskriminierung schon in ihren Ansätzen zu unterbinden: Ja,
das müssen wir tun! Hier ist Politik gefordert.
Die oben erwähnte Aussage Ban Ki-moons macht
deutlich, dass die demografische Entwicklung ein globales Problem ist. Und doch gibt es dabei große regionale Unterschiede. Alleine die Entwicklungen in der
nördlichen und der südlichen Hemisphäre gehen weit
auseinander. Diesem Umstand trägt der heute zu diskutierende Antrag leider zu wenig Rechnung. Er ist
nicht differenziert genug.
Die Lage älterer Menschen hat sich in den Entwicklungsländern in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Ältere Menschen haben in Afrika, in Asien
und auch in Lateinamerika aufgrund ihrer Lebenserfahrung nicht nur innerhalb der Kernfamilie traditionell einen hohen gesellschaftlichen Status. Sie
galten als Lehrer, als „Weise“ und damit als Entscheidungsträger oder juristische Vermittler in der Gemeinde bzw. der Gemeinschaft. Dieser Status ändert
sich rasant. Zurzeit erleben alte Menschen besonders
in Afrika immer häufiger Gewalt und Misshandlungen.
Die Gründe dafür zu analysieren, ist eine elementare
Voraussetzung dafür, dem Problem wirksam begegnen
zu können. Dabei spielen sicherlich existenzieller
Druck und wirtschaftliche Notsituationen eine zentrale
Rolle. Armut oder HIV/Aids sind Gründe für die Verschlechterungen, ebenso Analphabetismus und die höhere Vulnerabilität älter werdender Menschen.
Ob diese Probleme durch eine UN-Konvention für
die Rechte älterer Menschen gelöst werden können, ist
fraglich. Um diese Frage aber auch wirklich zu beantworten, hat die „UN Open-ended Working Group on
Ageing“ im Dezember 2012 den Auftrag erhalten, die
tatsächliche Notwendigkeit einer solchen Konvention
und in deren Folge die Einsetzung eines UN-Sonderberichterstatters für die Menschenrechte älterer Menschen zu prüfen und einen Vorschlag dazu zu unterbreiten, welche Punkte eine Vereinbarung zum Schutz
der Rechte Älterer umfassen sollte. Da abschließende
Erkenntnisse aktuell noch nicht vorliegen, ist der Zeitpunkt, eine solche Konvention zu fordern, eindeutig
verfrüht. Diese Einschätzung teilen alle mitberatenden
Ausschüsse, die den Antrag abgelehnt haben: der Auswärtige Ausschuss, der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Gesundheitsausschuss
Zu Protokoll gegebene Reden
und der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Als Menschenrechtler können wir bereits vor dem
Bericht der UN-Arbeitsgruppe feststellen, dass entsprechende völkerrechtliche und menschenrechtliche
Voraussetzungen zum Schutze der älteren Menschen
bestehen.
Da sind der Internationale Pakt über bürgerliche
und politische Rechte, der Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte sowie die Internationale
Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. Immer
geht es in diesen Übereinkünften auch um das Alter,
auch wenn es nicht immer explizit genannt wird.
Ausdrücklich benennt und verbürgt Art. 25 der 2009
in Kraft getretenen Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht älterer Menschen auf ein
würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme
am sozialen und kulturellen Leben.
Alter ist darüber hinaus eines von sechs Merkmalen, die durch das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 geschützt werden - dort heißt es
ausdrücklich: Niemand darf aufgrund seines Alters
diskriminiert werden.
Nicht die fehlende Rechtsgrundlage ist also das wesentliche Problem, wenn es darum geht, ältere Menschen besser zu schützen. Es besteht vielmehr der
Bedarf, die bestehenden Verträge, die aus diesen Verträgen resultierenden Mechanismen besser anzuwenden.
Denn - und da gehen die Fraktionen der Regierungskoalition und die Antragsteller konform - es liegen große nationale und internationale Herausforderungen vor uns.
Daher können wir die Forderung unterstützen, dass
sich die Bundesregierung im Rahmen von Entwicklungspartnerschaften und wirtschaftlicher Zusammenarbeit auch weiterhin für die Umsetzung von Systemen
des sozialen Basisschutzes, für sogenannte Social Protection Floors, in Partnerländern einsetzt und auf
diese Länder hinwirkt, im menschenrechtlichen Bereich ordnungsrechtliche Verantwortung zu übernehmen.
Auch in Deutschland ist der Status quo nicht befriedigend. Auch hier möchte ich erneut einige in meiner
letzten Rede genannten Probleme in Deutschland konkret ansprechen:
Die altersbedingten Krankheiten, die eine Demenz
zur Folge haben - in der öffentlichen Diskussion ist
Alzheimer der bestimmende Begriff -, führen oft zu
Fremdbestimmung und Entmündigung, zu Altersarmut
und Diskriminierung.
Es gibt Diskriminierung im Erwerbsleben, beim Abschluss von Versicherungen und soziale Isolation.
Auch Fälle von Misshandlungen im Pflegewesen wurden publik: körperliche Misshandlung durch Festhalten, emotionale Misshandlung durch Beschimpfung
oder in Form von Vernachlässigung.
Der angloamerikanische Sprachraum hat für das
Phänomen der Altersdiskriminierung einen Fachbegriff - analog dem Sexismus - geformt: Ageism. Es
existiert noch keine adäquate deutsche Entsprechung.
Geriatrismus vielleicht? Gemeint sind stereotype Einstellungen, die zu diskriminierendem Verhalten gegenüber älteren Menschen führen. Ageism beschreibt einerseits die Diskreditierung des Altersprozesses als
solcher - Sie erinnern sich an mein einleitendes Beispiel von der Anti-Ageing-Creme? - und andererseits
die Exklusion von der Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben all derjenigen, die als „alt“ etikettiert werden.
Sie erinnern sich an das von mir zitierte Beispiel
aus der Tageszeitung „Die Welt“? Sie hat im vergangenen Jahr in einem Bericht das Beispiel von Margret
Schukies, einer attraktiven und unternehmungslustigen Dame, 62 Jahre alt, beschrieben. Sie wollte sich
einen Hundewelpen in einem Tierheim abholen; aber
die Leiterin des Tierheims sagte zu ihr, sie sei zu alt.
Wir finden nach wie vor diskriminierende Altersgrenzen, Höchstaltersgrenzen genannt, im Ehrenamt
und im Kirchengesetz.
Wir dürfen daher in unseren Anstrengungen gegen
die Altersdiskriminierung nicht nachlassen!
Und deswegen ist es mir, neben der klaren Benennung der Probleme, auch wichtig, auf die begonnenen
Maßnahmen hinzuweisen. Wir brauchen dafür, das fordern die Antragsteller zu Recht, eine stärkere Einbeziehung aller zivilgesellschaftlichen Verbände.
Die bereits bestehenden menschenrechtlichen
Schutzmechanismen für ältere Menschen habe ich bereits erwähnt. Darüber hinaus gibt es auf den verschiedenen politischen Ebenen Maßnahmen gegen Altersdiskriminierung.
Das Jahr 2012 ernannte die Europäische Union
zum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“. Um eine breite
europäische Debatte voranzubringen, wurden anlässlich dieses Jahres 90 Initiativen auf lokaler, nationaler
und europäischer Ebene initiiert und durchgeführt.
In Deutschland wurde ebenfalls im vergangenen
Jahr die Demografiestrategie der Bundesregierung
unter dem Titel „Jedes Alter zählt“ auf den Weg gebracht. Sie vereint mehrere Zielrichtungen. Eine davon
ist es, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für das
Thema zu schaffen. Die Bundesregierung engagiert
sich bei der Bekämpfung von Stereotypen bezüglich älterer Menschen und setzt sich für eine bessere Lebensqualität ein.
Die Demografiestrategie umfasst sechs Themenfelder. Um eines davon beispielhaft herauszunehmen:
Unter der Überschrift „Selbstbestimmtes Leben im Alter“ geht es um die Ziele: selbstbestimmtes Leben, Aktivität im Alter, gesellschaftliche Teilhabe, gesundes
Altern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu würdigen in diesem Zusammenhang ist die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit ihrem Themenjahr 2012 und der Kampagne „Im besten
Alter. Immer.“
Als erstes deutsches Bundesland hat Sachsen 2005,
und das sage ich als sächsischer Abgeordneter nicht
ohne Stolz, einen Landesseniorenbeauftragten bestellt.
Dieser hat sich seither unter anderem um folgende
konkrete Projekte gekümmert: Förderung der Teilhabe
am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, insbesondere im ländlichen Raum, oder die altersentsprechende Anpassung von Bildschirmen und Eingabemasken. Diese guten Erfahrungen aus Sachsen lassen sich
auf andere Bundesländer übertragen.
Ähnliches gilt für die Arbeit der Seniorenbeiräte.
Ich unterstütze daher das Anliegen des Antrags, die
Bundesregierung aufzufordern, auf die Bundesländer
einzuwirken, Seniorenbeiräte in den Ländern und
Kommunen nach einheitlichen rechtlichen Grundlagen
einzurichten
In meinem Wahlkreis Chemnitz gibt es ein bemerkenswertes Forschungsprojekt. Im Rahmen der Professur für Arbeitswissenschaft gibt es das Forschungsgebiet über alle Aspekte des demografischen Wandels.
Initiiert wurde es von Professorin Spanner-Ulmer.
Neben den Fragen zu altersgerechter Prozess- und
Produktgestaltung wurde die Simulation von altersinduzierten Leistungseinschränkungen mithilfe tragbarer Alterssimulationsanzüge untersucht. Die Auswirkungen dieser Forschungen sind beachtlich: Sie
führen zu marktfähigen Produktinnovationen, sind
also ein Wirtschaftsfaktor, und sie führen zu Möglichkeiten der Teilhabe älterer Menschen am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben, sind also zugleich
ein sozialer Faktor. Hier zeigt sich: Wenn wir im Bereich Forschung vorne dranbleiben wollen, müssen
wir auch in diesem Bereich die älteren Menschen in
den Fokus nehmen. Hier sind die Alten ganz praktisch
„nicht nur das Problem, sondern die Lösung“.
Der Forschungsbedarf ist auch im medizinischen
und anderen Bereichen erheblich. Nicht zuletzt in der
Sozialforschung müssen neue Modelle des Zusammenlebens evaluiert und gefördert werden, die das Miteinander von Jung und Alt verbessern. Sehr erfolgreich
wurden die Modellprojekte der Mehrgenerationenhäuser entwickelt.
Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von
Henning Scherf, einem Vorreiter für neue Modelle gemeinschaftlichen Lebens. Die Wichtigkeit, die Bedeutung älterer Menschen in unserer Gesellschaft lässt
sich kaum positiver und mutmachender ausdrücken,
als es dem Bremer Altbürgermeister in seinem Buch
„Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist“ gelingt. Zur
Lebenserwartung der heute 60-Jährigen, die noch
durchschnittlich 30 Jahre Lebenserwartung vor sich
haben, schreibt Scherf:
„30 Jahre in wunderbaren Bedingungen, weil wir
nämlich eine Rente haben, die uns ernährt, weil wir
plötzlich Zeit haben, weil wir noch fit sind, weil wir
uns noch interessieren können, einmischen können,
weil wir uns noch beteiligen können, ohne immer zu
fragen: Kriege ich da auch das richtige Gehalt dafür?“
Wir beraten heute abschließend den SPD-Antrag
„Menschenrechte älterer Menschen stärken und Erarbeitung einer UN-Konvention fördern“. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, bei
Ihren Redebeiträgen in der ersten Lesung und im Ausschuss habe ich zwei Punkte herausgehört, die Sie in
unserem Antrag kritisch sehen. Ich kann Ihrer Argumentation allerdings überhaupt nicht folgen. Sie
gestatten deshalb, dass ich mich auch hier mit Ihrer
Kritik beschäftige und sie ausräume.
Erstens halten Sie eine Konvention für ältere Menschen - eine der vulnerabelsten Gruppen überhaupt für nicht notwendig und möchten daher auch nicht die
Einsetzung eines UN-Sonderberichterstatters unterstützen. Ihre Argumente, mit denen Sie Ihre Kritik
begründen, haben mich wirklich schockiert: „Eine
weitere Konvention brauchen wir doch nicht!“ Sie
stellen sich tatsächlich die Frage, ob ein Diskussionsprozess und die Beschäftigung der UN mit diesem
Thema „wirkliche Verbesserungen“ möglich machen
würden, und verweisen auf die EU-Regelungen. Das
können Sie eigentlich nicht ernst meinen. Mit einem
solchen Argument könnte man die kompletten Strukturen und Instrumente der UN infrage stellen, alle Konventionen für nicht umsetzbar erklären und sich nur
noch mit sich selbst beschäftigen. So bringen Sie den
internationalen Menschenrechtsschutz nicht voran. Sie
behindern, im Gegenteil, eine effektive Weiterentwicklung der internationalen und letztendlich nationalen
Schutzmechanismen und lassen erkennen, dass Sie den
globalen Aspekt des Themas nicht begriffen haben.
Dabei hat Ihnen unser Kollege Tom Koenigs in seiner Rede bei der ersten Lesung den Prozess erklärt:
Genau durch solche Konventionen ist die universelle
Menschenrechtserklärung in den vergangenen knapp
80 Jahren Stückchen für Stückchen weiterentwickelt
worden. Nur dank mutiger Vorreiter, die die Situation
von besonders vulnerablen Gruppen in den Fokus
rückten, konnte die internationale Gemeinschaft mit
der Schaffung von Schutzmechanismen reagieren.
Wenn es diese Weiterentwicklung nicht gegeben hätte,
stünden wir heute immer noch auf dem Stand von
1948. Diese Konventionen beschneiden nicht die
Rechte anderer Bevölkerungsgruppen, sondern führen
zu mehr Rechten für alle: Die UN-Kinderrechtskonvention oder die UN-Behindertenrechtskonvention,
zum Beispiel, wurden zu Wegweisern und sind für alle
von Nutzen. Wir wollen die Lücke bei den älteren Menschen schließen und in Solidarität mit anderen Teilen
der Gesellschaft auch hier ähnliche Erfolge erzielen.
Deshalb kann ich Ihre ablehnende Haltung nicht verstehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Weil wir von der SPD die Brisanz der Debatte erkannt haben, fordern wir die Bundesregierung auf,
sich aktiv in den Diskussionsprozess auf internationaler Ebene einzubringen. Das schafft Öffentlichkeit, das
schafft Aufmerksamkeit und das stärkt das Bewusstsein
der Betroffenen und ihrer Vertreter. Vor allem aber
denke ich auch, dass sich Deutschland mit seinen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Antidiskriminierungsgesetz gut und produktiv einbringen kann und
muss.
Als einen weiteren Grund, sich unseren Vorschlägen
zu verweigern, nannten Sie die gegenwärtige Situation
hier in Deutschland: Hier sei doch alles in bester Ordnung. Und Sie wurden nicht müde, die jüngsten Aktivitäten Ihrer Regierung aufzulisten. Ich denke, Sie widerlegen sich selbst: Wenn doch alles wunderbar läuft,
warum gibt es dann zum Beispiel immer noch - im Übrigen durch Studien belegt - Defizite und gravierende
Diskriminierungen älterer Menschen in Deutschland?
Und selbst wenn alles so super wäre und wir keinen
Handlungsbedarf in Deutschland hätten, weil die Ziele
der Konvention schon jetzt so gut wie erfüllt wären,
entbände uns das doch nicht von unserer menschenrechtlichen Verantwortung, auch ältere Menschen in
anderen Ländern verstärkt zu schützen und zu unterstützen. Diese Argumentation schließt nahtlos an Ihr
erstes Argument an: „Warum eine neue Konvention?
Wir haben doch bereits einen verankerten Schutz in
Europa.“ Ganz abgesehen davon, dass auch in der EU
nicht alles wirklich gut läuft für ältere Menschen, finde
ich diese Scheuklappenhaltung sehr problematisch.
Sie müsste eigentlich unter Ihrem intellektuellen
Niveau sein.
Es ist eines der ehernen Prinzipien der Menschenrechtspolitik in Deutschland, auch die eigene Situation
ohne rosarote Brille - oder soll ich sagen: schwarzgelb-gestreifte Tigerentenbrille? - zu reflektieren. Und
da stelle ich fest: Eine unvoreingenommene Betrachtung der Lage in der EU und auch bei uns in Deutschland müsste Sie eigentlich zu dem Schluss bringen,
dass die Bundesregierung die Problematik der Diskriminierung Älterer auf nationaler Ebene nicht ernst
genug nimmt. Sprechen Sie doch einmal mit der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau
Lüders! Diskriminierungen wegen Alters sind eines ihrer Hauptbeschwerdefelder. Das fängt beim Bankkonto
und bei Krediten an und hört bei Bürgermeister- oder
Schöffentätigkeiten auf. Und was tut die Bundesregierung? Eine ihrer ersten Handlungen bei Amtsantritt
2009 war, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
die Mittel zu kürzen. Wir fordern die Bundesregierung
mit diesem Antrag dazu auf, diese Kürzungen zurückzunehmen.
Wir wollen zudem, dass in Deutschland die
Menschenrechte im Bereich der Pflege effektiver überwacht werden. Die Heimaufsichtsbehörden und die
medizinischen Dienste müssen besser als bisher in die
Lage versetzt werden, ihre Kontrollmöglichkeiten zu
nutzen. Sanktionen dürfen kein Tabu sein. Unangemeldete Kontrollen in Heimen müssen eine Selbstverständlichkeit werden.
Wir wollen mehr darüber wissen, wie diese
Kontrollmöglichkeiten genutzt und verbessert werden
können - deshalb regen wir mit unserem Antrag eine
wissenschaftliche Evaluierung dieser Kontrollmöglichkeiten an - sowie darüber, wie das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz und die Heimgesetze der Länder hinsichtlich dieser Fragestellungen funktionieren.
Dies sind nur einige der Knackpunkte, bei denen
man in Deutschland eindeutigen Verbesserungsbedarf
feststellen kann. Es ist eine Schande, dass Ihre Regierung auf nationaler und internationaler Ebene keinerlei Zeichen für eine entsprechende UN-Konvention
setzt, obwohl die UN 2012 feststellte, dass das Menschenrechtssystem lückenhaft ist, und explizit anregte,
die Rechte zum Schutz Älterer neu zu regeln. Die Bundesregierung ist - wie auf anderen Themenfeldern im Zweifel untätig und überlässt Anstrengungen für
Verbesserungen der Zivilgesellschaft.
Wir fordern die Bundesregierung daher dringend
auf, aktiv zu werden. Unterstützen Sie endlich die UN
Working Group on Ageing bei der Erarbeitung einer
UN-Konvention für ältere Menschen sowie bei der
Bestellung eines UN-Sonderberichterstatters bzw. einer UN-Sonderberichterstatterin, der oder die für die
Umsetzung und Einhaltung dieser zu beschließenden
Konvention zuständig ist.
In ihrem Antrag fordert die SPD die Bundesregierung auf, sich auf internationaler und nationaler
Ebene für die Stärkung der Menschenrechte älterer
Menschen einzusetzen. Wir müssen daher den Antrag
zunächst aus zwei Perspektiven betrachten: Zum einen
ließe sich trefflich darüber diskutieren, wie auf internationaler Ebene bei diesem Thema wirklich Verbesserungen möglich sind und wie diese im Rahmen der Vereinten Nationen ausgestaltet werden könnten.
Zum anderen aber ist darauf hinzuweisen, dass ein
Großteil des Antrags ausschließlich die nationalen
Aspekte der Situation der Älteren behandelt. Und da
muss man sagen, dass sich diese christlich-liberale
Bundesregierung maßgeblich für die Bedürfnisse der
älteren Menschen in unserem Land einsetzt. Denn der
demografische Wandel und - mit ihm einhergehend die Diskriminierung älterer Menschen sind wichtige
gesamtgesellschaftliche Herausforderungen und liegen der Koalition sehr am Herzen.
So hat diese Bundesregierung im vergangenen Jahr
eine Demografiestrategie auf den Weg gebracht, bei
der Maßnahmen und Aufgabenfelder konkret benannt
und Handlungsziele beschrieben worden sind. Ich
möchte die wichtigsten Aspekte der Demografiestrategie aufzeigen; denn daraus wird ersichtlich, wie viel
wir für die Rechte Älterer getan haben und weiter tun
werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Erstens stärken wir die Familie als Gemeinschaft.
Denn nirgendwo sind Zusammenhalt und gegenseitiges Vertrauen stärker als in der Familie. Das gilt insbesondere bei der Pflege Älterer, auf die ich gleich
noch dezidiert eingehen werde.
Zweitens setzen wir uns dafür ein, dass die Menschen qualifiziert und gesund arbeiten und damit auch
im Alter gesünder leben können. In diesem Zusammenhang werden wir für ältere Arbeitnehmer bessere
Möglichkeiten schaffen, Erwerbstätigkeit und Rente
flexibel zu kombinieren.
Dies ist natürlich auch für die Unternehmen und für
die jüngeren Generationen von großer Bedeutung.
Denn der Erfahrungsschatz der älteren Mitarbeiter
wird in der Wirtschaft sehr geschätzt.
Drittens macht sich diese Bundesregierung dafür
stark, dass die Menschen in unserem Land selbstbestimmt im Alter leben können. So gehören etwa
altersgerechte Wohnformen, technische Geräte für Ältere und die Mobilität der Älteren zu den zentralen Zielen der Demografiestrategie.
Vor diesem Hintergrund werden wir auch die Rahmenbedingungen für das Engagement der Menschen
über die Generationen hinweg verbessern. Dazu zählt,
um nur einige Beispiele zu nennen, dass wir Anlaufstellen und Mehrgenerationenhäuser breiter verankern werden.
Ein weiterer Punkt ist die Stärkung zukunftsweisender Modelle der Mitverantwortung von Bürgerinnen
und Bürgern in den Kommunen. Denn dies ist auch
eine From gelebter Generationenverantwortung. Dazu
gehört, dass wir die Pflegeberufe zukunftsgerecht
weiterentwickeln und die Pflegeversicherung einschließlich des Begriffs der Pflegebedürftigkeit neu
ausrichten werden.
Hier sind im Übrigen bereits erste wichtige Schritte
getan. Denn seit dem 1. Januar 2013 gibt es aus der
Pflegeversicherung auch Leistungen für Demenzerkrankungen. Das ist sehr wichtig, da zunehmend
Familien bzw. demenzkranke Menschen in der Pflege
auf Unterstützung angewiesen seien. Jetzt gibt es hier
nicht nur Leistungen für körperliche Einschränkungen. Nun werden auch psychische Einschränkungen
wie Demenz unterstützt.
Neben diesen finanziellen Leistungen des Bundes
sind wir gerade dabei, eine nationale Allianz für
Menschen mit Demenz auf den Weg zu bringen und die
Bildung regionaler Hilfenetze zu unterstützen. Daher
haben wir auch die Mittel für Selbsthilfegruppen erhöht. Denn da glücklicherweise immer noch der
weitaus überwiegende Teil der Pflegebedürftigen in
Familien gepflegt wird, ist es wichtig, den Familienangehörigen zur Seite zu stehen.
Letztlich setzt die Demografiestrategie natürlich
auch immer auf die Eigeninitiative und die Kraft der
Menschen. Denn wir wollen Vorschläge entwickeln,
wie die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen, gestärkt und besser in die konkreten Politikfelder eingebunden werden kann.
Vor dem Hintergrund dieser Erfolge ist es nicht besonders hilfreich und glücklich, dass die SPD in ihrem
Antrag die internationalen mit den nationalen Interessen Älterer vermengt hat. Im Gegenteil wird durch den
Antrag die Bedeutung der Interessen Älterer auf der
internationalen Ebene wieder geschmälert, statt auf
ihre Bedürfnisse einzugehen. Daher ist der Antrag abzulehnen.
Im Jahr 2050 wird jede und jeder dritte Deutsche
älter als 60 Jahre sein. Das wird aber nicht nur bei uns
und in anderen Ländern des Nordens der Fall sein,
sondern gilt weltweit. Seriösen wissenschaftlichen
Prognosen zufolge werden im Jahr 2050 weltweit etwa
2 Milliarden Menschen über 60 Jahre alt sein. Heute
sind es gerade einmal 810 Millionen. In praktisch einer Generation wird es insgesamt mehr ältere Menschen auf der Erde geben als Kinder unter 14 Jahren.
Für ein würdevolles Leben im Alter müssen die
Rechte älterer Menschen gestärkt werden, weil es sich
um eine stetig wachsende Gruppe von Menschen handelt, die besonders verletzlich ist. Es ist daher richtig,
wenn die SPD in ihrem Antrag fordert, der besonderen
Schutzbedürftigkeit von älteren Menschen dahin gehend Rechnung zu tragen, dass eine eigene UN-Konvention verabschiedet und ein zuständiger Sonderberichterstatter ernannt werden sollte. Denn was hilft es,
wenn eine Konvention vorhanden ist, aber keine entsprechende Kontrolle stattfindet? Die Linke unterstützt
beide Forderungen ausdrücklich.
Es überrascht mich nicht, dass die Bundesregierung
vehement gegen die Verabschiedung einer UN-Konvention ist. Wer gleich zu Beginn seiner Regierungszeit, wie dies Schwarz-Gelb 2009 getan hat, ausgerechnet bei der nationalen Antidiskriminierungsstelle
den Rotstift ansetzt, zeigt damit, dass er auch bei den
älteren und kranken Menschen die neoliberale Politik
sozialer Grausamkeiten durchexerzieren will. Die sozial Schwachen und die besonders verwundbaren
Gruppen sind immer die Ersten, die es trifft. Darauf ist
bei dieser Bundesregierung immer Verlass gewesen.
Um von der sozialen Kahlschlagpolitik auch in diesem Bereich abzulenken, hat Schwarz-Gelb ein Placebo präsentiert: Es ist die „Demografiestrategie“,
die eine Fülle von unverbindlichen, wohlklingenden
Absichtserklärungen enthält, ohne dabei konkrete Aktionspläne und Instrumente zu präsentieren. Das kennen wir schon zur Genüge aus anderen Bereichen.
Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber älteren
Menschen schreien auch bei uns zum Himmel: Es gibt
einen akuten Pflegenotstand. In Alters- und Pflegeheimen fehlen examinierte Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Stress und Überlastung bestimmen den Arbeitsalltag vieler Beschäftigten, die mit 8,50 Euro pro
Stunde abgespeist werden. Niemand sollte in einem
Zu Protokoll gegebene Reden
solchen verantwortungsvollen Beruf unter 10 Euro pro
Stunde arbeiten müssen. Das fehlt im Antrag der SPD,
der nur sehr allgemein bessere Arbeitsbedingungen
und einen gesetzlichen Mindestlohn für die Beschäftigten fordert, ohne eine konkrete Höhe zu nennen. Die
Leidtragenden dieser kaltherzigen, neoliberalen Arbeitsethik sind die alten und pflegebedürftigen Menschen, die zu wenig menschliche Zuwendung erhalten
und häufig nicht einmal ausreichend zu trinken bekommen. Ruhigstellungen durch Medikamente, Zwangsernährung mittels Magensonden und Fixierungen an
Händen und Füßen sind ebenfalls keine Seltenheiten.
Das sind schwere Einschränkungen in das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen.
Der Großteil der Pflege, etwa zwei Drittel, spielt
sich in der Familie ab. Viele Angehörigen kümmern
sich aufopferungsvoll um ihre alten und kranken Familienmitglieder, obwohl dies oft nur schwer mit dem Beruf zu vereinbaren ist. Sie benötigen mehr gesellschaftliche Anerkennung und stärkere Unterstützung durch
die Politik. Auch das Heimrecht müsste den gesellschaftlichen Realitäten stärker Rechnung tragen. Darauf geht der SPD-Antrag leider überhaupt nicht ein.
Ein heute schon absehbares Problem wird die künftige Altersarmut sein. Durch den von Rot-Grün mit der
Agenda 2010 eingeführten Niedriglohnsektor drohen
vielen heutigen Erwerbstätigen im Alter Minirenten,
die keinen menschenwürdigen Lebensabend mehr garantieren. Frauen werden davon besonders betroffen
sein, da sie infolge von Kindererziehungszeiten und
mehr prekärer Beschäftigung häufiger unterbrochene
Erwerbsbiografien aufweisen als Männer und dementsprechend geringere Rentenansprüche erwerben.
Hinzu kommt ihr längeres Lebensalter. Bereits jetzt
kommen bei den über 80-Jährigen 100 Frauen auf
61 Männer. Daraus lässt sich ableiten: Die künftige
Altersarmut wird ebenso wie die Pflegebedürftigkeit
vor allem ein weibliches Gesicht tragen.
Das wird auch in anderen Bereichen zu ernsthaften
Problemen führen, die der SPD-Antrag vernachlässigt.
Wie verhält es sich beispielsweise, wenn aufgrund der
Rentenkürzungspolitik der Bundesregierung bei gleichzeitiger Preistreiberei auf dem Wohnungsmarkt die
Seniorinnen und Senioren künftig größere Schwierigkeiten haben werden, ihre Mieten zu bezahlen? Der
Zugang zu bezahlbarem und angemessen ausgestattetem Wohnraum ist ein Menschenrecht, das auch Älteren zusteht. Und wie steht es um die Finanzierung von
altersgerechtem Wohnraum, wenn aufgrund der weiter
zunehmenden Lebenserwartung der Menschen auch
der Bedarf steigt und gleichzeitig bei der öffentlichen
Wohnungsbauförderung Ebbe herrscht, weil die Kommunen klamm bei Kasse sind und die Vorgaben der
Schuldenbremse einhalten müssen? Hier muss eindeutig in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen
gedacht werden, was die Auswirkungen der neoliberalen Sozialkahlschlagpolitik der letzten zehn Jahre betrifft, die sich vor allem gegen die Schwächsten der
Gesellschaft richtet. Wenn diese Entwicklung nicht
endlich gestoppt wird, dann wird in Deutschland womöglich schlimmstenfalls Altersarmut sogar bald mit
physisch bedrohlicher Ernährungsarmut einhergehen.
Ein weiteres Problem ist die Altersdiskriminierung.
Es ist völlig inakzeptabel, wenn Menschen aufgrund
ihres Alters von sozialer, politischer und kultureller
Teilhabe ausgeschlossen werden, indem bei Ehrenämtern, Partei-, Vereins- oder Kirchenmitgliedschaften
von vornherein Altersgrenzen existieren oder eingeführt werden sollen oder sie trotz guter Gesundheit zu
Opfern fremdbestimmter Vormundschaft gemacht werden.
Im neoliberalen Gesellschaftsentwurf werden ältere
Menschen primär zu einem „Kostenfaktor auf zwei
Beinen“ degradiert, denen im Rahmen eines „aktivierenden Sozialstaats“ bestenfalls Almosen zustehen.
Die Linke stellt sich dieser menschenverachtenden
Denklogik entgegen: Für uns ist jedes Menschenleben
von materiell unermesslichem Wert.
Ältere Menschen sind eine Bereicherung für die Gesellschaft: Gerade wegen ihrer Lebenserfahrung können sie wichtiges Wissen an jüngere Generationen weitergeben, sich um die Miterziehung ihrer Enkelkinder
kümmern und häufig auch lange Zeit noch selbst aktiv
ihre Interessen und Hobbys bestreiten. Ältere Menschen sind auch das historische Gedächtnis einer Gesellschaft. Wo stünden wir heute als Demokratie und
als Gesellschaft ohne ihre persönlichen Erfahrungen
aus der Zeit des Hitlerfaschismus, des Zweiten Weltkriegs und der jahrzehntelangen Lebensrealitäten in
zwei unterschiedlichen politischen Systemen als Folge
der Teilung Deutschlands? Darauf können und dürfen
wir als Gesellschaft um unserer selbst willen nicht verzichten.
Die älteren Menschen benötigen bessere gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um in der Mitte unserer Gesellschaft in Würde alt werden zu können. Das
ist die Aufgabe der Politik. Der SPD-Antrag liefert
hierfür einige wichtige Anregungen; er bleibt allerdings in etlichen Punkten zu oberflächlich, auch weil
die SPD innerlich immer noch nicht aus ihrer neoliberalen Sackgasse herausgekommen ist, in die sie sich
unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders selbst hineinmanövriert hat. Aus diesem Grund kann sich Die
Linke bei dem Antrag auch nur enthalten, betrachtet
ihn allerdings als einen wichtigen Impuls für die gesellschaftspolitische Debatte, die bei diesem Thema
keinen Zeitaufschub mehr duldet.
Das Leben wird länger. Wir werden immer älter. Die
Anzahl der älteren Menschen wächst. Bis 2050 wird
sich die Zahl der über 60-Jährigen fast verdreifachen:
von knapp 740 Millionen auf 2 Milliarden Menschen.
Vor allem in den Industrieländern werden 2050 etwa
ein Drittel der Menschen älter als 60 Jahre sein.
Diese demografische Verschiebung bedeutet für uns
einen Gewinn, für die gesellschaftlichen Kapazitäten
Zu Protokoll gegebene Reden
eine Herausforderung. Es sind Gesetze und Maßnahmen nötig, die auf den demografischen Wandel zugeschnitten sind.
Alt sein heißt nicht krank sein. Viele ältere Menschen tragen zu unserer Gesellschaft bei. Wir müssen
lernen, wo wir sie besonders fördern können, aber
auch, wie wir sie besser schützen können. Das ist Aufgabe der Staaten. Deshalb muss die internationale Gemeinschaft Grundsätze und Regeln für die Menschenrechte Älterer erarbeiten.
Bereits 1982 beriefen die Vereinten Nationen in
Wien die erste Weltversammlung zur Frage des Alterns
ein. Acht Jahre später hat die Generalversammlung
die Resolution 45/106 verabschiedet. Sie war die
Grundlage für einen internationalen Aktionsplan. Der
1. Oktober wurde als „Internationaler Tag der älteren
Menschen“ ausgerufen - zu mehr hat das allerdings
nicht geführt.
Unter den Schlagwörtern „Unabhängigkeit“, „Partizipation“, „Fürsorge“, „Selbstverwirklichung“ und
„Würde“ nennt die VN-Resolution 46/91 konkrete
Richtlinien für die nationalen Aktionspläne. Das hat
die Bundesregierung erst 2007 zur Kenntnis genommen und daraufhin einen nationalen Aktionsplan entworfen. Die Maßnahmen und ihre Umsetzung waren
und sind bis heute dürftig.
Die Wahl der Bundesrepublik in den VN-Menschenrechtsrat im Dezember 2012 bietet Deutschland die
Gelegenheit, einen neuen Anlauf zu machen. Deutschland soll eine Konvention zu den Rechten der Alten
einbringen. Solche Konventionen gibt es schon für andere schutzbedürftige Gruppen in der Gesellschaft,
wie zum Beispiel die VN-Kinderrechtskonvention oder
auch die Behindertenrechtskonvention. Schon die Diskussionen zu den Konventionen haben etwas gebracht.
Im Antrag wird gefordert, einen VN-Sonderberichterstatter einzusetzen. Dem kann ich nur zustimmen.
Mit dieser Institution würde man nicht nur problemorientiert handeln, sondern auch deutlich machen,
dass man den demografischen Wandel ernst nimmt und
auf die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaften eingeht. Der Bericht im Juli 2007 von Vernor
Muñoz, Sonderberichterstatter für das Menschenrecht
auf Bildung, war ein Erfolg. Er hat deutliche Missstände im deutschen Bildungssystem aufgezeigt, wie
zum Beispiel die Chancenungleichheit von Kindern
von Migranten oder Kindern mit Behinderung. Sein
Bericht löste damals eine längst notwendige Diskussion in der BRD über Chancengleichheit im Bildungssystem aus.
Ein VN-Sonderberichterstatter sollte nicht davor
zurückschrecken, jede Bundesregierung auf die bestehende Altersdiskriminierung hinzuweisen. Der Sonderberichterstatter für die Menschenrechte älterer
Menschen sollte regelmäßige, unabhängige Berichte
liefern, Missstände aufzeigen und konstruktive Kritik
äußern. Er soll positive Umsetzungsbeispiele, best
practices, auflisten, an denen sich ein handlungs- und
nicht nur schönwetterbezogener Aktionsplan orientieren kann.
Eine VN-Konvention würde nicht nur die Situation
der Älteren in der Bundesrepublik ändern. Wir könnten
ein weltweites Zeichen setzen. Der 69-jährige kolumbianische Bauer im Hochland sollte dieselben Rechte
auf Älterwerden in Würde haben wie der 69-jährige
Bundestagsabgeordnete. Unser Leben ist sehr verschieden verlaufen, an Würde sind wir jedoch immer
gleich gewesen - in jedem Alter.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13220, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12399 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Öko-Landbaugesetzes
- Drucksache 17/12855 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})Rechtsausschuss
Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Umetikettierung von Pferdefleisch auf europäischer
Ebene und mutwillige Falschdeklaration vermeintlicher Bioeier in Deutschland: Die aktuellen Lebensmittel- und Haltungsskandale machen deutlich, dass
Transparenz und Rückverfolgbarkeit fundamentale Bestandteile eines wirksamen Verbraucherschutzes sind.
Das gilt sowohl für Produkte des konventionellen
Landbaus als auch im Ökobereich.
Den Ökokontrollstellen wird hierbei eine wichtige
Aufgabe zuteil. Sie überprüfen die Einhaltung der Vorgaben der EG-Öko-Basisverordnung aus dem Jahr
2007. Die Durchführungsverordnung Nr. 426/2011 der
EU gilt seit dem 1. Januar 2013 und hat einen stärkeren Verbraucherschutz zum Ziel. Demnach müssen alle
von den Ökokontrollstellen registrierten Unternehmen
in öffentlichen Verzeichnissen geführt und im Internet
der Bevölkerung zugänglich gemacht werden. In weiten Teilen entsprechen die Vorgaben der EU-Durchführungsverordnung bereits den aktuellen Bestimmungen des Öko-Landbaugesetzes. Lediglich die
Informationen der Kontrollstellen über kontrollierte
Unternehmen, die nicht zur Biokennzeichnung berechtigt sind, sowie die Angabe der Geltungsdauer der
Kontrollbescheinigungen sind nicht in der nationalen
Gesetzgebung verankert und sollen mit EU-Recht harmonisiert werden.
Um Verbrauchern mehr Informationen zu ermöglichen, hat die Konferenz der Kontrollstellen für den
ökologischen Landbau e. V., KdK, auf freiwilliger Basis eine zentrale Internetplattform bereitgestellt, die
die Verzeichnisse und Bescheinigungen der Datenbanken der einzelnen Kontrollstellen bündelt. Die Plattform wurde Ende 2012 ins Leben gerufen, führt aber
bisher nur die Aktivitäten der KdK-Mitglieder auf.
Hiermit werden circa 90 Prozent der ökologisch bewirtschafteten Landwirtschaftsfläche abgedeckt. Eine
Vervollständigung der zentralen Plattform wird angestrebt und scheint mir vor dem Hintergrund, dass die
entscheidenden Informationen ohnehin von den einzelnen Kontrollstellen bereitgestellt werden müssen, auch
ohne besonderen Mehraufwand oder Gegenwehr realisierbar. Außerdem könnten weiterführende Ergänzungen und Verpflichtungen in den Zulassungsbescheiden
für die Kontrollstellen aufgeführt werden.
Die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung betrachte ich in Anbetracht des zusätzlichen Verwaltungsaufwands kritisch, zumal nach der EU-Durchführungsverordnung keine einheitliche Datenbank
vorgeschrieben wird. Jedoch sollte gerade der sensible
Bereich der Kontrollstellen, die im Zuge der aktuellen
Lebensmittelskandale mehr und mehr in den Mittelpunkt rücken, eindeutig, einfach und verpflichtend geregelt sein. Die Abwägung zwischen neuen bürokratischen Zwängen und Sicherheit für den Verbraucher
fällt nicht immer leicht. Vorsätzliche Betrügereien Einzelner lassen sich nicht durch Gesetzesänderungen
vermeiden.
Die Lebensmittelbranche ist auf Akzeptanz und Vertrauen der Verbraucher angewiesen. Gleichermaßen
fordert der Verbraucher zum Beispiel einen transparenten Produktionsprozess, um sich von der versprochenen Qualität des Produktes überzeugen zu können.
Skandale müssen lückenlos aufgeklärt und die Verursacher benannt werden können. Hierzu sind verpflichtende Maßnahmen innerhalb der Produktions-, Handels- und Kontrollkette von großer Wichtigkeit. Es
muss eindeutig festgestellt werden können, welches
Glied seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist.
Das gilt insbesondere zum Schutz der Erzeuger, die
häufig als Sündenbock an den Pranger gestellt werden, jedoch wenig Einfluss auf die folgenden Akteure
in der Wertschöpfungskette haben. Die Kontrollstellen
haben eine zentrale Stellung im Kontext des Verbraucherschutzes. Vor diesem Hintergrund halte ich die
Gesetzesänderung für eine gangbare Lösung.
Die landwirtschaftliche Intensivtierhaltung in ihrer
jetzigen Form hat umfassende negative Folgen für uns
und unsere Umwelt. Das hat die Gesellschaft längst
erkannt. Das hat auch die Wirtschaft in weiten Teilen
erkannt. Darauf weisen wir Sozialdemokraten seit
Jahren hin. Einzig die Bundesregierung hinkt mit ihren
groß angekündigten Aktionsplänen und Werbemaßnahmen hinterher. Dies wirkt angesichts der bestehenden Probleme fast grotesk. Um nur einige zu nennen:
Langzeitschäden für die Umwelt, gefährliche Bodenund Luftimmissionen, Klimawandel, Bodenerosion
durch falsche Bewirtschaftung, Gefährdung der Artenvielfalt, schlechte Arbeitsbedingungen, mangelhafte
Ernährung und Krankheiten bei Mensch und Tier. Was
ich neben den gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Aspekten besonders hervorheben möchte, ist die
millionenfache Tierquälerei. Auch die Lebensmittelund Verbraucherskandale 2013 scheinen endlos zu
sein. Diese reichen von Ehec-Erregern im Gemüse
über Dioxin im Schweinefleisch bis hin zu BSE in der
Rinder- oder Antibiotika in der Geflügelproduktion.
Allein wegen der Skandale wäre es daher nur eine
logische Konsequenz die bisherige Politik infrage zu
stellen und umzustellen. Denn die strukturellen Ursachen liegen oftmals in der derzeitigen Form der landwirtschaftlichen Intensivtierhaltung und der schlechten Politik der Bundesregierung. Wir Verbraucher
haben Besseres verdient und wollen auch Besseres.
Wir haben einen Anspruch auf qualitativ hochwertige
Produkte, bei denen wir uns sicher sein können, dass
sie unbelastet sind und unter besseren Bedingungen
hergestellt wurden. Immer mehr Verbraucherinnen
und Verbraucher ernähren sich deswegen bewusster
und achten beim Lebensmittelkauf auf den Tierschutz
und die Qualität der Produkte.
Die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten steigt
ständig. Das Wachstum in der Biobranche spiegelt
diese bewusste Entscheidung wider: Allein letzes Jahr
wuchs der Biomarkt um 6 Prozent, der Umsatz lag sogar erstmals über 7 Milliarden Euro. Der Bioanteil am
gesamten Lebensmittelumsatz in Deutschland erhöht
sich damit auf 3,9 Prozent. In den letzten 10 Jahren hat
sich das Volumen verdreifacht. Momentan liegen wir
flächenmäßig bei 6,3 und bei der Zahl der Betriebe bei
rund 8 Prozent. Deutschland ist derzeit weltweit Bioland Nummer zwei hinter den USA.
Das größte Problem bleibt indes offensichtlich: Die
Umsatzsteigerungen ergeben sich zu einem guten Teil
aus Preissteigerungen infolge der Angebotsknappheit.
Mit anderen Worten: Die Nachfrage übersteigt schon
jetzt das Angebot, weil die vorhandenen Potenziale
noch lange nicht ausgeschöpft sind. Trotz der enorm
steigenden Nachfrage nach Biofleisch im letzten Jahr,
die zum Teil nicht befriedigt werden konnte, wuchs der
Anteil der ökologisch bewirtschafteten Flächen nur um
magere 2,7 Prozent. Das hat zur Folge, dass viele Bioprodukte noch immer importiert werden müssen, was
lange Transportwege nach sich zieht und damit die
Nachhaltigkeit infrage stellt.
Zwischen Angebot und Nachfrage besteht eine derart große Diskrepanz, dass wir unbedingt handeln
müssen. Denn damit kommen wir nicht nur den Verbraucherinnen und Verbrauchern entgegen; wir unterstützen auch die ökologischen Landwirte selber, deren
Bemühungen sich lohnen müssen. Vor allem müssen
Zu Protokoll gegebene Reden
wir aber auch handeln, um die gesamte Ernährungswende zu unterstützen, hin zu mehr Nachhaltigkeit,
Tierschutz und Umweltbewusstsein.
Dass Nachhaltigkeit auch in der Praxis erreicht
werden kann, zeigen die unzähligen erfolgreichen
Biounternehmen in Deutschland, die den Spagat zwischen wirtschaftlichem Erfolg, fairem Umgang mit Arbeitnehmern und Kunden sowie höchster Qualität der
ökologischen Lebensmittel hinbekommen. Die Biolandwirte sowie die Verarbeiter und Händler entsprechen damit nicht nur dem Wunsch des Verbrauchers,
sondern sind auch den notwendigen politischen Schritten voraus.
Die Bundesregierung tut zu wenig für den Ökolandbau. Dies zeigte sich auch bei den Verhandlungen über
die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EUEbene. Statt die Zahlungen aus Brüssel an konkrete
ökologische Maßnahmen und Leistungen zu koppeln,
wird gezögert und gezaudert. Ein Schelm, wer dabei
nicht die große Agrarlobby im Hintergrund jubeln
sieht.
Angesichts aller Probleme muss aber selbst
Schwarz-Gelb endlich Farbe bekennen und den Schritt
zu mehr Ökolandbau wagen. Die letzte große Studie
des Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hat bestätigt, dass ein großer Teil der Landwirte angesichts der
fehlenden Rechtssicherheit und der komplizierten Verfahren verunsichert ist, wenn es darum geht, auf ökologische Landwirtschaft umzusteigen. Hier kann die
Bundesregierung direkt Abhilfe schaffen. In bewährter
Manier wird stattdessen gezögert und abgewartet.
Der Bundesrat hat indes mit rot-grüner Mehrheit
den richtigen Vorschlag einer gemeinsamen Internetdatenbank gemacht. Der Gesetzentwurf begleitet und
präzisiert die Auflagen des EU-Rechts durch eine nationale Regelung. Was die Bundesregierung also weiterhin hinausschiebt, packt der Bundesrat jetzt an:
eine klare und einheitliche Rahmenregelung, die
Rechtssicherheit bietet und allen Beteiligten im Internet Zugang zu den Daten verschafft. Damit wollen wir
mehr Transparenz schaffen und die Kontrolle erleichtern. Künftig könnte sogar die Papierdokumentation
durch eine elektronische Dokumentation der Zertifikate ersetzt werden und damit die Arbeit auf betrieblicher Ebene erleichtert werden. Dies ist zwar nur ein
Baustein in einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die
noch nötig sind, um den Ökolandbau zu stärken, aber
ein wichtiger. Denn er betrifft direkt die Arbeit vor Ort
und stärkt den Verbraucherschutz.
Natürlich muss es auch hier weitergehende Verbesserungen geben. Um eine praktikable Handhabung in
den Kontrollstellen zu gewährleisten, könnte man beispielsweise die Berichtspflicht so definieren, dass eine
Aktualisierung auf den folgenden Werktag erfolgt. Außerdem könnte man den Kontrollstellen insofern entgegenkommen, als dass eine Berichtspflicht nicht rückwirkend, sondern sofort mit dem Tag des Inkrafttretens
besteht.
Unsere Landwirte und Kontrollbehörden sind der
Schlüssel zu einer nachhaltigen Ernährungswende. Sie
brauchen diese Art der Unterstützung und Förderung,
damit sie auf ökologische Produktion umstellen können. Unsere Landwirte sind der Schlüssel für die Lösung vieler Probleme, vor denen wir stehen. Stellen wir
die Landwirtschaft endlich auf die Zukunft ein! Dazu
gehört insbesondere die Unterstützung der ökologischen Landwirtschaft bei uns in Deutschland.
In Deutschland sind 20 Kontrollstellen für die Kontrolle von Ökobetrieben zugelassen. Nach der EUÖko-Verordnung müssen diese Kontrollstellen aktuelle
Verzeichnisse der von ihnen kontrollierten Öko-Unternehmen führen und diesen Unternehmen außerdem Bescheinigungen ausstellen. Seit dem 1. Januar 2013
verpflichtet das EU-Recht zusätzlich die Mitgliedstaaten, die aktualisierten Verzeichnisse mit den aktualisierten Bescheinigungen für die einzelnen Unternehmer, unter Beachtung der Anforderungen an den
Schutz personenbezogener Daten, im Internet der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Regelung
zielt darauf ab, Verbraucherinnen und Verbrauchern
die Möglichkeit zu bieten, sich über die Unternehmer
und deren Erzeugnisse, die dem Kontrollsystem für
Bioprodukte unterliegen, zu informieren.
Der Bundesrat hat dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die EU-rechtlichen Vorgaben
für die Veröffentlichung von Verzeichnissen und Bescheinigungen der Biounternehmen durch die Kontrollstellen in nationales Recht umgesetzt und konkretisiert werden sollen. Die Bundesregierung ist in ihrer
Gegenäußerung dem Gesetzentwurf des Bundesrates
teilweise gefolgt. Es gibt bereits eine durch den Bund
geförderte Datenbank mit allen relevanten Informationen. Die Konferenz der Kontrollstellen für den ökologischen Landbau e. V. , KdK, bietet bereits eine geeignete Internetseite an. Diese Datenbank ist für die
Veröffentlichung der Verzeichnisse der Betriebe und
die zugehörigen Bescheinigungen geeignet. Sie bietet
Recherchemöglichkeiten zu allen deutschen Unternehmen, die dem Kontrollverfahren des ökologischen
Landbaus unterliegen. So können bereits jetzt alle aktuellen Daten und Informationen aus den angebundenen Kontrollstellen abgerufen werden. Das Rad muss
nicht ein weiteres Mal erfunden werden.
