Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich. Ich freue mich, dass wir uns nach zwei bemerkenswerten Fußballgala-Abenden
({0})
nun mit gefestigter Motivation unseren ähnlich glanzvollen parlamentarischen Geschäften widmen können. Wir
fangen auch ganz vorsichtig und besonders fröhlich und
freundlich an, indem wir der Kollegin Marie-Luise Dött
und der Kollegin Annette Sawade gratulieren, die in
den zurückliegenden Tagen jeweils ihren 60. Geburtstag
gefeiert haben. Alle guten Wünsche für die nächsten
Jahre!
({1})
Für den verstorbenen Kollegen Ottmar Schreiner hat
die Kollegin Astrid Klug erneut die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag erworben. Ich darf Sie im Namen
des ganzen Hauses herzlich begrüßen und wünsche uns
für die verbleibende Zeit eine gute Zusammenarbeit.
({2})
Dann müssen wir noch eine Wahl von Mitgliedern des
Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
gemäß § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes durchführen.
Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den turnusmäßig ausscheidenden Herrn Markus Meckel den Kollegen
Siegmund Ehrmann sowie für eine weitere Amtszeit
Herrn Professor Dr. Richard Schröder als Mitglieder
des Beirats zu berufen. Stimmen Sie dem zu? - Das ist
offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Ehrmann
und Professor Schröder in den Beirat nach dem StasiUnterlagen-Gesetz gewählt.
Darüber hinaus müssen wir noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor,
für die Kollegin Ingrid Remmers die Kollegin Sabine
Leidig als Schriftführer zu wählen.
({3})
- Ich komme auch fast ins Grübeln, ob das Amt jetzt wöchentlich neu besetzt werden soll.
({4})
- Mit dieser feierlichen Bekräftigung vonseiten der unmittelbar zuständigen Fraktion nehme ich dann diesen
Vorschlag als offenkundig einvernehmlich so zu Protokoll. Damit ist die Kollegin Leidig als neue Schriftführerin gewählt.
({5})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN:
Große Vermögen durch Neuverhandlung des
deutsch-schweizerischen Steuerabkommens sowie durch eine Vermögensabgabe heranziehen({6})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Bessere Politik für einen starken Mittelstand -
Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,
Rahmenbedingungen verbessern
- Drucksache 17/13224 -
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren-
Ergänzung zu TOP 45
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013
- Drucksache 17/13195 29652
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Neuorientierung im Umgang mit Gewalt und Organisierter Kriminalität in Mexiko und Zentralamerika - Sicherheitsabkommen unter dem Primat der Menschenrechte
gestalten
- Drucksache 17/13237 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Elften Gesetz zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,
17/13190 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
- Drucksache 17/13225 ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
NPD verbieten
- Drucksache 17/13231 ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsextremismus umfassend bekämpfen
- Drucksache 17/13240 ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für eine umfassende Debatte zum Thema
Kampfdrohnen
- Drucksache 17/13192 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
- Drucksache 17/13241 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 8 und 13 werden getauscht.
Die Redezeit für den Tagesordnungspunkt 8 beträgt nunmehr 30 Minuten, so wir denn nicht vor Beginn desselben anderes beschließen. Für den Tagesordnungspunkt 13 sind jetzt 45 Minuten vorgesehen.
Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 5 b abgesetzt
werden.
Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 18. April 2013 ({10}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehr dem Haushaltsauschuss ({11}) zusätzlich nach § 96 der
Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung
bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung
- Drucksache 17/13079 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({12})-
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e
sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Thomas
Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({13}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Stabilität, Wachstum, Fortschritt - Den star-
ken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest
machen
- Drucksache 17/12700 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht über den Erfolg der Programme zur
Technologieförderung im Mittelstand in der
laufenden Legislaturperiode, insbesondere
über die Entwicklung des Zentralen Innova-
tionsprogramms Mittelstand
- Drucksache 17/12771 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Situation des Mittelstands
- Drucksachen 17/9655, 17/12245 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({14})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karl
Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Luksic, Patrick Döring, Petra Müller ({15}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Öffentlich-Private Partnerschaften - Poten-
tiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich
gestalten und Transparenz erhöhen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf-
fentlich-Private Partnerschaften differen-
ziert bewerten, mit mehr Transparenz wei-
terentwickeln und den Fokus auf die
Wirtschaftlichkeit stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz in Public Private Partnerships
im Verkehrswesen
- Drucksachen 17/12696, 17/9726, 17/5258,
17/13155 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Reinhold Sendker-
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({16})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rekommunalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Partnerschaften stoppen
- Drucksachen 17/5776, 17/6515 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerOtto FrickeRoland ClausTobias Lindner
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bessere Politik für einen starken Mittelstand Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,
Rahmenbedingungen verbessern
- Drucksache 17/13224 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
({17})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über Mittelstandspolitik, ein besonders wichtiges
Thema. Ich vermisse den Kanzlerkandidaten der SPD,
Herrn Steinbrück; aber vielleicht hat er auch Probleme
mit seiner Politik für den Mittelstand.
({0})
Vor wenigen Jahren waren wir der kranke Mann
Europas. „Sick man of Europe“ war das geflügelte Wort.
Damals war Rot-Grün an der Regierung und hat die Regierungspolitik gestaltet. Wir hatten 5 Millionen Arbeitslose und Jahre lähmender Rezession.
({1})
Heute ist die Einschätzung eine andere. Heute findet
man „Modell Deutschland“ auf dem Titel des Economist
und anderer internationaler Zeitungen. Deutschland ist
erfolgreicher als alle anderen Länder aus der Krise herausgekommen. Die internationalen Beobachter haben
ein Schlüsselwort dafür - sie haben kein eigenes Wort,
sondern nur ein Lehnwort -, nämlich „German Mittelstand“. Der Mittelstand ist also eine der Schlüsselgrößen
dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind und
wie erfolgreich wir Politik betrieben haben.
({2})
Mittelstand ist nicht irgendeine Betriebsordnung, Mittelstand ist eine Geisteshaltung, ist eine eigene Richtung,
ist eine eigene Gedankenwelt. Da wird in Generationen,
nicht in Quartalen gedacht. Viele dieser Mittelständler
sind Hidden Champions in ihrem Bereich, also Weltmarktführer. Manche in Deutschland träumen von ein
paar gewerkschaftsdominierten Aktiengesellschaften
plus Millionen kleiner Ich-AGs.
({3})
Das ist nicht mein ökonomisches Weltbild; das will ich
auch nicht haben. Ich will eine starke Mitte.
Die Entwicklung ist geprägt durch ein - wie es im
Ausland dargestellt wird - neues deutsches Wirtschaftswunder. Wir haben 42 Millionen Arbeitsplätze in
Deutschland. So viele gab es noch nie.
({4})
Das ist ein Beschäftigungswunder. Wir haben ein Exportwunder: Exporte in Höhe von gut 1 Billion Euro; das
sind über 1 000 Milliarden Euro. Und die Ausländer
kaufen unsere Produkte freiwillig, weil sie gut sind. Das
ist keine Zwangsabnahme. Wir haben ein Wohlstandswunder: seit drei Jahren steigende Reallöhne.
Es sind die fleißigen Menschen im Land, dynamische
Unternehmen, die dies erreicht haben, aber auch die
christlich-liberale Politik.
({5})
Wir haben die Weichen richtig gestellt.
({6})
Wir haben auf Entlastung gesetzt. Wir haben das Wachstum beschleunigt. Wir haben die Rentenbeiträge und damit Lohnzusatzkosten gesenkt. Wir haben die Renten erhöht. Wir haben die Praxisgebühr abgeschafft. Wir
haben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Mittelstand
bei der Erbschaftsteuer entlastet und 13 Milliarden Euro
zusätzlich in Bildung und Forschung gesteckt, ohne den
Staatshaushalt aufzublähen. Das ist erfolgreiche Politik
auch für den deutschen Mittelstand. Das sind die Rahmenbedingungen.
({7})
Die Staatsquote ist auf 45 Prozent gesenkt worden. Unser Ziel ist es, auf 40 Prozent herunterzukommen. Sozialsysteme haben Überschüsse statt Defizite, und wir
haben im Haushalt die schwarze Null auf den Weg gebracht, erreicht.
({8})
Christlich-liberale Politik hat den Staat fit gemacht.
Rot-grüne Politik will den Staat fett und träge machen.
({9})
Für den Kollegen Trittin ist die Staatsquote nur eine Recheneinheit, wie er sagt. Ihm ist egal, ob sie 40 Prozent,
45 Prozent, 60 Prozent beträgt. Das ist eben das fatal falsche Denken. Das macht den Mittelstand kaputt.
({10})
Sie wollen die Wirtschaft abwürgen: mit der Erhöhung
der Erbschaftsteuer, mit der Erhöhung der Einkommensteuer, mit der Wiedereinführung der Vermögensteuer.
({11})
Ich habe mir das Gutachten der SPD-Finanzminister
genau angeschaut und habe es auch dabei. Das Gutachten ist die Blaupause für die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Das trifft 160 000 Unternehmen in
Deutschland. Das sind 160 000 Unternehmen zu viel, die
davon betroffen werden.
({12})
Wenn in jedem Unternehmen dadurch nur ein Arbeitsplatz verloren geht, erreicht die Zahl, die wir an Arbeitsplätzen verlieren, eine Größenordnung, die der Einwohnerzahl einer Stadt wie Potsdam entspricht. Deshalb ist
Ihre Politik falsch.
Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für Sie ist
offenbar nicht klar, dass für viele Mittelständler die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele
Handwerker die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele Selbstständige und Freiberufler
die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass
für viele Landwirte die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist. Mit Ihrer Politik der Einkommensteuererhöhung und auch mit der Erhöhung des Spitzensteuersatzes treffen Sie diese Bereiche des Mittelstands ins
Mark.
({13})
Hinzu kommt die Erhöhung der Abgeltungsteuer, der
Mehrwertsteuer, der Erbschaftsteuer. Rot-Grün würde
die deutschen Steuerzahler, wenn Rot-Grün die Mehrheit
bekäme, mit 30 bis 40 Milliarden Euro zusätzlich belasten - und das bei Rekordsteuereinnahmen von über
600 Milliarden Euro. Das ist absolut falsche Politik.
Frau Andreae und andere Grüne laufen auch Sturm
gegen die Vermögensteuerpläne der eigenen Partei. Sie
warnen vor der Substanzbesteuerung, die der Möchtegern-Finanzminister Jürgen „Bilderberg“ Trittin einführen will. Aber Herr Trittin hat noch ein zusätzliches
Konzept: eine Vermögensabgabe von 100 Milliarden
Euro obendrauf, also Abgabe plus Wiedereinführung der
Vermögensteuer. Das alles geht nicht ohne Einbeziehung
der Betriebsvermögen; es wäre sonst auch verfassungswidrig. Herr Trittin hat kürzlich sogar erklärt, die Vermögensabgabe rückwirkend einziehen zu wollen.
({14})
Auch das halte ich für einen Verfassungsbruch. Das ist
eine grottenfalsche Politik, die den Mittelstand voll trifft.
({15})
Man liest im Spiegel, dass Herr Trittin bei internen
Sitzungen rumgebrüllt habe und gewarnt habe vor dem,
was sich politisch abzeichne. Das zeigt: Er ist nervös.
Die Grünen selber merken: Rot-Grün schwimmen die
Felle davon. - Rot-Grün kann sich keiner leisten und
will sich auch keiner leisten. Der aufziehende Wahlkampf muss deshalb mit aller Härte und Deutlichkeit geführt werden, damit der Mittelstand eine faire Chance
hat.
Wir schlagen in unserem Antrag 20 Punkte vor, damit
der Mittelstand in Deutschland weiter gute Chancen hat:
Wir wollen die kalte Progression abbauen. Wir wollen
Basel III - ({16})
- Weil der Bundesrat mit Ihnen dabei, also Rot-RotGrün, blockiert.
({17})
Es ist doch immer das Gleiche. Fällt den Sozis etwas ein,
muss es eine neue Steuer sein. Wer ist mit dabei? Die
grüne Partei. - Das ist die Gefechtslage in Deutschland.
({18})
- Ja, schreien Sie nur rum! Die Bürger werden entscheiden,
({19})
ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrer
Gulasch gemacht wird, also Ihr Rückmarsch in die Vorstellungen von vorgestern stattfindet.
({20})
Lassen Sie doch den Karl Marx in seinem Museum!
Kommen Sie doch nicht wieder mit den alten Klamotten
heraus!
({21})
Sie müssen doch mal was dazulernen! Das ist ja Museumspolitik, was Sie betreiben!
({22})
Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland klare Weichenstellungen. Wir brauchen mehr richtige Ingenieure und weniger rot-rot-grüne Sozialingenieure.
Vielen Dank.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns jetzt ausnahmsweise mal über Mittelstandspolitik reden! Diese dampfplaudernden Reden
nützen dem Mittelstand überhaupt nichts, Herr Brüderle.
({0})
Ich finde, Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie
hier morgens Karnevalsreden halten, längst von der
Realität mittelständischer Unternehmen verabschiedet.
({1})
Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand
ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Das wird verschiedentlich von allen Parteien so beschrieben. Aber klar ist
auch, dass der deutsche Mittelstand von dieser Bundesregierung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Er
ist gleichwohl erfolgreich. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, was der neue
Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat - mit Verlaub, ich darf es zitieren -:
Auch wenn wir derzeit gut dastehen: Zu wenig Reformen und Innovationen dürfen wir uns nicht leisten, sonst ist unser Vorsprung schnell weg.
Wenn Sie uns nicht glauben und Herrn Schweitzer
nicht glauben, der ja aus der FDP ausgetreten ist, Herr
Brüderle, dann glauben Sie bitte dem Institut der deutschen Wirtschaft - keine Vorfeldorganisation der SPD -,
das dieser Bundesregierung ins Stammbuch schreibt,
dass sie nur von Entscheidungen von Vorgängerregierungen, vom Mut zu Strukturreformen aus rot-grüner
Zeit profitiert und diesen Vorsprung durch das Chaos
schwarz-gelber Politik aufbraucht.
({2})
- Übrigens: August Bebel war ein Handwerksmeister.
Sie haben ja gar keine Ahnung von Geschichte; das haben Sie verschiedentlich bewiesen.
Ich sage Ihnen: Das einzig gute Schwarz-Gelb war
gestern Abend Dortmund.
({3})
Aber das, was Sie für den Mittelstand leisten, ist tatsächlich nichts, für das Sie sich rühmen können.
Wie ist die Situation in Deutschland? Der BDI, der
Bundesverband der Deutschen Industrie, der auch mittelständische Unternehmen vertritt, beklagt einen massiven Verfall der öffentlichen Infrastruktur im Land. Der
Nord-Ostsee-Kanal muss gesperrt werden, weil diese
Bundesregierung mit Herrn Ramsauer zu wenig in die
Infrastruktur, auch in die wirtschaftsnahe Infrastruktur in
diesem Land investiert. Das ist die Wirklichkeit. Autobahnbrücken müssen gesperrt werden, weil Sie nicht in
der Lage sind, die notwendigen Investitionen zu schultern. Das schadet der Wirtschaft, auch dem Mittelstand
in Deutschland.
({4})
Hubertus Heil ({5})
Meine Damen und Herren, hier muss ich Ihre dünnen
Anträge zum Thema Mittelstandspolitik lesen und diese
oberflächlichen Reden von Herrn Brüderle anhören.
Sprechen Sie einmal mit real existierenden Mittelständlern in Deutschland - mit Handwerksmeistern, mit Familienunternehmern, mit einer freien Selbstständigen,
mit einer Existenzgründerin -, dann stellen Sie fest:
Diese haben ganz andere Sorgen als das, was Sie hier an
die Wand malen. Sie haben ganz konkrete Ansprüche.
Der Unterschied zwischen Ihrer Bundesregierung und
dem guten deutschen Mittelstand ist: Im guten deutschen
Mittelstand gibt es Unternehmer, die etwas unternehmen. Sie sind eine Regierung, die etwas unterlässt.
({6})
Nun zu unseren Anträgen und zu unseren Vorschlägen. In genau vier Bereichen sagen wir sehr konkret, was
wir unter einer ambitionierten, einer zukunftsgerichteten
Mittelstandspolitik in Deutschland verstehen.
({7})
Erstens. Was kann und muss getan werden für qualifizierte Fachkräfte in diesem Land? Zu diesem wichtigen
Thema haben Sie keinen Satz gesagt. Es sind vor allen
Dingen die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
Herr Brüderle, die unter Fachkräftemangel leiden werden. Die großen Konzerne können sich Personalrekrutierungen leisten. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht. Deshalb muss etwas getan werden, damit
Frauen und Männer in diesem Land arbeiten können, damit sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen, das Arbeitsvolumen von Frauen in diesem Land tatsächlich
entfalten kann. Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit
von Beruf und Familie statt Ihres idiotischen Betreuungsgeldes. Das trägt zur Fachkräftesicherung bei.
({8})
Wir müssen jungen Menschen eine Chance geben.
60 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr die
Schule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen
zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche
Erstausbildung. Das duale System der beruflichen
Erstausbildung ist unser Standortvorteil. Darum hätte
sich diese Regierung kümmern müssen. In diesem Bereich haben Sie nichts getan.
({9})
Zweites Thema: Innovationsanreize, Investitionen in
Forschung und Wissenschaft. Wir haben in Deutschland
einen hochinnovativen Mittelstand. Aber von der öffentlichen Forschungsförderung dieser Regierung profitieren
nur Großunternehmen, kleine und mittelständische Unternehmen nicht.
({10})
Wo ist eigentlich die steuerliche Forschungsförderung
geblieben, die Sie dem Mittelstand versprochen haben?
Wir werden steuerliche Forschungsförderung einführen,
damit wir privates Kapital stärker in Forschung und Entwicklung gerade im Mittelstand lenken können, damit
der Mittelstand davon profitieren kann.
({11})
Was tun Sie eigentlich für Existenzgründer? Sie haben den Gründungszuschuss plattgemacht, ein wesentliches Instrument für Menschen, die den Mut haben, sich
selbstständig zu machen, um mit einer Markteinführung
tatsächlich nach vorne zu kommen. Hier haben Sie am
falschen Ende gestrichen. Sie haben nichts getan. Wir
werden etwas tun, zum Beispiel im Bereich der Investitionszulagen. Wir brauchen eine Gründerkultur in
Deutschland. Die Sozialdemokraten stehen an der Seite
derjenigen, die den Mut haben, sich mit guten Konzepten selbstständig zu machen, aber im Moment von Ihnen
sträflich vernachlässigt werden. Sie bekommen am Kapitalmarkt oft nicht die nötige Unterstützung. Deshalb
werden wir in diesem Bereich handeln.
({12})
Drittens. Die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Ich habe
schon über Verkehrswege gesprochen. Wir müssen aber
genauso über die Frage der Breitbandinfrastruktur in diesem Land sprechen. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, die es oft auch im ländlichen Raum
gibt, ist die Tatsache, dass Sie beim Ausbau des schnellen Internets nicht von der Stelle gekommen sind, mittlerweile zum Standortnachteil geworden. Bei allem Jubel über unsere Stärke müssen wir feststellen, dass
Deutschland gegenüber anderen Ländern beim schnellen
Internet zurückgefallen sind. Wer ist zuständig? Ihre Regierung. Wer hat nichts getan? Ihre Regierung. Warme
Worte, Herr Brüderle, solche Reden, wie Sie sie hier halten, schaffen keinen Arbeitsplatz. Sie befriedigen mit Ihrer Art und Weise vielleicht einige in Ihren Reihen, aber
sie nützen der deutschen Wirtschaft nichts. Im Bereich
Breitband haben Sie nichts getan.
({13})
Zum Bereich der Energiepolitik haben Sie auch keinen Satz verloren. Gerade der Mittelstand in Deutschland leidet unter Ihrem energiepolitischen Chaos. Sie haben Planungs- und Investitionssicherheit in Deutschland
zerstört. Sie belasten Unternehmen mit immer höheren
Strompreisen. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Sie
haben nichts getan, um in den letzten vier Jahren eine
neue Ordnung am Strommarkt durchzusetzen. In diesem
Bereich werden wir viel aufräumen müssen,
({14})
damit der Mittelstand von den Chancen der Energiewende profitieren kann und damit die Energiewende
nicht zum wirtschaftlichen und sozialen Risiko für
Deutschland wird. Auch das unterscheidet uns.
({15})
Hubertus Heil ({16})
Viertens. Im Mittelstand, Herr Brüderle, sind vor allen Dingen die klassischen Werte der sozialen Marktwirtschaft gefragt; das sind Maß und Mitte, Anstand und
Augenmaß. Es sind gerade die deutschen Mittelständler,
die über die Exzesse auf den Finanzmärkten entsetzt
sind. Es sind gerade die mittelständischen Unternehmen,
die in den letzten Jahren erlebt haben, dass in vielen
Bereichen der Finanzwirtschaft Finanzdienstleistungen
nicht mehr Dienstleistungen waren, vielmehr umgekehrt
die Realwirtschaft, also auch der deutsche Mittelstand,
als Dienstleister für Zocker auf den Finanzmärkten behandelt wurde. Das hat die mittelständischen Unternehmen, also diejenigen, die reale Werte schaffen und nicht
spekulieren, richtig erzürnt. Die Unternehmen in diesem
Land nehmen es einem übel, wenn mit ihrem Vermögen,
mit ihrer Zukunft und mit ihren Arbeitsplätzen gespielt
wird. Wir fragen uns deshalb: Wie regulieren wir den Finanzmarkt so, dass in die Realwirtschaft, also in Industrie und Mittelstand, investiert wird? Das ist die zentrale
wirtschaftliche Frage.
({17})
Heute wird Herr Rösler seine Wachstumsprognose für
dieses und nächstes Jahr vorlegen. Sie sind stolz auf ein
Wachstum von 0,5 Prozent. Das ist ein schmales Wachstum in diesem Jahr.
Herr Kollege!
Sie prognostizieren vor dem Hintergrund der Bundestagswahl ein Wachstum von 1,6 Prozent. Wir müssen erheblich etwas dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Denn die Wachstumserwartungen stehen durch die EuroKrise auf tönernen Füßen. Der deutsche Mittelstand
braucht daher starke politische Partner. Schwarz-Gelb ist
das nicht. Das zeigt sich auch in diesen Tagen. Schauen
Sie sich einmal an, was Ihnen die Unternehmer ins
Stammbuch schreiben. Von Wirtschaftspolitik hat diese
Bundesregierung keine Ahnung.
({0})
Christian von Stetten ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn Sie heute Morgen in die Wirtschaftsteile der deutschen Tageszeitungen schauen, dann können Sie viel
über große Automobilkonzerne, über Versicherungskonzerne und über große börsennotierte Technologieunternehmen lesen. All diese sind sicherlich wichtige Unternehmen für die Bundesrepublik Deutschland. Aber das
Rückgrat der deutschen Wirtschaft, der Garant für die sicheren Arbeitsplätze sind und bleiben der Mittelstand
und insbesondere die deutschen Familienunternehmen.
({0})
Es gibt 3,7 Millionen mittelständische Unternehmen
in Deutschland. Diese Firmen sind das Herz unserer
Wirtschaft. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir so gut
aus der Krise gekommen sind. Sie stellen immer noch
71 Prozent aller Erwerbstätigen. 83 Prozent der Auszubildenden werden im Mittelstand ausgebildet. All das
sind stolze Zahlen. Aber: Wir sollten diese Zahlen nicht
nur in der heutigen Debatte hochhalten, sondern die
Wichtigkeit und die Wertschätzung dieser Betriebe auch
in unserer täglichen Gesetzgebung unterstreichen.
Dass der Mittelstand heute gut dasteht, hat Herr
Brüderle bereits ausgeführt. Die Bundesregierung stützt
diese positive Entwicklung durch zahlreiche Maßnahmen. Wir haben Maßnahmen zur Fachkräftesicherung
ergriffen. Wir haben mithilfe des Normenkontrollrates
die Bürokratiekosten um 12 Milliarden Euro gesenkt.
Wir haben die Mittel des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand um 500 Millionen Euro aufgestockt.
Wir haben diverse Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzierung des Mittelstands auf den Weg gebracht.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag zahlreiche
weitere Beschlüsse gefasst, um den Mittelstand, die mittelständischen Betriebe und die Mitarbeiter zu entlasten.
Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - das wurde vorhin bereits deutlich gemacht -,
haben diese Gesetze mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat
gestoppt und somit verhindert. Die kalte Progression,
also die sogenannte Facharbeiterfalle, ist vorhin schon
angesprochen worden. Ich denke aber auch an die energetische Gebäudesanierung oder an die Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen für Rechnungen und Belege. All
das sind sinnvolle Maßnahmen, die Sie hier verhindert
haben.
Wenn jetzt einer einen Zwischenruf macht - ({1})
- Sie werden aber kommen.
({2})
Wenn jetzt einer von Ihnen sagt, dass dies keine sinnvollen Maßnahmen seien, dann fragen Sie einmal Ihren
Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, wie er darüber
denkt. Es stimmt: Die SPD hat, genau wie die Grünen,
die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen abgelehnt.
Keine zwei Monate später, am 4. März dieses Jahres, hat
die IHK Siegen Herrn Steinbrück eingeladen, um seine
Thesen zu sozialdemokratischer Mittelstandspolitik zu
präsentieren. Einer der Teilnehmer hat mir das vom
Kanzlerkandidaten verteilte und anschließend auch vom
Willy-Brandt-Haus an die Medien verschickte Thesenpapier zukommen lassen. Da steht bei Punkt 7 unter der
Überschrift „Der Mittelstand braucht Beinfreiheit“ - ich
zitiere Peer Steinbrück -:
Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kostenträchtige Regelungen abgeschafft werden:
- und dann fordert er Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rechnungen und Belege …
({3})
Da bin ich zwar überrascht, aber ich kann zu 100 Prozent
zustimmen.
Wenn sich jetzt plötzlich CDU/CSU, FDP und der
Kanzlerkandidat der SPD bei dieser wichtigen Maßnahme für den Mittelstand einig sind, dann sollten wir
das entsprechende wichtige Gesetz zum Wohl des deutschen Mittelstandes noch vor der Wahl gemeinsam und
ohne Streit hier im Deutschen Bundestag verabschieden.
({4})
Liebe Kollegen, wir haben dieses gemeinsame Anliegen von Peer Steinbrück und den Koalitionsfraktionen
jetzt auch sofort wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Gestern hat der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages über die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen entschieden. Wir von CDU/CSU und FDP
haben Wort gehalten und mit Mehrheit zugestimmt. Und
was haben die Kollegen der SPD-Fraktion gemacht? Sie
haben ihren Kanzlerkandidaten im Stich gelassen und
gegen dessen eigenen Vorschlag gestimmt. - Herr
Steinbrück hatte von Ihnen etwas Beinfreiheit verlangt.
Und was haben Sie gemacht? Sie haben ihm die Beine
einfach abgeschlagen.
({5})
Sie haben heute Nachmittag, wenn wir im Deutschen
Bundestag abschließend über den Gesetzentwurf debattieren, die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren und
diesem Gesetzentwurf zum Bürokratieabbau zuzustimmen.
Wer das gesamte Wahlprogramm der SPD liest, der
wird feststellen, dass die Vorstellungen des SPD-Kanzlerkandidaten im Wirtschaftsbereich überhaupt nicht
mehr vorkommen. Die vereinigte Linke in der SPD hat
sich komplett durchgesetzt.
({6})
Das geht sogar so weit, dass der SPD-Landesvorsitzende
aus Baden-Württemberg, Nils Schmid, und der grüne
Ministerpräsident Kretschmann zwei Tage vor dem
SPD-Bundesparteitag in Augsburg gemeinsam einen
Brandbrief an den SPD-Bundesvorsitzenden geschrieben
haben, in dem sie vor den Folgen des eigentlichen Programms gewarnt haben.
({7})
Sie warnten vor den Folgen der Substanzbesteuerung
und insbesondere vor deren katastrophalen Auswirkungen auf Mittelstand und Familienunternehmen. Und, hat
dieser Protest etwas genutzt?
({8})
Nein, im Gegenteil: Am Ende des Tages hat sogar der
Protestbriefschreiber Nils Schmid diesem Wahlprogramm zugestimmt.
({9})
Gott sei Dank ist es noch nicht Gesetz; es darf auch nie
Gesetz werden. Alle SPD-Delegierten, auch die aus
Baden-Württemberg, haben diesem Mittelstandsgefährdungsprogramm, bestehend aus höherer Einkommensteuer, höherer Erbschaftsteuer, zusätzlicher Vermögensteuer und zusätzlicher Bürokratie, einstimmig
zugestimmt. Das ist sozialdemokratische Mittelstandspolitik, meine Damen und Herren.
({10})
Die Wiedererhebung der Vermögensteuer und die Erhöhung der Erbschaftsteuer sind Gift für unseren Mittelstand.
({11})
Sie führen zu einer Besteuerung der Substanz, selbst
wenn das Unternehmen Verluste macht. Natürlich würde
die Umsetzung der Vorschläge der Opposition zu einer
Art Wettbewerbsverzerrung zugunsten der börsennotierten Unternehmen und zulasten der Familienbetriebe führen. Die großen DAX-Konzerne hätten mit der Einführung einer Vermögensteuer überhaupt keine Probleme,
und eine Verdopplung der Erbschaftsteuer ist den DAXKonzernen auch egal. Aber unsere mittelständischen Betriebe, die Familienbetriebe, müssen diese zusätzlichen
Kosten in ihre Preiskalkulation mit einrechnen. Dann ist
doch klar, wer in Zukunft bei Ausschreibungen den
günstigeren Preis anbieten kann. Das, was Sie verlangen,
führt zu Wettbewerbsverzerrung. Wir werden das selbstverständlich verhindern.
({12})
Ihre Fraktion allerdings, Herr Bartsch - Sie sind ja der
nächste Redner für die Linksfraktion -,
({13})
hat in der Mittelstandsdebatte den Vogel abgeschossen.
({14})
Mit Ihrer Forderung nach einer jährlichen Vermögensteuer
({15})
in Höhe von 5 Prozent bezogen auf den Verkehrswert
kommen Sie einer Enteignung der betroffenen Bürger
nahe.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss.
({17})
In unserem heute zur Abstimmung gestellten Antrag
„Stabilität, Wachstum, Fortschritt - Den starken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest machen“ wird
deutlich, wie wichtig unserer Fraktion der deutsche Mittelstand ist. Durch unser Regierungshandeln werden wir
das auch weiter unter Beweis stellen.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich erteile dem Kollegen Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von
Stetten, ich bedanke mich für die Ankündigung. Wenn
ich Herrn Brüderle und Ihnen zuhöre und wenn ich den
Titel der Unterrichtung lese: „Bericht über den Erfolg
der Programme …“, dann werde ich an eine Zeit erinnert, die lange vorbei ist. Fragen Sie einmal die Ossis in
Ihrer Fraktion; sie wissen, wie das ist, wenn nur von Erfolgen berichtet wird.
({0})
Halten Sie es lieber mit dem Altbundeskanzler Kohl, der
gesagt hat: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“
Ich finde, das sollte der Maßstab sein.
({1})
Es reicht, eine Zahl zu nennen: 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Das ist faktisch nichts. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, die Sie hier zu verantworten haben.
({2})
Nur die realen Ergebnisse zählen wirklich.
({3})
Völlig unbestritten ist: Der Mittelstand in Deutschland hat viel geleistet. Ich war selber einige Jahre Unternehmensberater.
({4})
- Ja, da kann ich Ihnen viel erzählen. - Ich habe erlebt,
wie dort agiert wird. Aber der Mittelstand ist nicht nur
eine Geisteshaltung, der Mittelstand ist viel differenzierter. Es gibt sehr unterschiedliche Unternehmen in diesem
Bereich, sodass man sie nicht über einen Kamm scheren
kann.
Gerade weil der Mittelstand in der deutschen Wirtschaftslandschaft eine herausragende Bedeutung hat,
muss man ihn differenzierter fördern und zielgenauer
agieren. Man muss vor allen Dingen seine Wettbewerbsposition gegenüber den Großunternehmen stärken und
darf das nicht nur ankündigen, Herr von Stetten. Was ist
denn geblieben von der Steuervereinfachung, die Sie in
Ihrem Wahlprogramm angekündigt haben? Wie sieht es
in der Realität aus? Nahezu nichts!
Ich will aus Ihrem Antrag zitieren. Dort steht:
Deutlicher denn je zeigt sich, dass die Selbstständigen und die kleinen und mittelgroßen Unternehmen … insbesondere auch in Ostdeutschland … das
Rückgrat unserer Wirtschaft bilden.
Dieses Selbstlob steht in völligem Widerspruch zur
Realität. Auch 23 Jahre nach der deutschen Einheit ist
die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern doppelt so
hoch wie in den alten Ländern, die Löhne befinden sich
auf dem niedrigsten Niveau, wir haben weiterhin eine
hohe Abwanderungsquote, und wir haben weiterhin
1,5 Millionen Pendlerinnen und Pendler. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Die Bundeskanzlerin ist zwar nicht da, aber lassen Sie
mich einmal konkret auf unser gemeinsames Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommen. Mecklenburg-Vorpommern wird, wie andere norddeutsche
Bundesländer, mit der finanziellen Hilfe für die Werften
jetzt alleingelassen. Der Bund will das Bürgschaftsprogramm nicht weiterführen. Einen falscheren Zeitpunkt
dafür kann es überhaupt nicht geben.
({5})
Jetzt, wo sich die Werften auf die Bereiche Spezialschiffbau und Offshoreprodukte ausgerichtet haben,
streichen Sie das Programm. Das ist mittelstandsfeindlich; denn die Werften bei uns in Mecklenburg-Vorpommern sind nichts anderes als Mittelstand. Sie als FDP
verhindern die Förderung.
({6})
Die Linke ist eine mittelstandsfreundliche Partei.
({7})
Ich will Ihnen das an einigen Punkten darlegen:
Der Mittelstand hat überall, aber besonders in den
neuen Ländern, Finanzierungsprobleme. Es geht um Finanzquellen, es geht aber auch um Finanzierungskonditionen. Die Finanzkrise hat die Probleme verstärkt. Fakt
ist - Sie wissen das -: Kreditanträge von Kleinunternehmen mit weniger als 1 Million Euro Jahresumsatz werden deutlich öfter abgelehnt als Anträge von Unternehmen mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz. Das sind
letztlich wettbewerbsverzerrende Rahmenbedingungen
zulasten der Mittelständler. Wir setzen deshalb vor allen
Dingen auf eine sichere Finanzierung durch Sparkassen
sowie Volks- und Raiffeisenbanken und nicht auf Ret29660
tungsmilliarden für Großbanken und deren Aktionäre.
Das haben Sie in den letzten Jahren gemacht.
({8})
Die privaten Großbanken haben sich häufig aus dem
normalen Geschäft mit dem Mittelstand zurückgezogen.
Das ist gerade in den neuen Ländern zu beobachten. Da
gibt es diese Geschäftsbeziehungen faktisch nicht mehr.
Gott sei Dank gibt es die Sparkassen und Volksbanken,
die das übernehmen.
Der öffentliche Finanzsektor muss stärker auf die Finanzierung des Mittelstandes verpflichtet werden.
Außerdem müssen wir die Rolle der Sparkassen weiter
stärken, weil nur darüber die notwendige Eigenkapitalquotenerhöhung und -stärkung möglich ist. Häufig sind
es Kleinstkredite, die benötigt werden, und die sind häufig sehr schwierig zu bekommen.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, der
auch unter den Mittelständlern unserer Partei umstritten
ist: das Thema Mindestlohn. Aber unsere Position ist
klar: Wir sind und bleiben bei unserer Forderung nach
der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von
10 Euro, weil dadurch gleiche Wettbewerbsregeln für
die Unternehmen geschaffen werden. Es darf kein Geschäftsmodell sein, über Aufstocker Vorteile zu erzielen.
Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, der im Übrigen auch die Kaufkraft und die Nachfrage für Handwerk und Dienstleistung stärkt.
({9})
Die Energiewendepolitik ist für den Mittelstand ein
ganz großes Problem. Eigentlich ist das gar keine Energiewendepolitik; denn das einzig Zuverlässige an Ihrem
Kurs ist, dass für die Mittelständler nichts sicher, nichts
planbar ist. Wer den Mittelstand fördern will, der muss
die Macht der Energiemonopole brechen und für stabile
Strom- und Gaspreise sorgen. Das ist Ihre Aufgabe, damit der niedrige Strompreis an der Leipziger Strombörse
auch beim Mittelständler ankommt. Sie begünstigen einseitig stromintensive Großunternehmen. Das ist die Realität.
Außerdem brauchen wir mehr Aufträge für den Mittelstand; auch das ist klar. Schauen Sie sich einmal Ihre
Investitionspolitik in den letzten vier Jahren an: Bei jeder Haushaltsberatung hat die Opposition zu Recht kritisiert, dass die Investitionen viel zu gering sind. Mit Investitionen sanieren wir doch die Infrastruktur, tun wir
etwas für Schulen, Krankenhäuser etc. und schaffen damit Aufträge auch für den Mittelstand.
Wir brauchen auch ein anderes Vergabegesetz. Kleinere Lose sind notwendig, weil die öffentlichen Auftraggeber - egal ob unter CDU, SPD oder der Linken - sonst
überhaupt keine Chance haben. Wenn Sie die regionale
Wirtschaft wirklich fördern wollen, dann brauchen wir
diesbezüglich ein anderes Herangehen.
({10})
Die Linke hat im Übrigen seit vielen Jahren einen eigenen Unternehmerverband - OWUS -, von dem wir
viele Hinweise für unsere Politik bekommen, was sehr
vernünftig ist, denn diese Hinweise helfen uns dann auch
gerade in der Sozialpolitik.
Ich will vor allen Dingen auf eines verweisen: Wir haben in Berlin den Wirtschaftssenator gestellt, hatten Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern
und stellen jetzt in Brandenburg den Wirtschaftsminister.
Sie alle können eine sehr erfolgreiche Politik vorweisen.
Harald Wolf hat in Berlin unter einer rot-roten Regierung endlich einen einheitlichen Unternehmensservice
geschaffen. Er hat außerdem in Berlin/Brandenburg eine
Clusterentwicklung gefördert. Und weil wir letzte Woche die Diskussion über die Frauenquote in Aufsichtsräten hatten: In Berlin hat Harald Wolf als Wirtschaftssenator und zugleich Frauensenator den bundesweit
höchsten Anteil von Frauen in Aufsichtsräten öffentlicher Unternehmen erreicht. Das kann sich doch wirklich
sehen lassen.
({11})
Jetzt habe ich eine umfassende Erfolgsgeschichte,
muss aber leider wegen der Redezeit abbrechen; ich
weiß, Herr Präsident. Lassen Sie mich nur noch ein kleines Beispiel nennen. Helmut Holter hat in meinem Bundesland ein Mikrodarlehensprogramm für Existenzgründer geschaffen. Die Welt - wirklich keine linke Zeitung hat geschrieben, das sei europaweit einmalig. Dieses
Lob gehört hierher.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Tobias Lindner ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Geständnis beginnen:
({0})
Als ich heute morgen zu dieser Debatte gegangen bin
- es war ja die Koalition, die sie auf die Tagesordnung
gesetzt hat -, da hatte ich als junger Abgeordneter tatsächlich für einen Moment die naive Hoffnung, Sie, Herr
Brüderle, würden etwas über die Inhalte Ihrer Mittelstandspolitik erzählen. Einen Moment lang hatte ich
diese naive Hoffnung.