Das Anliegen der Länder, Vorgaben zur Veröffentlichung in einem Bundesgesetz zu regeln, dient der vergleichbaren Transparenz und wird auch von der FDP
unterstützt.
Zur bundesweiten Bündelung der Verzeichnisse zu
einem zentral geführten Verzeichnis schlägt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vor, im Gesetz zunächst keine Regelungen vorzunehmen. Hier müssen
erst die rechtlichen und administrativen Möglichkeiten
für eine solche Bündelung geprüft werden. Diese Einschätzung teilt die FDP.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im weiteren parlamentarischen Verfahren will die
FDP insbesondere prüfen, ob die Veröffentlichung aller Öko-Bescheinigungen über fünf Jahre hinweg tatsächlich sinnvoll ist. Als problematisch sehen wir nicht
nur datenschutzrechtliche Aspekte an, sondern auch
eine mögliche Unübersichtlichkeit bei einer hohen Anzahl von bescheinigungsrelevanten Vorgängen. Wir
wollen keinen Datenfriedhof schaffen. Ziel ist die
Transparenz der Kontrollvorgänge, nicht jedoch das
Ansammeln und Veröffentlichen von möglichst vielen
Bescheinigungen. Dieses erzeugt eine Scheintransparenz, die dem Anliegen der Transparenz gerade widerspricht.
Im Übrigen gilt für Unternehmen der Biobranche,
was für alle Unternehmen gilt: Sie sind für ihre Produkte verantwortlich. Auch sie müssen vor einer Veröffentlichung Gelegenheit bekommen, Verdachtsmomente auszuräumen. Bei einem tatsächlichen Verstoß
gegen die EU-Öko-Verordnung steht einer Veröffentlichung der Bescheinigung nichts im Wege. Die Dokumentation aller Bescheinigungen, die einen Betrieb
betreffen, durch die Kontrollstellen bleibt gewährleistet. Sie müssen von den Kontrollstellen bereits heute
sechs Jahre aufbewahrt und den Behörden zur Verfügung gestellt werden. So können Unternehmen, welche
häufig Verdachtsmomente aufweisen, trotzdem risikoorientiert kontrolliert werden.
Die FDP hält eine klare, einheitliche und rechtssichere Umsetzung der EU-Veröffentlichungspflicht, im
Sinne der Verbraucherinformation und im Sinne der
am Markt beteiligten Unternehmen, in Form eines Gesetzes für zweckmäßig und wird sich konstruktiv in das
Verfahren einbringen.
Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf zum
Öko-Landbaugesetz, den der Bundesrat eingebracht
hat. Worum geht es? Mit diesem Gesetz sollen verbindliche Regelungen für die Veröffentlichung von Kontrolldaten im Bereich der Öko-Landwirtschaft im Internet getroffen werden. Dieses Vorhaben wird von der
Linken unterstützt, obwohl die Kontrollstellen und deren Verbund von sich aus bereits auf dem Weg waren,
die Internetveröffentlichung voranzutreiben. Aber eine
verbindliche gesetzliche Regelung schadet nicht - im
Gegenteil.
Damit wird jeder Betrieb, der ökologische Produkte
produziert und anbietet oder mit ihnen handelt, künftig
im Internet zu finden sein. Damit lässt sich dann von
jedem und zu jeder Zeit überprüfen, ob als Öko-Produkte deklarierte Waren tatsächlich dem von der EU
vorgegebenem Kontrollsystem der Öko-Landwirtschaft
entsprechen. Betriebe, die dort nicht registriert sind,
dürfen keine Öko-Produkte verkaufen. Die Gestaltung
einer einheitlichen bundesweit gültigen Internetplattform vereinfacht das Auffinden der Betriebe. Eine
solche Transparenz ist angesichts der zunehmenden
Anteile von Öko-Produkten im Lebensmittelhandel
wichtig und auch im Sinne von Verbraucherinnen und
Verbrauchern sowie den seriös arbeitenden Erzeugungs-, Verarbeitungs- und Handelsbetrieben. Unseriöse Geschäftspraktiken in der Erzeugung und im
Handel mit Bioprodukten werden damit erschwert.
Dass diese immer wieder vorkommen, haben zuletzt
der Skandal um falsch deklarierte Bioeier oder das illegal als ökologisch gekennzeichnete Futtergetreide
aus Osteuropa gezeigt. Nicht nur in der Erzeugung,
auch in den Zwischenstufen der ökologischen Lebensmittelkette gibt es immer wieder Probleme mit Betrug.
Ein heute fast überall verfügbarer Internetzugang
macht es den Akteuren auf allen Ebenen vergleichsweise leicht, zu überprüfen, ob eingekaufte Ware von
Betrieben kommt, die ordnungsgemäß kontrolliert und
registriert sind. Die Voraussetzung dafür ist die
Pflicht, dass die dafür notwendigen Daten im Netz veröffentlicht werden. Ein auf Freiwilligkeit beruhendes
System weist immer Lücken auf und ist damit anfälliger für Betrug. Die von den Bundesländern geforderte
gesetzliche Pflicht für die Internetveröffentlichung
schließt diese Lücke. Die Veröffentlichung im Internet
wäre handhabbar, praxisnah und effizient.
Immer wichtiger werden in diesem Kontext die ÖkoKontrollstellen. Dass diese vernünftig und sauber arbeiten, ist die Voraussetzung für ein vergleichsweise
großes Vertrauen, das Verbraucherinnen und Verbraucher den Bioprodukten entgegenbringen. Das Kontrollsystem im Öko-Landbau hat sich im Prinzip bewährt, auch wenn es im Zusammenhang mit den
Kontrollen der Legehennen in Öko-Betrieben Schwächen gezeigt hat. Auch die Öko-Branche muss darauf
reagieren, dass mit den größeren Marktanteilen und
dem steigenden Kostendruck auf die Erzeuger auch die
Versuchung zum Verstoß gegen Richtlinien größer geworden ist. Konsequenzen wurden inzwischen gezogen, und es bleibt zu hoffen, dass ein Versagen an dieser Stelle die Ausnahme bleibt.
Für die Überwachung der Kontrollstellen ist die
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, kurz
BLE, zuständig. Sie muss sicherstellen, dass die Standards der Biokontrollen eingehalten werden, und sie
vergibt die Zertifikate, die die Öko-Kontrollstellen zu
ihrer Arbeit autorisieren. Über diese Regelungen sind
die Kontrollen letztlich staatlich garantiert. Der gesamte Warenstrom von Öko-Produkten unterliegt damit der Kontrolle, und die Ergebnisse dieser Kontrollen sind zu veröffentlichen! Das wäre dann nämlich
sehr viel umfassender und transparenter als alle anderen Kontrollsysteme, die es noch in der Lebensmittelerzeugung gibt.
Johannes Remmel, Minister ({0}):
Der Bundesrat legt den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Öko-Landbaugesetzes vor.
Hintergrund dieser Gesetzesänderung ist die nationale Umsetzung der EU-Verordnung Nr. 426 vom
2. Mai 2011. Diese EU-Verordnung sieht vor, dass die
Mitgliedstaaten ab dem 1. Januar 2013 „aktualisierte
Zu Protokoll gegebene Reden
Minister Johannes Remmel ({1})
Verzeichnisse“ aller „Öko Unternehmen“ - das heißt
aller Landwirte, Verarbeiter und Handelsunternehmen,
die Ökoprodukte entsprechend der EU-Vorschriften er-
zeugen, verarbeiten und mit ihnen handeln - im Inter-
net veröffentlichen müssen. In Deutschland sind dies
inzwischen 34 000 Unternehmen. Gleichzeitig müssen
in diesem Verzeichnis die „Öko Vermarktungs-Be-
scheinigungen“ dieser 34 000 Unternehmen aufge-
führt werden.
In dem im Internet veröffentlichten Verzeichnis sol-
len sich Verbraucherinnen und Verbraucher zukünftig
informieren können, ob die gekauften Ökolebensmittel
tatsächlich von kontrollierten und zertifizierten Unter-
nehmen stammen. Diese größtmögliche Transparenz
soll nicht nur den Käufern helfen, sondern insgesamt
der Biobranche einer Nachverfolgung und Absiche-
rung aller Warenströme dienen. Nicht zuletzt soll das
umfangreiche Verzeichnis den in Deutschland zugelas-
senen 20 privaten Ökokontrollstellen und den in den
Bundesländern tätigen Überwachungsbehörden bei
der Betrugsabwehr helfen.
Wie so häufig bei EU-Regelungen müssen auf natio-
naler Ebene ergänzende Rechtsvorschriften erlassen
werden, um das EU-Recht in Deutschland sinnvoll und
gezielt ausführen zu können.
Der Bundesrat musste diese ergänzenden Rechts-
vorschriften jetzt vorlegen, da die Bundesregierung
sich bisher weigerte, solche präzisierenden Regelun-
gen im Öko-Landbaugesetz zu erlassen. Unter allen
Bundesländern bestand hingegen vollständige Einig-
keit, dass die generalklauselartigen EU-Vorschriften
durch klare, eindeutige und rechtssichere Durchführungs-
regeln zu konkretisieren seien.
In ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bun-
desrates hat die Bundesregierung am 20. März 2013
schließlich eingesehen, dass sie dem wiederholt be-
kundeten Willen der Länder nach einer klaren recht-
lichen Verankerung im Öko-Landbaugesetz nicht mehr
im Wege stehen möchte und hat jetzt einen eigenen Än-
derungsentwurf des Öko-Landbaugesetzes vorgelegt.
Viele Änderungsvorschläge des Bundesrates greift
die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf auf. Aber
in einem entscheidenden Punkt weicht der Vorschlag
des BMELV von dem des Bundesrates ab.
Die EU-Regelung sieht bedauerlicherweise nicht
vor, dass es in jedem Mitgliedstaat ein einheitliches
Verzeichnis geben muss. Der Bundesrat hatte daher
ausdrücklich formuliert, es müsse ein „bundesweit
einheitliches Verzeichnis“ in Deutschland geben. Die-
ser Passus fehlt im Vorschlag der Bundesregierung.
Was nützt es den Verbrauchern aber, wenn sie - wie in
Deutschland - in vielen verschiedenen Verzeichnissen
der 20 Ökokontrollstellen prüfen müssen, ob die ein-
gekauften Lebensmittel tatsächlich von kontrollierten
Unternehmen stammen? Und wie soll in Betrugsfällen
die Biobranche schnell informiert werden, wenn es
kein rechtsverbindliches gemeinsames Verzeichnis gibt?
Das BMELV hat in seiner Erwiderung auf den Ge-
setzesvorschlag des Bundesrates zwar auch eine Bün-
delung der bislang zersplitterten Informationsange-
bote befürwortet, hält aber anscheinend eine vom
Dachverband der Kontrollstellen angebotene freiwil-
lige und privatwirtschaftliche Lösung für ausreichend.
Deshalb möchte ich Sie, sehr geehrte Bundestags-
abgeordnete, herzlich bitten, dem Antrag des Bundes-
rates zuzustimmen und nicht dem unvollständigen Vor-
schlag der Bundesregierung zu folgen. Damit möchte
ich ein deutliches Signal des ernst gemeinten Verbrau-
cherschutzes setzen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll
die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
17/12855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgenommen werden. Gibt es dazu andere Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Gustav Herzog, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Organisationserlass zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung stoppen - Reform rechtssicher gestalten
- Drucksache 17/13228 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})-
Innenausschuss-
Sportausschuss-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für Tourismus-
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ohne Beschlussfassung des
Deutschen Bundestages und Bundesrates verhindern
- Drucksache 17/13229 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss
Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Dieser Antrag der SPD-Fraktion ist der bisher realistischste und überzeugendste, den ich in den letzten
Jahren gesehen habe. Er ist das, was viele Anträge der
Opposition nicht sind. Er ist visionär. Er ist zukunftsweisend.
Heute, liebe Kollegen von der Union, muss ich die
Sozialdemokraten loben: ihren Realitätssinn, ihre
Expertise und ihre Fähigkeit, die Zukunft einzuschätzen. Sie fordern in ihrem Antrag die Bundesregierung
dazu auf, nach der Bundestagswahl einen neuen
Dialogprozess über die zukünftige Struktur der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu beginnen. Das ist
richtig analysiert. Diese Bundesregierung wird in der
Tat auch nach der Bundestagswahl Bundesregierung
sein. Danke für diese Bestätigung!
Ansonsten bieten der SPD-Antrag wie auch der Antrag der Linken inhaltlich wenig Neues. Die Kolleginnen und Kollegen tun das, was sie bei Reformen und
Veränderungen immer tun: Sie schüren Angst - Angst
vor dem Neuen, Angst vor dem Ungewohnten, Angst
vor dem Besseren.
Dabei wäre das Gegenteil richtig. Ein Blick in die
Natur lehrt uns dies. Arten, die sich verändernden
Lebensbedingungen nicht anpassen, sterben aus oder
überleben nur in ganz bestimmten, abgetrennten Biotopen. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Staatsapparat. Er muss sich immer wieder den geänderten
Lebensverhältnissen anpassen. Sonst verliert er seine
Legitimität. Genau deshalb will diese Koalition der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung das Schicksal der
Dinosaurier ersparen.
Gewandelte Verhältnisse erfordern gewandelte
Behördenstrukturen. Lobend erwähnen möchte ich an
dieser Stelle die Grünen, die den Reformbedarf bei der
WSV erkannt haben und die Debatte in den vergangenen Monaten kritisch, aber konstruktiv begleitet
haben. Daran könnte sich die übrige Opposition ein
Beispiel nehmen.
Denn es ist unstrittig, dass die Struktur der WSV
veraltet ist. Deshalb richten wir die Generaldirektion
für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn ein. Dies
wird durch einen Einrichtungserlass unter Wahrung
der personalvertretungsrechtlichen Belange geschehen. Ein Gesetz brauchen wir dazu nicht.
Zum einen gibt es keinen Vorbehalt derart, dass eine
solche Organisationsänderung nur durch Gesetz oder
Rechtsverordnung erfolgen darf. Zum anderen ist sie
durch das Selbstorganisationsrecht der Verwaltung gedeckt. Dies ist auch - zumindest außerhalb der Opposition - nachvollziehbar: Die Verwaltung muss in der
Lage sein, sich so zu organisieren, dass sie die ihr
übertragenen Aufgaben so gut, so schnell und so effizient wie möglich erfüllen kann.
Das ist auch richtig so: Sonst würden wir im Deutschen Bundestag einen großen Teil unserer Zeit damit
verbringen, über veränderte Organisationsformen von
Behörden zu entscheiden. Das kann nicht Aufgabe des
Gesetzgebers sein. Das ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers.
Insofern wird die Errichtung der Generaldirektion
für Wasserstraßen und Schifffahrt in der angemessenen und gesetzlich gebotenen Form erfolgen. So wird
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch weiterhin eine von allen Seiten geachtete Existenz als flexible
und kompetente Behörde mit hochmotivierten Mitarbeitern sicher sein. Warum wollen Sie dies nicht, meine
Damen und Herren von der Opposition?
Warum wollen Sie verhindern, dass die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung mit einer erneuerten Organisationsform fit für die Zukunft wird? Warum wollen Sie
verhindern, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch weiterhin attraktive Arbeitsplätze für
hochmotivierte Mitarbeiter schafft? Warum wollen Sie
verhindern, dass unsere Wasserstraßen effektiv und
hochwertig bewirtschaftet werden?
Die Errichtung der Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt ist der erste Schritt in die
Moderne der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung.
Weitere werden folgen.
Es werden aber Schritte in die richtige Richtung
sein. Die Kernkompetenzen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung werden wir nicht antasten. Das aber,
was andere besser können, soll die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an andere vergeben. Diese Balance
werden wir halten. Es ist doch ganz selbstverständlich,
dass die Erledigung einiger Aufgaben durch Private
nicht zu einem Kompetenzverlust beim Staat führen
darf. Um es ganz klar zu sagen: Diese Koalition wird
sich nicht von Oligopolen abhängig machen.
Genauso klar ist, dass hoheitliche und sicherheitsrelevante Aufgaben auch weiterhin von der WSV erledigt werden, erledigt werden müssen. Wir wollen keinen trägen, verfetteten Staat; wir wollen einen starken,
schlanken Staat, einen Staat, der eingreift, wo es nötig
ist - aber auch nur da.
Daher kann ich auch nicht erkennen, dass hier in irgendeiner Weise die Kernkompetenzen der Wasserund Schifffahrtsverwaltung tangiert, geschweige denn
vernichtet werden. Das sind Unterstellungen. Es sind
Unterstellungen von Leuten, die auch morgen noch im
Gestern leben wollen.
Wir aber wollen und werden in einem zeitgemäßen
Morgen leben. Wir nehmen schon heute Kurs auf die
Zukunft.
Zum wiederholten Male setzen wir uns heute mit der
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes auseinander. Während wir in den vergangenen
Plenardebatten versuchten, mit den bösen Gerüchten
über den Inhalt dieser Reform aufzuräumen, hat die
Opposition des Deutschen Bundestages nun einen
neuen Kritikpunkt am Vorgehen um die WSV gefunden.
Im Wesentlichen handelt es sich zwar um alten Wein in
neuen Schläuchen - da es hier sicher nicht um den Organisationserlass, sondern um die Reform als solche
geht -, aber dennoch möchte ich die erneute Chance
Zu Protokoll gegebene Reden
nutzen, um zum aktuellen Vorgehen des BMVBS in dieser Angelegenheit Stellung zu beziehen.
Nachdem das Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung richtigerweise den Ländern
einen Entwurf zum Zuständigkeitsanpassungsgesetz
vorgelegt hat, wurde dieser vorerst noch nicht in das
Plenum eingebracht. Stattdessen werden nun die ersten Schritte der Reform via Ordnungserlass durchgeführt. Dieses Verfahren ruft nun bei Ihnen Kritik
hervor, weil Sie selbstverständlich wissen, dass sich
die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat geändert haben und Sie dieses Vorgehen damit begründen.
Tatsächlich aber wehrt sich niemand gegen ein
Anpassungsgesetz oder den weiteren Dialog darüber.
Diesbezüglich muss man erwähnen, dass der Ordnungserlass und das Gesetz ganz unterschiedliche
Regelungsinhalte haben. Der Entwurf des Zuständigkeitsgesetzes erhielt so keine Organisationsregelung.
Davon abgesehen, steht es auch nirgends geschrieben,
dass die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt
davon ausging, dass die Einrichtung der GDWS ein
Rechtsbereinigungsgesetz benötigt. Und auch in Ihren
Anträgen finde ich dazu keinerlei rechtlich begründete
Argumente. Sie halten sich also wieder einmal nicht an
die Fakten. Aber das kennen wir aus den vergangene
Debatten um die Reform ja bereits.
Und meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen
aus der Opposition, wir wissen selbstverständlich,
dass es Kritiker gibt. Die gibt es bei jeder Reform.
Deshalb haben wir hier auch nichts von heute auf morgen über das Knie gebrochen, sondern einen langen
Reformprozess beratend und reflektierend begleitet.
Wir haben über Jahre hinweg immer wieder an der
WSV-Reform geformt und gefeilt. Sie selbst waren bisher nicht willens dazu, oder im Falle der Linken auch
noch nie in der Regierungsverantwortung, und kritisieren deshalb unsere Schritte nur noch um des Kritisierens willen.
Natürlich ist Kritiküben eine wesentliche Aufgabe
der Oppositionsfraktion. Allerdings sollte man nach
ein paar Jahren vielleicht auch vernünftige Vorschläge
erwarten können. Darauf nämlich warten wir schon
lange vergeblich.
Und auch die Menschen in der Verwaltung wissen,
dass Sie jahrelang nur mit heißer Luft um sich geblasen haben, anstatt mal da anzugreifen, wo der Schuh
wirklich drückt. Und so sind auch diese Anträge lediglich Hilfeschreie, um mit wehenden Fahnen in den
Bundestagswahlkampf zu ziehen und doch noch das
eine oder andere gutgläubige Wählerpotenzial ausfindig zumachen. Denn die Notwendigkeit einer Reform
ist inzwischen vielfach unbestritten.
Sollte es sich hier um rein rechtliche Bedenken handeln, existiert selbstverständlich immer die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Auch ich kann und will
hier nicht die Rolle der Justitia übernehmen und vorschnell urteilen. Dennoch muss ich darum bitten, mit
den Gerüchten darüber aufzuräumen, wir würden die
Länder ihrer Stimme berauben und im stillen Kämmerlein vor uns hin brüten. Vor allem die Länder waren
während des Prozesses eingeflochten und werden es
auch zukünftig weiter sein.
Auch sollten sowohl Sie alle hier als auch die Länder anerkennen, dass es sich um die Bundesverwaltung
handelt. Und die ist nun mal bundeseigen und der
Hoheit des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung unterstellt. Ich hege daher auch
keine Zweifel daran, dass das BMVBS seinen Behördenunterbau selbst durch Organisationserlasse verwalten darf. Gern können Sie sich hierzu auch im
Grundgesetz Art. 86 sachkundig machen.
Zum Thema der Ämter und deren Aufgabenspaltung
verweise ich auf die Antwort einer Kleinen Anfrage
der Kollegin Wilms, Bundestagsdrucksache 17/12624.
Zum einen werden die Strukturen hier nochmals ergebnisoffen geprüft. Zum anderen ist es ein Ammenmärchen, zu behaupten, wir würden die Regionen schwächen. Denn auf die Stärkung der regionalen Strukturen
zielt diese Reform ja ab!
Und noch nicht genug der Kuriositäten, denn die
SPD fordert in ihrem Antrag einen Aufschub der Reform bis zur Bundestagswahl und eine umfassende
Aufgabenkritik und Personalbedarfsermittlung. Offenbar haben die Genossen die fünf Berichte aus dem
Ministerium nicht gelesen; denn sonst wüssten sie,
dass derartige Untersuchungen schon durchgeführt
wurden und auf einem guten Wege sind. Auch werden
wir mit dem Aufschub keine kostengünstigere und
effektivere, verlässliche WSV schaffen. Und gerade im
Bereich des Personals ist es dringender denn je,
Lösungen zu erarbeiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich vermisse in Ihren Anträgen nachhaltige Konzepte, über
die man sich ernsthaft unterhalten kann. Seit 2001 ist
Ihnen nichts weiter eingefallen, um diese Verwaltung
vernünftig zu reformieren.
Ihre Anträge gehören daher ins Schaufenster und
nicht in dieses Plenum!
Mit den WSV-Plänen ist der Bundesverkehrsminister mächtig vom Kurs abgekommen. Vergeblich hat die
Bundesregierung in den vergangenen Monaten versucht, Länder und Verbände bei dem höchst umstrittenen Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
des Bundes mit ins Boot zu holen. Am Ende musste sie
zurückrudern: Nach heftiger Kritik von Ländern, Verbänden und der Opposition im Deutschen Bundestag
hat sie ihren Gesetzentwurf, mit dem sie die Zuständigkeiten der sieben regionalen Direktionen auf eine neu
einzurichtende Zentralbehörde mit Sitz in Bonn übertragen wollte, wieder zurückgezogen.
Ihre Pläne für den Verwaltungsumbau der WSV will
die Regierungskoalition nun an Bundestag und Bundesrat vorbei per Organisationserlass durchsetzen,
Zu Protokoll gegebene Reden
der bereits am kommenden Mittwoch in Kraft treten
soll. Eine überzeugende Erklärung für diesen bemerkenswerten Kurswechsel hat die Bundesregierung
nicht. Das Manöver ist aber auch so ziemlich durchsichtig. Denn auf diese Weise verhindert die Bundesregierung jede parlamentarische Mitwirkung und eine
offene Debatte über die Zukunft der WSV, eine der
wichtigsten Behörden in Deutschland.
Wenn die Bundesregierung jetzt das Parlament umschifft, zeigt dass nur eines: Sie hat selbst nicht mehr
damit gerechnet, dass sie mit ihren Plänen durch Bundestag und Bundesrat kommt. Nun will sie diese auf
Biegen und Brechen noch vor der Bundestagswahl
durchsetzen. Diskussion oder gar Kritik lässt sie dabei
nicht zu. Der jetzt geplante Verwaltungsumbau im
Wege eines Organisationserlasses wird zudem zu massiver Rechtsunsicherheit führen. Wir als SPD halten es
für höchst bedenklich, dass in Bundesgesetzen definierte Zuständigkeiten von den jetzigen Direktionen
per Erlass auf die neue Generaldirektion übertragen
werden sollen, die in den zugrunde liegenden Gesetzen
nicht einmal erwähnt ist.
Doch eine Antwort auf unsere entsprechende Anfrage vom 14. März hielt die Bundesjustizministerin
nicht für nötig. Erst auf erneute Nachfrage und mit
Fristsetzung kam die dürre Nachricht aus dem Haus,
dass die Anfrage an das Bundesministerium des Innern
abgegeben worden sei. Die Antwort, die schließlich
von dort kam, ist - nun ja - bemerkenswert: „Die in
Ihrem Schreiben erwähnten bestehenden gesetzlichen
Zuweisungen von Zuständigkeiten an die bisherigen
Wasser- und Schifffahrtsdirektionen sind lediglich von
deklaratorischer Natur.“ Das zeugt nun allerdings von
einem fragwürdigen Demokratieverständnis - mal
ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen Fragen, die das Vorgehen der Bundesregierung aufwirft.
Auch wenn zu einem späteren Zeitpunkt eine
Rechtsbereinigung geplant ist, wie es aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
heißt, bestehen doch über einen Zeitraum von zwölf
und mehr Monaten keine klaren Zuständigkeiten - mit
rechtlichen Folgen, die derzeit kaum absehbar sind.
Denn bisher sind für Planfeststellungsverfahren die
Direktionen zuständig; so ist es im Bundeswasserstraßengesetz festgelegt. Wird diese Zuordnung jetzt durch
Erlass neu geordnet, könnte dies Auswirkungen auf
laufende oder künftige Planfeststellungsverfahren
nach § 14 ff. Bundeswasserstraßengesetz haben. Wenn
die Bundesregierung hier auf das geplante Zuständigkeitsanpassungsgesetz verweist, ist das nicht mehr als
ein müder Beschwichtigungsversuch. Denn es ist überhaupt nicht absehbar, wann der neu zu wählende
18. Deutsche Bundestag zusammentreten und ein solches Gesetz verabschieden wird. Wir halten einen solchen Schwebezustand für nicht tragbar, geht es doch
um eine der wichtigsten Behörden in Deutschland, die
für die Unterhaltung und die Sicherheit und Schiffbarkeit unserer Bundeswasserstraßen verantwortlich ist.
Das Vorhaben, die WSV zu modernisieren, ist
grundsätzlich richtig. Denn in den vergangenen Jahren sind viele neue Aufgaben - etwa im Bereich Ökologie und Tourismus - hinzugekommen. Doch der Ausweitung des Aufgabenprofils und den gestiegenen
Herausforderungen bei Bau und Unterhaltung steht
keine ausreichende Aufstockung der Finanzmittel im
Bundeshaushalt für die Bundeswasserstraßen gegenüber. Die Folge: Der Anteil der Aufgaben der WSV, die
zur Erledigung an private Unternehmen vergeben werden, musste deutlich erhöht werden; 2009 hatte der
Vergabeumfang mit 3 656 Einzelvergaben ein Gesamtvolumen von 1,08 Milliarden Euro. Mit ebendiesem
Argument will die Bundesregierung nun begründen,
warum die WSV in der bisherigen Größenordnung
nicht mehr gebraucht und also dringend reformbedürftig sei. Damit verkehrt sie Ursache und Wirkung. Ausbaden müssen das die WSV-Beschäftigten. Bis Ende
2013 will das Bundesministerium mindestens zehn Ämter schließen, die bisherige Ämterstruktur soll weitgehend zerschlagen werden. Mindestens ein Viertel aller
Stellen soll gestrichen werden. Verdi hat vor diesem
Hintergrund jetzt zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik aufgerufen - die Frist läuft noch bis
morgen. Es wird sich zeigen, ob es am Ende zu einer
Abstimmung mit den Füßen kommt.
Für die SPD steht fest: Eine Reform der WSV ist
wichtig, um die Verwaltung fit für die Zukunft zu machen. Der Organisationserlass leistet das jedoch nicht.
Er ist verkehrspolitisch unsinnig; denn die Regierungspläne würden die Entwicklung des Wasserstraßennetzes behindern, die Verkehrssicherheit gefährden
und die Nutzung der Wasserwege verteuern. Er ist
wirtschaftspolitisch schädlich, da wichtige Wasserstraßen in Deutschland - insbesondere im Norden künftig vom Verkehrsnetz abgekoppelt würden, obwohl
bereits heute massive Kapazitätsengpässe im Güterverkehr bestehen. Er ist beschäftigungspolitisch fatal,
da ein drastischer Stellenabbau innerhalb der gesamten WSV droht und das - siehe oben - auch massive
Folgen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
der verladenden Wirtschaft und der Binnenschifffahrt
hätte. Er ist verfassungsrechtlich bedenklich, da eine
untergesetzliche Übertragung von gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten der Wasser- und Schifffahrtsdirektionen auf die neue Generaldirektion zu massiver
Rechtsunsicherheit führen wird.
Wir fordern Sie daher mit unserem Antrag auf, den
Organisationserlass zur Errichtung der Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt auszusetzen.
Was es braucht, ist ein echtes Zukunftskonzept für die
WSV und eine verlässliche Finanzausstattung der Bundeswasserstraßen. Wir wollen einen Neustart nach der
Bundestagswahl - und zwar im engen Dialog mit den
Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen. Eine
Entscheidung über die Struktur der WSV kann es erst
geben, wenn eine umfassende Aufgabenkritik und eine
grundlegende Personalbedarfsermittlung erfolgt sind.
Beides ist bisher nicht der Fall, ebenso wenig wie eine
Wirtschaftlichkeitsprüfung der Vergabe von Aufgaben,
Zu Protokoll gegebene Reden
die eine Kostenermittlung für den Fall der Eigenerledigung durch die WSV einschließt.
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung fährt auf
Sicht - und hat dabei leider die falsche Richtung eingeschlagen. Herr Minister, kehren Sie um, und sorgen
Sie dafür, dass die Reform, die diesen Namen nicht verdient, gestoppt wird!
Sie erinnern sich an den „Herbst der Entscheidungen“ im Oktober 2010? Nicht nur der Ausstieg aus
dem Atomausstieg wurde ohne jeden vernünftigen
Grund von der schwarz-gelben Koalition beschlossen.
Auch - weniger beachtet von der Öffentlichkeit - die
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes wurde
Opfer einer schwarz-gelben Fehlentscheidung.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin enttäuscht.
Ich bin enttäuscht von den Kolleginnen und Kollegen
dieser Koalition im eigentlich zuständigen Verkehrsausschuss, die dieses Drama in sieben Akten zugelassen haben: die sogenannte WSV-Reform, die den
Namen „Reform“ nicht verdient und die sich an Unprofessionalität, Ignoranz und Inkompetenz kaum
überbieten lässt.
Angestoßen von den Privatisierungsgelüsten einiger FDP-Abgeordneter nahm das Unheil am 27. Oktober 2010 seinen Lauf. Akt eins bis fünf: Fünf Berichte
des Verkehrsministeriums später blicken wir auf einen
Zickzackkurs, der kaum zu erkennen gibt, wo es eigentlich hingehen soll. So nebenbei wurde das ungeliebte
Kind der „Kategorisierung“ geboren: von niemandem
gewollt und doch in die Welt der Bundeswasserstraßen
gesetzt. Gegen alle Widerstände aus der Wirtschaft,
aus den Ländern und den Kommunen und wider alle
fachliche Kritik setzt dieses Ministerium eine tonnagebasierte Kategorisierung durch. Schubladen werden
zur Grundlage von verkehrspolitischen Entscheidungen, und Schwarz-Gelb verabschiedet sich damit endgültig von der verkehrsträgerübergreifenden und gestaltenden Verkehrspolitik.
Eine parlamentarische Legitimation für derart weit
in die Zukunft reichende Entscheidungen gibt es nur in
Form von Ausschussbeschlüssen. Vor einem eigenen
Antrag und einem Gesetz haben sie gekniffen.
Ganze Regionen werden mittel- bis langfristig abgehängt, Wirtschaftsräume ausgetrocknet und Arbeitsplätze gefährdet, Milliardeninvestitionen der Vergangenheit entwertet, und das Ganze auf der Basis von
„Berichten“? Liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP: Damit haben Sie dem Parlament
einen Bärendienst erwiesen.
Akt sechs: Das BMVBS bereitet ein Gesetz zur Anpassung der Zuständigkeiten der Direktionen an die
Neuordnung der WSV vor. In einem Vermerk vom
Dezember 2012 war zu lesen: „Die Arbeit an dem Gesetzgebungsverfahren hat oberste Priorität“. Ich will
Ihnen auch nicht vorenthalten, was im Referentenentwurf stand: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des
Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: …“.
Das macht zwei Dinge deutlich.
Erstens: Das Verkehrsministerium war der Meinung, ein Gesetz sei notwendig.
Zweitens: Das BMVBS hat dem Bundesrat ganz eindeutig ein Mitspracherecht zugestanden.
Und dann kam der 20. Januar und mit ihm die
Niedersachsenwahl. Seitdem werden Sie nicht müde,
zu beteuern, ein Gesetz sei überflüssig.
Hier werden parlamentarische Grundrechte mit Füßen getreten. Sie legen ein Projekt „oberster Priorität“ zurück in die Schublade.
Selbst Ihre eigenen Fachleute warnen unmissverständlich vor Rechtsunsicherheiten, wenn auf ein reguläres Gesetzgebungsverfahren verzichtet wird. Ich
sage Ihnen: Für bereits laufende oder auch zukünftige
Verwaltungsverfahren gilt: Ohne vorherige gesetzliche
Zuständigkeitsänderung kann rechtlich nicht sichergestellt werden, dass die GDWS rechtmäßige Verwaltungsakte erlassen kann.
Einschlägigen Petitionen der Beschäftigten und aus
der Wirtschaft, einstimmigen Beschlüssen der VMK
und persönlichen Appellen der Ministerpräsidenten
zum Trotz hält Bundesminister Ramsauer an seinem
Kurs fest und hat dabei längst die Übersicht verloren.
Damit kommen wir zu Akt sieben: Ohne Rücksicht
wird auf Biegen und Brechen versucht, diese Reform
durchzudrücken. Auf untergesetzlichem Weg wird mit
einem Organisationserlass eine Generaldirektion geschaffen, gesetzlich zugeordnete Zuständigkeiten der
Direktion übertragen und ein Zuständigkeitschaos ausgelöst, das gefährlich ist für den ganzen Verkehrsträger. Ich gebe zu bedenken: All das geschieht zu einer
Zeit, in der wir alle Ressourcen darauf verwenden sollten, unsere Wasserstraßen auf Vordermann zu bringen.
Stillstand am NOK, verrottete Schleusen an der Lahn,
in Passau und Schneckentempo beim Ausbau der Mosel-Schleusen - hier müssen wir unsere Kräfte bündeln, um die Güter von der Straße auf das Binnenschiff
zu bringen.
Stattdessen werden Beteiligungsrechte der Beschäftigten auf das Gröbste missachtet, Bundestag und Bundesrat umgangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, das alles geht auf Ihr Konto. Sie haben das
zugelassen, durchgewunken und sich selbst zum Abnicker degradiert - obwohl, wie ich weiß, viele von Ihnen ebenfalls sehr unzufrieden sind. Wir werden nach
der Bundestagswahl wieder ändern, was noch möglich
ist. Wir werden einen neuen Prozess einleiten und Beschäftigte, Wirtschaft, Länder und Kommunen dabei
aktiv beteiligen.
An dieser Stelle möchte ich mich mit den Beschäftigten solidarisch erklären. Bis morgen läuft die Urabstimmung für einen unbefristeten Streik, und ich bin
zuversichtlich, dass sich die Beschäftigten nicht alles
gefallen lassen. Ich mag mir nicht ausmalen, was passiert, wenn die WSV bundesweit die Arbeit niederlegt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn, dann hat der oberste Dienstherr dafür die Verantwortung zu tragen.
Der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes
ein gutes Stehvermögen!
Die bestehenden Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes müssen dringend effizienter gestaltet werden, um sie leistungsstark, zukunftsfähig und demografiefest zu erhalten. Hierzu
werden die See- und Binnenwasserstraßen nach ihrer
Bedeutung für den Güterverkehr kategorisiert. Der
Deutsche Bundestag hat dazu Auf- und Abstiegsmöglichkeiten beschlossen, die auch umkehrbar sind, damit sie geänderten Güterverkehrsströmen angepasst
werden können.
Die neu zu schaffende Generaldirektion wird zentral die Aufgabensteuerung übernehmen und dadurch
wesentlich zur Beschleunigung von Entscheidungsverfahren sowie zur Einsparung von Kosten beitragen.
Der Bundesrechnungshof hat Prioritäten und Mitteleinsatz überprüft und untersucht, welche Verfahren
optimiert werden müssen, ein Vorgehen wie in jedem
gut geführten Unternehmen.
Bald können wir ein weiteres Häkchen auf unserer
Liste erfolgreichen Bürokratieabbaus setzen!
Das können und wollen die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der Linken so kurz vor der Bundestagswahl natürlich nicht dulden! Von ihnen kommt
nichts als Gegenrede um der Gegenrede willen. Das
bringt uns nun wirklich nicht weiter!
Nicht, dass man Ihnen unterstellen wollte, Sie hätten etwas gegen Leistungsfähigkeit und Kostenersparnis. Aber Ihre Anwürfe sind - mit Verlaub - bestenfalls
plakativ.
Keine Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates - das hört sich ja ganz schlimm an. Wenn man
Ihre Anträge liest, könnte man meinen, der Rechtsstaat
samt freiheitlich-demokratischer Grundordnung sei
für die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
kurzerhand abgeschafft worden, um einem schrecklichen Verwaltungsmonster Tür und Tor zu öffnen. Fakt
ist, dass der Bundesrat in der aktuellen politischen
Konstellation und insbesondere vor entscheidenden
Wahlen den Reformprozess nicht konstruktiv begleitet.
Im Übrigen stellt sich ohnehin die Frage, ob der Bundesrat beteiligt werden sollte. Art. 86 des Grundgesetzes lässt dies nicht zu. Eine Blockadehaltung aus
durchsichtigen politischen Motiven muss verhindert
werden. Denn auch der Bundesrat muss endlich erkennen, dass wir mit der Reform auf dem richtigen Wege
sind!
Hier droht keinerlei Unbill, weder was die Aufgabenerfüllung noch die Ämterstrukturen betrifft. Ganz
im Gegenteil: Hier wird gute Politik für den Schifffahrtsstandort Deutschland gemacht!
Anders als Sie schlagen wir konkrete Maßnahmen
vor, was man besser machen kann. Denn wir wissen:
Gute Kritik ist nur die, die auch Lösungsansätze beinhaltet.
Auch wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern mit
lautem Wahlkampfgetöse etwas anderes einreden wollen: Durch die Wasser- und Schifffahrtsreform werden
keine Arbeitsplätze vernichtet. Wer, wie Sie, Ängste vor
betriebsbedingten Kündigungen schürt, agiert in völliger Unkenntnis der Fakten. Kündigungen sind nicht
vorgesehen. Ich sage: Das ist schäbig - noch dazu auf
dem Rücken der Beschäftigten und der Schifffahrt!
Und was würden Ihre Anträge letztlich bewirken?
Einen guten und wichtigen Reformprozess zum Stillstand bringen.
Wer Ihnen folgt, könnte auch genauso gut dem Rattenfänger von Hameln hinterherlaufen. Das ist es doch
genau, was Bürgerinnen und Bürger so politikverdrossen macht - die Vernachlässigung von sachlichen Erwägungen und oft leider auch das gänzliche Fehlen
fachlicher Kompetenz.
Ihren Anträgen werden wir deshalb nicht zustimmen.
Die Menschen wollen mit Politik nichts mehr zu tun
haben, wenn sie merken, dass ihre Argumente nicht gehört werden. Sie wenden sich ab von der Demokratie,
wenn sie erfahren müssen, dass Entscheidungen einfach exekutiert werden. Der Umbau der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung ist ein Paradebeispiel für demokratiefeindliche Arroganz der Macht. Unbeirrt
zieht der Bundesverkehrsminister sein Projekt durch,
wischt jeden Vorschlag vom Tisch, der Reform doch
noch eine vernünftige Wendung zu geben.
Die Beschäftigten der WSV, die Binnenschiffer,
Wirtschaftsverbände und Wassersportler versuchen
seit Jahren, mit guten und ernst zu nehmenden Vorschlägen die Zerschlagung der WSV zu verhindern.
Doch selbst eine Allianz von Beschäftigten, Wirtschaft
und Fachverbänden konnte nichts bewirken. Die Verkehrsminister der Länder protestierten auf ihrer Konferenz vor zwei Wochen dagegen, dass eine Behörde,
die in den Bundesländern wichtige Arbeit leistet, ohne
ihre Mitwirkung zentralisiert wird. Statt auch nur einen ihrer Einwände gegen den WSV-Umbau ernsthaft
zu prüfen, weist Staatssekretär Ferlemann die Bedenken als „unzulässige Einmischung“ der Länder in die
Bundespolitik zurück. Das ist schon ein ziemlicher
Hammer, muss ich sagen.
Aber diese Arroganz der Macht beschädigt nicht
nur die Demokratie.
Am Freitag vergangener Woche hat Bundesverkehrsminister Ramsauer verfügt, dass die Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn
gegründet wird und die Wasser- und Schifffahrtsdirektionen zu Außenstellen dieser Zentralbehörde degraZu Protokoll gegebene Reden
diert werden. Wasser- und Schifffahrtsämter verlieren
ihre Zuständigkeiten, die in den vergangenen Jahren
erarbeiteten Arbeitsstrukturen werden zerschlagen,
und das Personal wird in eine ungewisse Zukunft entlassen. Mit einem verfassungsrechtlich zweifelhaften
Organisationserlass drückt der Verkehrsminister sein
Projekt durch, ohne den Bundesrat und den Bundestag
ausreichend zu beteiligen. Das notwendige Gesetz
könne auch im Nachklapp beschlossen werden, heißt
es. Das ist ein Skandal.
Nach drei Jahren Rumwerkeln an einer sogenannten Reform der WSV ist der Schaden groß, für die Verkehrspolitik auf dem Wasser und für die Behörde
selbst.
Mit dem Antrag der Linken ist es möglich, diesen
doppelten Schaden abzuwenden. Stimmen Sie für eine
wirklich ökonomische und ökologische, eine sinnvolle
Reform der WSV! Die funktioniert aber nur mit den
Beschäftigten, das geht nur mit den Fachverbänden
und mit den Bundesländern.
Wir fordern den sofortigen Stopp der Zerschlagung
der WSV, damit es einen Neustart geben kann.
Was passiert, wenn sich der Verkehrsminister jetzt
durchsetzt? Die Ansprechpartner der Wasser- und
Schifffahrtsdirektionen werden zunächst damit beschäftigt sein, sich überhaupt in das neue Organigramm einzusortieren; neue Strukturen in der Zusammenarbeit müssen gebildet werden. Wir haben bei
vielen Besuchen von Dienststellen und Bauhöfen die
Arbeit der Beschäftigten kennengelernt. Beim Besuch
in Emden und Aurich habe ich erfahren, dass Kunden
der WSV bei manchen Aufgaben künftig drei verschiedene Stellen anlaufen müssen, wo sie heute alles bei einer Direktion erledigen können.
Die Beschäftigten werden sich in neu zusammengestrickten Ämtern und Außenstellen wiederfinden.
Und sie müssen gleichzeitig in der Lage bleiben, jederzeit die Sicherheit auf Flüssen und Kanälen zu garantieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
auch Sie haben bei Ihren Besuchen erfahren können,
dass diese Reform kein Fortschritt ist. Auch wenn Sie
in einzelnen Wahlkreisen eine Behörde sichern konnten, nützt das der WSV insgesamt nichts. Wie soll sie
mit noch einmal 2500 Leuten weniger auskommen?
Wie sollen die oft komplizierten Aufgaben von Firmen
auf dem freien Markt erledigt werden? Die Reparatur
einer Schleuse kann ausgeschrieben werden, wenn sie
geplant ist. Aber wir wissen nicht zuletzt durch den
zeitweiligen Totalausfall am Nord-Ostsee-Kanal, dass
schnelles Eingreifen mit qualifizierten und engagierten
Leuten so schnell auf dem Markt nicht zu finden ist.
Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft Verdi haben mit Gesprächsangeboten nicht erreichen können,
die Kenner der Materie in die Reform der WSV angemessen einzubeziehen. Nun stehen sie vor der Situation, dass sie die sozialen Folgen der Zerschlagung
der WSV regeln müssen. Damit die Kolleginnen und
Kollegen wissen, wo sie eingesetzt werden sollen, ob
sie mit ihren Familien den Wohnort wechseln müssen,
fordern sie einen Tarifvertrag. Und selbst in dieser
Frage weigerte sich der Bundesverkehrsminister lange
Zeit, die sozialen Folgen überhaupt zur Kenntnis zu
nehmen. Mit Warnstreiks und dem Beginn der Urabstimmung nimmt der Arbeitgeber zur Kenntnis, dass
die Reform direkt in das Leben der Beschäftigten eingreift.
Wir wünschen den Kolleginnen und Kollegen und
ihrer Gewerkschaft Verdi viel Erfolg bei der Aushandlung guter Bedingungen. Aber wir versprechen ihnen
auch, dass wir auch eine andere Bundesregierung bearbeiten werden, damit dieser Tarifvertrag nicht angewendet werden muss. Es muss eine Reform der Reform
geben, die die Arbeit der WSV und nicht die Privatisierung öffentlicher Aufgaben ins Zentrum stellt.
Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
macht deutlich, wie planlos diese Bundesregierung
agiert. Noch im Juni 2012 wurde die Reform durch
Minister Ramsauer angekündigt, und zwar als Konzept, das „Reformstau und 20 Jahre Unsicherheit für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ beenden sollte.
So weit, so gut: für uns ein Ziel, das auch wir gerne bereit sind, zu unterstützen und kritisch zu begleiten.
Doch das Ministerium kommt mit der Umsetzung einer im Kern sinnvollen Reform nicht voran. Jetzt ist
Herr Ramsauer auf dem besten Weg, überhaupt nichts
mehr zu erreichen. Bisher mangelt es im Rahmen der
Umsetzung der Reform vor allem bei der Kommunikation mit den Mitarbeitern. Ich warne davor: Wenn das
Ministerium seine Reform durchzusetzen versucht,
ohne die Belegschaft mitzunehmen, kann das nur
schiefgehen. Seit fast einem Jahr warten die Mitarbeiter in den Ämtern auf ein Ende der Hängepartie. Sie
möchten endlich wissen, wie es mit der Reform weitergeht.
Wir stellen uns unter einer guten Verwaltungsreform
vor, dass die Organisationsstruktur den heutigen Bedürfnissen angepasst wird. Eine Verwaltung, wie sie
bei ihrer Gründung vor 140 Jahren geschaffen worden
ist, ist nicht mehr zeitgemäß. Maßnahmen einer klugen
Verwaltungsreform sind zum Beispiel der Einsatz eines
funktionierenden Change-Managements sowie eines
klugen Personalkonzepts. Doch beides fehlt bisher;
das Reformvorhaben dieser Bundesregierung ist eine
reine Top-down-Veranstaltung. Nur wenn auch die Belange der Mitarbeiter vor Ort ernst genommen werden, wird dies auch eine erfolgreiche Reform.
Ich habe deswegen Zweifel am Erfolg des Reformvorhabens: Per Organisationserlass, also wieder von
oben herab, soll nun die Reform der Ämterstruktur umgesetzt werden. Vorgesehen war eigentlich ein Gesetz
mit ordentlicher Befassung des Parlaments, doch hier
kneift die Bundesregierung. Nach dem Verlust der
Mehrheit im Bundesrat wurde das Gesetz begraben Zu Protokoll gegebene Reden
obwohl das Gesetz nicht einmal zustimmungspflichtig
gewesen wäre.
Lassen Sie mich hier aus der Pressemitteilung des
Hauses Ramsauer, BMVBS, vom 27. Juni 2012 zitieren: „Die rechtliche Umsetzung erfolgt durch eine
Reihe von Gesetzesänderungen unter anderem im WasserstraßenG, SeeaufgabenG, SeeunfallUG, BinnenschifffahrtsaufgabenG. Der Gesetzgebungsprozess
wird noch dieses Jahr begonnen.“ Auf meine Anfrage,
welcher Zeitplan vonseiten der Bundesregierung für
das Rechtsbereinigungsgesetz vorgesehen ist, wurde
am 13. November 2012 in Drucksache 17/11460 geantwortet: „Mit der Befassung des Deutschen Bundestages ist Anfang 2013 zu rechnen.“ Hier ist keinesfalls
die Rede von einem Organisationserlass, und auf das
Gesetz warten wir vergeblich. Was ist das Wort dieser
Bundesregierung eigentlich wert? Damit liegt auf der
Hand, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung
der Reform schlampig arbeitet.
Wir sind weiterhin für eine konsequente Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Aber aus dem
Hause Ramsauer ist bis zur Bundestagswahl wohl
nicht mehr viel zu erwarten. Mal sehen, was aus dem
Erlass wird, ob die neue Behörde tatsächlich arbeitsfähig wird und was die Angestellten und Beamten aus
der unklaren Situation noch machen. Zu viele Fragen
sind offen.
Wir müssen deswegen jetzt unseren Blick schon auf
die nächste Legislatur richten. Die SPD macht das in
ihrem Antrag deutlich. Ich freue mich, dass die SPD
sich für einen Dialogprozess über die zukünftige Struktur der WSV einsetzt, der in enger Abstimmung mit den
Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen transparent und ergebnisoffen geführt werden soll. Dieser
Dialog ist absolut notwendig und fügt sich sehr gut zu
unserem Vorschlag zu einer Kommission, die einen Reformvorschlag mit den Betroffenen erarbeiten soll. Mir
scheint, inzwischen haben Sie verstanden, dass es eine
Reform geben muss. Das begrüßen wir. In der nächsten
Legislatur geht es dann an die richtige Umsetzung mit
den Menschen vor Ort. Damit müssen wir im Herbst
spätestens beginnen. Ich nehme die SPD beim Wort.
Es wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/13228 und 17/13229 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine
Einwände. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EUEmissionshandels
- Drucksachen 17/12064, 17/12489 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({1})Frank SchwabeMichael KauchEva Bulling-SchröterBärbel Höhn
Die Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in
der letzten Woche, das sogenannte Backloading zurück
an die Ausschüsse zu geben, ist ein Rückschlag für den
Klimaschutz. Und eine vertane Chance zugleich. Dieser einmalige Eingriff in den Emissionshandel sollte
dafür Sorge tragen, dass eines der wichtigsten Instrumente der europäischen Klimapolitik stabilisiert werden und man über entsprechende Neujustierungen für
die nächste Handelsperiode nachdenken kann. Denn
der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zertifikaten wird sicherlich in absehbarer Zeit nicht für einen signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise sorgen.
Das vorgesehene Herausnehmen von 900 Millionen
hätte hier für eine gewisse Entspannung der Situation
sorgen können.
Doch ein generelles Scheitern des ETS, wie es Die
Linke in ihrem Antrag darstellt, sehe ich noch nicht.
Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments
hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich informell mit Rat
und Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Das Ergebnis kann dann wieder dem Plenum
vorgelegt werden. Ziel muss es weiterhin sein, den europäischen Emissionshandel als ein zentrales Klimaschutzinstrument zu erhalten und zu stärken. Denn die
Alternativen wären ordnungsrechtliche Vorschriften
oder Klimasteuern. Ein wie im Antrag gefordertes
Kohleausstiegsgesetz wäre ein solcher ordnungspolitischer Eingriff, den ich aus diesem Grund nicht für zielführend halte.
Ich unterstütze daher ausdrücklich die eindringlichen
Bemühungen von Bundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bundesregierung zu einer eindeutigen,
einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Auch
ich fordere die Bundesregierung auf, hier schnell klar
Stellung für ein fest umrissenes Backloading und eine
Erhöhung des Reduktionszieles innerhalb der EU auf
30 Prozent bis 2020 zu beziehen.
Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese
beiden genannten Eingriffe. Nur durch die klar definierte Herausnahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraum und eine daran anschließende
grundlegende Reformierung der nächsten Handelsperiode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerungselement als Kernelement der europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten. Das Backloading ist hierfür
die erste Voraussetzung.
Andreas Jung ({0})
Der Handel mit CO2-Zertifikaten ist das Herzstück
der EU-Klimapolitik. Dabei ist seine wichtigste Aufgabe, die Unternehmen dazu anzuregen, in effiziente,
emissionsarme Technologien und Verfahren zu investieren. Investiert ein Unternehmen, benötigt es weniger Zertifikate, die es sonst zum Teil ersteigern müsste.
Der Mechanismus hilft darum, dass Europa seine Führungsrolle bei den zukunftsgerichteten Effizienztechnologien gegen Wettbewerber halten kann. Und er soll
für einen planbaren, ruhigen Übergang in eine emissionsarme Wirtschaft sorgen. In einem für Investitionen relativ knappen Zeitrahmen von circa 35 Jahren muss
sich die Wirtschaft der EU vom CO2-Ausstoß fast vollständig verabschieden. Je länger Europa aber mit dem
Abschied wartet, desto mehr werden wir dafür investieren müssen. Je steiler der zu erfüllende CO2-Ausstiegspfad sein wird, desto teurer wird es am Ende.
Neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaftlichem Instrument muss es auch darum gehen, die
Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,
um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.
Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die Europäische Union ihre Ziele bis 2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbstgesteckten Ziel, die Emissionen
bis 2020 um 40 Prozent zu senken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse gegeben. Darauf muss
jetzt aufgebaut werden. Die EU muss diesen Schritt mit
einem Bekenntnis zu einem 30-Prozent-Ziel nachvollziehen. Bundesumweltminister Altmaier setzt sich innerhalb der EU stark für diese Position ein, und ich
unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Denn nationale Bemühungen allein werden am Ende nicht ausreichen, um die anvisierten klimapolitischen Ziele zu
erreichen.
Die Fraktion der Linken fordert in diesem Antrag,
dass im April 2013, also in diesen Tagen, das Scheitern
des Emissionshandels festgestellt wird und die Bundesregierung im Mai dem Deutschen Bundestag einen
Gesetzentwurf über den planmäßigen Ausstieg aus der
deutschen Kohleverstromung vorlegt. Spätestens im
Jahr 2040 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland stillgelegt werden. Ab dem nächsten Jahr soll die
jährliche Menge an Strom, die in Kohlekraftwerken
erzeugt wird, begrenzt und in den Folgejahren stetig
reduziert werden. Mit diesem Antrag bekommen wir
genau die Debatte über die Ablösung des Emissionshandels durch Ordnungsrecht, vor der ich die Gegner
des Backloading immer gewarnt habe. Offensichtlich
war vielen Industrievertretern und konservativen und
liberalen Abgeordneten nicht klar, was sie mit ihrem
Boykott der Reform des Emissionshandels angerichtet
haben. Es ist absurd, dass diejenigen, die massiv für
ein marktwirtschaftliches Instrumentarium wie den
Emissionshandel eingetreten sind, jetzt dieses Instrumentarium kaputtmachen. Dadurch entsteht natürlich
eine neue Debatte über andere Instrumente der Klimaschutzpolitik, wie zum Beispiel Ordnungsrecht, Grenzwerte für Kraftwerke, Abgaben oder CO2-Steuern.
Diese Debatte werden wir nicht nur in Deutschland,
sondern in ganz Europa bekommen. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Regelungen entstehen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systems. Großbritannien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis für
CO2 eingeführt, die Niederlande und Spanien eine
Steuer auf Kohle, Italien debattiert über solch eine
Steuer. Es kann sein, dass wir genau das Gegenteil von
einem „level playing field“ erhalten werden, von dem
die Industrie immer redet.
Die Bundesregierung trägt eine große Verantwortung für die gegenwärtige Situation. Allen Fachleuten
war klar gewesen, was passieren wird und dass eine
Reform des Emissionshandels dringend notwendig ist.
Allen ist klar, dass das Leitinstrument des europäischen Klimaschutzes, der EU-Emissionshandel, seine
Lenkungswirkung verloren hat und unter starkem
Druck steht. Backloading, also die vorübergehende
Herausnahme von Zertifikaten, ist nur eine kurzfristige
Rettungsmaßnahme, gegen die auch instrumentelle
Vorbehalte vorgebracht werden können. Konsequent
wäre es, eine mittel- und langfristige Perspektive für
die Jahre 2020 und 2030 aufzuzeigen, die Unternehmen eine klare Orientierung für ihre Investitionsentscheidungen gibt. Um Schritte zur Funktionsfähigkeit
des Emissionshandels im Sinne eines effizienten Klimaschutzinstrumentes einzuleiten, auch um das notwendige politische Signal zu geben, ist es aktuell notwendig,
überschüssige Zertifikate aus dem Markt zu nehmen.
Der Vorschlag der EU-Kommission zur kurzfristigen
Herausnahme von Zertifikaten löst die bestehenden
Probleme nicht, ist aber wegen der Signalwirkung extrem wichtig. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu
keine Meinung. So löblich der Einsatz des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
sowie der Mitglieder dieses Ausschusses gewesen ist:
Am Ende ist diese Bundesregierung nicht in der Lage,
eine klare Linie zu fahren. Die Bundeskanzlerin erklärte, dass sie nach der Abstimmung im Europaparlament für eine einheitliche Position sorgen wird. Das ist
jedoch bis heute nicht passiert. Nach diesem Rückschlag im Europaparlament muss die Bundesregierung
ihre destruktive Rolle aufgeben und retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächsten Wochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Entscheidung geben
wird, werden wir bis zum Jahr 2020 keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Eine weitere Folge davon
ist, dass ein Teil der Energiewende nicht mehr zu finanzieren ist, weil die dem Haushalt zugrunde gelegten
Zertifikatspreise regelmäßig nicht erreicht werden.
Die Linken weisen in ihrem Antrag auf einen wichtigen Sachverhalt hin: Ohne wirksame Preissignale
durch den Emissionshandelsmarkt wäre die Erreichung der Klimaschutzziele zunehmend auf ordnungsrechtliche Maßnahmen angewiesen. Diese Maßnahmen werden keineswegs kostenlos zu haben sein, wie
ich nebenbei bemerken möchte. Auch deshalb unterstützen einige Unternehmen der Energiewirtschaft die
Reform des Emissionshandels. Ohne das klare Preissignal im CO2-Markt werden Investitionen in kohlenZu Protokoll gegebene Reden
stoffarme Technologien zurückgehalten oder erfolgen
gar in CO2-intensive Infrastrukturen, welche später zu
hohen Folgekosten führen werden, wenn man es mit
Klimapolitik und dem Erreichen des 2-Grad-Ziels
ernst meint. Dabei zeigt sich auch, um was es bei der
Debatte um Backloading wirklich geht: um einen Angriff auf die Klimapolitik an sich. Die Gegner des Klimaschutzes sehen ihre Chance für einen Rollback zurück, als ob es die Klimadebatte der letzten Jahre mit
den Berichten des IPCC, den Vorträgen von Al Gore
oder den Berechnungen von Sir Nicolas Stern niemals
gegeben hätte. Wie soll eine Verständigung auf ambitionierte Klimaziele für das Jahr 2030 möglich sein,
wenn nicht einmal eine Mehrheit für solch einen kleinen Eingriff wie das Backloading möglich ist? Mit allen Mitteln und einer aggressiven Lobbykampagne
verteidigt die Industrielobby ihr veraltetes Geschäftsmodell. Und stößt in Zeiten der Wirtschaftskrise leider
auf viele offene Ohren. Viele Menschen denken, dass
jetzt Wirtschaft und Arbeitsplätze ganz oben stehen
sollten und wissen leider nicht, dass kluge Umweltpolitik Arbeitsplätze schaffen kann. Staaten wie Griechenland oder Zypern sind nicht in der Krise, weil sie
zu viel für den Klimaschutz gemacht hätten. Ich kann
nicht oft genug betonen: Ökologische Industriepolitik
ist nicht ein Gegensatz und auch keine Ergänzung
klassischer Industriepolitik. Sie ist die Industriepolitik
des 21. Jahrhunderts! Sie sichert angesichts knapper
Ressourcen und wachsender Nachfrage die Zukunft
der industriellen Produktion. Deshalb fordere ich die
Bundesregierung noch einmal auf, in den nächsten
Wochen alles zu tun, damit die Reform des Emissionshandels doch noch gelingt. Eine generelle Aufkündigung des Emissionshandels, wie sie die Linke in ihrem
Antrag fordert, kann ich dagegen heute nicht unterstützen.
Der Preis für CO2-Zertifikate hat einen historischen
Tiefstand erreicht und liegt nun bei circa 3 Euro pro
Tonne. Diese Entwicklung hat zugegebenermaßen unerfreuliche Seiten: Der niedrige Zertifikatepreis führt
zu einem niedrigeren Anreiz, in neue CO2-arme und
nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU nach 2020 das
Emissions-Cap absenkt, um auf dem Klimaschutz-Pfad
bis 2050 voranzukommen. Daneben brechen die Einnahmen des Energie- und Klimafonds ein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung der Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelle Jahr konnte
dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der Einnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kompensiert werden. Somit können Programme für internationalen
Klimaschutz, für die Gebäudesanierung und die Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden. Auch das
neu eingeführte Speicherförderprogramm für die Photovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin
etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die Finanzierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr
somit eine gangbare Lösung gefunden.
Ich möchte aber auch festhalten, dass der originäre
Zweck des Emissionshandels nicht die Finanzierung
von staatlichen Klimaschutzprojekten ist, sondern die
Einhaltung des Cap, das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen ausstoßen. - Dieses Ziel wird bislang erreicht, von einem Scheitern des Emissionshandels, wie
es der Titel des Linken-Antrags nahelegt, kann also
keine Rede sein. Der Klimaschutz funktioniert.
Zur Stabilisierung des CO2-Preises hat die EUKommission vorgeschlagen, das sogenannte Backloading anzuwenden, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handelsperiode zurückzuhalten. Dieser Vorschlag ist im Europäischen Parlament gescheitert. Die
Forderung der Linken, diese Zertifikate endgültig stillzulegen, würde erst recht zu weit führen. Denn die EUKommission würde so ein Instrument aus der Hand geben, um bei einer Überhitzung des CO2-Zertifikatemarktes zu reagieren, etwa wenn die europäische Wirtschaft wieder an Fahrt gewinnt.
Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der
Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neubaus von Kohlekraftwerken. Dies ist Wunschdenken,
das mit der Realität nichts zu tun hat. Wir werden für
eine Übergangszeit auf Kohle nicht verzichten können,
schon alleine aus Gründen der Netzstabilität. Wer den
Bau neuer effizienterer Kohlekraftwerke verhindert,
trägt Schuld am Weiterbetrieb alter ineffizienter
Dreckschleudern und erweist dem Klimaschutz einen
Bärendienst.
Vorhin haben wir über das Scheitern des Backloading debattiert. In meiner Rede vorhin habe ich detailliert erklärt, warum die Linke den SPD-Antrag unterstützt, nach dem die Bundesregierung einen erneuerten
Anlauf zum zeitweisen Stilllegen überschüssiger Emissionsrechte in Brüssel befördern soll. Die Forderung
nach Backloading und weiter gehenden Reformen des
Emissionshandels sind ja auch Teil unseres eigenen
Antrags, den wir jetzt abschließend behandeln.
Allerdings wird immer deutlicher, dass wohl weder
das Backloading eine Chance hat, geschweige denn
weiter gehende Reformen. Doch letztere sind zwingend
notwendig, wenn der Emissionshandel endlich zum
Klimaschutzinstrument werden soll. Darum werden sie
wohl auch nicht kommen - die Lobby der Energieversorger und der Industrie ist europaweit schlicht zu
stark. Unter dem Strich können wir den Emissionshandel getrost für tot erklären.
Diese Entwicklung hat die Linke abgesehen; denn
der Emissionshandel war von Anfang an seiner Klimaschutzwirkung weitgehend beraubt. Er wurde zur
Gewinnmaximierungsmaschine für Stromkonzerne degradiert. Durch kostenlose Zuteilungen an Energiewirtschaft und Industrie, durch windige Zertifikate aus
Zu Protokoll gegebene Reden
Auslandsprojekten und durch zu niedrige Caps. Wegen
dieser Architektur haben wir nun EU-weit mit 2 Milliarden überschüssigen Zertifikaten zu kämpfen, die
das Cap aufblähen und die CO2-Preise ins Lächerliche
verfallen lassen, und daran soll sich offensichtlich
nichts ändern.
Dies ist der Grund, warum wir im selben Antrag als
Alternative ein nationales Kohleausstiegsgesetz fordern. Leider hat im Ausschuss keine andere Fraktion
den vorliegenden Antrag unterstützt. Das liegt offensichtlich auch daran, dass sie alle gemeinsam am
Emissionshandel hängen, dessen Konstruktion sie ja in
den verschiedenen Regierungen zu verantworten hatten.
Gut, Union, FDP und der NRW- und BrandenburgFlügel der Sozialdemokraten werden ohnehin einen
Teufel tun, die Kohleverstromung planmäßig und zügig
beenden zu lassen. Die anderen Sozialdemokraten und
die Grünen aber möchte ich auffordern: Lösen Sie sich
davon, die fossile Kraftwerkswirtschaft durch den EUEmissionshandel in die Knie zwingen zu können! Ausgehöhlt, wie er ist, wird er nie die Zugkraft entwickeln,
die etwa das EEG hat. Das ist enorm erfolgreich und
hat den Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung auf ein Viertel nach oben getrieben.
Leider sind parallel die Stromexporte gewachsen.
Denn Sonne, Wind und Biomasse ersetzen nicht die
Kohleverstromung. Die macht munter weiter wie bislang; denn der lächerliche Emissionshandel kann sie
nicht bremsen. Entsprechend stiegen zuletzt auch national die CO2-Emissionen des Kraftwerkssektors wieder an.
Das ist der Grund, warum Greenpeace vor zwei
Jahren erstmals für ein Gesetz plädierte, nach dem
Kohlekraftwerke Restlaufzeiten erhalten sollen. Diese
Idee hat die Linke aufgegriffen: Ab dem Jahr 2014 soll
die jährliche Menge an in Kohlekraftwerken erzeugtem Strom begrenzt und in den Folgejahren stetig und
weitgehend linear reduziert werden. Nach unserem
Antrag soll dann spätestens 2040 der letzte Meiler vom
Netz. Der Neubau von Kohlekraftwerken und Neuaufschluss von Tagebauen würde sofort untersagt.
Hätten wir solch ein Gesetz, so würde Deutschland
Europa nicht mehr lange mit billigem Kohlestrom
überfluten können, wie es gegenwärtig geschieht. Ein
Kohleausstiegsgesetz hätte aber noch eine zweite positive Wirkung: Momentan ist der Netzentwicklungsplan
darauf ausgelegt, dass alle Kohlekraftwerke beinah
Volllast fahren. Klar, sie haben ja auch das Recht dazu.
Nun kommen die geplanten Ökostrommengen dazu. In
der Summe haben wir dann künftig eine Netzauslegung, die sich an einem Extremszenario orientiert,
welches der Energiewende genau genommen widerspricht. Denn Kohlestrom soll ja eigentlich durch
Strom aus Wind und Sonne abgelöst werden.
Mit einem Kohleausstiegsgesetz hätten wir also
nicht nur für die Kohleverstromung eine Begrenzung,
sondern es wäre auch weniger Netzausbau nötig. Darum halten wir das Konzept nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch und sozial für eine vernünftige
Sache. Ich hoffe, diese Sichtweise werden die anderen
Parteien schrittweise verstehen und übernehmen.
Wir reden hier heute über einen Antrag der Fraktion Die Linke, der Konsequenzen aus dem Scheitern
des europäischen Emissionshandels einfordert. Und es
ist wahr: Der Emissionshandel steht am Rande des
Abgrunds. Unzureichende Klimaziele, die europäische
Wirtschaftskrise und eine Schwemme billiger Zertifikate aus Drittstaaten haben dazu geführt, dass der
Preis für Verschmutzungsrechte auf nur noch rund
3 Euro je Tonne CO2 eingebrochen ist - viel zu wenig,
um Anreize für Investitionen in saubere Technologien
zu setzen.
Und die Bundesregierung ist nicht bereit, dem am
Boden liegenden Emissionshandel wieder auf die
Beine zu helfen. Im Gegenteil! Konservative und Liberale haben im Europäischen Parlament die dringend
erforderliche Reparatur des europäischen Emissionshandels schon im Ansatz gestoppt. Sie haben das Backloading, die kurzfristige Verknappung von Emissionsberechtigungen, abgelehnt. Damit bleibt das zentrale
Instrument der EU-Klimapolitik auf absehbare Zeit
wirkungslos.
Die Folgen dieses Politikversagens sind dramatisch: Klimaschädliche Braunkohle boomt, während
hocheffiziente Gaskraftwerke stillstehen. Die deutschen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch die
EEG-Umlage steigt, weil Wind- und Sonnenstrom
mehr Unterstützung brauchen, um mit der verbilligten
Kohle konkurrieren zu können. Und im Energie- und
Klimafonds der Bundesregierung klafft ein Milliardenloch.
Für diese Entwicklungen trägt Bundeskanzlerin
Merkel maßgebliche Verantwortung. Bundeswirtschaftsminister Rösler hat die EmissionshandelsReform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn gewähren lassen. Sie hat stillschweigend hingenommen, dass
die Abgeordneten ihrer Partei dem europäischen
Klimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hat
die ehemalige „Klima-Kanzlerin“ gerührt. Minister
Altmaier hat hilflose Appelle nach Brüssel geschickt,
vor einem Rückschlag für den Klimaschutz gewarnt.
Doch seine Parteifreunde haben nicht auf ihn gehört,
und auch nicht seine Kanzlerin. Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen.
Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zu
einer Richtungsentscheidung über den Klimaschutz.
Wir Grüne treten ein für die überfällige Anhebung des
EU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020. Wir wollen eine deutliche
Verknappung der Verschmutzungsrechte, um das Überangebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem Markt zu
nehmen. Und wir wollen eine grundlegende Reform
des Emissionshandels, um den CO2-Preis zu stabilisieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Schwächung des europäischen Klimaschutzes
macht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebene
notwendig. Deshalb werden wir dem Bundestag den
Entwurf eines nationalen Klimaschutzgesetzes vorlegen: Ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele verbindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle der
Klimaschutzmaßnahmen etabliert und bei Abweichungen vom Zielpfad ein Gegensteuern der Politik erzwingt. Ein Gesetz, das klarmacht, dass klimaschädlicher Kohlestrom in Deutschland keine Zukunft hat,
dass wir ihn Schritt für Schritt überflüssig machen
durch erneuerbare Energien und Energieeffizienz.
Deutschland muss wieder Vorreiter und Antreiber
werden beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen dafür
bereit.
Die Beschlussempfehlung des zuständigen Ausschusses offenbart eine bemerkenswerte Einigkeit bei
der Analyse der Situation. Doch der Mut, daraus Konsequenzen zu ziehen, fehlt den meisten.
Der Antrag der Fraktion Die Linke versucht es noch
im Guten: Zum größten Teil beschäftigt er sich mit den
Möglichkeiten, wie der Emissionshandel doch noch zu
retten sein könnte: Erhöhung des europäischen Klimaschutzzieles auf minus 30 Prozent, Stilllegung überschüssiger Zertifikate und eine entschlossenere jährliche Reduktion. Dem Markt soll also eine Chance
gegeben werden, zu zeigen, dass er auch Klimaschutz
kann. Erst wenn das scheitern sollte, wird in letzter
Konsequenz ein ordnungsrechtliches Instrument in Gestalt eines Kohleausstiegsgesetzes gefordert.
Das ist ein großzügiges Kompromissangebot an die
Regierungsfraktionen. Schlagen Sie das nicht aus.
Die Bundesregierung hat es nicht einmal geschafft,
die viel zu vorsichtigen Vorschläge der EU-Kommission zur Rettung des Emissionshandels zu unterstützen. Eine solche Bundesregierung muss vom Parlament zum Handeln gezwungen werden.
Als in der Lausitz direkt gewählter Abgeordneter
habe ich ganz konkrete Folgen mangelnden Klimaschutzes vor Augen; denn die Braunkohlekraftwerke
gehören - in der Lausitz genauso wie im Rheinland zu den klimaschädlichsten Anlagen Deutschlands.
Die Landesregierungen in Brandenburg und Sachsen lassen sich bereits Gefälligkeitsgutachten schreiben, denen zufolge Braunkohlestrom aus Deutschland
künftig Polen und Frankreich mit Energie versorgen
soll. Die engen Beziehungen der Staatskanzleien in
Potsdam und Dresden zum Vattenfall-Konzern sind legendär. Offensichtlich hat der geringe CO2-Preis zu
diesen Planspielen auf Kosten des Klimaschutzes inspiriert. Offensichtlich sehnt mancher in diesen Kreisen ein Scheitern des Klimaschutzes in Europa herbei.
Doch für diese Lobbypolitik sollen in meinem Wahlkreis Dörfer zerstört und Menschen gegen ihren Willen
umgesiedelt werden. Bei Weigerung, seine Heimat zu
verlassen, kommt die Drohkulisse der bergrechtlichen
Grundabtretung ins Spiel. Deren Verfassungskonformität ist umstritten und wird demnächst durch das
Bundesverfassungsgericht überprüft.
Aktuell werden die Langzeitprobleme offensichtlich,
die Braunkohleabbau für den Wasserhaushalt verursacht. Die Versauerung des Grundwassers und die
Einträge riesiger Mengen an Eisen und Sulfat in die
Flüsse halten mehr als 100 Jahre nach Beendigung des
Bergbaus an. Jeder neue Tagebau würde diese Probleme um mehrere Jahrzehnte verlängern. Im Übrigen
erreicht ein Teil dieser Probleme über die Spree auch
Berlin.
Braunkohleverstromung wird den Erfordernissen
der Energiewende mittel- und langfristig nicht gerecht.
Das ist nicht neu, sondern bereits von Enquetekommissionen früherer Legislaturperioden in Energieszenarien eindeutig dargestellt worden. Aktuell weist besonders das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
wiederholt darauf hin.
Machen Sie sich also nicht zum Handlanger derjenigen, die die Zeit der Braunkohle mit immer neuen
Tricks verlängern wollen. Tragen Sie nicht dazu bei,
besser geeignete Brückentechnologien wie Gaskraftwerke durch zu geringe CO2-Preise kaputtzumachen.
Man kann nicht lauthals die Energiewende verkünden und dann den Klimaschutz absichtlich vor die
Wand fahren. Die deutsche Energiewende steht vor einem Glaubwürdigkeitstest. Lassen sie ihn uns gemeinsam bestehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12489, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12064 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die
Stimme der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesundheitsversorgung von Menschen mit
Behinderung menschenrechtskonform gestalten
- Drucksache 17/12712 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({0})Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Ob wir hier im Deutschen Bundestag eine Debatte
über die Arbeitswelt oder den Sport oder das Wahlrecht oder die wirtschaftliche Entwicklung führen, immer sind auch die Belange von Menschen mit Behinderung berührt. So ist es auch im Gesundheitswesen.
Dieses deckt sogar einen wesentlichen Anteil der Belange von Menschen mit Behinderung ab, denn es gilt,
das gesundheitliche Wohlbefinden zu erhalten bzw. zu
stärken oder die Beeinträchtigungen zu lindern oder
Schmerzen zu vermeiden oder den gegenwärtigen Gesundheitszustand zu stabilisieren, chronische Erkrankungen oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden bzw. die
Betreuung so zu organisieren, dass ein menschenwürdiges Leben und eine gesellschaftliche Teilhabe möglich sind. Das ist nicht nur aus ganz persönlichen Gesichtspunkten für erkrankte oder durch einen Unfall
dauerhaft verletzte oder von Geburt an mit einer Behinderung lebende Menschen wichtig, sondern letztlich aufgrund der demografischen Entwicklung eine
gesellschaftspolitische Aufgabe von uns allen. Das haben wir als Unionsfraktion in vielen immer wieder vorgelegten Anträgen deutlich gemacht. Und wir haben in
dieser Legislaturperiode in den jeweiligen Gesetzgebungsprozessen immer wieder auch Anliegen im Interesse der Menschen mit Behinderung geregelt. Das
Thema der Gesundheitsversorgung ist eine permanente Aufgabe und immer aktuell. Insofern ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen durchaus sinnvoll.
Auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist dem Thema Gesundheitsversorgung ein
besonderer Abschnitt gewidmet. Wir wollen eine
wohnortnahe, barrierefreie und flächendeckende Versorgung mit Präventions-, Gesundheits-, Rehabilitations- und Pflegedienstleistungen für Menschen mit
und ohne Behinderung. Das bedeutet, dass auch alle
Ärztinnen und Ärzte, das gesamte medizinische Personal, ja alle Leistungsanbieter für die Belange von
Menschen mit Behinderung sensibilisiert und fachlich
qualifiziert sind. Das bedeutet auch, dass in den kommenden Jahren weiter daran gearbeitet werden muss,
eine ausreichende Zahl an Arztpraxen barrierefrei zugänglich zu machen.
Es muss nach unserer Ansicht unmissverständlich
Bedingung sein, bei Neubauten konsequent auf Barrierefreiheit zu achten. Auch Modernisierungsarbeiten in
Praxen von gesundheitlichen Leistungsanbietern sollten genutzt werden, noch mehr Barrierefreiheit zu
schaffen. Dabei ist auf Praxisbesonderheiten entsprechend den Behandlungsnotwendigkeiten zu achten. In
diesem Kontext ist die ehrenamtliche Arbeit der Stiftung Gesundheit zu loben. Über ihre transparente Aufstellung im Internet ist die Orientierung bei der Arztsuche mit den Suchfunktionen der „barrierefreien
Praxis“ leicht möglich. Dieses Angebot schafft zur
Barrierefreiheit in Arztpraxen Transparenz und ist
schon deshalb wertvoll. Es ist eine echte Hilfestellung
für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen.
lch weiß, dass dieses Angebot genutzt wird, weil es
auch eine ständige Vervollkommnung erfährt.
Aber es geht nicht nur um bauliche Bedingungen.
Wir sind uns einig, dass die Fragen der verständlichen
Kommunikation, zum Beispiel durch Leichte Sprache
oder Assistenz bei Taubblindheit, ein unbedingtes Muss
für eine gute individuelle Versorgung sind. Mehr und
mehr Arzneimittelhersteller achten auf den barrierefreien Beipackzettel. Und ich selbst habe in Apotheken
auch schon Informationsmaterial in Leichter Sprache
gesehen. Es ist wirklich etwas in Bewegung gekommen, seitdem wir über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention diskutieren.
Ich finde es zumindest untertrieben, wenn die Antragsteller im Antrag lapidar formulieren, dass im Ersten, Fünften, und Neunten Sozialgesetzbuch einige
Vorgaben zur Erbringung von Leistungen der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung enthalten sind. Vielmehr ist es so, dass wir eine umfassende und solidarische Regelung haben. Natürlich
stellen wir in der Umsetzung immer wieder auch Defizite fest und wir thematisieren diese. Die Zuständigkeiten dafür sind differenziert. Sie liegen zum Teil bei den
Ländern, zum großen Teil auch bei der Selbstverwaltung.
Wir Menschen sind von lernenden Systemen umgeben. Das gilt auch für das System des Gesundheitswesens. Deshalb kommt es ja immer wieder zur neuen
Gesetzgebung. Und wie Sie wissen, ist das gerade im
Gesundheitsbereich besonders intensiv, weil es sich
um ein sehr komplexes und ausdifferenziertes System
handelt. Wir Menschen sind ja auch sehr verschieden.
Lassen Sie mich auf einige Aspekte von Verbesserungen in der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderung eingehen.
So haben wir im GKV-Versorgungsstrukturgesetz,
das zum Jahresanfang 2012 in Kraft getreten ist, im
§ 87 im SGB V einen neuen Abs. 2 eingefügt. Danach
ist im einheitlichen Bewertungsmaßstab für zahnärztliche Leistungen zusätzlich zum Wegegeld eine gesondert abrechenbare Position vorzusehen. Diese soll für
das Aufsuchen von Pflegebedürftigen und Menschen
mit einer Behinderung gelten, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, eine Zahnarztpraxis selbst aufzusuchen. Und im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist zehn Monate später die Erweiterung
des einheitlichen Bewertungsmaßstabs nochmals ausgedehnt worden, und zwar auf Personen mit dauerhaft
erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Es wird
eine zusätzliche Leistungsposition zur Abrechnung von
Hausbesuchenstätigkeiten durch Vertragsärzte eingeführt, wenn diese im Rahmen eines Kooperationsvertrags nach § 119 b Abs. 1 SGB V erbracht wird. Am
17. Dezember 2012 hat der Bewertungsausschuss nunmehr für zahnärztliche Leistungen beschlossen, mit
Wirkung zum 1. April 2013 den BEMA den gesetzlichen Vorgaben entsprechend zu erweitern. Damit steZu Protokoll gegebene Reden
hen seit April dieses Jahres die verbesserten Leistungen zur Verfügung.
Als weiteres Beispiel für die sich verbessernde medizinische Versorgung nenne ich das AMNOG. Danach
gilt bei Arzneimitteln für die Behandlung seltener Erkrankungen, sogenannter Orphan Drugs, der sonst
nachzuweisende medizinische Zusatznutzen bereits
durch die arzneimittelrechtliche Zulassung als belegt.
Von dieser Regelung profitieren viele Menschen mit einer Behinderung und einer spezifischen Erkrankung.
Erinnern will ich auch an die novellierte Heilmittelrichtlinie. Seit 2011 gilt, dass Menschen mit dauerhaften schweren Behinderungen ohne erneute Überprüfung des Behandlungsbedarfs eine langfristige
Genehmigung von mindestens einem Jahr Heilmittelbehandlungen von ihrer gesetzlichen Krankenkasse
bekommen können. Kinder und Jugendliche mit einer
besonders schweren und langfristigen funktionellen
und strukturellen Schädigung und Beeinträchtigung
der Aktivitäten können auch ohne Verordnung eines
Hausbesuchs eine Heilmittelbehandlung in fördernden
Tageseinrichtungen außerhalb der Praxis erhalten.
Das sichert eine kontinuierliche und qualitätsgerechte
Behandlung, weil sie zu Tageszeiten stattfindet, wo die
Kinder noch besonders aufnahmefähig sind. Das ist
viel besser als abendliche Behandlungen, wenn Mutter
oder Vater, von der Arbeit kommend, Zeit haben. Damit haben wir auch auf die sich verändernden Bedingungen der Arbeits- und Familienwelt reagiert.
Ferner haben wir zum Januar 2012 mit dem GKVVersorgungsstrukturgesetz im § 32 im Abs. 1 a verschiedene Regelungen getroffen, um die Heilmittelversorgung von Patientinnen und Patienten mit langfristigem Behandlungsbedarf, insbesondere für Menschen
mit schweren und dauerhaften Behinderungen, zu erleichtern. Sie können sich die erforderlichen Heilmittel
von ihrer Krankenkasse für einen geeigneten Zeitraum
genehmigen lassen. Natürlich wird ein Antrag gestellt.
Dieser muss von der Krankenkasse innerhalb von vier
Wochen entschieden sein. Nach Ablauf dieser Frist gilt
die Genehmigung als erteilt. Diese speziellen Verordnungen unterliegen zudem nicht mehr den Wirtschaftlichkeitsprüfungen, die den behandelnden Ärztinnen
und Ärzten oftmals die Entscheidung erschwerten. Zur
Umsetzung haben sich der GKV-Spitzenverband und
die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf bundesweit geltende Praxisbesonderheiten für die Verordnung von Heilmitteln geeinigt, die seit dem 1. Januar
2013 in Kraft sind.
Meiner Aufzählung der Verbesserungen füge ich
noch zwei weitere Beispiele hinzu:
Mit Inkrafttreten des Assistenzpflegegesetzes gilt
seit Januar dieses Jahres der erweiterte Assistenzpflegeanspruch für Assistenz nach dem Arbeitgebermodell für die Situationen, wo es nicht nur um die Unterstützung im Krankenhaus geht, sondern auch wenn
stationärer Aufenthalt für Vorsorge und Rehabilitation
notwendig wird.
Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist noch eine
weitere Verbesserung seit dem 30. Oktober 2012 in
Kraft. Pflegebedürftige, die in vollstationären Einrichtungen leben, erhalten anteilig auch für die Tage das
volle Pflegegeld ausgezahlt, an denen sie zu Hause gepflegt werden. Dadurch werden die häusliche Pflege
sowie der familiäre Kontakt gestärkt. Und diese Regelung gilt auch für die Pflege von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, die zu Hause gepflegt werden
und bislang nur einen Anspruch auf eine Kurzzeitpflege bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres hatten.
Wir in der Koalition haben hier nachgebessert, das
heißt, der Anspruch besteht nunmehr bis zum 25. Lebensjahr. Wir haben damit den berechtigten Bedürfnissen Rechnung getragen.
Wie Sie wissen, ist derzeit das Präventionsgesetz in
der parlamentarischen Beratung. Auch für die medizinische Versorgung von Menschen mit einer Behinderung gilt: Vorbeugen ist in jedem Fall besser. Wir arbeiten daran, dass in der GesundheitsuntersuchungsRichtlinie des G-BA die ärztliche Gesundheitsuntersuchung neben der Früherkennung auch primärpräventive Maßnahmen enthält.
Die bisher in § 25 Abs. 1 vorgegebene Häufigkeit
des Anspruchs der Gesundheitsuntersuchung von zwei
Jahren und die untere Altersgrenze von 35 Jahren sowie die nicht abschließende Aufzählung von Zielkrankheiten für die Früherkennung entfallen. Der G-BA soll
Inhalt, Art, Umfang und Häufigkeit der Untersuchungen sowie die für die Früherkennung in Betracht kommenden bevölkerungsmedizinisch relevanten Zielkrankheiten an den jeweils aktuellen Stand des
medizinischen Wissens anpassen und zugleich altersund zielgruppengerecht ausgestalten. Hierbei ist auch
den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit
Behinderung Rechnung zu tragen. Diese Gesetzesbegründung zeigt deutlich auf, dass bei aktuellen Gesetzgebungsverfahren die Belange von Menschen mit
Behinderung beachtet und Schritt für Schritt optimiert
werden.
Ja, Gesundheit hat einen zentralen Stellenwert in
unserer Gesellschaft eingenommen und zählt zu den
sogenannten Megatrends. Deshalb ist es für uns selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung auch
hier eine echte Teilhabe erfahren und von allen neuen
Erkenntnissen auf medizinischem Gebiet profitieren.
Die Beispiele haben gezeigt, dass viele im Antrag benannte Forderungen von der christlich-liberalen Koalition bereits umgesetzt wurden bzw. in die aktuelle Gesetzgebung einbezogen werden.
Dass es in individuellen Situationen immer wieder
auch Unzufriedenheit oder Klagen der Betroffenen
gibt, liegt oftmals an unterschiedlicher Auslegungspraxis der gesetzlichen Bestimmungen vor Ort und
noch öfter an nicht geklärten Schnittstellenfragen. Wir
sind uns einig: Verschiebebahnhöfe in der medizinischen Versorgung, meist aus Kostengründen, zulasten
von Menschen mit Behinderung sind nicht akzeptabel.
Und wir sind uns auch einig, dass noch stärker als bisZu Protokoll gegebene Reden
her in der medizinischen Aus- und Weiterbildung für
die besonderen Erfordernisse von Menschen mit Behinderung sensibilisiert werden muss und umfassende
Kompetenzen angeeignet werden müssen. Und wir
sind uns in einem dritten Punkt einig: Gute, vorausschauende Gesetze und Verordnungen sind wichtig!
Aber ebenso wichtig ist die Kontrolle der Umsetzung.
Dies setzt eine zeitnahe und umfassende Information
aller Leistungsanbieter voraus.
Da uns alle aber immer wieder auch Beschwerden
über nicht zufriedenstellende Versorgung erreichen,
nutze ich die Gelegenheit, für die Union zu erklären:
Wir setzen uns auch weiterhin für eine bedarfsgerechte
medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung ein und gehen davon aus, dass alle Leistungsträger die medizinische Versorgung verantwortungsbewusst erfüllen. Wir halten am Solidarprinzip fest,
das eine kostenmäßige Überforderung durch Zuzahlungen ausschließt. Die Überforderungsklausel im Gesetz funktioniert in der Praxis. Auch sind zwischenzeitlich praktische Umsetzungsstrategien erprobt, die den
bürokratischen Aufwand minimieren.
Wir nehmen diese Themenstellung nach wie vor
ernst, da wir wissen, dass in einer älter werdenden Gesellschaft die medizinische Versorgung von Menschen
mit Mehrfachbehinderungen zunehmen und über einen
viel längeren Zeitraum praktisch stattfinden wird. Das
sind neue Herausforderungen, an deren Lösungen wir
heute bereits arbeiten.
Der heute hier im Plenum behandelte Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen thematisiert den sehr
wichtigen Bereich einer inklusiven Gesundheits- und
Pflegepolitik. Wir sind uns alle einig, dass den Bedürfnissen und Bedarfen von Menschen mit Behinderungen
sehr viel stärker Rechnung zu tragen ist. Von einem inklusiven Gesundheits- und Pflegewesen sind wir noch
weit entfernt. Menschen mit Behinderung brauchen
viel mehr medizinische Unterstützung.
Damit diese umfassende Unterstützung im Gesundheitswesen auch geschieht, ist Handeln der Politik
angesagt. Nicht nur Menschen mit Behinderung brauchen mehr als Lippenbekenntnisse und Absichtserklärungen in Sonntagsreden.
Durch die Vielzahl der im Antrag erwähnten Baustellen wird klar, wie wenig die aktuelle Bundesregierung - für den Bereich Gesundheit Bundesminister
Daniel Bahr ({0}) - zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich getan hat. Deren
Unterzeichnung jährte sich am 26. März 2013 bereits
zum vierten Mal. Dabei ist mit der Ratifizierung am
26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention
in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht
geworden. Sie verpflichtet insbesondere alle staatlichen Stellen zu mehr Chancengleichheit beim Zugang
und zu mehr Teilhabe und Partizipation in allen Bereichen.
Schon unter Rot-Grün wurde bereits der Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur selbstbestimmten
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft eingeleitet - mit der Einführung des SGB IX,
dem Behindertengleichstellungsgesetz und dem Gleichbehandlungsgesetz. Wir haben noch einen langen Weg
zur inklusiven Gesellschaft vor uns, in der alle Rechtsansprüche aus der UN-Behindertenrechtskonvention
umgesetzt sind. Die SPD fordert die Bundesregierung
auf, die riesigen Chancen aus der UN-Behindertenrechtskonvention für eine inklusive Gesellschaft wahrzunehmen und ihre Politik der kleinen Umsetzungsschritte aufzugeben. Um die Menschenrechte der
behinderten Menschen auf freie Zugänge, auf Selbstbestimmung, auf volle Teilhabe in einer inklusiven Gesellschaft umzusetzen und Rechtsansprüche in allen
gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen, hat die
SPD in dieser Legislaturperiode bereits mehrere Initiativen gestartet.
Unser großer SPD-Antrag zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention „UN-Konvention jetzt
umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft
nutzen“ wurde am 9. November 2012 in zweiter und
dritter Lesung hier im Deutschen Bundestag debattiert. Wir haben hier benannt, wo für uns Handlungsbedarf besteht, um allen Menschen mit Behinderung
vor Beginn an Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Das sind im Bereich von Gesundheit und
Pflege unter anderem: Der Aufbau von medizinischen
Zentren für Erwachsene mit Behinderung, in Anlehnung an die bestehenden Sozialpädiatrischen Zentren
für Kinder; die Auflage eines Programms für den barrierefreien Umbau von Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft, zum Beispiel Arztpraxen, Krankenhäuser, Physio- und Ergotherapiepraxen und
Rehabilitationseinrichtungen. Aus- und Weiterbildungen für Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte im Themenfeld sollen verpflichtend werden ({1}).
Nötig sind die Erweiterung der Ausbildungs- und
Facharztweiterbildungsordnungen. Die Sensibilisierung zur Gewaltproblematik gegenüber Frauen mit
Behinderungen sollte in die Grundausbildung von medizinischen und therapeutischen Berufsgruppen aufgenommen werden. Beratungs-, Hilfs- und Betreuungsstrukturen sind behinderungs-, geschlechts- und
kultursensibel zu verbessern. Und Menschen mit geistiger, insbesondere aber mit mehrfacher Behinderung
sind umfassend in den Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention einzubeziehen.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gilt: Wir wollen diskriminierungsfreie Zugänge
zum Gesundheitswesen, wollen gleiche Patientinnenund Patientenrechte für alle, sodass Teilhabe und
Selbstbestimmung für alle auch im Gesundheitswesen
gilt.
Leider ist zu konstatieren: Zwar wollte das Bundesgesundheitsministerium für 2012, gemeinsam mit den
Ländern und der gesamten Ärzteschaft, ein GesamtZu Protokoll gegebene Reden
konzept vorlegen, um Anreize für einen barrierefreien
Zugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxen
und Kliniken zu gewährleisten. Zwar steht es so - wie
vieles andere auch - im ersten Nationalen Aktionsplan
der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011. Geschehen
ist aber wenig bis nichts. CDU/CSU und FDP haben
bei der Umsetzung der Rechte aus der UN-Behindertenrechtskonvention, haben bei der Herstellung eines
inklusiven Gesundheits- und Pflegewesens versagt.
So rückt beispielsweise das Ziel, in den nächsten
zehn Jahren eine ausreichende Zahl an Arztpraxen
barrierefrei zugänglich zu machen, in weite Ferne.
Das ist schlimm, denn der Handlungsbedarf liegt auf
der Hand - allein in Berlin sind rund 80 Prozent der
Arztpraxen nicht barrierefrei. Für Menschen mit Behinderung ist dadurch das Recht auf freie Arzt- bzw.
Ärztinnenwahl erheblich eingeschränkt. Als Gesundheitspolitikerin setze ich mich für das Recht auf eine
bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung für jede
und jeden ein. Nur ein auf dem Gedanken der Solidarität und Beitragsparität organisiertes Gesundheitswesen ist im Interesse von chronisch kranken, älteren, behinderten und pflegebedürftigen Menschen.
Es existieren Barrieren in vielfacher Hinsicht. Diese
sind multidimensional und existieren in struktureller,
mentaler und kommunikativer Art. Zu den strukturellen Barrieren des deutschen Gesundheitssystems gehören neben nicht barrierefreien Arztpraxen und nicht
behindertengerechten Praxisausstattungen die ungenügende Assistenz in der stationären Versorgung oder
nicht ausreichende Ausbildungscurricula in den Gesundheits- und Pflegeberufen. Von höchster Bedeutung
ist auch die mangelnde Kommunikation zwischen Arzt
und Patient, zwischen Ärztin und Patientin: Die einen
können sich häufig nicht ausreichend ausdrücken, die
anderen haben nicht gelernt, dass Krankheit und Behinderung zwei verschiedene, oftmals aber mit Wechselwirkungen versehene Aspekte sind. An eine Anamnese werden vielfache Herausforderungen gestellt, zu
denen es besonderer Kompetenzen bedarf.
Völlig unverständlich ist mir, warum nicht von Anfang das Motto „Nichts ohne uns über uns“ umgesetzt
wurde, warum die Vertretungen von Menschen mit Behinderung so wenig in den Prozess der Erarbeitung
des Gesamtkonzepts eingebunden sind. Dann wäre mit
Sicherheit mehr geschehen, und wir wären bei einer
inklusiven Gesellschaft, einem inklusiven Gesundheits- und Pflegewesen sicherlich ein Stück weiter.
Für mich, für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bleibt die grundlegende Herausforderung,
für ein grundsätzliches gesellschaftliches und persönliches Umdenken im Gesundheitswesen zu sorgen. Unser Ziel ist es, alle medizinischen und pflegerischen
Angebote aus Sicht der Patientenperspektive zu planen
und vor Ort anzubieten.
Wir werden den heute vorgelegten Antrag im Ausschuss für Gesundheit weiter beraten. Ich prophezeie,
dass Schwarz-Gelb bis zum Ablauf dieser Legislaturperiode aber keine wesentlichen Verbesserungen für
die Gesundheitsversorgung der Menschen mit Behinderung umsetzen wird. Nach der gewonnenen Bundestagswahl werden wir, wird Rot-Grün dieses Thema mit
Verve anpacken und zu mehr Teilhabe, zu mehr Selbstbestimmung führen.
Menschen mit Behinderung haben ebenso wie Menschen mit psychischen Erkrankungen das Recht auf
gute Gesundheit. Ein diskriminierungsfreier Zugang
zu einer guten gesundheitlichen Versorgung leitet sich
für uns schon aus dem Grundgesetz ab und nicht erst
durch die UN-Behindertenrechtskonvention.
Mit der Gesundheitsversorgung von Menschen mit
Behinderung haben wir uns in dieser Legislaturperiode intensiv beschäftigt. Unser Ziel ist eine optimale
gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung. Das schließt Früherkennung und Präventionsmaßnahmen ebenso ein wie Leistungen, die eine Behinderung abwenden oder kompensieren.
Wir haben in dieser Legislatur eine deutliche Verbesserung in der zahnärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung erzielt. Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sind häufiger von
Zahn- und Zahnfleischerkrankungen betroffen, da sowohl die Mundhygiene als auch die Behandlung eingeschränkt ist. Ich freue mich daher, dass wir im Versorgungsstrukturgesetz, das die FDP-Bundestagsfraktion
gemeinsam mit dem Koalitionspartner im Bundestag
verabschiedet hat, die Vergütung der Zahnärzte angemessen gestaltet haben. So wird dem erhöhten personellen, instrumentellen und zeitlichen Aufwand
Rechnung getragen. Zahnärzte können bettlägerige
oder schwerbehinderte Menschen nun in der Pflegeeinrichtung aufsuchen und vor Ort behandeln.
Mit dem Versorgungsstrukturgesetz haben wir zudem dafür gesorgt, dass auch zukünftig alle Menschen
eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung
wohnortnah erhalten.
Auch für Menschen mit Assistenzpflegebedarf haben wir Verbesserungen erreicht. Durch unsere Politik
können Menschen mit Pflegebedarf ihre privat beschäftigte Pflegekraft nicht mehr nur ins Krankenhaus
mitnehmen, sondern zusätzlich auch in stationäre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Für die gesamte Dauer ihres Aufenthalts erhalten die Betroffenen nun weiterhin das Pflegegeld und die Hilfe zur
Pflege von der Sozialhilfe.
Auch die Barrierefreiheit spielt in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung eine wichtige Rolle. Menschen, die auf Rollstühle oder Rollatoren
angewiesen sind, muss der Zugang zu Arztpraxen,
Apotheken oder Physiotherapieräumen erleichtert
werden. Im besten Fall haben Praxen Behindertenparkplätze am Haus, eine Busstation in der Nähe, eine
Rampe, elektrische Türöffner auf Hüfthöhe, höhenverstellbare Behandlungsliegen sowie -stühle und einen
Fahrstuhl mit Blindenschrift auf den Tasten. Leider
Zu Protokoll gegebene Reden
haben immer noch einige Arztpraxen und Krankenhäuser erhebliche Defizite in der Barrierefreiheit,
während andere schon viel weiter sind. Deshalb fördern wir das Projekt „Barrierefreie Praxis“, das in die
Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit integriert ist.
Damit können sich Patienten über den Grad der Barrierefreiheit bzw. Barrierearmut von Arztpraxen in
ganz Deutschland informieren.
In einer alternden Gesellschaft spielt auch die Versorgung von Menschen mit Demenz eine große Rolle,
da diese eine umfangreiche Unterstützung benötigen.
Deshalb haben wir mit dem Pflege-NeuausrichtungsGesetz die Leistungen für demenziell Erkrankte in der
ambulanten Versorgung erhöht. Auch die Ausweitung
der Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ist ein Erfolg. Die erwachsenen Töchter pflegebedürftiger Menschen sind
mit 23 Prozent die größte Gruppe pflegender Angehöriger: Ihnen Spielräume und weitere Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten, war uns ein wichtiges Anliegen.
Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt. Darum beneiden uns viele Länder. Doch
darauf können und wollen wir uns nicht ausruhen, sondern wir wollen unser Gesundheitssystem noch effizienter und bedarfsgerechter gestalten, gerade auch
für Menschen mit Behinderung.
Jedoch sind nicht alle Fragen rund um die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung eine
Aufgabe des Gesetzgebers. So kann es beispielsweise
nicht sein, dass Rehabilitationsträger Leistungen verwehren, da sie sich nicht einig sind, wer die Kosten
trägt. Meist sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen
schon längst geschaffen, sodass wir auch von den Parteien der Selbstverwaltung erwarten, dass sie die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Blick behalten.
Was nützt die beste Gesundheitsversorgung, wenn
man sie nicht erreichen kann? Gar nichts. Die Linke
hat die Bundesregierung in einer Großen Anfrage
nach ihren Kenntnissen bezüglich der barrierefreien
Gestaltung von Praxisräumen und Kliniken gefragt. Es
folgte eine der häufigsten Antworten auf Fragen zum
Gesundheitswesen - nämlich dass der Bundesregierung dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Gerne wird
auf die Verantwortung der Länder verwiesen, als ob
der Bund keine Verantwortung für eine ausreichende
gesundheitliche Versorgung der Menschen mit Behinderung tragen würde. Das gleiche Ergebnis bei unseren Fragen zur zahnärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung. Menschen mit Behinderung
spielen in der bisherigen Bedarfsplanung, in der Prävention, letztlich in der gesamten Gesundheitspolitik
keine oder nur eine marginale Rolle. Stattdessen vollmundige Ankündigungen im Nationalen Aktionsplan,
man würde 2012 gemeinsam mit den Ländern und der
Ärzteschaft ein Gesamtkonzept entwickeln, das dazu
beiträgt, einen barrierefreien Zugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxen und Kliniken zu gewährleisten. Leere Worte, wie so oft.
Die Linke hat auf die Mängel bei der Barrierefreiheit in den entsprechenden Anträgen und Anfragen
hingewiesen und Änderungen gefordert. Den Grünen
gebührt der Dank dafür, eine Vielzahl von Forderungen für eine barrierefreie Gesundheitsversorgung in
einem Antrag zu bündeln. Einen großen Teil der Forderungen können wir unterstützen, einiges hätten wir
lieber klarer oder auch schärfer formuliert. So reicht
es nicht aus, bei den Ländern auf eine Stärkung der
Barrierefreiheit als Qualitätskriterium in der Krankenhausplanung hinzuwirken. Die Linke fordert seit
geraumer Zeit zur Beseitigung des Investitionsstaus
bei Krankenhäusern 2,5 Milliarden Euro jährlich für
zehn Jahre aus dem Bundeshaushalt. Die Beantragung
dieser Gelder kann an einen Beitrag zur barrierefreien
Ausgestaltung der Kliniken geknüpft werden. So hätte
man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Wir finden es wie die Grünen richtig, bei Neuzulassungen von Praxissitzen die Verpflichtung zur Barrierefreiheit festzuschreiben. Hier sind die Barrieren teilweise sogar für Menschen ohne festgeschriebene
Behinderung kaum überwindbar. Wie kann es zum Beispiel sein, dass es orthopädische Praxen im vierten
Stock ohne Aufzug gibt? Natürlich werden viele Praxisinhaber darauf bestehen, dass sie auch ihre nicht
barrierefreie Praxis weiterverkaufen können. Der Aufkauf der Praxen durch die KV benachteiligt allerdings
diejenigen Praxisinhaber, die selbst für einen barrierefreien Zugang gesorgt haben; denn der Aufkauf von
Praxen mindert das Honorarbudget der KVen. Hier
müssen schnellstens Regelungen gefunden werden, bevor weitere Ärztinnen und Ärzte ihre neuen, unzugänglichen Praxen einrichten, und wir müssen eine Deadline benennen, bis wann alle Praxen barrierefrei sein
müssen. Sonst schleppen wir Praxen mit Barrieren bis
ins nächste Jahrtausend.
Es ist auch nicht ausreichend, eine bestimmte Anzahl von barrierefreien Arztsitzen vorzuhalten, wie es
die Bundesregierung fordert. Es kann doch nicht sein,
dass Menschen mit Behinderung Einschränkungen bei
der freien Arztwahl haben, faktisch Patientinnen und
Patienten zweiter Klasse sind, nur weil Praxissitze
nicht barrierefrei sind. Es mag da Ausnahmen bei bestimmten Behinderungen geben, für die Praxen nur mit
großem Aufwand zugänglich gemacht werden können.
Entsprechend sind verbindliche Mindestkriterien für
Praxen, ob für Ärzte oder Heilmittelerbringer, zu benennen. Die Bundesregierung ist gefordert, jährlich einen Bericht über die Barrierefreiheit in der gesundheitlichen Versorgung und die Fortschritte vorzulegen,
statt leerer Versprechungen. Das Nichtwissen, das ja
letztlich aus einem Nicht-wissen-Wollen folgt, muss
aufhören, und es müssen endlich Taten folgen.
Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen Rollstuhl,
um sich dauerhaft damit fortzubewegen, und müssen
plötzlich Ihrer Krankenkasse erklären, warum Sie mit
diesem Rollstuhl auch zur Bank, zum Optiker und in
Zu Protokoll gegebene Reden
den Buchladen möchten. Denn Ihre Kasse ist der Auffassung, sie sei gesetzlich nur verpflichtet, einen Rollstuhl zu finanzieren, der medizinisch notwendig ist.
Stellen Sie sich vor, Sie liegen nach einem Notfall im
Krankenhaus, und das gesamte Personal ist nicht in
der Lage, mit Ihnen zu kommunizieren: Niemand dort
spricht Ihre Sprache, und eine Dolmetscherin ist auch
nicht vor Ort. Das ist die Situation von vielen Gehörlosen in diesem Land. Oder stellen Sie sich vor, Sie
sind blind und möchten zum Hausarzt, dürfen in die
Praxis um die Ecke Ihren Blindenführhund aber nicht
mitbringen.
Menschen mit Behinderung kennen solche Probleme; sie begegnen ihnen immer wieder. Denn unser
Gesundheitssystem ist nicht für sie gemacht. Wer keine
Beeinträchtigung hat, hat vermutlich auch schon viel
Zeit in Wartezimmern verbracht, musste lange auf einen Termin warten oder hatte Probleme, auf Anhieb
die richtige Anlaufstelle zu finden. Wenn wir hier über
die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung sprechen - und zu den Menschen mit Behinderung zählen auch Menschen mit chronischen Erkrankungen, psychischen Beeinträchtigungen oder
Pflegebedürftigkeit -, dann sprechen wir über wesentlich gravierendere Probleme.
Ich möchte hier kein Bild des Schreckens zeichnen:
Es ist richtig, dass sich immer mehr Akteure im Gesundheitssystem bemühen, die Bedarfe behinderter
Menschen zu berücksichtigen und das System entsprechend umzugestalten. Es ist aber auch richtig, dass unser Gesundheitssystem viel zu stark an den Interessen
der Kostenträger und Leistungserbringer ausgerichtet
ist - auf Kosten einer guten Versorgung von Menschen
mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen.
Und die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure
versichern sich viel zu häufig gegenseitig, dass sie ein
inklusives System möchten, ohne viel dafür zu tun. Das
muss sich ändern.
Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen. Das
geht unzweideutig aus § 2 a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch hervor. Wohlfahrtsverbände und Verbände behinderter und chronisch kranker Menschen
kritisieren seit langem, dass diese Formel leistungsrechtlich und praktisch kaum Niederschlag findet.
Grund sind unter anderem bestehende Spannungsfelder zwischen dem Fünften und dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch. Sie verursachen zahlreiche Probleme
in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit
Behinderung. Unser Antrag sieht daher vor, alle Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, die
Leistungsansprüche und die Organisation der Gesundheitsversorgung regeln, auf noch bestehende Widersprüche zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur
UN-Behindertenrechtskonvention zu überprüfen und
im Sinne behinderter Menschen zu beseitigen.
Es ist aber nicht allein die Politik gefragt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind gesetzlich dazu verpflichtet, die ärztliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen. Für Menschen mit Behinderung ist das
nicht gewährleistet, wenn Praxen baulich und technisch nicht barrierefrei sind oder die Kommunikation
nicht gelingt. Damit Krankenhäuser entsprechend gestaltet werden, muss das Ziel der Barrierefreiheit in
der Krankenhausplanung der Länder berücksichtigt
werden. Wenn es um die Aus-, Fort- und Weiterbildung
in den Gesundheitsberufen geht, kommen unter anderem die Universitäten ins Spiel. Zu diesen Bereichen
haben wir entsprechende Forderungen in unseren Antrag aufgenommen. Denn auch wenn die Politik nicht
alleine gefragt ist, so halte ich es für wirklich notwendig, dass wir politisch größeren Druck machen.
Ich war selbst ganz überrascht: Im Rahmen einer
Veranstaltung meiner Fraktion zur gesundheitlichen
Versorgung von Menschen mit Behinderung waren
sich Kassen- und Ärztevertreter in ihrer Forderung an
die Politik erstaunlich einig. Angesichts der teilweise
konträren Interessen in der Selbstverwaltung dauere es
mitunter sehr lange, bis die untergesetzliche Ausgestaltung von Vorgaben Gestalt annehme. Hier sei der
Gesetzgeber aufgerufen, für eine Einigung Fristen mit
Sanktionsandrohungen vorzugeben, um Verzögerungstaktiken zu verhindern. Ich finde, auch darüber sollten
wir sprechen.
Dass wir konsequenter an einer besseren gesundheitlichen Versorgung behinderter Menschen arbeiten,
gebietet die völkerrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich freue
mich, mit Ihnen in den Ausschussberatungen über unsere Vorschläge zu diskutieren.
Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12712 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Angelika Krüger-Leißner, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Bildung und Teilhabe für alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland
sicherstellen - Das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren
- Drucksache 17/13194 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschuss
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Der Komponist Benjamin Britten sagte einst: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man damit
aufhört, treibt man zurück.“ Dieses Zitat lässt sich
ebenso auf die Bereiche Bildung und Teilhabe übertragen. Wir wollen, dass kein Kind in Deutschland „zurück treibt“ und alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern
oder ihrer Herkunft eine Chance auf Bildung und Teilhabe erhalten.
Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ermöglichen
wir Kindern und Jugendlichen seit 2011 diese Chance.
Wir ermöglichen ihnen, an Bildungs- und Freizeitangeboten mit Gleichaltrigen teilzunehmen und ein warmes Mittagessen in der Schule, der Kita oder im Hort
in Anspruch zu nehmen. Wir haben das Bildungs- und
Teilhabepaket infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010 rückwirkend zum 1. Januar 2011 eingeführt.
Sie haben diesen Antrag eingebracht und fordern
darin vermeintlich soziale Gerechtigkeit. Ich frage Sie
ganz offen: Wo war Ihr soziales Gewissen gegenüber
den Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren
Familien, als Sie selbst in der Regierungsverantwortung waren?
Ich möchte Sie daran erinnern: Mit dem Bildungsund Teilhabepaket haben wir Kindern und Jugendlichen erstmals seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze
durch Ihre rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005
eine echte Chance ermöglicht, an Bildungs- und Freizeitangeboten teilzunehmen, so zum Beispiel die Mitgliedschaft in einem Sport- oder Musikverein, die
Möglichkeit der Lernförderung oder das gemeinsame
warme Mittagessen in Hort, Kita oder in der Schule.
Das Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht die
Übernahme der Kosten für ein- oder mehrtätige Ausflüge in der Kita oder in der Schule, den persönlichen
Schulbedarf in Höhe von 70 Euro jeweils zum 1. August und in Höhe von 30 Euro jeweils zum 1. Februar
eines Schuljahres, die Schülerbeförderung, die schulnahe Lernförderung und, wie bereits erwähnt, ein gemeinsames warmes Mittagessen in der Schule, in der
Kita oder im Hort.
In Anspruch nehmen können das Bildungs- und Teilhabepaket Kinder und Jugendliche in der Grundsicherung nach dem SGB II sowie in der Sozialhilfe nach
dem SGB XII. Kinder und Jugendliche, deren Eltern
Wohngeld oder Kindergeldzuschlag erhalten oder unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werden
ebenfalls berücksichtigt.
Seit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets im Jahr 2011 sind inzwischen zwei Jahre vergangen. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten wird
das Bildungs- und Teilhabepaket inzwischen gut von
den betroffenen Familien vor Ort angenommen.
Das zeigen zum Beispiel die Zahlen, die der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag im Jahr
2012 zur Inanspruchnahme des Bildungspakets vorgelegt haben. Hierfür hatten der Deutsche Städtetag und
der Deutsche Landkreistag eine Umfrage bei 70 Städten und 190 Landkreisen in Deutschland zum Bildungs- und Teilhabepaket durchgeführt. Laut dieser
Umfrage des Deutschen Städtetages stieg die Inanspruchnahme des Bildungspakets von 27 Prozent im
Juni 2011 auf etwa 56 Prozent im März 2012. Nach
Angaben des Deutschen Landkreistages stieg die Inanspruchnahme von 30 auf 53 Prozent im gleichen Zeitraum. Das zeigt eine positive Tendenz.
Meine lieben Kollegen von der SPD, ich möchte Sie
in diesem Zusammenhang an den 21. Februar 2013 erinnern, als Sie dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und
anderer Gesetze, Drucksache 17/12036, im Deutschen
Bundestag zugestimmt haben. Mit der Zustimmung zu
diesem Gesetzentwurf wurde nach zwei Jahren Praxiserfahrung in der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets der Weg für eine Vereinfachung des Bildungspakets geebnet. Der Deutsche Landkreistag als
Vertreter der Landkreise hat hierfür viele konstruktive
Vorschläge zur Verwaltungsoptimierung unterbreitet.
So können Leistungen, welche vor einem Schul- oder
Kitaausflug nicht rechtzeitig erbracht werden, auch im
Nachhinein erstattet werden. Die Regelung zum Eigenanteil von Hartz-IV-Beziehern bei der Schülerbeförderung und zur Kostenabrechnung von Klassenausflügen
sollten mit dem Gesetzentwurf praktikabler gefasst
werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies waren unter anderem die Vorschläge der kommunalen
Spitzenverbände.
Umso mehr wundert es mich, dass Sie, verehrte Kollegen von der SPD, die dem Gesetzentwurf des Bundesrates im Februar zugestimmt haben, nun einen
neuen Antrag vorlegen, der die Reformierung des Bildungs- und Teilhabepakets vorsieht.
Nicht nur das. Sie fordern auf Seite 3 Ihres Antrags
den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsbetreuung
und Ganztagsschulen, die Deckung des förderpädagogischen Bedarfs an Regelschulen, Schulsozialarbeit an
allen Schulen. Darüber hinaus fordern Sie gebührenfreie Betreuungsangebote, Lernmittelfreiheit und kostenlosen Förder- und Leistungsunterricht. Sie fordern
diese kostenlosen Angebote, sagen aber nicht, wer das
bezahlen soll, liebe Kollegen der SPD.
Weiterhin fordern Sie - ich zitiere - „für alle zugängliches Mittagessen in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege und Horten sowie die
notwendige finanzielle Absicherung der zusätzlichen
Bildungsanstrengungen von Bund und Ländern“.
Verehrte Kollegen von der SPD, Sie wissen, dass in
unserem föderativen Staat die Kompetenzen für die
schulische Bildung bei den Ländern liegt. Warum fangen Sie nicht in den Bundesländern, in denen Sie in der
Regierungsverantwortung stehen, damit an und verbessern die Möglichkeiten vor Ort?
Zu Protokoll gegebene Reden
Auf Seite 5 Ihres Antrags fordern Sie in Punkt 4 weiterhin - ich zitiere -: „Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Horte sollen flächendeckend eine gemeinsame, gesunde, qualitative
und diskriminierungsfreie Essensverpflegung anbieten.“ Ihr Ziel ist es - ich zitiere weiter -: „auf die Erhebung eines Eigenanteils zu verzichten …“.
Ich frage Sie: Was machen Sie für die Familien mit
Kindern und Jugendlichen, welche keine Leistungen
aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten, für ihre
Kinder jeden Cent zusammenkratzen und alles selbst
erarbeiten müssen? Die Wohltaten, welche Sie hier so
großzügig verteilen, müssen erst erarbeitet und vor allem finanziert werden.
In Ihrem Antrag, der sich über fünf ganze A4-Seiten
erstreckt, schreiben Sie jedoch an keiner Stelle, wie Sie
die geforderten Maßnahmen eigentlich finanzieren
wollen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das den Wählerinnen und Wählern erklären wollen, verehrte Kollegen der SPD.
Lernmittelfreiheit, kostenloser Förderunterricht, Neufestsetzung der Regelbedarfe in der Grundsicherung,
Barauszahlung der Mittel für Schulbedarf ohne Antragstellung - Ihnen geht es doch in Ihrem Antrag nicht
darum, wie wir in Zukunft Kinder und Jugendliche mit
dem Bildungs- und Teilhabepaket unterstützen können.
Ihnen geht es darum, unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit fleißig Wahlgeschenke zu verteilen.
Ich frage Sie, verehrte Kollegen: Ist das die Art von
nachhaltiger Sozialpolitik, die unsere zukünftigen Generationen verdient haben? Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen im September erscheinen
mir Ihre Forderungen doch als sehr durchsichtig.
Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates, dem auch
Sie zugestimmt haben, haben wir das Bildungs- und
Teilhabepaket optimiert. Die Vorschläge zur Verwaltungsvereinfachung wurden unter anderem durch den
Deutschen Landkreistag eingebracht. Dieser hat die
Erfahrungen der Landkreise mit in die Gesprächsrunden der Runden Tische eingebracht, welche regelmäßig von unserer Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen mit den Akteuren rund um das Bildungspaket
durchgeführt werden.
Unsere CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat am
18. März 2013 unter dem Motto „Probleme und Herausforderungen im SGB II - Bilanz und Ausblick“ verschiedene Vertreter der Arbeitsagenturen und Jobcenter aus ganz Deutschland zu einem Fachgespräch
eingeladen, um gemeinsam Erfahrungen auszutauschen, so auch zum Thema der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets. Wir dürfen nicht vergessen:
Die kommunalen Träger leisten eine hervorragende
Arbeit vor Ort und sind zuverlässige Ansprechpartner
für die Betroffenen.
Lassen Sie mich nun zum Abschluss meiner Ausführungen kommen. Ziel des Bildungs- und Teilhabepakets ist es, für Kinder und Jugendliche das „Mitmachen möglich zu machen“. Nach zwei Jahren
Praxiserfahrung und dem regelmäßigen Austausch der
Akteure vor Ort haben wir das Bildungspaket optimiert, um die Inanspruchnahme für die betroffenen
Familien zu erleichtern.
Die entsprechenden Zahlen zur Inanspruchnahme
werden voraussichtlich Ende des Monats vorliegen.
Ich appelliere an Sie, verehrte Kollegen, diese Zahlen
im konstruktiven Miteinander auszuwerten und gemeinsam mit den verschiedenen Spitzenverbänden
nach Lösungen zu suchen.
Wir wollen, dass alle Kinder und Jugendlichen in
Deutschland unabhängig von ihrer Herkunft oder dem
Geldbeutel ihrer Eltern eine Chance auf Bildung und
Teilhabe erhalten. Darauf haben die Kinder und Jugendlichen in Deutschland ein Anrecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie ein,
dass wir uns mit Engagement und mit aller Kraft für
die Chancen und Perspektiven dieser Kinder und Jugendlichen einsetzen.
Ihren Antrag, liebe Kollegen von der SPD, lehnen
wir von der CDU/CSU-Fraktion ab.
Schule, Bildung und natürlich gesellschaftliche
Teilhabe von allen Kindern ist ein wichtiges Thema.
Wer sich den Antrag der SPD aufmerksam durchliest,
merkt aber sehr schnell: Hier geht es nicht um Bildungspolitik, sondern hier wird wieder eine Debatte
zum Betreuungsgeld an den Haaren herbeigezerrt.
Auch in diesem Antrag zeigt die SPD erneut, dass
sie den Sinn des Betreuungsgeldes in keiner Weise verstanden hat, dass wir den Eltern auf der einen Seite
eine Garantie für einen Hortplatz geben, auf der anderen Seite aber auch die Eltern, die sich die Zeit nehmen, ihre Kinder selbst zu Hause zu erziehen, finanziell bei ihrem Einsatz unterstützen. Wir vertrauen den
Eltern, dass sie die richtige Entscheidung für ihre Kinder treffen, ob sie die Betreuung im Hort oder zu
Hause wählen. Wir geben ihnen die Entscheidungsmöglichkeit.
Kommen wir zurück auf die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets, die eine gute Entscheidung
war. Mit ihr wird Kindern aus finanzschwachen Familien ein Mehr an Teilhabe in unserer Gesellschaft ermöglicht. Denn das Bildungspaket ist weit gestaffelt.
Was ist drin im Bildungspaket?
Mittagessen in Kita, Schule und Hort: Der verbleibende Eigenanteil der Eltern liegt bei 1 Euro pro Tag.
Lernförderung: Bedürftige Schülerinnen und Schüler können Lernförderung in Anspruch nehmen, wenn
nur dadurch das Lernziel erreicht werden kann.
Kultur, Sport, Mitmachen: Bedürftige Kinder sollen
in der Freizeit nicht ausgeschlossen sein, sondern bei
Sport, Spiel und Kultur mitmachen. Deswegen wird
zum Beispiel der Beitrag für den Sportverein oder für
Zu Protokoll gegebene Reden
die Musikschule in Höhe von monatlich bis zu 10 Euro
übernommen.
Schulbedarf und Ausflüge: Damit bedürftige Kinder
mit den nötigen Lernmaterialien ausgestattet sind,
wird den Familien zweimal jährlich ein Zuschuss gewährt, zu Beginn des Schuljahres 70 Euro und im
Februar 30 Euro - insgesamt 100 Euro. Zudem werden
die Kosten eintägiger Ausflüge in Schulen und Kitas
finanziert.
Schülerbeförderung: Sind Beförderungskosten erforderlich und werden sie nicht anderweitig abgedeckt, werden diese Ausgaben erstattet.
Außerdem können die Kommunen Schulsozialarbeiter einstellen.
Das sind vielfältige Angebote, die Kinder nutzen
können. Ich halte dieses Programm allemal für besser,
als den Familien ein erhöhtes Sozialgeld zu geben;
denn hier weiß ich genau, dass es den Kindern zugutekommt. Der Bundesregierung ist es wichtig, dass die
Leistungen direkt beim Kind oder Jugendlichen ankommen. Das sieht auch die Mehrheit unserer Bevölkerung so. Das Prinzip „Sach- oder Dienstleistung
statt Bargeld“ wird von 90 Prozent der Bevölkerung
für richtig befunden; nur 9 Prozent lehnen es ab.
Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Bund für die
Kommunen die vollen Kosten für das Bildungspaket
übernimmt. Das finanzielle Gesamtvolumen des Bundes beträgt 2011 bis 2013 rund 1,6 Milliarden Euro.
Darin enthalten sind auch die Kosten, die die Kommunen für die Einstellung von Schulsozialarbeitern aufwenden. Dies erspart auch dem einen oder anderen
Land etliche Millionen Ausgaben. Beispiel NordrheinWestfalen: Das Land hat vor Inkraftreten des Pakets
nach Angaben des Schulministeriums 17,5 Millionen
Euro für das Programm „Kein Kind ohne Mahlzeit“
ausgegeben. Weil jetzt der Bund einspringt, wird die
Landesregierung ab dem Sommer nur noch sogenannten Härtefällen, zum Beispiel Kindern von Asylbewerbern, das Essen subventionieren. Für diese Härtefälle
werden lediglich 1 Million Euro veranschlagt.
Wir sind uns alle darin einig, dass das Bildungspaket kein Schulsystem ersetzen kann und auch nicht den
weiter notwendigen Ausbau der Kitas. Aber das
Bildungspaket ist eine notwendige Ergänzung, damit
Kinder aus ärmeren Familien bessere Startchancen
bekommen.
Es ist richtig, dass der Start ein wenig holprig war.
Die Zwischenergebnisse zeigen aber, dass das Paket
immer mehr greift. Nach Umfragen des Deutschen
Städtetages, DST, und des Deutschen Landkreistages,
DLT, bei rund 70 Städten und 190 Landkreisen haben
die Eltern bis zum 1. März 2012 im Durchschnitt für
etwa 56 Prozent, DST, bzw. 53 Prozent, DLT, der leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen Anträge
auf Leistungen gestellt. Im Juni 2011 hatte in Umfragen der Verbände die Inanspruchnahme der Leistungen noch bei 27 Prozent bis 30 Prozent und im November 2011 bei 44 Prozent bis 46 Prozent gelegen.
Dies zeigt, wird sind auf einem guten Weg. Ich
möchte auch darauf hinweisen, dass der Staat nicht
nur eine Bringschuld, sondern die Eltern auch eine
Holschuld für ihre Kinder haben und den Weg auf sich
nehmen müssen, die entsprechenden Leistungen zu beantragen. Wir möchten natürlich, dass noch mehr Kinder die Teilhabeangebote nutzen. Wir wollen uns auch
stärker um Migranten kümmern und die Kinder erreichen, deren Eltern das Bildungspaket noch nicht kennen oder ablehnen. Auf diesen drei Feldern müssen wir
besser werden. Trotzdem lässt sich heute bereits feststellen: Das Bildungspaket ist aus dem Gröbsten raus
und wird langsam selbstständig.
Weitere genauere Daten über die Inanspruchnahme
werden wir aus einer wissenschaftlichen Studie ziehen
können. Im Auftrag des BMAS wurde vom Institut für
Sozialforschung und Gesellschaftspolitik eine Befragung zum Niveau der Inanspruchnahme des Bildungsund Teilhabepakets durchgeführt, deren Ergebnisse
Ende April vorliegen.
Wenn diese Daten vorliegen, werden wir das Bildungs- und Teilhabepaket unter Berücksichtigung der
neuen Erkenntnisse prüfen und bewerten und an der
einen oder anderen Stellschraube drehen. Ich fordere
alle auf, zugunsten der Kinder und Jugendlichen daran mitzuwirken, um das Instrument der gesellschaftlichen Teilhabe weiter zu verbessern.
Wir debattieren heute über unseren Antrag zum Bildungs- und Teilhabepaket. Es geht einerseits darum,
wie wir dieses bürokratische Monster schnell und
wirksam an die Kette legen können.
Andererseits zeigen wir auch unsere mittel- und längerfristigen Vorstellungen von mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland auf: Wir investieren in die
Bildungsinfrastruktur. Deshalb wollen wir flächenund bedarfsdeckend Kitas und Horte ausbauen und
Schulen zu Ganztagsschulen umgestalten - mit Betreuungs-, Freizeit- und Lernförderangeboten und Schulsozialarbeitern sowie diskriminierungsfrei zugänglicher und gesunder Essensverpflegung.
Zu dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen gerechte Bildungschancen durch gute barrierefreie Angebote an Schulen und Kitas bereitzustellen, haben wir
uns schon immer bekannt: Bereits unter Rot-Grün haben wir 4 Milliarden Euro in den Ausbau der Ganztagsschulen gesteckt, und in der Großen Koalition den
Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Einführung
eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für
Kinder ab einem Jahr ab dem 1. August 2013 durchgesetzt.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung verfolgt eine
andere Strategie. Sie kümmert sich nicht darum, die
Bildungsinfrastruktur auszubauen. Stattdessen soll ein
Betreuungsgeld an diejenigen Eltern gezahlt werden,
Zu Protokoll gegebene Reden
die ihre Kinder von der Kita fernhalten. Dies ist bildungs-, integrations- und gleichstellungspolitisch völlig verfehlt und verfassungsrechtlich problematisch.
Unterm Strich: eine absolute Fehlinvestition.
Der Gesetzgeber schafft damit Anreize, dass Kinder
Bildungsangebote nicht nutzen und Eltern ihre Erwerbstätigkeit einschränken. Das ist genau der falsche
Weg.
Wir wollen das Betreuungsgeld so schnell wie möglich abschaffen und die so gewonnenen rund 2 Milliarden Euro jährlich zusätzlich in die Bildungsinfrastruktur, also in den konsequenten Ausbau von Krippen und
Kitas, stecken.
Gerechte Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen, ist unser Ziel. Gute Bildung
von Anfang an muss für alle möglich sein: von der Kita
über die Schule bis zu Studium und Berufsabschluss.
Die SPD hat als bisher einzige Partei mit dem „Nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung“ einen
umfassenden Vorschlag vorgelegt, die Bildungsfinanzierung von Bund und Ländern auszuweiten: Wir wollen für Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahr
bereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Ländern finanziert aus Einsparungen, dem Abbau von
überflüssigen Subventionen, der Wiedereinführung der
Vermögensteuer und der Reform der Erbschaftsteuer
zugunsten der Länder.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das Kooperationsverbot im Grundgesetz aufzuheben, damit Bund
und Länder bei der Bildung wieder zusammenarbeiten
dürfen. Nur gemeinsam wird es gelingen, Ganztagsschulen und Kitas in Deutschland auszubauen und sie
besser auszustatten - Bund und Land Hand in Hand.
Auch wenn sich das leider nicht über Nacht erreichen lässt, gilt: Alle Kinder in unserem Land haben ein
Recht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Leider sieht die Realität viel zu
oft anders aus. Insbesondere für Kinder aus Familien
mit wenig Geld ist Chancengleichheit nicht gesichert.
Deshalb ist es gut, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 dem Gesetzgeber ins Stammbuch
geschrieben hat, dass wir bei der Bemessung der
Grundsicherung die Teilhabe der Kinder an Bildung
und ihr soziokulturelles Existenzminimum sicherstellen müssen.
Bundestag und Bundesrat haben nach langen Verhandlungen Anfang des Jahres 2011 das sogenannte
Bildungs- und Teilhabepaket geschnürt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das Bildungspaket im Vermittlungsausschuss gemeinsam mit
CDU und CSU auf den Weg gebracht - nach intensiven
Verhandlungen, in denen die SPD deutliche Verbesserungen für die Familien erreicht hat. Wir haben dem
Kompromiss zugestimmt, um den 2,5 Millionen Kindern und deren Eltern bessere Bildungschancen und
die dafür notwendigen Finanzmittel zukommen zu
lassen. Die Alternative wäre sonst gewesen: kein Bildungspaket und weniger Gerechtigkeit für die Kinder.
Die SPD hat durchgesetzt, dass nicht nur Kinder
aus Hartz-IV-Familien an Klassenfahrten, Nachhilfe
und Schulessen teilnehmen können und Lernmaterial
erhalten. Auch einkommensschwache Familien im
Kinderzuschlags- und Wohngeldbezug können das
Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das
betrifft rund 500 000 Kinder zusätzlich.
Leider muss beim Bildungspaket aktuell jede Leistung einzeln beantragt und abgerechnet werden. Das
konnten wir als SPD in den Verhandlungen nicht verhindern. Wir halten dies für unnötig aufwendig - die
Bürokratie kostet zudem Geld. Außerdem zeugt das
von einer pauschalen Misstrauenskultur gegenüber
den Eltern. Wir vertrauen den Eltern.
Das Bildungspaket ist ein wichtiger Schritt in die
richtige Richtung. Es sind aber - wie es zu erwarten
war und die Erfahrung gezeigt hat - wesentliche Verbesserungen dringend nötig. Denn wir wollen, dass die
Leistungen bei den Kindern ankommen, und wir wollen bessere Wege - ohne ausufernde Bürokratie.
Das Bildungs- und Teilhabepaket schreckt mit seinen bürokratischen Hürden Anspruchsberechtigte ab.
Viele Kinder und Jugendliche können daher ihren
grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung
und Teilhabe nicht wahrnehmen.
So kann es nicht gehen. Das Bildungspaket ist Teil
des grundgesetzlich garantierten soziokulturellen
Existenzminimums.
Laut Schätzungen erhalten nur etwa 50 Prozent der
Kinder tatsächlich Leistungen aus dem Bildungs- und
Teilhabepaket. Das bedeutet, dass jedes zweite bedürftige Kind leer ausgeht. Sie sehen, wir sind noch sehr
weit von echter Bildungs- und Chancengerechtigkeit
entfernt.
Wie viele Kinder es ganz genau sind, wie viel Geld
wo und für welche Leistungen ausgegeben wurde, weiß
niemand. Die Bundesregierung kann dazu bis heute
keine Angaben machen und verweist darauf, dass erstmals zum 31. März 2013 Zahlen durch die Länder gemeldet werden mussten. Aber bis heute wurden diese
nicht offiziell bekannt gegeben. Entweder kennt die
Regierung die Zahlen wirklich nicht, oder sie hält sie
bewusst zurück. Beides wäre ein Skandal.
Ursprünglich hat die eigentlich zuständige Sozialministerin von der Leyen große Töne gespuckt, dass
durch das Bildungspaket den Kindern neue Zukunftschancen eröffnet werden. Über zwei Jahre nach
seinem Start kommen diese Chancen aber leider nur
bei höchstens jedem zweiten Kind an - eine traurige
Bilanz.
Die Bundesregierung hat sich weder um vernünftige
statistische Daten bemüht noch versucht, nur die
kleinsten Verbesserungen vorzunehmen. Diese Arbeit
mussten die Länder machen. Sie haben sich - alle 16 einvernehmlich auf zumindest kleinere Änderungen
Zu Protokoll gegebene Reden
verständigt. So wird etwas Verwaltungsaufwand abgebaut, wovon auch die Kinder und Jugendlichen profitieren und somit letztendlich die Inanspruchnahme
verbessert wird. Die Verbesserungen können zum
1. August in Kraft treten - dank unserer Länder.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben das Bildungs- und Teilhabepaket von Anfang an
intensiv auf den Prüfstand gestellt. In vielen Gesprächen mit Praktikern vor Ort, Gewerkschaften und Verbänden haben wir uns kritisch mit dessen Umsetzung
auseinandergesetzt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat
letztes Jahr dazu auch ein großes Fachgespräch mit
vielen Sachverständigen durchgeführt.
Die Ergebnisse legen wir heute in unserem Antrag
vor. Wir bringen damit ganz konkrete und kurzfristig
umzusetzende Verbesserungsvorschläge für weniger
Verwaltungsaufwand für die Betroffenen und Behörden
und mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit ein:
Die 10 Euro monatlich zur Teilhabe am sozialen
und kulturellen Leben in der Gemeinschaft sollen ohne
Antrag mit dem Regelsatz ausgezahlt sowie grundsätzlich überprüft werden. Wie die Regelsätze selbst muss
dieser Betrag fortlaufend angepasst werden.
Auch das Schulbedarfspaket ist allen Leistungsberechtigten ohne zusätzlichen Antrag mit dem Regelsatz
auszuzahlen. Hier wollen wir ebenfalls eine Überprüfung und regelmäßige Anpassung der Höhe von derzeit
insgesamt 100 Euro.
Der Zugang zur Lernförderung soll vereinfacht und
möglichst an den Schulen angeboten werden.
An Schulen, Horten und Kitas muss eine diskriminierungsfreie gemeinsame und gesunde Essensverpflegung angeboten werden. Auf den Eigenanteil von
1 Euro soll verzichtet werden, was zudem Verwaltungskosten spart. Zur Entbürokratisierung soll der
Finanzierungsbeitrag des Bundes pauschal orientiert
an der Zahl der Leistungsberechtigten erfolgen.
Lediglich Einmal- und Härtefallleistungen sowie
nur schwer pauschalisierbare Kosten wie für Kita- und
Schulausflüge und Beförderungskosten sollen weiterhin auf unbürokratischen Antrag gewährt werden. Außerdem muss die Direktzahlung an die Eltern ohne
Gutschein- oder Sachleistungsabwicklung zur Verringerung des Verwaltungs- und Kostenaufwands ermöglicht werden.
Mit diesen Vorschlägen können wir das bestehende
bürokratische Bildungspaket nachhaltig verbessern
und mehr Kinder und Jugendliche erreichen.
Aber auch die Kommunen müssen mit in die Umsetzungsverantwortung genommen werden. Sie sind
näher am Geschehen; sie kennen die Angebote und
wissen beispielsweise, wie das Mittagessen in Kitas
und Schulen organisiert ist.
Einerseits müssen wir die Kommunen - wie von uns
vorgeschlagen - von unnötiger Verwaltungsbürokratie
entlasten. Andererseits müssen sie dann aber auch die
Möglichkeiten nutzen, das Bildungspaket mit ihren bestehenden Strukturen und Programmen zu verknüpfen
und bestmöglich umzusetzen. Anerkannt gute Umsetzungsbeispiele wie der Lübecker Bildungsfonds aus
meinem Wahlkreis können hier als Vorbilder dienen.
Deshalb fordern wir die Entwicklung von unbürokratischen Verwaltungs- und Verfahrensstandards anhand von guten Praxisbeispielen. Schließen Sie sich
unseren Forderungen an und verweigern Sie unseren
Kindern nicht weiterhin wichtige Bildungschancen.
Wir müssen alle Kinder fördern - nicht nur jedes
zweite.
Wieder einmal diskutieren wir über einen Antrag
zum Thema Bildungs- und Teilhabepaket. Es scheint
mir immer wieder, dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Grünen, dabei vergessen, wie
es zur bestehenden Regelung kam.
Am 9. Februar 2010 beurteilte das Bundesverfassungsgericht die von der rot-grünen Bundesregierungen beschlossenen Gesetze zum Arbeitslosengeld II als
verfassungswidrig. Dies geschah unter anderem deshalb, weil bei der damaligen Festlegung der Regelsätze der Bildungs- und Teilhabebedarf von Kindern
und Jugendlichen vollkommen unberücksichtigt blieb.
Diese Regierungskoalition hatte dann vorgeschlagen, die Leistungen für Bildung und Teilhabe zentral
über die Jobcenter zu administrieren und dabei auf die
Kenntnisse der Bundesagentur für Arbeit zu vertrauen.
Da das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch im Bundesrat zustimmungspflichtig
war, haben SPD und Grüne diese Idee der sogenannten Familienlotsen in den Jobcentern blockiert. Sie haben stattdessen, unterstützt von den Kommunen, die
Zuständigkeit für das Bildungs- und Teilhabepaket in
die Hände der Kommunen geben wollen. Um zu einem
Ergebnis im Vermittlungsverfahren zum Wohle der Anspruchsberechtigten zu kommen, haben wir diese Bedingung vonseiten von SPD und Grünen erfüllt.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, haben diesem Kompromiss am Ende sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat zugestimmt, während sich
die Grünen aus parteipolitischen Gründen in letzter
Sekunde verabschiedet hatten.
Deshalb nur zur Klarstellung für all das, was Sie in
Ihrem Antrag kritisieren: Die SPD hat sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat die Hand gehoben. Das
müssen Sie aus Gründen der Redlichkeit den Menschen auch sagen.
Der heute zu beratende Antrag stellt die Tatsachen
und Fakten aber bewusst falsch dar. So behaupten Sie
auf Seite 3 im zweiten Abschnitt, dass derzeit viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihren grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung und
Zu Protokoll gegebene Reden
Teilhabe nicht wahrnehmen könnten. Dies ist so
schlichtweg falsch.
Wahrnehmen kann den Anspruch jeder Anspruchsberechtigte; es gibt da keine Hürden. Richtig ist aber,
dass aufgrund von Anlaufschwierigkeiten, die durch
die zentrale Erbringung der Leistungen durch die
Kommunen entstanden sind, die Inanspruchnahme des
Bildungs- und Teilhabepakets noch ausbaufähig ist.
Am kommenden Montag wird Bundesarbeitsministerin Dr. Ursula von der Leyen die aktuellen Zahlen
zur Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets veröffentlichen. Ich bin mir dessen sehr sicher,
dass wir eine weitere Zunahme im Vergleich zu den
letzten Zahlen vom März 2012 verzeichnen werden.
Dennoch wird es gewiss auch weiterhin Luft nach oben
geben.
Um dies zu erreichen, haben wir am 21. Februar
dieses Jahres im Deutschen Bundestag ein Gesetz
beschlossen, das zu Änderungen in der Praxis des
Bildungs- und Teilhabepakets führt. Diese Änderungen
sind auf die Initiative dieser christlich-liberalen
Regierungskoalition zurückzuführen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
direkt nach der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets einen Runden Tisch gestartet, an dem Bund,
Länder und Kommunen gemeinsam über Verbesserungen und Nachsteuerungen beim Bildungs- und Teilhabepaket gesprochen haben. Ergebnis der Gespräche
waren die erwähnten Änderungen des Gesetzes.
Der Runde Tisch wird auch weitergeführt. So stellen
wir sicher, dass weiterhin sehr praxisnah Probleme besprochen und dann auch gesetzgeberisch gelöst werden können.
Sie fordern in ihrem Antrag unter Punkt 4, dass in
Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Horten flächendeckend Essensverpflegung angeboten werden soll. Hierbei übersehen Sie jedoch die praktischen Probleme. Natürlich ist es ein
Ziel, dass jedes Kind eine Essensverpflegung in Anspruch nehmen kann. Sie müssen jedoch auch die Gegebenheiten an Gebäuden vor Ort berücksichtigen.
Nicht jede Bildungs- oder Betreuungseinrichtung kann
Mittagessen anbieten. An einigen Stellen fehlen dazu
schlichtweg die Räumlichkeiten.
Eine große Zahl ihrer Forderungen wäre derzeit aus
verfassungsrechtlichen Gründen nicht umsetzbar. In
vielen Punkten wollen Sie in die Bildungshoheit der
Länder eingreifen. Wenn Sie dies wollen, müssen sie
aber auch gleichzeitig einen Gesetzentwurf für eine
Grundgesetzänderung einbringen. So kann man Ihrem
Antrag nicht zustimmen, da er, würden wir ihn jetzt beschließen, verfassungswidrig wäre.
Mit seinem Urteil im Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht eine Neuermittlung der Regelbedarfe für das menschenwürdige Existenzminimum
auch für Kinder erzwungen. Bei dieser Neuermittlung
wurde ein Teilbedarf von Kindern und Jugendlichen
- nämlich spezifische Bedarfe für Bildung und Teilhabe - aus dem Regelbedarf ausgegliedert und in
Form eines sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets
organisiert. Grundcharakter dieses Bildungs- und
Teilhabepakets ist demzufolge, dass die Bedarfe nicht
automatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungen
gedeckt werden, sondern erstens beantragt werden
müssen und zweitens in der Regel als Sach- oder
Dienstleistung gewährt werden. Die Folge ist, dass
dies zum einen extrem bürokratisch ist und dass zum
Zweiten quasi eine mehrfache Bedarfsprüfung stattfindet. Das Ergebnis: Das Antragserfordernis führt zu
einer völlig unzureichenden Inanspruchnahme der
Leistungen, weil Aufwand und Leistung in keinem Verhältnis zueinander stehen.
Die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets
war von Anbeginn an ein Fehler. Sie wurde ideologisch
mit dem Misstrauen gegenüber den Eltern begründet:
„Die Gelder müssten tatsächlich bei den Kindern ankommen.“ Damit wurde gegen alle Erfahrungen und
empirische Erhebungen unterstellt, die Eltern würden
zusätzliche Gelder für andere Zwecke - beliebte Beispiele: Flachbildschirme und Bier - und nicht für die
Bildung und Teilhabe ihrer Kinder verwenden. Die
Linke lehnt eine solche Stigmatisierung von Eltern im
SGB-II-Leistungsbezug grundsätzlich ab. Dass die
Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets nicht bei
den Kindern ankommen, ist nicht das Verschulden der
Eltern. Es ist vielmehr die realitätsfremde Konstruktion des gesamten Pakets, die bewirkt, dass Kindern
und Jugendlichen Leistungen vorenthalten werden, die
ihnen rechtlich zustehen!
Das Bundesverfassungsgericht hat die Leistungen
für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche
als einen Teil des zu garantierenden menschenwürdigen Existenzminimums angesehen. Dieser Anspruch
bedeutet, dass jedes Kind und jeder Jugendliche die
Leistungen auch bekommen muss. Dass die Hilfe bei
den Kindern nicht ankommt, ist das Versagen der Politik und nicht ein Mangel an Engagement von Eltern!
Mit dem Geburtsfehler des Bildungs- und Teilhabepakets sind mehrere Probleme systematisch verknüpft:
Erstens. Da - wie die niedrigen Antrags- und Bewilligungsquoten deutlich zeigen - nicht alle Kinder und
Jugendliche Leistungen aus dem BuT beziehen, dieser
Bedarf aber bei der Ermittlung des Regelbedarfs nicht
berücksichtigt wird, entsteht bei vielen Kindern und
Jugendlichen eine verfassungsrechtlich bedenkliche
Unterdeckung ihres Existenzminimums. Sprich: Sie bekommen nicht das, was sie brauchen, und auch nicht
das, was ihnen zusteht.
Zweitens. Weitere verfassungsrechtliche Bedenken
formulieren Professor Münder und Dr. Becker in
einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung: So
sehen sie zum Beispiel in der Tatsache, dass lediglich
bestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote finanziert
Zu Protokoll gegebene Reden
werden, einen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der
Eltern und Kinder.
Drittens. Das Antragserfordernis erfordert einen
vollkommen unangemessenen Apparat zur Verwaltung
des BuT. Die Verwaltungskosten wurden allein für den
Bereich des SGB II mit deutlich über 100 Millionen
Euro pro Jahr veranschlagt. Dem stehen veranschlagte Leistungen in Höhe von 626 bis 661 Millionen Euro pro Jahr gegenüber. Dieses Ungleichgewicht
sorgt dafür, dass umfangreiche finanzielle Mittel den
Kindern für ihre Bedürfnisse nicht zur Verfügung stehen. Die Linke sagt: Die verfügbaren Mittel müssen
den Leistungsberechtigten zugute kommen und dürfen
nicht die Verwaltungsapparate finanzieren.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die SPD diese Kritik
({0}) weitgehend teilt und in ihrem Antrag
formuliert: „Die Probleme resultieren aus dem individualisierten und bedürftigkeitsgeprüften Zugang zu
Bildungs- und Teilhabeleistungen sowie aus der Fokussierung auf das Sach- und Dienstleistungsprinzip.“
Es ist aber daran zu erinnern, dass die SPD-geführten
Länder im Vermittlungsausschuss für zusätzliches bürokratisches Chaos gesorgt haben. Statt das BuT zu
verhindern bzw. es in vernünftige Bahnen zu lenken,
bestanden sie auf der Durchführung des BuT durch die
Kommunen. Die Übertragung der Verantwortung auf
die Kommunen durch den Vermittlungsausschuss
klingt zwar grundsätzlich vernünftig, in der praktischen Umsetzung führt die Entscheidung aber zu zusätzlichem Chaos. Der Bund finanziert Leistungen, deren konkrete Umsetzung er nicht anweisen, nicht
einmal kontrollieren oder prüfen kann. Der Bund kann
nicht einmal zuverlässig sagen, wie viele Kinder welche Leistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Der
Bund ist hier auf Ergebnisse von Befragungen angewiesen. So kann ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht garantiert werden.
In der Perspektive der Linken ist klar: Das Bildungs- und Teilhabepaket ist gescheitert und muss
grundlegend neu gestaltet werden. Das menschenwürdige Existenzminimum der Kinder und Jugendlichen
ist zu gewährleisten. Statt des Bildungs- und Teilhabepakets ist dringend notwendig, dass die Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepakets, wo immer sachlich
möglich, in den allgemeinen Regelbedarf der Kinder
und Jugendlichen einfließen. Diese regelmäßigen
Leistungen sind deutlich anzuheben. Perspektivisch
bedarf es der Einführung einer bedarfsdeckenden Kindergrundsicherung.
Darüber hinaus müssen Bedarfe, die nur unregelmäßig anfallen - wie zum Beispiel Schulausflüge oder
Klassenfahrten -, wo dies nicht bereits Praxis ist, als
Mehrbedarfe in Form von Geldleistung ausgezahlt
werden. Die Praxis, dass Eltern hier in Vorleistung gehen müssen, entspricht nicht der Lebensrealität der
betroffenen Familien. Hier müssen Mittel und Wege
gefunden werden, die Eltern nicht in finanzielle Notlagen bringen oder gar Kindern im Zweifel eine Teilnahme unmöglich machen.
Dienst- und Sachleistungen wie Schulverpflegung
und Schülerbeförderung sind bei Bedarf allen Schülerinnen und Schülern unentgeltlich zur Verfügung zu
stellen. Auch die Lernförderung aller Schülerinnen
und Schüler muss selbstverständliche Regelleistung
aller Schulen sein und darf nicht - über das BuT gefördert - ausgegliedert und privatisiert werden.
Und ja: Die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur
ist - da ist der SPD zuzustimmen - massiv auszubauen.
Die SPD verschweigt aber, dass zur Finanzierung eines derartigen Ausbaus der öffentlichen Infrastruktur
eine deutliche Umverteilung des gesellschaftlichen
Reichtums notwendig ist. Die Linke hat ein Programm
zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Ohne die Bereitschaft, von oben nach unten umzuverteilen, blieben die Forderungen hohle Ziele, weil die finanziellen Mittel letztlich fehlen - und zwar vor Ort!
In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales hat die Diskussion über das Bildungsund Teilhabepaket, BuT, einen neuen Tiefstand erreicht. Auf der Tagesordnung stand die Berichterstattung der Bundesregierung zur Inanspruchnahme des
Bildungs- und Teilhabepakets 2012. Aber das, was
Staatssekretär Dr. Brauksiepe den Mitgliedern des
Ausschusses vortrug, war eine Brüskierung. Keine einzige Zahl wurde genannt. Seit nunmehr zwei Jahren
dreht und windet sich die Bundesregierung, weil sie
nicht einräumen will, was alle, die in der Praxis mit
dem BuT vertraut sind, einmütig beklagen: Das BuT ist
in seiner jetzigen Form ein bürokratisches Ungetüm,
das Kindern nur ungenügend Bildungs- und Teilhabeförderung zuteil werden lässt.