Nun ist es ja so, dass ich als Pfälzer Sie auch phonetisch dekodieren kann.
({1})
Wir haben von Ihnen keine Bilanz und auch keine großen Zukunftspläne der Koalition gehört. Nein, es gab nur
die Aussage: Deutschland geht es gut. - Da würde ich
Ihnen in einigen Punkten überhaupt nicht widersprechen. Ansonsten besteht das mittelstandspolitische Programm dieser Koalition einzig und allein noch in Abwehrreaktionen und Halbwahrheiten im Hinblick auf
grüne und zugegebenermaßen auch rote Steuerpolitik.
Wenn das Ihre Mittelstandspolitik ist, dann ist das ein
Armutszeugnis.
({2})
- Es muss nicht immer alles im Manuskript stehen, Herr
van Essen.
Unternehmen in Deutschland - vor allen Dingen Mittelständlern - geht es um drei Dinge: Chancengleichheit,
Planbarkeit und Durchschaubarkeit von Regeln.
Fangen wir mit der Chancengleichheit an und sprechen kurz über Steuern. Deutschland gehen durch kreative und aggressive Steuergestaltung multinationaler
Großunternehmen jährlich schätzungsweise bis zu
150 Milliarden Euro an Steuern verloren. Weltbekannte
Kaffeehäuser und internationale Buchketten zum Beispiel zahlen hier so gut wie keine Steuern. Der deutsche
Mittelstand kann entsprechende Steuergestaltungsschlupflöcher allerdings nicht nutzen. Das ist alles andere als Chancengleichheit. Da müssen wir gerade im
Interesse des deutschen Mittelstands gegensteuern.
({3})
Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Punkt eingehen. Die wichtigste Voraussetzung, damit es dem Mittelstand in diesem Land gut geht, sind vernünftige Rahmenbedingungen, ist eine gute Infrastruktur,
({4})
die nicht einzig und allein aus Beton besteht, sondern
zum Beispiel auch Breitbandinternetanschlüsse und die
Verfügbarkeit von Fachkräften umfasst.
({5})
Der wichtigste Rohstoff, den wir in diesem Land haben, ist Grips. Die wichtigsten Voraussetzungen sind
eine gute Bildungspolitik und eine gute Fachkräftepolitik.
({6})
Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, und
dafür brauchen wir auch und gerade einen Staatshaushalt, der endlich einmal die Altschulden in den Blick
nimmt und die Voraussetzungen für vernünftige Finanzen und dauerhaft stabile Rahmenbedingungen schafft.
Deshalb fordern wir von Bündnis 90/Die Grünen eine
zeitlich befristete und zweckgebundene Abgabe auf
hohe Vermögen.
({7})
Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt - es ist
schon interessant, dass man das gerade einer vermeintlich bürgerlichen Regierung erklären muss -: Es muss
erst etwas erwirtschaftet werden, bevor man etwas verteilen kann.
({8})
- Ja. - Bevor Sie über Steuern reden, sollten Sie besser
einmal über die Voraussetzungen reden, die erfüllt sein
müssen, um Gewinn zu erzielen. Diesbezüglich war Ihre
Rede, lieber Herr Brüderle, ganz schwach.
Ich will noch etwas zum Thema Planungssicherheit
sagen: Das Gegenteil von Planungssicherheit ist das,
was Sie im Moment bei der Energiewende machen. Vier
Novellen zum EEG in den letzten Jahren - können Sie
mir erklären, wie ein Mittelständler, der die Energiewende als Chance begreift, angesichts dessen Investitionsentscheidungen treffen soll? Ich kann ihm das nicht
erklären.
({9})
Jetzt reden wir einmal über Innovationspolitik. Jeder
hier im Haus hält den Begriff „Innovation“ gerne hoch:
Ja, wir müssen innovativ sein. Sie haben von „Hidden
Champions“ geredet. Es ist natürlich richtig, dass unser
Marktvorteil in den hochspezialisierten kleinen Unternehmen besteht. Aber sind in Deutschland wirklich die
Voraussetzungen gegeben, dass wir aus den Innovationen eine Menge Gewinn ziehen können? Schauen Sie
sich doch einmal den IT-Bereich an. Ich glaube nicht,
dass wir in Deutschland unbegabtere oder untalentiertere
Informatiker oder Gründer als in anderen Ländern
haben. Aber warum sind dann Firmen wie Yahoo,
Facebook oder Google in den USA entstanden? Aus
zwei Gründen: zum einen, weil an den Hochschulen in
den USA eine ganz andere Kultur herrscht und die
Strukturen dort ganz anders sind. Dort entstehen auf eine
ganz andere Art und Weise aus Ideen Unternehmen.
Zum anderen gibt es dort viel mehr privates Wagniskapital. Diese Regierung ignoriert faktisch die Frage, wie wir
zu mehr privatem Wagniskapital in Deutschland kommen, wie wir diesbezüglich die richtigen Anreize setzen
können.
({10})
Sie reden immer gerne über Bürokratieabbau und betonen, wie unbürokratisch alles sein müsste. Schauen wir
uns einmal Ihre Innovationsförderung an: Im Etat des
Bundeswirtschaftsministers findet man einen Dschungel
an Förderprogrammen. Viele größere Unternehmen können da noch gut durchblicken. Sie haben Spezialisten,
die wissen, wie man den Antrag schreibt und wo man
Geld herbekommt. Aber viele Mittelständler, die eine
Idee haben, haben weder Zeit noch Leute, um konkrete
Anträge zu schreiben. Denen wäre mit einer steuerlichen
Forschungsförderung besser gedient. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass Sie eine steuerliche Forschungsförderung anstreben. Sie hatten vier Jahre Zeit, aber Sie
haben nichts gemacht, meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Koalition.
({11})
Hubertus Heil hat schon erwähnt, was der DIHKChef über die Mittelstandspolitik dieser Bundesregie29662
rung sagt. Ihre Hightech-Strategie, zu der diese Woche
ein Treffen stattfand, wird vielfach gerade von mittelständischen Unternehmen kritisiert und als Rohrkrepierer bezeichnet. Das Problem ist, dass Sie sich auf den Erfolgen, die zu der derzeitigen Situation geführt haben,
ausruhen, anstatt die Herausforderungen der nächsten
Dekade in den Blick zu nehmen. Ich prophezeie Ihnen:
Wenn das so weitergeht, werden wir in den nächsten Jahren die Folgen Ihrer Unterlassungen zu spüren bekommen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({12})
Mittelständische Unternehmen zeichnen sich speziell in
Deutschland insbesondere dadurch aus, dass sie nicht
nur den Gewinn im Blick haben. Ja, Gewinn ist nötig,
damit ein Unternehmen am Leben bleiben und wachsen
kann. Mittelständische Unternehmen übernehmen aber
auch Verantwortung, Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für ihre Familien und für die Eigentümer. Mittelständische Unternehmen denken über
den Tag hinaus und haben ein breites Blickfeld. Das
muss eine Mittelstandspolitik in den Blick nehmen.
Diese Eigenschaften muss man bei einer Politik für den
Mittelstand berücksichtigen. Das Gegenteil davon ist
das, was Sie tun. So kann und darf es nicht weitergehen.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die Bundesregierung erhält nun der Bundeswirtschaftsminister das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist ihre
Struktur im Allgemeinen und die mittelständische Struktur im Speziellen. Ja, es ist richtig: Unsere mittelständischen Unternehmer sind regional tief verwurzelt. Sie
leisten Hervorragendes. Sie bringen hervorragende Produkte, Technologien und Dienstleistungen auf den
Markt. Sie haben ein hervorragendes Verhältnis zu ihren
Beschäftigten, und sie sind weltweit anerkannt.
Deswegen bin ich den Regierungsfraktionen sehr
dankbar dafür, dass sie genau dieses Thema heute auf die
Tagesordnung gesetzt haben. Denn eines ist doch klar:
Mittelstand ist nicht nur eine Frage von Strukturen, ist
nicht nur eine Frage von Kennzahlen, sondern - Rainer
Brüderle hat es gesagt - der unternehmerische Mittelstand in Deutschland ist weitaus mehr. Er ist eine Geisteshaltung, der sich diese Koalition in besonderer Weise
verpflichtet fühlt.
({0})
Dass Rote, Grüne und Linke kein Interesse am Mittelstand haben, das kennen wir schon.
({1})
- Das sieht man jetzt wieder an Ihren Reaktionen.
({2})
Leider mussten wir gerade in den letzten Monaten feststellen: Sie haben nicht nur kein Interesse mehr, sondern
Sie fangen jetzt auch langsam an, massiv Politik gegen
den unternehmerischen Mittelstand in Deutschland zu
betreiben.
({3})
Überall da, wo Sie in den Ländern Verantwortung tragen, machen Sie das Gegenteil von dem, was der Mittelstand in Deutschland heute braucht.
({4})
Stabiles Geld, Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit von
Energie, Forschung, Technologie und Innovationen
- dazu sollten sich die Grünen übrigens erst recht nicht
äußern - sowie neue Märkte, neue Chancen. Das sind
aktuell die Themen bei jedem Mittelstandsbesuch von
Politikern, egal welcher Fraktion.
Schauen wir uns einmal an, was Sie da machen. Ihre
Europapolitik besteht doch darin, durch Europa zu reisen
- so wie es gerade Ihr Spitzenkandidat getan hat - und
nach der Rückkehr gegen solide Haushalte zu wettern.
Das ist Ihre Europapolitik. Sie wollen eine Vergemeinschaftung von Schulden, Sie wollen am Ende EuroBonds, und das Schlimme daran ist, dass Sie hier in
Deutschland die Steuern erhöhen wollen, um die Schulden in anderen europäischen Staaten zu bezahlen.
({5})
Beim Thema Fachkräftesicherung spricht Herr
Dr. Lindner von Grips. Das finde ich schön. Aber
schauen Sie sich doch einmal rot-grüne Bildungspolitik
in den Ländern an. Als Allererstes wollen Sie das Sitzenbleiben abschaffen, um den jungen Menschen zu zeigen:
Leistung lohnt sich nicht. Das ist Ihre Bildungspolitik
und Ihr einziger trauriger Beitrag zur Fachkräftediskussion in Deutschland.
({6})
Energiepolitik. Gerade nach der letzten Woche finde
ich Ihre Haltung wirklich bemerkenswert. Sie blockieren
doch jede Reform, jeden kleinen Fortschritt bei der Verbesserung der Förderung der erneuerbaren Energien im
Sinne von Bezahlbarkeit.
({7})
Ich sage Ihnen: Sie sind durch Ihre Politik verantwortlich dafür, wenn in den nächsten Monaten die Strompreise steigen. Sie sind für jede künftige Strompreissteigerung in Deutschland verantwortlich.
({8})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ich bin jetzt so schön drin. Nein, vielen Dank.
Gut.
Nehmen wir uns einmal das Beispiel Belastungen vor.
Wenn wir Ihnen vorwerfen würden, dass Sie den Mittelstand belasten, dann könnten Sie sagen: Nein, es ist die
Aufgabe der Regierung, etwas für den Mittelstand zu
tun.
({0})
Die taz von heute - ja, ich gebe zu, ich muss mich outen,
auch ich lese die taz ({1})
hatte eine dazu passende Überschrift. Es geht in dem Artikel um die Belastungen durch Rot und Grün, insbesondere durch die Grünen und die Dinge, die Sie morgen
und am Wochenende auf Ihrem Bundesparteitag beschließen wollen. Die Überschrift lautet: „Grün am
Steuer, das wird teuer“.
({2})
All das, was Sie vorhaben, bedeutet 40 Milliarden Euro
Belastungen für den Mittelstand, für die gesellschaftliche Mitte; dazu kommen noch die neuen Pläne der
Grünen. Das ist Ihre Mittelstandspolitik für Deutschland.
({3})
Schauen Sie sich den Bereich Forschung und Technologie an. Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand. Es gilt als Goldstandard der Innovationsförderung im Mittelstand. Was ist Ihr Beitrag gerade für
junge Unternehmen, die hochkreativ sind, die hochinnovativ sind? Stichwort Wagniskapital. Sie haben durch
Ihre Politik im Bundesrat zunächst verhindert, dass es
volles Gründungskapital für junge Start-up-Unternehmen
gibt, weil Sie als Allererstes genau dieses Streubesitzkapital, dieses Gründungskapital besteuern wollten. So
sieht Ihre Innovationsförderung aus. Das ist eine
Schande, und das schadet gerade den neuen Unternehmen in Deutschland.
({4})
Neue Märkte, neue Chancen. In jeder Debatte im
Wirtschaftsausschuss wird aufs Neue kritisiert, dass der
deutsche Mittelstand exportstark ist, dass unsere Produkte, Dienstleistungen und Technologien nachgefragt
werden. Da wird kritisiert, dass wir Außenhandelsbilanzüberschüsse haben.
({5})
Diese wollen Sie reduzieren. Es ist kein Nachteil, wenn
man Überschüsse hat, sondern das ist ein Beweis für die
Leistungsfähigkeit unseres Mittelstandes in Deutschland.
({6})
Abschließend. Herr Kollege Heil, Sie haben hier mit
Grabesstimme eine Grabesrede auf den Mittelstand gehalten.
({7})
Das ist für Ihre Mittelstandspolitik bezeichnend. Erst haben Sie den Mittelstand nicht wahrgenommen, dann haben Sie ihn im Bundesrat bekämpft. Aber die Krönung
({8})
war das Thema „IHK und Übergabe der Präsidentschaft“; Sie haben davon berichtet. Ihr Spitzenkandidat
war dort ({9})
er ist ja sonst sehr geschickt - und hat den Unternehmern, dem versammelten Mittelstand in Deutschland, erzählt, dass er - Punkt eins - eigentlich gar keine Steuererhöhungen will
({10})
und dass er - Punkt zwei - eine Vermögensteuer ohne
Substanzbesteuerung will.
({11})
Ich glaube, er glaubt selber nicht daran, meine Damen
und Herren. Es fängt langsam an, dass Rote, Grüne und
Linke den Mittelstand in Deutschland verhöhnen. Das ist
Ihre Mittelstandspolitik, und das, meine Damen und
Herren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Heil das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister
Rösler, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie nicht
souverän genug waren, eine Zwischenfrage zuzulassen.
({0})
- Herr Präsident, muss ich mich vom Vorsitzenden der
CDU/CSU-Fraktion bleidigen lassen?
({1})
Ich bitte, das im Protokoll nachlesen zu lassen. Herr
Kauder, Sie können sich ja nachher entschuldigen, wenn
Sie die Größe dazu haben.
({2})
Lesen Sie diesen Begriff bitte im Protokoll nach. Wir
können das ja nachher miteinander klären.
Jetzt zur Sache. Herr Rösler, ich habe mich zu Wort
gemeldet, um mit Ihnen über Energiepolitik zu sprechen,
weil ich eigentlich den Eindruck hatte, dass Sie neben
Herrn Altmaier in den letzten Jahren der dafür zuständige Minister gewesen sind. Herr Altmaier hat einen
Vorschlag gemacht, den er nicht mit Ihnen abgestimmt
hat, unter dem Stichwort „Strompreisbremse“. Ich sage
Ihnen: Wir sind bei diesem Thema nach wie vor zu Verhandlungen bereit, und wir haben konkrete Vorschläge
gemacht. Wir haben gesagt: Wir sind bereit zu Sofortmaßnahmen beim EEG, um den Anstieg der EEG-Umlage zu bremsen. Wir haben gesagt: Wir sind bereit,
darüber zu reden, wie wir die Befreiungstatbestände bei
den Ausnahmen für energieintensive Betriebe mit Augenmaß regeln können. Außerdem haben wir den Vorschlag
gemacht, die Stromsteuer zu senken. Das sind konkrete
Vorschläge.
Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie, weil Sie
als zuständiger Minister sich nicht mit Herrn Altmaier
einig sind - das ist ein Teil des Problems der Energiewende -, von Ihrer Uneinigkeit ablenken wollen, indem
Sie versuchen, den Schwarzen Peter anderen zuzuschieben. Sie tragen als Regierung seit 2009 in Deutschland
die Verantwortung für die Energiepolitik. Sie sind Ihrer
Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie sind Zickzack gefahren und haben die Planungs- und Investitionssicherheit kaputtgemacht. Deshalb meine ganz klare
Bitte, Herr Rösler: Erzählen Sie dem deutschen Mittelstand keine Märchen, wenn die EEG-Umlage und die
Energiepreise im Herbst dieses Jahres, vielleicht auch
schon im August, massiv steigen werden. Sie sind dafür
verantwortlich, niemand sonst.
({3})
Zeigen Sie nicht mit dem Finger auf andere!
Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie es in vier
Jahren nicht geschafft, gemeinsam als Regierung einen
klaren Vorschlag im Hinblick auf ein neues Strommarktdesign bzw. eine neue Ordnung am Strommarkt zu machen? Im Bereich der Energiepolitik sind Sie eine Nichtregierungsorganisation.
Übrigens habe ich keine Grabesrede auf den Mittelstand gehalten. Wir haben einen starken und guten Mittelstand. Wenn Sie zugehört hätten - das haben Sie vielleicht nicht getan; das kann sein -, hätten Sie gehört,
dass ich gesagt habe: Der Mittelstand in Deutschland ist
nicht schwach; er ist stark und gut aufgestellt. Aber er ist
darauf angewiesen, dass die Politik bzw. die Bundesregierung Rahmenbedingungen schafft, vor allen Dingen
im Bereich der Energiepolitik, die Versorgungssicherheit
und Bezahlbarkeit gewährleisten. Hier zeigt sich Ihr Versagen, Herr Rösler. Davon können Sie nicht ablenken,
indem Sie mit dem Finger auf andere zeigen. Sie haben
ausgespielt, gerade in der Energiepolitik. Wir brauchen
einen Neuanfang.
({4})
Herr Minister Rösler, zur Erwiderung.
Ich darf zunächst einmal Ihren Parteivorsitzenden,
den Kollegen Sigmar Gabriel, zitieren.
({0})
Er hat in einer Debatte, die schon etwas länger her ist,
gesagt:
Wer die ganze Wahrheit kennt, aber nur die halbe
Wahrheit nennt, ist trotzdem ein ganzer Lügner.
({1})
Herr Kollege Heil, Sie haben sehr schön dargelegt,
was Sie alles angeboten haben. Das ist auch alles richtig.
Nur, am Ende haben Sie nichts gemacht.
({2})
In all den Diskussionen und Verhandlungen, die wir geführt haben, waren Sie dagegen, haben blockiert oder
verhindert. Ich sage Ihnen: Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({3})
Wir haben Vorschläge gemacht, um die Förderung der
erneuerbaren Energien effizienter auszugestalten; um
herauszukommen aus dem bisherigen System; um die
Bezahlbarkeit sicherzustellen. Bei all diesen Maßnahmen waren Sie am Ende dagegen. Deswegen sage ich Ihnen nochmals: Sie - SPD, Grüne und Linke - werden für
alle künftigen Strompreissteigerungen allein verantwortlich sein.
({4})
Denn Sie haben im Bundesrat zusammengearbeitet - so
viel also dazu, dass SPD und Grüne auf Bundesebene
nicht mit den Linken zusammenarbeiten wollen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Brüderle, Herr Minister Rösler, bei Ihnen
beiden ist im Zusammenhang mit dem Mittelstand das
Wort „Geisteshaltung“ vorgekommen. Ich konstatiere:
Mittelstand ist für Sie etwas, was sich im Geiste abspielt,
({0})
aber nicht etwas, was in konkrete Maßnahmen mündet.
Das ist der große Unterschied zwischen dem, was Sie
dem Mittelstand anbieten, und dem, was der Mittelstand
braucht.
({1})
Wir brauchen eine konkrete Politik für den Mittelstand.
Herr Rösler, die Jacke muss ja ganz schön brennen,
wenn Sie hier derartige Pappkameraden aufbauen und
dann beschießen: wenn Sie so tun, als ob die SPD etwas
vorschlüge, was Sie zu bekämpfen hätten. Ich möchte
das im Einzelnen einmal durchdeklinieren.
Erster Punkt. Der Mittelstand braucht eine verlässliche Basis, was die Finanzierung anbetrifft. Die SPD ist
angetreten, den Wählerinnen und Wählern deutlich zu
machen, wie wir das Geld, das der Mittelstand braucht
- zum Beispiel für seine wirtschaftsnahe Infrastruktur -,
beschaffen wollen. Wenn die SPD einschließlich ihres
Kanzlerkandidaten deutlich sagt: „Der Mittelstand soll
gestärkt werden, der Mittelstand soll entlastet werden,
der Mittelstand soll auf Verlässlichkeit und Planbarkeit
setzen können“, und wenn wir sagen: „Wir werden den
Mittelstand nicht in seiner Substanz besteuern“, dann
können Sie, Herr Rösler, hier nicht immer wieder diesen
zusammengeleimten Pappkameraden aufstellen und so
tun, als müssten Sie ihn beschießen.
({2})
Das Zweite. Sie behaupten gebetsmühlenartig, dass
wir im Bundesrat etwas verhindern würden, was dem
Mittelstand nützt.
({3})
Gehen wir das einmal im Einzelnen durch: Der Mittelstand braucht die energetische Sanierung der Gebäude.
Am Verhandlungstisch sitzen zwei Parteien: auf der einen Seite der Bund, auf der anderen Seite die Länder.
Der Bund hat ein Konzept für eine steuerliche Entlastung vorlegt, dessen Umsetzung die Länder Hunderte
von Millionen Euro kosten würde.
({4})
Das können die Länder im Zusammenhang mit der
Schuldenbremse nicht stemmen. Die Bundesregierung
hat die Mittel für das KfW-Programm - die KfW ist die
Hausbank des Mittelstands - zurückgezogen. Dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Länder
gegen Ihre Vorschläge stimmen. Sie sind diejenigen, die
mit ihrem schlechten Programm zur energetischen Gebäudesanierung die Verhinderung im Bundesrat provoziert haben; deswegen wird dem Mittelstand das Geld
nicht zukommen. So wird eine Wahrheit daraus.
({5})
Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der kalten Progression. Auch da wiederholen Sie gebetsmühlenartig,
der Bundesrat sei schuld, dass die kalte Progression
nicht bekämpft werden könne. Dabei wissen Sie genau,
dass die Gelder, die dafür nötig wären - es geht um
reichlich 1 Milliarde Euro -, nicht vorhanden sind. Die
Länder wissen nicht, woher sie dieses Geld nehmen sollen - es sei denn, Sie würden die unsägliche und sinnlose
„Hotelsteuer“ abschaffen und die dadurch zusätzlich eingenommenen Gelder dafür einsetzen. Dann hätten Sie
wahrscheinlich den Bundesrat einschließlich der rot-grünen Länder an Ihrer Seite.
({6})
Wenn man danach fragt, was Sie für den Mittelstand tun,
muss man auch hier wieder sagen: Fehlanzeige. Wir
wollen etwas für den Mittelstand tun, auch bei den Finanzen.
Gehen wir ein weiteres Feld durch: Herr Brüderle, Sie
haben keinen einzigen Satz zur Fachkräftesituation und
zum demografischen Wandel gesagt. Wenn Sie tatsächlich - so wie wir - in den letzten Wochen und Monaten
mit Mittelständlern geredet hätten, dann wüssten Sie:
Für den Mittelstand ist das ein drängendes Problem. Dieses Problem hat drei Facetten.
Erstens. Wir müssen für bessere Bildung sorgen. Woher soll das Geld dafür kommen? Das Kooperationsverbot haben Sie nicht angefasst. Wir werden es anfassen.
({7})
Wir wollen, dass es eine Ausbildungsgarantie gibt, dass
junge Leute die Schule nicht ohne Abschluss verlassen.
Zweitens. In einer Debatte vor zwei Jahren, als Sie
eine Art Mittelstandspapier eingebracht haben, im Fe29666
bruar 2011, haben Sie gesagt - ich habe es noch einmal
nachgelesen -: Wir wollen mehr Frauen in den Chefsesseln. - Das ist interessant im Hinblick auf die Debatte
in der letzten Woche. Was tun Sie eigentlich, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Freizeit zu erleichtern? Sie schaffen ein Betreuungsgeld. Dieses Betreuungsgeld gehört aber abgeschafft, damit wir hier
vorankommen.
({8})
Drittens. Es stellt sich die Frage, wie wir, wenn das
gesamte Potenzial nicht reicht und wir das Potenzial der
älteren Arbeitnehmer ausgeschöpft haben, auch Menschen aus dem europäischen, dem internationalen Raum
zu uns holen können. Was tun Sie? Fehlanzeige! Die
Bluecard ist ein Witz.
Ich habe im Tagesspiegel unlängst von einem jungen
Mann gelesen, Herrn Shaam, einem Harvard-Studenten,
der hierher gekommen ist. Er kann kein Konto eröffnen,
weil er keinen Wohnsitz hat, und weil er kein Konto hat,
bekommt er keine Wohnung. Er dreht sich im Kreise.
Nur weil es Leute gibt, die ihn privat unterstützen,
konnte er hier überhaupt aktiv sein und mittlerweile
14 Arbeitsplätze schaffen. Was tun Sie eigentlich dafür,
dass Deutschland eine Willkommenskultur für diejenigen hat, die wir hier dringend brauchen? Fehlanzeige,
Herr Minister, und Sie müssten das aufgrund Ihrer Vita
eigentlich besser wissen.
({9})
Ein weiteres Thema ist die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Wir verhandeln heute indirekt zum Beispiel
auch über Public-private-Partnership. Was ist aus diesem
Instrument geworden? Schauen Sie sich einmal die
Firma „Partnerschaften Deutschland“ an, die wir gegründet haben. Die Anzahl der Projekte im Bereich PPP
ist nahe null. Das verantworten Sie. Dieses Finanzierungsinstrument, das nicht zuletzt auch für die Kommunen segensreich ist, haben Sie sträflich vernachlässigt.
Wir werden das ändern und dieses Instrument dort, wo
es sinnvoll ist, wieder einsetzen.
({10})
Ich komme nun zum Thema Energie. Herr Brüderle,
wenn Sie zu den Unternehmern gehen - wir haben das in
der letzten Zeit getan -, dann hören Sie dort immer wieder die Frage: Wie können wir die Energiepreise bezahlbar halten? - Wir haben hier Vorschläge auf den Tisch
gelegt. Was findet man bei Ihnen? In Ihrem Antrag steht
doch tatsächlich:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Energiewende mit … Augenmaß umzusetzen …
Na, großartig!
({11})
Toll! Das spiegelt Ihre Geisteshaltung wider: Man soll es
mit Augenmaß machen.
Wo sind die konkreten Projekte, zum Beispiel dafür,
das EEG so zu reformieren, dass aus dem Markteinführungsinstrument ein Marktdurchdringungsinstrument
wird, und dafür, dass die Energienetze genauso wie die
IT und die Infrastruktur im Hinblick auf die Mobilität
vorangetrieben werden? Fehlanzeige! Chaos zwischen
den Ministerien! Keine Abstimmung zwischen Europa,
dem Bund, den Ländern und den Regionen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem
Chaos kann der Mittelstand in Zukunft nicht zum stabilen Anker für die Volkswirtschaft werden. Deshalb wenden sich immer mehr Mittelständler unserer Politik zu.
Das haben wir in den letzten Monaten erfahren.
({12})
Wir hoffen, dass wir recht bald all das, was Sie in unseren Anträgen und in unserem Mittelstandspapier lesen,
durchsetzen können.
({13})
Der Mittelstand ist sowohl mit seinen Stärken als
auch mit seinen Sorgen, Nöten und Befürchtungen bei
der SPD besser aufgehoben als bei Schwarz-Gelb.
Vielen Dank.
({14})
Lena Strothmann von der CDU/CSU-Fraktion ist die
nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen,
Herr Bartsch: Dass wir in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn brauchen, zeigt doch eigentlich das
Beispiel des Friseurhandwerks sehr deutlich. Die Verantwortlichen haben das auch so bestens hinbekommen.
({0})
Deutschland geht es gut: Den Menschen in unserem
Land geht es gut, die Betriebe in Mittelstand und Handwerk haben volle Auftragsbücher, und sie schauen zuversichtlich in die Zukunft. Der gesamte deutsche Mittelstand ist seit Jahren stabil. Die mittelständischen
Unternehmen in Deutschland - das sind 99 Prozent aller
Unternehmen - haben ihre Leistungsfähigkeit immer
wieder bewiesen.
Noch nie in der deutschen Geschichte waren so
viele Menschen in Beschäftigung, noch nie wurde
ein höherer Wohlstand erreicht.
Dass wir solch einen Satz einmal in einen Antrag
schreiben können, hätten wir nie gedacht und macht uns
stolz.
({1})
Wir sind vor allen Dingen stolz auf unseren Mittelstand. In Deutschland hat der Mittelstand eine besondere
Ausprägung. Hier liegt ein Unterschied zu unseren europäischen Nachbarn. Auch in anderen Ländern gibt es
viele kleine und mittlere Betriebe; aber bei uns ist die
hohe Qualität der Arbeit der Standard. Die Treue zu den
Mitarbeitern ist fest verankert, und die Ausbildungsquote ist hoch, höher als in der Industrie.
({2})
Das unternehmerische Denken ist geprägt von Verantwortung, besonders im Handwerk auch von Familienstrukturen. Rendite um jeden Preis ist nicht das oberste
Ziel.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in der Krise 2008/2009 hat es sich gezeigt: Es
gab wenig Entlassungen. Die Verbraucher waren unbeeindruckt und sorgten für eine gute Binnenkonjunktur.
Es gab keine Kreditklemme, und die Betriebe haben relativ schnell wieder investiert. - Das ist die Basis für unseren Wohlstand in den letzten Jahren. Wir wollen diese
Basis erhalten und vor allen Dingen stärken. Steuererhöhungen, wie SPD und Grüne sie planen, sind schädlich.
Denn Mittelständler können rechnen. Einen Euro kann
man eben nur einmal ausgeben: für Steuern und Abgaben oder eben für Arbeitsplätze und Investitionen.
Mittelstand braucht also keine Steuerandrohung, er
braucht Unterstützung, zum Beispiel bei der Fachkräftesicherung. Wir stecken schon mittendrin im Fachkräftemangel. In vielen Branchen werden schon jetzt Mitarbeiter gesucht, der Markt ist praktisch leergefegt, und es
wird immer schwieriger, Stellen zu besetzen. Deshalb ist
die Fachkräftesicherung das A und O.
Das setzt aber voraus, dass wir junge Menschen zu
Fachkräften ausbilden. Das Handwerk weiß das und tut
das bereits seit Jahren. Aber im letzten Jahr konnten
15 000 Lehrstellen im Handwerk nicht besetzt werden,
und im gesamten Mittelstand waren es schätzungsweise
60 000. Das finde ich alarmierend.
({3})
Deshalb werben wir intensiv um Nachwuchs. Wir brauchen die jungen Menschen als Fachkräfte, für Führungspositionen, als Betriebsgründer, aber eben auch für
Betriebsübernahmen. Denn jedes Jahr stehen über
20 000 Handwerksbetriebe zur Übergabe an, weil die Inhaber das Rentenalter erreicht haben. Geeignete Nachfolger zu finden, wird immer schwieriger.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, der Mittelstand, das Handwerk sind bei der
Ausbildung sehr engagiert. Die Ausbildungsquote beträgt im Handwerk fast 10 Prozent. Das ist herausragend, und das muss auch so bleiben.
({4})
Wir stellen aber auch einen Trend zu mehr Bildung
fest. Immer mehr junge Menschen wollen Abitur machen. Das ist gut so. Aber Deutschland ist auch ein Industrieland. Wir brauchen mehr gewerblich-technische
Fachkräfte. Jugendliche mit gewerblich-technischen
Ausbildungen haben auf dem Arbeitsmarkt, was den
Mittelstand angeht, die besten Chancen, und sie haben
dort viele individuelle Aufstiegsmöglichkeiten, die vielen leider nicht bekannt sind.
Deshalb kommt der Berufsorientierung in den Schulen ein wichtiger Part zu.
({5})
Hier kommen Schüler und Lehrer oft zum ersten Mal mit
Mittelstand und Handwerk in Berührung. Allein im
Handwerk gibt es über 130 Ausbildungsberufe. Nach
dem Gesellenbrief gibt es noch viele weitere Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten und ebenso gute Verdienstmöglichkeiten.
Auch viele Eltern kennen die Chancen des dualen
Systems für ihre Kinder nicht. Deshalb kooperieren viele
Betriebe schon mit regionalen Schulen, zum Teil auch
mit Kindergärten. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
({6})
Wir müssen einfach mehr für die duale Ausbildung
bei unseren Jugendlichen werben. Andere Länder mit einem verschulten Berufsbildungssystem und einer akademisierten Bildung haben derzeit eine sehr hohe Zahl
arbeitsloser Jugendlicher. Der Zusammenhang ist offensichtlich: Unser Mittelstand und das duale System verhindern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in unserem
Land. Auch das gehört zum Erfolgsrezept des „German
Mittelstand“.
Obwohl das duale System bereits seit vielen Jahren
als Exportschlager gilt, waren unsere Nachbarn bislang
sehr zögerlich mit der Einführung. Ein Grund dafür war
zum Beispiel, dass es natürlich Geld kostet - für den
Staat, aber vor allen Dingen auch für die Betriebe. Noch
schrecken die Betriebe zurück; sie erkennen aber zunehmend die Chancen. Ich würde es begrüßen, wenn sich
das duale System schneller europaweit durchsetzen
würde.
({7})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es gehört aber auch zu einer ehrlichen Debatte
über die Fachkräftesicherung, dass wir sowohl gute Ausbilder als auch genügend Ausbilder brauchen. Ausbilder
sind im Handwerk unsere Meister. Das duale System
und der Meisterbrief gehören zusammen, und alle Versuche in Brüssel, den Meisterbrief auszuhöhlen, sollten wir
gemeinsam im Keim ersticken.
({8})
Die Meisterfortbildung ist nicht nur eine Ausbilderschulung, sondern auch eine Unternehmerschulung. Hier
wird das Rüstzeug für Gründung und Leitung eines Unternehmens erworben. Aber leider gehen die Gründerzahlen im Handwerk zurück. Gerade Firmengründungen
sind wichtig, weil damit Wachstum und Beschäftigung
erhalten werden.
Leider ist in Deutschland die Kultur der Selbstständigkeit noch nicht so stark ausgeprägt wie in anderen
Ländern. Selbstständigkeit und Unternehmertum erfordern Einsatz und Verantwortung; sie sind aber auch immer ein Risiko. Deshalb verdient jeder, der diesen
Schritt wagt, Unterstützung und Anerkennung.
({9})
Die Regierungskoalition und die Bundesregierung geben diese Unterstützung. Wir fördern Existenzgründer,
Innovationen und neue Ideen, wir geben Entfaltungsmöglichkeiten und helfen bei der Finanzierung. Wir helfen ausbildungswilligen Betrieben, und wir tragen zur
Fachkräftesicherung bei. Der Mittelstand in Deutschland
wird deswegen auch in Zukunft stark bleiben.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland
Claus nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Bundesminister Rösler, dass Sie nicht liefern im Amte, daran haben wir uns hier leider alle schon
irgendwie gewöhnt. Aber dass Sie jetzt die Folgen Ihres
Lieferstreiks bei der Opposition abladen wollen, das ist
schon ein starkes Stück, das wir so nicht hinnehmen
können. Das müssen wir Ihnen einmal sagen.
({0})
In schöner Regelmäßigkeit wird vor anstehenden
Wahlen hier im Parlament die Verneigung vor dem Mittelstand zelebriert. Der Mittelstand ist da skeptisch geworden. Ich verweise darauf, dass am heutigen Tage die
größte Versammlung der Mittelstandsförderer in Dresden stattfindet. Ich meine den Sparkassentag in Dresden.
Von den Sparkassen kann man mit Blick auf den Mittelstand durchaus sagen: Sie tun etwas, sie liefern; sie verdienen unsere Anerkennung und Unterstützung.
({1})
Die Sparkassen haben zu einem breiten Dialog eingeladen. Alle Foren, die in diesen Tagen dort stattfinden,
sind per Internet für die Öffentlichkeit zugänglich; es ist
zum Mitmachen eingeladen.
Meine Partei hat in Dresden gestern einen solchen
Beitrag zum Mitmachen geleistet, indem sie ihre Position zur Mittelstandsförderung eingebracht hat. Sie hat
gesagt: Internet ist ja nicht schlecht, aber man kann ja
auch einmal persönlich hingehen. - Deshalb haben die
Vertreter der Linken unsere Position dort deutlich gemacht und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des
Sparkassentages sehr herzlich begrüßt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Linke steht für eine
Wirtschafts- und Mittelstandspolitik, die kleinen und
mittelständischen Unternehmen und Existenzgründern
Chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,
von der Beschäftigte auch sorgenfrei leben können, und
die so zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer
Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Kleiner geht es
bei uns nicht.
Ich will, wie auch mein Kollege Dietmar Bartsch, auf
die Situation der ostdeutschen Mittelständler verweisen.
Ich glaube nämlich, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen im Osten über spezielle Transformationserfahrungen verfügen, das heißt über spezielle
Erfahrungen im Bewältigen von besonders schwierigen
Umbruchsituationen. Sie mussten ohne große Geldgeber
in die Selbstständigkeit, in die wirtschaftliche Entwicklung gehen.
Wir haben im Osten nach wie vor keine einzige große
Firmenzentrale. Wir haben dort im Niedriglohnbereich
einen Anteil von über 40 Prozent, das Doppelte dessen,
was wir im Bundesdurchschnitt haben. Deshalb sind
sehr viele Unternehmen darauf angewiesen, neue Entwicklungspfade beim sozial-ökologischen Umbau zu suchen, neue Entwicklungspfade zu finden, von denen wir
bundesweit viel stärker profitieren könnten, wenn wir
diesen Erfahrungsvorsprung denn auch anerkennten.
({3})
Wir müssen uns zudem auf ein schwieriges Problem
einstellen: Viele dieser jungen Unternehmen sind in der
Nachwendezeit entstanden, wenn man so will, unter den
Bedingungen einer Nachwendenarkose. Jetzt steht der
Generationswechsel an der Spitze an - die Narkose wirkt
zum Glück nicht mehr -, und es bedarf anderer Rahmenbedingungen. Ich wünschte mir, dass wir die Kraft fänden, diese gemeinsam zu gestalten. Natürlich könnten
wir solche Erfahrungen wie die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung aus dem Osten viel
stärker nutzen und sagen: Die Kinderbetreuung im Westen soll zumindest auf Ostniveau gebracht werden.
({4})
Es ist für die örtlichen Kleinunternehmen natürlich
gut, wenn die Kommunen etwas zu sagen haben, wenn
die Kommunen über Eigentum verfügen, wenn die
Stadtwerke der Stadt gehören und nicht irgendwelchen
fremden Besitzern. Seinem Stadtrat kann der Malermeister noch auf der Straße begegnen, einem Fondsmanager
aber nicht. Deshalb der Antrag der Fraktion Die Linke,
die Daseinsvorsorge zurück in die öffentliche Hand zu
geben. Rekommunalisierung nennen wir das.