Der kommunikative Umgang der Bundesregierung
mit dem BuT ist desaströs und zeigt zweierlei: Zum einen scheint es die Bundesregierung nicht zu interessieren, ob die Leistungen tatsächlich bei den anspruchsberechtigten Kindern ankommen. Ministerin von der
Leyen hatte vor allem die mediale Inszenierung und
weniger die Bedürfnisse der Kinder im Sinn. Zum anderen weigert sich die Bundesregierung, die offenkundigen Konstruktionsfehler des BuT einzugestehen.
Dass die Bundesregierung die Zahlen zurückhält, die
ihr von den Ländern seit dem 31. März 2013 vorliegen,
hat vor allem einen Grund: Anhand der Zahlen lassen
sich die Fehlkonstruktionen des BuT nicht mehr verleugnen.
Nehmen wir das Beispiel Nordrhein-Westfalen, für
das mir die Zahlen vorliegen. In NRW wurden insgesamt 87,2 Millionen Euro aus dem BuT abgerufen, das
entspricht 60 Prozent der zur Verfügung gestellten
Mittel. Damit liegt NRW sowohl relativ als auch absolut über dem Bundesdurchschnitt. Zum Überblick: Von
den 87,2 Millionen wurden die meisten Gelder, nämlich 36,2 Prozent, für die Mittagsverpflegung in Anspruch genommen. 32,5 Prozent entfielen auf das
Schulbedarfspaket, und 19,8 Prozent wurden für
Schulausflüge und Klassenfahrten verausgabt. Die anZu Protokoll gegebene Reden
deren drei Leistungsfelder des BuT, die Lernförderung,
die Leistungen der sozialen und kulturellen Teilhabe
und die Schülerbeförderungskosten, machten zusammen nur 10 Prozent aus.
Und ich frage mich: Wie kann es sein? Wie kann es
sein, dass 2,5 Millionen Kinder in diesem Land Anspruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe haben, aber nur gut die Hälfte der zur Verfügung gestellten Mittel tatsächlich in Anspruch genommen wird?
Daran, dass teure Schulmaterialen oder auch Klassenfahrten und Schulausflüge von Hartz-IV-Familien problemlos selbst finanziert werden können, wird es wohl
kaum liegen. Oder nehmen wir die marginalen Abrufraten bei der Lernförderung und den Leistungen zur
sozialen und kulturellen Teilhabe, die eigentlich das
Herzstück des Bildungs- und Teilhabepakets bilden
sollten: Sie kommen sicher nicht dadurch zustande,
dass Kinder aus bildungsfernen Familien oder Kinder
mit Migrationshintergrund keine Nachhilfe bräuchten
oder anders als andere Kinder nicht mit Freunden im
Verein Fußball spielen oder ein Instrument lernen
möchten. Und selbst bei der Mittagsverpflegung, die
von den Ländern insgesamt am stärksten in Anspruch
genommen wird - so das Ergebnis einer Abfrage des
Norddeutschen Rundfunks bei den Kommunen; wohlgemerkt: des NDR, nicht des Ministeriums! -, muss
man doch fragen: Warum werden die Gelder auch hier
nicht voll ausgeschöpft? UNICEF hat im vergangenen
Jahr eine Studie zur Kinderarmut in den reichen Ländern der Welt veröffentlicht. Ein Ergebnis dieser Studie war, dass in Deutschland von 20 Kindern eines
keine warme Mahlzeit am Tag bekommt. Das sind fünf
Prozent der Kinder; aber die Gelder aus dem Bildungs- und Teilhabepaket werden nicht genutzt.
Die Antwort auf all diese Fragen ist erschreckend
einfach: Die Hürden der Beantragung sind zu hoch,
und die Konzentration auf Sachleistungen geht an den
Erfordernissen der Praxis schlicht vorbei. Denn was
nützt der Zuschuss zum Mittagessen, wenn Schulen
keine Schulküchen haben und private Caterer wegen
der komplizierten Abrechnung zurückschrecken, sodass überhaupt kein Schulessen angeboten wird? So
bleiben die Küchen kalt und die Mägen leer. Was nützen monatliche Zuschüsse zu Sportvereinen oder Musikschulen, wenn der Zuschuss nur einen Bruchteil der
eigentlichen Kosten deckt und die Familien zusätzlich
25 bis 50 Euro im Monat selbst finanzieren müssen?
Pro Kind wohlgemerkt. Das Beispiel der Musikschulen
wird immer wieder angeführt: Dass Instrumentalunterricht, selbst dann, wenn es sich um günstigen Gruppenunterricht handelt, nicht unter 35 Euro pro Stunde
zu haben ist, ist keine Neuigkeit. Das war auch bekannt, als die schwarz-gelbe Bundesregierung das Bildungs- und Teilhabepaket geschnürt hat. Ähnlich absurd und weltfremd sind die Vorgaben für die
Bewilligung von Lernförderung: Diese wird nur im
Fall einer unmittelbaren Versetzungsgefährdung und
dann auch nur einmalig und kurzfristig gewährt. Dass
ein langfristiger Lernerfolg Kontinuität braucht, ist
landläufig bekannt. Mit maximal 35 Stunden pro
Schuljahr und Kind kann dieser nicht erreicht werden.
Selbst dann nicht, wenn der hohe Aufwand betrieben
wird und die Leistungen tatsächlich beantragt werden.
Die Bundesregierung rühmt sich, im Jahr 2012
knapp 900 Millionen für das BuT bereitgestellt zu haben. Was sie dabei geflissentlich verschweigt, ist, dass
ein Großteil des Geldes - nämlich 159 Millionen Euro ausschließlich auf Verwaltungsmittel entfällt. Faktisch
ist es aber noch mehr. Tatsächlich schätzen wir anhand
der Zahlen des Verwaltungspersonals den Verwaltungsaufwand auf mindestens 30 Prozent. Für die eigentlichen Sachleistungen wurden also bestenfalls
716 Euro Millionen bereitgestellt. Eine sachgerechte
Verwendung der Mittel fordern wir Grünen seit langem. In unserem Antrag „Das Bildungs- und Teilhabepaket - Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“
({0}) - wohlgemerkt dem
ersten zum Reformbedarf des BuT - haben wir die
Überführung der sogenannten Teilhabepauschale, des
Schulbasispakets und der Schülerbeförderung in den
monatlichen Regelsatz gefordert. Außerdem ist es aus
unserer Sicht notwendig, die Lernförderung unbürokratisch zu gewähren und die tatsächlichen Kosten für
Schulausflüge und Klassenfahrten zu erstatten. Und
für das Mittagessen fordern wir eine Vereinfachung
der Abrechnung: Die Kostenübernahme muss den
Schulen, Horten und Kindertagesstätten direkt zukommen.
Der Änderungsbedarf am Bildungs- und Teilhabepakt ist allgemein konsentiert. Vereine, Sozialverbände, Stiftungen, Jobcenter, der Deutsche Landkreistag und auch die Länder, sie alle sind sich einig: Der
Bürokratieaufwand muss reduziert und die Leistungsgewährung so umgestaltet werden, dass die Leistung
bei den Kindern ankommt. Der Bundesrat hat einen
Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({1}) vorgelegt. Der Paritätische
Wohlfahrtsverband hat Praktikerinnen und Praktiker
befragt und die Inanspruchnahme des Bildungs- und
Teilhabepakets evaluiert. Die kritische Praxisbilanz
nennt die drängenden Probleme konkret beim Namen
und macht Lösungsvorschläge. Die Vodafone Stiftung
Deutschland hat die Lernförderung bilanziert und einen Zehn-Punkte-Plan zur Lernförderung vorgeschlagen. Von allen Seiten werden der Bundesregierung die
Lösungen auf dem silbernen Tablett serviert. Aber
Ministerin von der Leyen zieht es vor, die Inanspruchnahme selbst zu evaluieren und eine ehrliche Bewertung des BuT weiter zu verzögern.
Wenn die Ministerin am kommenden Montag vor die
Presse tritt und anstelle der Zahlen aus den Ländern
die Ergebnisse einer vom BMAS in Auftrag gegebenen
Befragung präsentiert, dann wird sie wieder davon
sprechen, dass das BuT ein sozialpolitischer Erfolg ist.
Und wie schon beim Abschlussbericht des Instituts für
Sozialforschung und Gesellschaftspolitik werden die
Zu Protokoll gegebene Reden
Tatsachen sicher auch am 29. April 2013 wieder beschönigt werden.
Frau von der Leyen hat heute im Plenum treffenderweise Kurt Schumacher zitiert: „Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Das sollte sie sich
selbst ins Stammbuch schreiben und die Zahlen, Fakten und Bedürfnisse der Praxis, die ihr vorliegen, ernst
nehmen. Die Wirklichkeit von 2,5 Millionen Kindern
ist, dass sie besseren und umfassenden Zugang zu Bildung und Teilhabe brauchen und dass das Bildungsund Teilhabepaket in seiner derzeitigen Ausformung
dazu nur ungenügend beiträgt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13194 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten
Schneider ({1}), Uwe Beckmeyer, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Privatkundengeschäft der Finanzagentur
Deutschland GmbH fortsetzen
- Drucksachen 17/12062, 17/12434 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({2})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({3})
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Seit unserer letzten Debatte zum Privatkundengeschäft der Finanzagentur hat sich gezeigt: Auch nach
unserer Ankündigung, Ihren Antrag zur Fortsetzung
des Privatkundengeschäftes der Finanzagentur nicht
zu unterstützen, dreht sich die Welt weiter. Wie sollte es
auch anders sein? Kunden können ja weiterhin Bundeswertpapiere erwerben, nur eben nicht mehr über
die Finanzagentur, für deren Minusgeschäft der Steuerzahler aufkommt.
Überdenken Sie doch einfach Ihr Anliegen selbstkritisch. Sie fordern, dass die Finanzagentur des Bundes
ein Produkt weiter anbietet, das jedes Jahr zwischen
50 und 70 Millionen Euro Verluste einbringt. Dieses
Geld soll dann der Bund, also der Steuerzahler zuschießen, damit andere über die Finanzagentur Schatzbriefe erwerben können. Warum? Und vor allem:
Wieso stellen Sie Ihre Forderung erst jetzt? - Seit Juni
2012 wissen die Mitglieder des Bundesfinanzierungsgremiums - also auch Ihre Vertreter darin -, dass das
Privatkundengeschäft eingestellt werden soll. Dass es
unrentabel ist, wissen Sie schon länger. Da muss ich
fragen: Wieso befassen Sie sich erst jetzt damit, wenn
Ihnen angeblich so sehr an diesem Thema gelegen ist?
Ich meine: Sie versuchen, die wenigen aktuellen
Presseartikel zu dem Thema aufzugreifen, in denen der
Wegfall der Bundesschatzbriefe bedauert wird, ohne
jedoch auf das Verlustgeschäft für den Steuerzahler
hinzuweisen. Suggeriert wird dann, der einfache Sparer könne keine Bundeswertpapiere mehr erwerben.
Das ist schlicht und einfach falsch: Sie können komfortablere und häufig preisgünstigere Erwerbswege nutzen als den Kauf über die Finanzagentur. Denn das ist
doch das Problem und hat zu der Entscheidung geführt, das Privatkundengeschäft einzustellen: Banken
haben vielfach preiswertere Angebote im Sortiment
und haben der Finanzagentur hier schlicht und einfach
den Rang abgelaufen.
Nichts anderes schreibt uns der Bundesrechungshof
ins Stammbuch. Ein kleiner Blick in den Bericht wäre
sicher hilfreich gewesen, bevor Sie Ihren Antrag hier
zur Debatte gestellt haben. Gewiss werfen Sie dem
BRH nicht vor, im Interesse anderer Vertriebswege zu
sprechen - und uns nicht, dass wir Anmerkungen und
Hinweise des Rechnungshofes ernst nehmen.
Nochmals zu Ihrer Kenntnis, falls Sie die entscheidende Passage des Berichts übersehen haben sollten:
„Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfehlung
des Bundesrechnungshofes bis zum Ende des Jahres
2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, die es für Privatanleger anbietet. Dieses Privatkundengeschäft ist
für die Kreditaufnahme des Bundes bedeutungslos geworden, weil Privatanleger seit über 20 Jahren immer
weniger Wertpapiere des Bundes kaufen.“ Weiter heißt
es: „Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft
sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden
Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der
gesamten Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sich
damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem entstanden im Privatkundengeschäft in den letzten Jahren
Verluste, teilweise in zweistelliger Millionenhöhe.“
Außerdem heißt es: „Der Bundesrechnungshof hat bezweifelt, dass sich das Privatkundengeschäft mit neuen
Produkten oder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveau deutlich ausweiten und kostendeckend betreiben lässt.“ Abschließend heißt es: „Privatanleger sind
damit nicht von einer Geldanlage beim Bund ausgeschlossen. Sie können weiterhin Wertpapiere des Bundes über Kreditinstitute erwerben.“
Ich nehme an, dass diese Bewertung doch auch Ihnen zu denken geben müsste. Wollen Sie ernsthaft, dass
der Steuerzahler in Millionenhöhe für diejenigen aufkommt, die ihr Geld verleihen? - Das ist zumindest
nicht unsere Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn Sie
mehr Gemeinsinn einfordern, dann beginnen Sie doch
einfach hier im Kleinen und überprüfen Sie mit uns kritisch, welche unrentablen Vertriebswege, die zulasten
des Gemeinwesens gehen, wegfallen können.
Wir jedenfalls werden weiterhin auch im Detail
nicht nachlassen, wenn es darum geht, unsere Staatsfinanzen nachhaltig zu sanieren. Dass Sie damit nicht
viel anfangen können, ist nicht nur bei Ihren großen
Steuererhöhungsplänen zu sehen, sondern auch hier
im Detail.
Lassen Sie uns die richtigen Konsequenzen aus dem
Bericht des Rechnungshofes ziehen und dem Antrag
der SPD nicht folgen.
Vergangene Woche, am 16. April 2013, hat das italienische Schatzamt für eine „Patriotenanleihe“ Italiens so viele Gebote der italienischen Bürgerinnen und
Bürger erhalten, dass die Bücher zwei Tage vor Ende
der Zeichnungsfrist geschlossen werden mussten. „Italien kann sich auf seine Bürger verlassen“, schrieb die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 17. April. Italien hat so knapp 17 Milliarden Euro eingesammelt und zwar zu 2,25 Prozent Zinsen, gekoppelt an die italienischen Verbraucherpreise.
Italien hat das mitten in einer wirtschaftlich und
politisch schwierigen Situation geschafft, war zur Auktionszeit sogar ohne neue Regierung. Das Beispiel
zeigt: Staaten können, wenn sie an den Kapital- und
Finanzmärkten in eine schwierige Lage geraten, sich
selbst daraus befreien, wenn ihre Bürgerinnen und
Bürger ihnen vertrauen. Die Reformen von Ministerpräsident Monti waren sicherlich für viele Italiener
schwierig und anstrengend; sie haben sich aber gelohnt, weil die Menschen wieder Vertrauen in ihren eigenen Staat haben.
Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist von
dieser Erfolgsgeschichte gänzlich unbeeindruckt.
Über viele Jahrzehnte war es auch dem Bund möglich,
sich direkt bei den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland zu refinanzieren. Bundesschatzbriefe und
Finanzierungsschätze hatten in Deutschland einen
guten Namen. Gerade die ältere Generation, die die
Einführung der D-Mark im Juni 1948 noch erinnerte,
entschied sich oft für diese Anlagen, und sei es als Geschenk für die Enkel.
Ab dem 1. Januar 2013 hat diese Bundesregierung,
hat Herr Schäuble das Privatkundengeschäft der Finanzagentur eingestellt. Ich habe das seit der ersten
Information im Sommer 2012 immer wieder kritisiert.
Heute sind die Schulden Deutschlands auf dem
höchsten Stand, auf dem sie je waren. Deutschland ist
mit über 2,1 Billionen Euro, davon über 1,3 Billionen
Euro beim Bund, verschuldet. Wir geben gegenwärtig
über 30 Milliarden Euro pro Jahr für Zinszahlungen
aus. Nun haben Sie entschieden, die Mittel zur Finanzierung dieser Schulden künftig vollständig an den
Finanz- und Kapitalmärkten aufzunehmen. Damit bestimmen die großen internationalen Investoren den
Ton. Dem Bund die Möglichkeit zu nehmen, sich bei
seinen Bürgern Geld zu leihen, ist wieder einmal der
puren Marktideologie der FDP geschuldet, und sie ist
und bleibt ein schwerwiegender Fehler.
Sie verstecken diese Ideologie hinter einem Bericht
des Bundesrechnungshofes, der besagt, die Kosten für
das Privatkundengeschäft überstiegen den Gewinn um
über 50 Millionen Euro. Das trifft zwar zu, Ihre Konsequenz daraus ist aber falsch. Denn es war diese Bundesregierung, die nichts unternommen hat, um das zu
ändern. Sie haben der Finanzagentur untersagt, Werbung für Privatanlagen zu machen. Sie haben sich
nicht bemüht, über Synergieeffekte und effektivere Angebote die Kosten zu senken. Sie haben sich einfach
ausgeruht und zugesehen.
Seit zwei Jahren haben wir eine sehr spezielle Situation. Deutschland ist - so paradox das klingen mag in einem Punkt Profiteur der Finanzmarktkrise. Aufgrund der Finanzmarktkrise, die über marode Bankbilanzen zu einer Refinanzierungskrise für einige Staaten des Euro-Raums geworden ist, suchen Investoren
heute fieberhaft nach sicheren Anleihen. Deutschland
ist hier mit die beste Adresse in der Welt. Die Folge daraus ist, dass die Zinssätze, die wir als Bund zahlen
müssen, gegenwärtig stark gesunken sind - teilweise
bis ins Negative. Das ist zwar eine gute Entwicklung
für die Bundesschuld und den Bundeshaushalt. Sie ist
aber nicht von Dauer und kann sich rasch wieder ändern. Zudem werden die Zinsen durch die niedrigen
Leitzinssätze der Europäischen Zentralbank und die
enormen Liquiditätshilfen an Geschäftsbanken generell auf einem niedrigen Niveau gehalten. Für die
Sparerinnen und Sparer jedenfalls in Deutschland bedeutet das eine langsame, schleichende Enteignung,
solange die Zinsen auf Ersparnisse unterhalb der Inflationsrate liegen. Auf mittlere und lange Sicht ist das
gefährlich und muss sich ändern. Deshalb muss der
Bund nicht nur ein sicherer Hafen bleiben, sondern
wird perspektivisch auch für Privatanleger wieder
ökonomisch interessant werden.
Das Privatkundengeschäft mit Bundesschuldtiteln
findet seit Januar nur noch über die Geschäftsbanken
statt, über die Privatkunden Schuldtitel des Bundes erwerben können. Das ist verbunden mit Gebühren und
anderen Kosten, denn die Banken wollen ja daran verdienen. Den Gewinn der Banken aber auch noch mithilfe der Bundesschuldenverwaltung zu steigern, darf
doch wirklich nicht unser Interesse sein. Da haben Sie,
Kollege Fricke, in der ersten Lesung dieses Antrags
recht gehabt: Ja, wir wollen den Banken diesen Gewinn auf Kosten der privaten Anleger nicht zubilligen.
Sie aber schon. In Klientelpolitik sind Sie einfach unübertroffen.
Wir wollen, dass Sie das Privatkundengeschäft der
Finanzagentur umgehend wieder aufnehmen und prüfen, wie andere, auch längerfristige Wertpapiere zusätzlich zu den traditionellen Privatkundenprodukten
angeboten werden können. Gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof müssen Möglichkeiten erarbeitet
werden, wie die Kosten minimiert werden und gegebenenfalls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft
Zu Protokoll gegebene Reden
Carsten Schneider ({0})
an anderer Stelle kompensiert werden können. Und ich
fordere Sie auf, Herr Schäuble, gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes
Möglichkeiten und Instrumente zu erörtern, um das
Engagement Privater bei der Refinanzierung der
Euro-Mitgliedstaaten generell zu erhöhen und lukrativer zu gestalten und dadurch mehr Unabhängigkeit
gegenüber institutionellen Investoren und anderen
Finanzmarktakteuren zu gewinnen.
Noch hätten Sie Gelegenheit, das klug zu ändern.
Nach dem 22. September 2013 jedenfalls werden wir
mal wieder Ihre Arbeit tun müssen.
Wir haben in dieser Debatte über den Antrag der
SPD zur Fortführung des Privatkundengeschäfts der
Finanzagentur Deutschland GmbH bereits mehrfach
Argumente ausgetauscht. Weder an den Fakten noch
an der Wertung hat sich etwas geändert.
Die Bundesregierung hat entschieden, das Privatkundengeschäft zum Jahresende 2012 einzustellen.
Der Bundesrechnungshof hat diese Entscheidung unterstützt. Die Einstellung des Vertriebs von speziellen
Privatkundenprodukten des Bundes ist aufgrund festgestellter Unwirtschaftlichkeit erfolgt. Das ist im Interesse der Steuerzahler und sollte damit auch im Interesse der privaten Anleger sein.
Als FDP haben wir das Privatkundengeschäft der
Finanzagentur des Bundes stets kritisch begleitet, zumal sich der Staat hier teilweise in Konkurrenz zu privaten Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken begeben hat.
Die SPD wollte nun, dass weiterhin der Steuerzahler mit 50 bis 70 Millionen Euro belastet wird, um Kapitalanlegern Vergünstigungen zu verschaffen. Je Bestandskunde kostete die Finanzagentur des Bundes den
Steuerzahler rund 200 Euro. Deutschland sollte also
im Sinne der SPD weiterhin unwirtschaftlich Schulden
aufnehmen.
Auch nach der Beendigung des Privatkundengeschäftes der Finanzagentur besteht für jeden Bürger
weiterhin die Möglichkeit, über sein Bankdepot deutsche Staatsanleihen zu erwerben. Der international so
beneidete „sichere Hafen“ steht dem Kleinanleger damit weiterhin offen.
Der Antrag der SPD passt gut in die Politik der
SPD, bedeutet er doch in der Konsequenz, dass privaten Banken, Sparkassen und Volksbanken das Geschäft
weggenommen und dem Staat die weitere Verschuldung erleichtert wird. Damit fließen Spareinlagen
nicht in Investitionen und privatwirtschaftliche Entwicklungen und damit in die Zukunft unseres Landes,
sondern in die Verschuldung des Staates.
Die christlich-liberale Koalition hat eine nachhaltige Politik der Haushaltskonsolidierung erfolgreich
auf den Weg gebracht. Auch in diesem Bereich waren
die vergangenen Jahre vier gute Jahre für Deutschland. Damit sich diese guten Jahre für Deutschland
fortsetzen, macht die christlich-liberale Koalition
auch in diesem Punkt das sachlich Richtige, setzt privat vor Staat und lehnt daher den Antrag der SPD ab.
Im Juni 2012 hat die Bundesregierung entschieden,
das Privatkundengeschäft der bundeseigenen „Bundesrepublik Deutschland - Finanzagentur GmbH“, Finanzagentur, einzustellen. Das passt in die neoliberale
Politik der Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Angebote. Es gibt kaum noch einen Lebensbereich, wo die Bundesregierung nicht versucht, öffentliche Angebote durch kommerzielle zu ersetzen.
Die Resultate sprechen für sich: Die Angebote werden
teurer und in der Regel schlechter.
Im SPD-Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, das Privatkundengeschäft der Finanzagentur
fortzusetzen. Auch wenn zurzeit keine ökonomischen
Gründe bestehen würden, das Privatkundengeschäft
der Finanzagentur fortzuführen, soll privaten Investoren ein direkter Zugang zu Staatsschuldtiteln des Bundes weiter offenstehen. Der Zugang allein über
Geschäftsbanken sei zudem mit Gebühren- oder Provisionszahlungen verbunden.
Die Bundesregierung soll umgehend prüfen, wie andere, auch längerfristige Wertpapiere zusätzlich zu den
traditionellen Privatkundenprodukten der Bundesschatzbriefe und der Finanzierungsschätze angeboten
werden können. Die Bundesregierung soll aufgefordert
werden, gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof
Möglichkeiten zu erarbeiten, wie die Kosten, die durch
die Bereitstellung der Finanzagentur-Infrastruktur für
Private entstehen, minimiert werden und gegebenenfalls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft an
anderer Stelle kompensiert werden können.
Die Linke befürwortet die Fortsetzung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur. Das Privatkundengeschäft der Finanzagentur hat in der Vergangenheit einen positiven Beitrag zur Senkung der
Zinskosten des Bundes geleistet und könnte das künftig
wieder leisten.
Das Privatkundengeschäft der Finanzagentur war
den Interessen von Bürgerinnen und Bürgern entgegengekommen, die bei ihren Anlageentscheidungen
nicht von Banken über den Tisch gezogen werden wollen. Die Banken wollten das Privatkundengeschäft der
bundeseigenen Finanzagentur kapern, um den Privatkunden der Finanzagentur im nächsten Schritt die
Bundeswertpapiere auszureden und ihnen stattdessen
eigene Papiere anzudienen, an denen die Banken mehr
verdienen. Dieses Interesse haben Koalition und Bundesregierung durch die Einstellung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur bedient.
In ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschland
von der Finanzmarktkrise dadurch profitiert habe,
dass Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt worden
sind und werden. Diese Feststellung greift zu kurz. TatZu Protokoll gegebene Reden
sächlich profitierte die deutsche Wirtschaft und eine
wohlhabende Minderheit in Deutschland lebender
Menschen auf Kosten anderer Staaten und der Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen vor allem
durch Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge der
von SPD und Grünen durchgesetzten Agenda 2010.
Die Zielrichtung im SPD-Antrag, die Sparanlagen
der Bürger zu mobilisieren, um in Not geratene Staaten
besser refinanzieren zu können, führt dazu, dass die
Auslöser und Profiteure der Finanzkrise aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Die Linke fordert, die Staatsfinanzierung endlich
der Willkür der Finanzmärkte zu entziehen. Neben einer konsequenten Regulierung der Finanzmärkte muss
die Europäische Zentralbank ermächtigt werden, den
Euro-Staaten günstige Kredite zu geben - direkt oder
über eine zwischengeschaltete europäische Bank für
öffentliche Anleihen.
Nach meiner Rede in der ersten Lesung habe ich
viele unterstützende Zuschriften von Bürgerinnen und
Bürgern bekommen, die die Bedeutung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur Deutschland erkannt
haben. Die Leute sehen nicht ein, warum sie künftig
saftige Bankgebühren zahlen sollen, wenn sie ihr Geld
dem Staat über einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stellen. Ich finde, diese Menschen haben völlig
recht.
Als Politikerinnen und Politiker sollten wir uns
freuen, dass viele Bürger ihrem Staat Geld anvertrauen und damit zur Refinanzierung des Gemeinwesens beitragen wollen, auch wenn die Rendite vergleichsweise niedrig ist. Stattdessen erhöht SchwarzGelb mit der Abschaffung des direkten Privatkundengeschäfts der Finanzagentur nun die Hürden, damit
die privaten Banken keine Konkurrenz mehr fürchten
müssen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir
brauchen. Die Bundesschatzbriefe sind immer noch
sinnvoller, als wenn die Leute ihr Vermögen in Zockerpapiere an den Finanzmärkten stecken, die zur wirtschaftlichen Destabilisierung beitragen können.
Es mag sein, dass die Bundesrepublik sich derzeit
günstiger Geld am Markt leihen kann, als das über den
direkten Kontakt mit ihren Bürgerinnen und Bürgern
möglich ist. Das liegt aber auch an der Krise der anderen Staaten im Euro-Währungsgebiet und dem damit
verbundenen niedrigen Zinsniveau für Deutschland.
Darauf können wir uns nicht dauerhaft verlassen. Wir
brauchen langfristig solide Verhältnisse, wenn wir uns
nicht in die Abhängigkeit der Finanzmärkte begeben
wollen. Ein weitsichtiges Schuldenmanagement steht
deshalb auf mehreren Beinen, und das Privatkundengeschäft muss ein wichtiges Standbein bleiben.
Das Argument, dass private Anleger Bundeswertpapieren grundsätzlich ablehnend gegenüberstünden
und der geringe Anteil des Privatkundengeschäfts an
der Gesamtverschuldung nicht zu steigern wäre, geht
jedenfalls ins Leere: In den 90er-Jahren lag der Anteil
bei rund 15 Prozent und damit mehr als fünfmal so
hoch wie heute. Das Interesse an sicheren Geldanlagen wird in der Bevölkerung insbesondere in den
Zeiten der Krise seit ein paar Jahren nicht abgenommen haben. Das Potenzial wäre grundsätzlich also
vorhanden, wenn man es denn richtig ausschöpfen
würde.
Das will die schwarz-gelbe Koalition aber offenbar
nicht sehen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass CDU,
CSU und FDP auch im Laufe der Beratungen nicht
von ihren Plänen abzubringen waren. Wenn Lobbyinteressen der privaten Banken für Merkels Regierung
wichtiger sind als rationale Argumente für die langfristige Stabilität der deutschen Finanzen, dann kann
auch die Opposition das Ende des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur nicht verhindern. Wer aber
ein ehrliches Interesse an einem gesunden Schuldenmanagement und einer möglichst geringen Abhängigkeit von den Kapitalmärkten hat, der muss dem vorliegenden Antrag heute zustimmen und die von SchwarzGelb in den zuständigen Ausschüssen durchgedrückte
Beschlussempfehlung ablehnen.
Das Bundesministerium der Finanzen hat im vergangenen Jahr entschieden, den Vertrieb von Privatkundenprodukten zum Jahresbeginn 2013 einzustellen.
Diese Entscheidung wurde vor dem Hintergrund
ausführlicher Beratungen mit der Bundesrepublik
Deutschland - Finanzagentur GmbH sowie unter Beachtung verschiedener Gutachten, die der Bundesrechnungshof zu dieser Frage bereits erstellt hatte, getroffen. Auch seitens des Parlaments gab es die
Forderung, aus dem Privatkundengeschäft auszusteigen.
Der Bundesrechnungshof stellte fest: „Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden Euro auf
unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der gesamten
Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sich damit von
40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem entstanden im
Privatkundengeschäft in den letzten Jahren Verluste,
teilweise in zweistelliger Millionenhöhe …Der Bundesrechnungshof bezweifelt, dass sich des Privatkundengeschäft mit neuen Produkten oder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveau deutlich ausweiten und
kostendeckend betreiben lässt.“
Dieser Beurteilung schloss sich das Bundesministerium der Finanzen an, nachdem weder die tatsächliche
Absatzsituation noch die von der Finanzagentur aufgezeigten Perspektiven für die weitere Entwicklung der
Absatzsituation auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Betriebs hindeuteten. Zu den Hintergründen der
Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben,
lassen Sie mich näher erläutern, dass es bis in das
Jahr 2002 noch zwei Absatzwege im PrivatkundengeZu Protokoll gegebene Reden
schäft gegeben hatte, nämlich - erstens - den Verkauf
über die Deutsche Bundesbank und - zweitens - den
Vertrieb über Banken und Sparkassen.
Die Deutsche Bundesbank entschied sich im Jahr
2002 jedoch, nicht mehr für den Vertrieb von Privatkundenprodukten des Bundes zur Verfügung zu stehen.
Bereits mit Wirkung vom 31. Dezember 2002 wurde
der Verkauf von Bundesschatzbriefen und Finanzierungsschätzen eingestellt, im Februar 2003 folgte
dann auch die Einstellung des Verkaufs von Bundesobligationen ex Emission an Private. Seitdem ist die
Deutsche Bundesbank nur noch bei der Abwicklung
dieser Produkte für den Bund tätig.
Nach dem Ausscheiden der Deutschen Bundesbank
aus dem Verkauf von speziellen Produkten des Bundes
für Privatkunden war nur der Verkauf dieser Produkte
über Banken und Sparkassen sowie der Direktvertrieb
über die Finanzagentur verblieben. Die für diese beiden Vertriebswege anfallenden Kosten waren jedoch
nicht so zu beeinflussen, dass die Rentabilität des Vertriebs der Privatkundenprodukte des Bundes hätte sichergestellt werden können.
Ein weiterer, noch gewichtigerer Aspekt kam hinzu,
und das waren bzw. sind renditeorientierte Anlegerentscheidungen. Die übergroße Mehrheit der privaten Anleger hatte sich im mittlerweile heiß umkämpften
Markt für Privatkundenprodukte gegen die risikofreien
Bundprodukte mit niedrigen Renditen entschieden und
zieht sehr oft Produkte vor, die mehr Rendite für höheres Risiko bieten.
Auch die Versuche der Finanzagentur und des Bundesministeriums der Finanzen, das Privatkundengeschäft nochmals durch ein neues Produkt wie die Tagesanleihe des Bundes - begleitet sogar von einer
TV-Werbekampagne - zu beleben, konnten den Absatzrückgang nicht wirklich aufhalten.
Die derzeit besonders niedrigen Bundrenditen haben den Niedergang der speziellen Produkte des Bundes für Privatkunden sicherlich beschleunigt. Ausschlaggebend war aber nicht die Marktlage an sich,
sondern dass die speziellen Produkte des Bundes für
den Privatanleger nicht mehr wettbewerbsfähig waren.
Eine Subventionierung von Kapitalanlegern für
Zwecke der Kreditaufnahme des Bundes ist jedoch unter keinem Aspekt sinnvoll; insoweit war unsere Entscheidung im Interesse eines verantwortungsvollen
Umgangs mit öffentlichen Geldern ohne Alternative.
Ich möchte zum Schluss noch einen weiteren Punkt
festhalten und betonen, der in der Debatte manchmal
untergeht: Die Einstellung des Vertriebs von speziellen
Privatkundenprodukten - Bundesschatzbriefen, Finanzierungsschätzen und der Tagesanleihe - führt keineswegs dazu, dass diejenigen Privatanleger, für die die
Sicherheit der Vermögensanlage an erster Stelle steht,
keinen Zugang mehr zu Bundeswertpapieren haben.
Eine Beteiligung privater Investoren an der staatlichen Kreditaufnahme ist dauerhaft auch ohne spezielle
Produkte für Privatkunden gewährleistet. Denn Bundeswertpapiere können ohne Weiteres auch zukünftig
von Privatanlegern, die eine sichere Wertanlage suchen, zum Beispiel über Banken und Sparkassen, erworben werden. Der Bundesregierung ist an dem fortbestehenden Anlegerinteresse sogar sehr gelegen, weil
es eine wichtige Grundlage für eine weiterhin reibungslose Kreditaufnahme zu wirtschaftlich günstigen
Konditionen ist.
Der ab und zu vorgebrachte Einwand, beim Wertpapiererwerb über Banken und Sparkassen fielen Gebühren an, die die Anleger beim Direkterwerb gespart
hätten, ist irreführend. Selbstverständlich wurden Direktanleger beim Bund an den höheren Kosten des Privatkundengeschäfts beteiligt. Nur geschah dies durch
einen Zinsabschlag auf die Privatkundenprodukte anstelle der Eintreibung von Kontoführungs- oder ähnlichen Gebühren. Der Erwerb eines sechsjährigen Bundesschatzbriefs mit dem üblichen 0,3-prozentigen
Zinsabschlag für den langfristig orientierten Anleger
von zum Beispiel 10 000 Euro ist selbstverständlich
weniger attraktiv als der Erwerb einer Bundesanleihe
mit sechsjähriger Restlaufzeit zu banküblichen Gebühren.
Zusammengefasst: Die Einstellung des Vertriebs
von speziellen Privatkundenprodukten des Bundes ist
im öffentlichen Interesse erfolgt, und zwar weil die
Kreditaufnahme des Bundes dadurch kostengünstiger
wird. Das liegt im Interesse aller Steuerzahler - und
daher auch der privaten Anleger. Für Bestandskunden
werden alle bestehenden Einzelschuldbuchkonten von
der Finanzagentur bis zur Fälligkeit der darin verwalteten Bundeswertpapiere fortgeführt. Eine Quersubventionierung des Privatkundengeschäfts auf Dauer
widerspräche dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Haushaltsrechts und wäre auch nicht sinnvoll.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12434, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12062 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Maurer, Herbert Behrens, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen als ersten Schritt zu deren Überwindung
- Drucksache 17/13130 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Lassen Sie mich zunächst ein paar kurze Sätze zur
aktuellen Lage am Arbeitsmarkt sagen: Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt weiter zu
und erreichte im vergangenen Jahr mit über 40 Millionen Beschäftigten den höchsten Stand aller Zeiten. Die
Arbeitslosigkeit sank mit 2,897 Millionen auf den
niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Trotz der aufgrund
des anhaltenden Winters zunächst noch ausbleibenden
Frühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit dennoch
von Februar auf März 2013 um 58 000 Personen auf
3,089 Millionen gesunken. Die Arbeitslosenquote ging
auf 7,3 Prozent zurück. In meinem Landkreis Würzburg beträgt die Arbeitslosenquote zurzeit lediglich
3 Prozent - im vergangenen Jahr lag sie sogar noch
darunter! Per Definition handelt es sich hierbei um
Vollbeschäftigung!
Sie sehen, die Chancen für Langzeitarbeitslose sind
derzeit so gut wie nie. Und ich will an dieser Stelle
noch mal ganz klar betonen, dass sich die überwiegende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiert zeigt
und wieder in Arbeit kommen will. Die hier immer wieder heftig diskutierten Sanktionen treffen nur einen
kleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen. Im letzten
Jahr waren lediglich 3,5 Prozent aller Leistungsberechtigten in Ostdeutschland und 3,3 Prozent in Westdeutschland von Sanktionen betroffen. Zwar stieg die
Zahl der Sanktionen im vergangenen Jahr insgesamt
auf über 1 Million - in Anbetracht der Zahlen vermutet
die Bundesagentur für Arbeit aber, dass eine kleine
Gruppe mehrfach sanktioniert wurde.
Der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr ist auch auf
den Anstieg von Meldeversäumnissen zurückzuführen - zum Beispiel, wenn ein vereinbarter Termin
im Jobcenter nicht eingehalten wurde. Sie stiegen auf
705 000 und machten damit 70 Prozent aller Sanktionen aus. 13 Prozent der Sanktionen wurden wegen Ablehnung einer Beschäftigung, Ausbildung oder Bildungsmaßnahme ausgesprochen. 14 Prozent wurden
ausgesprochen, weil sich Hartz-IV-Empfänger weigerten, Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung mit
dem Jobcenter zu erfüllen, also beispielsweise wenn
innerhalb einer bestimmten Zeit keine oder zu wenige
Bewerbungen geschrieben wurden. Auch wenn Leistungsbezieher eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen
oder an einer Fortbildung nicht teilnehmen, müssen
sie mit Kürzungen rechnen.
Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass
es bei der heutigen Debatte keinesfalls um die große
Mehrheit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechen
hier auch nicht über die Ahndung von vorsätzlichem
Betrug, sondern von der Verletzung von Pflichten, welche der Gesetzgeber den Unterstützten völlig zu Recht
auferlegt hat. Wir diskutieren über diejenigen Menschen, die in diesem Land zu Recht Hartz IV beziehen,
aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungen erhält, der muss sich in Kooperation mit seinem Arbeitsvermittler bzw. Fallmanager darum bemühen, möglichst rasch wieder eine Beschäftigung zu finden.
Unsere Leitphilosophie, die die Kollegen der Fraktion Die Linke stets zum Dämon der sozialen Kälte stilisieren, heißt „Fördern und Fordern“. Dahinter steht
die Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafür aber auch
bei der Suche nach einem Job sehr nachdrücklich Engagement und Eigeninitiative einzufordern. Eine Person,
die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt wird, muss mithelfen, ihre Situation
auch wieder zu verbessern.
Auch diejenigen, deren Einkommen möglicherweise
nur knapp über den Transferleistungen liegt, finanzieren mit ihren Abgaben diese Leistungen letztendlich
mit. Daher sind wir bei der Verteilung von steuerfinanzierten Fürsorgeleistungen auch ihnen in besonderem
Maße verpflichtet.
Nach dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG
hat der Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Dem sind wir
- unter Bestätigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - mit der Neubemessung der Regelsätze auch nachgekommen. Wir tragen dafür Sorge,
dass einem hilfebedürftigen Menschen die materiellen
Voraussetzungen dafür zur Verfügung stehen, um seine
Würde in Notlagen, die nicht aus eigenen Kräften
überwunden werden können, durch materielle Unterstützung zu sichern. Eine Person, die hilfebedürftig ist,
weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung
der Gesellschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie aber
auch alles daransetzen, um diese Hilfebedürftigkeit zu
beenden und ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten zu können. Dass der deutsche Sozialstaat deswegen eine „Disziplinierungsmaschine“ sein soll liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke -, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
Die Ausgangslage war - wie bereits erwähnt - noch
nie so gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wenn
nicht in einem konjunkturell guten Umfeld, wie wir es
derzeit bei uns in Deutschland vorfinden, sollen Leistungsbezieher sonst den Schritt aus der staatlichen Abhängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenen wollen
dies doch auch und bemühen sich redlich, wieder in
Arbeit zu kommen - das stellt auch niemand in Abrede.
Im Schnitt wurden die Leistungen um circa 115 Euro
gekürzt, wobei die Kürzung nicht immer den Regelsatz
betraf, der bei 374 Euro lag. Teilweise wurden auch
die Leistungen für Unterkunft und Heizung oder für
den individuellen Mehrbedarf gekürzt. Der Kürzungsbetrag richtet sich nach einem Prozentsatz des maßgebenden Regelbedarfs. Die Minderung bzw. der Wegfall
der Leistung dauert drei Monate. Doch selbst bei einer
Kürzung des Hartz-IV-Satzes ist der Bedarf für Ernährung, Gesundheits- und Körperpflege in Form von
Gutscheinen gesichert. Eine vorübergehende Herabsetzung des Regelsatzes widerspricht nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Natürlich ist es schmerzhaft, wenn man auf einen
Teil seines Geldes verzichten muss, aber wenn jemand
in unserem Land berechtigterweise Hartz IV bezieht,
Zu Protokoll gegebene Reden
hat er selbstverständlich auch Pflichten - das habe ich
bereits ausgeführt. Solidarität beruht eben immer auch
auf Gegenseitigkeit. Nur so kann unsere Gesellschaft
funktionieren. Die Solidargemeinschaft kann zu Recht
erwarten, dass die angebotenen Hilfestellungen und
Chancen von den Betroffenen auch genutzt werden,
was bei der Mehrheit der Arbeitslosen ja ohnehin der
Fall ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,
ein von Ihnen gefordertes Sanktionsmoratorium trägt
nicht zum Eintritt bzw. Wiedereintritt in Beschäftigung
bei - dies ist durch Studien hinreichend belegt. Hierdurch würden falsche Anreize gesetzt - weswegen wir
Ihre Forderungen als nicht zielführend erachten.
Das Ziel von arbeitsmarktpolitischen Sanktionsinstrumentarien ist es, potenziellen Fehlanreizen im Arbeitslosenversicherungs- oder Sozialhilfesystem entgegenzuwirken und somit zu gewährleisten, dass die
Arbeitslosen mit den jeweiligen Angestellten von Arbeitsagenturen bzw. Jobcentern zusammenarbeiten.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Arbeitssuchintensität nahezu aller Arbeitslosen im Vergleich zu
Systemen ohne Sanktionen allein aufgrund einer möglichen Sanktionierung höher ist und Anspruchslöhne
geringer sind. Die Arbeitslosigkeitsdauer wird verkürzt. Verhängte Sanktionen in der Grundsicherung
erhöhen demnach die Beschäftigungswahrscheinlichkeit der sanktionierten Personen. Es ist davon auszugehen, dass sich bei einem Wegfall von Sanktionen die
Suchanstrengungen der Leistungsempfänger verringern.
Ich plädiere an dieser Stelle noch einmal für die
konsequente Anwendung des bewährten Prinzips
„Fördern und Fordern“. Bei der Wiedereingliederung
in den Arbeitsmarkt sind wir am erfolgreichsten, wenn
alle Beteiligten konstruktiv und aktiv auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten.
Zum Thema Sanktionen im SGB II wurde bereits
vieles, wenn nicht alles gesagt. Wir haben allein in dieser Legislaturperiode bereits achtzehn Anfragen und
Anträge dazu diskutiert. Elf davon wurden allein von
der Fraktion Die Linke gestellt. Da wundert es nicht,
dass die vorliegende Initiative extrem dürftig ist: Der
Antrag besteht nur aus drei Sätzen. Trotzdem möchte
ich die Gelegenheit nutzen, um den Sachverhalt nochmals klarzustellen.
Sanktionen sind ein unverzichtbares Element der
Strategie des „Förderns und Forderns“. Dass diese
Strategie greift, ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist
aber auch, dass der Schwerpunkt ganz klar auf dem
„Fördern“ liegt. Die durch Sanktionen einbehaltenen
Geldleistungen summierten sich nach den Daten der
Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2012 auf knapp
200 Millionen Euro. Dem standen insgesamt 32,7 Milliarden Euro an Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik gegenüber. Darunter waren allein 4,4 Milliarden Euro
für die aktive Arbeitsmarktpolitik bereitgestellt worden. Wer also den Eindruck erweckt, der Sozialstaat
sei eine „Disziplinierungsmaschine“, wie im Antrag
aufgeführt, der erzeugt ein Zerrbild der Daten- und
Faktenlage.
In den vergangenen Jahren habe ich mehrere Jobcenter besucht und zudem hier in Berlin viele Gespräche mit Verantwortlichen geführt. Eins ist klar: Die
Mitarbeiter vor Ort sind bestens qualifiziert und hochmotiviert. Sie haben nur ein Ziel, nämlich die Arbeitslosen wieder in Arbeit zu vermitteln und bei Bedarf zu
qualifizieren, um deren Vermittlungschancen zu erhöhen. Ein solches System kann aber nur funktionieren,
wenn alle Betroffenen mitarbeiten. In diesem Zusammenhang stellen die Sanktionen ein wichtiges Instrument dar. Der Gedanke, bei Fehlverhalten zu sanktionieren, ist ein grundsätzlicher Bestandteil unserer
Gesellschaft. Dieser Ansatz ist genau richtig, um jeden
Einzelnen zu motivieren und der Solidargemeinschaft
insgesamt gerecht zu werden.
Lassen Sie mich drei Argumente herausgreifen, die
von Ihnen immer wieder vorgetragen werden: Erstens.
Sie behaupten, Sanktionen seien nicht verfassungskonform. Dieses Argument ist schlicht falsch. Das Einfordern von eigenen Anstrengungen zählt zu den Grundprinzipien bedarfsabhängiger und am Fürsorgeprinzip
orientierter Sozialleistungen und ist auch verfassungsrechtlich begründbar - vergleiche BSG, Urteil vom
9. November 2010 - B 4 AS 27/AS R.
Zweitens. Sie behaupten weiterhin, dass Menschen,
die mit Sanktionen belegt werden, nicht ausreichend
versorgt seien. Auch das ist falsch. Dazu verweise ich
auf § 31 a Abs. 3 SGB II. Dieser Paragraf beschreibt
die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums im Sanktionsfall. Auf Antrag können Sachleistungen zur Deckung des Bedarfs für Ernährung,
für Gesundheitspflege, Hygiene und Körperpflege gewährt werden. Sind zudem minderjährige Kinder im
Haushalt, werden diese Sachleistungen von Amts wegen erbracht.
Drittens. Sie vermitteln den Eindruck, als würden
sämtliche Grundsicherungsempfänger unter der Sanktionspraxis leiden. Das ist eine bewusste Täuschung,
denn Sie kennen die Sanktionsquoten sehr genau:
Mehr als 95 Prozent und damit die überragende Mehrheit der Leistungsempfänger hält sich an die Regeln
und ist nicht von Kürzungen betroffen.
Angesichts dieser Fakten sieht die CDU/CSU-Fraktion keinen Grund, den vorliegenden Antrag zu unterstützen.
Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag zur Beratung eingebracht, dessen Thema bereits vielfach Gegenstand der politischen Auseinandersetzung war: das
Sanktionssystem im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, dass dieser Antrag in einem gewissen Zusammenhang mit der
Veröffentlichung der Sanktionszahlen für 2012 steht,
Zu Protokoll gegebene Reden
welche durch die Bundesagentur für Arbeit am
10. April dieses Jahres veröffentlicht wurden. Diese
Zahlen sind auf den ersten Blick erschreckend, aber
sie sind auch zu hinterfragen.
Ich finde, dieser Antrag sagt eine ganze Menge darüber aus, wie Die Linke mit statistischen Zahlen umgeht. So wie Schwarz-Gelb die Realität in diesem Land
leugnet und sich eine schöne heile Welt malt - hier sei
auf den Armuts- und Reichtumsbericht verwiesen -, so
malen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion, immer ein schwarzes, düsteres Bild von
Deutschland und hüllen die gesellschaftlichen Zustände in Tristesse und Ausweglosigkeit. Dieser undifferenzierte Blick lässt dann auch nicht die richtige
Schlussfolgerung zu.
Lassen Sie mich auf die Sanktionszahlen für 2012
zurückkommen: 1 024 600 neue Sanktionen - das hört
sich gewaltig an. Ein genauer Blick relativiert die Zahl
aber schon wieder. Denn 2012 haben sich im Jahresverlauf 96,6 Prozent aller rund 4,3 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten korrekt verhalten, haben die Vereinbarungen eingehalten und wurden durch
die Jobcenter nicht sanktioniert. Lediglich 3,4 Prozent
wurden im Jahresverlauf mit Sanktionen belegt. Das
ist doch die richtige Schlussfolgerung aus der Statistik
der Bundesagentur für Arbeit. Sie heißt: Die überwältigende Mehrheit der Arbeitsuchenden kennt nicht nur
ihre Rechte, sondern nimmt auch ihre Pflichten wahr
und bemüht sich aktiv, die Hilfebedürftigkeit zu beenden, eine Arbeit aufzunehmen oder in eine Fördermaßnahme zu kommen. Denn diese Einstellung ist der
Schlüssel zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik
und die Voraussetzung dafür, dass die Eingliederungsmaßnahmen und -instrumente wirken können.
Erst seit den arbeitsmarktpolitischen Reformen der
rot-grünen Bundesregierung gibt es den Grundsatz des
Förderns und Forderns. Beides gehört zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik. Mit diesem Gedanken der
Hilfe zur Selbsthilfe haben wir viele Menschen vom sozialen Rand in den Fokus der Förderung geholt und ihnen Chancen zur Teilhabe eröffnet.