({5})
Es gibt da wirklich kuriose Vorgänge. Ich traf letztens
die Bürgermeisterin von Coswig. Sie hat zwei Jahre lang
vergeblich versucht, den Besitzer des Bahnhofs in Coswig ausfindig zu machen. Es ist ihr nicht gelungen. Der
Bahnhof ist an irgendjemanden verscheuert worden, und
den Eigentümer konnte sie nicht in Erfahrung bringen.
({6})
Noch schlimmer wird es dann, wenn man einem Bürgermeister die Frage stellt: „Wem gehört eigentlich euer
Rathaus?“, und der Bürgermeister muss daraufhin antworten: Das weiß ich nicht, aber das ist eine gute Frage.
({7})
Deshalb sind wir der Auffassung, dass ÖPP- bzw.
PPP-Konstrukte final gescheitert sind, also die Versuche,
die öffentliche Daseinsvorsorge in die Hände von Finanzmärkten zu geben.
({8})
Der Weg aus der Sackgasse beginnt in der Sackgasse,
nämlich mit dem Eingeständnis: Raus komme ich hier
nur, wenn ich zurückgehe.
Die größte Gefahr für den Mittelstand - darauf will
ich auch hinweisen - geht momentan von den internationalen Finanzmärkten und besonders den Schattenbanken
aus. Deren Philosophie ist es, weltweit aus der Wertschöpfung anderer Profit zu ziehen, ohne selbst je den
Anspruch zu erheben, Werte zu schöpfen. Diese Banken
sind natürlich auf das aus, was vom Mittelstand geleistet
wird. Warren Buffett hat deshalb diese Instrumente auch
einmal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ genannt. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik wird erst dann
wieder möglich sein, wenn diese Übermacht der Finanzmärkte über die Realwirtschaft gebrochen wird.
({9})
Da versagt diese Bundesregierung natürlich auf der
ganzen Linie. Das ist eigentlich kein Wunder. Wir haben
es hier nämlich mit einem Bundesminister zu tun, der als
Bundeswirtschaftsminister mit der linken Hand Fördermittel verteilt und dann als Parteivorsitzender mit der
rechten Hand Spenden einkassiert. Da muss man sich
nicht wundern, wenn dabei eine wirkliche Regulierung
von Finanzmärkten ausbleibt.
({10})
Herr Kollege Claus, würden Sie einmal einen Blick
auf die Uhr werfen?
Das tue ich gerne und komme zum Schluss. - Ich
gehe im Moment davon aus, dass ich Sie von unserem
Antrag überzeugen konnte und dass Sie deshalb zustimmen: für die Stärkung von Mittelstand und Kommunen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Anton Hofreiter,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede von Wirtschaftsminister Rösler war
mehr als überraschend; denn der Minister hat dargestellt,
dass für das Handeln der Regierung, was die Energiepolitik angeht, SPD und Grüne verantwortlich sind. Ich
glaube, Herr Minister, Sie haben ein paar ganz grundsätzliche Dinge nicht verstanden. Sie sind Minister und
Teil der Regierung und haben deshalb den Auftrag, die
Politik dieses Landes mitzugestalten, statt hier Polemik
zu verbreiten.
({0})
Ich komme nun zu dem Punkt, über den heute eigentlich debattiert werden sollte, nämlich zum Thema PPP.
Ob eine Regierung mittelstandsfreundlich ist oder nicht,
erkennt man nicht daran, ob ein Herr Brüderle im
Bundestag die heute-show imitiert, sondern eine solche
Regierung erkennt man an ihrem konkreten Handeln.
Wie das ausschaut, können wir am Beispiel PPP wunderschön sehen.
Was macht die Regierung? Sie setzt einen ganzen
Haufen PPP-Projekte im Bereich Autobahnen um. Diese
dienen erstens dazu, die Schuldenbremse zu umgehen,
was schon einmal ein Skandal an und für sich ist.
({1})
Sie dienen zweitens dazu, den Mittelstand aus dem Bereich Straßenbau herauszuhalten.
({2})
Warum? Wie funktionieren diese Modelle? Diese
Modelle funktionieren so, dass sich der Staat nicht mehr
bei den Banken, sondern bei großen Baufirmen bzw.
großen Konsortien verschuldet, damit diese dann für die
öffentliche Hand beispielsweise Autobahnen erweitern
oder ausbauen. Neben der Tatsache, dass PPP als Vorfinanzierung missbraucht wird, um so die Vorgaben der
Schuldenbremse zu umgehen, ist ein weiterer Effekt,
dass sich der Mittelstand nicht mehr direkt beteiligen
kann; denn die Projekte haben in der Regel ein Konzessionsvolumen von 400 Millionen bis 1 Milliarde Euro.
Mittelständler sind damit ausgeschlossen.
Ein weiterer Effekt ist de facto eine Oligopolbildung
in diesem Bereich. Die öffentliche Hand zahlt unglaub29670
lich viel für solche Projekte. Die Kosten fallen allerdings
über 30 Jahre verteilt an. Deswegen hat der Bundesrechnungshof klar gesagt, dass PPP-Projekte zukünftig nur
noch durchgeführt werden sollten, wenn sie wirtschaftlich sind. Was ist daraus zu schlussfolgern? Dass die bisherigen PPP-Projekte im Autobahnbereich eben nicht
wirtschaftlich waren. Warum macht man das Ganze
dann? Weil sich so die Vorgaben der Schuldenbremse
umgehen lassen.
Man könnte ehrlicher vorgehen und die entsprechenden Projekte in vernünftigen Losgrößen ausschreiben,
sodass sich auch der Mittelstand beteiligen kann. Aber
dann müsste man zum Finanzminister gehen und sagen,
dass man für die entsprechenden Autobahnprojekte Geld
braucht, oder man müsste sich die eine oder andere Umgehungsstraße sparen, weil man sie sich dann nicht mehr
leisten kann. Aber nein! Was macht man? Man macht
riesige Projekte, die unglaublich aufwendig sind und nur
noch von den größten Baufirmen zu stemmen sind.
Man umgeht also die Vorgaben der Schuldenbremse,
sorgt für wunderschöne Gelegenheiten, Bändchen bei
Autobahneröffnungen durchzuschneiden, und verschiebt
die Finanzierung in die Zukunft. Das ist nicht mittelstandsfreundlich, sondern eine finanzpolitische Frechheit.
Danke.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ernst
Hinsken der nächste Redner.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt, dann gewinnt
man zum Teil den Eindruck: Hier reden welche, die vom
Mittelstand überhaupt nichts verstehen.
({0})
Sie vermitteln den Eindruck, als lebten Sie in einer anderen Welt. Sie sind nicht bereit, anzuerkennen, was Großartiges gerade in den letzten Monaten und Jahren für den
Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland unter
Leitung des tüchtigen Wirtschaftsministers Rösler geleistet worden ist.
({1})
Das, was mein Kollege von Stetten und Frau Kollegin
Strothmann, immerhin Präsidentin einer Handwerkskammer, hier ausgeführt haben, hat sich von Ihren
Reden, meine Damen und Herren von der Opposition,
wohltuend abgehoben.
Ich möchte aber nicht alleine Aussagen darüber treffen, wie es um den Mittelstand steht, sondern ich möchte
in diesem Fall andere sprechen lassen. Der BDI-Präsident Grillo hat am 14. April 2013 gesagt: „,German
Mittelstand‘ ist im Ausland eine echte Marke unseres Industriestandortes.“ BDA-
„Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung
stehen dabei für eine hervorragende Politik.“ BDI-
„Wir sehen gute
Chancen, dass die deutsche Wirtschaft … deutlich an
Fahrt gewinnt.“ Der Präsident des Zentralverbands des
Deutschen Handwerks, Otto Kentzler, hat ausgeführt:
„Das Handwerk ist zuversichtlich und blickt positiv in
die Zukunft.“ Das sind Aussagen von Verbandsvertretern, die in vorderster Linie stehen und wissen, wo der
Schuh drückt. Sie wissen, was sie sagen. Sie würden uns
ins Gewissen reden, wenn die Lage nicht so wäre, wie
sie sein sollte. Aber tatsächlich ist alles gut. Diese Verbandsvertreter sind bereit, anzuerkennen, was sich getan
hat. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind dazu nicht bereit.
({0})
Ja, der Mittelstand ist das Bollwerk der Wirtschaft.
Mithilfe eines leistungsfähigen Mittelstandes haben wir
die Krise mit am besten bewältigt. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen haben in den vergangenen Jahren maßgeblich zur deutschen Erfolgsgeschichte
beigetragen.
Mein Resümee: Es lohnt sich ersichtlich, Politik für
den Mittelstand zu machen; denn dieser ist nirgendwo
stärker ausgeprägt als bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland. Wir werden überall gerade um diesen starken und tüchtigen Mittelstand beneidet. Andere sind dabei, einen Mittelstand aufzubauen. Wir haben ihn, wir
setzen auf ihn und geben ihm Freiheit. Wir wollen die
Mittelständler unterstützen, damit sie sich weiterhin
großartig entfalten können.
({1})
Zum Beweis dafür möchte ich anführen, dass die
Anzahl der kleinen Unternehmen mit weniger als zehn
Beschäftigten und einem Umsatz unter 1 Million Euro
laut Unternehmensregister seit 2006 um 1,6 Prozent und
gleichzeitig die der mittleren Unternehmen mit 10 bis
499 Beschäftigten und einem Umsatz zwischen 1 und
50 Millionen Euro um 4,1 Prozent gestiegen ist. Es ist
wieder in, Mittelständler zu werden, in die Selbstständigkeit zu gehen.
({2})
Jahrelang haben wir für den Mittelstand gerungen und
gekämpft. Wir haben den Leuten gesagt: Seid wieder
bereit, selbst Aufgaben zu übernehmen, selbst in die
Wirtschaft zu gehen, euch selbst zu entfalten. - Jetzt ist
diese Situation erreicht, und die Zahlen liefern dafür einen eindeutigen Beweis.
({3})
Diese Bundesregierung schafft dafür die Rahmenbedingungen, natürlich auch unterstützt von unserem
hervorragenden Kammersystem, das keinesfalls negativ
gesehen werden darf. Unsere Kammern sind wichtig.
Gäbe es sie nicht, müssten sie erfunden werden. Sie leisten als Körperschaften des öffentlichen Rechts für uns,
den Staat, hervorragende Arbeit. Deswegen möchte ich
hier ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum Kammersystem in der Bundesrepublik Deutschland ablegen.
({4})
Mittelständler sind Unternehmer und keine Unterlasser.
({5})
Sie nehmen die Herausforderungen an. Weil sie die Herausforderungen annehmen und weil sie erfolgreich sind
- ich darf dabei auf den Sparkassenverband verweisen -,
ist die Eigenkapitalquote der mittelständischen Unternehmen von 11,5 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell
20,7 Prozent angestiegen. Das ist fast eine Verdopplung.
Die Wertschöpfung und die Erwerbstätigkeit waren in
der deutschen Geschichte noch nie so hoch wie 2012.
Die Zahl der Beschäftigten in kleinen und mittleren Betrieben mit weniger als 250 Mitarbeitern liegt um sage
und schreibe 921 000 über dem Stand von 2009. Das war
vor wenigen Jahren.
Besonders erfreulich ist für mich, dass die Beschäftigungsaussichten weiterhin positiv bleiben. So rechnet
der DIHK für das Jahr 2013 mit rund 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Das Handwerk
rechnet mit einem Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent.
Damit leistet der Mittelstand auch in diesem Jahr auf
herausragende Weise einen namhaften Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungslage.
Ich könnte hier natürlich noch Verschiedenes ausführen, vor allen Dingen was die Investitionen in Forschung
und Entwicklung anbelangt. Auch dort können wir positive Zahlen vermelden. Das würde aber den zeitlichen
Rahmen sprengen, sodass ich mich auf das beschränken
möchte, was ich Ihnen als Botschaft zurufen möchte.
Wenn ich bei einer Veranstaltung mit einem Mittelständler spreche und frage: „Was bedrückt dich denn?“,
dann antwortet er: Zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie,
zu hohe Sozialkosten, zu wenig Fachkräfte und zu hohe
Energiekosten.
Zu den Steuern. Wir arbeiten am Abbau der kalten
Progression und wollen vor allen Dingen die Umsatzgrenzen für die Istbesteuerung anheben.
Zur Bürokratie. Seit 2005 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 600 Gesetze und Verordnungen weniger registriert. Hier ist also ein Positivum zu verzeichnen. Mit den Erleichterungen bei den elektronischen
handelsrechtlichen Bilanzveröffentlichungen und dergleichen mehr haben auch wir unseren Beitrag dazu geleistet, dass der bürokratische Unsinn so weit wie irgendwie möglich zurückgedrängt wird.
Zu den Sozialkosten. Bei der Rentenversicherung haben wir eine Beitragssatzsenkung auf 18,9 Prozent vorgenommen. Das ist eine Entlastung um 6 Milliarden
Euro: 3 Milliarden Euro bei den Arbeitnehmern, 3 Milliarden Euro bei den Unternehmern. Insbesondere davon
betroffen ist der Mittelstand.
Zum Thema Fachkräfte. Wir erschließen noch mehr
inländische Fachkräfte und erleichtern die Zuwanderung
qualifizierter Fachkräfte.
Herr Kollege.
Auch was die Energiekosten anbelangt - Herr Präsident, ich bin am Ende -,
Oh, das kann ich mir gar nicht vorstellen.
- werden wir die Belastung für den Mittelstand auf einem vertretbaren Niveau halten. Das darf die Bevölkerung wissen, das darf der Mittelstand zur Kenntnis nehmen. Der Mittelstand kann sich auf uns verlassen. Er
muss nur am 22. September richtig wählen, damit es so
bleibt, wie es ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter ist die nächste
Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es für diese Regierung ein Arbeitszeugnis gäbe, dann würde darin stehen: Die Bundesregierung hat sich bemüht.
({0})
- Immerhin, Herr Kauder. - In der Zeugnissprache heißt
dies - Wirtschaftsexperten wissen das -: auf der ganzen
Linie versagt.
({1})
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große
Anfrage zur Situation des Mittelstandes kann auch nicht
als Werbeblock bewertet werden. Das war auch schon so
bei der Großen Anfrage zur Energiewende: keine Zahlen, keine Daten. Überhaupt fragt man sich, auf welcher
Basis Sie eigentlich Politik machen.
({2})
Den Mittelstand landauf, landab als Rückgrat der
deutschen Wirtschaft zu bezeichnen, sind viele schöne
warme Worte. Aber eigentlich muss man sagen: Es ist
schon interessant, dass unser robuster Mittelstand so erfolgreich war - trotz dieser Regierung.
({3})
Der Economist hat die Bedeutung des deutschen Mittelstandes ganz gut beschrieben - die haben das erkannt -:
Du musst kein Silicon Valley Nerd in Flip-Flops sein,
um erfolgreich zu sein. Unsere mittelständischen Unternehmen sind gut damit gefahren, dass sie bei ihren Leisten geblieben sind.
Dem Mittelstand geht es bisher zwar gut, aber vor den
Herausforderungen des demografischen Wandels, der
Energiewende, der Finanzierungen und der Existenzgründungen verschließen Sie die Augen. Die neuesten
Zahlen sprechen nämlich eine ganz andere Sprache. Der
Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt, dass sich die Stimmung
mehr und mehr eintrübt. Sie verschließen davor die Augen.
({4})
Die Fachkräftesicherung wurde schon mehrfach angesprochen. Sie nehmen das Potenzial von Frauen gar
nicht wahr. Nein, Sie gewähren lieber ein Betreuungsgeld und finden es dann gut, wenn die Frauen zu Hause
bleiben, und beklagen sich dann auch noch. Da brauchen
wir doch gar nicht über die Frauenquote oder gar über
gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu sprechen.
Wenn Sie auf unsere Frage, was Sie denn tun, um
Mädchen und junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, antworten, dann nennen Sie den Girls’ Day. - Dieser Tag ist übrigens heute. Unsere Girls’-Day-Mädchen
sitzen jetzt hier auf der Tribüne und sind begeistert.
({5})
Weiter verweisen Sie auf „Jugend forscht“. Beides ist
nicht auf Ihrem Mist gewachsen, und Sie haben nichts
Neues hinzugesetzt.
Sicherlich wurden viele Frauen, die in dieser Sache
auf die Kanzlerin gesetzt haben, herb enttäuscht, weil da
nicht mehr Schwung in die Frauenpolitik und die Arbeitspolitik gekommen ist.
({6})
Herr Kauder, heute schreibt das Handelsblatt zur
Energiewende - das ist mein nächster Punkt -:
Energiewende ist aus Sicht der Industrie größter
Minuspunkt der Kanzlerin.
Wie wahr!
Das Auf und Ab dieser Bundesregierung in der Energiepolitik ist ein gewichtiger Risikofaktor für mittelständische Unternehmen geworden. Sie sind zur Investitionsbremse in dieser Branche geworden und schaden
Deutschland. Das ist ein energiepolitisches Versagen
dieser Regierung auf ganzer Linie.
({7})
Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Umweltverträglichkeit beschwören Sie zwar; aber Sie machen keine
Politik, die auch zukunftsfähig ist. Es mangelt an Koordination zwischen Bund und Ländern und auch mit der
europäischen Ebene. Ein Schelm, wer denkt, das sei
Taktik. Strategie ist es sicherlich nicht. Langfristiges
Denken ist für Sie ein Fremdwort.
({8})
Aus Nischen heraus sind unsere mittelständischen
Unternehmen oftmals erfolgreich, nicht nur hier im Inland, sondern auch im Ausland. An dieser Stelle komme
ich zur europäischen Rechtssetzung. Wenn Sie diesen
Mittelstand immer so beschwören, dann hätten Sie sich
auch einmal dafür einsetzen können, dass die Gesetzgebung in Brüssel etwas mittelstandsfreundlicher wird.
Aber nichts dergleichen! Auch einen europäischen Normenkontrollrat - das zum Thema Bürokratieaufbau; Entschuldigung: Bürokratieabbau ({9})
haben Sie nicht erreicht. Sie bauen dagegen Bürokratie
auf.
Die Lage hochqualifizierter Arbeitskräfte wurde
schon mehrfach angesprochen. Die steuerliche Forschungsförderung steht bei Ihnen im Koalitionsvertrag.
Sie haben vier Jahre Zeit gehabt. Daraus ist nichts geworden. Erster Klasse beerdigt!
({10})
Wir fordern eine steuerliche Forschungsförderung,
und zwar für kleine und mittlere Unternehmen - es soll
keine Mitnahmeeffekte durch die großen geben -, mit einem wachstumsorientierten Personalkostenzuschuss.
Damit leisten wir konkret Unterstützung für junge Unternehmen. Die können wirklich etwas damit anfangen.
Sie können Personal für Forschung und Entwicklung
einstellen und so innovativ unterwegs sein.
Das ZIM wollen wir über 2013 hinaus fördern,
ebenso Existenzgründungen. Wir sind wirklich fast
Schlusslicht bei den Existenzgründungen; das hat sich
massiv verschlechtert. Auch da haben Sie sich nicht mit
Ruhm bekleckert.
({11})
Als Letztes möchte ich noch ein Wort zur europäischen Gesetzgebung sagen. Was den Mittelstand, kleine
und mittlere Unternehmen sowie insbesondere das
Handwerk, richtig trifft, ist die Umsetzung der Zahlungsverzugsrichtlinie. Zahlungsmoral fordern Sie ein.
Das funktioniert bei uns in Deutschland, und Sie öffnen
jetzt das Tor dafür, dass dieses Leitbild quasi fällt.
Kleine Unternehmen kommen in Liquiditätsprobleme,
weil Sie diese Richtlinie nicht richtig umsetzen.
({12})
Sie werden die Rechtsposition der Handwerksbetriebe
als Gläubiger total schwächen. Da geht es wirklich richtig ums Eingemachte, richtig ums Geld und nicht nur um
schöne Worte.
({13})
Alles in allem: Mittelstandspolitik der schwarz-gelben Koalition bedeutet: viel in der Auslage, wenig geliefert und nichts auf Lager. Diese Mittelstandspolitik muss
ein Ende haben. Am 22. September gehen wir da mit
neuem Schwung heran und machen eine neue Reformpolitik mit Mut und auch für die Realwirtschaft.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Jasper, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Schwarzelühr-Sutter, viele Länder in der Welt hätten
gerne die Probleme, die wir in Deutschland haben. Statt
in Ihr Wehklagen einzustimmen, möchte ich lieber damit
beginnen, die Aussage der Kollegin Lena Strothmann zu
unterstützen: Der deutschen Wirtschaft geht es gut, und
den Menschen in Deutschland geht es ebenfalls gut.
({0})
Noch nie in der Geschichte unseres Landes waren so
viele Menschen in Beschäftigung, und noch nie ist ein
größerer Wohlstand erreicht worden. Grundlage dieser
außerordentlichen Stabilität und Wachstumsstärke der
deutschen Wirtschaft ist die dynamische mittelständische Unternehmenslandschaft. Es sind insbesondere die
inhabergeführten Familienbetriebe, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden. Man kann es gar nicht oft genug sagen:
Die Arbeitslosigkeit in unserem Land ist in den letzten
Jahren von über 5 Millionen auf heute unter 3 Millionen
gesunken. Hieran haben die mittelständischen Unternehmen einen erheblichen Anteil.
({1})
In den letzten fünf Jahren wurden über 1,8 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen. Auch in diesem Jahr rechnet
man mit über 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen.
Handwerk und Mittelstand leisten somit erneut einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungslage. Wichtige Eckpfeiler sind hierbei die Sozialpartnerschaft, aber natürlich auch die Tarifautonomie.
Investitionen in Forschung und Entwicklung sind ein
Indikator für die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftssystems. Diese Investitionen sind auf 2,9 Prozent des BIP
gestiegen. Unser Ziel von 3 Prozent ist nahezu erreicht.
Investitionen und Initiativen im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung haben die Innovationskraft und auch die Wettbewerbsfähigkeit in
Deutschland gestärkt. Viele weitere Beispiele lassen sich
nennen.
Doch das allein reicht nicht aus. Es ist erst die Risikound Leistungsbereitschaft des innovativen Mittelstands,
die Wachstum, Wohlstand und Innovation in unserem
Land sichert. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind die Treiber des Strukturwandels und des
Fortschritts. Der gute und robuste Zustand des Mittelstands darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es
in der Zukunft weitere und neue Herausforderungen
gibt, die es zu meistern gilt.
Wenn ich mich mit meinen Unternehmerkollegen unterhalte und sie frage, welche drei zentralen Probleme in
der Zukunft gesehen werden, dann werden in der Regel
drei genannt: Ganz oben steht der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel. Es folgen steigende Energiekosten und
der Rohstoffmangel. Und genau da gilt es dann anzusetzen. Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen und
Unterstützungen generiert werden, damit die Unternehmen Mittel und Wege finden, diese Probleme zu lösen.
({2})
Wir sollten über die Stärke dieser Unternehmen froh
sein und alles tun, damit das so bleibt. Wenn ich sehe,
was vonseiten der Linken, der SPD und der Grünen in
diesem Bereich hauptsächlich gefordert wird, nämlich
Steuererhöhungen, wirkt das genau in die entgegengesetzte Richtung.
Was will Rot-Grün? Die Wiederbelebung der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe, die
Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Anhebung des Spitzensteuersatzes und viele Dinge mehr.
Statt die Schaffung von Vermögen und Eigentum zu fördern, ist das linke Bedürfnis nach Umverteilung größer
denn je.
({3})
Die propagierten Steuererhöhungen in den unterschiedlichsten Bereichen gehen insbesondere zulasten
des Mittelstandes. Die Investitions- und Innovationsfähigkeit wird entscheidend eingeschränkt. Es wird
verhindert, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch Unternehmensgründungen werden erschwert. Wenn der Fraktionsvorsitzende der Grünen in der gestrigen Aktuellen
Stunde darüber schwadroniert, dass Deutschland eine
Steueroase sei, weil es hier noch keine Vermögensabgabe oder keine Vermögensteuer gibt, dann hat er nichts
verstanden.
({4})
Der Aufwand zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer und der daraus resultierende
Ertrag stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander. Ein Großteil des in Deutschland vorhandenen
Vermögens ist in Unternehmen gebunden. Somit sind es
genau die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
die am stärksten von der Vermögensteuer betroffen sind.
Im Kern findet eine Substanzbesteuerung statt. Es wird
Vermögen vernichtet.
({5})
Auch die schnell aufgestellte Forderung nach einer
Erhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Prozent auf dann 49 Prozent trifft in erster Linie die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
({6})
Neben den Facharbeitern ist das die große Zahl der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in der Regel als Personengesellschaften organisiert sind. Bei diesen führt die geplante Steuererhöhung zu erheblichen
Problemen. Anders als große Kapitalgesellschaften können sie beispielsweise nicht ins Ausland ausweichen und
müssen die volle Steuerlast tragen.
Gleiches gilt für den Bereich der Erbschaft- und
Schenkungsteuer. Für viele Handwerker und Unternehmer wird es ohnehin immer schwieriger, einen Nachfolger zu finden. Hohe Zahlungen durch eine Erbschaftund Schenkungsteuer erschweren das zusätzlich und bedeuten auch manchmal das Aus für die Betriebe.
Die von der linken Seite immer wieder geforderten
Erhöhungen von Steuern und Abgaben sind eindeutig
der falsche Weg. Der deutsche Staat verfügt über Steuereinnahmen in nie dagewesener Höhe. Hiermit gilt es
hauszuhalten. Ein ausgeglichener Staatsaushalt bietet
auch für die Unternehmen in Deutschland die beste Gewähr und eine gute Voraussetzung für ein nachhaltiges
und stetiges Wachstum.
({7})
Dieses Wachstum schafft nicht nur neue Arbeitsplätze,
sondern entlastet auch die Sozialkassen. Nur so ist es
letztendlich zu erklären, dass die Leistungsträger durch
eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um mehr
als 6,3 Milliarden Euro entlastet werden konnten.
({8})
Der richtige Weg ist: Haushalt konsolidieren, sparsam
haushalten, Erleichterungen an die Bürger weitergeben,
Erhöhungen von Steuern und Abgaben nur dann, wenn
es zwingend erforderlich ist.
({9})
Und das zum Schluss: Viele kleine und mittelständische
Unternehmen zahlen ihre Steuern in Deutschland und tun
das auch mit großer Überzeugung. Die Einstellung, dass
starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, ist bei
vielen Unternehmern durchaus vorhanden. Dazu braucht
es nicht immer die Begründung, dass durch Umverteilung
sozialer Frieden begründet werden kann.
Es gibt auch pragmatische Gründe, die hier bereits
dargestellt wurden: eine funktionierende Infrastruktur,
eine gute Aus- und Weiterbildung junger und älterer
Menschen, eine gute Verwaltung und viele Dinge mehr.
Das schafft eine solide Basis für nachhaltiges Wirtschaften und ist ein Wettbewerbsvorteil für die deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb.
Dennoch ist die Summe aus Steuern und Abgaben
enorm hoch. Eine leichtfertige Erhöhung vorhandener
und die Einführung neuer Steuern unter dem Stichwort
„Reichensteuer“ ist diffamierend und schadet dem
Standort Deutschland. Es werden gerade nicht die von
Rot-Rot-Grün verfolgten Millionäre getroffen. Diese
sind jederzeit in der Lage, ihre Vermögen im Ausland
anzulegen.
({10})
Getroffen werden vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in Deutschland gebunden sind
und ihre Steuern auch hier zahlen müssen. Rot-Grün
zielt auf eine Handvoll Millionäre, trifft aber die gesamte Breite des Mittelstandes.
({11})
Bei allem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und sozialem Frieden darf nicht vergessen werden, dass vor
dem Verteilen das Erwirtschaften steht. Dieses Erwirtschaften erfolgt hauptsächlich in den kleinen und mittelständischen Betrieben unseres Landes. Diesen darf nicht
die Luft zum Atmen genommen werden.
Es gibt viele Möglichkeiten, den deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest zu machen, sei es in den Bereichen Fachkräftesicherung, Sicherstellung der Energieversorgung, Förderung von Innovationen und vielen
Bereichen mehr, die bereits angeführt wurden. Die Bundesregierung hat hier in den letzten Jahren viel erreicht.
Nicht durch das Erhöhen und Schaffen neuer Steuern
sind wir so erfolgreich gewesen, sondern durch nachhaltiges und effizientes Haushalten. Die ganze Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen konnte sich
so voll entfalten.
({12})
Deutschland kann sich im europäischen und auch im
internationalen Vergleich mehr als sehen lassen. Der
Dank hierfür gilt in erster Linie den Arbeitnehmern und
Arbeitgebern in Deutschland, aber natürlich auch der
unionsgeführten Bundesregierung, die eine eindrucksvolle Bewerbung für eine neue Legislaturperiode abgegeben hat.
Danke schön.
({13})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Reinhold Sendker, ebenso für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Tiefensee, von Stillstand bei den ÖPP, den öffentlich-privaten Partnerschaften, kann überhaupt keine
Rede sein. ÖPP-Projekte machen im Bereich des Hochbaus 60 Prozent aus. Die Möglichkeiten sind hier noch
lange nicht ausgeschöpft. Ferner gibt es ÖPP-Projekte
im Dienstleistungs- und IT-Bereich, denen Experten ein
enormes Wachstum voraussagen. Im Bereich des Fernstraßenausbaus bilanzieren wir ein Ausbauvolumen von
300 Kilometern und einen privaten Kapitaleinsatz von
1,5 Milliarden Euro. Dafür, dass der Fernstraßenausbau
derzeit aufgehalten wird, sind letztendlich rot-grüne
Landesregierungen, zum Beispiel in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, verantwortlich.
Schauen wir auf weitere positive Botschaften bei den
öffentlich-privaten Partnerschaften: auf die Qualität der
Bauausführung, auf einen hochwertigen Betriebsdienst
und auf einen schnellen und zeitnahen Ausbau der Bundesfernstraßen. Ich nenne außerdem ausdrücklich die
Effizienzvorteile, wobei wir sagen müssen, dass die
Wirtschaftlichkeit den gesamten Lebenszyklus „Planen,
Bauen, Betreiben“ betrifft.
Die ÖPP bieten bemerkenswerte Optionen. Es ist deshalb völlig richtig, alle Beschaffungsvarianten unvoreingenommen zu beurteilen und ihnen die gleichen Chancen einzuräumen. Ideologische Vorbehalte gehören hier
nicht hin.
({0})
Wo besteht noch Handlungsbedarf? Dass die ÖPP
mittelstandsfreundlich weiterentwickelt werden, ist für
uns ein ganz zentraler Punkt. Mittelständische Unternehmen sollen sich mit einem höheren Investitionsvolumen an
ÖPP-Projekten, sprich am Fernstraßenausbau, beteiligen
können. Folglich bitten wir darum, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine verstärkte Beteiligung des
Mittelstandes am Fernstraßenausbau zu erreichen.
({1})
Die Richtigkeit der These „Mehr Transparenz schafft
Akzeptanz“ hat die christlich-liberale Bundesregierung
schon bei der Realisierung des Finanzkreislaufs Straße
nachgewiesen. Bei den ÖPP wollen wir nicht nur ein
bisschen, sondern deutlich mehr Transparenz. Wir schlagen Ihnen daher vor, bei ÖPP-Projekten eine frühzeitige
Information und Beteiligung der Öffentlichkeit und eine
weitreichende Transparenz, auch in der Betriebsphase,
durch regelmäßige Berichte an den Deutschen Bundestag sicherzustellen, mit der steten Nachfrage: Ist das,
was zugesagt wurde, auch erreicht worden?
Es ist erfreulich, dass die deutsche Bauwirtschaft im
Herbst letzten Jahres zu mehr Transparenz bei ÖPP aufgerufen hat. Den wilden Spekulationen über Vergabe
und Vertragsinhalte wird damit der Wind aus den Segeln
genommen. Deutlich mehr Transparenz und die Effizienznachweise führen zu mehr Vertrauen; hiermit kann
ideologischen Vorbehalten entgegengetreten werden.
Das ist Zielführung. Dafür treten wir ein.
({2})
Transparenz endet aber dort - das ist ein Stück Wahrheit -, wo es um schützenswerte Interessen der Projektbeteiligten und um die wirtschaftlichen Interessen des
Staates geht. Dahin gehend darf sie das Erfolgsmodell
ÖPP nicht seiner Vorteile berauben.
Schauen wir schließlich auf die Vergleichbarkeit im
Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Die Rechnungshöfe
führen an: ÖPP-Projekte basieren auf konkreten Ausschreibungs- und Verhandlungsergebnissen. Bei der konventionellen Methode hingegen seien es überwiegend
Kostenschätzungen und Erfahrungswerte. Folglich wird
eine bessere Vergleichbarkeit gefordert.
Ferner kann mit der obligatorischen Eignungsprüfung, die ich hier ausdrücklich nennen möchte, bereits in
einem frühen Stadium die grundsätzliche Eignung eines
ÖPP-Projekts geprüft werden. Daher fordern wir, dieses
Instrument der Projektsteuerung künftig zu standardisieren und zu verbreiten.
Ja, wir wollen eine bereits erfolgreiche Beschaffungsvariante ausdrücklich stärken, eine Variante mit mehr
Mittelstand, vor allem beim Fernstraßenausbau, mit
deutlich mehr Transparenz und Kommunikation und mit
vergleichbaren Wirtschaftlichkeitsnachweisen.
Leider - auch das ist ein Stück Wahrheit - erleben wir
bei ÖPP-Projekten unter rot-grünen Landesregierungen
zurzeit den großen Verschiebebahnhof: Es soll überprüft
und nochmals geprüft werden. Ich sage Ihnen: Wenn in
einem konkreten Einzelfall längst feststeht, dass ÖPP
besser sind, dann sollten ÖPP hier auch den Zuschlag
bekommen.
({3})
Was die Oppositionsanträge angeht, kann ich nur feststellen: Die Sozialdemokraten zögern und zaudern. Bei
den Grünen stehen wieder einmal ideologische Vorbehalte gegen Zukunftsoptionen.
Herr Dr. Hofreiter, dadurch, dass Sie die Vorwürfe eines Schattenhaushalts und eines Verstoßes gegen die
Schuldenobergrenze wiederholen, werden diese Vorwürfe nicht besser.
({4})
Die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts an den Auftragnehmer stellt keine Kreditaufnahme im Sinne des
Art. 115 Grundgesetz dar. Es ist also keine Umgehung
der Schuldengrenze. Das bestätigt uns der Bund-LänderAusschuss. Ähnlich hat sich der Bundesrechnungshof
geäußert. Ich bitte, das bei Gelegenheit doch einmal zur
Kenntnis zu nehmen.
({5})
In der gegenwärtigen Haushaltssituation können wir
es uns gar nicht leisten, ideologische Vorbehalte gegen
ÖPP aufrechtzuerhalten. Wir möchten diese Variante
stärken. Es ist eine Beschaffungsvariante, die es zu prü29676
fen gilt. Wir wollen ihre Anwendung unterstützen - mittelstandsfreundlich, wirtschaftlich und transparent.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache
17/12700 mit dem Titel „Stabilität, Wachstum, Fort-
schritt - Den starken deutschen Mittelstand weiter zu-
kunftsfest machen“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag
ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b wird interfraktio-
nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache
17/12771 an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 d. Hier geht es um die Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Druck-
sache 17/13155. Hierzu liegt mir eine schriftliche Erklä-
rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung des Kollegen Groß vor.1)
Ich lasse zunächst über die Beschlussempfehlung un-
ter Buchstabe a abstimmen. Da empfiehlt der Ausschuss
die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf der Drucksache 17/12696 mit dem Titel
„Öffentlich-Private Partnerschaften - Potentiale richtig
nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transpa-
renz erhöhen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den vorhin genannten
Mehrheiten angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksa-
che 17/9726 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastruktur-
konsens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/5258 mit dem Titel „Transparenz in Public Pri-
vate Partnerships im Verkehrswesen“. Wer stimmt der
Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 e geht es um die
Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rekom-
munalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Part-
nerschaften stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/6515, den
Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Hier geht es
um die Abstimmung über den Antrag der SPD-Fraktion
auf der Drucksache 17/13224 mit dem Titel „Bessere
Politik für einen starken Mittelstand - Fachkräfte si-
chern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen ver-
bessern“. Wer stimmt für diesen Antrag der SPD-Frak-
tion? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, Elke Ferner, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch
- Drucksache 17/13226 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Innenausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohns ({1})
- Drucksache 17/12857 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tabea
Rößner, Memet Kilic, Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit einem Nationalen Aktionsplan die Chancen des demografischen Wandels ergreifen
- Drucksache 17/13246 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordne-1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher
Mindestlohn jetzt
- Drucksachen 17/8026, 17/9613 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda
- Drucksachen 17/12683, 17/13182 Berichterstattung:Abgeordneter Markus Kurth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Was hat Deutschland stark gemacht? Ganz unzweifelhaft die industriellen Fertigkeiten
und unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit, unzweifelhaft unser sehr starker Mittelstand mit einem besonderen unternehmerischen Ethos, unzweifelhaft eine sehr
gute Forschungslandschaft, universitär und außeruniversitär, die duale Ausbildung - das konnte ich gerade
am Sonntag wieder feststellen, als ich erlebte, wie
1 110 Jungmeisterinnen und Jungmeister von der Handwerkskammer in Düsseldorf ihre Urkunden erhalten haben - und die soziale Partnerschaft.
Aber Deutschland hat noch mehr stark gemacht, zum
Beispiel das Aufstiegsversprechen für alle tüchtigen und
fleißigen Bürgerinnen und Bürger oder die Chance auf
einen besseren Bildungsabschluss, als ihn die Eltern hatten, oder die faire Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg
oder intakte Kommunen, die Leistungen für diejenigen
bereitstellen, die sich Bildung, Sport, Kultur, Sicherheit
und Kinderbetreuung nicht privat leisten können, oder
auch der Sinn für Maß und Mitte, für Anstand und Fairness oder ein, wenn man so will, rheinischer Kapitalismus, also eine soziale Marktwirtschaft, die genau erkannt hat, dass der soziale Ausgleich die wesentliche
Voraussetzung ihrer Existenzberechtigung ist.
Was ist nun der Befund heute? Deutschland ist zweifellos nach wie vor ein starkes Land, aber nicht alle haben Zugang zu Teilhabe. Viele sehen ihre Leistung eben
nicht anerkannt, geschweige denn angemessen belohnt.
6,8 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn
von weniger als 8,50 Euro, 1,4 Millionen sogar für weniger als 5 Euro. Fast 1,5 Millionen Menschen zwischen
25 und 35 Jahren haben keinen Schul- und keinen Berufsabschluss. 71 von 100 Akademikerkindern gehen an
die Hochschule, aber nur 24 von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien. Frauen verdienen im Durchschnitt 22 Prozent weniger als Männer. Staat und Politik befinden sich
in einem Schraubstock, ausgelöst durch die Finanzmarktkrise, in der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Sie sind erpressbar geworden. Der
Steuerzahler ist zum Garanten in letzter Instanz geworden. Bezahlbares Wohnen wird inzwischen nicht nur in
Ballungsräumen zu einem Problem.
Wir haben es deshalb inzwischen in meinen Augen
nicht nur mit Parallelgesellschaften in den oberen Etagen
bis hin zum Penthouse unseres gesellschaftlichen Gebäudes zu tun, sondern auch mit Parallelgesellschaften
unten, mit Menschen, die sich deklassiert und ausgegrenzt fühlen, die sich nicht mehr zugehörig fühlen. Wir
haben es nicht nur mit einem Unverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger zu tun, dass die persönliche Leistung immer weniger wichtig und immer weniger wert
ist. Wir haben es mit Engpässen dahin gehend zu tun, öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge für den
überwiegenden Teil unserer Bürgerinnen und Bürger zu
finanzieren.
Aber es ist mehr als das. Wir haben es mit unverhältnismäßigen Boni zu tun, die in keinem Verhältnis zur
Leistung stehen, mit gefälschten Doktorarbeiten, mit
Lobbygesetzen und auch dem lässigen Umgang mit
Steuerbetrug. All dies tritt Werte wie Anstand, Ehrlichkeit und Fairness mit Füßen. So empfinden das viele
Menschen.
({0})
Ich glaube, wir laufen Gefahr, dass Teile der deutschen Eliten und auch politische Beliebigkeit das bürgerliche Wertefundament unterminieren könnten. Ehrliche
Bankkaufleute sind inzwischen Zocker, und Geiz wird
als „geil“ dargestellt und verkauft. Während eine Kassiererin wegen einer Wertmarke für 50 Cent ihren Job verlieren kann, bleiben millionenschwere Steuerbetrüger
entweder in der Anonymität oder werden gar nicht erst
erkannt, oder sie kommen mit einer Nachzahlung davon.
Wie wirkt das auf den überwiegenden Teil der Bürgerinnen und Bürger?
({1})
Aus aktuellem Anlass sage ich: Nicht der Fall Hoeneß
ist das eigentliche Problem,
({2})
sondern die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug
sind das eigentliche Problem, bei dessen Bekämpfung
Sie nicht besonders hilfreich gewesen sind.
({3})
Nicht nur die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug sind das Problem, sondern auch die legale Steuervermeidung von Konzernen, die die nationalen Steuersysteme gegeneinander ausspielen. Nicht der Fall
Hoeneß allein ist das Problem, sondern es sind die
Steueroasen, die Briefkastenfirmen zulassen. Es sind
Banken, die Geschäftsmodelle und Dienstleistungen anbieten, mit denen man Steuerhinterziehung und Steuerbetrug betreiben kann. Es sind vor allen Dingen auch die
Länder, die sich nach wie vor einem automatischen Informationsaustausch verweigern.
Noch einmal klar festgestellt: Die Bundesregierung
hat den Elan, den wir 2009 mit Frankreich und mit der
OECD entfacht haben, um Steuerbetrug und Steuerhinterziehung auf internationaler Ebene zu bekämpfen,
nicht genutzt. Sie haben eingeschlafene Füße gehabt!
({4})
Sie wollten uns ein Steuerabkommen mit der Schweiz
präsentieren, das die Steuerbetrüger in der Anonymität
belassen hätte und mit einem Ablass hätte davonkommen lassen. Das ist das, was Sie uns nach wie vor als
vorbildlich verkaufen wollen. Sie sind nicht einmal in
der Lage gewesen, für Deutschland denselben Informationsaustausch herauszuverhandeln, den die USA bezogen auf ihre Steuerbürger in der Schweiz bekommen haben. Sie versuchen, uns diesen Entwurf, der vonseiten
der SPD und von den Grünen abgelehnt worden ist, bis
heute mit kranken Argumenten schönzureden.
({5})
Wenn wir die Auflösung und Relativierung von Werten wie Anstand, Fairness, Ehrlichkeit und soziale Balance weiter dulden, dann sage ich voraus, dass unsere
gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung über die
Schnödigkeit im Umgang mit diesen Fragen - um einen
Begriff von Theo Sommer, dem früheren Herausgeber
der Zeit, aufzugreifen - in eine Krise geraten wird, weil
die Menschen den Eindruck haben, dass bestimmte Regeln wie Anstand, Fairness und Ausgleich nicht mehr
gelten.
Dann hilft es nicht, im Einzelfall bloß enttäuscht zu
sein, wie wir das gerade bei Frau Merkel erlebt haben,
({6})
sondern man muss sich als Regierungschef oder Regierungschefin gefordert sehen, das Wertefundament von
Politik und Wirtschaft zu erneuern. Das vermisse ich bei
dieser Bundeskanzlerin.
({7})
Es geht der SPD in diesem Zusammenhang nicht um
irgendeine Sozialromantik, und es geht auch nicht darum, im 150. Jahr unseres Bestehens die nostalgische
Beschwörung von Werten zu betreiben. Ich bin vielmehr
davon überzeugt, dass nur eine gerechte Gesellschaft
auch eine starke Gesellschaft ist.
({8})
Ich bin davon überzeugt, dass Gerechtigkeit und ein
sozialer Ausgleich eine der wesentlichen Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg sind.
({9})
Ich bin überzeugt, dass umgekehrt auch gilt, dass der
wirtschaftliche Erfolg eine Voraussetzung ist, um sozialen Ausgleich zu betreiben. Ich bin davon überzeugt,
dass sich eine ungerechte Gesellschaft am Ende für niemanden rechnet, auch nicht für die Wohlhabenden.
({10})
Es ist kein Geringerer als der amerikanische Ökonomienobelpreisträger Joseph Stiglitz gewesen, der ein
Buch mit dem Titel Der Preis der Ungleichheit geschrieben hat, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Er
macht deutlich, dass der Preis der Ungleichheit nicht nur
in einem Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhaltes
besteht, sondern dass die Ungleichheit auch einen ökonomischen Preis hat. Deshalb scheue ich mich nicht, von
einer Ökonomie der Gerechtigkeit zu sprechen. Ich bin
überzeugt, dass Gerechtigkeit nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist,
sondern sich auch für alle rechnet und für alle rechnen
muss.
({11})
Ich will das an einigen wenigen Beispielen deutlich
machen. Die Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt, wenn sie Kinder haben wollen, ist nicht nur individuell ungerecht, sondern sie ist auch volkswirtschaftlicher Unsinn, insbesondere wenn man sich die
Demografie unseres Landes anschaut und weiß, dass
junge Frauen inzwischen bessere schulische, berufliche
und akademische Abschlüsse machen als Männer.
Dumpinglöhne vernichten Arbeitsplätze bei den verantwortungsbewussten Unternehmen, die sich anständig
verhalten.
({12})
Und dann sind wir auch noch in der Verlegenheit, den
Menschen, die Dumpinglöhne bekommen, mit Aufstockerbeträgen zulasten der Steuerzahler helfen zu müssen, was an die 10 Milliarden Euro kosten dürfte.
Ein Bildungssystem, in dem nicht Anstrengung und
Leistung, sondern das Einkommen oder die Beziehungen der Eltern für den Aufstieg sorgen, ist für die gesamte Gesellschaft und für den Erfolg unserer Volkswirtschaft schädlich.
({13})
Gerade wegen der demografischen Entwicklung gilt:
Wir dürfen kein Kind zurücklassen.
({14})
In der Schule muss ebenso wie im Berufsleben und in
Bezug auf Existenzgründungen gelten: Wir brauchen
eine zweite Chance.
Finanziell marode Kommunen und verwahrloste
Städte produzieren auch verwahrloste Seelen und Köpfe.
Sie integrieren sich nicht mehr sozial und kulturell,
sondern sie fühlen sich ausgeschlossen. Sie sind desintegriert, und das verursacht Folgekosten. Das läuft darauf
hinaus, dass wir es anschließend mit sozialen Folgekosten zu tun haben, im Zweifelsfall bis hin zu Verwahrlosung und Kriminalität, weil wir unsere Kommunen
nicht in den Stand versetzt haben, soziale Brennpunkte
zu vermeiden.
({15})
Eine ungerechte Gesellschaft verursacht Sozialkosten: Immer mehr Menschen werden von einer Aufstiegschance ausgeschlossen. In der Folge werden sie
zwangsläufig resignieren und zu reinen Beziehern von
Sozialleistungen. Das ist der Grund, warum wir in einen
vorsorgenden Sozialstaat statt in einen reparierenden Sozialstaat investieren müssen.
({16})
Ein höherer Beitrag derjenigen, die stärkere Schultern
haben, zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, die gleiche
Bezahlung von Frauen und Männern, die angemessene
finanzielle Ausstattung von Kommunen oder auch der
Ausbau der Kinderbetreuung anstelle des Betreuungsgeldes sind daher nicht bloß Einzelentscheidungen, die
hier im Berliner Politikbetrieb quasi aus wahl- und
machtarithmetischen Überlegungen getroffen werden
sollten. All das sind vielmehr Entscheidungen, denen aus
meiner und aus SPD-Sicht eine klare Idee zugrunde liegen muss, wie das Miteinander in unserer Gesellschaft
organisiert werden soll, wie wir gesellschaftliche Teilhabe organisieren, wie wir in einem modernen Deutschland für Gleichberechtigung sorgen können.
({17})
Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der die Bürger sich belohnt fühlen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der Bürger morgens aufstehen und antreten. Es
ist die Idee von einer Gesellschaft, in der man bereit ist,
sich anzustrengen und gegebenenfalls auch Opfer in
Kauf zu nehmen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft,
die Leistung honoriert, die gegen die großen Lebensrisiken wie Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit
absichert, die aber auch allen Menschen eine zweite, gegebenenfalls sogar eine dritte Chance gibt. Es ist die
Idee von einer Gesellschaft, in der Reichtum nicht
verteufelt wird, in der Armut aber auch nicht der Caritas
zugeführt wird.
({18})
Es ist die Idee von einer Gesellschaft, die individuelle
Lebensentwürfe ermöglicht und sich gleichzeitig dem
Gemeinwohl verpflichtet sieht.
Es geht nicht nur um den Preis für eine solidarische
Gesellschaft, sondern es geht in meinen Augen vor allen
Dingen um den Wert einer solidarischen Gesellschaft.
Deshalb will ich sagen: Wettbewerbsfähigkeit und Wertbindung gehören in einem modernen Deutschland nach
Auffassung der SPD zusammen. Genau das ist der
Grund für Deutschlands Erfolgsgeschichte. Genau das
macht die Stärke Deutschlands aus, und genau darum
wird es am 22. September dieses Jahres gehen.
Vielen Dank.
({19})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Ursula von
der Leyen. - Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Steinbrück, so jämmerlich, wie Sie Deutschland sehen,
ist es nicht.
({0})
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“
Das ist ein Wort, das Kurt Schumacher der SPD schon
vor Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben hat. Betrachten wir einmal die Wirklichkeit von heute:
Noch nie hatten wir so viel Arbeit in Deutschland.
({1})
Wir haben heute 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte; das sind 2,6 Millionen mehr, seitdem Angela Merkel Kanzlerin ist.
({2})
Es ist gute Arbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse ist seit 2005 stärker gestiegen als die Zahl der
atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der
älteren Erwerbstätigen über 55 ist um 1,8 Millionen gestiegen, seit Angela Merkel Kanzlerin ist.
({3})
Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in ganz
Europa. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit 2007 um
40 Prozent gesunken.
({4})
Heute sind eine viertel Million Kinder weniger in
Hartz IV. Das ist die Wirklichkeit in dem Land, in dem
Angela Merkel seit sieben Jahren regiert. Die Erfolge am
Arbeitsmarkt kommen bei den Menschen an.
({5})
Ja, Herr Steinbrück, ich habe den Antrag, zu dem Sie
hier heute eigentlich reden sollten, im Gegensatz zu Ihnen gelesen. Von Steuerpolitik steht in dem Antrag der
SPD nichts.
({6})
Aber in dem Antrag steht, dass die Einkommensschere
in Deutschland auseinandergegangen ist.
({7})
Ja, das stimmt. Die Einkommensschere ist durch die
Agenda 2010 auseinandergegangen. Aber seit den letzten drei Jahren schließt sie sich wieder, und zwar dank
der guten Wirtschaftslage und dank der guten Tarifabschlüsse.
({8})
Es ist richtig, dass der Arbeitsmarkt durch die Agenda
2010 geprägt ist; auch das gehört mit zum Betrachten der
Wirklichkeit.
({9})
Sie von der SPD schaffen es, hier einen Antrag einzubringen - über diesen debattieren wir hier -, in dem Sie
auf 14 Seiten wortreich eine Agenda für 2020 darlegen,
ohne auch nur mit einem einzigen Wort die Agenda 2010
zu erwähnen, geschweige denn, dass Sie die Urheberschaft dafür haben.
({10})
Was ist eigentlich mit Ihnen los? Schämen Sie sich dafür, oder was ist mit Ihnen passiert?
({11})
Das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt flexibler zu machen und Menschen in Beschäftigung zu
bringen, die vorher keine Chance hatten. Das wurde erreicht.
({12})
Aber die rot-grüne Agenda war handwerklich so lausig
gemacht, dass sie schwere Gerechtigkeitslücken gerissen
hat, die wir hinterher alle flicken mussten.
({13})
Wir mussten die Konstruktionsfehler der Agenda
2010 beheben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen
die Jobcenterreform um die Ohren gehauen. Wir mussten die Jobcenter auf feste Füße stellen. Hätten wir das
nicht getan, gäbe es heute in Deutschland keine Jobcenter.
({14})
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen Ihre Hartz-IVReform um die Ohren gehauen. Rot-Grün hat die HartzIV-Regelsätze teilweise geschätzt. Wir haben sie berechnet und verfassungsfest gemacht.
({15})
Am schlimmsten ist, dass Rot-Grün die Kinder in
Hartz IV vollständig vergessen hat.
({16})
Keinen einzigen Cent für den Zugang zu Teilhabe und
Bildung der Kinder haben Sie bei der Berechnung von
Hartz IV hineingerechnet. Das hat Ihnen das Verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben. Wir haben das
Bildungspaket eingeführt, weil uns die Chancengerechtigkeit der Kinder am Herzen liegt. Sie reden, wir handeln. So sieht das aus.
({17})
Rot-Grün hat die Zeitarbeit vollständig dereguliert.
Wir halten Zeitarbeit für richtig, aber es muss dabei fair
zugehen. Deshalb haben wir den Mindestlohn in der
Zeitarbeit eingeführt. Wir haben die Drehtürklausel zum
Schutz der Beschäftigten eingeführt. Rot-Grün redet von
Gerechtigkeit, wir handeln, wir setzen sie durch.
({18})
Herr Steinbrück, ich habe zwei Forderungen herausgehört, die Sie in Ihrem 14-seitigen Antrag, den Sie eben
debattieren sollten, erheben. Die eine Forderung lautet:
Steuern rauf! Die andere Forderung lautet: Wir wollen
den Mindestlohn im Parlament diktieren und die Tarifautonomie nicht mehr respektieren!
({19})
Wir gehen einen anderen Weg. Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit ist Gott sei Dank vorbei. FachkräfteBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
sicherung, das ist das große Thema in Deutschland. Wir
wollen benachteiligte Jugendliche in Ausbildung bringen, und zwar jetzt, da sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt dreht. Auf dem Ausbildungsmarkt ist das Angebot an Ausbildungsplätzen derzeit größer als die
Nachfrage. Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. Der Ausbildungspakt ist auf genau diese Jugendlichen konzentriert worden; denn sie brauchen jetzt eine Chance.
({20})
Wir kümmern uns auch um die 25- bis 35-Jährigen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die in der Regierungszeit von Rot-Grün nicht nur die Schule geschmissen,
sondern auch ihre Ausbildung abgebrochen haben.
({21})
Diese Menschen sind jetzt ohne Abschluss in Hartz IV,
und sie brauchen eine zweite und eine dritte Chance.
Diese geben wir ihnen, und zwar mit unserer Initiative
„AusBILDUNG wird was - Spätstarter gesucht“. In den
nächsten drei Jahren wollen wir 100 000 dieser jungen
Menschen zwischen 25 und 35 Jahren zu einem Abschluss führen. Ich freue mich, dass die SPD diese Initiative, die wir auf den Weg gebracht haben, so gut findet,
dass sie sie, nur unter einem anderen Namen, selbst in
ihr Programm schreibt. Sie reden, wir handeln. Hier
sieht man es wieder.
({22})
Das setzt sich bei den Frauen fort. Sie haben eben das
Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ angedeutet. Wie war denn die Geschichte der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
({23})
Wer hat denn 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt?
({24})
Es ist die Union gewesen.
({25})
Wer hat denn dafür gesorgt, dass es ab 2013 den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz gibt? Es ist die Union
gewesen. Sie reden, wir handeln. Wir sorgen für eine
gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
({26})
Wer hat denn den Mindestlohn in der Pflege eingeführt? Es ist diese Regierung gewesen. Vom Mindestlohn in der Pflege profitieren insbesondere Frauen,
meine Damen und Herren. Sie reden, wir handeln. Das
ist das, was sich hier und heute herauskristallisiert.
({27})
Ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Älteren am Arbeitsmarkt. Ich habe vermisst, dass Sie zu
diesem Thema etwas sagen. In Ihrem Antrag steht dazu
etwas, wenn auch in verklausulierter Form. Warum haben Sie darüber nicht gesprochen? Wir debattieren heute
schließlich Ihren Antrag.
Es haben noch nie so viele Ältere über 55 Jahre Arbeit in Deutschland gehabt wie heute.
({28})
Rot-Grün sieht die Älteren immer nur vom Defizit her;
Sie sehen nur, was sie nicht können, und sagen nur, was
Sie ihnen nicht zutrauen.
Wir machen das anders. Wir sind der Meinung, dass
ältere Menschen Lebenserfahrung und Stärken haben.
Wir brauchen sie am Arbeitsmarkt. Deshalb ist uns daran
gelegen, nicht nur dafür zu sorgen, dass sie länger in den
Betrieben bleiben, sondern jetzt auch dafür zu sorgen,
dass gerade die arbeitslosen Älteren bessere Chancen bekommen, eingestellt zu werden. Wir begleiten die älteren Menschen bis in die Betriebe hinein, um ihnen eine
Perspektive zu geben, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
({29})
Auch schwerbehinderte Menschen haben aufgrund
der guten Arbeitsmarktsituation eine große Chance
- auch dazu habe ich von Ihnen nichts gehört; auch was
dieses Thema angeht, haben Sie zu Ihrem Antrag nichts
gesagt -, aber sie profitieren nicht so stark wie alle anderen Gruppen. Deshalb müssen wir noch mehr Anstrengungen unternehmen, um dafür zu sorgen, dass
Menschen mit Behinderung besser in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
({30})
Die Bundesagentur für Arbeit nimmt gezielt 2,5 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand, um diesen Menschen den
Schritt ins Arbeitsleben zu erleichtern. Im Rahmen der
„Initiative Inklusion“ haben wir weitere 100 Millionen Euro alloziert, um dazu beizutragen, dass gerade
junge Menschen mit Behinderung den Weg in die Ausbildung und den ersten Arbeitsmarkt schaffen.
({31})
Meine Damen und Herren, entlarvend ist, dass die
SPD
({32})
in ihrem 14-seitigen Papier über Deutschland 2020 kein
einziges Wort über Zuwanderung oder Integration verliert. Das ist nicht unser Zukunftsbild von Deutschland!
({33})
Wir brauchen die Gruppe der Zuwanderer und der Migranten am Arbeitsmarkt, und wir schätzen sie, meine
Damen und Herren.
({34})
Deshalb haben wir die Anwerbestoppausnahmeverordnung, dieses aufgeblähte Monster, ersatzlos gestrichen.
Wir haben stattdessen die Bluecard eingeführt und die
Beschäftigungsverordnung im Hinblick auf Facharbeiter
neu geordnet. Für uns zählt nicht, woher jemand kommt,
({35})
sondern für uns zählt, ob er oder sie gemeinsam mit uns
dieses Land voranbringen wird. Das ist unsere Haltung
im Hinblick auf Deutschland 2020.
({36})
Meine Damen und Herren, das SPD-Papier - über das
der Kandidat hier leider nicht debattiert hat, das aber auf
der Tagesordnung steht - zeigt, dass die SPD nach der
vollständigen Deregulierung im Rahmen der Agenda
({37})
mit ihrer Agenda 2020 jetzt eine maximale Regulierung
erwartet und anstrebt. Und wie wir eben gehört haben:
Sie reden das Land schlecht. Sie gehen von einem Extrem ins andere.
Wir gehen den Weg der Fairness und der wirtschaftlichen Vernunft,
({38})
wir gehen den Weg der Mitte.
Vielen Dank.
({39})
Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser
Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Klaus Ernst.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist schon bemerkenswert, wie sich hier zwei
Parteien, die sich eigentlich - wie ich in den letzten acht
Jahren im Bundestag erlebt habe - bei sehr vielen Aktionen im Prinzip einig waren, jetzt darüber streiten, wer
von ihnen eigentlich der Schlimmere war.
Ich möchte noch einmal feststellen, Frau von der
Leyen: Das, was Sie eigentlich erreichen wollten - mehr
Beschäftigung in Deutschland -, haben Sie nicht erreicht. Ausschlaggebend ist nämlich nicht, ob mehr
Leute im Niedriglohnbereich beschäftigt sind - da gibt
es natürlich einen Zuwachs - oder ob mehr Leute in befristeter Beschäftigung sind - da gibt es auch einen Zuwachs -, sondern das wirkliche Maß kann nur die Zahl
der geleisteten Arbeitsstunden sein.
({0})
Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hat in der Bundesrepublik Deutschland trotz der Deregulierung am Arbeitsmarkt nicht zugenommen. Das müssen Sie einmal
nüchtern zur Kenntnis nehmen, Frau von der Leyen!
({1})
Die Arbeit ist billiger geworden, die Arbeit ist unsicherer geworden, und die Arbeitsverhältnisse haben
sich für viele Menschen dramatisch verschlechtert.
Ich möchte heute vor allen Dingen etwas zu dem Antrag der Linken zum Mindestlohn sagen. Wir hätten
heute die Chance, gemeinsam - mit Ihnen von den Regierungsfraktionen - eine riesige Ungerechtigkeit in diesem Lande zu beseitigen. Um was geht es? Es geht um
nicht weniger als die Einhaltung unserer Verfassung. In
Art. 1 des Grundgesetzes steht:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Es gehört zur Würde, meine Damen und Herren, dass
Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, von ihrer Arbeit
leben können und nicht hinterher zum Amt gehen müssen, weil das Geld nicht reicht. So etwas entspricht nicht
unserer Verfassung.
({2})
Diejenigen, die 3 oder 4 oder 5 Euro die Stunde verdienen, sind insbesondere Frauen. Mich freut ja Ihr Engagement, Frau von der Leyen - wir haben Sie dabei ja
unterstützt, auch wenn Ihnen Ihre eigene Partei von der
Fahne gegangen ist -, für mehr Frauen in Führungspositionen. Aber wo bleibt Ihr Engagement für die vielen
Frauen in diesem Land - es betrifft überwiegend
Frauen -, die zu niedrigsten Löhnen arbeiten müssen? In
dieser Frage, Frau von der Leyen, haben Sie völlig versagt, da haben Sie null Engagement gezeigt.
({3})
Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen noch einmal in aller
Klarheit sagen: Sie haben einen Eid auf die Verfassung geleistet - und nicht auf das Programm der Arbeitgeberverbände, die die Mindestlöhne eigentlich verhindern wollen.
({4})
Sie regieren mit Ihrer Haltung gegen Mindestlöhne
gegen das Volk. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will Mindestlöhne: Laut Emnid sind es 86 Prozent
der Bürgerinnen und Bürger. Übrigens ist auch eine
Mehrheit in Ihrer Partei für Mindestlöhne. Auch die
Mehrheit der SPD-Wähler ist für einen Mindestlohn. Ich
garantiere Ihnen: Sie werden in dieser Frage schneller
rückwärts laufen, als Sie nach rückwärts gucken können.
Sie werden noch merken - auch bei den Wahlen; das
hoffe ich sehr -, dass Sie eine Mehrheit in diesem Lande
gegen sich haben. Übrigens sind auch die Selbstständigen, Herr Brüderle, für die Einführung eines Mindestlohns. Sie sehen: Auch Ihre Klientel ist in dieser Frage
weiter als Sie selbst.
({5})
Die Koalition hat sich auf die Fahne geschrieben:
Leistung soll sich lohnen. - Ich frage: Lohnt sich denn
tatsächlich eine Leistung bei einem Stundenlohn von
3 oder 4 Euro?
({6})
Wenn man zum Aufstocken zum Amt gehen muss, lohnt
sich diese Leistung nicht. Ein Viertel der Beschäftigten
sind Niedriglöhner. 1,4 Millionen Menschen verdienen
weniger als 5 Euro die Stunde; die Zahlen haben wir hier
des Öfteren diskutiert. Lohnt es sich denn tatsächlich für
einen Rettungssanitäter - das sind die, die uns von der
Straße auflesen, wenn uns etwas passiert ist -,
({7})
etwas zu leisten, wenn er dafür weniger als 9 Euro die
Stunde bekommt? Ist das tatsächlich eine Entlohnung,
die dem angemessen ist, was dieser Mensch leistet? Ich
sage: Die Mehrheit der Menschen ist für einen vernünftigen Mindestlohn, weil ein Mindestlohn etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Mit aller Klarheit: Wer einen Mindestlohn ablehnt, wie Sie das tun, der hat mit der
Mehrheitsmeinung in diesem Land und dem Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger nichts mehr
am Hut.
({8})
Sie werden nicht müde, negative Beschäftigungswirkungen bei der Einführung eines Mindestlohns zu konstatieren. Es gibt weltweit keine einzige Studie - keine
einzige! -,
({9})
die Ihnen mit Ihrer Position recht gibt. Ich möchte bitte
schön gerne einmal wissen, wo Sie diesen Unfug eigentlich herhaben. Die Realität ist ganz anders. Selbst in
England, wo der Mindestlohn schon seit Jahren gilt, sagen
die Unternehmerverbände: keine negativen Auswirkungen.
({10})
Daneben führen Sie gerne das Argument Frankreich
an und sagen: Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit so
hoch, weil es dort einen Mindestlohn gibt. - Wissen Sie,
was das Problem ist? Durch das Lohndumping in der
Bundesrepublik, dadurch, dass wir keine Mindestlöhne
haben und die Löhne sinken, sind wir Mitverursacher
der Arbeitslosigkeit in Frankreich und bei anderen europäischen Nachbarn. Deshalb müssen wir vor dem Hintergrund der internationalen Lage auch bei uns einen
Mindestlohn einführen.
({11})
- Weil ich mich immer freue, wenn Sie sich so aufregen,
will ich natürlich auch noch etwas zur Tarifautonomie
sagen:
Dass Sie sich zum Schutzpatron der Tarifautonomie
machen, ist wirklich interessant. Ich kann mich noch an
Ihre Vorschläge erinnern, das Streikrecht einzuschränken. Hat das die Tarifautonomie gefördert oder eher behindert? Ich kann mich auch noch an Rogowski erinnern, den Arbeitgeberpräsidenten. Der war Ihrem Lager
eh bei weitem näher als jedem anderen hier im Haus. Er
wollte Tarifverträge verbrennen. Und Sie machen sich
zum Schutzpatron von Tarifverträgen! Darüber kann ich
nicht einmal mehr lachen. Das glaubt Ihnen doch kein
Mensch.
({12})
Sie argumentieren, dass die Tarifautonomie letztendlich eingeschränkt werden würde, wenn wir einen Mindestlohn auf einem unteren Level festlegen würden.
Merkwürdigerweise sind die Gewerkschaften, also die
Träger dieser Tarifautonomie, selber dafür, dass Mindestlöhne eingeführt werden. Diese sehen darin also keinen Versuch, die Tarifautonomie einzuschränken. Sie tun
das aber.
({13})
Glauben Sie nicht, dass die Gewerkschaften selber
wissen, was für ihren Job wichtiger ist? Glauben Sie
wirklich, sie brauchen Sie dazu? Glauben Sie wirklich,
die Gewerkschaften brauchen den Rat der FDP dafür,
wie die Tarifautonomie zu verteidigen ist? Das wäre genauso, als wenn der FC Bayern Ihren Rat dafür brauchen
würde, wie man besser Tore schießt.
({14})
Die braucht er überhaupt nicht.
Genauso wenig brauchen die Gewerkschaften Ihren
Rat dafür, wie man Tarifverträge verteidigt; denn ich
sage Ihnen: Sie haben mit Tarifautonomie eigentlich
nichts am Hut. Wenn Sie im Kern Ihrer Gedanken wirklich für Tarifautonomie wären, dann würden Sie dazu
beitragen, dass die Tarifautonomie gestärkt wird.
Was müssten Sie dann machen? Sie müssten dann dafür sorgen, dass wir starke Gewerkschaften haben, die
sich für höhere Löhne einsetzen. Ist das Ihre Position?
Das würde mich wundern. Seit wann ist die FDP für
starke Gewerkschaften? Sie müssten dann auch für eine
Ausweitung des Streikrechts eintreten, weil ein starkes
Streikrecht die Voraussetzung dafür ist, dass die Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie auch tätig
sein können. Sie sind mit Ihrer Politik doch mitverantwortlich dafür, dass es in der westlichen Welt nur noch
zwei Länder gibt, in denen weniger gestreikt wird als in
der Bundesrepublik, nämlich die Schweiz und den Vatikanstaat. Darauf können Sie stolz sein.
Darum sage ich: Wenn Sie sich um die Tarifautonomie kümmern, dann habe ich immer leichte Bedenken.
({15})
Durch die Politik, die wir hier heute auch diskutieren,
sind die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt worden:
Dafür war natürlich die Einführung von Hartz IV verantwortlich, weil die Leute dadurch Angst vor Arbeitslosigkeit haben, was die Kampfkraft der Gewerkschaften
natürlich nicht stärkt. Daneben nenne ich die Deregulierung der Arbeit, die Tatsache, dass Beschäftigte befristet
eingestellt werden, die Leiharbeit und die Werkverträge,
Frau von der Leyen.
Sie nehmen die Gewerkschaften hier immer in die
Pflicht, das vernünftig zu regeln. Gleichzeitig tun Sie
aber nichts dafür, dass die Leiharbeit wieder beschränkt
wird, dass die befristete Beschäftigung eingedämmt wird
und dass der Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen,
egal wie sie bezahlt wird, beseitigt wird. Wenn das so
bleibt, dann schwächen Sie die Gewerkschaften. Deshalb traue ich Ihnen beiden nicht über den Weg, wenn
Sie die Tarifautonomie verteidigen. Sie werden es mir
nachsehen.
({16})
Ich kann Ihnen auch sagen, dass trotz der Tarifverträge niedrige Löhne gezahlt werden: im Fleischerhandwerk 6,19 Euro pro Stunde, in der Floristik 5,26 Euro
pro Stunde, im Garten- und Landschaftsbau - im
Westen - 6,25 Euro pro Stunde. Trotz der Tarifverträge!
Warum - Sie können hier auf die bösen Gewerkschaften schimpfen; die haben das abgeschlossen - ist das so?
Es ist so, weil die Voraussetzung für die Durchsetzung
eines vernünftigen Tarifvertrags ist, dass man stark ist
und streiken kann. Sonst sind Tarifverhandlungen nichts
als kollektives Betteln. Ich habe das oft erlebt. Ich sagen
Ihnen: Wir müssen, wenn wir Tarifautonomie und
Streikrecht verteidigen wollen, alles tun, um die entsprechenden Gesetze zu ändern - und das tun wir leider
nicht.
Ihre Politik ging in die Richtung: Gewerkschaften
schwächen, Löhne senken, und dann sollen es die Gewerkschaften über die Tarifautonomie wieder richten. Das haut nicht hin. Meine Damen und Herren, das, was
Sie eigentlich tun, ist die Verteidigung von Niedriglöhnen. Damit ist die seit Jahren praktizierte Haltung der
Parteien CDU, CSU und FDP mitverantwortlich für
Löhne, von denen Menschen nicht mehr leben können.
Heute hätten wir die Möglichkeit, das zu korrigieren.
({17})
Meine Damen und Herren, ich komme aber nicht umhin, noch einmal anzusprechen, warum dieses Problem
überhaupt vorhanden ist. Kanzler Schröder hat explizit
gesagt, er möchte die Einführung eines Niedriglohnsektors, und hat sich dafür selber gelobt. Dafür wird er von
der SPD auch heute noch auf den Sockel gestellt.
Es wird immer wieder behauptet, die SPD habe damals den Mindestlohn nicht eingeführt, weil die Gewerkschaften dagegen gewesen seien. Das ist eine interessante Argumentation. Die Gewerkschaften waren ja
auch gegen die Agenda 2010, und trotzdem hat die SPD
sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren auch gegen
die Rente mit 67, und trotzdem hat die SPD sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes, und trotzdem hat die SPD sie
durchgesetzt. Zu sagen „Die Gewerkschaften waren
schuld, dass wir den Mindestlohn nicht eingeführt haben“, das ist wirklich pure Heuchelei.
({18})
Ich bin trotzdem froh, dass Sie zumindest in dieser
Frage auf den Pfad der Tugend zurückgekommen sind.
Deshalb werden wir dem Entwurf eines Gesetzes über
die Festsetzung eines Mindestlohns zustimmen, obwohl
ich der geplanten Mindestlohnhöhe eigentlich nicht zustimme; 8,50 Euro sind zu wenig. Das wäre ein Lohn zulasten Dritter. Jeder, der einen solchen Lohn sein ganzes
Leben bekommt, ist später auf Grundsicherung im Alter
angewiesen. Das wollen wir nicht. Deshalb sind wir für
einen Mindestlohn von 10 Euro.
Danke fürs Zuhören.
({19})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine große Inszenierung war geplant. Die SPD-Fraktion
verfasst, wie ich jetzt feststellen muss, mit heißer Feder
einen Antrag „Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch“. Der Kanzlerkandidat gibt den Arbeiterführer.
Wenn das, was Sie, lieber Peer Steinbrück, heute Morgen hier abgeliefert haben, Ihr Ziel ist, dann muss ich sagen: Das war einfach blamabel.
({0})
Es ist deutlich geworden, warum Sie bei den Menschen
in diesem Lande nicht ankommen: weil das, was Sie sagen, abgehoben wirkt. Sie stehen nicht für das, was Sie
sagen. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern.
Sie reden viel über Chancengerechtigkeit; aber als
Kanzlerkandidat stehen Sie für eine Politik der Umverteilung. Das ist ein Widerspruch. Das passt nicht zusammen. Das muss man hier sehr deutlich feststellen. - Umverteilung, das ist die Sozialpolitik der Gleichheit. Das
mag für Sie noch gelten. Aber Chancengerechtigkeit, das
ist die Sozialpolitik der Freiheit, lieber Peer Steinbrück,
und damit hat die SPD und damit haben Sie persönlich
nichts am Hut. Das will ich hier einmal sehr deutlich sagen.
({1})
Immerhin hat er es geschafft - das muss ich einräumen -, zu dieser Debatte zu kommen. Als wir heute
Morgen über den Mittelstand gesprochen haben, den Sie,
lieber Peer Steinbrück, in Ihrer Rede ja so hoch gelobt
hatten, da konnten Sie Ihre Anwesenheit offensichtlich
nicht einrichten. Ich weiß nicht, ob Sie keine Lust oder
keine Zeit hatten oder ob einfach das schlechte Gewissen
Grund für Ihre Abwesenheit gewesen ist. Schließlich
wissen Sie natürlich, was Sie dem Mittelstand mit ihren
steuerpolitischen Vorhaben zumuten. Das geht an die
Wurzel unserer Volkswirtschaft. Den kleinen und mittelständischen Unternehmen, den Handwerksbetrieben, den
kleinen Einzelhändlern, den Freiberuflern wollen Sie ans
Zeug,
({2})
und damit werden Sie eine erfolgreiche Wirtschaft nicht
auf- und ausbauen können.
({3})
Wer die Wörter „Bildung“ und „Bildungsgerechtigkeit“ in den Mund nimmt - nichts „hätte, hätte, hätte“,
lieber Peer Steinbrück -, der muss sich auch fragen lassen, wie es er bzw. die Parteifreunde, die Genossinnen
und Genossen, dort halten, wo sie die Mehrheit haben.
Bildung findet dadurch statt, dass Unterricht in Schulen
gegeben wird. Wie sieht es denn in einem Land wie Hessen, schwarz-gelb regiert, aus? Da werden in diesem
Schuljahr 2 000 Lehrer neu eingestellt.
({4})
In Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün vor kurzem die
Macht übernommen hat, werden 7 000 Lehrerstellen abgebaut.
({5})
- Sie können gleich etwas dazu sagen, Guntram
Schneider. - Das ist das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen. Das hilft jungen Menschen
nicht weiter.
({6})
Wer das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde führt, der
muss sich auch fragen lassen, wie er es mit der Leistungsgerechtigkeit hält. Da ist das Thema „kalte Progression“ eines, das wir hier auf den Tisch bringen müssen, und wir tun das auch heute; denn die SPD war es,
({7})
die im Bundesrat verhindert hat, dass die Vorschläge
zum Abbau der kalten Progression Gesetz werden. Sie
haben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - der
Krankenschwester, dem Handwerker, dem Facharbeiter nicht gegönnt, dass sie, wenn sie eine Lohnerhöhung
oder Gehaltserhöhung erhalten, von dieser auch wirklich
profitieren. 3,5 Milliarden Euro wären das für die Menschen in diesem Lande gewesen.
({8})
Die SPD, die einmal von sich behauptet hat, sie sei
die Partei der kleinen Leute,
({9})
hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss gegen
diese Vorhaben votiert.
({10})
- Das ist wahr, liebe Kollegin Ferner. Da können Sie hier
gestikulieren, wie Sie wollen. Das wird mit Ihnen am
Ende dieser Legislaturperiode nach Hause gehen.
({11})
Wir wollen die Menschen entlasten, wir wollen, dass
sie mehr Netto vom Brutto haben. Da, wo wir es konnten, haben wir es getan: Durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge haben wir eine Entlastung um
10 Milliarden Euro realisiert. Da, wo wir Sie brauchten,
haben Sie die Hand verweigert.
({12})
Sie wollten die Menschen in diesem Lande nicht entlasten,
({13})
und es ist schändlich, dass Sie sich so verhalten haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Das, was Sie sagten, lieber Peer Steinbrück, hat deswegen nicht verfangen, weil schon Ihr Ansatz der falsche ist. Sie mussten ja selbst einräumen: Deutschland
ist ein starkes Land. - Ja, und auch die letzten vier Jahre
sind gute Jahre für Deutschland und für die Menschen in
Deutschland gewesen,
({15})
mit guten Arbeitsplatzchancen, mit guten Lohn- und Gehaltssteigerungen. Deswegen können Sie hier dann nicht
den Miesmacher geben, was Ihnen offensichtlich Ihre
Partei so aufgeschrieben hat. Wenn Sie also noch einmal
den Arbeiterführer versuchen, sollten Sie dies unbedingt
auch mit einem neuen Redenschreiber angehen.