Schwarz-Gelb hat den Gleichklang aus Fördern und
Fordern aber in Schieflage gebracht. Mit dem Streichen erfolgreicher arbeitsmarktpolitischer Instrumente
und dem Zusammenstreichen des Eingliederungstitels
hat diese Regierung die Axt an die Arbeitsmarktförderung gesetzt. Erfolgreiche Programme wie der Gründerzuschuss, der Ausbildungsbonus oder der Eingliederungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer sind keine
Pflichtleistung mehr oder ganz gestrichen und können
ihre vormals gute Wirkung nicht mehr entfalten. Das
war und ist unverantwortlich. Hier muss endlich umgesteuert werden und der Gleichklang aus Fördern
und Fordern wiederhergestellt werden. Vor dem Hintergrund der derzeit noch über 1,2 Millionen Langzeitarbeitslosen müssen die staatlichen Anstrengungen verstärkt werden. Gerade für diese Zielgruppe ist das
wichtig. Fakt ist: Derzeit reichen die Anstrengungen
nicht aus.
Wir dürfen das Ziel, dass die Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können, nicht aus den Augen
verlieren. Das muss aber auch von beiden Seiten gewollt und ermöglicht werden. Arbeitsuchende, die sich
aktiv daran beteiligen, ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden, müssen auch aktiv unterstützt werden. Vorsätzliche Verweigerung wiederholter Art und die Nichtannahme von geeigneten Angeboten müssen jedoch
sanktioniert werden können. Das Sanktionssystem
ganz abzuschaffen, würden wir darum nicht mittragen
können. Auch ein Moratorium fände nicht unsere Zustimmung.
Jede Sanktion, die mit Repressionen einhergeht,
lehnen wir aber ab. Darum bedarf das Sanktionssystem einer Überarbeitung. Die Sanktionsdauer von drei
Monaten ist zum Beispiel viel zu starr. Das Sanktionssystem muss an einigen Stellen flexibler werden. Denn
bei Eintritt der gewünschten Verhaltensänderung beim
sanktionierten Arbeitssuchenden muss auch die Möglichkeit bestehen, die verhängte Sanktion umgehend
aufheben zu können, damit positive Effekte erzielt werden können und es nicht ins Gegenteil umschlägt.
Ferner gehört das verschärfte Sanktionssystem für
junge Menschen unter 25 Jahren abgeschafft; das ist
unser klares Votum. Für dieses verschärfte System gibt
es weder pädagogische noch fachliche Gründe. Es
steht auch im klaren Widerspruch zu anderen Rechtssystemen, wie zum Beispiel dem Jugendstrafrecht, das
aus pädagogischen Gründen weichere Strafen für Jugendliche vorsieht. Die jungen Erwachsenen müssen
für die Mitwirkung gewonnen und hierzu motiviert
werden. Dazu bedarf es eben größerer Anstrengungen
in der Arbeitsmarktpolitik. Schwarz-Gelb rennt aber
sehenden Auges in die falsche Richtung. Das ist jedoch
leider nichts Neues.
Der uns vorliegende Antrag zielt zwar auf ein gewichtiges Thema ab, zieht jedoch die falschen
Schlüsse. Einer sanktionsfreien Grundsicherung stimmen wir nicht zu. Wir stehen zu dem von uns mit eingeführten Gleichklang des Förderns und Forderns und
den daraus erwachsenden Rechten und Pflichten - das
gehört zusammen. Das gilt übrigens auch für andere
gesellschaftliche Bereiche.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der ein Moratorium für die Sanktionen im
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Kraft setzt. Diese
von der Fraktion Die Linke angestrebte gesetzliche Regelung zur Aussetzung der Sanktionen soll den ersten
Schritt zur - wie es im Antrag heißt - „Abschaffung
des Hartz-IV-Sanktionssystems“ markieren.
Wie die Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt hat,
wurden im Kalenderjahr 2012 rund 1 024 600 Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen leistungsberechtigten
Personen ausgesprochen. Im Vergleich zum Kalenderjahr 2011 entspricht dies einer Steigerung von circa
11 Prozent. Die Sanktionen wurden in der überwiegenZu Protokoll gegebene Reden
den Zahl wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen
- circa 705 000 -, was einem Anteil an der Gesamtzahl
der Sanktionen von rund 70 Prozent gleichkommt.
Rund 13 Prozent der Sanktionen waren in Ablehnungen einer Beschäftigung ({0}) begründet sowie 14 Prozent wegen
Nichteinhaltung der in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarten Pflichten.
Die Zahl von 1 024 600 mag zunächst sehr hoch erscheinen - dementsprechend titelten auch die Vertreter
der Printmedien zum Beispiel „Sanktionen für Hartz-IVEmpfänger erreichen Rekordwert“ wie „Die Zeit“
oder auch „Rekordstand bei Hartz-IV-Sanktionen”
wie der „Stern“: Tatsächlich muss dieser „Rekordwert“ sehr differenziert betrachtet werden: Im Durchschnitt des Kalenderjahres 2012 wurden gegenüber
rund 150 300 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
Sanktionen ausgesprochen. Das entspricht einem Anteil von lediglich 3,4 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Sowohl dieser geringe Anteil als
auch der Anteil der Sanktionen wegen Meldeversäumnissen zeigt auf, dass es keine ausgeprägte Neigung
der Arbeitsuchenden gibt, vorgeschlagene Arbeit abzulehnen. BA-Vorstand Heinrich Alt hat sehr treffend
dargestellt, dass eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und eine höhere Betreuungsintensität in
den Jobcentern sich auf die Zunahme der ausgesprochenen Sanktionen ausgewirkt haben: Wenn mehr Arbeitsangebote gemacht und mehr Beratungstermine
anberaumt werden, erfolgen auch mehr Meldeversäumnisse.
Es bleibt - wie schon erläutert - dabei: Der geringe
Sanktionsanteil von 3,4 Prozent dokumentiert, dass die
überwiegende Mehrheit der Arbeitsuchenden - über
96 Prozent! - die rechtlichen Vorgaben einhält und
dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den
Jobcentern nicht leichtfertig mit Sanktionsmaßnahmen
umgehen. Das ist für uns Liberale der richtige Weg.
Wer in eine Notsituation geraten ist, muss sich auf solidarische Unterstützung verlassen können. Solidarität
beruht aber immer auf Gegenseitigkeit.
Die Linke fordert in ihrem Antrag jedoch eine Aufhebung des Solidarprinzips, indem die Unterstützung
in jedem Fall in voller Höhe erfolgen muss - unabhängig davon,ob eine leistungsberechtigte Person sich an
die rechtlichen Vorgaben hält oder nicht.
Diese Forderung lehnen wir ab. Insofern werden
wir von der FDP-Fraktion auch den Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen.
Mit großem Erstaunen haben wir das Märchen von
Jürgen Trittin zur Kenntnis genommen, dass die Grünen schon immer für einen Mindestlohn gewesen sein
wollen. Sie konnten ihn damals unter der Schröder/
Fischer-Regierung aber aufgrund der Blockadehaltung der SPD nie durchsetzen. Diese Märchen hat sich
als Lüge herausgestellt.
Mit großem Erstaunen nehmen wir nun zur Kenntnis, dass die Grünen ein weiteres Märchen erfinden.
Sie sind für ein Moratorium der Hartz-IV-Sanktionen
und versuchen so, gerade noch rechtzeitig vor dem
Wahlkampf den Eindruck zu erwecken, sie seien gegen
die Hartz-IV-Sanktionierungen. Jürgen Trittin und
Katrin Göring-Eckardt erkennen in „Die Zeit“ vom
13. März 2013: Der deutsche Sozialstaat wurde im Bewusstsein der Menschen zu einer Disziplinierungsmaschine.
Das ist ja schon einmal was. Sie fahren fort: „Das
Gefühl, von sozialem Abstieg bedroht zu sein, reicht
heute bis weit in die gut gebildete Mittelschicht.“ Als
Konsequenz daraus fordern sie ein Moratorium für die
Hartz-IV-Sanktionen. Das fordert Die Linke ebenso.
Aber wir gehen weiter und fordern das als ersten
Schritt der Überwindung der Hartz-IV-Sanktionen.
Wenn Sie schon feststellen, dass der Wahlkampf naht,
ziehen Sie die richtigen Konsequenzen, stimmen Sie
der Forderung der Linken zu, und stimmen Sie gegen
die menschenverachtende Sanktionierungsmaschine
von Hartz IV! Bekennen Sie endlich einmal Farbe, und
sagen Sie, wie Sie es mit Hartz-IV-Sanktionen und
Hartz IV in Wirklichkeit halten!
Wie wollen Sie sich im Übrigen nach der Wahl verhalten? Sie führen Seite an Seite mit der SPD Ihren
Bundestagswahlkampf. Was ist denn von den Lagerparteien SPD und Grüne nach der Wahl zum Thema
Hartz IV zu erwarten? Die SPD kann sich ja nicht einmal zu einem Moratorium der Hartz-IV-Sanktionierung durchringen. Setzen Sie sich, liebe Grüne, nach
der Bundestagswahl für die Menschen ein, die unter
diesem Hartz-System leiden, oder geben Sie ihre Haltung zur Hartz-IV-Sanktionierung nach der Wahl wieder einfach auf?
Gerade vorletzte Woche verstarb in Reinickendorf
in einer Wärmestube eine 67-jährige schwerbehinderte Frau wenige Tage nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung. Die Zwangsräumung war juristisch
durch die von Ihnen damals eingeführte Hartz-Gesetzgebung gedeckt, da die Frau Mietrückstände hatte;
aber wo bleibt der Mensch? Gestehen Sie sich bitte
Ihre Fehler ein, die Sie damals mit der Einführung der
Hartz-IV-Gesetze begangen haben, und streiten Sie an
der Seite der Linken und der Menschen wieder für deren Abschaffung!
Durch die Hartz-IV-Gesetzgebung werden Menschen zu Menschen dritter Klasse degradiert. Gesetze
sollen für Menschen sein, nicht gegen sie. Selbst
Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für
Arbeit, konstatierte kürzlich: „Nur Lebenskünstler
können von Hartz IV leben.“
Am Montag dieser Woche wurde Inge Hannemann,
eine Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit in
Hamburg, bis auf Widerruf freigestellt, weil sie sich
weigerte, den Sanktionswahn der ARGE durchzupeitschen. In ihrem Brandbrief an die Bundesagentur für
Arbeit stellt sie die Frage: „Wie viele Tote, GeschäZu Protokoll gegebene Reden
digte und geschändete Hartz-IV-Bezieher wollen Sie
noch auf Ihr Konto laden? Wie viele Dauerkranke,
frustrierte und von subtiler Gehirnwäsche geprägte
Mitarbeiter wollen Sie in Ihrem Konstrukt ‚Jobcentermaschine‘ durchschleusen?“ Diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten Sie sich alle in diesem
Haus stellen, wenn Sie über unseren Antrag abstimmen.
Belassen Sie es nicht bei Ihren Wahlkampf-Märchen, sondern entscheiden Sie sich endlich, Politik
für die Menschen zu machen! Bekennen Sie Farbe,
und stimmen Sie unserem Antrag „Moratorium für
Hartz-IV-Sanktionen als erster Schritt zu deren Überwindung“ zu!
Wir Grünen fordern seit langem ein Sanktionsmoratorium. Die geltenden Sanktionsregeln sind undifferenziert, unflexibel und wirken oft kontraproduktiv. Insbesondere das verschärfte Sanktionsrecht für
unter 25-Jährige gehört sofort abgeschafft. Für junge
Menschen gelten derzeit viel härtere Regeln als für ältere Arbeitsuchende. Das ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich: Das führt Jugendliche ins Aus
statt in Arbeit.
Wir stellen fest: Die versprochene Balance zwischen
Fördern und Fordern gibt es nicht. Unter Bundesministerin von der Leyen wurden die Mittel für die
aktive Arbeitsmarktpolitik überproportional stark gekürzt. Zeitgleich sind die Zahlen der Sanktionen auf
ein Rekordhoch gestiegen. Von einem Verhältnis auf
Augenhöhe zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern
kann unter diesen Bedingungen keine Rede sein.
Im Jahresdurchschnitt 2012 waren monatlich
150 300 Menschen von Sanktionen betroffen. Gegenüber dem Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von
11 Prozent. 70 Prozent der Sanktionen wurden wegen
Meldeversäumnissen ausgesprochen.
In Niedersachsen, wo ich herkomme, ist die Anzahl
der verhängten Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger
2012 sogar um 19 Prozent gegenüber 2011 und um
56 Prozent gegenüber 2009 gestiegen. Auch deshalb
macht sich die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens ebenfalls für ein Sanktionsmoratorium stark und
hat eine entsprechende Bundesratsinitiative angekündigt.
Die gestiegene Anzahl an Sanktionen ist auch deshalb besonders bedenklich, weil davon häufig auch
Angehörige betroffen sind, die gar keine Pflichtverletzung begangen haben. Die enorme Zunahme bei den
Sanktionen liegt vor allem im System begründet und
hat nur selten etwas mit Missbrauch zu tun.
Arbeitsuchende brauchen eine passgenaue Unterstützung. Dazu gehören gute Betreuung, Beratung und
Qualifizierungsangebote. Motivation und Bestärkung
sollten im Mittelpunkt stehen; bürokratische Zumutungen und Gängelungen müssen endlich fairen Spielregeln weichen. Die persönlichen Ansprechpartner in
den Jobcentern müssen in die Lage versetzt werden, einen nachhaltigen und auf die individuellen Stärken
und Schwächen der Arbeitslosen abgestimmten Plan
zu entwickeln, der die Menschen wieder in Arbeit bringen kann. Dies muss partnerschaftlich und auf Basis
eines Vertrauensverhältnisses geschehen. In diesem
Prozess haben weder Scheinangebote zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft noch Sanktionsandrohungen und -automatismen Platz.
Was wir brauchen, ist ein qualifiziertes, individuelles und umfassendes Fallmanagement. Arbeitsuchende
müssen die Möglichkeit haben, aus verschiedenen
Maßnahmen ein passgenaues Angebot auszuwählen.
All das ist im Moment leider nicht gewährleistet.
Daher fordern wir Grünen, die Rechte der Arbeitslosen zu stärken. Auch die verstärkten Zumutbarkeitsregeln müssen korrigiert werden. Insbesondere für
junge Menschen unter 25 Jahren sind Regelungen notwendig, die ihrer Entwicklung gerecht werden und
nicht zu starr sind. Dafür brauchen wir gut ausgestattete Jobcenter mit einem besseren Fallmanagement
und unabhängige Ombudsstellen, die bei Konflikten
vermitteln. Die hohen Erfolgsquoten von Widersprüchen und Klagen gegen Jobcenterentscheide zeigen,
dass hier ein enormes Verbesserungspotenzial liegt. Es
gibt bereits Jobcenter, die mit Ombudsstellen gute
Erfolge erzielen; daraus kann ein Erfolgsmodell für
alle entstehen.
Ein Sanktionsmoratorium ist also ein notwendiger
Schritt, bis die Rechte der Arbeitsuchenden nachhaltig
und umfassend gestärkt worden sind und die Arbeitsbedingungen und die Ausstattung in den Jobcentern
stimmen.
Dieser Tage geht der Euphorietaumel um. Bejubelt
wird die Agenda 2010. Bundespräsident Joachim
Gauck lobt Altkanzler Gerhard Schröder für „bleibende Verdienste“ und findet „die Balance von Fördern und Fordern in der Sozialpolitik sehr wichtig“.
Denn: „Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir zu wenig
von uns verlangen.“ Der Grundsatz, von dem die Rede
ist, lautet „Fördern und Fordern“. Er ist oberstes
Prinzip der Hartz-IV-Leistungsvergabe und bedeutet:
keine Leistung ohne Gegenleistung. Die Befürworter
der Agenda 2010 vergessen einen anderen Grundsatz.
Er ist oberstes Prinzip unserer Verfassung und lautet:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Prinzip
des „Förderns und Forderns“ kann für die Garantie
des Existenzminimums keine Geltung beanspruchen.
In einem Sozialstaat ist es verfassungsrechtlich ausgeschlossen, die Existenz nur denjenigen zuzugestehen,
die im Gegenzug gehorchen. Das ergibt sich auch aus
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Mit seiner Entscheidung zu Hartz IV hat das Gericht
ein Grundrecht auf ein Minimum staatlicher Leistung
geschaffen: das Existenzminimum. Es umfasst den
unbedingt notwendigen Bedarf des Einzelnen zum physischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaftZu Protokoll gegebene Reden
lichen, kulturellen und politischen Leben. Das Existenzminimum muss in jedem Fall und zu jeder Zeit
sichergestellt sein.
Dieses Verständnis der Menschenwürdegarantie
respektiert die Bundesregierung jedoch nicht. „Eine
Person, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung der Gemeinschaft
rechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, um
ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen“, begründet die Regierungskoalition die Leistungskürzungen bei Hartz IV. „Wiederholte Verstöße gegen die
Selbsthilfeobliegenheit führen daher folgerichtig zu
verstärkten Sanktionen“, schreibt die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage. Über 1 Million dieser
Sanktionen verhängten die Jobcenter in den vergangenen zwölf Monaten, mehr als je zuvor. Über 10 000
Leistungsberechtigte waren im Jahresdurchschnitt
2011 „vollsanktioniert“, ihnen wurde im Sanktionszeitraum kein einziger Euro ausgezahlt. Obwohl sie
bedürftig sind. Obwohl sie vielleicht von Obdachlosigkeit bedroht sind oder hungern. Aus einem einzigen
Grund: weil sie nicht gehorchen. Das ist gerecht,
könnte man meinen, wer - noch - einen Job hat, arbeitet schließlich auch für sein Geld. Es überlebt nur, wer
etwas dafür tut. Das ist die Gerechtigkeit einer Leistungsgesellschaft.
Doch es gibt einen Haken. Denn es gibt noch eine
andere Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit des Sozialstaats. Sie geht von der gleichen Würde aller Menschen aus. Gleich, ob sie stark sind oder schwach. Bereits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt
es: „Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist
eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt
den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es
nun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.“ Im Unterschied zur freien Konkurrenz aller
gegen alle sind die Menschenwürde und der Sozialstaat auf ewig im Grundgesetz niedergeschrieben. Sie
markieren die Grenze, die in Deutschland nie wieder
überschritten werden darf. Jedes politische und wirtschaftliche System muss diese Werte achten. Das kann
man begrüßen oder ablehnen, ändern kann man es
nicht. Weder das „Volk“ noch eine Regierung. Auch
der Einzelne kann auf seine Menschenwürde nicht verzichten. Die Würde des Menschen kann auch durch die
Nichterbringung staatlicher Leistungen verletzt werden. Wenn die Menschenwürde des Besitzenden und
des Besitzlosen gleich wiegen, kommt es nicht darauf
an, ob dem einen sein Brot genommen oder dem anderen keines gegeben wird. In beiden Fällen hungert ein
Mensch. Der Philosoph Ernst Bloch hat vom „aufrechten Gang“ gesprochen. Aufrecht gehen kann der
Mensch nur, wenn er sowohl von Entrechtung und
Bevormundung als auch von Not und Elend frei ist.
Unser Grundgesetz nennt es die Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und
zu schützen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 in
Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz evident unzureichend sind. Danach
offenbart „ein erheblicher Abstand von einem Drittel
zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch … ein Defizit in der Sicherung der
menschenwürdigen Existenz“. Entsprechendes muss
auch für die Sanktionen bei Hartz IV gelten. Für die
Höhe der staatlichen Leistung muss der Bedarf eines
Menschen entscheidend sein. Ihn auszurechnen und zu
garantieren, ist Sache des Gesetzgebers; ihn zu beschneiden, nicht. Das Existenzminimum muss bei gleichem Bedarf stets gleichermaßen gewährt werden. Der
notwendige Bedarf sinkt nicht dadurch, dass jemand
eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Er sinkt auch
nicht, wenn jemand sich nicht regelkonform verhält.
Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zu
relativieren“. Sie ist auch arbeitsmarktpolitisch nicht
zu relativieren. Nicht nur fleißige Arbeitslose, die täglich Bewerbungen schreiben und jede unterbezahlte
Arbeit annehmen, haben das Recht auf eine menschenwürdige Existenz, sondern auch Menschen, die sich
der Zusammenarbeit mit den Behörden entziehen, Personen ohne Aufenthaltstitel oder Strafgefangene.
Ebenso, wie sie beispielsweise ein Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit haben.
Solange eine staatliche Leistung „freiwillig“ erbracht wird, ist das Prinzip des „Förderns und Forderns“ eine Frage der politischen Beliebigkeit. Doch
im Bereich der unantastbaren Menschenwürde hat es
nichts zu suchen; denn dort besteht eine unbedingte
staatliche Leistungspflicht. Das Prinzip der Bundesregierung „Tausche Gehorsam gegen Existenz“ ist
verfassungswidrig. Soziale Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Die Abhängigkeit eines Menschenrechts von Bedingungen bedeutet in
Wirklichkeit seine Einschränkung. Menschenrechte
stehen jedoch nicht im Ermessen einer Regierung oder
eines Sachbearbeiters im Jobcenter.
Ein Sanktionsmoratorium, wie hier von der Linken
gefordert, ist eine Minimalforderung. Die §§ 31 ff.
SGB II gehören abgeschafft. Doch die Mehrheit im
Bundestag befürwortet weiterhin den Verfassungsbruch. Wieder einmal wird es das Bundesverfassungsgericht sein, das irgendwann einschreitet. Bis dahin
werden weiter Sanktionen verhängt, die Menschen in
noch mehr Not und Armut stürzen. Bis dahin wird die
Menschenwürde tagtäglich verletzt.
Wir könnten dem Einhalt gebieten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13130 an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann
verfahren wir so.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Dr. Konstantin von Notz, Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
1. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
über ein Einreise-/Ausreisesystem ({0})
zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten
von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ({1})
2. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
über ein Registrierprogramm für Reisende({2})
3. zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur
Änderung der Verordnung ({3}) Nr. 562/
2006 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/
Ausreisesystems ({4}) und des Programms
für registrierte Reisende ({5})({6})
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Smart-Borders-Paket ablehnen
- Drucksache 17/13236 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({7})Auswärtiger AusschussAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Der Schutz der Außengrenzen der Europäischen
Union ist eine der wichtigsten politischen, aber auch
faktischen Aufgaben zum Erhalt des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Erst durch ihn wird
ein Wegfall der Binnengrenzen möglich.
Gemäß Art. 77 Abs. 1 AEUV ist durch die Europäische Union eine Politik zu entwickeln, die schrittweise
ein integriertes Grenzschutzsystem an den Grenzen
einführt und die eine Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sicherstellt.
Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß Art. 77 Abs. 2 AEUV Maßnahmen erlassen, die
die gemeinsame Politik in Bezug auf Visa und andere
kurzfristige Aufenthaltstitel und die Kontrollen, denen
Personen beim Überschreiten der Außengrenzen unterzogen werden, betreffen. Auch können Maßnahmen
zur schrittweisen Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems an den Außengrenzen getroffen werden.
Gestützt auf die vorgenannten Rechtsgrundlagen
hat die Europäische Kommission am 28. Februar 2013
unter dem Titel „Smart Borders“ ein ganzes Bündel an
Maßnahmen für den besseren Schutz der Außengrenzen der EU vorgestellt. Die vorgestellten Verordnungsentwürfe sollen den Einsatz von neuen Technologien
an den EU-Außengrenzen befördern und Bürgerinnen
und Bürgern aus Drittländern, die in die EU einreisen
wollen, einen reibungsloseren und rascheren Grenzübertritt ermöglichen. Zugleich soll durch die Einführung der neuen Technologien auch eine Verbesserung
der Sicherheit erreicht werden. Irreguläre Grenzübertritte sollen verhindert und Überschreitungen der zulässigen Aufenthaltsdauer in der EU schneller aufgedeckt werden.
Hierfür gibt es ausweislich der von der EU-Kommission vorgestellten Zahlen auch einen erheblichen
Bedarf. Vorsichtigen Schätzungen zufolge liegt die
Zahl der irregulären Zuwanderer in die EU zwischen
1,9 und 3,8 Millionen. Dabei wird davon ausgegangen,
dass die Mehrheit der irregulären Zuwanderer sogenannte Overstayer sind, also Personen, die für einen
Kurzaufenthalt legal - erforderlichenfalls mit einem
gültigen Visum - in die Europäische Union eingereist
sind, dann jedoch nach Ablauf der zulässigen Aufenthaltsdauer nicht wieder ausgereist sind. Die Gesamtzahl der aufgegriffenen irregulären Zuwanderer belief
sich in der EU für das Jahr 2010 auf 505 220 Menschen. Der überwiegende Teil der Overstayer wird somit in den Mitgliedstaaten derzeit nicht aufgegriffen.
Es ist daher zu begrüßen, dass die Europäische
Kommission sich des Themas der illegalen Zuwanderung und der Verbesserungen der Grenzkontrollen annimmt und versucht, angemessene Lösungen zu finden.
Sie folgt damit im Übrigen nicht nur den Zielsetzungen
des Stockholmer Programms, sondern auch dem
ausdrücklichen Wunsch des Europäischen Rates vom
23. und 24. Juni 2011, der sich für „intelligente Grenzen“ in Europa ausgesprochen hatte.
Für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit ihrem eingebrachten Antrag geforderte Blockadehaltung der Bundesregierung gegenüber dem Maßnahmenpaket besteht somit aus meiner Sicht kein
Anlass. Das Gegenteil ist der Fall. Das Thema der illegalen Zuwanderung kann man nicht einfach ignorieren oder bagatellisieren, sondern wir müssen uns auf
europäischer Ebene sowohl Gedanken zu den erforderlichen Rechtsgrundlagen als auch Gedanken zur
technischen Umsetzung für einen besseren Grenzschutz machen.
Mit der Übernahme des „Schengen-Besitzstandes“
in das Gemeinschaftsrecht und dem Erlass mehrerer
gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte im Bereich der
Visapolitik hat der europäische Gesetzgeber von den
ihm zugewiesenen Kompetenzen hierzu bereits umfassend Gebrauch gemacht. Hervorzuheben sind hierbei
Stephan Mayer ({0})
insbesondere das Visainformationssystem und der Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa
für einen kurzfristigen Aufenthalt sowie die im Jahr
2011 verabschiedete Verordnung über einen Visakodex.
Die vorgestellten Verordnungsentwürfe schließen
sich nun unmittelbar an die bisher bereits verabschiedeten Maßnahmen in diesen Bereichen an. Ebenso wie
die bereits existierenden Maßnahmen schlagen auch
sie den Weg hin zu mehr Mobilität und Sicherheit ein.
Ich darf daher für meine Fraktion sagen, dass wir
das vorgelegte Maßnahmenpaket grundsätzlich begrüßen. Allerdings könnte man sich durchaus an der einen
oder anderen Stelle auch weiter reichende Regelungen
vorstellen.
Neben dem von der EU-Kommission vorgesehenen
Einreise-/Ausreisesystem und dem Registrierprogramm für Reisende könnte die vorgestellte Initiative
noch um zwei weitere Komponenten erweitert werden.
Zum einen könnten die Grenzkontrollen insgesamt auf
ein automatisches System umgestellt werden, welches
dann auch nicht nur Drittstaatsangehörige, sondern
auch Unionsbürger erfasst. Zum anderen haben die
Erfahrungen der USA mit dem neuen elektronischen
Reisegenehmigungssystem gezeigt, dass dieses erhebliche Vorteile bei der Sicherheitsüberprüfung einzelner
Personen haben kann. Es wäre somit zu diskutieren, ob
die Einführung eines vergleichbaren Systems auch für
die Europäische Union von Vorteil wäre. Angesichts
des zunehmenden Wegfalls von einzelnen Visabestimmungen könnte es insofern zumindest einen Teilausgleich hierfür bieten.
Unabhängig von einer möglichen Erweiterung der
vorgeschlagenen Komponenten stellen sich aber auch
Fragen zur technischen und datenschutzrechtlichen
Umsetzung der bereits in den Verordnungen angelegten Maßnahmen. Warum sollte das EES nicht bereits
von Beginn an auch auf biometrische Daten zugreifen?
Entsprechende technische Systeme sind bereits entwickelt und beispielsweise bei der Einreise nach Großbritannien im Einsatz. Sicherlich wird es den einen
oder anderen Mitgliedstaat geben, der vor entsprechenden Investitionen derzeit noch zurückschreckt,
aber letztlich werden die sich ständig weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten einen solchen
Schritt sowieso erfordern. Auch Fragen der Zugriffsrechte und des Datenschutzes auf die im Einreise- und
Ausreisesystem gespeicherten Daten sind im parlamentarischen Verfahren noch zu diskutieren.
Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vertretene Auffassung, dass es sich bei der Speicherung
von Daten von Drittstaatsangehörigen um eine anlasslose Speicherung von personenbezogenen Daten
handle, vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen.
Schließlich erfolgt die Überprüfung und Speicherung
der personenbezogenen Daten eben sehr wohl anlassbezogen. Anlass ist die Ein- bzw. Ausreise aus der
Europäischen Union. Auch bisher werden bei Grenzübertritten entsprechende personenbezogene Daten
erhoben und auf ihre Korrektheit hin überprüft.
Darüber hinaus erfolgt die Teilnahme am Registrierprogramm ausdrücklich freiwillig.
Aus datenschutzrechtlicher Sicht wird aber in der
Tat zu prüfen sein, wie sich die geplanten neuen Datenbanken zu bereits existierenden Datenbanken mit personenbezogenen Daten von Ein- und Ausreisenden
verhalten. Mögliche Synergieeffekte sollten gehoben
und Doppelerhebungen und -speicherungen vermieden werden.
Beim geplanten Registrierprogramm für Reisende
stellen sich aber auch einige technische Fragen, die es
noch im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zu
klären gilt. Insbesondere der Mehrwert der Ausgabe
eines Tokens sollte aus meiner Sicht noch einmal hinterfragt werden. Zur Verifizierung der Identität der registrierten Reisenden könnte auch ausschließlich auf
einen vorhandenen E-Pass zurückgegriffen werden.
Dies hätte zudem den Vorteil, dass eine zentrale Speicherung von biometrischen Merkmalen entfallen
könnte. Ein sicherlich aus datenschutzrechtlicher Sicht
wünschenswertes Szenario.
Generell gilt für die Umsetzung des Registrierprogramms für Reisende, dass auf zusätzliche manuelle
Dateneingaben so weit wie möglich verzichtet werden
sollte, um die Grenzkontrollprozesse nicht zu verzögern. Schließlich soll auch nach der Einführung der
neuen Systeme eine schnelle und zuverlässige Ein- und
Ausreise in die Europäische Union möglich sein.
Sie merken, es gibt noch viele offene Fragen und
Themen, die ausführlich diskutiert werden sollten, bevor das Smart-Borders-Paket auch tatsächlich in Kraft
treten kann. Wir stehen somit erst am Anfang des Diskussionsprozesses.
Es ist daher auch nicht verwerflich, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 20. März 2013
darauf hinweist, dass sie noch keine abschließende
Position zu den Vorschlägen der EU-Kommission erarbeitet hat. Im Gegenteil, dies zeugt nur von einer
sehr sorgfältigen Prüfung des vorgeschlagenen Maßnahmenpakets, und dies ist mit Sicherheit im Interesse
aller Beteiligter.
Es gilt somit, in den nächsten Monaten offen und in
konstruktiver Art und Weise über die aufgezeigten Fragen zu diskutieren. Die entsprechende Ratsarbeitsgruppe hat ihre Arbeit Anfang April aufgenommen,
und ich bin zuversichtlich, dass sie zügig arbeiten
wird.
Viele andere Mitgliedstaaten haben sich bereits bei
einem ersten Termin grundsätzlich für eine weitere
Verbesserung der Grenzkontrollen und der eingesetzten Technologien und Systeme ausgesprochen.
Eine schlichte Ablehnung der Vorschläge der EUKommission, so wie von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit ihrem Antrag gewünscht, kommt daher für
uns nicht in Betracht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({1})
Aus populistischen Gründen mag so etwas zwar opportun sein. Einschlägige Webseiten von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die bildlich auf
Grenzbefestigungen eintreten, entsprechen aber mit
Sicherheit nicht verantwortungsvoller europäischer
Innen- und Rechtspolitik und auch nicht einem demokratischen Miteinander.
Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag darf daher aus meiner Sicht keine
Unterstützung in diesem Hohen Hause finden.
Wir beraten einen Antrag unserer Kolleginnen und
Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
der das Thema Smart Borders - intelligente Grenzen zum Inhalt hat. Was kann man sich darunter vorstellen?
Die Europäische Kommission hat Ende Februar
dieses Jahres ein Verordnungspaket vorgelegt, das sowohl eine Verordnung über ein EU-Registrierungsprogramm für Reisende als auch eine Verordnung über ein
Einreise-/Ausreisesystem der EU und eine entsprechende Anpassung des Schengener Grenzkodexes enthält.
Mit dem Registrierungsprogramm für Reisende soll
vorher sicherheitsüberprüften Vielreisenden aus Drittländern die Einreise in die EU durch vereinfachte
Grenzkontrollen erleichtert werden. Dabei werden
an wichtigen Grenzübergängen automatische Grenzkontrollsysteme eingesetzt. Diese ermöglichen eine
schnellere Abfertigung der vorher registrierten Reisenden, insbesondere von Geschäftsreisenden, Studierenden oder Menschen mit Verwandten in der EU.
Mit dem zweiten Verordnungsvorschlag, dem Einreise- und Ausreisesystem, sollen Einreise und Ausreise von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außengrenzen erfasst werden. Zusätzlich dazu soll eine
Datenbank eingerichtet werden, die Zeit und Ort der
Ein- und Ausreise dokumentiert. Dann wird die zulässige Dauer des Kurzaufenthalts automatisch berechnet. Die lokalen Sicherheitsbehörden werden gewarnt,
wenn nach Ablauf der zulässigen Frist noch keine Ausreise erfolgt ist. Das bisherige System mit Stempeln in
Pässen soll damit ersetzt werden. Das System der intelligenten Grenzen soll 2017/2018 in Betrieb gehen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiert in
dem vorliegenden Antrag die Verordnungsvorschläge
und fordert die Bundesregierung auf, sich bei den Verhandlungen dafür einzusetzen, dass alle drei Verordnungen abgelehnt werden.
Grundsätzlich ist ein Entry-Exit-System gerechtfertigt. Die Reisebewegungen in die Europäische Union
werden sich erhöhen; insofern ist es auch nachvollziehbar, dass darauf reagiert wird. Das Einreisesystem
für Vielreisende zu vereinfachen, ist ein begrüßenswerter Vorschlag. Reiseerleichterungen begründen auch
wirtschaftliche Vorteile.
Ich kann die datenschutzrechtlichen Bedenken meiner Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen durchaus nachvollziehen. Ob es tatsächlich so kommt, wie erwartet, werden wir sehen.
Die geplante Speicherung von Fluggastdaten, die in
der Konferenz der Innen- und Justizminister so sehr
begrüßt wurde, ist schließlich gestern im Innenausschuss des Europäischen Parlaments abgelehnt worden. Hier konnte ein Sieg für die Bürgerrechte errungen werden.
Die Datenschutzfragen im vorliegenden Fall sind
im weiteren Verfahren sehr genau zu prüfen. Wenn
Nachbesserungsbedarf besteht, müssen entsprechende
Änderungen erfolgen. Eine starke Demokratie fußt auf
klaren Werten - nicht auf totaler Überwachung.
Das geplante EES soll bei Kurzaufenthalten von
Drittstaatsangehörigen die automatisierte Überwachung der zulässigen Aufenthaltsdauer erleichtern, die
manuelle Stempelung der Reisepässe ersetzen und automatisierte Grenzkontrollverfahren für bestimmte Drittstaatsangehörige ermöglichen, über die Erfassung von
Fingerabdruckdaten bei der Einreise zur Identifizierung von Personen beitragen, die die Voraussetzungen
für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr
erfüllen, und zwar insbesondere dann, wenn die Betroffenen nicht im Besitz ihrer Reisedokumente oder
sonstiger Ausweispapiere sind, sowie die statistische
Analyse der Ein- und Ausreise erleichtern und somit
eine zusätzliche Informationsbasis für die Visumpolitik
schaffen.
Das Registrierungsprogramm, RTP, richtet sich an
Drittstaatsangehörige, die häufig in den SchengenRaum reisen. Diese Vielreisenden sollen die Möglichkeit erhalten, sich nach einer Vorabkontrolle zentral
registrieren zu lassen, um sodann für einen festgelegten Zeitraum von erleichterten Grenzkontrollen - insbesondere auch unter Nutzung zeitsparender automatisierter Grenzkontrollverfahren - an den SchengenAußengrenzen profitieren zu können. Die Teilnahme an
dem Registrierungsprogramm ist freiwillig.
Zu den Folgeänderungen im Schengener Grenzkodex
gehören insbesondere die Aufhebung der Pflicht zur
manuellen Stempelung der Reisepässe sowie die Einführung von Erleichterungen bei der Kontrolle von registrierten Reisenden.
Der Vorschlag der EU-Kommission sieht für dieses
Regelungspaket beim Fonds für die innere Sicherheit
eine Gesamtfinanzausstattung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro vor. Die konkrete Ausgestaltung hinsichtlich des weiteren Umsetzungsbedarfs der drei Verordnungsvorschläge wird daher noch vertieft zu prüfen
sein.
Sämtliche Bewertungen sowie Stellungnahmen stehen im Übrigen unter nationalem Haushaltsvorbehalt.
Perspektivisch sollten sämtliche fachlichen ZugeständZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
nisse Deutschlands stets nur mit der Maßgabe einer
haushaltsneutralen Umsetzung auf nationaler Ebene
in Aussicht gestellt werden.
Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundestagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischer
Daten im Pass, im Personalausweis und an anderen
Stellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sich
um sehr sensible Daten. Deshalb nehmen wir die Kritik des Datenschutzbeauftragten ernst. Die FDP setzt
sich dafür ein, dass mit Daten sorgfältig verfahren
wird und sie nur zu unumgänglichen Zwecken oder
wünschenswerten Erleichterungen für die Betroffenen
genutzt werden.
Das neue System soll den Reiseverkehr beschleunigen. Dieses Ziel unterstützen wir. So haben wir in
der schwarz-gelben Koalition die Visa-Warndatei auch
insbesondere unter diesem Aspekt geschaffen. Wir
möchten auch, dass überprüft wird, ob die Visa-Warndatei dieses Versprechen hält.
Ob aber die Verordnungsvorschläge überhaupt zur
Beschleunigung geeignet sein können, muss noch bewiesen werden. Gleichzeitig muss man fragen, wie das
Verhältnis der Verordnungsvorschläge zu nationalen
Regelungen ist. Datenschutz bedeutet auch, dass
Mehrfachspeicherungen vermieden werden müssen.
Die Überlegung, auch feststellen zu wollen, wann
jemand ausreist, möchte ich nicht gleich von der Hand
weisen: Wir wissen, dass es Leute gibt, die mit einem
Visum in den Schengen-Raum kommen, aber nie wieder ausreisen oder verspätet ausreisen. Es ist nachvollziehbar, dass die Nationalstaaten auch im Schengen-Raum darüber Bescheid wissen sollten. Ob die
Vorschläge der Kommission dabei helfen können, muss
geprüft werden. Aber natürlich muss vermieden werden, dass jeder, der nach Europa kommt, unter den
Verdacht gestellt wird, diesen Umstand auszunutzen,
um einfach hierzubleiben. Europa muss sich weltoffen
zeigen. Abschottung hilft nicht weiter.
Die EU-Kommission hat in diesem Jahr ihr sogenanntes Smart Border Package vorgelegt, mit dem die
Rechtsgrundlage für zwei neue Datenerfassungssysteme an den EU-Außengrenzen geschaffen werden soll.
Sie folgt mit diesen Vorschlägen dem Konzept der „intelligenten Grenzen“. Doch dieser Begriff ist nichts als
eine Beschönigung. Es geht um die totale Erfassung
aller Daten von Reisenden in die EU, den Zugang von
Strafverfolgungsbehörden auf diese Daten und nicht
zuletzt um 1,1 Milliarden Euro, die auf diesem Wege in
die Taschen der Konzerne strömen. Es sind die gleichen Konzerne, die die EU-Staaten auch mit allen
möglichen anderen Technologien zur Grenzüberwachung beliefern: Die großen Rüstungskonzerne EADS,
BAE, Thaies, IAI verdienen sowohl an der Hochrüstung der Grenzuberwachung mit Hubschraubern,
Schiffen und Drohnen als auch an der automatisierten
Ein-und Ausreisekontrolle.
Diesen beiden Vorschlägen ging im letzten Jahr der
Vorschlag für ein EU-System zur Erfassung von Flugpassagierdaten von Reisenden in die EU voraus, das
EU-PNR. Die Europäische Union nähert sich damit
der schlechten Utopie einer totalen Überwachung von
Drittstaatsangehörigen in der EU. Die beiden aktuellen Vorschläge setzen die Erfassung biometrischer Daten der Reisenden voraus. Im Entry Exit System EES
sollen nach dem Vorschlag der EU-Kommission zunächst nur die Daten aus dem Reisepass, die biometrischen Daten erst nach einer Übergangsphase von drei
Jahren erfasst werden. Dann müssen alle Reisenden
beim Grenzübertritt ihre Fingerabdrücke hinterlassen,
um bei der Ausreise ihre Identität bestätigen zu können. Daneben schlägt die Kommission vor, nach einer
Evaluation nach zwei Jahren zu prüfen, ob auch Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf diese Daten erhalten
sollen.
Die Bundesregierung im Verein mit einer Reihe anderer EU-Staaten drängt bei den Verhandlungen im
EU-Rat darauf, die Fingerabdruckdaten sofort zu erfassen und den Strafverfolgungsbehörden den Zugriff
zu geben. Neben dem Visa-Informationssystem und
dem Fingerabdrucksystem für Asylsuchende EuroDAC
wäre das EES das dritte Datensystem, mit dem auf
EU-Ebene massenhaft biometrische Daten von Drittstaatsangehörigen gesammelt und den Behörden zugänglich gemacht werden sollen. Auch wenn es aus der
Kommission und aus dem Europaparlament Widerstand gegen diese Pläne gibt: Wo Daten in solcher
Menge vorhanden sind, wachsen die Begehrlichkeiten
der Sicherheitsbehörden. Nach den bisherigen Erfahrungen ist nicht zu erwarten, dass Kommission und
Parlament diesem Druck standhalten werden.
Die EU-Kommission will sich ihren Traum von der
elektronischen Grenzüberwachung einiges kosten lassen. 1,1 Milliarden Euro sind für den Aufbau beider
Datengroßsysteme veranschlagt. Nach den Erfahrungen mit dem Schengener Informationssystem und dem
Visa-Informationssystem dürfte es auch noch einiges
mehr werden. Darin noch gar nicht enthalten sind die
Kosten der Mitgliedstaaten, die nahezu jeden Grenzübergang mit der entsprechenden Technologie ausstatten müssen, das alles, um ein paar Menschen zu
schnappen, die die Gültigkeitsdauer ihres Visums überziehen. Das ist vollkommen unverhältnismäßig. Die
Linke lehnt diese Pläne deshalb ab und wird den Antrag der Grünen-Fraktion unterstützen.
Die Europäische Kommission hat am 28. Februar
2013 das „Smart-Borders-Paket“ vorgelegt. Es enthält drei Verordnungsvorschläge: einen Vorschlag für
eine Verordnung über ein Einreise-/Ausreisesystem,
EES, zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von
Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern; einen Vorschlag
für eine Verordnung über ein Registrierprogramm für
Reisende, RTP, sowie einen Vorschlag zur Anpassung
des Schengener Grenzkodex an EES und RTP. Die VorZu Protokoll gegebene Reden
schläge wurden als Paket vorgelegt, weil ein funktionierendes EES Voraussetzung für die geplante vollautomatische Kontrolle registrierter Reisender im
Rahmen des RTP ist.
Mit dem EES sollen die Ein- und Ausreisebewegungen von Personen an den Außengrenzen des SchengenRaums aufgezeichnet und die biometrischen Identitätskontrollen auf alle Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger
ausgeweitet werden - auch auf diejenigen, die derzeit
kein Visum für die Einreise in die EU benötigen -.
Dazu soll eine zentralisierte europäische Datenbank
aufgebaut werden, in der neben anderen personenbezogenen Daten zehn Fingerabdrücke gespeichert werden. Die Datenbank soll so eingerichtet werden, dass
später der Zugriff der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden darauf möglich ist. Damit würde das zur Einreise- und Migrationskontrolle eingerichtete EES in
eine Datenbank zur allgemeinen Verbrechensbekämpfung umfunktioniert. Drei Jahre nach dem Start des
Einreise-/Ausreisesystems soll überprüft werden, ob
der Zugriff durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden tatsächlich erlaubt werden soll. Auch die Verlängerung der Speicherfristen zu Strafverfolgungszwecken ist bereits im Gespräch sowie der Zugriff von
Drittstaaten auf die Daten. Mit dem RTP sollen Vielreisende nach vorheriger Durchleuchtung ihrer finanziellen Situation, Familienverhältnisse und anderer
Daten die Möglichkeit erhalten, als „unbedenklich“
eingestuft zu werden und durch automatische Grenzkontrollen einzureisen.
In seinem Nachbericht zum Rat der Justiz- und Innenminister der EU am 7./8. März 2013 berichtet das
Bundesministerium des Innern, Bundesinnenminister
Friedrich habe die Vorlage des Smart-Borders-Pakets
begrüßt und angeregt, biometrische Daten von Anfang
an zu nutzen. Begründet wurde diese Haltung mit der
Notwendigkeit der Modernisierung der Außengrenzverwaltung und der wachsenden Bedrohung durch Terrorismus und organisierte Kriminalität. Am 20. März
beantwortete das Bundesministerium des Innern meine
Frage nach der Vereinbarkeit des Smart-BordersPakets mit dem Grundgesetz und den EU-Grundrechten nicht inhaltlich. Man prüfe die Legislativvorschläge noch und wolle dem Ergebnis dieser Prüfung
nicht vorgreifen. Ein derart widersprüchliches Verhalten wird der Verpflichtung der Bundesregierung nicht
gerecht, auf EU-Ebene verfassungskonforme Verhandlungspositionen zu beziehen. Zudem zeugt die Beantwortung der Frage abermals davon, dass die Bundesregierung das verfassungsrechtlich garantierte
Auskunftsrecht der Abgeordneten nicht respektiert.
Die Umsetzung der Vorschläge des Smart-BordersPakets würde extrem hohe Kosten verursachen. Die
Europäische Kommission rechnet bis 2020 mit 1,3 Milliarden Euro Kosten für das Smart-Borders-Paket.
Ursprünglich geplant war, einen Großteil davon 1,1 Milliarden Euro - aus dem Fonds für innere Sicherheit zu finanzieren. Mittlerweile geht die Kommission jedoch von einer drastischen Kürzung dieses
Fonds um rund 800 Millionen Euro aus. Deshalb ist
damit zu rechnen, dass die Mitgliedstaaten einen erheblichen Teil der Kosten selbst aufbringen müssen.
Zugleich sind Nutzen und Funktionsfähigkeit von
EES und RTP äußerst zweifelhaft. Es wurde versäumt,
die unüberwindlichen Schwierigkeiten der USA bei der
Einführung vergleichbarer Systeme in die Überlegungen mit einzubeziehen - US VISIT, das immer noch
nicht in der Lage ist, automatische biometrische Ausreisekontrollen durchzuführen.
Schließlich widersprechen die vorgelegten Legislativvorschläge deutschen und europäischen Grundrechten. Die anlasslose Speicherung personenbezogener
Daten sämtlicher Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger
stellt einen schweren Eingriff in deren Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i. V. m.
Art. 1 Abs. 1 GG, bzw. das EU-Datenschutzgrundrecht,
Art. 8 EU-Grundrechtecharta, dar. Die Speicherung
hat zudem diskriminierenden Charakter, da sie einem
Generalverdacht gegen Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger gleichkommt und damit deren Persönlichkeitsrechte aufweicht. Die Vorabüberprüfung Vielreisender
im Rahmen des RTP kommt einer freiwilligen Rasterfahndung gleich, die anschließend vorgesehene Speicherung von vier Fingerabdrücken in einem Zentralregister stellt ebenfalls einen schweren Eingriff in
Grundrechte dar. Diese Grundrechtseingriffe sind
nicht zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die EU mit
dem Visa-Informationssystem VIS, Eurodac und dem
Schengener Informationssystem II ohnehin bereits
über eine Reihe zentraler Informationssysteme verfügt,
in denen biometrische Daten gespeichert werden und
auf die Sicherheitsbehörden Zugriff haben. Geplant ist
überdies die Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdaten. Die Erforderlichkeit einer zusätzlichen Zentraldatei ist unbegründet, schafft zusätzliche Gefahren für
den Datenschutz und missachtet die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts, das vor jeder neuen anlasslosen Datenspeicherung die Aufstellung einer
Überwachungsgesamtrechnung fordert, um verbotene
Rundüberwachung zu verhindern.
Wir fordern die Bundesregierung auf, folgende Belange bei ihren Verhandlungen durchzusetzen:
Erstens. Die Errichtung eines Elektronischen Einreise-/Ausreisesystems wird abgelehnt.
Zweitens. Die Errichtung eines Registrierprogramms für Reisende wird abgelehnt.
Drittens. Die Anpassung des Schengener Grenzkodex an EES und RTP wird abgelehnt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13236 an die vorgesehenen Ausschüsse
vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann verfahren wir so.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rita
Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi
Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Chancen der Nanotechnologien nutzen und
Risiken für Verbraucher reduzieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nanotechnologie - Chancen nutzen und
Risiken minimieren
- Drucksachen 17/8158, 17/9569, 17/13217 Berichterstattung:Abgeordnete Florian HahnRené RöspelDr. Martin Neumann ({1})Dr. Petra SitteKrista Sager
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Die Titel der hier vorliegenden Anträge ließen eigentlich auf eine vielversprechende und interessante
Debatte hoffen. Die Nanotechnologie bietet als eine
Schlüsseltechnologie viele neue Chancen in den Bereichen Klima, Energie, Gesundheit, Ernährung, Mobilität, Sicherheit und Kommunikation für unser Land. Es
ist ein schnell wachsender Markt, auf dem sich
Deutschland durch seine herausragende Innovationskraft einen Namen gemacht hat. Schon heute hängen
mehr als 63 000 Arbeitsplätze von der Nanotechnologie ab. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir diesen
Prozess effektiv begleiten können, um uns auch zukünftig auf diesem Markt gut zu platzieren, statt Gefahren
zu suchen, die es nicht gibt.
Doch leider kann die Opposition nicht anders, als
eben diese Gefahren und Risiken dort zu suchen, wo es
sie nicht gibt. Ihre Anträge lassen das Thema „Chancen der Nanotechnologie nutzen“ links liegen und konzentrieren sich lieber auf sinnlose Forderungen.
Für die christlich-liberale Koalition hat die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger höchste Priorität.
Wir wollen keine Produkte in Deutschland, die eine
Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung darstellen.
Deshalb gibt es bereits für Chemikalien, Lebensmittel,
Lebensmittelkontaktmaterialien und kosmetische Mittel Regelungen auf EU-Ebene. Ein von den Grünen gefordertes Moratorium ist sinnlos. Alle verwendeten
Materialien müssen bereits jetzt den erforderlichen
Prüfungen unterzogen werden.
Da wir uns nun dank dieser Anträge mit den Risiken
der Nanotechnologie beschäftigten, werde ich Ihnen
gerne Auskunft zu dem bisher Erreichten und den kommenden Mechanismen zum Schutz und zur Aufklärung
der Bevölkerung geben.
Die Opposition verlangt die Einführung eines nationalen Produktregisters. Dazu kann ich Ihnen Folgendes sagen: Wir haben einen europäischen Binnenmarkt. Ein EU-weiter Ansatz ist jedem nationalen
Klein-Klein vorzuziehen. Auf EU-Ebene ist zu diesem
Thema bereits eine informelle Expertengruppe aus
mandatierten EU-Mitgliedstaaten zusammengekommen, die derzeit die Grundlagen für eine europäische
Datenbank diskutiert.
Zu den geforderten Kennzeichnungen ist Folgendes
zu sagen: Für Kosmetika, Lebensmittel und Biozide
gibt es bereits Kennzeichnungspflichten. Für Kosmetika tritt diese ab dem 11. Juli 2013, für Lebensmittel
ab dem 31. Dezember 2014 und für Biozide ab dem
1. September 2013 in Kraft. Die Regelungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Nanomaterialien auf
europäischer Ebene, die mit der GHS/CLP-Verordnung eingeführt wurden, greifen schon jetzt - auch
ohne eine Mengenschwelle. Für alle Stoffe besteht somit die Pflicht, die Gefährlichkeit einzuschätzen.
Auch tun sich durch die vermehrte Forschung und
Anwendung der Nanotechnologie neue Felder auf, die
nun abgedeckt werden müssen. Die Detektion von
Nanomaterialien, die Entsorgung und die Risikoforschung sind Bereiche, denen man sich nun verstärkt
zuwenden muss. Dies haben wir erkannt und fördern
die notwendigen Projekte im Rahmen der HightechStrategie und des Aktionsplans für Nanotechnologie.
Neben der reinen Kennzeichnung bedarf es aber
auch der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger.
Diese müssen verstehen, dass Produkte, die als nanohaltige Produkte deklariert wurden, nicht gefährlich
sind. Dazu möchte ich eine wissenschaftlich fundierte
Feststellung hier noch einmal aussprechen: „Nano“
per se ist kein Hinweis auf eine besondere Gefährdung.
Damit die Akzeptanz und Aufklärung innerhalb der
Bevölkerung gesteigert werden kann, wurden die Mittel für Aufklärung unter der CDU/CSU um 140 Prozent auf 14 Millionen Euro erhöht. Anstatt hier und
heute die Angst vor der Nanotechnologie zu schüren,
lade ich Sie ein, gemeinsam mit der christlich-liberalen Koalition die Zukunft dieser Technologie zu gestalten.
Die Nanotechnologie bietet eine Menge Potenzial.
Wir können hier auf eine Technologie zugreifen, die
neue Chancen und Möglichkeiten eröffnet, von denen
wir heute nur träumen können. Sie kann in allen möglichen Bereichen einen Mehrwert für Innovationskraft,
Produktivität, Gesundheit und eine bessere Umwelt
schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam die Chancen und
das Potenzial nutzen.
Nanomaterial ist deshalb so interessant, weil die
Partikel so klein sind und deshalb das Material veränderte, optimierte Eigenschaften hat. Mit Nanotechnologie kann man selbstreinigende Kleidung herstellen
oder intelligente Verpackungen, die sich verfärben,
wenn die Lebensmittel ablaufen. Aber man kann auch
Nanomaterialien in der Krebstherapie einsetzen, in
der Landwirtschaft, bei Energie- und Rohstoffeffizienz,
bei Umwelt- und Klimaschutz. Gerade hier kann die
Nanotechnologie wichtige Lösungsbeiträge leisten.
Wir sind uns alle einig, dass die Nanotechnologie
eine der wichtigsten Zukunftstechnologien ist. Die
Forschung in Deutschland ist fortschrittlich. Im internationalen Wettbewerb stehen wir mit unserer Nanoforschung an der Weltspitze. Deshalb habe ich auch
schon in meiner letzten Rede betont: Die Nanotechnologie ist wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für den Wohlstand unseres Landes und auch für
das Wohlergehen der Menschen.
Die christlich-liberale Koalition setzt sich dabei
stets für einen nachhaltigen und verantwortungsbewussten Verbraucherschutz ein. Die Gesundheit und
Sicherheit der Menschen steht dabei für uns an erster
Stelle. Wir wägen Chancen und Risiken von neuen
Technologien sorgfältig ab; denn wir wissen, dass ein
übereilter Einsatz von neuen Technologien mit Risiken
für die Menschen und die Umwelt verbunden sein
kann.
Die Bundesregierung hat einen Aktionsplan Nanotechnologie 2015 vorgelegt, in dem alle Aspekte bedacht sind: die Sicherheit, die Forschungsförderung,
die Unterstützung der kleinen und mittelständischen
Unternehmen und auch der Dialog mit der Öffentlichkeit und die Kooperation mit internationalen Partnern; denn etwa 90 Prozent des Wissens über die
Nanotechnologie wird außerhalb von Deutschland erarbeitet.
Vielleicht sollten Sie sich diesen Aktionsplan erst
einmal anschauen, bevor Sie mit derartigen Anträgen
die Menschen verunsichern. Wir wollen keine Ängste
schüren. Niemand hat etwas davon, wenn wir ständig
den „Anlass zur Besorgnis“ vor uns hertreiben. Stattdessen wollen wir die Forschung stärken - die christlich-liberale Regierung hat die Mittel für den Bereich
der Risiko- und Begleitforschung übrigens in den letzten Jahren massiv erhöht -; wir müssen den Dialog
fördern und für Transparenz sorgen. Denn der Verbraucher verlangt zu Recht einen Hinweis auf der Lebensmittel- oder Kosmetikverpackung, ob das Produkt
nanoskalige Bestandteile enthält.
Für Kosmetika in der Europäischen Union gilt deshalb auch seit diesem Jahr eine Kennzeichnungspflicht; für Lebensmittel gilt sie ab 2014. Dann müssen
nanoskalige Bestandteile und Inhaltsstoffe auf dem
Etikett mit „Nano“ gekennzeichnet sein.
Zu der Forderung nach einem Nanoproduktregister
lässt sich sagen, dass es bereits viele Melde-, Registrierungs- und Zulassungspflichten gibt. Die Kommission plant die Umsetzung einer Internetplattform, auf
der sämtliche relevanten Registrierungen von Nanomaterialien zusammengeführt werden.
Es ist besonders wichtig, dass die Nanotechnologie
von der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür benötigt
sie sachgerechte Informationen, wie dies zum Beispiel
der Nanodialog oder die Internetseite www.nanopar
tikel.info, die vom Bundesforschungsministerium gefördert wird, gewährleisten.
Durch gute und sachliche Informationen können Vorurteile abgebaut werden. Ein hervorragendes Beispiel
für eine Kommunikationsoffensive ist der nanoTruck.
Der nanoTruck ist ein rollendes Ausstellungs- und
Kommunikationszentrum des Bundesforschungsministeriums, der deutschlandweit unterwegs und einsetzbar
ist - eine tolle Möglichkeit, an die Leute heranzukommen, den Bürgerinnen und Bürgern die Technologie zu
erklären und über die Chancen und auch mögliche Risiken aufzuklären. Nanotechnologie ist dann nicht
mehr die unbekannte Technologie, die vielleicht Heil,
vielleicht Unheil bringt.
Auf meine Anfrage hat der nanoTruck dann auch in
meinem Wahlkreis bei einer Schule haltgemacht. Die
Schülerinnen und Schüler waren begeistert, und auch
andere Interessierte konnten sich über diese neue
Technologie informieren lassen, und zwar ganz praktisch und hautnah.
So kann man mit neuen Technologien umgehen: indem wir die Forschung fördern, Chancen und Risiken
abwägen und immer den Dialog mit der Öffentlichkeit
suchen, ohne Ängste zu schüren.
Wir wissen, dass die Nanotechnologie ein großes
Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt, Gesundheit und Wohlstand bietet. Wir sorgen aber auch dafür,
dass der Schutz von Mensch und Umwelt im Bereich
der Nanotechnologie an erster Stelle steht.
Die Europäische Kommission schätzt in einer ihrer
jüngsten Stellungnahmen, dass das Marktvolumen von
Produkten, in denen Nanomaterialien eingearbeitet
sind, im Jahre 2015 auf 2 Billionen Euro steigen wird.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
hat für das Jahr 2013 um die 70 Millionen Euro für
Projektmittel im Bereich „Neue Materialien - Nanotechnologien“ bereitgestellt. Das ist im Vergleich zum
Vorjahr eine Kürzung von 10 Millionen Euro. Das verwundert, wenn man den Sätzen Glauben schenkt, dass
der Bundesregierung diese Technologie sehr am Herzen liegt. Wir, die Oppositionsfraktionen der Grünen
und SPD, haben deshalb grundsätzlich Zweifel, ob die
aktuelle Strategie der Bundesregierung in die richtige
Richtung zeigt. Aus diesem Grund haben Grüne und
SPD jeweils eigene Forderungen aufgestellt. Diese
diskutieren wir heute.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
und die Kolleginnen und Kollegen der Grünen sind
Zu Protokoll gegebene Reden
beim Thema Forschungspolitik sehr oft einer oder
ähnlicher Meinung. Aus diesem Grund wünschen wir
uns eine gemeinsame Regierung für die nächste Legislaturperiode. Aber bei manchen Themen sind wir eben
auch unterschiedlicher Meinung. Im Antrag der Grünen finden sich viele grundsätzliche inhaltliche Überschneidungen zu unserem Antrag. Zu nennen sei zum
Beispiel die Erhöhung der Sicherheitsforschung auf
10 Prozent. Diese alte Forderung der SPD, die der
Bundestag in Zeiten der Großen Koalition auf unsere
Initiative hin beschlossen hat, ist bis heute nicht umgesetzt worden. Selbst die Ressortforschungseinrichtungen der Bundesregierung legen in ihrer gerade veröffentlichten ersten Bilanz „Nanotechnologie Gesundheits- und Umweltrisiken von Nanomaterialien“ dar, dass die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich zu intensivieren sei. Warum die schwarzgelbe Bundesregierung dann trotzdem die Projektförderung für Nanomaterialien senkt, ist für mich deshalb
noch weniger nachvollziehbar.
Weitere inhaltliche Überschneidungen mit dem Antrag der Grünen betreffen die Forderung nach der Umsetzung des Vorsorgeprinzips bei Nanomaterialien, die
Einführung eines Nanoregisters und die Kennzeichnung von Produkten mit Nanomaterialien. Auch wenn
es bei diesen Themen zwischen SPD und Grünen im
Detail durchaus Unterschiede gibt, so stimmen wir in
diesen großen Linien doch überein.
An einem entscheidenden Punkt können wir den
Grünen aber nicht zustimmen. Denn leider hat man
nach dem Lesen des Antragstextes das Gefühl, dass jeder Nanopartikel erst einmal gefährlich sei. Das
stimmt aber nun einmal nicht. Ganz im Gegenteil.
„Nano“ bedeutet erst einmal nur, dass in dieser Größe
das Material andere Eigenschaften besitzt als in anderen Größenordnungen. Diese können durchaus gefährlich, zum Beispiel toxisch, sein, müssen es aber auch
nicht. Sie können auch harmlos sein, aber eben doch
neue positive Eigenschaften enthalten, zum Beispiel
die Fähigkeit, elektrische Energie besser zu leiten.
Wenn man wie die Grünen von der generellen Annahme ausgeht, dass alle Nanomaterialien schädlich
sind, dann macht ein Moratorium, wie sie es in ihrem
Antrag fordern, für Nanoprodukte natürlich Sinn.
Wenn man aber hingegen von der Realität ausgeht,
nämlich dass sich Nanomaterialien ähnlich wie andere
Chemikalien oder Stoffe verhalten, dann ist ein solches
Moratorium nicht der richtige Weg. Hier ist vielmehr
eine aufwendige Einzelprüfung notwendig.
Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind der Meinung, dass gewisse verbrauchernahe
Produkte bzw. bestimmte Nanomaterialien einer besonderen Kontrolle unterliegen müssen. Aber das ist in
der EU Standard. Die Europäische Kommission prüft
außerdem bereits - übrigens im Auftrag des Europäischen Parlaments, welches beim Thema Nano sehr aktiv ist - an welchen Stellen die Kontrollen verbessert
und Regelungen angepasst werden müssen. Aktuell ist
die Kommission zum Beispiel zu dem Schluss gekommen, dass REACH, die Europäische Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und
Beschränkung chemischer Stoffe, für Nanoprodukte
angepasst werden sollte. Auf dem Gebiet passiert also
bereits einiges.
Ein Grund für übertriebene Angst vor allen Nanomaterialien ist vielleicht die aktuelle EU-Definition für
Nanomaterialien. Nach dieser fallen nämlich alle Nanopartikel, ob nun natürlich vorkommend, bei Prozessen anfallend oder bewusst hergestellt, unter diese Kategorie. Das bedeutet, dass natürlich vorkommende
Nanopartikel in der Milch, bei Verbrennungen entstehende Rußpartikel und extra hergestellte nanogroße
Partikel in Computerchips oder Verpackungsmaterial
gleich behandelt werden. Die Gefahr für Mensch und
Umwelt ist aber bei jedem dieser Materialien absolut
unterschiedlich. Eine Kategorie, die alles erfasst, sagt
am Ende hingegen gar nichts aus. Aus diesem Grund
gehört die EU-Definition zügig überarbeitet. Vielleicht
konzentriert sich die Diskussion dann auch wieder auf
die realen Risiken bei der Nanotechnologie.
Die sehen wir, wie auch verschiedene andere Institutionen, insbesondere in den freien Partikeln. Hier ist
bei einigen immer noch unklar, wie der menschliche
Organismus und die Umwelt darauf reagieren. Auch
sind das Auffinden und die Reaktion hergestellter Nanopartikel in der Natur immer noch problematisch
bzw. unklar. Forschungsbedarf ist also noch genug
vorhanden.
Um die großen Chancen der Nanotechnologie auch
weiterhin nutzen zu können, müssen mögliche Risiken
ausgeräumt werden. Dafür benötigen wir neben den finanziellen Mitteln aber auch gut ausgebildete Fachkräfte. Und wie wir aus unserer Kleinen Anfrage zum
Thema Stand der Toxikologie in Deutschland erfahren
mussten, sieht der Zustand dieses auch für die Nanotechnologie so wichtigen Wissenschaftszweiges ziemlich schlecht aus. Diese Bundesregierung hat über deren Zustand nur veraltete Zahlen und fördert den
Bereich nur rudimentär. Das ist eine Katastrophe!
Denn die Toxikologinnen und Toxikologen sollen doch,
unter anderem im Auftrag der Bundesregierung,
schauen, ob das eine oder andere Material für Mensch
oder Umwelt gefährlich sein könnte. Diese Bundesregierung streicht also nicht nur Forschungsgeld. Sie gefährdet auch die Strukturen, welche eine unabhängige
Untersuchung von Nanomaterialien gewährleistet. Es
wird Zeit, dass sich auch in diesem Forschungsbereich
ab Herbst etwas ändert; denn Schwarz-Gelb bekommt
es einfach nicht hin!
Zum wiederholten Mal debattieren wir in dieser
Legislaturperiode zum Thema Nanotechnologie. Wir
haben nicht nur in einigen Ausschusssitzungen zu Anträgen und Förderprogrammen politische Positionen
ausgetauscht, sondern auch im Rahmen der Technikfolgenabschätzung mit Experten aus Wissenschaft und
Vertretern europäischer Institutionen diskutiert. Ich
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
behaupte deshalb, dass wir das Thema hinlänglich behandelt haben, um mit klarer fachlicher Haltung und
mit Recht die Anträge der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Der Antrag der Fraktion der SPD „Chancen der
Nanotechnologie nutzen und Risiken für Verbraucher
reduzieren“ und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen „Nanotechnologie - Chancen nutzen und
Risiken minimieren“ haben allenfalls in einem Punkt
Recht. Die Nanotechnologien werden sich noch lange
in einem Spannungsverhältnis zwischen Chancen und
Nutzen auf der einen Seite und Risiken und Gefahrenpotenzial auf der anderen befinden. Jedoch geht die
FDP nicht mit den Schlussfolgerungen konform, die
ein überspitztes Handeln der Politik einfordern, um
sich aus diesem Spannungsverhältnis zu lösen. Denn
die Nanotechnologie ist ein Schlüssel zum technologischen Fortschritt im 21. Jahrhundert: Sie liegt in der
Schnittmenge verschiedener Disziplinen, angefangen
von der Physik über die Chemie und Biologie bis hin
zu den Ingenieurwissenschaften und der Medizin.
In diesem interdisziplinären Feld entsteht ein weitreichendes Anwendungspotenzial zum Nutzen der
Gesellschaft und der deutschen Wirtschaft. Dieses Potenzial dürfen wir aber nicht durch überschnelles Handeln und unbegründete Verdachtsmomente zunichtemachen.
Die Anträge werden abgelehnt, weil Sie den in
Deutschland vorhandenen forschungs- und innovationsfreundlichen Rahmen durch Ihre Forderungen einschränken wollen. Forderungen nach einem nanospezifischen Produktregister, der Kennzeichnungspflicht,
der Meldepflicht, einer Ermächtigungsverpflichtung
für Behörden, Produkte im Besorgnisfall vom Markt zu
nehmen, einer Überarbeitung von gesetzlichen Regelungen im Produkt-, Stoff- und Umweltrecht, einem
Haftungsregime für Nanoprodukte etc. lehnen wir ab.
Denn derartige Forderungen sind überzogen und unbegründet, wenn man wie die Antragsteller diese vom
unzureichenden Wissensstand über Risiken und Gefahrenpotenzial von Nanoprodukten bzw. Nanotechnologie ableitet. Die Wissenschaft liefert keine Belege für
eine spezifische Nanotoxizität. Auch über das Gefahrenpotenzial lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht
keine stichhaltigen Belege finden. Das stellen die Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sogar
selbst fest. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, SRU, der 2011 die Stellungnahme „Vorsorgestrategien für Nanomaterialien“ veröffentlichte, woraus
SPD und Grüne ihre Forderungen ableiten, sagt:
„Pauschale Urteile über die Risiken von Nanomaterialien sind nicht möglich … Bisher gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dahin gehend, dass Nanomaterialien - wie sie heute hergestellt und verwendet werden zu Schädigungen von Umwelt und Gesundheit führen.“
Als FDP sehen wir bei unbegründeten Verdachtsmomenten keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Gleichwohl setzen wir uns für eine Sicherheitsforschung ein, die Wissenslücken über Nanotechnologien
schließt und einheitliche Mess- und Prüfmethodiken
entwickelt, um Aussagen über das Gefahrenpotenzial
für Gesundheit und Umwelt treffen zu können. Aus
Sicht der FDP sollte dabei vor allem die bisher ungenügend beantwortete Frage nach dem Lebenszyklus
von Nanopartikeln und danach, was nach dem Lebenszyklus passiert, von der Wissenschaft bearbeitet werden.
Auch setzen wir Liberalen uns anders als die
Antragsteller für eine über Europa hinausragende international harmonisierte Definition von Nanomaterialien ein. Der Vorschlag einer Definition von Nanomaterialien und -technologie, den die EU-Kommission
erarbeitet hat und der bis Dezember 2014 auf seine
Tauglichkeit hin überprüft werden soll, ist meiner Auffassung nach etwas zu kurz gegriffen. Als FDP plädieren wir dafür, die regulatorische Definition von Nanomaterialien an bestehende wissenschaftsbasierte
Definitionen zu knüpfen, die im Rahmen der International Organization for Standardization, ISO, entwickelt worden sind, und so den Weg einer weltweit harmonisierten Definition zu gehen.
Weiterhin sieht die FDP, wie auch die Koalition insgesamt, den nationalen Rechtsrahmen ebenso wie die
europäische Chemikalienverordnung, REACH, als
ausreichend an, um einen sicheren Umgang mit Nanomaterialien zu gewährleisten. Nach REACH wird jeder
Stoff, der von einem Unternehmen in einer Menge von
mehr als 1 Tonne pro Jahr hergestellt oder importiert
wird, bei der Europäischen Chemikalienagentur,
ECHA, mit einem technischen Dossier registriert. Auskunft wird über physikalisch-chemische, toxikologische und ökotoxikologische Eigenschaften des Stoffes
gegeben. Auch wenn Stoffe in einer Menge von weniger als 1 Tonne pro Jahr hergestellt werden sollten,
könne man in Bezug auf Nanomaterialien dennoch die
Verordnung durch Interpretation anwenden. Die Industrie hat dabei ihre Verantwortung und muss einer
Mitwirkungspflicht nachkommen. Ich bin mir sicher,
dass die Industrie keinen Interpretationsspielraum in
der REACH-Verordnung ausnutzen würde, allein um
dann folgende gesetzgeberische Maßnahmen zu umgehen.
Würden stattdessen die Forderungen von SPD und
vor allem von Bündnis 90/Die Grünen umgesetzt, beraubt sich Deutschland einer wichtigen Technologie
und eines zukünftig großen Wirtschaftsfaktors. Besonders kritisieren wir aber, dass die Anträge einen Generalverdacht insinuieren, der sich langsam in die Gesellschaft bahnt. Durch die verkettete Argumentation
aus „kann“ und „mögliche Risiken“ wird ein Argwohn
aufgebaut, der sich nicht rechtfertigen lässt, unter einer Überschrift, die die Chancen heben möchte.
Deshalb lehnen wir die Anträge aus guten Gründen
ab und verweisen auf den Aktionsplan Nanotechnologie 2015, den diese christlich-liberale Koalition auf
den Weg gebracht hat und der ein tatsächliches Anliegen formuliert, wie Risiken zu unterbinden und die
Chancen der Nanotechnologien zu fördern sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ohne Frage: Nanotechnologie bietet gute Chancen
für Unternehmen in Deutschland. Für Verbraucherinnen und Verbraucher hingegen ist der Mehrwert begrenzt. Ob Nanozusätze bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen in einem vernünftigen Verhältnis zu
möglichen Risiken und Mehrkosten stehen, ist eher
fraglich.
Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den
öffentlichen Versprechungen vorbei. Vorrangig dient
die Förderung der Industrie zur Verbesserung vorhandener Verfahren für Prozesse und Produkte. Im Vordergrund stehen dabei Kostensenkungspotenziale für die
Unternehmen. Wichtige gesellschaftliche Fragen wie
Energie- und Ressourcenschutz oder Gesundheits- und
Risikoforschung haben daran einen verschwindend
geringen Anteil. Es entsteht der Eindruck, dass solche
Themen nur vorgeschoben werden, um die Förderung
der Industrieforschung mit Geldmitteln in beträchtlicher Höhe zu rechtfertigen.
Die Linke hatte bereits Mitte 2011 mit dem Antrag
„Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen
durchsetzen“ auf die fehlgeleitete Nanoförderung der
Bundesregierung hingewiesen. Die mit jährlich über
400 Millionen Euro ausgestattete Nanoinitiative von
Schwarz-Gelb ist weitgehend auf klientelhafte Subventionspolitik beschränkt:
Die öffentlichen Gelder fließen maßgeblich an klassische Industriebereiche. Die Innovation besteht im
Wesentlichen in den Kostensenkungen für große Unternehmen bei herkömmlichen Anwendungen und Prozessen.
Es findet keine Lenkung der Förderschwerpunkte
hin zu gesellschaftlich wichtigen Themen, wie erneuerbare Energien, Medizin und die Risikoforschung, statt.
Die geförderten Vorhaben werden nicht einmal auf
ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen hin untersucht
oder bewertet.
Mögliche Risiken im Verbraucher-, Arbeits- und
Umweltschutz werden als „Hemmnis bei der Vermarktung nanotechnologischer Produkte“ festgemacht, so
der Nanoreport der Bundesregierung.
In Hinblick auf Umwelt- und Gesundheitsrisiken erweist sich die Nanotechnologieförderung der Bundesregierung als wirkungslos. Die Erforschung und Bewertung von Gesundheits- und Umweltrisiken, die von
Nanostoffen ausgehen können, wird deutlich vernachlässigt. Der Gesetzgeber ist daher kaum in der Lage,
wirksame Maßnahmen zur Gesundheits- und Umweltvorsorge zu treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht.
Ein Grund ist sicherlich, dass die Untersuchung
und Bewertung von Risiken bisher weitgehend den Unternehmen überlassen wird, die die Nanostoffe selbst
entwickeln. Viele Ergebnisse von Untersuchungen, die
mit Fördergeldern der Nanoinitiative des Bundes
finanziert wurden, nutzen die Unternehmen vorrangig
zur Abschätzung ihrer betriebswirtschaftlichen Risiken. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass die
Industrie gerne mögliche Risiken in der öffentlichen
Kommunikation herunterspielt - nach dem Motto: Es
ist ja noch nicht bewiesen, dass es schädlich sein
könnte.
Die Linke sagt: Das ist der falsche Weg. Verbraucherschutz kommt im Bereich der Nanotechnologie
praktisch nicht vor. Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten aber, dass Behörden, Wissenschaft und
Unternehmen die Frage nach den Risiken der Nanotechnologie vollständig beantworten. Der Gesetzgeber
muss deshalb eine Kenntlichmachung aller nanotechnologisch hergestellten oder nanopartikelhaltigen
Produkte sicherstellen. Dabei reicht ein Hinweis auf
der Verpackungsrückseite nicht aus. Die Unbedenklichkeit muss belegt und der Zusatznutzen in verständlicher Weise erläutert sein.
Die Linke fordert von der Bundesregierung, dass sie
eine umfassende Regelung und Kontrolle der Nanotechnologie auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips
umsetzt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen
hat dazu mit seinem Sondergutachten „Vorsorgestrategien für Nanomaterialien“ sehr gute und hilfreiche
Vorschläge gemacht. Dazu gehört ein öffentliches Register aller Nanostoffe ebenso wie eine unabhängige
Risikoforschung. Nur so kann offenkundigen Risiken
gegenüber Mensch und Umwelt angemessen begegnet
und können unberechtigte Ängste abgebaut werden.
Klare gesetzliche Vorgaben mindern darüber hinaus
auch betriebswirtschaftliche Risiken bei den Unternehmen, die mit Nanotechnologien befasst sind.
Wesentliche Voraussetzung und Forderung der Linken ist, die Förderstruktur zugunsten von Vorsorge und
Verbraucherschutz neu zu strukturieren. Die vorliegenden Anträge von SPD und Grünen unterstützen
diese Forderungen weitgehend, weshalb wir ihnen zustimmen.
Bisher gibt es in Deutschland keine nanospezifischen Regulierungen. Dabei ist die Nanotechnologie
mit all ihren Chancen und Risiken längst in unserem
Alltag angekommen. Denn Nanopartikel finden sich in
den verschiedensten Anwendungen und Produkten.
Doch aufgrund ihrer geringen Größe und den damit
verbundenen anderen physikalischen und chemischen
Eigenschaften gegenüber den jeweiligen Ausgangsstoffen schlüpfen Nanopartikel durch die bestehenden
Kontroll- und Regulierungsregimes.
Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Gerade
beim Einsatz von ungebundenen Nanopartikeln in verbrauchernahen und umweltoffenen Anwendungen wie
zum Beispiel in Kosmetika oder Reinigungsmitteln
sind die bestehenden Risiken für Mensch und Umwelt
bislang viel zu wenig erforscht und unzureichend reguliert.
Wir wollen, dass das Vorsorgeprinzip zum Leitsatz
im Umgang mit der Nanotechnologie wird. Das hat
Zu Protokoll gegebene Reden
auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in
seinem ausführlichen Sondergutachten zu Nanomaterialien ausdrücklich empfohlen - leider ohne Reaktion
vonseiten der Bundesregierung!
Wir fordern in unserem Antrag, die Sicherheits- und
Risikoforschung deutlich auszuweiten, um die vorhandenen Wissenslücken zu schließen und die Unsicherheit im Bezug auf das Gefahrenpotenzial bestimmter
Nanomaterialen zu verringern.
Außerdem brauchen wir nanospezifische Prüf- und
Zulassungsverfahren und bessere Regelungen zur Produkthaftung. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat hierzu gute Vorschläge gemacht, die die Bundesregierung aufgreifen sollte. Dazu gehören auch
Novellen der Novel-Food-Verordnung und des europäischen Chemikalienrechtes REACH. Auch die Regelungen zum Arbeitsschutz müssen um nanospezifische
Regelungen ergänzt werden.
Um mehr Transparenz für Verbraucherinnen und
Verbraucher zu schaffen, wollen wir, dass, wo Nano
drin ist, auch Nano draufsteht. Ebenso muss offengelegt werden, ob diese Inhaltsstoffe neben den beworbenen Vorteilen auch mögliche Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringen. Wir fordern deshalb eine
verständliche Kennzeichnung für verbrauchernahe
und umweltoffene Nanoprodukte und ein öffentlich zugängliches Nanoproduktregister, um Transparenz und
Wahlfreiheit zu gewährleisten und den Regulierungsbehörden einen Überblick über den Markt zu ermöglichen.
Zum Schutz von Mensch und Umwelt ist es notwendig, dass Behörden im Besorgnisfall gefährliche Produkte gegebenenfalls vom Markt nehmen bzw. solchen
Produkten den Marktzugang verweigern können. Das
trifft unter anderem für den Einsatz von Nanosilber in
verbrauchernahen Produkten zu. Sowohl das Bundesinstitut für Risikobewertung als auch das Umweltbundesamt haben vor den möglichen Gefahren beim
Einsatz von ungebundenem Nanosilber in verbrauchernahen Produkten gewarnt. Nanosilber kann sich
nicht nur außen an menschliche Zellen anlagern, sondern auch biologische Grenzen überwinden und somit
in Zellen eindringen.
Wir sind fest davon überzeugt, dass die Sicherheit
von Mensch und Umwelt immer oberste Priorität haben muss. Nur dann wird auch eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für neue Technologien wie die Nanotechnologie möglich sein, die zweifelsohne auch große
Chancen und erhebliches Innovationspotenzial für Bereiche wie Informations- und Kommunikationstechnik,
Medizin und andere innovative Produktentwicklungen
birgt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13217.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/8158. Wer stimmt für diese
Empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Grünenfraktion auf Drucksache 17/9569. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen von Grünen und Linken
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wiedereingliederung fördern - Gefangene in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
einbeziehen
- Drucksache 17/13103 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})InnenausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Strafgefangene unterliegen heute nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Krankenund Pflegeversicherung. Die Zeit während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der
Besserung und Sicherung gilt für die Rentenversicherung auch nicht als Anrechnungszeit. Die Vollzugsbehörde entrichtet für die Gefangenen, auch wenn sie
ihrer Arbeitspflicht nach § 41 Strafvollzugsgesetz genügen, keine Beiträge zur Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung. Für eine Aufrechterhaltung der
Versicherungen sind die Gefangenen selbst verantwortlich.
Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit
bereits mehrfach mit der Frage der Einbeziehung der
Strafgefangenen in die gesetzliche Renten-, Krankenund Pflegeversicherung befasst. Die Frage war und ist
auch wiederholt Gegenstand von Petitionsverfahren.
In der Sache hat sich an der Situation nichts geändert: Zwar enthält das Strafvollzugsgesetz vom
16. März 1976 Regelungen über eine grundsätzliche
Einbeziehung der Strafgefangenen in die Sozialversicherung. Es hat in § 198 Abs. 3 das Inkrafttreten der
im Gesetz vorgesehenen Regelungen zur Einbeziehung
von Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung aber einem besonderen Bundesgesetz vorbehalten. Diese aufschiebende Inkraftsetzung beruht im
Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundesländer, die die Beiträge zur Sozialversicherung als
Träger des Strafvollzugs anteilig zu übernehmen hätten. Das mag man beklagen, aber wenn man Forderungen aufstellt, gehört zur Wahrheit auch eine Aussage, wie man diese Forderungen finanzieren will. Die
Fraktion Die Linke macht es sich in diesem entscheidenden Punkt sehr einfach und trifft in ihrem Antrag
hierzu keine Aussage. Das zeigt: Es geht der Fraktion
nicht um eine sachgerechte Lösung für die Betroffenen,
die Initiative ist vielmehr ein reiner Schaufensterantrag.
Warum ist es zu dem oben angegebenen Bundesgesetz bislang nicht bekommen? Ganz einfach: Weil es
der Bundesrat in der Vergangenheit abgelehnt hat, die
sich aus der Einbeziehung der Strafgefangenen in die
Sozialversicherung ergebenen finanziellen Belastungen zu tragen. Und ohne Zustimmung des Bundesrates
kann ein solches Bundesgesetz nicht verabschiedet
werden. Und ich sehe bei der Mehrheit der Bundesländer aufgrund ihrer Finanzlage weiterhin keine Neigung, einem dem Anliegen der Antragsteller entsprechenden Bundesgesetz zuzustimmen bzw. selbst eine
entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat zu ergreifen. Wem das Anliegen der Betroffenen wirklich
wichtig ist, der müsste eigentlich einen dringenden
Appell an die Länder richten. Im Antrag der Linken
findet sich dazu im Analyseteil verschämt die Aussage,
die Bundesländer müssten „nun endlich aktiv werden“. Der Forderungsteil des Antrags ist dagegen
recht mutlos ausgefallen, einen flammenden Appell an
die Länder finde ich dort jedenfalls nicht. Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag hätten Sie
sich wirklich sparen können.
An dieser Stelle nur am Rande: Man mag die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung
als ein geeignetes Mittel für deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft halten. Einen zwingenden
rechtlichen Handlungsbedarf kann ich aber nicht erkennen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung vom 1. Juli 1998 zur Gefangenenentlohnung die fehlende Einbeziehung in die Kranken- und
Rentenversicherung ausdrücklich als verfassungskonform gebilligt. Weder aus dem verfassungsrechtlichen
Resozialisierungsgebot noch aus dem Gleichbehandlungsgebot lasse sich eine Verpflichtung des Staates
ableiten, Pflichtarbeit mit freier Erwerbsarbeit gleichzusetzen.
Das zeigt: Es geht nicht nur um die Finanzierung,
sondern auch um eine politische Entscheidung. Und
mit genau diesen Fragen beschäftigt sich derzeit der
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Die
Kollegen machen sich die Fragen nicht einfach. Wer
mit ihnen spricht, weiß, dass sie die Angelegenheit
gründlich prüfen. Ich möchte hier und heute der Entscheidung der Kollegen nicht vorgreifen. Ich bin gern
bereit, mit Ihnen die politische Auseinandersetzung in
der Angelegenheit zu führen. Aber bitte in geordneten
Verfahren. Deshalb: Lassen Sie erst die Kollegen im
Petitionsausschuss ihre Arbeit machen. Erst dann sind
wir dran. Die heutige Debatte ist eine Debatte zur
Unzeit.
Bevor eine Altersrente ausbezahlt werden kann,
müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Neben
der Vollendung des erforderlichen Lebensalters sind
dies vor allem die Berücksichtigung der Zeiten als Beitragszeiten und die vorgesehene Mindestversicherungszeit oder die sogenannte Wartezeit. Für die normale Altersrente liegt diese gemäß § 50 SGB VI bei
fünf Jahren oder 60 Monaten.
Für ein Jahr Beitragszahlung erhält man nach dem
Durchschnittsverdienst - vorläufiger Wert für 2012:
32 446 Euro - dann einen Entgeltpunkt. Ein Entgeltpunkt bringt zurzeit eine Monatsrente von 28,07 Euro
in den alten und 24,92 Euro in den neuen Bundesländern ({0}).
Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Zeit
als Beitragszeit gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI im Versicherungskonto ist ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. § 55 Abs. 1 SGB VI definiert
als Beitragszeiten solche Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt
worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind Zeiten, während deren kraft Gesetzes oder auf Antrag oder kraft
entsprechender Vorschriften Versicherungspflicht bestand und Pflichtbeiträge gezahlt worden sind.
Bei einer Beschäftigung, die während eines Strafvollzugs ausgeübt wird, handelt es sich aber nicht um
ein die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung begründendes Beschäftigungsverhältnis. Verschiedene Gerichte haben in ihren Urteilen und
Beschlüssen dies bereits bestätigt und damit die Voraussetzungen für das Entstehen der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung durch
eine Beschäftigung im Gefängnis abgelehnt. Die Beschäftigung von Strafgefangenen im Rahmen eines
Straf- bzw. Maßregelvollzugs stellt kein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV dar, da
ein Strafgefangener bei seiner Beschäftigung im Gegensatz zu einem Arbeitnehmer nicht frei sei. Vielmehr
ist der Strafgefangene gemäß § 41 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz zur Arbeitsleistung verpflichtet.
Nun fordern die Linken, dass die bisherige Arbeitsverpflichtung während des Strafvollzugs in ein „Recht
auf Arbeit“ und „einen individuellen einklagbaren Anspruch auf einen Arbeitsplatz“ geändert werden solle.
Zudem sollten die Anstalten „eine ausreichende Zahl
von Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen“, und „bei
der Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen Fähigkeiten
und Neigungen der Gefangenen berücksichtigt werden“.
Nach der Föderalismusreform sind für die Regelungen des Strafvollzugs die Länder zuständig. Deshalb
muss ein solcher Antrag nicht im Bundestag, sondern
in den Landtagen eingebracht werden. 2011 haben
Zu Protokoll gegebene Reden
Peter Weiß ({1})
Berlin, Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, SachsenAnhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen einen gemeinsamen Entwurf für ein Landesstrafvollzugsgesetz
vorgelegt, das aber in den einzelnen Ländern noch
nicht in Kraft ist.
In § 22 heißt es dort, dass den Gefangenen auf Antrag oder mit ihrer Zustimmung Arbeit zugewiesen
werden soll. Die Erklärung zu § 22 besagt, dass Arbeit
nach dieser Bestimmung, dem Angleichungsgrundsatz
Rechnung tragend, freiwillig ist. Die Zuweisung einer
Arbeit ermöglicht es den Gefangenen, Geld für die Erfüllung von Unterhaltsverpflichtungen, den Schuldenabbau, den Ausgleich der Tatfolgen oder den persönlichen Einkauf zu verdienen.
Auch hinsichtlich der Höhe der Vergütung sei bei einer nach § 22 zugewiesenen Arbeit zu berücksichtigen,
dass es sich insoweit um freiwillige Arbeit und nicht
um Pflichtarbeit handele. Daher sei eine nichtmonetäre Komponente entsprechend der Regelung des § 43
Abs. 6 StVollzG nicht mehr vorgesehen, ohne dass sich
daraus ein Anspruch der Gefangenen auf eine höhere
Vergütung als bisher ergebe. Bei der Festsetzung der
Vergütung werde berücksichtigt, dass die Produktivität
der Arbeitsbetriebe in den Anstalten im Vergleich zu
Betrieben in der freien Wirtschaft gering ist.
Die Linken kritisieren weiterhin, dass es an einer
Rechtsgrundlage für das Entstehen einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
fehle; denn § 191 Strafvollzugsgesetz, der die Versicherungspflicht einführe, sei nicht in Kraft gesetzt
worden.
Auch hier gibt es bereits umfangreiche Rechtsprechung, die besagt, dass in der Nichtinkraftsetzung der
Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung für Strafgefangene kein Verstoß des Gesetzgebers
gegen Grundrechte oder das Sozialstaatsgebot
({2}) liege.
Auch ein Verstoß gegen europäisches Recht liegt
nicht vor. Zwar hat der EuGH entschieden, dass eine
Person, die während eines Zeitraums, in dem sie eine
Haftstrafe verbüßte, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtete, ein Arbeitnehmer im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 sei. Diese europarechtliche Definition zwingt aber nicht zu der
Annahme, damit sei entgegen der Entscheidung des
nationalen Gesetzgebers quasi automatisch auch die
Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 1 Satz 1 Nr. 1
SGB VI begründet.
In ihrem Antrag wollen die Linken außerdem suggerieren, dass aufgrund der fehlenden Leistungen zur
Rentenversicherung Strafgefangene in der Regel von
Altersarmut betroffen sind.
Ein solcher zwingender Zusammenhang zwischen
Haftzeiten und Hilfebedürftigkeit im Alter kann nicht
automatisch abgeleitet werden. Weder kann aus der
Verbüßung einer Haftstrafe eine generell niedrigere
Rente noch ein Nichterreichen der Mindestversicherungszeit abgeleitet werden.
„Eine Mindestversicherungszeit“, so der Kommentar von Kreikebohm zu § 50 SGB VI, „beugt Manipulationen zulasten der Solidargemeinschaft vor und
schützt bedingt vor schlechten Risiken“. Dieser Schutz
ist erforderlich, weil die Beitragszahler auch einen
sozialen Ausgleich mitfinanzieren, indem sich zum
Beispiel beitragsfreie Zeiten positiv auf die Rentenhöhe auswirken. Insbesondere bei frühzeitigem Eintritt
eines Leistungsfalles kann die Zurechnungszeit bewirken, dass das Sicherungsziel der Rentenart - die Gewährleistung eines Einkommensersatzes über dem
Grundsicherungsniveau - überhaupt zu erreichen ist.
Die gesetzliche Rentenversicherung kann - zu Recht nicht den Beitritt von schlechten Risiken zur Versichertengemeinschaft verhindern. Eine Gesundheitsprüfung
findet nicht statt, vielmehr entsteht die Versicherungspflicht kraft Gesetzes.“
Rentenhöhe und Hilfebedürftigkeit im Alter hängen
von vielen verschiedenen Faktoren ab und wirken sich
höchst individuell aus. Es gibt also keinen zwingenden
Grund, Strafgefangene in die Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung einzubeziehen.
Die gesellschaftliche Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener ist ein wichtiges gesellschaftliches Thema. Daher tut es tatsächlich not, dass wir uns
hier auch mit der Frage der Sozialversicherungspflicht bzw. dem Sozialversicherungsschutz Strafgefangener auseinandersetzen. Insofern begrüße ich den
vorliegenden Antrag.
Allerdings fordern Sie weit mehr, als wir mittragen
können und wollen: Die Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung. Das soll aufgrund der im
Vollzug geleisteten Arbeit paritätisch beitragspflichtig
und anspruchsbegründend sein - ohne dass geklärt ist,
worauf sich die Beitragsbemessung beziehen soll. Sie
formulieren lediglich eine weitere Forderung nach einer besseren Bezahlung. Ferner: die Verknüpfung der
Abschaffung der Arbeitspflicht und der Einführung einer angemessenen Entlohnung mit der Schaffung eines
Rechts auf Arbeit im Strafvollzug; die Ausweitung des
bestehenden Vertrauensschutzes bei der Anerkennung
von versicherungspflichtigen Zeiten bei ehemals in der
DDR Inhaftierten; die Verbindung von Verbesserungen
bei Entschädigungsleistungen für Opfer schwerer Gewalttaten mit den Interessen von Strafgefangenen im
vorliegenden Antrag.
Es ist aber nicht sinnvoll, Strafgefangene, während
sie sich in Gewahrsam befinden - auch unter Ableistung von Pflichtarbeit -, in Hinblick auf die spätere
Rente besserzustellen als Bezieher von Arbeitslosengeld II, Ersatz- oder Wehrdienstleistende. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesländer
auch ohne eine Versicherungspflicht bereits heute freiwillige Beiträge für arbeitende Strafgefangene abführen könnten, wenn sie es so beschließen würden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Gegenwärtig sind Strafgefangene ausdrücklich in
die Unfall- und Arbeitslosenversicherung ({0}) einbezogen, nicht aber in die Kranken-,
Pflege- und Rentenversicherung. Hier gelten die allgemeinen Regeln des Sozialversicherungsrechts, wonach
es nach den Vorschriften des SGB IV für eine Versicherungspflicht vor allem an der „Freiwilligkeit“ der Arbeitsleistung mangelt. Sogenannte Freigänger, denen
die Unterhaltung eines Arbeitsverhältnisses außerhalb
der Justizvollzugsanstalt erlaubt ist, sind hingegen in
diesem Beschäftigungsverhältnis pflichtversichert.
Arbeitende Strafgefangene werden darauf verwiesen, dass sie freiwillige Beiträge leisten können. Das
Bundesverfassungsgericht hatte am 1. Juli 1998 entschieden, dass die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung verfassungskonform ist. Allein die
Höhe der Entgelte - 5 Prozent der sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße - entsprach nicht dem
verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung.
Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgelte daraufhin
auf circa 9 Prozent der Bezugsgröße erhöht ({1}). Im Nachgang hat
das Bundesverfassungsgericht die Neuregelung im
Jahr 2002 als verfassungsgemäß gebilligt.
Zudem gab es zahlreiche Petitionen zur Aufnahme
von Strafgefangenen in die Sozialversicherung. Von
der 14. bis zur 16. Legislaturperiode sind allein 35 Petitionen an den Deutschen Bundestag gerichtet worden. Derzeit läuft ein weiteres Petitionsverfahren eine ältere Leitpetition und weitere Mehrfachpetitionen. Im Augenblick läuft der Abstimmungsprozess in
den Fraktionen.
Gegenwärtig liegt eine Gesetzesinitiative der Landesregierung Brandenburg vor ({2}), die unter anderem die
Abschaffung der Arbeitspflicht vorsieht. Ein Automatismus in Bezug auf die Integration in die Sozialversicherung wäre damit aber noch nicht in Gang gesetzt.
Wie Sie auch in Ihrem Antrag rekapitulieren, wurde
im Jahr 1976 das Strafvollzugsgesetz, StVollzG, verabschiedet. Das Gesetz sah auch die Einbeziehung arbeitender Strafgefangener in die Kranken- sowie die Rentenversicherung vor. Die §§ 190 bis 193 des StVollzG
enthielten die entsprechenden Vorschriften, die nach
§ 198 Abs. 3 durch ein weiteres Bundesgesetz in Kraft
gesetzt werden sollten. Zugleich sollten auch die Arbeitsentgelte erhöht werden. Dieses besondere Gesetz
ist bis jetzt nicht ergangen.
Seit der Föderalismusreform liegen die Zuständigkeiten für den Strafvollzug zwar bei den Ländern, der
Bund bleibt aber weiterhin für die Sozialversicherung
verantwortlich. Die jeweiligen Bundesregierungen haben in der Vergangenheit zwar die Einbeziehung Strafgefangener in die Sozialversicherung als sinnvoll erachtet, die aufgeschobene Inkraftsetzung wird vor
allem dem Widerstand der Bundesländer und deren finanziellen Vorbehalten zugeschrieben.
Im Zusammenhang mit einer Anfrage des Grundrechtekomitees, einer Organisation, die sich unter anderem mit der Frage der Einhaltung der Grund- und
Menschenrechte Strafgefangener beschäftigt, zur Einbeziehung Gefangener in die gesetzliche Rentenversicherung habe ich die Bundesregierung in zwei schriftlichen Fragen im Juli 2011 ({3}) um Stellungnahme zum Thema gebeten. Zum
einen sollte geklärt werden, ob die Bundesregierung
diese Problematik in dem sogenannten Rentendialog
aufgreifen wird und wie sie dazu steht, die Arbeitszeiten von Strafgefangenen als Anrechnungszeiten in der
gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. In ihrer Antwort hat die Bundesregierung die Einbeziehung
in den Rentendialog verneint und auch den Vorschlag
zur rentenrechtlichen Anerkennung abgelehnt. Begründet hat sie ihre Ablehnung mit den Kosten für die
Solidargemeinschaft der Beitragszahler, die nicht zu
rechtfertigen seien. Dabei hat die Bundesregierung in
ihrer Antwort aber die Höhe des finanziellen Aufwands
nicht angegeben. Die Bundesregierung sieht die Bundesländer in der Pflicht, einer Änderung zuzustimmen.
Eine Mehrheit für eine solche Position bei den Bundesländern sieht sie aber wegen der weiterhin angespannten Haushaltssituation nicht.
Dabei können die niedrigen Entgelte für die Pflichtarbeit, auch wenn sie in Zukunft etwas steigen, kaum
einen nennenswerten Beitrag zum Aufbau einer existenzsichernden Rente leisten. Anrechnungszeiten können bei entsprechenden Vorleistungen im Einzelfall sogar zu höheren Ansprüchen führen als Beitragszeiten.
Das Argument einer zu starken finanziellen Belastung der Solidargemeinschaft erweist sich bei Betrachtung der Wirkungen von Anrechnungszeiten als unangebracht. Denn allein durch den Strafvollzug würde
kein Rentenanspruch erstmalig begründet. Lediglich
ein bereits erworbener würde aufrechterhalten, zum
Beispiel auf eine Erwerbsminderungsrente, bzw. in Zukunft wirksam werden, wenn der Versicherte vor oder
nach dem Vollzug weiter versicherungspflichtig war
oder wird.