({16})
Das ist mein Rat, den ich Ihnen hier noch einmal sehr
deutlich mitgeben will.
({17})
Nein, das, was die SPD hier präsentiert, ist politische
Beliebigkeit. Ich habe Ihren Antrag gelesen und sehe es
so ähnlich wie die Ministerin. Ich habe gedacht: Nach
der Agenda 2010 kommt jetzt ein großer Wurf, Deutschland 2020. - Aber es ist wirklich viel heiße Luft. Ich
sage es Ihnen noch einmal: Bei einem zweiten Aufguss
kommt, wenn Sie sich einen Kaffee kochen, nur noch
eine dünne Brühe heraus. Genau das ist der Antrag der
SPD, der heute hier in Rede steht.
({18})
Damit können Sie nicht erfolgreich sein.
Vier gute Jahre haben verdient, in die Verlängerung
zu gehen. Deswegen werden wir bis zum 22. September
dafür kämpfen und auch gewinnen. Deutschland hat vier
weitere gute Jahre verdient.
({19})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unsere Kollegin Frau Katrin Göring-Eckardt.
Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Frau von der Leyen, letzte Woche haben alle darauf
gewartet, dass Sie hier etwas sagen würden. Diese Woche haben Sie geredet - um Ihr politisches Überleben.
Sie hatten nichts zu sagen, die eigenen Leute sind nicht
dagewesen, und Beifall haben Sie höchstens dünnen bekommen.
({0})
Das muss man vielleicht einmal klar und deutlich sagen: Das, was Sie denjenigen vorwerfen, die die Agenda
2010 mit dem klaren Ziel auf den Weg gebracht haben,
zu fördern und zu fordern, haben Ihre Leute im Bundesrat gemacht,
({1})
egal ob es um die Leiharbeit ging, egal ob es um das immer weitere Herunterschrauben der Regelsätze ging. Das
waren Sie, das waren nicht SPD und Grüne. Sie sind diejenigen gewesen, die das verschlimmbessert haben,
({2})
gerade für die Arbeitslosen, gerade für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber dann behaupten Sie
hier, Sie handelten.
({3})
Frau von der Leyen, letzte Woche haben Sie weder
geredet noch gehandelt; aber das sei einmal dahingestellt.
({4})
Ansonsten sind Sie nichts weiter als eine große Ankündigungsministerin, auch heute wieder. Sie haben die Lebensleistungsrente angekündigt. Wo ist sie denn? Sie haben die Bekämpfung der Altersarmut angekündigt.
Nichts ist passiert. Sie haben angekündigt, als alle davon
redeten, dass der Stress am Arbeitsplatz zunimmt, Sie
machten eine Antistressverordnung. Nichts! Sie haben
Verbesserungen der Werkverträge angekündigt. Nichts!
Sie haben sich für den Mindestlohn eingesetzt. Nichts ist
passiert.
({5})
Entgeltgleichheit, Quote - wir könnten jetzt eine Stunde
lang darüber reden, was Sie nicht gemacht haben. Das ist
peinlich, und das ist nicht im Sinne der Menschen.
({6})
Reden wir über die Realität. Herr Rösler hat diese
Woche seiner Partei gesagt, sie möge doch bitte einmal
beim Thema Mindestlohn die Lebensrealität der Menschen in den Blick nehmen. - Wir stellen fest: Die FDP
regiert seit vier Jahren, und zwar nach eigenen Angaben
seit vier Jahren an der Lebensrealität vorbei.
({7})
Was ist die Realität?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Kolb?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute in Deutschland
- Stichtag 25. April 2013 - für rund 4 Millionen Menschen Mindestlöhne gelten
({0})
und dass diese branchenbezogenen Mindestlöhne auf der
Basis von Tarifverträgen eingeführt wurden?
Wären Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
der weit überwiegende Teil dieser Mindestlöhne, nämlich für 3,8 von 4 Millionen Menschen, unter schwarzgelben Regierungen eingeführt wurde,
({1})
1996 im Baubereich beginnend und in dieser Legislaturperiode für 2,1 Millionen Menschen fortgesetzt? Das
zeigt, dass wir die Realität der Menschen längst im Blick
haben und dass wir da, wo es erforderlich ist, entsprechend reagieren.
Was uns von Ihnen unterscheidet, ist, dass Sie glauben, mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn die Menschen glücklich machen zu können. Ich
sage Ihnen - ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen -:
Es ist eben nicht vorstellbar, dass ein gleiches Lohnniveau in der Oberlausitz, im Bayrischen Wald, in Ostfriesland genauso Gültigkeit haben kann,
({2})
wie das beispielsweise im Rhein-Main- oder im RheinNeckar-Raum, in Hamburg, Düsseldorf oder München
der Fall ist.
({3})
Das geht nicht. Aber wir haben immer gesagt: Branchenbezogene Mindestlöhne gehen. Das ist der Weg, den wir
in Nürnberg weiter ins Auge fassen wollen.
Das ist Ihre Frage.
Herr Kolb, ich meine, Sie müssen mit Ihrem Parteivorsitzenden darüber reden, warum er jetzt sagt, die FDP
müsse einmal die Lebensrealität zur Kenntnis nehmen.
Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.
({0})
Ich kann Ihnen aber sagen, wie die Situation tatsächlich ist: 6,8 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten
für einen Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das sind diejenigen, die arbeiten und dann aufstocken müssen.
({1})
Das sind diejenigen, bei denen nicht mehr von Leistungsgerechtigkeit die Rede ist, sondern die zu echten
Hungerlöhnen in Deutschland arbeiten. Das sind zum
Teil übrigens auch diejenigen, die in Branchen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen arbeiten. Wissen Sie,
was passiert? Sie bekommen Löhne von zum Teil unter
5 Euro.
({2})
Davon kann man nicht leben. Da kann man auch nicht
mehr davon reden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber
auf Augenhöhe miteinander verhandeln.
Diese Woche, sehr geehrter Herr Kolb, haben wir das
gesehen, von dem Sie behaupten, dass es nicht funktioniert: Diese Woche hat das Friseurhandwerk einen Mindestlohn von 8,50 Euro verabredet.
({3})
Sie behaupten immer: In einem solchen Fall gehen die
Arbeitsplätze flöten. - Sie sind auf dem völlig falschen
Dampfer, Herr Kolb. Sie haben nicht in den Blick genommen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn für alle Gerechtigkeit bedeutet.
({4})
Mit einem Mindestlohn bekommt man Fachkräfte und
vermeidet einen Flickenteppich in Deutschland nach
dem Motto: Die einen so, die anderen so. Wir sorgen dafür, dass es eine gesetzliche Untergrenze gibt. Das hat
mit Gerechtigkeit zu tun. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit zu tun. Das hat damit zu tun, dass man endlich
anerkennt, was die Leistung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer wert ist, Herr Kolb.
({5})
Ich will gerne bei der Lebensrealität bleiben. Drei
Viertel der über 7 Millionen Minijobberinnen und Minijobber in Deutschland arbeiten für einen Stundenlohn
von weniger als 8,50 Euro. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun. Ein Viertel der Erwerbstätigen sind
inzwischen atypisch beschäftigt. Sie können mir doch
nicht sagen, dass Leiharbeit, dass befristete Beschäftigung, dass geringfügige Beschäftigung, wie sie im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufgelistet werden, jedenfalls in dem Teil, den Sie mit
unterschrieben haben, irgendetwas mit einer Verbesserung der Situation am Arbeitsmarkt zu tun haben. Das
Gegenteil ist der Fall.
({6})
Insbesondere die Situation der Frauen - da muss man
wieder Frau von der Leyen in den Blick nehmen - ist ein
Desaster. Fast jede dritte Frau in Deutschland arbeitet für
einen Niedriglohn. Die Zahl der Frauen, die von ihrer
Arbeit nicht leben können, hat sich seit 2005 verdoppelt.
Das ist doch keine Erfolgsbilanz, Frau von der Leyen.
Das ist definitiv das Gegenteil.
({7})
Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Lebensrealität in Deutschland, was Leiharbeit, Mindestlöhne, die
es nicht gibt oder die viel zu gering sind, und die Situation gerade der Minijobberinnen angeht, hat mit dem,
was Sie behaupten, nichts zu tun. Minijobberinnen bekommen in der Regel keinen Einstieg in eine reguläre
Beschäftigung. Sie, meine Damen und Herren von den
Koalitionsfraktionen, behaupten zwar ständig, Minijobs
seien eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Aber die
Frauen, die heutzutage Minijobs haben, kommen zum
allergrößten Teil nicht in reguläre Beschäftigung. Sie
landen entweder wieder zu Hause, in einer kleinen Teilzeitstelle oder in irgendwelchen Überbrückungsmaßnahmen. Sie sind außerdem nicht abgesichert. Deswegen
brauchen wir zuallererst eine Gleichbehandlung der
Minijobs, wenn es beispielsweise um Arbeitslosigkeit,
Pflegebedürftigkeit und Urlaubsansprüche geht.
({8})
Entsprechende Sofortmaßnahmen würden den Minijobberinnen und Minijobbern helfen und sie nicht länger
als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse
erscheinen lassen. Das sind sie heute tatsächlich. Die
meisten haben nur einen Minijob und nichts anderes.
({9})
Was mich am meisten aufregt, ist, dass Sie gerade die
Arbeitslosen in Deutschland, diejenigen, die arbeiten
wollen, zunehmend so behandeln, als ob diese nicht
mehr in Ihrem Fokus stünden. Sie haben beim Eingliederungstitel immer weiter gekürzt. Nun wird wieder die
Diskussion aufkommen, ob pro Kopf gekürzt wurde
oder nicht. Ich sage Ihnen: Ja, Sie haben etwa ein Viertel
des Geldes für jede und jeden, die bzw. der in Deutschland leistungsberechtigt ist, gekürzt. Das hat nichts mehr
mit Fördern zu tun. Gleichzeitig werden so viele Sanktionen ausgesprochen wie nie zuvor. Sie gängeln die
Arbeitslosen, anstatt ihnen zu helfen, wieder auf dem
ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Eine Alleinerziehende, die Kinder unter drei Jahre aufzieht, braucht
natürlich Unterstützung und Hilfe. Deswegen sage ich
Ihnen ganz klar: Ihre Kürzungen gehen zulasten der
Leistungsberechtigten und der Arbeitslosen. Dabei
brauchen wir diese Menschen dringend als Fachkräfte in
unserem Land.
({10})
Damit sind wir beim Fachkräftemangel. Eric
Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelskammertags, hat gesagt, wir müssten jeden Monat 10 000 Einwanderer in Deutschland aufnehmen, um
dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wir brauchen dringend eine vernünftige Einwanderungspolitik, die das angeht. Ja, wir brauchen mehr Frauenerwerbstätigkeit. Ja,
wir brauchen mehr und besser ausgebildete Jugendliche.
Ja, wir brauchen eine Kultur gegen Altersarbeit. All das
brauchen wir.
Ich will abschließend sagen: Es geht nicht nur darum,
dass wir endlich dafür sorgen müssen, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber wieder auf Augenhöhe sind,
sondern auch darum, ob Deutschland wettbewerbsfähig
ist, ob Fachkräfte hierherkommen und hierbleiben. Die
soziale Frage ist in ökonomischer Hinsicht mindestens
genauso entscheidend wie alles andere. Da haben Sie
versagt. Das müssen Sie sich in das Stammbuch schreiben lassen. Auch darüber wird am 22. September entschieden.
({11})
Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist
Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl
Schiewerling.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man reibt
sich verwundert die Augen und fragt sich: Schauen wir
auf die Realität, oder stehen wir mitten in einer Nebelwolke? Was Sie bislang hier abgeliefert haben, ist nichts
anderes als Nebelkerzen, die dazu dienen, den Blick auf
die Realität völlig zu verstellen.
({0})
Die Bundesarbeitsministerin hat vorhin in aller Deutlichkeit dargelegt, wie sich die Arbeitsmarktsituation
entwickelt hat. Es gibt mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Wollen Sie uns eigentlich ankreiden,
dass 29,8 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind? Wollen Sie uns wirklich ankreiden, dass nun insgesamt fast 42 Millionen Menschen
in Beschäftigung sind? Wollen Sie uns Rekordüberschüsse in den sozialen Sicherungssystemen ankreiden?
Wollen Sie uns eigentlich dafür ausschimpfen, dass es
den Menschen in unserem Land besser geht? Was ist das
denn für eine Mentalität, wie Sie über Deutschland
reden? Nutzen Sie den 1. Mai als Gelegenheit, um den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen: Noch
nie in den vergangenen Jahren haben die Menschen laut
Umfragen so wenig Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt
wie heute. - Das ist die Realität, in der wir leben.
({1})
All dies haben wir übrigens erreicht, obwohl uns zu
Beginn dieser Koalition vorgeworfen wurde, wir würden
massiv in Rechte der Arbeitnehmer eingreifen wollen.
Nichts ist passiert. Der Kündigungsschutz wurde nicht
gelockert. Es hat keine Benachteiligung oder Hintanstellung der Gewerkschaften gegeben. Trotzdem oder gerade deswegen haben wir eine hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in unserer Wirtschaft.
Ich denke, das sind die Botschaften, die wir hier auszusenden haben.
Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit unserer
Bundesarbeitsministerin ein Dankeschön dafür, dass sie
es ist, die immer wieder auf die Situation der Kinder und
Jugendlichen hinweist,
({2})
dass sie es ist, die immer wieder das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Frage der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben aufgreift und umsetzt.
({3})
Ich verschweige auch nicht, Herr Kollege Heil und
alle anderen, dass wir diese Dinge im Vermittlungsausschuss, in der gemeinsamen Runde zwischen Bundestag
und Bundesrat, verhandelt haben. Es war ein mühsames
Ringen. Aber die Initiative, den richtigen Weg einzuschlagen, hat die Bundesarbeitsministerin ergriffen.
({4})
Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ändert nichts daran, dass es in Deutschland Branchen gibt,
in denen es der einen oder anderen Firma schlecht geht,
zum Beispiel Opel in Bochum, wo die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz bangen.
Heute diskutiert der Landtag in Nordrhein-Westfalen in
einer Aktuellen Stunde über die Situation von Opel in
Bochum. Ich habe mich doch sehr gewundert, dass der
zuständige Landesarbeitsminister nicht an seinem Arbeitsplatz in Düsseldorf ist, sondern sich hier befindet.
({5})
Kommen wir zum Inhalt Ihres Antrages. Dort heißt
es: „Die Gesellschaft driftet auseinander.“ Hätten Sie
den viel zitierten Armuts- und Reichtumsbericht gelesen, dann hätten Sie gesehen, dass die verfügbaren
Einkommen steigen. Unter Rot-Grün ist die Einkommensschere auseinandergegangen. Seit 2005 geht die
Einkommensspreizung zurück, und gerade die realen
Haushaltseinkommen der unteren 40 Prozent der Einkommensbezieher sind stärker als beim Rest der Bevölkerung gestiegen.
({6})
Das ist die Wahrheit. Auch wenn das, was Sie verkünden, etwas anderes aussagt: Es stimmt nicht. Vor diesem
Hintergrund stellen Sie sich jetzt hin und sagen: Wir
machen alles noch gerechter, wir ändern dieses und jenes
und machen es solidarischer. Dabei gerät bei Ihnen immer wieder die Zeitarbeit in den Mittelpunkt.
Ich kann es nur wiederholen: Die Änderungen in der
Zeitarbeit sind ohne den Bundesrat und ohne die Beteiligung der Union passiert. Rot-Grün hat in den HartzGesetzen die Zeitarbeit so flexibilisiert, dass sie diese
Entwicklung genommen hat.
({7})
Ich kann nur sagen: Wir haben die Schlecker-Drehtürklausel eingeführt, um die Dinge gerechter zu machen.
Wir haben die Tarifpartner dazu gebracht, einen Mindestlohn zu vereinbaren.
({8})
Wir sind diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass die
Menschen in diesem Bereich nach und nach Equal Pay
bekommen, was übrigens den Gewerkschaften sehr genutzt hat. Vor kurzem haben uns noch Gewerkschaftsvertreter gesagt, dass sie gerade aus der Zeitarbeit viele
neue Mitglieder gewinnen konnten,
({9})
weil die Menschen gemerkt haben, dass die Gewerkschaften für sie vieles erreicht haben. Herzlichen
Glückwunsch! Wir freuen uns darüber. Das ist der richtige Weg und eine gute Botschaft zum 1. Mai.
({10})
Jetzt wollen Sie doch wohl bei 29,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, von denen gerade
einmal 800 000 als Zeitarbeiter arbeiten, nicht das
blanke Elend Deutschlands beschwören. Sie wollen
doch wohl nicht die blanke Verelendung Deutschlands
an diesen 800 000 Menschen festmachen, die auch noch
Löhne erhalten, die die Gewerkschaften ausgehandelt
haben,
({11})
und zudem noch sukzessive Equal Pay bekommen. Ich
halte das für ein starkes Stück, was Sie den Deutschen
hier vorführen.
({12})
Lassen Sie mich einen Satz zu den Minijobs sagen,
weil Frau Göring-Eckardt gerade darauf eingegangen ist.
Auch dieses Thema ist dazu geeignet, riesige Nebelwolken zu erzeugen. 6,9 Millionen Menschen arbeiten in
Minijobs.
({13})
Davon sind fast 20 Prozent Jugendliche bzw. Schüler
und Studenten. Dazu kommen 20 bis 25 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Die Aufstockungsmöglichkeiten
und die Minijobs, die sich dann ausgeweitet haben
- auch das will ich Ihnen klar sagen, Frau GöringEckardt -, sind ohne Zutun der CDU/CSU und der FDP
2003/2004 in den Hartz-Gesetzen verankert worden.
({14})
Sie haben die Möglichkeit eröffnet, dass man nicht
nur ein normales sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis haben kann, sondern darüber
hinaus auch einen Minijob, der dann steuerlich nicht angerechnet wird. Das haben nicht wir gemacht, sondern
Sie. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Minijobs
explosionsartig um 2,3 Millionen angestiegen. Auch das
gehört zur Wahrheit. Stellen Sie es hier nicht anders dar!
({15})
Wir haben die Opt-out-Regelung eingeführt,
({16})
sodass die Menschen, die jetzt einen Minijob haben,
rentenversicherungspflichtig arbeiten, es sei denn, sie erklären sich gegen die Versicherungspflicht. Das hat dazu
geführt, dass wir mittlerweile einen deutlichen Anstieg
der Zahl der rentenversicherungspflichtigen Minijobber
verzeichnen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch kurz einen Satz zum Mindestlohn sagen.
({17})
Auch hier ist wirklich eine Nebelkerze geworfen worden. Wir wollen den tariflichen Mindestlohn. Wir wollen
einen Mindestlohn, den Arbeitgeber und Gewerkschaften gefunden haben. Wir wollen den Mindestlohn, der
vor allen Dingen dort eingeführt wird, wo keine ordentlichen Tarifverträge bestehen.
({18})
Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von Arbeitgebern
und Gewerkschaften erarbeitet wird. Das ist etwas völlig
anderes als ein hier im Parlament kurz vor den nächsten
Bundestagswahlen im Wettbewerb zwischen SPD, Linken und den Grünen nach oben getriebener Mindestlohn,
der jetzt bei der SPD bei 8,50 Euro liegt und bei den Linken bei 10 Euro. Ich bin gespannt, womit andere noch
kommen werden, ob er weiter nach oben getrieben wird.
Das ist keine ordentliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Diese Politik würde zu einer Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit führen; denn es ist eine Politik der Arbeitsplatzvernichtung, wie wir in einigen Ländern
Europas beobachten können.
({19})
Aber ein Mindestlohn, den die Tarifpartner finden, ist
vernünftig, ist sachgerecht und orientiert sich an der
Lebenswirklichkeit der Menschen.
Meine Damen und Herren, für diese ordentliche,
sachgerechte Politik werden wir uns weiter einsetzen.
Dafür werden wir kämpfen.
({20})
Das ist Politik der Union. Wir verstehen unter sozialer
Gerechtigkeit, Menschen auch teilhaben zu lassen. Achten Sie darauf, dass Sie die Welt nicht so schwarz
malen, dass Sie hinterher selbst nicht mehr durchblicken!
Herzlichen Dank.
({21})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. - Bitte schön, Herr Guntram Schneider.
({0})
Guntram Schneider, Minister ({1}):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Kollege Schiewerling, eine Bemerkung: In
Nordrhein-Westfalen gibt es einen Arbeitsminister, der
auch etwas von Wirtschaft versteht,
({2})
und es gibt einen Wirtschaftsminister, der auch etwas
von Arbeit versteht.
({3})
Wir arbeiten da im Team, und machen Sie sich keine
Sorgen über die Präsenz des Wirtschafts- und des
Arbeitsministers bei der heutigen Plenardebatte in Düsseldorf zum Thema Opel.
({4})
Im Übrigen hat ja Ministerpräsident Rüttgers schon einmal durch persönliche Anwesenheit
({5})
in Detroit Opel in Bochum gerettet. Ich habe mir sagen
lassen, er ist kaum über das Pförtnerhäuschen hinausgekommen.
({6})
Auch dies gehört zu den Realitäten.
Verehrte Frau Bundesministerin, Sie haben den Beitrag von Herrn Steinbrück als jämmerlich bezeichnet.
({7})
Ich muss Ihnen eines sagen: Es ist jämmerlich, wie Sie,
obwohl noch im Amt, mit der Sozialgeschichte umgehen.
({8})
Es waren doch nicht Sie, die den Mindestlohn in der
Zeitarbeit eingeführt haben. Dieses Thema ist im Rahmen der Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabepaket verhandelt worden,
({9})
Minister Guntram Schneider ({10})
und wir haben Ihnen dies abgerungen. Da waren Sie
noch gar nicht so weit,
({11})
und die Herren Schiewerling und Kolb waren auch intellektuell noch nicht so weit,
({12})
um zu verstehen, dass dies notwendig ist.
Ähnlich war es auch mit der Schulsozialarbeit. Auch
da haben wir einen großen Wurf gelandet. Jetzt geht es
darum, hier Anschlussregelungen zu finden, weil sich
herausgestellt hat: Die Benachteiligung von armen Kindern kann man nicht nur mit Geld ausgleichen, sondern
man muss vor allem die Strukturen verbessern. Dabei
spielt die Schulsozialarbeit eine herausragende Rolle.
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es in unserer
Gesellschaft nicht nur Armut. Auch der nordrhein-westfälische Armuts- und Reichtumsbericht - wir waren da
schneller als die Bundesebene; wir brauchten nicht so
viel nachzuarbeiten ({13})
zeigt auf: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr
Menschen, denen es gut bis sehr gut geht; andererseits
gibt es immer mehr Menschen, denen es schlecht geht,
die arm sind. - Wir verkleistern da nichts; das überlassen
wir anderen.
({14})
700 000 arme Kinder in Nordrhein-Westfalen, das ist
skandalös.
({15})
Wir halten uns an die alte Maxime: Politik beginnt damit, dass man sagt, was Sache ist,
({16})
und nicht mit schöngeistigen Verkleisterungen, die dafür
sorgen, dass die Realitäten nicht zum Vorschein kommen.
Es gibt also immer mehr Armut. Natürlich haben wir
auch mehr versicherungspflichtige Beschäftigung. Aber
ich sage Ihnen nochmals: Sozial ist nicht, was Arbeit
schafft
({17})
- Sie haben es immer noch nicht begriffen! -, sondern
sozial ist, was gute Arbeit schafft.
({18})
Zur guten Arbeit gehört, dass man mit dem Einkommen
sein Auskommen hat. Weil das in immer weniger Bereichen der Fall ist, brauchen wir einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.
({19})
Sie wollen im Grunde genommen das Gegenteil. Sie
wollen eine Regelung, die zu einem Flickenteppich führen würde.
({20})
Sie reden immer noch davon, dass die Höhe der Einkommen entscheidend dafür ist, welche Qualität und
Güte Arbeitsplätze haben. Nach dieser Logik müsste
Mecklenburg-Vorpommern eine blühende Wirtschaftslandschaft sein und München das Armenhaus der Republik. Bekannterweise ist das nicht so. Natürlich spielt die
Höhe der Einkommen eine Rolle; aber das ist nicht entscheidend.
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, einem Industrieland; da funktioniert die Tarifautonomie noch.
({21})
Aber wir haben auch Unternehmen, in denen der Krankenstand höher ist als der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Da können Sie nicht erwarten, dass es über die
Tarifvertragsparteien zu ordentlichen Mindestlöhnen
kommt. Deshalb brauchen wir gesetzliche Regelungen.
({22})
Wir beginnen hier mit 8,50 Euro.
({23})
Wir wollen keine parteipolitische Auseinandersetzung
um die Höhe des Mindestlohns.
({24})
Wir wollen ein Modell in Anlehnung an das, was in
Großbritannien praktiziert wird. Da gibt es eine Kommission, die unter Einbeziehung der Preissteigerungsrate, der Lohnentwicklung und der allgemeinen Produktivitätsentwicklung - das ist das Entscheidende Vorschläge für die Fortentwicklung des allgemeinen ge29692
Minister Guntram Schneider ({25})
setzlichen Mindestlohns macht. Auf diesem Wege sind
keine Arbeitsplätze gefährdet worden.
Natürlich kann man Mindestlöhne nicht nach Gutdünken festsetzen.
({26})
Mindestlöhne müssen auch durch wirtschaftliche Leistung untersetzt werden.
({27})
- Das ist kein Widerspruch in sich. Wenn das ein Widerspruch in sich wäre, dann hätten wir in 21 Ländern in der
Europäischen Union wirtschaftliche Hasardeure.
({28})
- Die haben doch keine hohe Arbeitslosigkeit wegen der
Mindestlöhne.
({29})
Vereinfachen Sie doch nicht das Problem!
({30})
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:
Über 80 Prozent der Menschen wollen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Sie sollen nicht die Letzten sein, die ihn bekommen; ich stelle dies so fest. Wenn
Sie weiter argumentieren wie bisher, dann werden Sie zu
den letzten ökonomischen Exoten in diesem Land gehören. Deshalb noch einmal: Passen Sie auf! Sie werden
nicht darum herumkommen, hier zu handeln.
({31})
Die Frau Bundesministerin hat ein wichtiges Stichwort genannt: Einwanderungspolitik. Sehr richtig. Auch
ich bin davon überzeugt, dass wir eine organisierte Einwanderung brauchen. Aber wenn Sie dies durchsetzen
wollen, Frau von der Leyen, dann haben Sie in Ihrer eigenen Partei noch viel Aufräumarbeit zu leisten. Ich erlebe das in NRW jeden Tag.
({32})
Die Konservativen haben immer noch nicht verstanden,
dass wir ein Einwanderungsland sind. Ich warne davor,
mit stumpfen Ablehnungen gegenüber allem, was
fremdartig ist, unsere Möglichkeiten für eine organisierte Einwanderung zunichtezumachen.
({33})
Das passt nicht zusammen. Ich erlebe das beim Thema
Roma. Der nordrhein-westfälische Oppositionsführer
will sie ausweisen, obwohl das nach der EU-Gesetzgebung gar nicht geht. Die Einwanderungspolitik der CDU
ist: Raus, raus, raus! - Dies muss ich leider sehr oft zur
Kenntnis nehmen.
({34})
Meine Damen und Herren, ich sprach von der guten
Arbeit. Dazu gehört die Zurückdrängung befristeter Arbeitsverhältnisse. Es ist skandalös, wenn unter 25-Jährige kaum mehr die Möglichkeit haben, ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis einzugehen. Das geht nicht so weiter.
({35})
Wir brauchen eine neue Regulierung der Leiharbeit. Wir
wollen sie nicht abschaffen. Wir wollen sie zurückführen
auf ihren eigentlichen Sinn. Wir brauchen generell eine
Offensive für bessere, auch gesunderhaltende Arbeit.
Wenn die Menschen länger im Erwerbsprozess bleiben
sollen und müssen, dann müssten wir eine breite Offensive zur Humanisierung der Arbeit starten, wie sie Hans
Matthöfer, der ehemalige Leiter der Bildungsabteilung
der IG Metall, ins Leben gerufen hat.
Herr Landesminister, Guntram Schneider, Minister ({0}):
Ich bin gleich fertig.
- ich möchte nur sagen: Wenn Sie Abgeordneter wären, würde ich Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Aber Sie sind Landesminister und haben hier Rederecht.
Guntram Schneider, Minister ({0}):
Vielen Dank dafür.
({1})
Gut, dass der Föderalismus dies vorsieht.
Die Menschen müssen länger gesund im Erwerbsprozess verbleiben können. Dies wird eine große Aufgabe
für die nächste Wahlperiode sein.
Herr Kolb, Sie sprachen von Arbeiterführern. Arbeiterführer haben, soweit es sie noch gibt, im Allgemeinen
keine Redenschreiber.
({2})
Sie sagen, was in der Gesellschaft passiert.
({3})
- Ja, das ist die liberale Abart von Arbeiterführern. Darüber kann man reden. Das ist aber nicht unser Vorgehen; das wollen wir nicht. Seien Sie sich, was die Mehrheiten in diesem Lande angeht, nicht so sicher. Am
13. Mai letzten Jahres war die Landtagswahl in NRW.
Minister Guntram Schneider ({4})
({5})
Am 1. Mai schien noch alles verloren. Passen Sie auf!
Seien Sie nicht so selbstzufrieden! Wir werden schon die
richtigen Mehrheitsverhältnisse für eine soziale und demokratische Zukunft herbeiführen können.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Landesminister. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Johannes
Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einem Zitat von Ihnen, Herr Steinbrück, beginnen. Sie haben vor einiger Zeit in der Zeit geschrieben:
({0})
Wenn die SPD unter dem Druck von Identitätsproblemen … diesen Reformprozess
- Sie meinten die Agenda 2010 abbrechen oder bis zur Unkenntlichkeit - und damit
Unwirksamkeit - verdünnen sollte, dann verlöre sie
nach meiner Überzeugung mehr als die Regierungsfähigkeit. Sie verlöre ihren … Anspruch, … eine
Partei der Veränderung im Sinn ihrer Grundwerte
gewesen zu sein.
Herr Steinbrück, kann es sein, dass Sie heute hier so lustlos gesprochen haben, weil im Wahlprogramm der SPD
genau das steht, was Sie beklagt haben?
({1})
Kann es sein, dass das Ihr Motivationsproblem ist?
Frau Göring-Eckardt, Sie haben uns eben fachpolitisch mit dem Thema Minijobs beglückt. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Minijobs kein gutes Beispiel
sind, um die angebliche Verderbtheit am Arbeitsmarkt
darzustellen. Drei Viertel aller Minijobber wollen genau
das, nämlich einen Minijob. Sie bekommen im Übrigen
netto alles andere als einen Niedriglohn. Das zeigt in
meinen Augen vor allem, dass Sie mit fachpolitischen
Arbeitsmarktdebatten sonst nicht viel zu tun haben.
({2})
Kann es sein, dass Sie hier davon ablenken wollen, dass
vonseiten Ihrer eigenen Partei bemerkenswerte Sätze
kommen? Ich habe hier ein Zitat von Herrn Palmer, der
sich vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Blick auf Ihr Wahlprogramm folgendermaßen äußerte:
In der Summe machen wir damit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig,
({3})
auf die wir früher zu Recht stolz gewesen sind weil sie vielen Menschen einen Job verschafft hat.
({4})
Kann es sein, dass Sie deshalb hier so lustlos gesprochen
haben, weil Sie wissen, dass das, was in Ihrem Wahlprogramm steht, und die Realität in Deutschland - gute
Arbeitsmarktlage und gute Perspektiven für die Menschen - nicht zusammenpassen?
({5})
Wir, die Kollegen und die Ministerin - das wurde
schon dargestellt -, haben für bessere Perspektiven für
die Menschen in Deutschland gesorgt. Es waren vier
gute Jahre für die Menschen in Deutschland. Deswegen
werben wir dafür, dass diese vier guten Jahre um vier
weitere gute Jahre unter schwarz-gelber Verantwortung
verlängert werden.
({6})
Ich möchte auch ein bisschen auf Nordrhein-Westfalen eingehen, weil ich selber von dort komme und weil
ein nordrhein-westfälischer Landesminister hier gesprochen hat. Herr Steinbrück, Sie sprachen gerade von der
vorsorgenden Sozialpolitik - das ist die große Überschrift, unter die die Ministerpräsidentin NordrheinWestfalens von der SPD ihre Politik stellt - und haben
Ihren Antrag damit begründet. Die Ministerin hat eben
zu Recht darauf hingewiesen, dass sich diese Koalition
sehr wohl Gedanken darüber macht, was jetzt kommen
muss und wie eine Agenda 2020 für Deutschland aussieht. Ein wesentlicher Bestandteil muss natürlich - Herr
Steinbrück, da gebe ich Ihnen recht - der Punkt „Aufstiegschancen durch Bildung“ sein. Schauen wir uns
doch einmal an, was Nordrhein-Westfalen in diesem Bereich tut! Herr Schneider, Sie haben eben von Gerechtigkeit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen leben 22 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.
Die Neuverschuldung Ihrer Landesregierung macht aber
60 Prozent aller Neuverschuldungen der Bundesländer
aus.
({7})
Das kann vieles sein; aber mit Generationengerechtigkeit hat das nichts zu tun.
({8})
Johannes Vogel ({9})
Ich möchte noch etwas ausführlicher auf dieses
Thema eingehen, da es etwas über Ihre Politik aussagt
und zeigt, was unter Ihrer Verantwortung im größten
Bundesland passiert: Obwohl Sie in Nordrhein-Westfalen so viele Schulden machen, wurde die Anzahl der
Stellen aller Landesministerien um 70 erhöht.
({10})
Das geschah übrigens nicht nach Bedarf, sondern einfach per Quorum, auf alle Landesministerien verteilt.
({11})
Anstatt zu sparen und den Staat effizienter zu machen,
geben Sie Geld aus, das Sie sich zulasten der jungen Generation gepumpt haben, Herr Minister.
({12})
Wenn es allerdings darauf ankommt, dann kürzen Sie.
Gerade erst haben Sie wieder einen Kürzungsvorschlag
gemacht. Die Schulministerin in Nordrhein-Westfalen
hat kürzlich angekündigt, beim Vertretungsunterricht zu
kürzen, Herr Minister.
({13})
Der Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-Westfalen sagt, das entspreche einer Kürzung von
500 Lehrerstellen. Herr Minister Schneider, lieber Herr
Steinbrück, so stellen wir uns vorsorgende Sozialpolitik
nicht vor - ganz sicher nicht.
({14})
Haben Sie Ihre Redezeit im Auge?
Ich komme zum letzten Satz. - Dem steht eine
schwarz-gelbe Bundesregierung gegenüber,
({0})
die 1 Milliarde Euro mehr für Bildung und Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik ausgibt, obwohl es
1 Million weniger Arbeitslose gibt als zu Ihrer Zeit, und
die auch sonst sehr erfolgreich für Einstiegs- und Aufstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Wir können
darüber in den nächsten Monaten gerne diskutieren und
die Bevölkerung bei der Bundestagswahl darüber entscheiden lassen. Ich bin mir sicher: Die Wählerinnen
und Wähler werden entscheiden, dass es vier weitere
gute Jahre mit einer schwarz-gelben Bundesregierung
geben wird.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion von CDU und CSU der Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Matthäus-Evangelium heißt es: „An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen.“ Wohlgemerkt: Nicht an ihren
wohlklingenden Reden und nicht an ihren wohlformulierten Anträgen im Bundestag, an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen.
({0})
Insofern muss man in einer solchen Debatte, wenn
man sie ehrlich führt, auf die rot-grüne Regierungszeit
unter Gerhard Schröder zurückkommen. Gerhard
Schröder hat am 28. Januar 2005 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Folgendes gesagt:
Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren
aufgebaut, den es in Europa gibt.
Das war die große Botschaft von Rot-Grün: Wir haben
den größten Niedriglohnsektor, den es je in Deutschland
gegeben hat, aufgebaut. - Alle Probleme, die Herr
Steinbrück, Herr Schneider und Frau Göring-Eckardt
hier angesprochen haben, alle Probleme, die in den Anträgen, die hier vorliegen, beschrieben werden, sind
Früchte rot-grüner Politik. „An ihren Früchten sollt ihr
sie erkennen.“
({1})
Es ist in der Tat beschämend, dass keiner der Rednerinnen und Redner zu dieser Verantwortung gestanden
hat. Ihre Glaubwürdigkeit ist Ihr größtes Problem. Der
Unterschied zwischen Reden und Handeln ist bei RotGrün so groß, dass ich allen Wählerinnen und Wählern
in Deutschland nur zurufen kann: Traut denen nicht, die
nicht zu ihren Taten stehen, die heute anders reden!
({2})
Es ist eben so: Sie haben für eine Deregulierung der
Zeitarbeit gesorgt. Wir haben erste Regulierungen wieder eingeführt. Die Einkommensspreizung - schauen Sie
im Armuts- und Reichtumsbericht nach! - hat ausgerechnet in der rot-grünen Regierungszeit massiv zugenommen. Jetzt wird dies langsam wieder korrigiert. Unter Rot-Grün gab es Massenarbeitslosigkeit; heute haben
wir die geringste Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der
Wiedervereinigung. Ich könnte weitere Punkte aufzählen, auch was das Thema Lohn anbelangt. Heute gibt es
zwölf branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland.
Nur ein einziger davon wurde in der rot-grünen Regierungszeit in Kraft gesetzt, elf unter der Verantwortung
einer christdemokratischen Kanzlerin. „An ihren FrüchPeter Weiß ({3})
ten sollt ihr sie erkennen“, nicht an dem hohlen Gerede,
dem keine Taten folgen.
({4})
Auch uns reichen zwölf branchenbezogene Mindestlöhne nicht aus. Deswegen haben wir von der Union vorgeschlagen, einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn
in Deutschland einzuführen.
({5})
Aber es gibt einen Unterschied zu den Vorschlägen der
Sozialdemokraten und der Grünen und zum hier vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wir wollen,
dass die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervertreter, die
Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen, den
Mindestlohn in einer Kommission miteinander aushandeln
({6})
und die Bundesarbeitsministerin anschließend dieses
Verhandlungsergebnis für allgemeinverbindlich erklärt,
sodass es in ganz Deutschland zwingend durchzusetzen
ist.
({7})
Auch im Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine Kommission vorgesehen. Aber diese Kommission soll erst tagen dürfen, wenn der Bundestag einen Beschluss gefasst
hat, dass der Mindestlohn zum Beispiel 8,50 Euro betragen muss. Dann darf diese Kommission über die Weiterentwicklung des Mindestlohnes beraten. Wenn das Beratungsergebnis dem Bundesarbeitsminister nicht passt,
darf er dieses Beratungsergebnis in den Papierkorb
schmeißen und machen, was er machen will. - Es ist
doch eine Verhöhnung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, sie einzuladen, in einer Kommission
einen Mindestlohn auszuhandeln, und anschließend das
Verhandlungsergebnis in den Papierkorb zu schmeißen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag
ist in Wahrheit ein Vorschlag zur Stärkung der Tarifautonomie. Herr Steinbrück hat die Frage aufgeworfen: Was
hat Deutschland stark gemacht? Ich sage: Deutschland
hat stark gemacht, dass starke Gewerkschaften und
starke Arbeitgeberverbände gute Tariflöhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land vereinbart haben.