Darüber hinaus fordern Sie von der Linken, den
Krankenversicherungsschutz und die Einbeziehung in
die Pflegeversicherung sicherzustellen. Dabei ist aber
weniger an den Betroffenen selbst als an dessen Angehörige zu denken. Der Gefangene erhält während des
Vollzugs Leistungen der Gesundheitsfürsorge. Familienversicherte Angehörige können bzw. müssen im
Einzelfall jedoch Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen, um ihren Krankenversicherungsschutz
aufrecht zu halten. Hier sehen wir noch Klärungsbedarf zur Situation in den einzelnen Bundesländern.
Die SPD verfolgt das Ziel, in Zukunft alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Dies könnte über kurz oder lang bedeuten, dass
auch Menschen in besonderen Erwerbssituationen
Zu Protokoll gegebene Reden
- dies beträfe dann auch Strafgefangene - integriert
würden. Bis dahin sind aber noch einige Fragen zu
klären. Letztendlich können die Länder bei Fragen der
Entlohnung aber auch immer auf die finanziellen Belastungen durch die allgemeinen und individuellen
Unterhaltskosten im Vollzug verweisen. Insofern wäre
die Anerkennung dieser Zeiten als Anrechnungszeiten
eine gute Lösung, um den Interessen der Strafgefangenen für eine bessere Alterssicherung gerecht zu werden.
Es wäre schön gewesen, hätte sich die Fraktion Die
Linke allein auf den Themenkomplex des Sozialversicherungsschutzes konzentriert. So werden nun zwar
zusammenhängende, aber doch sehr unterschiedliche
Probleme in Ihrem Antrag miteinander vermischt, aber
längst nicht ausführlich genug abgehandelt:
Arbeit ist ohne jeden Zweifel wichtig für die Resozialisierung Strafgefangener. Aber die Abschaffung
der Arbeitspflicht zu fordern, ist das eine; zugleich
aber auch ein Recht auf Arbeit für Strafgefangene verankern zu wollen, lässt Ratlosigkeit auch bei Wohlwollenden zurück. Das Recht auf Arbeit beschreibt nach
Art. 12 unseres Grundgesetz das Recht, bei freier Berufswahl und Sicherung der menschlichen Würde arbeiten zu können. Dies beinhaltet aber keinen individuellen Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Den kann es
daher auch für Strafgefangene nicht geben. Eine freie
Berufswahl ist schon allein aus Gründen, die im Charakter des Vollzugs liegen, unmöglich. Die Vollzugsanstalten sind bemüht, sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten bereitzustellen, letztendlich haben sie aber
heute schon Schwierigkeiten, allen Gefangenen etwas
anzubieten, weil die Nachfrage die vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten übersteigt.
Sie haben eine finanzielle Opferentschädigung über
einen Härtefonds für Opfer von schweren Gewalttaten
in ihren Forderungskatalog mit aufgenommen. Halten
Sie es für taktvoll und angemessen gegenüber den Betroffenen, die Sache der Strafgefangenen mit dem der
Opferentschädigung in einem Antrag abzuhandeln?
Sicherlich ist es richtig, Strafgefangene für angetanes
Leid auch in die finanzielle Pflicht zu nehmen, wie Sie
es mit der Änderung der Pfändungsvorschriften beabsichtigen. Aber die Einrichtung eines Härtefonds hätte
sicherlich eine eigenständige Behandlung verdient. Es
erscheint mir unangemessen und löst Befremden aus,
die Interessen der Opfer mit denen der ehemaligen Täter gemeinsam zu behandeln.
Kurz und gut: Obwohl wir Ihre Initiative zur Integration Strafgefangener in die Sozialversicherung als
richtig erachten, wäre es dem Antrag zustatten gekommen, hätten Sie sich ausschließlich mit diesem Kernthema
auseinandergesetzt. Dies hätte dann auch einen Erkenntnisgewinn für uns bedeuten können. Stattdessen
haben Sie thematische Verknüpfungen vorgenommen,
die der Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens nicht dienlich
sind.
Zum wiederholten Male bringt die Fraktion der Linken das Thema aufs Tableau. Das ist zwar lobenswert,
ändert aber nichts an der grundsätzlichen Problematik. Ich möchte sie Ihnen gerne noch einmal darlegen.
Zur inhaltlichen Diskrepanz:
Versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung sind gemäß SGB VI unter anderem Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Ein
solches Beschäftigungsverhältnis kann nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur angenommen
werden, wenn man die Arbeit freiwillig macht.
Die Arbeitsleistung von Gefangenen hingegen wird
aufgrund eines sogenannten öffentlich-rechtlichen Gewahrsamsverhältnisses erbracht, sodass ein freies Beschäftigungsverhältnis nicht vorliegt. Nach geltendem
Recht unterliegen Strafgefangene somit während einer
Tätigkeit im Rahmen des Strafvollzugs nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Für diese Zeiten werden folglich auch keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt.
Das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 enthält
zwar schon Regelungen über eine grundsätzliche Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherungspflicht, es hat jedoch in § 198 das Inkrafttreten
der vorgesehenen Regelungen einem besonderen Bundesgesetz vorbehalten.
Und hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel: Dass
aus dem Vorhaben bislang nichts wurde, beruht im Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundesländer, die die Beiträge zur Sozialversicherungsleistung
übernehmen müssten. Die Gesetzgebungskompetenz
für den Strafvollzug ist im Wege der Föderalismusreform auf die Länder übertragen worden. Nur der
Bundesgesetzgeber kann jedoch Festlegungen zu den
Personengruppen treffen, die von den sozialen Versicherungssystemen erfasst sind.
Dass Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden, war bereits in der 14.
und 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
Thema im Petitionsausschuss. Seinerzeit hat der Ausschuss keine Möglichkeit gesehen, dieses Anliegen auf
Bundesebene zu unterstützen, und daher empfohlen,
das damalige Petitionsverfahren abzuschließen. Der
Deutsche Bundestag ist dieser Empfehlung gefolgt.
Der Petitionsausschuss hat jedoch wegen der erforderlichen Zustimmung der Bundesländer zu einem entsprechenden besonderen Bundesgesetz im Sinne des
§ 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes zwei Petitionen
den Landesparlamenten zugeleitet.
Im Wege einer erneuten parlamentarischen Prüfung
in der 16. Wahlperiode vertrat der Petitionsausschuss
in seiner Beschlussempfehlung die Meinung, dass bei
künftigen Gesetzgebungsverfahren zur Rentenversicherung das Anliegen mit einbezogen werden sollte.
Dieser Vorschlag wurde dann im Bundesministerium
für Arbeit und Soziales zwar geprüft, jedoch konnte
Zu Protokoll gegebene Reden
eine entsprechende Regelung als Gesetzesinitiative der
Bundesregierung nicht in Aussicht gestellt werden, da
mit wenig Erfolg zu rechnen gewesen wäre.
Die Vorbehalte der Bundesländer gegen die Aufnahme von Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung bestehen unverändert fort. Die Haushaltssituation der Bundesländer hat sich nicht in der
Weise verändert, dass eine erneute Initiative der Bundesregierung Aussicht auf Erfolg hätte. Die Bundesregierung hält die Einbeziehung von Strafgefangenen in
die gesetzliche Rentenversicherung zwar weiterhin für
sinnvoll, hat jedoch keinerlei Möglichkeiten, die umfassende Einbeziehung in die Sozialversicherung auf
anderem Wege sicherzustellen.
Es können somit allein die Bundesländer eine Änderung der bestehenden Rechtslage herbeiführen, indem
sie eine Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung initiieren. Nach derzeitigem Kenntnisstand besteht jedoch bei der Mehrheit der Bundesländer aus den eingangs geschilderten finanziellen
Gründen weiterhin keine Neigung, einem Bundesgesetz im Sinne des § 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes zuzustimmen bzw. eine entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat zu ergreifen.
Bereits vor 35 Jahren hat die Politik das Versprechen gegeben, dass Gefangene im Rahmen einer
grundlegenden Gesamtreform des Strafvollzugswesens
in die Sozialversicherungen einbezogen werden. Bisher gilt dies lediglich für die Unfall- und Arbeitslosenversicherung. Die Linke will die Wiedereingliederung
von Gefangenen fördern und fordert daher, sie in die
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einzubeziehen. Mit dem Verweis auf die finanziellen Vorbehalte
der Länder und auf die für sie anfallenden Kosten
durch Sozialversicherungsbeiträge verweigert sich die
Bundesregierung, initiativ zu werden. Das Sozialstaatsprinzip und Gebot der Resozialisierung von Gefangenen darf aber nicht unter Kostenvorbehalt gestellt werden.
Die heutigen Regelungen stellen eindeutig eine doppelte Bestrafung dar, die nicht rechtens ist. Denn durch
die Nichteinbeziehung in die Sozialversicherungssysteme entstehen den Gefangenen langfristig schwere
Nachteile, indem sie etwa Vorversicherungszeiten und
Wartezeiten verfehlen oder ihren Anspruch auf Erwerbsminderungsrente verlieren.
Gefangene sind deshalb nicht in Sozialversicherungen einbezogen, weil bisher die Freiwilligkeit als das
Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung gilt. Strafgefangene und Sicherungsverwahrte unterliegen jedoch einer gesetzlichen Arbeitspflicht. Wir fordern die vollständige Abschaffung der
Arbeitspflicht und diese in ein individuelles und einklagbares Recht auf einen Arbeitsplatz umzuwandeln.
Die meisten Gefangenen wollen nämlich arbeiten.
Es existiert zwar der Musterentwurf eines Gesetzes
von zehn Ländern, der die Abschaffung der Arbeitspflicht vorsieht. Doch als einziges Bundesland steht
Brandenburg mit seiner rot-roten Regierung auch vor
der tatsächlichen Umsetzung dieses Entwurfs.
Dass die von Gefangenen geleistete Arbeit derzeit
nicht bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung berücksichtigt wird, hat verheerende
Auswirkungen auf die Zeit nach der Haftentlassung.
Die entstandenen Versicherungslücken führen zu sehr
niedrigen Altersrenten, und sogar die Mitgliedschaft in
der Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner ist keineswegs garantiert. Ansprüche auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung oder auch auf
Erwerbsminderungsrente können nur bei Einhaltung
bestimmter Vor- bzw. Mindestversicherungszeiten geltend gemacht werden.
Wir Linken schlagen deshalb vor, für die Dauer des
Freiheitsentzugs eine eigenständige rentenrechtliche
Zeit einzuführen. Bei der 35-jährigen Wartezeit muss
die Zeit des Strafvollzugs voll berücksichtigt werden.
Für ehemals in der DDR Inhaftierte galten Arbeitseinsätze als versicherungspflichtige Zeiten. Diese Regelung lief jedoch am 31. Dezember 1996 aus. Für die
Zeit nach 1996 wollen wir eine vertrauensschutzwahrende Regelung schaffen.
Strukturierte und ausgefüllte Arbeitstage, entsprechend der Fähigkeiten und Neigungen der Gefangenen, sind für einen echten Resozialisierungsprozess
unabdingbar. Die Länder müssen daher dazu angehalten werden, neue Arbeitsplätze im Strafgefangenenvollzug zu schaffen. Die geleistete Arbeit muss zudem
paritätisch beitragspflichtig und anspruchsbegründend werden. Dies soll neben der Verbesserung der
Resozialisierungsbedingungen insbesondere den Opfern der Straftäterinnen und Straftäter zugutekommen.
Wir fordern darum, die bisherigen Pfändungsvorschriften derart zu gestalten, dass zunächst die Opfer
der Straftaten mit ihren Entschädigungsansprüchen
privilegiert werden. Dazu ist ebenso die derzeitige
Entlohnung der Gefangenen von durchschnittlich
1,50 Euro pro Stunde deutlich anzuheben.
Im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Straftäterinnen und Straftäter kann nur ein Härtefallfonds für
Opfer schwerer Gewalttaten Abhilfe schaffen. Die Gesetzgebungskompetenz liegt hier ausdrücklich beim
Bund. Dafür muss im nächsten Haushaltsgesetz unbedingt ein Haushaltstitel in angemessener Höhe eingestellt werden. Die Wahrung der Opferrechte ist unmittelbar mit der Wahrung der Straftäterinnen- und
Straftäterrechte verknüpft.
Es zählt zu den Grundsätzen des Sozialstaats, dass
der Staat „für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund
ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert
sind“, Vor- und Fürsorge trägt. Ganz im Geiste dieser
sozialen Verantwortung des Staates für seine Bürger
Zu Protokoll gegebene Reden
wurde 1976 eine Änderung des Strafvollzugsgesetzes
beschlossen. Sie sah vor, die Arbeit von Inhaftierten
neu zu bewerten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte die Arbeitspflicht im Strafvollzug zukünftig nicht - mehr - als Strafe gelten, sondern die berufliche Integration der Strafgefangenen fördern und sie
darin unterstützen, sich nach Verbüßung der Haftzeit
eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen.
Als wesentliche Punkte dieser Neubewertung waren
zum einen eine bessere Vergütung vorgesehen, die derjenigen in Freiheit vergleichbar sein sollte; zum anderen sollten die arbeitenden Häftlinge umfassend in die
Sozialversicherung einbezogen werden. Dieser Beschluss wurde 1976 gefasst; allerdings ist keiner der
beiden Punkte bislang umgesetzt. Damals wie heute
erhalten Strafgefangene und Sicherungsverwahrte einen Minimallohn von wöchentlich 100 Euro. Und damals wie heute sind Strafgefangene und Sicherungsverwahrte trotz Erwerbsarbeit weder kranken-, pflegenoch rentenversichert.
Dass ein entsprechendes Bundesgesetz bislang
nicht zustande kam, ist dem Widerstand der Länder geschuldet. Im Bundesrat wurde die Einbeziehung der
Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung
mit Verweis auf die finanziellen Belastungen der Länderhaushalte, die als Träger des Strafvollzugs die Beiträge anteilig übernehmen müssten, abgelehnt. Die
Kosten, die auf die Länder für eine Einbeziehung von
Strafgefangenen in die Rentenversicherung zukämen,
würden sich auf jährlich 160 Millionen Euro belaufen.
Noch einmal 100 Millionen Euro fielen jährlich für
eine angemessene Entlohnungshöhe an - eine vergleichsweise geringe Summe, stellt man ihr die Kosten
gegenüber, die dadurch entstehen, dass viele ehemalige Häftlinge - vor allem diejenigen mit langen Haftzeiten - mit dem Eintritt ins Rentenalter auf Leistungen aus den Sozialkassen angewiesen sind.
Abgesehen davon, dass die Blockadehaltung der
Länder eine finanzielle Milchmädchenrechnung ist,
bedeutet der seit 37 Jahren währende Ausschluss von
Strafgefangenen aus der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung vor allem eine Bankrotterklärung an das Sozialstaatsprinzip. Ihr Ausschluss
widerspricht der staatlichen Vor- und Fürsorgepflicht.
Indem Gefangene für ihre Arbeit, die sie als Pflichtarbeit in Eigenbetrieben der Strafvollzugsanstalten
oder assoziierten Unternehmen leisten, weder angemessen entlohnt noch sozial abgesichert werden, ist
das Verbüßen einer Freiheitsstrafe nicht allein ein
Freiheitsentzug für einen bestimmten Zeitraum, sondern straft die Betroffenen auch über ihren Haftaufenthalt hinaus.
Damit widerspricht die Praxis zwei eisernen
Grundsätzen des Strafvollzugs: erstens dem Gebot,
dass eine Haftstrafe über die eigentliche Haftdauer hinaus keine negativen Folgen für die Betroffenen haben
darf. Greift man allein die fehlende Einbindung in die
Rentenversicherung heraus, so wird deutlich, dass genau das aber der Fall ist. Da während der Zeit der
Strafhaft keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden und diese Zeit auch nicht als
Berücksichtigungs-, Anrechnungs- oder Zurechnungszeit gilt, führt die Haft trotz Heranziehung zur Arbeit
dazu, dass Teile der Lebensarbeitszeit für die Altersvorsorge entfallen. Neben Einbußen bei der Rentenhöhe scheitern Rentenansprüche so auch an der Nichterfüllung von Wartezeiten. Durch den Ausschluss aus
der Rentenversicherung kann die Anwartschaft auf
eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wegen der Nichterfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen verloren gehen.
Zweitens steht der Umgang mit den Inhaftierten im
Widerspruch zum Grundsatz der Resozialisierung. Wir
wissen um die Bedeutung der Arbeit für Kriminalprävention, Straffälligkeit und Resozialisierung. Die Wertschätzung, die Strafgefangene für ihre Arbeit erfahren,
ist wichtig. Allerdings erschwert es die geringe Entlohnung, Schulden zu tilgen, Angehörigen Unterhalt zu
leisten oder Rechtstitel der Opfer zu begleichen. Die
Schuldenlast, die viele Strafgefangene drückt, kann
während der Haftzeit kaum gemindert werden, und
das, obwohl Schuldenfreiheit die Chancen für ein Leben ohne Straftaten deutlich erhöht.
Ein echter Neuanfang ist - insbesondere nach längerer Haft - ohnehin schwer. Wer das Ziel der Resozialisierung von Strafgefangenen wirklich ernst nimmt,
der sollte ihnen die Möglichkeit geben, während der
Haftzeit „reinen Tisch“ zu machen - und zwar auch in
finanzieller Hinsicht -, um eine realistische Aussicht
auf gelingende Rückkehr in die Gesellschaft zu haben.
Noch ein Wort zum Sozialstaatsprinzip, mit dem ich
meinen Redebeitrag eingeleitet habe: Hinter ihm steht
das politische Bekenntnis, jedem Einzelnen den Status
als Bürger zuzugestehen. Der Ausschluss von Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten fällt hinter diesen
Grundsatz zurück. Die Linke betont in ihrem Antrag
die Wiedereingliederung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten; das unterstützen wir Grünen. Allerdings hat die Einbeziehung von Strafgefangenen in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung noch
eine andere, man könnte sagen, symbolische Dimension. Es geht um die Integration in die soziale Sicherung, und zwar als vollwertige Bürger, unabhängig davon, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind
oder nicht. Unstrittig ist, dass Rechtsverstöße strafbewehrt verfolgt werden müssen und dass - wo dies möglich ist - ein Ausgleich zwischen Tätern und Opfern
erfolgen muss. Unstrittig ist aber auch, dass Rechtsverstöße keine Ungleichbehandlung rechtfertigen, wie
sie derzeit - und, ich betone das noch einmal, seit inzwischen 37 Jahren - betrieben wird.
Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13103 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann haben wir so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Katja Kipping, Sabine Zimmermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei den
Jobcentern erhöhen
- Drucksache 17/7844 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})Innenausschuss
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch ist ein lernendes
System. Dies hat sich erst vor wenigen Tagen wieder
gezeigt, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Fachleute aus ganz Deutschland zu einem Symposium zur
Anwendung des SGB II eingeladen hatte. Wir haben
aus diesem Gespräch eine Fülle von Anregungen für
unsere Arbeit mitgenommen. Aber, um es vorwegzunehmen: Vorschläge, wie sie die Fraktion Die Linke
heute in ihrem Antrag präsentiert, hat uns dort niemand unterbreitet.
Dabei ist der Überschrift des Antrags nicht einmal
zu widersprechen. Nichts ist so gut, als dass es nicht
auch noch besser werden könnte. Insofern räume ich
durchaus ein, dass bei der Wirksamkeit der Beiräte bei
den Jobcentern bisweilen noch Spielraum nach oben
sein könnte. Ich will an der Stelle aber auch vorab
schon sagen, dass viele Jobcenter mit den Beiräten
sehr gut zusammenarbeiten und die dort vorhandene
Expertise zugunsten ihrer Kunden nutzen.
Wie gesagt, die Überschrift des Antrags ist ganz
vernünftig, aber das war es dann auch schon. Wenn
man sich die Vorschläge im Einzelnen ansieht, stünde
am Ende der Umsetzung dann wohl die vollständige
Ausgliederung der Einzelfallbearbeitung im Jobcenter
in deren örtliche Beiräte. Wer auch nur ein bisschen
Ahnung von Verwaltung hat, kann sich ausmalen, was
das in der Praxis bedeutet. Das Ganze soll dann auch
noch in öffentlicher Sitzung beraten werden. Was das
mit dem Ziel der Effizienzsteigerung zu tun haben soll,
erschließt sich mir beim besten Willen nicht.
Ich komme nochmals auf die eingangs zitierte Anhörung zu sprechen. Da gab es auch kritische Untertöne, dass bisweilen die Kooperation mit den Beiräten
nur formal sei. Wir wurden aber gleichzeitig und fast
schon händeringend gebeten, das SGB II nicht zu
übersteuern. Daraus folgt für mich: Wenn es einen
Optimierungsbedarf zwischen Jobcenter und Beirat
geben sollte, dann müssen sich dem die Akteure vor
Ort zuwenden. Diesem Anliegen können sich beispielsweise die Kreistage widmen, wenn ihnen über die
Arbeit des Jobcenters berichtet wird. Der Bund ist als
Gesetzgeber wichtig; er sollte aber gerade dort, wo es
um originäre kommunale Zuständigkeiten geht, einsehen, dass auch im vorliegenden Fall der Leitsatz gilt:
In der Beschränktheit zeigt sich der Meister.
Insofern kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
diesem Antrag der Linkspartei nicht folgen.
Unsere erste und vorrangigste Aufgabe ist es, den
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen vor Ort durch Unterstützung und Förderung eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen. Dazu ist in dezentraler Verantwortung
ein individuelles und passgenaues Fallmanagement
erforderlich. Denn der Gesetzgeber kann nur die Rahmenbedingungen setzen; die eigentliche Arbeit wartet
vor Ort im Rahmen der Gestaltung der örtlichen Arbeitsmarktpolitik. Gefordert sind also in erster Linie
die Träger der Grundsicherung, die Jobcenter, die Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes und eben auch
die örtlichen Beiräte. Der Sachverstand aller wird benötigt, um die bestmöglichen Lösungen für die betroffenen arbeitslosen Menschen zu finden und zu nutzen.
Dabei bilden die gesetzlich verankerten örtlichen
Beiräte die Schnittstelle zwischen der öffentlichen Verwaltung in den Jobcentern und der Umsetzung und Erbringung der erforderlichen Maßnahmen durch die
Arbeitsmarktdienstleister. Sie beraten das Jobcenter
und die verantwortlichen Träger und geben Impulse.
Ziel ist es, die Erfahrung und das Wissen der Akteure
vor Ort bei der Auswahl von Eingliederungsmaßnahmen zu nutzen.
Seit dem 1. Januar 2011 ist verbindlich vorgesehen,
dass jedes Jobcenter, egal ob gemeinsame Einrichtung
oder Optionskommune, einen örtlichen Beirat einrichtet. Damit hat der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck
gebracht: Die Nutzung der Kompetenzen der Partner
des Arbeitsmarkts sollen aktiv genutzt und in die tägliche Arbeit der Jobcenter eingebunden sein. Die Beiräte werden gebraucht, sie können überall einen aktiven fördernden Part bei der Zielerreichung spielen.
Das ist zugleich Teil der Philosophie der Jobcenterreform, mit der wir die lokalen Strukturen und die dezentrale Verantwortung gestärkt haben.
Aufgabe der Beiräte ist allerdings lediglich die Beratung der Jobcenter. Es geht nicht darum, Entscheidungen für die Jobcenter zu treffen. In diese Richtung
zielt erkennbar der Antrag der Fraktion Die Linke. Die
Beiräte sollen verbindlich mitbestimmen; sie sind bei
ablehnenden Widersprüchen anzuhören; ihnen soll
Akteneinsicht gewährt werden. Das geht aber weit
über die Aufgabenbefugnisse hinaus, die den Beiräten
zukommen soll. Ein verbindlicher Einfluss der örtlichen Beiräte, eine Entscheidungskompetenz oder ein
Vetorecht sind einfachgesetzlich und auch verfassungsrechtlich ausgeschlossen.
§ 18 d SGB II spricht deshalb mit guten Gründen
von der beratenden Funktion des örtlichen Beirats.
Das geht natürlich nur, wenn die Jobcenter gegenüber
den örtlichen Beiräten transparent handeln. Nur im
ehrlichen und offenen Dialog können gute und nachMax Straubinger
haltige Ergebnisse erzielt werden. Je engagierter die
örtlichen Beiräte auftreten, nachfragen und sich einbringen, desto stärker können positive Impulse von
den verantwortlichen Stellen gehört und umgesetzt
werden. Die Beiräte sind nicht Placebo, nicht Beiwerk
oder Kulisse; sie sind wichtig, notwendig und eine Einflussgröße von besonderem Wert. Alle Beteiligten vor
Ort sind aufgefordert, darauf zu achten und dieser
Funktion in den wesentlichen Entscheidungsprozessen
zur Geltung zu verhelfen.
Eine andere Frage ist, die Wirksamkeit der örtlichen Beiräte auf die Arbeit der Jobcenter zu prüfen.
Kommen die Beiräte ihrer Funktion nach? Welchen
Einfluss haben sie auf die Entscheidung der Jobcenter? Welche Gestaltungsspielräume stehen ihnen dazu
zur Verfügung? Die Bundesregierung hat dazu Anfang
März 2013 in ihrer Antwort auf eine entsprechende
parlamentarische Anfrage der Linken ausgeführt, dass
sie derzeit keinen Bedarf sieht, ein Forschungsvorhaben zur Rolle und Wirkungsweise der örtlichen Beiräte
umzusetzen. Ich teile diese Einschätzung. Ich halte es
für einen großen Erfolg, dass innerhalb kurzer Zeit fast
überall Beiräte eingerichtet worden sind. Jetzt sollten
wir die Beiräte erst einmal in Ruhe arbeiten lassen. An
mich sind bislang auch keine diesbezüglichen Klagen
herangetragen worden. Nach meinen Erkenntnissen
stehen die Linken mit ihrer Forderung auch ziemlich
allein. Eine Erweiterung der Kompetenzen der Beiräte, wie sie die Antragsteller fordern, lehne ich jedenfalls ab. Die heutige Gespensterdebatte könnten wir
uns getrost sparen.
Die Beiräte in den Jobcentern sind ein wichtiger
Partner vor Ort, wenn es darum geht, lokal erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Ihrem ehrenamtlichen Engagement sollten wir alle Anerkennung und
Dank zollen.
Und die Kenntnisse und Erfahrungen der örtlichen
Arbeitsmarktakteure sind zudem eine große Bereicherung für die Arbeit der Trägerversammlung und der
Geschäftsführung. Sie bringen sich ein und tragen mit
dafür Sorge, dass die Eingliederungsleistungen im
Sinne der arbeitsuchenden Menschen vor Ort gestaltet
werden.
Die rigide Kürzungspolitik dieser schwarz-gelben
Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik stellt die
Arbeitsuchenden, die Jobcenter und die Träger vor
große Herausforderungen. Daher ist es umso wichtiger - vor dem Hintergrund dieser verschärften Bedingungen -, das Wissen der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter, der Kammern und berufsständischen
Organisationen sowie der Freien Wohlfahrtpflege mit
einzubinden. Das war immer unser Anspruch!
Deshalb ist es auch gut und richtig, dass seit dem
1. Januar 2011 die örtlichen Beiräte nach § 18 d SGB II
in allen Jobcentern verpflichtend sind. Dafür haben
wir uns in den Beratungen zur Jobcenterreform eingesetzt. Die Einrichtung der Beiräte lief etwas holprig,
und in vielen Regionen musste sich das vertrauensvolle und reibungslose Zusammenspiel zwischen dem
Beirat, der Trägerversammlung und der Geschäftsführung erst entwickeln.
Wir schauen in den meisten Regionen unseres Landes also auf gut zwei Jahre Arbeit von Beiräten zurück.
Die Fraktion Die Linke hat den Antrag bereits im
November 2011 eingebracht und wollte zu diesem Zeitpunkt schon erkannt haben, dass die Arbeit der Beiräte
nur ungenügend wirkt. Das ist schon interessant. Vor
allem vor dem Hintergrund, dass Sie uns die Quelle Ihrer Erkenntnis verschweigen!
Der Gesetzgeber hat mit den Beiräten ein beratendes Gremium geschaffen, welches vor Ort gute fachliche Unterstützung leistet. Diesem Anspruch müssen
aber auch die Größe der Beiräte und ihre Zusammensetzung, sowie ihr Aufgabenspektrum Rechnung tragen. Denn zu berücksichtigen ist und bleibt, dass die
örtlichen Beiräte ehrenamtlich arbeiten.
Daher müssen die gemachten Vorschläge der Linksfraktion genau geprüft werden - inwieweit sie mit dem
Anspruch einer wirksamen Arbeit der Beiräte vereinbar sind. Und dann kommen wir zum Schluss, dass
durch die meisten Forderungen die Wirksamkeit der
Arbeit der örtlichen Beiräte nicht verbessert wird, sondern eher verschlechtert wird.
Schauen wir uns exemplarisch den einen oder anderen Vorschlag genauer an. Es wird zum Beispiel gefordert, dem Beirat Akteneinsicht zu gewähren und auf
Verlangen Auskunft zu erteilen. Hier muss erläutert
werden, wie weit sich das Akteneinsichtsrecht erstrecken soll. Lediglich datenschutzrechtliche Grenzen zu
ziehen, ist sicherlich zu weitläufig. Für Einzelfallakten
ist dieser Vorschlag gänzlich auszuschließen, und wir
müssen auch Sorge dafür tragen, dass die ohnehin
schon komplexen Verwaltungsabläufe nicht noch komplizierter werden.
Voraussetzung für eine wirksame Arbeit der Beiräte
ist, dass die Jobcenter Transparenz über ihre Arbeit
schaffen. Das heißt, dass sie den örtlichen Beiräten Informationen über die Höhe des Eingliederungstitels,
über geplante Maßnahmen und deren Grundlagen
rechtzeitig zur Verfügung stellen. Denn die Intention
des Beirats ist verfehlt, wenn er erst nach Erstellung
des Katalogs der Eingliederungsmaßnahmen und -instrumente eingebunden wird. Sinn macht nur eine frühzeitige Beteiligung! Inwieweit das derzeit schon gut
funktioniert oder wo es noch hakt, kann keiner zum jetzigen Zeitpunkt sagen.
Ich glaube aber, dass sich die Zusammenarbeit noch
besser einspielen muss. Die Trägerversammlungen sowie die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer
müssen die Beiräte als Partner und guten Ratgeber begreifen. Doch das lässt sich nicht per Gesetz regeln.
Wovor wir uns auch hüten sollten, es gesetzlich zu
regeln, ist die Einbindung der Beiräte im WiderZu Protokoll gegebene Reden
spruchsverfahren der Leistungsbescheide. Wir dürfen
nicht vergessen, dass es von vornherein gewollt war,
dass die örtlichen Beiräte ein ehrenamtliches und beratendes Gremium sind. Und so ist es nach unserer
Auffassung auch richtig. Eine Einbindung in das
Widerspruchsverfahren würde die Arbeit der Beiräte
nicht wirksamer werden lassen, sondern zum Erliegen
bringen. Richtig ist, dass dem Sozialrecht eine Beteiligung Dritter im Widerspruchsverfahren nicht fremd
ist. Aber der Beirat ist hier definitiv die falsche
Adresse - zumal wir dann auch wieder bei den Einzelfallakten und den datenschutzrechtlichen Regeln wären. Wenn man in diese Richtung was machen will,
dann sollte man eher über neutrale Ombudsstellen
nachdenken.
Die Frage, wer in den Beiräten sitzt und wer
Mitglieder entsenden darf, war im Vorfeld der zum
1. Januar 2011 eingeführten Änderungen schon
Thema. Die derzeitige Regelung ist in unseren Augen
ausreichend und begrenzt die Beiräte somit auch auf
eine arbeitsfähige Größe. Eine weitere Ausdehnung
des Gremiums werden wir daher nicht unterstützen.
Was wir aber unterstützen, ist die engere Einbindung der örtlichen Beiräte im Einsatzfeld der öffentlich geförderten Beschäftigung. In unserem Antrag
zum sozialen Arbeitsmarkt haben wir das schon unterstrichen. Wir wollen, dass die Sozialpartner ein ordnungspolitisches Vetorecht bekommen - und zwar für
die im Arbeitsmarktprogramm dargelegten Konzepte
für sozialversicherungspflichtige öffentlich geförderte
Beschäftigung. Diese intensive Einbindung hat nämlich ihren besonderen Reiz. Zum einen ist der lokale
Konsens in einem sozialen Arbeitsmarkt unabdingbar.
Zum anderen können somit auch Vorurteile abgebaut
werden. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Konsens mit dem Jobcenter die Instrumente und Maßnahmen besprechen, kann den permanenten Vorwürfen
- öffentlich geförderte Beschäftigung verdrängt reguläre Arbeitsplätze und sei nur schlecht bezahlt - entgegengewirkt werden.
Jedoch kann die Befugnis des Beirats als beratendes Gremium nur bei einem ordnungspolitischen
Vetorecht liegen. Das haben wir in unserem Antrag
zum sozialen Arbeitsmarkt auch hinreichend begründet.
An diesem Punkt würden wir die Rechte der örtlichen Beiräte stärken wollen. Inwieweit die beratende
Tätigkeit, wie in Punkt 1 gefordert, noch ausgeweitet
werden soll, muss in der weiteren Diskussion geklärt
werden. Es kann durchaus Sinn machen, die Beiräte in
einzelnen Punkten beratend mit hinzuzuziehen. Eine
generelle Ausweitung auf alle Leistungen ist aber zu
weitgehend, und wird durch uns nicht unterstützt.
Im Großen und Ganzen können wir über die Anregungen aus diesem Antrag diskutieren. Schlussendlich
haben wir hier aber ein Thema, zu dem es derzeit kein
fundiertes und belastbares Material gibt. Es ist einfach
zu früh, über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit
der Beiräte zu Schlussfolgerungen im Sinne dieses
Antrags zu kommen.
Wir wissen zudem, dass die Hans-Böckler-Stiftung
gerade an einem Forschungsprojekt zu genau diesem
Thema arbeitet. Das Projektteam untersucht die Gestaltungsspielräume und die Durchsetzungskraft der
Beiräte. Lassen Sie uns doch einfach erst einmal
abwarten, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen! Mitte
2014 soll das Forschungsprojekt abgeschlossen sein.
Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. Und davon ausgehend lohnt sich dann auch eine intensivere Betrachtung der Arbeit der Beiräte in den Jobcentern.
Mit der Neuorganisation der Aufgabenwahrnehmung im Bereich des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
hat diese christlich-liberale Regierungskoalition die
Bildung von Beiräten bei den Jobcentern gesetzlich
verankert. Im Zuge der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente haben wir die örtlichen Beiräte weiter gestärkt. Sie können daran erkennen, dass dieser
Regierungskoalition viel an der Arbeit der örtlichen
Beiräte liegt.
Unsere Zielrichtung bei der Jobcenterreform war
es, den Prozess des lokalen Zusammenarbeitens der
entscheidenden Akteure vor Ort zu stärken. Dabei ist
auch klar, dass, je engagierter die örtlichen Beiräte
auftreten, nachfragen und sich einbringen, desto stärker positive Impulse von den verantwortlichen Stellen
gehört und umgesetzt werden können.
Als Politik haben wir das Signal gesetzt, dass die
Beiräte wichtig sind und ihren Einfluss geltend machen sollen. Sie dienen nicht als Feigenblatt, sondern
sollen konkret mitsprechen und beraten.
Gerade uns als Liberalen war es ein Anliegen, bei
der Entscheidung über den Einsatz von Arbeitsgelegenheiten nach §16 d SGB II die örtlichen Beiräte mit
Befugnissen auszustatten. Sie haben jetzt eine beratende Funktion beim Einsatz dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments.
Gerade bei der Bewertung der Einhaltung der Kriterien öffentliches Interesse, Wettbewerbsneutralität
und Zusätzlichkeit setzen wir auf das Wissen der lokalen Arbeitsmarktakteure vor Ort. Diese können die
Einsatzfelder viel besser ausmachen und definieren,
als es aus der Ferne einzuschätzen wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr Antrag ist für mich ein Beispiel dafür, dass gut gemeint
das Gegenteil von gut gemacht ist. Wenn man Ihren
Antrag liest, dann klingt das alles sehr schlüssig und
unterstützenswert. Ich möchte nicht verhehlen, dass
auch wir gerade im Zuge der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente darüber nachgedacht hatten,
die örtlichen Beiräte mit noch weiter gehenden Kompetenzen auszustatten.
Im Rahmen der Beratung des damaligen Gesetzentwurfs haben wir uns mit Fachleuten unterhalten, die
Zu Protokoll gegebene Reden
uns aus einem einfachen Grund davon abgeraten haben. Ein verbindlicher Einfluss der örtlichen Beiräte,
eine Entscheidungskompetenz oder ein Vetorecht sind
einfachgesetzlich und vor allem auch verfassungsrechtlich ausgeschlossen.
Durch das Urteil vom 20. Dezember 2007 zu den
Arbeitsgemeinschaften als Gemeinschaftseinrichtung
von Bundesagentur für Arbeit und kommunalen
Trägern hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber den Auftrag gegeben, dafür zu sorgen, dass
transparente und eindeutige Entscheidungs- und Aufsichtsstrukturen geschaffen werden. Dies sei ein zwingendes Gebot des Demokratieprinzips; denn für jeden
Bürger müsse klar nachvollziehbar sein, welche staatliche Stelle für eine Entscheidung tatsächlich verantwortlich ist.
Daher ist die Übertragung von verbindlichen Entscheidungsmöglichkeiten auf die örtlichen Beiräte
nicht möglich. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit der örtlichen Beiräte so wertvoll, dass wir sie weiterhin unterstützen wollen, auch wenn es keine verbindlichen
Entscheidungen der Beiräte geben kann.
Für uns ist wichtig, dass lokale Arbeitsmarktpolitik
akzeptiert ist. Hierfür ist es notwendig, dass keine
Arbeitsplätze verdrängt werden. Uns ist wichtig, dass
jeder eine Chance bekommen kann. Dies darf aber
nicht zulasten der bisherigen Arbeitnehmer gehen. Gerade dies kann der Rat der örtlichen Beiräte bewerkstelligen.
Es ist das Ziel dieser christlich-liberalen Regierungskoalition, die lokalen Arbeitsmarktakteure stärker an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen. Denn vor Ort liegt das Wissen über die regionalen
Gegebenheiten des Arbeitsmarktes. Unter anderem
aus diesem Grund haben wir uns ja auch für die Entfristung und Ausweitung der Optionskommunen eingesetzt. Und auch aus diesem Grund sind wir gegen einheitliche staatlich festgesetzte Mindestlöhne. Vor Ort
muss entschieden werden, welche Lösungen es jeweils
braucht.
Wir bekennen uns zu den örtlichen Beiräten; der
Antrag der Linken ist jedoch nicht praktikabel.
Mit dem Gesetz über die Neuorganisation der
Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde die Einrichtung von örtlichen Beiräten bei Jobcentern festgeschrieben. Der neu in das Zweite Buch Sozialgesetzbuch, SGB II, aufgenommene § 18 d schreibt die
Bildung von Beiräten bei allen Jobcentern der gemeinsamen Einrichtungen und den zugelassenen kommunalen Trägern verpflichtend vor; das heißt, Beiräte müssen überall gebildet werden.
Dies stellt zwar gegenüber der alten Gesetzeslage
einerseits einen Fortschritt dar, aber andererseits beinhaltet die Neuregelung auch einen Rückschritt. Positiv ist, dass es nun nicht mehr im Belieben eines Landrates oder Bürgermeisters oder einer kommunalen
Vertretung liegt, ob ein Beirat eingerichtet wird. Er
kann auch nicht einfach wieder abgeschafft werden.
Beides war leider in der Vergangenheit vielfach der
Fall. Insofern ist die verbindliche Einführung von Jobcenterbeiräten grundsätzlich zu begrüßen. Sie bedeutete auch eine Aufwertung der Beiräte.
Negativ ist allerdings, dass die Beiräte die Trägerversammlung und die Jobcenter nur noch in Fragen
der Auswahl und der Gestaltung der Eingliederungsinstrumente und -maßnahmen beraten können. Dies ist
ein Rückschritt. Denn bis zur Neuregelung konnten
sich die Beiräte mit allen Fragen des SGB II befassen.
So haben sie sich zum Beispiel auch mit der Widerspruchs- oder Sanktionspraxis der Jobcenter befasst.
Das ist jetzt nicht mehr machbar, da die Bundesregierung diese Möglichkeit per Gesetz ausgeschlossen hat.
Zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Regelung
wird deutlich, dass die Beiräte sehr oft nur eine Alibifunktion haben. Ihre Einflussnahme ist begrenzt bzw.
auch nicht gewollt. Nicht nur aus einer Kommune ist
mir bekannt, dass, obwohl die Trägerversammlung per
Gesetz zur Zusammenarbeit mit dem Beirat verpflichtet ist, seine Empfehlungen gar nicht erst zur Kenntnis
genommen werden. Einen Rücklauf, wie mit den Empfehlungen des Beirats umgegangen wurde, gibt es
nicht. Das ist nicht nur demotivierend für viele, die
sich ehrenamtlich in den Beiräten engagieren. Das ist
auch eine Pflichtverletzung der Trägerversammlung.
Ich weiß, wovon ich rede, da unsere Fraktion seit
nunmehr sechs Jahren regelmäßig Erfahrungsaustausche mit Mitgliedern von Beiräten durchführt. Die in
unserem Antrag unterbreiteten Vorschläge zur Erhöhung der Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte ist ein Ergebnis dieser regelmäßigen Treffen.
Die Beiratsmitglieder wollen ihr Aufgabenfeld
selbst bestimmen und eine Zusammenarbeit mit dem
Jobcenter und der Trägerversammlung auf gleicher
Augenhöhe. Sie sind der Auffassung, dass sie ihre beratende Rolle erst richtig wahrnehmen können, wenn
die Beiräte auch über entsprechende Kompetenzen
verfügen. So sollten sich die Beiräte mit allen grundsätzlichen Fragen, die im Zusammenhang mit Leistungen, die für Betroffene im Rahmen des SGB II erbracht
werden, befassen und hierzu Empfehlungen an die Trägerversammlung und die Jobcenter aussprechen können.
Wichtig ist auch, dass die örtlichen Beiräte über die
Einsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung verbindlich mitbestimmen. Hier sollten sie nicht nur beratend tätig sein, um Missbrauch und Fehlsteuerungen
entgegenwirken zu können.
Es ist heute bereits in einigen Kommunen Praxis,
dass Trägerversammlungen per Vereinbarung den Beiräten weitere Aufgaben übertragen. Diese Möglichkeit
sollte allen eröffnet werden. Auf diese Weise kann den
unterschiedlichen Gegebenheiten des jeweiligen örtlichen Arbeitsmarktes und den daraus erwachsenden
Anforderungen an Auswahl und Gestaltung der EinZu Protokoll gegebene Reden
gliederungsinstrumente besser Rechnung getragen
werden.
Weiterhin schlagen wir vor, dass sich die Beiräte mit
strittigen Widerspruchsbescheiden befassen können, um
Klageverfahren zu verhindern. Eine Beteiligung Dritter
im Widerspruchsverfahren ist dem SGB nicht fremd. Für
die Sozialhilfe bestimmt § 116 Abs. 2 SGB XII, dass sozial erfahrene Dritte vor dem Erlass des Bescheides
über den Widerspruch gegen die Ablehnung der Sozialhilfe oder die Festsetzung ihrer Art und Höhe beratend zu beteiligen sind. Die Einbringung dieser Erfahrung in das Verfahren soll unter anderem eine erhöhte
„Richtigkeitsgewähr“ für die jeweils zu treffende
Maßnahme bewirken, und zwar im öffentlichen Interesse wie im Interesse des von dieser Maßnahme betroffenen Einzelnen.
In der Begründung zur verbindlichen und flächendeckenden Einrichtung von Beiräten wurde darauf
verwiesen, dass durch die Arbeit des Beirats für alle
Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes Transparenz
über das Gesamtpaket der aktiven Leistungen hergestellt wird. Die Linke ist der Auffassung, dass dieser
Anspruch nur erfüllt werden kann, wenn die Beiratsmitglieder den Zugang zu Informationen zu allen zum
Aufgabenbereich eines Beirats gehörenden Angelegenheiten haben. Insofern fordern wir ein Akteneinsichtsrecht für alle Mitglieder des Beirats und eine
Auskunftspflicht der Geschäftsführung des Jobcenters
gegenüber den Mitgliedern des Beirats. Dies würde
zugleich zu einer Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe beitragen. Zu beachten sind allerdings etwaig
entgegenstehende datenschutzrechtliche Regelungen.
In Zukunft sollten die Mitglieder eines Beirats nicht
mehr über die Trägerversammlung berufen werden.
Kommunale Vertretungen und SGB-II-Beziehende bzw.
deren Interessenvertretungen sowie die übrigen Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes, insbesondere Gewerkschaften und Arbeitgebervertretungen, die Industrie- und Handelskammer, die Handwerkskammern
sowie die Liga der freien Wohlfahrtspflege, sollen ihre
Vertreterinnen und Vertreter selbst bestimmen. Dadurch wird sichergestellt, dass alle gesellschaftlich relevanten Belange berücksichtigt werden.
Soweit zu unseren Vorschlägen. Die Linke ist der
Auffassung, dass deren Umsetzung zu einem anderen
Verständnis und zu einer echten Aufwertung der Arbeit
der Beiräte im Interesse der Betroffenen führen kann.
Wir brauchen starke Jobcenter, und dazu gehören
auch stark besetzte und gut eingebundene Beiräte. Wer
kann besser die örtlichen Problemlagen einschätzen
als die Beteiligten des lokalen Arbeitsmarktes selbst?
Wer kann besser den Einsatz von Eingliederungsmaßnahmen bewerten als diejenigen, die breite Erfahrung
haben mit den verschiedenen Instrumenten? Wer kann
besser bei der Gestaltung der Maßnahmen beraten als
diejenigen, die wissen, wo es Lücken und Defizite gibt,
aber auch sagen können, was bereits gut funktioniert?
In den Beiräten sitzen idealerweise genau diejenigen zusammen, die die Gegebenheiten vor Ort am besten kennen und einschätzen können. Dazu gehören die
Vertreter von Kommunen und Gemeinden, der freien
Wohlfahrtspflege, von Arbeitgebern, Gewerkschaften,
Wirtschaftsverbänden und Kammern. Aber immer wieder wird die Arbeit der Beiräte nicht ernst genommen
oder gar missachtet. Die Arbeitsmarktakteure dürfen
sich dann in den Beiräten zwar austauschen und ihre
Meinung kundtun, wirklich eingebunden werden sie
aber nicht.
Beispielhaft dafür steht die Situation in Leipzig. Die
dortigen Grünen mussten erst ein Rederecht des Jobcenterbeirats in der Trägerversammlung beantragen
und im Stadtrat durchsetzen - um den Widerstand der
Verwaltung dagegen aufbrechen zu können. Partnerschaftliche Zusammenarbeit stelle ich mir anders vor.
Die Beiräte sind nicht als Plauderrunden gedacht.
Dort sitzt wichtige lokale Expertise. Es muss daher
überall eine echte und transparente Kultur der Zusammenarbeit zwischen den Jobcentern und den Beiräten
entstehen. Nur dann können Impulse in der Arbeitsmarktpolitik gesetzt werden, nur dann kann die Arbeit
der Jobcenter begleitet und reflektiert werden, nur
dann entstehen dringend notwendige Kooperationen
zwischen der Arbeitsverwaltung und den arbeitsmarktpolitischen Akteuren der Region. Nur so kann den
Herausforderungen am Arbeitsmarkt wirksam begegnet werden. Und Sie alle wissen, wie groß die Probleme am Arbeitsmarkt nach wie vor sind.
Die lösen wir nicht mit starren 08/15-Programmen,
sondern nur mit flexibel gestaltbaren Maßnahmen, die
an die Erfordernisse vor Ort angepasst werden können. Dafür wollen wir die Rahmenbedingungen schaffen. Herr Keller vom Deutschen Landkreistag hat es in
einer öffentlichen Anhörung zum Thema „Sozialer Arbeitsmarkt“ auf den Punkt gebracht. Er erinnerte daran, dass der Gesetzgeber nicht der erste Sachbearbeiter ist! Der vielfältigen und heterogenen Wirklichkeit
wird man mit kleinteiligen gesetzlichen Regelungen
kaum gerecht werden können. Stattdessen wollen wir
die lokalen Entscheidungsspielräume ausweiten und
die Möglichkeit für flexible Lösungen schaffen. Lokale
Spielräume erfordern Know-how vor Ort, und das ist
in den Beiräten vorhanden.
Wie das genutzt werden kann, zeigt beispielhaft unser grünes Konzept für einen sozialen Arbeitsmarkt.
Wir wollen, dass an die Stelle starrer und oft realitätsferner gesetzlicher Vorgaben und Kriterien ein lokaler
Konsens tritt. Den Konsens schmieden müssen die relevanten Arbeitsmarktakteure vor Ort. Sie stimmen in
Kenntnis der örtlichen Lage den Arbeitsverhältnissen
im sozialen Arbeitsmarkt zu, die wir grundsätzlich für
alle Arbeitgeber öffnen wollen. Auf Kriterien wie Zusätzlichkeit, Wettbewerbsneutralität und öffentliches
Interesse, wie sie zurzeit bei öffentlich geförderter Beschäftigung bestehen - sie haben sich nicht bewährt -,
kann so verzichtet werden. Der lokale Konsens mit den
Arbeitsmarktpartnern gewährleistet eine praxisnahe
Zu Protokoll gegebene Reden
und abgestimmte Handhabung vor Ort. Diese Form
der Beteiligung der Arbeitsmarktakteure vor Ort sollte
noch viel häufiger genutzt werden.
Wir wollen die lokale Ebene im Sinne einer flexiblen
Arbeitsmarktpolitik stärken, und dazu gehören selbstverständlich auch die Akteure in den Beiräten. Allerdings
sehen wir nicht, dass die Beiräte zur Widerspruchsbearbeitungsstelle werden sollten. Hier schlagen wir
stattdessen die Einrichtung unabhängiger Ombudsstellen in den Jobcentern vor, die bei Konflikten eingeschaltet werden sollen. Dadurch können unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen zwischen
Arbeitsuchenden und Jobcenter in einem frühen Stadium bearbeitet und gelöst und Klagen vermieden werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. April 2013, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.