({8})
Es ist doch für einen Arbeitnehmer nur dann interessant,
in eine Gewerkschaft einzutreten, wenn er weiß: Diese
Gewerkschaft handelt tatsächlich einen Lohn aus.
Herr Kollege Weiß, Sie haben es gesehen: Es gibt
eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus Ernst.
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Weiß, Sie haben gerade die Gewerkschaften angesprochen. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass sich
die Gewerkschaften, die Sie in ihrer Tarifautonomie stärken wollen, explizit für den Mindestlohn aussprechen?
Glauben Sie, dass die nicht wissen, was sie tun? Oder
könnte es nicht sein, dass sie vielleicht besser wissen,
was ihnen guttut?
Zweitens. Wenn in einer Kommission nur dann ein
Ergebnis zustande kommt, wenn sich beide, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einig sind, eine Seite aber erklärterweise kein Interesse an der Einführung eines Mindestlohnes hat, wie man es bei der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände erkennen kann, bedeutet das dann nicht, dass die eine Seite der Kommission ein Vetorecht in Bezug auf die Einführung des Mindestlohns hat? Ist dann nicht das Ergebnis, dass kein
Mindestlohn zustande kommt bzw. einer, der so niedrig
ist, dass man darauf auch verzichten könnte?
Drittens. Sind Sie nicht auch der Auffassung, Herr
Weiß, dass die Voraussetzung dafür, dass die Gewerkschaften ihre Tarifautonomie ausüben können, ein starker gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist? Wir haben
aber eine abnehmende Tarifbindung und abnehmende
Organisationsgrade zu verzeichnen und müssen konstatieren, dass immer schlechtere Tarifverträge bei den Verhandlungen herauskommen. Es gibt Tarifverträge, in denen eine Bezahlung von weit unter 8,50 Euro vereinbart
wurde. Müssen wir als Bundestag nicht eingreifen, um
die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu sichern?
Fazit: Ist es nicht besser, die Tarifautonomie dadurch
zu stärken, dass man einen Mindestlohn einführt, auf
dessen Grundlage die Gewerkschaften über vernünftige
Löhne verhandeln können? Dadurch würden die Gewerkschaften gestärkt. Das wäre besser, als den Gewerkschaften den Mindestlohn zu verweigern.
({0})
Herr Kollege Ernst, ich nehme Ihre Frage gerne zum
Anlass, Ihnen unser Konzept noch einmal zu erläutern.
Erstens. Der Vorschlag der Unionsfraktion sieht vor,
dass man sich einigen muss, notfalls durch Schlichtung;
sprich: Die Mindestlohnkommission muss zu einem Ergebnis kommen.
Peter Weiß ({0})
({1})
Sie kann eine Einigung nicht auf ewig vertagen.
Zweitens. Wenn für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer klar ist, dass der Mindestlohn durch das
Parlament festgesetzt wird und nicht durch die Gewerkschaften, warum sollen sie dann noch in eine Gewerkschaft eintreten?
({2})
Wenn klar ist, dass der Mindestlohn durch den Bundestag festgesetzt wird und nicht durch die Arbeitgeberorganisationen, die mit den Gewerkschaften verhandeln,
warum sollen die Unternehmer dann in einen Arbeitgeberverband eintreten? Die Erosion der letzten Jahre in den
Bereichen Gewerkschaftsmitgliedschaft und Tarifbindung
der Unternehmen würde weiter zunehmen.
({3})
Unser Vorschlag ist: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verhandeln den Mindestlohn. Er wird später
von der Regierung in Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass
ich als Arbeitnehmer in die Gewerkschaft eintreten
muss, um sie für die Verhandlungen stark zu machen. Ich
muss als Unternehmer in den Arbeitgeberverband eintreten, um die Interessen meines Unternehmens bei den
Verhandlungen geltend zu machen. - Unser Vorschlag
führt im Gegensatz zu dem, was der Bundesrat vorschlägt, tatsächlich dazu, dass die Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände wieder stark werden, wodurch die
Tarifautonomie in Deutschland insgesamt gestärkt wird.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um es noch einmal klar zu sagen: Wir wollen einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn und damit die Tarifautonomie stärken.
Das ist die Botschaft, mit der wir in den Bundestagswahlkampf gehen. Wir wollen aber noch mehr. Wir wollen, dass der Respekt vor geleisteter Arbeit durch eine
Erneuerung des Aufstiegsversprechens aus der Wirtschaftswunderzeit gestärkt wird. Wer arbeitet, wer sich
qualifiziert, muss im Normalfall ein existenzsicherndes
Einkommen erwarten dürfen. Das ist ein breiter Wohlstandsbegriff im Sinne Ludwig Erhards. Voraussetzung
dafür ist vor allem eine wettbewerbsfähige Wirtschaft.
Diese entwickelt sich natürlich nicht mit Dumpinglöhnen, sondern mit hervorragend qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen noch mehr
als bisher eine Gesellschaft, in der alle entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen - ungeachtet ihrer Herkunft - gute Bildungschancen und damit Möglichkeiten
zu persönlicher Entfaltung und sozialem Aufstieg haben.
Sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit, das ist unsere Agenda, auf die wir setzen.
({5})
Wir sind es, die zum Beispiel den Bildungsetat dieses
Bundeshaushaltes - beim Abtritt von Schröder 2005 waren es rund 9 Milliarden Euro - auf über 13 Milliarden
Euro gesteigert haben. „An ihren Früchten sollt ihr sie
erkennen.“
({6})
Wir sind diejenigen, die die Arbeitslosigkeit massiv abgebaut haben, die dafür gesorgt haben, dass seit 2007
40 Prozent der Langzeitarbeitslosen, die es besonders
schwer haben, wieder in Arbeit gekommen sind.
Wir wollen nach der Bundestagswahl unsere erfolgreiche Arbeit für mehr Aufstiegschancen für alle in
Deutschland durch Bildung und Arbeit fortsetzen. „An
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unsere Kollegin Brigitte Pothmer. - Bitte
schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Weiß, habe ich Sie richtig verstanden: Sie unterstützen
diese niedrigen Löhne, um auf diese Weise die Gewerkschaften zu stärken?
({0})
Das ist eine Verelendungsstrategie, die mir noch aus
meiner Studierendenzeit vom KBW bekannt ist.
({1})
Dass Sie diese jetzt verfolgen, ist allerdings neu.
Es wurde gerade sehr viel über Gerechtigkeit geredet.
Das zentrale arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitskonzept
ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Er steht
nicht nur symbolisch für Wert und Würde der Arbeit. Zu
dieser Frage müssen Sie von der Regierungskoalition
sich verhalten.
({2})
Nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen
Jahren haben Sie nichts weiter gemacht, als die immer
gleiche Behauptung zu wiederholen, flächendeckende
Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten. Frau
Merkel hat sich in einem Bild-Interview sogar zu der
These verstiegen, die Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern sei deswegen so hoch, weil es zu hohe
Mindestlöhne gebe. Ich frage mich, anhand welcher
Länder sie diese These verifizieren will.
({3})
Meint sie vielleicht Großbritannien? Es hat seit 1999
Mindestlöhne, und es gibt keinerlei negative Beschäftigungseffekte. Oder meint sie vielleicht die Niederlande?
Sie haben einen Mindestlohn von 9,18 Euro und eine Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent.
({4})
Nein, die höchste Arbeitslosigkeit in Europa haben wir
derzeit in den Ländern, in denen der Mindestlohn am
niedrigsten ist.
({5})
- Sie haben doch inzwischen selbst erkannt, dass es
beim Mindestlohn Handlungsbedarf gibt. Sie nennen das
Projekt verschämt „Lohnuntergrenze“. Ich finde dieses
Konzept falsch; denn mit diesem Konzept würden Sie
weiterhin Ausbeutung mit Tarifvertrag zulassen. Das
wollen wir nicht.
({6})
Aber Sie sollten hier im Bundestag überhaupt einmal
etwas vorlegen.
({7})
Sie sind die Regierung, Sie müssen handeln. Sie reden,
wir handeln!
({8})
Von Ihnen kommt nichts. Wenn überhaupt etwas kommt,
dann wird das in Ihr Wahlprogramm entsorgt. Sie haben
hier noch keinen einzigen Vorschlag vorgelegt.
({9})
Sie wollen weiterhin zulassen, dass wir in Deutschland 1,4 Millionen Menschen haben, die mit Löhnen von
unter 5 Euro pro Stunde brutto abgespeist werden. Sie
wollen, dass Betriebe weiterhin das ALG II in ihre
Lohnkalkulation einbeziehen und damit den Wettbewerb
über Lohndumping verzerren.
({10})
Wenn Sie das korrigieren wollen, dann braucht es jetzt
keine halsstarrig geführte ordnungspolitische Debatte,
sondern dann braucht es einen vernünftigen Gesetzentwurf, und zwar jetzt. Dieser liegt heute hier vor, und zu
diesem müssen Sie sich verhalten.
({11})
Jetzt noch ein paar Sätze zur FDP.
({12})
Es ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten,
({13})
wenn ausgerechnet Sie hier das Hohelied der Tarifautonomie singen. Es ist noch nicht lange her, dass Sie die
Gewerkschaften mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft haben.
({14})
Ich erinnere Sie nur an eine Aussage Ihres ehemaligen
Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle. Er hat gesagt
- ich zitiere -:
Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
in Deutschland…
Er hat behauptet - ich zitiere weiter -:
Die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre kostet
mehr Jobs, als die Deutsche Bank je abbauen
könnte.
Finden Sie, dass Sie sich mit diesen Aussagen wirklich
als Freunde der Gewerkschaften bezeichnen können?
({15})
Herr Rösler hat verstanden und Ihnen empfohlen, den
Blick auch einmal auf die Lebenswirklichkeit der Menschen zu richten. Was hat er gesehen, als er seinen Blick
auf die Lebenswirklichkeit der Menschen gerichtet hat?
Er hat gesehen, dass Löhne von 3 Euro die Stunde nichts
mit Leistungsgerechtigkeit zu tun haben.
({16})
In einer Partei der Blinden ist der Einäugige König! Sie
haben in Ihrer Partei sehr viele Blinde, zum Beispiel
Herrn Brüderle. Er empfiehlt den Niedriglöhnern, die
mehr verdienen wollen, tatsächlich, sich einfach einen
neuen Arbeitgeber zu suchen.
Sie kennen Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Ich weiß nicht, in welcher Parallelwelt Herr Brüderle
unterwegs ist. Eines weiß ich aber genau: dass Gerechtigkeit ohne Mindestlohn nicht zu haben ist.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner für die Fraktion der FDP: Kollege
Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Pothmer, Heuchelei ist das, was Sie tun.
Heuchelei ist auch das, was Sie vonseiten der SPD tun.
Ich denke an Guntram Schneider. Herr Schneider, Sie
geißeln in Ihrer Rede hier befristete Beschäftigungsverhältnisse - Sie waren, wenn ich richtig informiert bin,
DGB-Landesvorsitzender -, und seit 2004 gibt es eine
Direktive des DGB-Bundesvorstands, in der eigenen
Zentrale nur noch befristete Beschäftigungsverhältnisse
zu vereinbaren.
({0})
Im aktuellen Jahresbericht des DGB-Bundesvorstands
zeigt sich, dass das kein Versehen war und auch nicht
korrigiert worden ist. Da heißt es auf Seite 145: Der Anteil der befristeten Arbeitsverträge betrug zum Jahresende 13 Prozent. Das waren 108 Beschäftigte.
({1})
Lieber Herr Schneider, es ist Heuchelei, wenn Sie sich
hier hinstellen und etwas sagen, was Ihr eigener Verband
nicht durchzusetzen vermag.
({2})
Der Kanzlerkandidat der SPD, der leider schon aufbrechen musste,
({3})
stellte sich hierhin und sang das Hohelied der dualen Berufsausbildung, weiß aber offensichtlich nicht, dass die
grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg in
dieser Woche, am Montag, den 22. April 2013, von der
Vorsitzenden des Berufsschullehrerverbandes ein ganz
schlechtes Zeugnis ausgestellt bekommen hat. Sie sagte
wörtlich, die grün-rote Landesregierung würde in Baden-Württemberg die Berufsschulen aushungern lassen,
weil sie es versäumt, insgesamt 600 Stellen zu besetzen,
die für die Berufsschulen dringend nötig wären.
({4})
Sich trotzdem hier hinzustellen und das Hohelied der dualen Berufsausbildung zu singen, ist Heuchelei.
({5})
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, hat der Kollege Weiß völlig zu Recht aus der Bibel zitiert. Wir werden Sie mit Ihrer Regierungsleistung in den Ländern
stellen.
Frau Göring-Eckardt, Sie sprechen von Gerechtigkeit.
Was ist denn das für eine Gerechtigkeit, wenn man immer mehr Schulden auftürmt,
({6})
wenn man künftige Generationen belastet, anstatt sie zu
entlasten? Das ist das, was Sie in Baden-Württemberg
tun. Die Bayerische Staatsregierung hält sich trotz eines
Höchststandes an Steuereinnahmen zurück und zahlt
über 1 Milliarde Euro Schulden zurück. In Baden-Württemberg hat es die christlich-liberale Landesregierung
geschafft, in den Jahren 2008, 2009 und 2011 schuldenfreie Haushalte vorzulegen. Im vergangenen Jahr verzeichnete Baden-Württemberg die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte des Landes, aber die grün-rote
Landesregierung hat trotzdem zusätzliche Schulden in
Höhe von 3,3 Milliarden Euro gemacht. Das ist wirklich
eine Versündigung an der künftigen Generation. Das ist
eine unverantwortliche Politik und hat mit Gerechtigkeit
und Chancengerechtigkeit nichts zu tun.
({7})
Sie reden von Chancengerechtigkeit. Schauen wir uns
einmal an, wie es damit in Baden-Württemberg aussieht:
Die Landesvorsitzende der GEW - das ist auch nicht
gerade eine Vorfeldorganisation der FDP - wirft der
Landesregierung von Baden-Württemberg vor - Zitat -,
({8})
dass sie auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen
spare und ohne klares Konzept bildungspolitisches
Stückwerk produziere. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Heuchelei, sich hier hinzustellen und von Gerechtigkeit zu reden, aber gerechte Chancen für Kinder
in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, zu
verhindern.
({9})
Wir hingegen haben in dieser Bundesregierung gerade an Kinder, die es schwer haben, gedacht. Wir haben
ein Paket auf den Weg gebracht, die Offensive „Frühe
Chancen“, mit der wir gerade Kinder aus benachteiligten
Milieus mit insgesamt 400 Millionen Euro fördern, damit Spracherwerb schon vor Eintritt in die Schule gelingen kann, damit dort die Chancen wirklich wahrgenommen werden können und sich Bildungserfolg einstellt.
Diese letzten Jahre waren vier sehr gute Jahre für
Deutschland.
({10})
Wir werden unsere Politik als christlich-liberale Regierung weiter fortsetzen.
({11})
Wir werben dafür, und wir werden am Wahltag - ich erinnere noch einmal an das, was Peter Weiß gesagt hat:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ - ein entsprechendes Wahlergebnis von den Wählern zugesprochen
bekommen. Denn diese Jahre waren gut für Deutschland, und Deutschland hat die Fortsetzung dieser Koalition verdient.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU
Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege
Dr. Zimmer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass der
Kollege Steinbrück bereits die Debatte verlassen hat,
nehme ich ihm nicht übel. Sofern er zur Vermessung
neuer Fettnäpfchen unterwegs ist, hat er unseren Segen.
({0})
Aber dass, wenn wir hier an zentraler Stelle über
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik diskutieren, vom zuständigen Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ der einbringenden Fraktion der SPD nur wieder eine ganz
kleine illustre Schar da ist, finde ich bezeichnend - nach
dem Motto: Den Quatsch, den der uns erzählt, brauchen
wir uns nicht noch einmal im Plenum anzuhören.
({1})
Sie von den Sozialdemokraten haben den Entwurf eines Mindestlohngesetzes in die heutige Beratung eingebracht. Also lassen Sie uns über dieses Mindestlohngesetz sprechen.
({2})
In § 1 Ihres Entwurfes wird der Geltungsbereich beschrieben, und dort ist vorgesehen, dass das Gesetz nur
für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten soll. Damit das deutlich wird: Für Teilzeitbeschäftigte soll der Mindestlohn, den Sie vorschlagen, nicht gelten. Ich kann überhaupt nicht erkennen,
warum das der Fall sein soll, warum Sie teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so benachteiligen, zumal wir ja in der letzten Woche einen Gesetzentwurf von Ihnen beraten haben, der positiv zur Teilzeit
steht.
Eines müsste Ihnen doch klar sein: Im Niedriglohnbereich setzen Sie mit einer solchen Maßnahme geradezu
Anreize, Vollzeitstellen in Teilzeitstellen umzuwandeln,
weil für diese der Mindestlohn ja nicht gelten soll. Das
ist nicht nur handwerklich schlecht gemacht, sondern Sie
versündigen sich hier auch an Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern.
Dann wird es richtig spannend, wenn man in Ihren
Gesetzentwurf schaut. Peter Weiß hat das eine oder
andere bereits dazu gesagt. Wenn sich die Mindestlohnkommission, die Sie einrichten wollen, nicht einigt, entscheidet das Ministerium. Ich kann mir Fälle vorstellen,
in denen es sich lohnt, eine Entscheidung der Mindestlohnkommission zu sabotieren. Mit anderen Worten: Die
Möglichkeit des Missbrauchs ist da bereits angelegt.
Nehmen wir einmal den wirklich unwahrscheinlichen
Fall an, dass ein Vertreter der Linken das Arbeitsministerium führt.
({3})
Herr Ernst lächelt schon - es ist wirklich sehr unwahrscheinlich -, also nehmen wir einmal an, dass Herr Ernst
Arbeitsminister ist.
({4})
Gibt es dann irgendeinen Grund, warum die gewerkschaftliche Seite in einer Mindestlohnkommission bei
9 Euro zustimmen sollte, wenn im Parteiprogramm der
Linken 10 Euro steht? Dann würden die doch sagen:
Prima, wir brauchen die Arbeit überhaupt nicht zu machen, das Ministerium soll gleich entscheiden.
Wenn sich die Kommission einigt, unterbreitet sie
dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen
Vorschlag. Wenn das Ministerium zustimmt, setzt es den
Mindestlohn durch Rechtsverordnung um. So weit, so
gut. Aber stimmt das Ministerium nicht zu, bestimmt am
Ende das Ministerium den Mindestlohn. So steht es in
Ihrem Entwurf. Nun würde ich, solange das Ministerium
durch uns geführt würde, da keine Probleme sehen.
({5})
Aber Sie von der SPD haben ja gewiss im Hinterkopf,
vielleicht selbst einmal wieder das Ministerium zu führen; so viel sportlichen Ehrgeiz traue ich Ihnen durchaus
zu. Natürlich würde ein SPD-Arbeitsminister oder eine
SPD-Arbeitsministerin nach gründlicher Rückkopplung
mit den Parteigremien entscheiden. Dann würde also
letztlich der SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in
Deutschland entscheiden.
({6})
Damit ist klar, was mit dem Slogan „Das Wir entscheidet“ gemeint ist.
({7})
Ich meine allerdings: Den SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in Deutschland entscheiden zu lassen, ist in
etwa so klug wie die Ernennung von Dieter Bohlen zum
Generalinspekteur für alle deutschen Mädchenpensionate.
({8})
Meine Damen und Herren, was mich ärgert, ist Folgendes: Über den Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren, haben wir bereits vor einem Jahr diskutiert.
Schon damals sind Sie auf den Unfug, den Sie damit anrichten würden, hingewiesen worden. Ich meine, einmal
einen Fehler zu machen, ist menschlich. Es hätte Ihnen
gut angestanden, noch einmal gründlich darüber nachzudenken. Aber Sie legen diesen Gesetzentwurf wortgleich
noch einmal vor. Sie haben also nichts gelernt. Dass Sie
mit einer gewissen Starrköpfigkeit auf der Durchführung
Ihrer Fehler bestehen, das kann ich nur noch psychologisch erklären.
Gerade diese Unbeirrbarkeit im Angesicht Ihrer Fehler ist es doch, die Zweifel daran aufkommen lässt, dass
Sie regierungsfähig sind.
({9})
Die handwerklichen Fehler vertreten Sie mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit. Aber was die guten und richtungsweisenden Entscheidungen, die auch Sie einmal getroffen haben, angeht - ich denke da an die Reformen des
Arbeitsmarktes und die Rente mit 67 -, suchen Sie andauernd nach einem Notausgang für Helden.
So eiern Sie auch in der Arbeitsmarktpolitik herum:
Mal sind Sie gegen Teilzeit, mal dafür. Mal sind Lohnkostenzuschüsse gut, mal sind sie schlecht. Vor einigen
Jahren hat Gerhard Schröder die neue Mitte entdeckt,
jetzt wird der Mittelstand belastet. Die Abschaffung der
kalten Progression haben Sie verhindert, und heute melden die Zeitungen, Ihre Kindergeldpläne führten gerade
für Familien der Mittelschicht zu deutlichen monatlichen
Belastungen.
({10})
Konsistent, meine Damen und Herren, ist das alles nicht.
Der Bürger hat ohnehin längst den Eindruck, dass der
SPD-Slogan in Wahrheit heißt: Das Wir entscheidet, das
Du bezahlt. - Aber wenigstens darin sind Sie sich treu
geblieben.
({11})
Nächster Redner für die CDU/CSU: Kollege Max
Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über verschiedene Vorlagen, zuvörderst aber natürlich über den Antrag der SPD mit
dem etwas aufgeblasenen Titel „Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch“. Ich möchte dem Kollegen Kolb
beipflichten bzw. seine Bemerkung etwas abschwächen.
Kollege Kolb hat ja bereits dargelegt, dass in Ihrem Antrag nur heiße Luft ist. Ich möchte das abschwächen: ein
laues Lüftchen; mehr ist da nicht drin.
({0})
Das, was hier niedergeschrieben worden ist, ist letztendlich ein Horrorprogramm für die Menschen in unserem Land. Es beginnt mit einer falschen Analyse. Wenn
man eine falsche Analyse macht, kann man daraus natürlich auch keine richtigen Schlussfolgerungen ziehen;
auch das muss dargelegt werden. In Ihrem Antrag wird
ein Zerrbild von unserer Gesellschaft gezeichnet: als
gäbe es in Deutschland nur noch Niedriglöhner und
Niedrigstverdiener, kaum soziale Absicherung und vor
allen Dingen keine Bildungsgerechtigkeit, keine Bildungschancen und keine Chancengerechtigkeit.
Ich bin der Meinung, das ist letztendlich im Hinblick
auf die vielen Institutionen, die wir alle in der Politik gemeinsam geschaffen haben, nicht würdig. Wir haben
eine großartige Schulbildung. Vor allen Dingen in Bayern gibt es ein Schulsystem, das für die Kinder die
Grundlagen schafft, um später eine gute berufliche Ausbildung zu erhalten und großartige Zukunftschancen zu
haben. Dass dies in SPD-regierten Ländern nicht der Fall
ist, sehen wir. Manche Kollegen haben bereits gesagt:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Es ist eben
eine Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg Lehrerstellen abgebaut werden. In
Bayern und anderen unionsregierten Ländern werden
- das ist zukunftsträchtig - Lehrerstellen geschaffen. In
Bayern werden jedes Jahr 1 000 neue Lehrerstellen geschaffen, obwohl es weniger Kinder gibt. Damit schaffen wir mehr Chancengerechtigkeit und mehr Bildungsgerechtigkeit für die jungen Menschen in unserem Land,
verehrte Damen und Herren.
({1})
Dies ist etwas, womit der Kanzlerkandidat der SPD
nicht so viel am Hut hat. Darum hat er die meiste Zeit
seiner Rede über Steuern und Steuergerechtigkeit gesprochen, vor allen Dingen über das Steuerabkommen
mit der Schweiz. Natürlich wäre ein Steuerabkommen
mit der Schweiz wesentlich erfolgreicher und ertragreicher gewesen, weil dann alle ihre Steuern bezahlt hätten.
Ihnen geht es letztendlich ja nur darum, hier Symbolpolitik zu betreiben, weil Sie glauben, daraus im anstehenden Wahlkampf Honig saugen zu können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Herrn Zumwinkel.
Wir können manche Namen austauschen, wenn Sie so
wollen; aber ich glaube nicht, dass wir eine Debatte über
Steuergerechtigkeit damit voranbringen. Dass auch der
Kollege Steinbrück nachbessern musste - bei den AngaMax Straubinger
ben zu seinen Reden -, ist ja bekannt. Die Wahrhaftigkeit beginnt meistens bei einem selbst. Da sollte man zuerst tätig werden.
({2})
Ich kann verstehen, warum der Kollege Steinbrück
nicht auf das SPD-Papier eingegangen ist. Das liegt daran, dass er dieses Papier innerlich eigentlich gar nicht
vertreten kann. Er hat in der Vergangenheit letztendlich
alle diese Maßnahmen - sei es ein gesetzlicher Mindestlohn, seien es andere Maßnahmen - abgelehnt, aus fachlichen und sachlichen Überlegungen. Ich denke, er steht
- auch wenn er das jetzt nicht mehr sagen darf - für die
Rente mit 67. Unter demografischen Gesichtspunkten ist
die Rente mit 67 aber richtig, und ich bin Franz
Müntefering ausdrücklich dankbar, dass er diese Reform
hier durchgesetzt hat.
({3})
Dass die Grundlagen dafür unter dem seinerzeitigen
Bundesminister Franz Müntefering geschaffen worden
sind, ist letztendlich im Sinne einer großartigen Generationenpolitik in der Rente.
({4})
Wir wollen daran weiterarbeiten, verehrte Damen und
Herren.
({5})
Herr Kollege Straubinger, ich habe eine Zwischenfrage aus der Fraktion der FDP.
Gerne.
Bitte schön, Kollege Kurth.
Herr Kollege Straubinger, wo Sie die Rede von Herrn
Steinbrück analysieren: Hat Herr Steinbrück eigentlich
auch Zugang gefunden zu der berühmten „Thüringer
Friseurin“, von der ich als Thüringer mir hier ständig
erzählen lassen muss? Hat irgendjemand von der Opposition heute, wie es sonst immer der Fall ist, von den
Löhnen der „Thüringer Friseurin“ gesprochen? Hat irgendjemand von der Opposition gewürdigt, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber diese Woche für die
„Thüringer Friseurin“ wie überhaupt für das gesamte
Thüringer Handwerk einen Tarifvertrag mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro abgeschlossen haben? Hat irgendjemand von der Opposition zur Kenntnis genommen, dass hier eine Tariflösung gefunden wurde, ohne
dass die gesetzliche Keule nötig geworden wäre?
({0})
Leider nein, Herr Kollege.
({0})
Aber das ist ja auch verständlich: Sie wollen ja nicht den
Erfolg der Tarifparteien. Sie wollen grundsätzlich eine
staatliche Lohnfestsetzung betreiben.
({1})
Deshalb haben Sie diesen Erfolg nicht gewürdigt.
Wahrscheinlich geht es auch darum - wie es die Kollegin Göring-Eckardt getan hat -, in die eigenen Reihen
hinein zu predigen. Liebe Kollegin Göring-Eckardt, predigen Sie an Ihre Kollegin Bärbel Höhn gerichtet, dass
sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht länger für
4,60 Euro beschäftigt.
({2})
Die Opposition will einen Erfolg der Tarifparteien gar
nicht herausstellen; doch das zeigt nur die Richtigkeit
unserer Politik.
({3})
In den Anträgen geht es viel darum, dass Familienpolitik
verbessert werden solle. An dieser Stelle kann ich nur
sagen: Die Union, besonders die CSU, ist die Familienpartei, die sich dafür einsetzt, dass Familien in Deutschland gleiche Chancen bekommen.
({4})
Dazu gehören ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten: mit Kindertagesstätten, mit Krippenplätzen, aber
auch mit dem Betreuungsgeld.
({5})
Es ist bemerkenswert, wenn im Antrag der SPD dargelegt wird, die Kommunen brauchten mehr finanzielle
Unterstützung. In Bayern gibt es derzeit ein Kitaplatzangebot für 43 Prozent der Kinder. Zum 1. August dieses
Jahres werden 50 Prozent erreicht werden. Doch die
schöne Stadt München, eine der reichsten Städte in ganz
Deutschland, rot-grün regiert - von Herrn Ude -, schafft
es nicht einmal, genügend Kindergartenplätze bereitzustellen, auf die es bereits jetzt einen Rechtsanspruch gibt.
Noch immer fehlen 5 000 Kindergartenplätze und ab
Sommer zusätzlich 7 000 Kitaplätze.
({6})
Das zeigt sehr deutlich: Es ist wichtig, dass auch etwas
umgesetzt wird.
Wir sind in Bayern stolz auf unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die sich tatkräftig für die Schaffung von Kitaplätzen einsetzen. Leider Gottes geht das
aber an der Landeshauptstadt München vorbei. Das zeigt
auch sehr deutlich: Selbst wenn es ausreichende Finanzzusagen gibt - der Freistaat Bayern garantiert ja, dass jeder Kinderkrippenplatz gefördert wird -, ist Rot-Grün
nicht in der Lage, das umzusetzen. Das zeigt sehr deutlich, dass Sie von SPD und Grünen beim Fordern immer
großartig sind, aber beim Handeln versagen.
Das wollen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland in den nächsten vier Jahren ersparen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir wiederum die Mehrheit
erringen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Kollege Max Straubinger war der letzte Redner in un-
serer Aussprache, die ich deshalb jetzt schließe.
Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/13226, 17/12857 und 17/13246 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher Min-
destlohn jetzt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9613, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8026 abzu-
lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion
Die Linke. Enthaltungen? - Fraktionen SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 4 e. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für
soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung -
Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/13182, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12683 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Gegen-
probe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 f sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
45 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU
- Drucksache 17/13063 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 17/13223 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({2})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sicherungslücke im Übergang von Arbeitslosengeld in eine Erwerbsminderungsrente
schließen
- Drucksache 17/13113 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versorgungsqualität und Therapiefreiheit in
der Substitutionsbehandlung stärken
- Drucksache 17/13230 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({4})-
Rechtsausschuss
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung ({5})
- Drucksache 17/8099 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung ({7})
- Drucksache 17/13064 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für Tourismus
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013
- Drucksache 17/13195 Vizepräsident Eduard Oswald
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Neuorientierung im Umgang mit Gewalt und Organisierter Kriminalität in Mexiko
und Zentralamerika - Sicherheitsabkommen
unter dem Primat der Menschenrechte gestalten
- Drucksache 17/13237 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/13195 - Zusatzpunkt 3 a - soll federführend im Ausschuss für
Arbeit und Soziales beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 k auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 46 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012
über die abschließende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages zwischen dem Bund, den neuen
Ländern und Berlin ({11}) und zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 17/12639 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({12})
- Drucksache 17/13256 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleJohannes KahrsOtto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({13})
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13256, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12639 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen nun - Tagesordnungspunkte 46 b bis
46 k - zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 46 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 572 zu Petitionen
- Drucksache 17/13117 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 572 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 573 zu Petitionen
- Drucksache 17/13118 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Vorsichtshalber
frage ich: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 573 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 574 zu Petitionen
- Drucksache 17/13119 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und sozialdemokratische Fraktion. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 574 ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 575 zu Petitionen
- Drucksache 17/13120 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 575 ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 46 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 576 zu Petitionen
- Drucksache 17/13121 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? Linksfraktion. Sammelübersicht 576 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 577 zu Petitionen
- Drucksache 17/13122 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 577 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 578 zu Petitionen
- Drucksache 17/13123 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 578 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 579 zu Petitionen
- Drucksache 17/13124 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 579 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 580 zu Petitionen
- Drucksache 17/13125 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand.
Sammelübersicht 580 ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 581 zu Petitionen
- Drucksache 17/13126 -
Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-
haltungen? - Niemand. Sammelübersicht 581 ist ange-
nommen.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({24}) zu dem Elften Gesetz zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
zes
- Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,
17/13190 -
Berichterstattung: -
Abgeordneter Jörg van Essen
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? -
Das ist nicht der Fall.
Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. Der
Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei-
ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim-
men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/13190? -
Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! -
Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 5 a sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:
5 a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bun-
destages über die Einleitung eines Verfahrens
zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit
der „Nationaldemokratischen Partei Deutsch-
lands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 17/13227 -
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
- Drucksache 17/13225 -
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
NPD verbieten
- Drucksache 17/13231 -
1) Erklärungen nach § 31 GO Anlage 3
Vizepräsident Eduard Oswald
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsextremismus umfassend bekämpfen
- Drucksache 17/13240 Über den Antrag der Fraktion der SPD sowie über
den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind alle damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas Oppermann.
({25})
Danke schön, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Seit anderthalb Jahren diskutieren wir über ein
neues Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Vor vier Monaten hat nach sorgfältiger Vorbereitung durch die Innenminister von Bund
und Ländern der Bundesrat entschieden, einen Verbotsantrag zu stellen. Deshalb ist es heute an der Zeit, dass
auch der Bundestag eine Entscheidung trifft.
({0})
Wir wollen, dass auch der Bundestag einen Antrag
stellt, damit die NPD verboten werden kann. Das Grundgesetz sieht in Art. 21 vor, dass Parteien, die darauf ausgerichtet sind, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, …
verfassungswidrig“ sind. Die Väter und Mütter des
Grundgesetzes haben diese Bestimmung über das Parteienverbot in das Grundgesetz aufgenommen, weil sie
sichern wollten, dass nie wieder die parlamentarische
Demokratie in Deutschland durch Nationalsozialisten
zerstört oder durch eine Gewaltherrschaft abgelöst
werden kann.
({1})
Deshalb sollte die Demokratie des Grundgesetzes als
eine wehrhafte Demokratie ausgestaltet sein. Ich zitiere
dazu Carlo Schmid aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates:
Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nicht
zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selbst
die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.
({2})
Mit anderen Worten: Gegen ihre Feinde dürfen sich
Demokraten nicht neutral verhalten, meine Damen und
Herren.
({3})
Deshalb bin ich einigermaßen froh, dass wir alle uns
in einer Frage wenigstens einig sind: Die NPD ist eine
verfassungsfeindliche Partei. Diese Partei ist antidemokratisch, sie ist antisemitisch, sie ist ausländerfeindlich,
sie ist in Teilen gewaltbereit. Die NPD steht in der Tradition der nationalsozialistischen Ideologie, und die NPD
bekämpft unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Ein Kernelement dieser freiheitlich-demokratischen
Grundordnung, die universelle Geltung der Grund- und
Menschenrechte, ist das, was der SPD als ganz besonderer Angriffspunkt vor Augen steht.
({4})
Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre
geht die NPD davon aus, dass es minderwertige Menschen in Deutschland gibt, Menschen, die wegen ihrer
Herkunft oder ihrer Hautfarbe aus Deutschland vertrieben werden sollen, die kein Recht haben, hier zu leben.
Die NPD will diese Menschen aus Deutschland vertreiben. Da, wo sie sich stark fühlt, errichtet sie sogenannte
national befreite Zonen und organisiert zusammen mit
rechtsextremen neonazistischen Kameradschaften rassistische Gewaltakte gegen unschuldige Opfer. Ich muss
Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich empfinde es
als unerträglich, dass solche Parteiaktivitäten immer
noch mit Steuergeldern finanziert werden.
({5})
Die Demokratie in Deutschland mag stark genug sein,
eine verfassungsfeindliche NPD auszuhalten; die Opfer
der NPD sind es nicht.
({6})
Zu der Aussage von Herrn Rösler, der heute nicht da
ist, in diesem Zusammenhang, Dummheit könne man
nicht verbieten,
({7})
kann ich nur feststellen: Es geht hier nicht darum, ein
paar dumme Gedanken zu verbieten, sondern darum,
eine Organisation, eine Partei zu zerschlagen, die darauf
ausgerichtet ist und die dazu beiträgt, dass Menschen in
Deutschland angegriffen werden.
({8})
Trotz allem habe ich Respekt für diejenigen, die heute
unserem Antrag nicht folgen und dafür Argumente nennen. Ich kenne diese Argumente; ich teile sie nicht, aber
ich respektiere sie. Aber ich halte es für nicht in
Ordnung, dass monatelang versucht worden ist, dieser
Entscheidung auszuweichen.
({9})
Jetzt werden wir auch noch dafür kritisiert, dass wir
diese Debatte erzwungen haben. Jetzt sollen wir auch
noch dafür verantwortlich gemacht werden, dass heute
möglicherweise bei der Abstimmung über unseren Antrag ein uneinheitliches Abstimmungsbild entsteht, das
für den Antrag des Bundesrates nicht vorteilhaft wäre.
Meine Damen und Herren, was ist das für eine verquere
Logik?
({10})
Wenn unser Antrag heute keine Mehrheit findet, dann
liegt das doch nicht an denjenigen, die den Antrag
gestellt haben, sondern an denjenigen, die den Antrag
ablehnen.
({11})
Liebe Renate Künast, Sie haben gesagt, dies sei ein
Showantrag.
({12})
Herr Kollege Oppermann!
Danke, ich habe zu wenig Redezeit. - Ich muss Ihnen
ganz ernsthaft sagen - ({0})
- Dann bitte sehr.
Sie möchten die Zwischenfrage von Herrn Montag
zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Oppermann, danke, dass Sie die Frage
zulassen. Ich verlängere damit Ihre Redezeit; seien Sie
also dankbar.
Das habe ich noch rechtzeitig gemerkt.
({0})
Gut, das stimmt. - Zu meiner Frage. Sie haben, Herr
Kollege Oppermann - jetzt komme ich zum Ernst der
Sache zurück, was angemessen ist -, Ihren Antrag ausführlich begründet. Ich stimme jedem Satz von Ihnen zu:
Die NPD ist eine rassistische, eine verfassungswidrige
Partei.
Das Problem, vor dem wir stehen, ist: Der Deutsche
Bundestag hat nach der Verfassung nicht das Recht, Parteien zu verbieten. Wenn wir das Verbot aussprechen
könnten, hätten wir eine andere Situation. Wir diskutieren ausschließlich über die Frage: Sollen wir einen entsprechenden Antrag an ein Gericht stellen oder nicht?
Dabei müssen wir uns, ob wir wollen oder nicht, zu der
Frage verhalten: Halten wir den Antrag für aussichtsreich oder für nicht aussichtsreich? Es braucht ja eine
rationale, vernünftige Begründung, wenn man vor Gericht ein Risiko eingeht.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, was
Sie eigentlich veranlasst, heute namentlich über Ihren
Antrag abstimmen zu lassen, statt ihn in die Ausschüsse
zu geben. Viele Kollegen - dazu gehöre auch ich - sind
in der Sache ganz nahe bei Ihnen, können Ihnen aber
nicht folgen, da Sie heute eine Stellungnahme von uns
verlangen. Ich persönlich möchte gerne als Mitglied des
Rechtsausschusses im Rechtsausschuss eine Sachdebatte
auch mit Sachverständigen darüber führen können,
welche Erfolgsaussichten - rechtlich und faktisch - ein
solches Verbotsverfahren hätte. Da können wir Argumente austauschen.
Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Der Bundesrat wird
erst im Juni oder im Juli entscheiden. Warum verlangen
Sie von uns heute eine Stellungnahme in Form einer
namentlichen Abstimmung zu der Frage: „Welche
Aussichten hat der SPD-Antrag beim Bundesverfassungsgericht?“, ohne dass wir Gelegenheit hatten, darüber in den Ausschüssen zu reden?
({0})
Lieber Kollege Montag, was die Erfolgsaussichten
dieses Verfahrens betrifft, gehen wir davon aus, dass die
Innenminister von Bund und Ländern sie sehr sorgfältig
geprüft haben. Wir setzen auf die Fakten und auf die
Kraft der Argumente. Die Fakten besagen, dass die NPD
in aggressiv-kämpferischer Weise Menschenrechtsverletzungen in Deutschland organisiert und betreibt.
Es ist in der Tat nicht erwiesen, dass die NPD bei der
Vorbereitung und Durchführung der schweren Terrorstraftaten durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ eine Rolle gespielt hat. Aber es ist doch bei allen
Beteiligten völlig unstreitig, dass die NPD den geistigen
Nährboden dafür geschaffen hat, dass solche schlimmen
Taten in Deutschland geschehen konnten.
({0})
Wir haben im Januar einen Antrag in den Bundestag
eingebracht, in dem wir darum gebeten haben, dass der
Innenausschuss eine Empfehlung für das Plenum erarbeitet. Das, finde ich, war ein seriöses Vorgehen. Das
war kein Showantrag. Allerdings ist dieser Antrag komplett ignoriert worden. Es hat im Innenausschuss nicht
die Arbeit stattgefunden, die wir wollten.
({1})
Wir wollten auch nicht so lange warten, bis das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auf Antrag des
Bundesrates beginnt, sodass wir dann hinterherlaufen.
Jetzt ist die Zeit, über diesen Antrag zu entscheiden.
Deshalb haben wir ihn heute eingebracht.
({2})
Es mag unangenehm sein, jetzt Farbe bekennen und
sich entscheiden zu müssen. Aber diese Unannehmlichkeit kann ich Ihnen nicht ersparen. Nachdem Ihre Kollegin, Frau Künast, in diesem Zusammenhang gesagt hat,
das sei ein Showantrag,
({3})
muss ich Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Dieser Antrag
ist vor dem Hintergrund des historischen, des politischen
und des demokratischen Selbstverständnisses der Sozialdemokratischen Partei
({4})
für uns eine Angelegenheit von ganz großer Ernsthaftigkeit. Davon können Sie ausgehen.
({5})
Für sein Abstimmungsverhalten muss jeder selbst die
Verantwortung tragen.
Immer wieder wird behauptet, eine Partei dürfe nur
verboten werden, wenn sie unmittelbar vor der Machtübernahme stehe. Das ist eindeutig unzutreffend; denn
ein solches Kriterium hat weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte formuliert. Und die Lehre aus der Geschichte
zeigt doch, dass man solchen Parteien frühzeitig entgegentreten muss.
({6})
Schließlich ist ein NPD-Verbot leider auch nicht deshalb überflüssig geworden, weil diese Partei durch Mitgliederschwund, Finanzdebakel und schlechte Wahlergebnisse schwächer geworden ist. Das ist doch nicht von
selbst gekommen. Das ist doch ganz klar eine Folge dessen, dass wir mit der Verbotsdebatte den Druck auf diese
Partei systematisch erhöht haben.
({7})
Der permanente Beobachtungs- und Fahndungsdruck
seit Aufdeckung der NSU-Morde hat die rechtsextreme
Szene in Deutschland erkennbar verunsichert. Diesen
Druck, meine Damen und Herren, dürfen wir jetzt nicht
zurücknehmen. Deshalb bitten wir Sie, unserem Antrag
zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Günter Krings.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für die heutige Debatte halte ich es in der Tat
für besonders wichtig, gleich zu Anfang sehr klar zu unterscheiden zwischen der Einigkeit über das Ziel der Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland und
den offensichtlichen Meinungsunterschieden über die
dazu richtigen und notwendigen Mittel.
Meine Damen und Herren, einig sind wir uns im ganzen Hause auch darin, dass die NPD eine verabscheuungswürdige Partei ist, die nie in dieses Parlament einziehen darf und die auch aus allen Landtagen
verschwinden sollte.
({0})
Die Aussagen führender Politiker dieser Partei gegen
Ausländer sowie der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die daraus sprechen, widersprechen den Grundwerten unseres Landes massiv. Geradezu unerträglich
wird es dann, wenn der Holocaust geleugnet oder relativiert werden soll. Wir treten einer solchen Verhöhnung
der Opfer bei jeder Gelegenheit mit aller Entschiedenheit entgegen.
({1})
Ich habe aus diesen Gründen keine Zweifel, dass die
NPD eine menschenfeindliche und demokratiefeindliche
Partei ist. Ich stimme in großen Teilen Ihrer Rede, insbesondere dem Analyseteil, zu, Herr Oppermann. Diese
Feststellung sagt aber noch nichts darüber aus, ob diese
Partei auch aggressiv-kämpferisch im Sinne der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts agiert, und sagt vor
allem nichts darüber aus, ob ein Verbotsverfahren gegen
diese Partei politisch klug ist. Ich stimme dem renommierten Düsseldorfer Parteienrechtler Martin Morlok,
den Sie sicherlich mindestens genauso schätzen wie ich,
zu, wenn er sagt: „Ein Parteiverbot löst das Extremismusproblem nicht.“ Meine Damen und Herren, man
kann eine Partei verbieten. Aber man kann weder eine
rechtsextreme Gesinnung noch rechtsradikale Menschen
per Hoheitsakt verbieten. Da braucht es eben mehr Engagement.
({2})
Dieses Engagement bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus und der NPD beschreiben und fordern wir
als Koalitionsfraktionen mit unserem Antrag. Wir wollen den Rechtsextremismus vor allem politisch entschlossen bekämpfen. Unser Kampf gründet auf fünf
Schwerpunktbereiche. Ich will nur zwei, drei Beispiele
herausgreifen.
Wir wollen mit der Fortführung bestehender und der
Auflage neuer Programme das zivilgesellschaftliche
Engagement fördern. Ich betone allerdings: Dabei muss
der Kampf gegen den Rechtsextremismus aus der gesellschaftlichen Mitte und nicht von ihren politischen
Rändern her aufgenommen werden.
({3})
Wir brauchen attraktive Programme zum Ausstieg aus
der rechtsextremen Szene, sowohl staatliche wie private
Programme wie das Projekt EXIT, das wir jetzt allein
mit Bundesmitteln weiter fördern.
Wichtig ist des Weiteren eine effektive Arbeit unserer
Sicherheitsbehörden für erfolgreiche Prävention, aber
eben auch für die notwendige konsequente Strafverfolgung. Hier braucht es vor allem eine gute und in Teilen
noch bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei Polizei und Verfassungsschutz. Ich bedanke
mich ausdrücklich bei unserem Innenminister Friedrich
für viele Verbesserungen, die er angestoßen und erreicht
hat. Aber es bleibt auch noch das eine oder andere zu
tun. Für das Erreichte aber erst einmal herzlichen Dank.
({4})
Es ist jedenfalls gut, dass zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus im Bundeshaushalt - das reicht vom
Bundeskriminalamt bis zur Bundeszentrale für politische
Bildung - insgesamt dieses Jahr etwa 25 Millionen Euro
mehr investiert werden.
Meine Damen und Herren, das alles sind Maßnahmen
und Programme, die natürlich weniger spektakulär als
ein Verbotsantrag gegen die NPD sind. Aber sie sind
eben auch viel erfolgversprechender im Kampf gegen
den Rechtsextremismus.
Die Bundesregierung hat sich nach intensiver Prüfung
gegen einen Antrag auf ein Parteiverbot entschieden. Ich
bin der festen Überzeugung, dass sich die Bundesregierung diese Entscheidung mindestens ebenso schwer gemacht hat wie der Bundesrat seine Entscheidung. Natürlich kann sich der Deutsche Bundestag grundsätzlich
anders entscheiden. Es gibt keinen Automatismus, dass
wir entweder dem Bundesrat oder der Bundesregierung
folgen. Aber ich weise auch darauf hin: Der Deutsche
Bundestag ist der einzige von drei im Grundgesetz vorgesehenen Antragstellern, der nicht über eigene nachrichtendienstliche Erkenntnisse verfügt und deshalb auf
Informationen insbesondere aus dem Bereich der Bundesregierung angewiesen ist. Wenn sich der Bundestag
anders entscheidet als die Bundesregierung, dann muss
er dafür schon besonders gute Gründe und besondere eigene Erkenntnisse haben, die in eine andere Richtung
weisen. Die FDP, meine Fraktion und auch große Teile
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen sehen diese besonderen abweichenden Erkenntnisse und Gründe nicht.
Die SPD-Fraktion hat diese, mit Verlaub, in der Sache
auch nicht vorgetragen.
({5})
Man kann natürlich, wie die SPD es heute tut, einen
Verbotsantrag auch um seiner politischen Wirkung willen stellen. Aber auf eines sollten Sie achten: Sie sollten
bei diesem Verbotsantrag nicht Opfer Ihrer eigenen Rhetorik werden. Man kann den Verbotsantrag aus politischen Gründen stellen. Entschieden wird über den Antrag aber nach streng juristischen Kriterien. Ich finde es
schon ein wenig fahrlässig, wenn die SPD die hohen
Hürden für ein Parteiverbot ganz aus ihrem Bewusstsein
verdrängt.
({6})
Der Kollege Oppermann hat nämlich leider recht, als
er in der letzten Debatte zu diesem Thema am 1. Februar
2013 gesagt hat:
Die Rechtsprechung zu den Parteienverboten ist
60 Jahre alt. Ich bin sicher: Das Gericht wird dieses
Verfahren nutzen, um zeitgemäße Verbotskriterien
zu entwickeln.
Herr Oppermann, genau das fürchte ich auch. Ich darf
hierzu nochmals den Parteienrechtler Morlok zitieren:
In den 1950er Jahren war die bundesrepublikanische Demokratie in einer ganz anderen Bedrohungssituation: Es gab noch Millionen ehemaliger
NSDAP-Mitglieder …
Fazit: Die Anforderungen an ein Parteienverbot werden
heute eben nicht einfacher, sondern strenger zu bewerten
sein.
Selbst die Richter, die 2003 das damalige NPD-Verfahren gerne fortgeführt hätten, haben in einem Sondervotum klar zu erkennen gegeben, dass in einem solchen
Verfahren dann natürlich auch die strengeren Kriterien
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur
Anwendung kommen und leider für höhere Hürden sorgen. Das heißt insbesondere, dass die zu verbietende
Partei eine hinreichend bedrohliche, unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Demokratie darstellen muss.
Das ist einmal bejaht worden für eine Partei, die 25 Prozent der Stimmen bei den Wahlen erreicht hatte und
38 Prozent in Umfragen. Bei Wahlergebnissen von
glücklicherweise unter 2 Prozent für die NPD sieht die
Lage ganz anders aus. Offenbar glauben Sie von der
SPD selbst nicht so recht daran, dass diese Mindestanforderungen für das Verbot erfüllbar sind; denn nur so
kann ich Ihre Einlassung in der letzten Parlamentsdebatte, Herr Oppermann, verstehen. Wörtlich sagten Sie:
Dass die NPD … nicht in der Lage ist, den Bestand
der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, liegt
auf der Hand.
({7})
Meine Damen und Herren, wer ernsthaft und effektiv
die NPD und ihr unsägliches Gedankengut ausmerzen
will, muss klug vorgehen und vor allem politische Mittel
wählen. Es kommt ja nicht häufig vor, dass ich mich einer Formulierung des Kollegen Beck bediene, aber ich
finde es sehr treffend, dass Sie, Herr Beck, gesagt haben,
es gehe bei einem Verbotsantrag nicht um eine verfassungspolitische Mutprobe. Damit ist es eben nicht getan.
Wir brauchen vielmehr Mut für den gesellschaftlichen
und politischen Kampf gegen die NPD, hier im Bundestag vielleicht etwas weniger als in vielen Kommunen,
gerade in den neuen Ländern, wo diese Partei ihr Unwesen treibt. Diesen Mut müssen wir aufbringen. Wir sollten daher nicht zu viel Energie auf Antragsverfahren in
Karlsruhe verwenden, sondern uns umso intensiver gemeinsam an die politische Arbeit zur Verteidigung unserer Demokratie machen.
Herzlichen Dank.
({8})
Die Kollegin Ulla Jelpke hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Krings, man muss sich ja fragen, was Ihre Kollegen im
Bundesrat, die ja dem Antrag zugestimmt haben bzw.
das Verbotsverfahren einbringen wollen, dazu sagen,
dass Sie sie hier ganz offensichtlich für unqualifiziert
und nicht durchblickend erklären. Das ist schon sehr bezeichnend, finde ich.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sind uns offensichtlich
einig, dass die NPD eine zutiefst verfassungswidrige
Partei ist, die für demokratische Werte nur Verachtung
übrig hat. Wir konnten in den Materialsammlungen zum
Beispiel Folgendes lesen: Die NPD nennt sich selbst
„völkisch-national“, sie gibt Parolen aus wie „Ja zu
Deutschland! Ja zum Reich!“, sie will Menschenrechte
nur jenen zugestehen, die die „richtigen“ biologischen
Anlagen haben, und die NPD lässt keinen Zweifel daran,
dass sie Verhältnisse wiederherstellen will, wie wir sie
im Faschismus hatten. Es ist die Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten, dafür Sorge zu tragen, dass
diese Partei oder so eine Partei in Deutschland keinen
Platz hat und niemals Fuß fasst.
({1})
Wie streiten ja heute in der Tat über die Mittel der
Wahl. Als Argument gegen ein Verbotsverfahren wird
von den Regierungspolitikern und von den Grünen immer wieder vorgebracht, die NPD schwächele, sie sei nahezu pleite, ein Verbot sei ohnehin nicht ausreichend begründet usw. Das ist - mit Verlaub gesagt - eine banale
Argumentation. Die Linke hat hier im Bundestag Dutzende von Anträgen eingebracht, um die Bekämpfung
des Rechtsextremismus zu befördern. Ein NPD-Parteiverbot war immer nur eines von mehreren Mitteln. Es
gibt aber keinen Grund, auf dieses Mittel, also das Verbot, zu verzichten.
({2})
Denn, meine Damen und Herren, die NPD ist eben keine
beliebige Partei. Sie ist vielmehr die einzige bundesweite und damit wichtigste rechtsextreme Kraft in
Deutschland; ihre Bedeutung geht weit über ihre Wahlergebnisse hinaus. Ich will dafür einige Beispiele nennen.
Die NPD fungiert als Rückgrat für militante Nazikameradschaften. Die versammeln sich beispielsweise in
ihren Parteilokalen, nutzen Parteiinfrastruktur, können
ihre Nazikonzerte auf Grundstücken der NPD machen.
Wenn sie ihre rechten Aufmärsche anmelden, stehen sie
unter dem besonderen Schutz des Parteienprivilegs. Die
enge Verflechtung der NPD mit den gewalttätigen Kameradschaften zeigte sich erst im letzten Jahr wieder. In
Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise der Innenminister drei Kameradschaften verboten. Was passierte? - Der
NPD-Vorsitzende Holger Apfel reiste sofort ins Ruhrgebiet, um seine Solidarität mit diesen Nazischlägern zu
bekunden. Man muss ganz klar sagen: Die Kameradschaften sind diejenigen, die Gewalt ausüben und Menschen terrorisieren, die anders denken, wie beispielsweise Migrantinnen und Migranten. Sie stehen mit ihren
Knüppeln vor deren Haustüren und Ähnliches mehr. Im
Kreis Unna wurde beispielsweise eine Hausdurchsuchung bei den Kameradschaften durchgeführt. Und was
fand man? - NPD-Plakate, Materialien ohne Ende. Hier
muss man ganz deutlich sagen, dass die Kameradschaften so organisiert sind, dass sie im Grunde genommen
versuchen, über die NPD auch den Schutz des Parteienprivilegs in Anspruch zu nehmen. Dass die NPD dafür
auch noch Steuergelder bekommt, ist wirklich ein Skandal.
({3})
Deswegen sage ich: Wir können das nicht hinnehmen.
Ein weiteres Beispiel: In vielen Regionen Ostdeutschlands fordert die NPD ihre Mitglieder auf, die Zivilgesellschaft zu unterwandern. Sie gehen in die Freiwilligen
Feuerwehren, in Sportvereine, in Musikvereine, in
Schulbeiräte, um dort ihr braunes Gift zu verbreiten.
Aus all diesen Gründen träfe ein Verbot der NPD nahezu die gesamten rechtsextremen Strukturen in
Deutschland. Ohne die NPD wären die Kameradschaften
nur halb so gut organisiert.
({4})
Angesichts der Gefahren, die von diesen Kameradschaften und Schlägertruppen ausgehen - nicht nur abstrakt
für die Demokratie, sondern auch sehr konkret für Andersdenkende, Obdachlose und Migranten, die angegriffen werden -, dürfen wir nicht zögern, die NPD zu
verbieten; denn damit würden wir auch die Kameradschaften treffen.
({5})
Nahezu jede Umfrage zeigt uns: In der deutschen Bevölkerung haben Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus leider hohe Zustimmungswerte; denn die sogenannte Mitte der Gesellschaft ist
nicht immun gegen diesen Ungeist. Auch ein Thilo
Sarrazin beispielsweise schwadronierte über den Zusammenhang von Erbanlagen und dem gesellschaftlichen
Wert eines Menschen. Es ist völlig unverständlich, dass
so ein Mensch noch in den Reihen der SPD verbleiben
darf,
({6})
wo doch gerade die Vereinten Nationen seine Äußerungen als rassistisch verurteilt haben.
({7})
Das sind Brandstifter aus der Mitte dieser Gesellschaft.
Ich sage Ihnen: Es ist unglaubwürdig, wenn man solche
Leute in seinen Reihen lässt.
Nicht zuletzt hat auch der Asylkompromiss vor
20 Jahren gezeigt, wie mit Menschenrechten und Menschenwürde umgegangen wurde - das war zu einer Zeit,
als Asylbewerberheime in Deutschland brannten.
Ich betone das, weil es eines klarmacht: Der Kampf
gegen Rechtsextremismus hört nicht beim Kampf gegen
die NPD auf. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem,
und deswegen müssen wir es auch aus der Mitte heraus
bekämpfen.
({8})
Rechtsextremisten müssen geächtet werden. Um den
Nazis das Wasser abzugraben, wäre die Unterstützung
eines Verbotsantrags hier von immenser Bedeutung,
meine Damen und Herren.
({9})
In der Tat, es bleiben noch einige Fragen offen. Die
Linke hat das Material gesichtet und immer wieder klipp
und klar gesagt, dass die Innenminister unbedingt eine
verbindliche schriftliche Erklärung abgeben müssen,
dass das Material nicht wieder V-Leute-verseucht ist, damit das Verbot nicht deswegen wieder scheitert. Zudem
fordern wir die Bundesregierung auf, Informationen
über die Verflechtungen von NPD und Kameradschaften, über ihre Gewaltbereitschaft bzw. ihre Gewalttaten
zusammenzustellen und ebenfalls an die Gerichte zu geben, damit diese entsprechendes Material haben.
Frau Kollegin!
Nicht zuletzt treibt uns die Sorge, dass das Verfahren
gegen die NPD als Alibi missbraucht wird; denn man
muss sagen: Es könnte damit auch sehr leicht abgelenkt
werden von den enormen Skandalen, die wir im NSUVerfahren aufgedeckt haben, was die Sicherheitsbehörden und den Verfassungsschutz angeht.
Frau Kollegin!
Ich komme zum letzten Satz. - Ich kann jetzt nur
noch sagen, dass wir dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht zustimmen werden, weil er vor lauter Eitelkeit
wirklich überhaupt nichts mehr zum NPD-Verbot sagt.
Frau Kollegin!
Die Linke will dieses NPD-Verbotsverfahren.
({0})
Wir müssen endlich Nägel mit Köpfen machen. Ich sage
zum Schluss nur noch: Auschwitz gedenken heißt NPD
verbieten.
Danke schön.
({1})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Stefan
Ruppert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen.
Ich empfand Ihren letzten Satz, Frau Jelpke, offen gesagt, als etwas schlicht in der Argumentationsführung.
Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen - das sollten
wir uns hier nicht absprechen - machen sich die Entscheidung heute nicht leicht.
({0})
Vielleicht ist es sogar die wirksamste Form der Verteidigung der Demokratie, wenn wir in einer solchen Debatte, statt uns abzusprechen, dass wir in diesen Punkten
auf demselben Fundament stehen, gerade die Gemeinsamkeit aller Demokraten in den Vordergrund stellen
und betonen.
({1})
Wir sind nach reiflicher Abwägung aller Argumente
der Auffassung: Der Bundestag sollte keinen eigenen
NPD-Verbotsantrag stellen. Die Risiken sind hoch. Der
Ausgang ist ungewiss. Auch das Problem des Rechtsextremismus wird durch ein NPD-Verbotsverfahren
nicht gelöst. Aufgrund dieses Dreiklangs wollen wir keinen eigenen Verbotsantrag stellen.
Die NPD - ich habe das selbst als wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim letzten NPD-Verbotsverfahren erlebt ist eine zutiefst widerliche rechtsradikale Partei. Sie widerspricht all dem, was mir als Demokrat, aber auch als
Christ wichtig ist. Sie spricht Menschen ihre Würde ab.
Von daher sollten wir der NPD überall entschlossen entgegentreten.
({2})
Für mich als Liberaler ist das zuallererst die Aufgabe
der Gesellschaft. Ein wirksames Präventionsprogramm
gegen Rechtsextremismus ist, wenn wir in Vereinen, in
Feuerwehren, in kulturellen Einrichtungen, im Freundesund Gesprächskreis, in unserem unmittelbaren Umfeld
keinerlei Toleranz für Intoleranz zeigen,
({3})
sondern dem rechtsextremen Gedankengut überall dort,
wo es auftritt, wirksam entgegentreten.
({4})
Heute steht eine politische Entscheidung an. Wir wollen und müssen politisch entscheiden, ob wir einen eigenen Antrag stellen. Herr Oppermann hat gesagt, wir hätten uns damit zu viel Zeit gelassen. Die Grünen werfen
uns vor, wir würden überhastet handeln, was dieses Verbotsverfahren angeht. Ich finde schon - ich respektiere
die Haltung der SPD -, es stünde den Grünen gut an,
heute eine Entscheidung in der Sache zu treffen und ihre
Haltung, sei es dafür oder dagegen, zum Ausdruck zu
bringen. Bei der politischen Bewertung einer solchen
Frage ist Enthaltung nicht das adäquate Mittel.
({5})
Wir Liberale singen gerne das seit dem Vormärz und
den Zeiten der Französischen Revolution in Deutschland
gesungene Lied: Die Gedanken sind frei. Wir hoffen darauf, dass es demokratische, gute, idealistische Gedanken sind, die frei sind. Wenn wir über diesen Satz nachdenken, müssen wir aber auch feststellen, dass staatliche
Mittel gegenüber rechtsextremem Gedankengut, gegenüber der Überzeugung von Rechtsextremen leider relativ
wirkungslos sind. Was nicht wirkungslos ist, sind die
Mittel der Strafverfolgung. Darin sind wir uns alle einig.
Dort, wo Rechtsextreme Straftaten begehen, wo sie den
Boden des Strafgesetzbuches und die Werte unserer Gesellschaft verlassen, wo sie andere Menschen missachten, sie gegebenenfalls sogar verletzen oder töten, muss
mit aller Härte dieses Rechtsstaates dem Rechtsextremismus entgegengetreten werden. Deswegen ist es
wichtig, dass wir in solchen Fällen immer unsere Solidarität zeigen.
Am Anfang habe ich gesagt, die Risiken sind hoch,
die Erfolgschancen ungewiss und die zu erzielenden Erfolge relativ klein. Das sage ich auch in dem Wissen,
dass wir im damaligen NPD-Verbotsverfahren dazu beigetragen haben, dass die NPD im Zusammenhang mit
dem Scheitern durchaus neue Mitglieder gewonnen hat,
weil wir sie zu Märtyrern gemacht haben. Wir sollten die
Mitglieder dieser Partei nicht zu Märtyrern machen. Wir
sollten ihnen dort entgegentreten, wo wir ihnen begegnen: jeder in seinem Alltag und gemeinsam als Demokraten. Ich glaube, damit erreichen wir mehr als mit einem NPD-Verbotsverfahren.
Herzlichen Dank.
({6})
Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir sind uns im Deutschen Bundestag einig:
Die NPD ist eine menschenverachtende, rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei, die auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgerichtet ist. Aus der Materialsammlung des
Bundes und der Länder geht das zweifelsfrei hervor. Die
NPD ist antisemitisch, rassistisch, islam- und menschenfeindlich. Sie lehnt das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland ab und will es beseitigen. Sie
will ihre Rolle als Partei nutzen, um Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit - im NPD-Jargon heißt das: das System - zu überwinden. Alle Mitglieder unserer Fraktion
würden es lieber heute als morgen sehen, dass es die
NPD nicht mehr gibt, weil sie verboten ist oder weil sie
politisch oder finanziell Bankrott anmelden muss.
({0})
Udo Voigt, der ehemalige Vorsitzende der NPD,
sagte: „BRD heißt das System - morgen soll es untergehen!“ Die NPD lehnt die Werte des Grundgesetzes
- Gleichheit und Freiheit - grundsätzlich ab. Karl
Richter, ein NPD-Funktionär und Stadtrat aus München,
formuliert ganz rassenbiologisch:
Toleranz ist Manipulation des Natürlichen … Toleranz wird eingefordert für Fremde, Homosexuelle,
Aidskranke … wo die Toleranz gegenüber Abweichendem, Lebens-Unrichtigem überhand nimmt auf
Kosten der normalgebliebenen Mitglieder des Gemeinwesens, nimmt die Überlebensfähigkeit des
Ganzen Schaden … weil der Patient …
- die weiße Menschheit vor dem Exitus steht.
({1})
Volker Beck ({2})
Hier wird gegen Minderheiten gehetzt. Deshalb muss
man sich der NPD mit allen demokratisch legitimen Mitteln überall entgegenstellen.
({3})
Es gibt Verbindungen der NPD zu verbotenen rechtsextremistischen Organisationen und neonazistischen
Straf- und Gewalttätern. Es gibt eine perfide Kooperation mit den Freien Kameradschaften, den sogenannten
Freien Kräften. Diese Freien Kräfte bieten dem rechtsextremen Spektrum Flexibilität, Mobilisierungsfähigkeit und Aktionsorientierung. Die NPD versucht währenddessen, den Schutz durch das Parteienprivileg für
sich zu reklamieren. Karl Richter hat dazu gesagt, dass
das zwei Herangehensweisen, zwei Seiten der gleichen
Münze, zwei Scheiden der gleichen Klinge sind. Aber
unter dem Strich zählt, dass der Hieb, der mit dieser
Klinge geführt wird, auch sitzt.
Was die NPD will, ist ganz klar. Deshalb ist sich unsere Fraktion einig: Wenn ein Verfahren zum Verbot der
NPD große Chancen hätte, würden wir mit fliegenden
Fahnen sofort alle gemeinsam Ja sagen. Es gibt allerdings noch einige Fragen. Ich finde es wirklich bedauerlich, Kollege Oppermann, dass wir diese Fragen nicht in
einem ordentlichen Verfahren in den Ausschüssen, auch
mithilfe von Sachverständigen, klären können. Das ist
zum Beispiel die Frage nach den V-Leuten. Ich habe gestern zum zweiten Mal das Innenministerium gefragt,
welche Innenminister denn das Testat, dass das Material
V-Mann-frei ist, wieder zurückgezogen haben. Die Regierung antwortet einfach nicht
({4})
und verweist auf einen IMK-Beschluss. Hinzu kommt:
10 Prozent des Materials wurden entfernt, weil es quellenbelastet war. Was das für das Verfahren heißt, kann
niemand hier im Hohen Hause aus eigenem Wissen als
Bundestagsabgeordneter letztgültig beurteilen.
({5})
In meiner Fraktion gibt es viele, die darauf setzen,
dass die offensichtliche Nähe der NPD zum Nationalsozialismus und zu den gewalttätigen Kameradschaften
sowie ihre Entschlossenheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - die Grundsätze der Bundesrepublik Deutschland - abzuschaffen, ausreichen, um das Bundesverfassungsgericht und europäische Gerichte von der
Möglichkeit eines Parteiverbots zu überzeugen. Es gibt
andere, die fragen: Kann man mit diesem Material tatsächlich nachweisen, dass die NPD für den Bestand von
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland eine ernsthafte Gefährdung darstellt?
({6})
Das sind keine trivialen Überlegungen, sondern sie
verdienen eine ernsthafte Erörterung. Deshalb sage ich:
Wenn wir als Deutscher Bundestag - ein Verfassungsorgan, das weder der Bundesregierung noch dem Bundesrat zu folgen hat, sondern aus eigener Erkenntnis und
Einschätzung sein Urteil zu fällen hat - einen Verbotsantrag stellen, bedarf das einer seriösen und sorgfältigen
Herangehensweise.
({7})
Das sehe ich in dem heutigen Verfahren in der Tat nicht.
Ich verstehe nicht den Sinn darin, dass man hier einen
Antrag auf das Stellen eines Verbotsantrages stellt, von
dem man - schon aufgrund der Koalitionsmehrheit weiß, dass er keine Mehrheit findet.
({8})
Ich muss Ihnen sagen: Ich möchte dem Bundesrat bei
seinem Versuch, die NPD zu verbieten, keine Knüppel
zwischen die Beine werfen.
({9})
Für mich macht es einen Unterschied, ob der Bundestag
einfach nicht von seinem Recht auf das Stellen eines Antrags Gebrauch macht oder ob er hier gezwungen wird,
den Antrag auf das Stellen eines Antrages mit Mehrheit
abzulehnen. Das halte ich für keine kluge Entscheidung,
für kein hilfreiches Signal im Hinblick auf das vom Bundesrat beantragte Verbotsverfahren, und es wird der
Ernsthaftigkeit des Sachverhaltes nicht gerecht.
({10})
Wir sollten die Frage „Kann man die NPD verbieten
oder nicht?“ - nicht die Frage „Will man sie verbieten?“ nicht parteipolitisch instrumentalisieren.
({11})
Mich erinnert das alles ein bisschen an 2003. Es wirkt
wie ein Wettbewerb: Wer kommt bei der Meisterschaft
gegen die NPD am höchsten aufs antifaschistische
Treppchen?
({12})
Das ist aber nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen
eine seriöse Diskussion und eine verantwortliche Entscheidung in der Sache. Ich habe von dir, Thomas, kein
Argument dazu gehört, wie du die entsprechenden Hürden der Rechtsprechung überwinden willst. Aber das ist
die Frage, auf die man vor Gericht antworten muss.
({13})
Wir werden uns bei der Abstimmung über die Anträge von SPD und Linken enthalten, weil wir nicht sehen, dass das entsprechend seriös diskutiert wurde.
({14})
Volker Beck ({15})
Kurz zu unserem Antrag. Wir stellen fest: Unabhängig vom Ausgang des NPD-Verbotsverfahrens, das es
aufgrund des Antrags des Bundesrates auf jeden Fall geben wird, gibt es Aufgaben im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Das staatliche Versagen bei der Aufklärung der NSU-Morde darf nicht folgenlos bleiben. Die
zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus darf man nicht länger in ihrer Arbeit behindern, und
sie müssen auf eine dauerhafte finanzielle Grundlage gestellt werden. Denn der Kampf gegen den Rechtsextremismus wird nicht an einem Tag gewonnen.
({16})
Ich komme zum Schluss. Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, Sie beweihräuchern
sich in Ihrem Antrag angesichts dessen, was Sie alles
Tolles gemacht haben, unter anderem, dass Sie die Kürzungen, die Sie bereits beschlossen hatten, auf Druck der
Opposition zurückgenommen haben. Aber Sie sagen
kein Wort zu dem, was wir im Bundestag schon beschlossen haben: dass wir die Hürden beseitigen, dass
wir von der kurzatmigen Projektförderung über nur drei
Jahre wegkommen und die Extremismusklausel endlich
zurücknehmen.
Herr Kollege.
Da würde sich zeigen, ob Sie es ernst meinen.
({0})
Ich erwarte von allen - ob Sie jetzt mit Ja, Nein oder
Enthaltung stimmen -, dass wir uns am 1. Mai in Dortmund und Berlin sehen, wenn die NPD und Die Rechte
auf die Straße gehen.
Herr Kollege.
Da ist jeder Demokrat auf der Straße gefordert.
({0})
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Dr. HansPeter Uhl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und
Kollegen! Bei der Frage, ob der Bundestag beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag stellen soll, sind wir
alle in einer schwierigen Situation. Das ist, glaube ich,
jedem in der Debatte deutlich geworden. Es gibt bestimmte Sprecher einer Fraktion, die es bei der Debatte
besonders schwer haben; Sie haben es gerade in Gestalt
von Herrn Beck gehört.
Ich meine, wir alle miteinander - jeder Redner für
sich - sollten zunächst einmal gemeinsam feststellen,
dass das Gedankengut, das die Vertreter der NPD vortragen, materiell verfassungsfeindlich ist. Der Antisemitismus, den sie vortragen, ist für uns alle unerträglich.
({0})
Der Antisemitismus und Rassismus in seiner widerwärtigen Form, der Ausländerhass, sind das Gegenteil dessen,
was wir alle mit unserer Politik verfolgen: eine Integration der Menschen, die zu uns kommen, und der Erhalt
des sozialen Friedens. Mit diesem Gedankengut kann
man niemals sozialen Frieden erreichen; er wird dadurch
zerstört.
Der primitive Führerkult, den NPD-Vertreter vortragen, ist das Gegenteil einer pluralen, freiheitlichen Demokratie. Da sind wir alle uns einig. Lassen Sie uns
doch bitte immer wieder festhalten, dass es diese Einigkeit gibt: Es gibt keinen Dissens, wohin ich auch schaue,
von links bis rechts. Das ist das große Verdienst aller
hier vertretenen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sollten gemeinsam darauf stolz sein, dass es uns
gelungen ist, dieses Gedankengut in unserer Demokratie
zu ächten. 99 Prozent der Deutschen wollen mit diesem
Gedankengut nichts zu tun haben. Darauf sollten wir
stolz sein, und das müssen wir erhalten.
({1})
Jetzt sind wir beim Kern des Themas. Das Thema lautet: Kann oder darf der Staat eine Partei verbieten, die
der Wähler bereits mit überwältigender Mehrheit ächtet,
was er an jedem Wahlsonntag wieder unter Beweis
stellt? 99 Prozent der Wähler ächten dieses Gedankengut. Kann der Staat diese Partei dennoch verbieten?
({2})
Der Blick ins Grundgesetz lehrt uns: Die Gedanken
sind frei, die Gründung einer Partei ist frei, sie unterliegt
keiner staatlichen Aufsicht, sofern nicht gegen Gesetze
verstoßen wird.
({3})
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der tragende Gedanke des Rechtsstaates. Alles, was der Staat tut, muss
dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Diesen Gedanken auf die NPD angewandt, kommt man zu
folgenden Erkenntnissen: Wir haben leider Gottes etwa
23 000 Rechtsextreme in unserem Land, nur 5 000 davon sind in der NPD.
({4})
Die NPD ist glücklicherweise eine sterbende Partei.
Selbst unter Rechtsextremen ist sie nicht attraktiv und
nicht anerkannt. Darüber sind wir froh. Es ist auch unsere Leistung, unser Erfolg, dass das so ist. Das heißt,
diese Partei ist für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne Bedeutung. Sie ist widerwärtig, sie ist
unangenehm, sie muss bekämpft werden, aber für die
politische Entwicklung in unserem Land ist sie ohne Bedeutung. Sie hat keinen Einfluss bei der Willensbildung
des Volkes.
Diese Erkenntnis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angewendet, wird es für das Gericht schwer sein, ein
Verbot dieser Partei von Staats wegen zu begründen.
Aber gerade weil es schwierig bis unmöglich ist, dass
der Staat diese Partei verbietet, ist es umso mehr die
Aufgabe der gesamten Gesellschaft, das Gedankengut zu
bekämpfen. Eine Partei nicht zu verbieten, heißt doch
nicht, dass man das Gedankengut nicht bekämpft, sondern gerade deswegen muss es von uns allen bekämpft
werden. Dem dient unser Antrag.
Wenn Sie unseren Antrag lesen - er hat übrigens über
lange Strecken verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was
die Fraktion der Grünen jetzt noch nachgeschoben hat -,
werden Sie feststellen, dass er dem Kampf der gesamten
Gesellschaft gegen dieses Gedankengut dient; und das
ist gut so.
({5})
Das heißt, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird
sein, weiterhin, wo immer wir sind, Gedanken des Antisemitismus zu bekämpfen, Gedanken des Rassismus zu
bekämpfen, Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen und
den Führerkult zu ächten. Das ist die Aufgabe von uns
allen. Wir haben uns ihr verschrieben, und wir sind ihr
bisher mit großem Erfolg nachgekommen.
Ich hoffe, dass es bei der Bundestagswahl im kommenden September wieder dazu kommt, dass nur null
Komma irgendwas Prozent der deutschen Wähler einer
Partei mit diesem Gedankengut ihre Stimme geben und
99 Prozent der Wähler dieses Gedankengut durch ihre
Stimme ächten. Ein solches Votum der Wähler ist sehr
viel edler: ganz frei, geheim, jeder für sich. Es ist sehr
viel wertvoller als ein obrigkeitsstaatliches Verdikt von
einem Gericht, beantragt von Verfassungsorganen. Der
Wähler soll sagen: Wir wollen damit nichts zu tun haben; wir haben aus der Geschichte gelernt. - Der Wähler
hat es bisher getan, er wird es auch weiter tun.
Danke schön.
({6})
Für den Bundesrat erteile ich jetzt dem Landesminister Boris Pistorius das Wort.
({0})
Boris Pistorius, Minister ({1}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich darf vorwegschicken: Ich bin
der SPD-Bundestagsfraktion sehr dankbar für die Möglichkeit, diese Debatte heute hier zu führen. Nach den
Diskussionen der letzten Monate ist sie zum jetzigen
Zeitpunkt notwendig.
({2})
Es stimmt: Die NPD hat in den letzten Jahren Mitglieder verloren. Es trifft zu: Die NPD befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten. Sie hat ihre Vorstandsmitarbeiter entlassen. Diese Entwicklung ist überaus erfreulich.
Aber ist deswegen ein NPD-Verbot überflüssig?
({3})
Sollen wir darauf hoffen, dass sich das Problem NPD
von alleine erledigt? Sollen wir bis dahin einfach die
Hände in den Schoß legen? Wäre das etwa ein Zeichen
demokratischer Geschlossenheit?
({4})
Die Antwort kann mit Blick auf die Opfer der NPDPropaganda in Deutschland nur heißen: Nein, wir dürfen
nicht einfach nur abwarten.
({5})
Das von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Einleitung eines Verbotsverfahrens zusammengestellte Materialkonvolut, das übrigens zu drei Vierteln aus Materialien des Bundes besteht, belegt es eindeutig: Die NPD ist
eine neonazistische, eine antisemitische und eine rassistische Partei.
({6})
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten und
auch heute viel über das Risiko eines solchen Antrags
und die Ungewissheit des Ausgangs eines Verbotsverfahrens gehört. Aber ich frage Sie: Vor welchem Gericht
in Deutschland gibt es hundertprozentige Gewissheit im
Hinblick auf das, was ich mit meinem Antrag, meiner
Klage bewegen will?
({7})
Ich hielte es für einen Ausdruck demokratischer Geschlossenheit und Entschlossenheit, diesen Antrag auch
dann zu stellen, wenn man, wie im Regelfall, nicht hundertprozentig sicher sein kann, Erfolg damit zu haben.
Wir alle kennen das Sprichwort über Gerichtsentscheidungen.
Es ist schwer zu ertragen, wenn von der NPD als einer
Dummheit gesprochen wird, die man nicht verbieten
könne.
Minister Boris Pistorius ({8})
({9})
Noch schwerer ist es nachzuvollziehen, dass die Bundesregierung sich dieser Auffassung anschließt. Menschen
mit Migrationshintergrund, Angehörige anderer Religionsgemeinschaften - insbesondere Juden und Muslime -,
Wohnungslose, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle: Sie alle werden von der NPD systematisch diffamiert. Diesen Menschen muss es doch wie Hohn vorkommen, dass diese widerwärtige Propaganda der NPD
zu einem großen Teil mit staatlichen Mitteln finanziert
wird.
({10})
Allein im Jahre 2011 machten sie 42 Prozent der Gesamteinnahmen der NPD aus.
Als Innenminister eines Flächenlandes, das rechtsextremen Tendenzen sehr kritisch und sehr aufmerksam
begegnet, sage ich: Erstens verharmlost es die NPD,
wenn man sie einfach nur als Dummheit bezeichnet.
({11})
Zweitens muss man gegen Dummheit angehen,
({12})
und zwar mit Aufklärung, mit Sensibilisierung, mit Aussteigerprogrammen und, ja, auch mit einem Parteiverbotsantrag.
({13})
Es stimmt ja: Dummheit kann man nicht verbieten.
Wohl aber diese Partei. Wenn die Klügeren immer nur
nachgeben, dann gewinnen am Ende die Dummen.
({14})
Die Demokraten im Bund und in den Ländern müssen
geschlossen zusammenstehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Rechten auch nur einen Quadratmeter Boden in den Köpfen der Menschen dazugewinnen. Es
steht außer Frage, dass die NPD eine verfassungsfeindliche Partei ist. Für mich steht auch außer Frage: Wir können und werden das Bundesverfassungsgericht davon
überzeugen, dass die NPD in aggressiv-kämpferischer
Art und Weise unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen will.
({15})
Wir brauchen für den Nachweis auch keine plakativen
Aufrufe der NPD zu Gewalt oder lange Straftatenregister. Ein planvolles politisches Vorgehen wird ausreichend deutlich anhand einer Vielzahl von Materialien,
die auch im Internet einsehbar sind. Auch wenn es mir
schwerfällt, zitiere ich aus dem Internetauftritt der NPD:
Ein Afrikaner, Asiate oder Orientale wird nie Deutscher werden können, weil die Verleihung gedruckten Papiers ({16}) ja nicht die biologischen Erbanlagen verändert, die für die Ausprägung
körperlicher, geistiger und seelischer Merkmale
von Einzelmenschen und Völkern verantwortlich
sind.
Welchen Beweises braucht es noch?
({17})
Ein Verbot der NPD ist nicht gleichbedeutend mit einem Sieg über den Rechtsextremismus. Diese Illusion
hat niemand. Aber ein Verbot der NPD würde den
Rechtsextremismus dort, wo er immer noch starke
Strukturen hat - zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen -, ins Mark treffen.
({18})
Vor allem aber sendet eine gemeinsame Erklärung zu einem NPD-Verbotsverfahren ein starkes moralisches und
politisches Signal aus. Deswegen, meine Damen und
Herren von der CDU, von der CSU, von der FDP und
auch von den Grünen, fordere ich Sie als niedersächsischer Innenminister und Vorsitzender der Innenministerkonferenz auf - ich bitte Sie herzlich -: Schließen Sie
sich dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und dem
Antrag des Bundesrates an. Wir schulden es den Opfern
rechtsextremistischer Gewalt.
Vielen Dank.
({19})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hartfrid Wolff
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Pistorius, wir schulden es den Opfern rechtsextremistischer Gewalt, dass wir wirkungsvoll gegen
Rechtsextremismus vorgehen und hier keine Ablenkungsdebatten über das NPD-Verbotsverfahren führen.
({0})
Für die FDP besteht kein Zweifel: Die NPD ist eine
rechtsextremistische Partei mit menschenverachtenden
Inhalten. Natürlich gehört zur wehrhaften Demokratie
auch das Parteiverbot. Man muss sich aber die Frage
stellen, ob durch ein Verbot nicht einfach nur eine Hülle
beseitigt wird, das Grundproblem aber bestehen bleibt.
({1})
Hartfrid Wolff ({2})
Gerade für die FDP hat ein wirkungsvolles Vorgehen
gegen politischen Extremismus höchste Priorität. Auch
die übelste Gesinnung kann man nicht einfach verbieten,
und Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Jedenfalls ist
ein NPD-Verbot kein Patentrezept, auch wenn die SPD
das hier suggerieren möchte. Selbst wenn die rechtsextremistische Szene durch ein Verbot vorübergehend
geschwächt würde, sind größere Anstrengungen notwendig, auch der Länder, Herr Pistorius, und zwar insbesondere im Polizeibereich, um den Druck auf diese Szene
massiv zu erhöhen.
Auch juristisch ist Vorsicht geboten. Das lehren allein
schon das gescheiterte Verfahren 2003 und die bisherige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zu anderen Parteiverbotsverfahren.
Aber nicht nur juristisch gilt es, das Für und Wider
abzuwägen. Wir haben vielfach die Erfahrung gemacht:
Wenn eine rechtsextreme Organisation verboten wird,
gründet sie sich unter anderem Namen neu. Wie oft soll
das Spiel denn immer wieder neu beginnen? Verschafft
ein Verbotsverfahren nicht unnötigerweise einer Partei
Aufmerksamkeit, die angesichts ihrer Mitgliederentwicklung und ihrer Finanzen ohnehin am Boden liegt?
Die Länder erwecken mit einem monatelang andauernden Verbotsverfahren den Eindruck besonderen
Engagements. Tatsächlich haben die Länder aber über
viele Jahre hinweg bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus versagt. Die NSU-Mordserie hat dies sehr deutlich gezeigt.
Herr Wolff, der Kollege Gysi hat eine Zwischenfrage
an Sie. Möchten Sie sie zulassen?
Nein. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, offenbar wollen Sie auch mit Ihrem Antrag hier im
Bundestag den Eindruck eines besonderen Engagements
erwecken. Wir stehen aber vor anderen Herausforderungen; denn die Morde der Zwickauer Terrorzelle sind die
schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten
Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland
bisher erlebt hat. Das ist eine Krise in Bezug auf die Sicherheitsarchitektur und die -organe.
({0})
Es fehlt allerdings nach wie vor der Nachweis eines
unmittelbaren Zusammenhangs mit der NPD als Partei.
Generalbundesanwalt Range sprach davon - angesichts
unserer Ermittlungen im Untersuchungsausschuss wissen wir, dass das sehr plausibel ist -, dass es keinerlei
Anhaltspunkte dafür gebe, dass der NSU quasi als verlängerter Arm der NPD angesehen werden könne. Das in
diesem Zusammenhang permanent öffentlich vorgetragene Ansinnen der SPD zum NPD-Verbotsverfahren soll
offenbar einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Doch
mit einem NPD-Verbot wäre in Sachen NSU nichts gewonnen. Durch ein Verbotsverfahren gegen die NPD
darf das öffentliche Interesse nicht von der Aufklärung
der NSU-Verbrechen abgelenkt werden.
({1})
Die Diskussion über den dringenden Reformbedarf
unserer Sicherheitsarchitektur darf nicht durch diese
symbolhafte NPD-Verbotsdebatte verdeckt werden. Die
Neuaufstellung der Behörden ist nötig. Hier ist das Bohren dicker Bretter gefragt - und eben keine Ablenkungsdebatte.
Mit einem schlichten Verbot einer Partei ist es für uns
nicht getan. Die FDP besteht nach wie vor auf der wirkungsvollen Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Extremismus insgesamt und einer lückenlosen Aufklärung der NSU-Mordserie. Die FDP wird sich weiterhin
kompromisslos gegen extremistische Ideologien in unserer Gesellschaft, egal wo sie auftreten, einsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi.
Herr Wolff - dasselbe könnte ich zum Vertreter der
Grünen sagen -, mir fallen zwei Dinge auf.
Erstens. Sie tun immer so, als würden wir hier entscheiden, ob es ein Verfahren geben wird oder nicht, und
dies juristisch abwägen. Es wird ein Verfahren geben,
weil der Bundesrat dies entschieden hat. Es geht doch
nur um die Frage, ob der Bundestag den Bundesrat unterstützt oder alleinelässt. Das ist die Frage, die wir hier
zu beantworten haben.
({0})
Zweitens. Mich stört, dass Sie sagen, ein Verbot nutze
in bestimmten Bereichen nichts. Dass das nicht ausreicht, wissen wir alle. Aber glauben Sie nicht, dass ein
Verbot der NPD eine wichtige Hemmschwelle in unserer
Gesellschaft setzt und zugleich dem Ausland signalisiert, dass wir in Deutschland das Überschreiten einer
bestimmten Grenze bei Rassismus, Antisemitismus und
Ausländerfeindlichkeit nicht zulassen? Wäre es nicht
wichtig, dieses Signal zu setzen?
({1})
Herr Wolff zur Antwort bitte.
Herr Kollege Gysi, zunächst einmal ist die Frage, ob
man hinter einem Antrag steht oder nicht, schon bedeuHartfrid Wolff ({0})
tend. Wenn ich daran denke, wie 2003 das NPD-Verbotsverfahren ausgegangen ist, kann ich Ihnen nur sagen: Es
ist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Zeichen, dass der
Deutsche Bundestag klar erklärt, dass er Rechtsextremismus politisch bekämpfen möchte
({1})
und von der juristischen Art und Weise, ihn zu bekämpfen, wie sie auch von Ihnen unterstützt wird, nicht wirklich überzeugt ist.
({2})
Sie sagen, dass es bei einem NPD-Verbotsverfahren
darum geht, ein Zeichen zu setzen. Aber wenn diese Partei tatsächlich verboten werden würde, hätten wir doch
nach kürzester Zeit eine andere Partei - solche Parteien
gibt es schon in der Parteienlandschaft -, die dann in den
Genuss von finanzieller Unterstützung durch Parteienfinanzierung und Ähnlichem käme, falls sie genügend
Wähler gewinnt.
Ich sage Ihnen ganz offen: Das beste Signal gegen die
NPD haben die Wähler in Niedersachsen und auch bei
der letzten Bundestagswahl gesetzt, indem sie die NPD
nur sehr wenig unterstützt haben. Die NPD hatte bei diesen Wahlen keinen Erfolg. Um wirkungsvoll gegen Extremismus vorzugehen, muss es dieses Wahlverhalten
auf allen Ebenen, auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene, geben. Die Programme, die die Bundesregierung
vorgelegt hat, sind gute Schritte in die richtige Richtung.
({3})
Der Kollege Dr. Franz Josef Jung hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich denke, alle Demokraten sollten sich einig
sein, dass Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus in Deutschland keine Chance haben dürfen
({0})
und dass wir alles tun, um das sowohl politisch als auch
gesellschaftlich zu bekämpfen.
Die menschenverachtende Gesinnung von Rechtsextremisten steht in einem deutlichen Widerspruch zu
den Werten unserer Verfassung. Insofern ist es eindeutig
- wir haben das, denke ich, auch betont -: Die NPD verfolgt verfassungsfeindliche Ziele. Wer sich die Nazidiktatur zum Vorbild nimmt, steht in einem eindeutigen
Widerspruch zu den Werten unserer Verfassung und hat
unseren Widerstand verdient.
({1})
Deshalb sind, denke ich, sowohl Politik als auch
Gesellschaft gefordert, alle Erscheinungsformen des
Rechtsextremismus zu bekämpfen. Hierbei geht es uns
um einen umfassenden und nicht um einen einseitigen
Ansatz.
In unserem Antrag haben wir die einzelnen Positionen dargestellt. Es geht um Bildung als Beitrag zur Sensibilisierung gegen Rechtsextremismus, um die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements, zum
Beispiel durch die Bundesprogramme „Zusammenhalt
durch Teilhabe“ und „Toleranz fördern - Kompetenz
stärken“. Es geht aber auch um den Vereinsbereich. Im
Bereich des Sports beispielsweise gibt es das Programm
„Verein({2}) gegen Rechtsextremismus“. Außerdem müssen wir die Aussteigerprogramme unterstützen und Hilfe
zur Selbsthilfe geben; immerhin sind in diesem Rahmen
schon 100 Personen aus dem rechtsextremistischen Milieu ausgestiegen. Ich glaube, es ist ein wichtiger Punkt,
auch in dieser Richtung alles Notwendige zu tun. Wir
müssen die verschiedensten Facetten nutzen, um den
Rechtsextremismus zu bekämpfen, sowohl politisch als
auch gesellschaftlich, und dies nicht nur mit einem einseitigen Verbotsantrag.
({3})
Dazu gehören auch die effektive Prävention und die
strenge Repression durch staatliche Stellen: durch Polizei,
Justiz, Bundeskriminalamt und die Verfassungsschutzbehörden.
Ich will hervorheben: Dort, wo wir die Kompetenz
haben, zu entscheiden, haben wir entschieden. So wurden in Deutschland beispielsweise zehn extremistische
Vereine verboten, wir haben die Verbunddatei gegen
Rechtsextremismus auf den Weg gebracht und die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden verbessert. Das alles sind Punkte, die aus unserer Sicht dazugehören.
Kollege Gysi, wir haben in unserem Antrag ausdrücklich formuliert, dass wir es begrüßen, dass das von den
Ländern in Gang gesetzte Verfahren von der Bundesregierung unterstützt wird. Aber wir haben Zweifel im
Hinblick auf die angemessene Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes; das ist
ein Aspekt, den man in dieser Debatte nicht verkennen
darf. Die NPD nutzt ein solches Verfahren nämlich, um
sich ein Stück weit zu profilieren; das haben wir an einigen Anträgen vonseiten der NPD gesehen.
Ich glaube, das Kriterium, das wir an den SPD-Antrag
anlegen müssen, ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines Parteienverbotes. Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt: Ein Parteienverbot ist nur dann möglich, wenn die Gefahr besteht, dass die Existenz der
Demokratie durch die betreffende Partei unmittelbar gefährdet ist. - Wir haben angesichts eines Bundestagswahlergebnisses von 1,5 Prozent Zweifel, dass dieses
Vorgehen gerechtfertigt ist.
({4})
Meine Damen und Herren, bundespolitisch steht diese
Partei dort, wo sie hingehört, nämlich im Abseits. Das
wollen wir auch bei den kommenden Wahlen erreichen.
Deshalb wollen wir den politischen Kampf gegen den
Rechtsextremismus nicht einseitig, sondern umfassend
führen. Der beim Bundesverfassungsgericht eingereichte
Antrag auf Verbot dieser Partei ist lediglich ein Baustein
im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Im Falle des
Scheiterns kann er aber zu einer großen Baustelle werden. Wir haben ja gesehen: Als das Verbotsverfahren
2003 gescheitert ist, sind die Stimmanteile der NPD gestiegen; das muss in dieser Debatte mitberücksichtigt
werden. Genau das wollen wir verhindern. Wir wollen
diese Partei bekämpfen, ihr aber nicht die Chance geben,
sich zusätzlich zu profilieren.
({5})
Meine Damen und Herren, ich denke, unser Antrag ist
der weitergehende und effektivere Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Deshalb bitte ich Sie um
Unterstützung unseres Antrags.
Besten Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael
Hartmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tat: Jeder, der zu dem scharfen Schwert
eines Parteienverbots greift, muss sich sehr genau überlegen: Ist das gerechtfertigt, und ist das maßvoll? Ist es
das, was wir in einer entwickelten liberalen Demokratie
tatsächlich wollen? Um darauf Antworten zu finden, will
ich in aller Kürze ein paar Zitate verlesen.
Im Grundsatzprogramm der NPD gibt es ein Kapitel
mit der Überschrift „Integration ist Völkermord“. In
diesem Kapitel wird gefordert, dass die deutsche Volkssubstanz zu erhalten ist. So lautet der Text.
Nun zum gesprochenen Wort; bei der Gesamtabwägung geht es ja auch um die aggressiv-kämpferische
Grundhaltung. Da sagt ein hoher Funktionär der NPD
bei einer öffentlichen Veranstaltung in Gera in Richtung
Gegendemonstranten:
Wir sagen: Tod, Vernichtung diesem roten Mob.
Nicht unser Volk darf sterben, sondern dieser volksfeindliche Pöbel.
Dann gibt es eine weitere Veröffentlichung eines NPDKandidaten, der auf seiner Homepage die Frage stellt:
Sind die „Dönermörder“ verfassungsgemäße Widerständler?
Was brauchen Sie noch, um zu sagen: „Diese Partei
muss verboten werden!“?
({0})
Wir leben in einem Land, das aufgebaut ist auf einem
Nie-wieder zu nationalsozialistischer Tyrannei. Insofern
ist es ein Gebot der Staatsräson, diese Partei durch das
Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen.
({1})
Der Bundesrat hat abgewogen - übrigens in engster
Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium und
mit den Sicherheitsbehörden des Bundes; man war also
immer dabei - und ist zu dem Ergebnis gekommen: Jawohl, wir wollen es noch einmal wagen und ein Verfahren anstrengen.
Entgegen dem, was zum Beispiel der Kollege Wolff
vorhin in der Entgegnung auf die Kurzintervention
sagte, ist es nicht wahr, dass das Bundesverfassungsgericht der NPD jemals attestiert hätte, dass sie verfassungsgemäß sei - das Verfahren wurde überhaupt nicht
zugelassen.
Das neue Verfahren ist gründlich und durchdacht vorbereitet. Mit dem Antrag der SPD wollen wir die Gelegenheit bieten, dass wenigstens dieses Verfassungsorgan
den Bundesrat nicht im Regen stehen lässt, wie es die
Bundesregierung - mehr aus koalitionärer Rücksichtnahme denn aus ernsthafter Abwägung - getan hat.
({2})
In diesem Sinne muss man sehr genau überlegen, wie
man nun weiter argumentiert, auch seitens des Bundesinnenministers, der an dieser Debatte anscheinend gar
nicht teilnimmt.
Vor gut einem Jahr hat der Minister dankenswerterweise die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ verboten. Er hat eine
Organisation verboten, keine Gesinnung. Sie haben damals völlig richtig gesagt: Hier zeigt die wehrhafte Demokratie ihre Zähne. Wir werden solche Organisationen
nicht dulden. - Was bei einer Organisation mit 600 Mitgliedern recht ist, kann bei einer Partei wie der NPD mit
6 000 Mitgliedern nur recht und billig sein.
({3})
Natürlich ist es mit einem Parteiverbot nicht getan.
Aber es ist ein Gebot unseres Selbstverständnisses, ein
Verbot dieser Partei anzustreben. Hinzu kommen müssen Förderung und Unterstützung der Zivilgesellschaft.
Es muss Schluss sein damit, dass diejenigen, die gegen
rechts kämpfen, sich am Schluss mit einer Extremismusklausel herumschlagen müssen.
({4})
Es muss auch Schluss sein damit, dass die Bekämpfung
des Rechtsextremismus vermischt wird mit der Bekämpfung des Linksextremismus und mit der Bekämpfung
des Salafismus. Nein, Rechtsextreme sind ein besonderes Übel und müssen von unseren Sicherheitsbehörden
mit eigenständigen Ansätzen verfolgt werden.
({5})
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Wenn das Demokratieverständnis durch diese Debatte
tatsächlich gestärkt wird, ist immerhin etwas erreicht.
Als letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Die SPD
geht nicht taktisch mit dieser Frage um. Die SPD hat in
der Zeit des Widerstands gegen die Hitlerei einen hohen
Blutzoll geleistet. Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass die Rechten - auch als Partei - nie mehr in
Deutschland Fuß fassen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Helmut Brandt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Debatte über den richtigen Umgang mit dem in Deutschland zweifellos vorhandenen
Rechtsextremismus ist schwierig: Obwohl - darüber bin
ich sehr froh - alle in diesem Hause die Notwendigkeit
sehen, gegen diese Bestrebungen wirksam vorzugehen,
besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Wahl der Mittel.
Ausgangspunkt für unsere heutige Debatte ist unter
anderem die schreckliche Erkenntnis, dass eine rechte
Terrorzelle, die sich selbst den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ gab, Menschen mit ausländischen
Wurzeln getötet hat, sowie der Beschluss des Bundesrates, beim Bundesverfassungsgericht ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD einzuleiten.
Seit der erste Verbotsantrag im Jahre 2003 vor dem
Bundesverfassungsgericht scheiterte, haben sich alle
- sowohl der Bund als auch die Länder - bemüht, die
Ursachen für dieses Scheitern zu beseitigen, um so bei
einem möglichen zweiten Anlauf aufgrund des V-LeuteProblems nicht ein neues Fiasko zu riskieren. Die Frage
stellt sich mithin, ob wir heute einen Punkt erreicht haben, der ein neues Verfahren notwendig und erfolgversprechend macht.
Herr Kollege, der Kollege Ströbele möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
({0})
Ja.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Wenn er sonst nicht reden darf.
({0})
Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil Sie jetzt
auch zu dem Punkt Stellung nehmen, zu dem der Kollege Gysi, der im Augenblick nicht da ist, vorhin schon
geredet hat.
({0})
Geben Sie mir recht, dass der Deutsche Bundestag in
den Jahren 2001 bis 2003 - der Antrag war 2001 gestellt
worden - schon einmal versucht hat, durch einen Verbotsantrag gegen die NPD ein Signal gegen die NPD zu
setzen, dass dies aber total schiefgegangen ist, weil es
eher ein Signal in die falsche Richtung gewesen ist und
auch für die Bevölkerung im Inland ein falsches Signal
war? Geben Sie mir weiter recht, dass der Deutsche Bundestag heute - das haben Sie ja bereits angesprochen - genauso wenig wie in dem früheren NPD-Verbotsverfahren
in der Lage ist, die Validität des vorgelegten Materials zu
überprüfen und die V-Mann-Freiheit zu garantieren, und
dass es deshalb mit diesem Signal des Deutschen Bundestages diesmal wieder genauso schiefgehen könnte
wie beim letzten Mal?
Herr Ströbele, es ist selten der Fall, aber ich muss sagen: Ich kann Ihren Ausführungen im vollen Umfang zustimmen. Ich möchte aber hinzufügen - auch im Hinblick auf das, was Herr Gysi eben gesagt hat -: Es darf
und kann bei dieser Frage keinen Automatismus geben,
wonach der Bundestag, wenn eines der beiden Verfassungsorgane Bundesrat und Bundesregierung einen solchen Antrag stellt, diesem dann zwangsläufig auch folgen muss.
Gerade das Scheitern 2002/2003 - da gebe ich Ihnen
ausdrücklich recht - zeigt doch - das haben auch meine
Vorredner deutlich gemacht -, dass mit einem solchen
Antrag, den wir als Abgeordnete nicht hundertprozentig
auf Validität überprüfen können, das hohe Risiko eingegangen wird, dass damit das Gegenteil von dem bewirkt
wird, was wir alle wollen. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
({0})
Die Länder sind bei der Beratung zu der Überzeugung
gelangt, dass die Voraussetzungen für ein solches Verfahren beim Bundesverfassungsgericht vorliegen.
Ebenso wie die Bundesregierung werden auch wir die
Länder bei ihrer Antragstellung nach besten Kräften unterstützen. Dennoch haben wir als Bundestag das Recht
und auch die Pflicht, uns zu fragen, ob wir selbst ein solches Verbotsverfahren als erfolgversprechend einschätzen und ob wir diesem Verfahren beitreten wollen.
Die Verfassungswidrigkeit der NPD ist zwischen allen Fraktionen unstreitig. Wir alle wissen jedoch mit
Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass ein Antrag nur erfolgreich sein wird, wenn
die Antragsteller nachweisen können, dass die NPD eine
konkrete Gefahr für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung darstellt. Selbst angesichts der Verflechtungen zwischen der NPD und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen wird es schon im Hinblick auf die
abnehmende Mitgliederzahl der NPD und auf ihren
sonstigen Zustand augenscheinlich schwer werden, eine
solche konkrete Gefahr nachzuweisen.
Seit 2003 hat die NPD kontinuierlich an Mitgliedern
und an Bedeutung verloren. Immer mehr rechtsextremistisch Gesinnte haben sich anderen Gruppierungen zugewandt - bis hin zu der neu gegründeten Partei Die
Rechte. In meinen Augen zeigt das, dass rechtsextremistische Strömungen und Verbrechen mit einem Verbotsverfahren gegen die NPD nicht wirksam zu bekämpfen
sind. Als Jurist teile ich die Zweifel all derer, darunter
auch namhafter Verfassungsrechtler, die sich gegen einen Verbotsantrag ausgesprochen haben. Mehr noch
fürchte ich sogar, dass wir mit dem angestrebten Verfahren dem rechten Spektrum mehr nutzen als schaden.
Meinungsfreiheit ist in Deutschland zu Recht ein sehr
hohes Gut. Eine Demokratie muss - das wissen wir alle falsche Lehren, gerade auch grobe Dummheiten aushalten können. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und die Gleichwertigkeit von Meinungen sind das Wesensmerkmal einer Demokratie. Aus
gutem Grund stellt deshalb in einer wehrhaften Demokratie ein Parteiverbot die Ultima Ratio dar.
Ich sage sehr deutlich
Herr Kollege.
- ich komme gleich zum Schluss -: Unser System
muss sich permanent mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen. Auch deshalb ist der Antrag, den wir
hier eingebracht haben, dazu dienlich, genau diesen Auftrag überall zu erfüllen.
Letzter Gedanke. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Da gibt es sehr viele Städte, die mit dem Rechtsextremismus zu kämpfen haben. Überall dort, wo Bürgerinnen und Bürger sich dagegen aufgelehnt haben, ist
dieser Rechtsextremismus zurückgegangen.
Herr Kollege.
Diesen Menschen danke ich, und sie möchte ich weiter unterstützen.
({0})
Es liegen eine ganze Reihe Erklärungen nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor.1)
Das Wort zu einer mündlichen Erklärung gebe ich
jetzt der Kollegin Sevim Dağdelen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stimme heute für den Antrag, ein NPD-Verbotsverfahren einzuleiten, weil auch ich es unerträglich finde,
dass die NPD weiterhin über 300 000 Euro pro Quartal
an Steuergeldern bekommt - Gelder, die unter anderem
von Migrantinnen und Migranten gezahlt werden, von
Menschen, gegen die diese menschenverachtende Partei
Hetze und Propaganda betreibt,
({0})
Gelder, die für den Unterhalt der NPD-Schlägertruppen
verwendet werden, deren Opfer vor allem Migrantinnen
und Migranten sind.
Ich stimme heute für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens, weil die NPD mit ihrer staatlichen Förderung auch den Boden für rassistische Gewalt an Migrantinnen und Migranten bereitet.
({1})
Letztes Jahr wurden 521 rechtsextreme und fremdenfeindliche Gewalttaten verübt, davon allein 121 in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben.
Ich stimme für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens, weil Faschismus, Rassismus und Antisemitismus keine Meinung sind, sondern ein Verbrechen,
({2})
ein Verbrechen, dem nicht nur Millionen in der Zeit der
Nazidiktatur zum Opfer gefallen sind, sondern das bis
heute vielen Menschen, vielen Migrantinnen und Migranten das Leben gekostet hat. Deshalb stimme ich
heute für den Antrag, die NPD zu verbieten, und stelle
mich damit solidarisch an die Seite aller Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland,
die diese Forderung schon seit langem erheben.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13227 mit dem
Titel „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundes-
tages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststel-
lung der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokrati-
schen Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2
1) Anlagen 4 bis 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes“.
({0})
- Es handelt sich um einen Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/13227.
Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion der SPD
über den Antrag namentlich ab. Ich weise darauf hin,
dass im Anschluss noch eine weitere namentliche Ab-
stimmung folgen wird.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ih-
ren Platz einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das
ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.1)
Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/13225
mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen be-
kämpfen“. Auch hierzu ist namentliche Abstimmung
verlangt. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre
Stimmkarte noch nicht abgeben konnten? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
wiederum die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen.2)
Ich komme jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13231 mit
dem Titel „NPD verbieten“. Ich frage: Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dieser Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmung
durch die Fraktion Die Linke und die Fraktion der SPD.
Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Bünd-
nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13240
mit dem Titel „Rechtsextremismus umfassend bekämp-
fen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Antrag ebenfalls abge-
lehnt, bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dagegen
haben CDU/CSU, FDP und SPD gestimmt. Die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat für ihren Antrag ge-
stimmt.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/12638 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
- Drucksache 17/11369 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- Drucksache 17/13258 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Thomas Bareiß
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({3}), Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({4}), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen
- Drucksachen 17/12214, 17/12681, 17/12518,
17/13258 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, ein gemeinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten
Lesung des Entwurfs eines Bundesbedarfsplangesetzes
geben wir den Startschuss für das größte Infrastruktur-
1) Ergebnis Seite 29723 D
2) Ergebnis Seite 29726 C
projekt seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir setzen damit den entscheidenden Baustein für das Gelingen
unserer Energiewende; denn die Energiewende ist mehr
als nur der Aufbau von Solarenergieanlagen und Windenergieanlagen, mehr als Energieeffizienz - diese ist uns
sicherlich enorm wichtig - sowie Forschung und Entwicklung im Speicherbereich. Die Infrastruktur wird der
entscheidende Baustein sein, der die Energiewende zum
Gelingen bringt. Diesen bringen wir heute entscheidend
voran.
({0})
Wir brauchen diesen Baustein deshalb, weil wir in
den nächsten Jahren die Erzeugerkapazitäten komplett
neu gestalten. Allein in den nächsten sieben Jahren werden in Schleswig-Holstein neue Windkraftanlagen mit
einem Leistungsvermögen von 9 Gigawatt aufgebaut.
Die Leistung der Offshorewindenergieanlagen wird sich
von null auf 3 Gigawatt erhöhen. Wir werden eine Verdreifachung der Onshorewindleistung erleben. In Niedersachsen wird sich die Onshorewindleistung auf
14 Gigawatt verdoppeln. Dort werden wir offshore von
null auf 8 Gigawatt zubauen. In den norddeutschen Ländern werden in den nächsten sieben Jahren neue Kapazitäten im Umfang von 27 Gigawatt auf dem Strommarkt
entstehen. Das ist ein Fünftel der bisherigen Stromkapazitätsleistungen. Das heißt, hier wird in den nächsten
Jahren eine enorme Integrationsleistung zu erbringen
sein. Wir werden aber gleichzeitig in den starken Lastzentren im Süden unseres Landes 10 Gigawatt verlieren,
die wir Stück für Stück durch Windenergie ersetzen
müssen.
Die Stromnetze werden also zukünftig im Infrastrukturbereich eine enorm wichtige Rolle spielen. In den
letzten Jahren lag die Distanz zwischen Erzeuger und
Verbraucher bei durchschnittlich 40 Kilometer. In den
nächsten Jahren wird sich diese Distanz Stück für Stück
erhöhen. Wir werden sicherlich in 10, 15 Jahren erleben,
dass die Distanz zwischen Erzeuger und Verbraucher
200 oder sogar 300 Kilometer betragen wird. Das heißt,
wenn wir nicht entsprechende Netze aufbauen, wird die
Energiewende nicht gelingen. Deshalb ist ein Netzausbau dringend notwendig.
Die Herausforderungen sind groß. Wir brauchen Änderungen und Beschleunigungen im Planungsrecht. Wir
brauchen auch neue Technologien. Wir brauchen aber
vor allen Dingen Akzeptanz für neue Leitungen und eine
geschlossene Zustimmung zu unserem Projekt, zum
Bundesbedarfsplangesetz. Deshalb bin ich etwas enttäuscht - das muss ich offen sagen -, dass sich die
Grünen schon wieder ein Stück weit von unserem Ziel
verabschieden. Im Entschließungsantrag der Grünen ist
zu lesen:
Es entsteht der Eindruck, viele der im Bundesbedarfsplangesetz vorgesehenen Leitungen dienten
nicht der Energiewende, sondern allein dem Export
von Strom aus Braunkohlekraftwerken …
({1})
Wenn Sie so argumentieren und vor Ort den Eindruck
erwecken, wir brauchten neue Leitungen gar nicht, dann
werden wir keine Akzeptanz vor Ort finden. Dann werden wir für alle Projekte ein Türchen offenhalten. So
wird die Energiewende nicht gelingen. Deshalb fordere
ich Sie auf, gemeinsam mit uns dem Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes zuzustimmen, die Bedarfe, die
wir zusammen mit den Ländern definiert haben, zu akzeptieren, gemeinsam mit uns vor Ort für die Energiewende zu kämpfen und den Bau der Leitungen Stück für
Stück zu ermöglichen. Das ist ein ganz wichtiger Baustein. Das sollten Sie akzeptieren.
({2})
Was machen wir? Wir werden in den nächsten Jahren
über 2 800 Kilometer neue Stromtrassen in Deutschland
bauen. Wir werden über 2 900 Kilometer Leitungen ertüchtigen und ausbauen. Wir werden insgesamt 36 Ausbauvorhaben in Deutschland vorantreiben. Wir haben
dazu umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Die Übertragungsnetzbetreiber haben in den letzten Monaten einen
Netzentwicklungsplan vorgelegt und haben diesen mit
den Beteiligten vor Ort abgestimmt. Die Bundesnetzagentur hat den Bedarf geprüft. Die Bundesregierung hat
nun den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vorgelegt, den wir heute in letzter Lesung verabschieden
werden.
Wir werden die 36 Ausbauvorhaben zügig vorantreiben. Dabei werden neue Technologien zum Einsatz
kommen. Acht Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsnetze, sogenannte HGÜ-Leitungen, sind geplant,
mit denen sich der Strom verlustarm und schnell vom
Norden in den Süden transportieren lässt. Es sind zwei
Erdverkabelungen vorgesehen; auch das ist eine neue
Technologie, die dafür sorgen soll, dass wir vor Ort die
nötige Akzeptanz finden.
Eines der geplanten Vorhaben ist das Hochtemperaturseil, mit dem wir Strom verlustarm in den Süden
transportieren können. Dadurch wird die Energiewende
ein Technologieprojekt. Damit schaffen wir es auch,
Produkte und Innovationen zu entwickeln, die letztendlich nicht nur in Deutschland die Energiewende voranbringen, sondern darüber hinaus auch in andere Länder
verkauft werden können und hoffentlich zu Exportschlagern werden.
Mit diesem Bundesbedarfsplan betreten wir planungsrechtliches Neuland. 15 länderübergreifende Projekte wurden definiert. Die Planungshoheit dafür haben
wir der Bundesnetzagentur zugewiesen, um auch über
Ländergrenzen hinweg voranzukommen. Ich sage hier
auch ein klares Dankeschön an die Länder; Vertreter der
Länder sind leider nicht im Saal. Sie haben ebenfalls
dazu beigetragen, dass wir die Planung vereinfachen
können, Dinge schneller vorangehen und wir nicht etwa
Fehler machen, wie beispielsweise zwischen Schwerin
und Hamburg, wo wir über ein Jahr lang keine Genehmigung für eine dringend notwendige Leitung bekommen
haben.
Wir wollen Verfahren beschleunigen. Wir verkürzen
den Rechtsweg auf eine Instanz. Das heißt, es gibt nicht
weniger Bürgerbeteiligung, sondern schnellere Entscheidungen und damit auch eine schnellere Lösung der
Frage, ob wir beim Leitungsausbau vorankommen.
Wenn wir alle diese Vorhaben voranbringen und an einem Strang ziehen, werden wir es schaffen, die Zeit für
die Planung und Realisierung dieser Trassen von zehn
auf vier Jahre zu reduzieren. Damit schaffen wir es, die
Kapazitäten, die in den nächsten Jahren im Norden aufgebaut werden, in unser Stromnetz zu integrieren und
die Leistungen, die im Süden in den Kernkraftwerken
Philippsburg, Grafenrheinfeld, Gundremmingen, Neckarwestheim und Isar 2 wegfallen, Stück für Stück zu ersetzen. Wir sorgen dafür, dass auch der Süden weiterhin
Strom aus Deutschland bekommt, der regenerativ und
somit zukunftssicher ist.
Dies wird nur dann gelingen, wenn alle mitmachen.
Es wird kein Selbstläufer sein. Das sieht man bei dem
EnLAG-Projekt, bei dem wir bestehende Trassen nicht
so schnell voranbringen, wie es gewünscht wird. Allein
die EnLAG-Projekte sind zwischenzeitlich vier bis fünf
Jahre im Verzug. Das darf kein Beispiel für das Bundesbedarfsplangesetz sein. Wir haben - auch das ist mir zu
Beginn der Debatte wichtig - bestehende Ängste und
Sorgen ebenfalls aufgenommen. Wir haben im parlamentarischen Verfahren Veränderungen in das Gesetz
bzw. in die Begründung mit aufgenommen.
({3})
Wir haben keine Flexibilisierung der Netzverknüpfungspunkte vorgenommen. Wir haben uns in Bezug auf
die Nebenanlagen, die notwendig sind und die vor Ort
für Furore sorgen, für eine weitestgehende Flexibilisierung ausgesprochen, um vor Ort Akzeptanz zu erreichen
und die beste Lösung für die Menschen vor Ort zu finden.
({4})
Auch das war, glaube ich, notwendig und wird uns helfen, die Leitungen zu realisieren.
Zusammenfassend: Wir haben die Anfangs- und Endpunkte definiert. Wir haben die Verfahren verkürzt und
die Zahl der Instanzen reduziert. Wir haben neue Technologien eingebaut. Das heißt, wir werden in den nächsten Jahren den Leitungsausbau wesentlich beschleunigen
und werden damit die Energiewende zu einem Gewinnerprojekt machen. Die Ideen, die von der Opposition in
Bezug auf die Deutsche Netzgesellschaft kommen, sehen wir mit Interesse. Sie wissen, dass wir dazu ebenfalls schon Überlegungen angestellt haben. Ich glaube,
dass diese Punkte zwar überlegenswert sind, uns aber
nicht bei der Beschleunigung helfen werden. Insofern
sind die von uns getroffenen Maßnahmen die richtigen,
um uns voranzubringen.
Das ist für uns der Einstieg in die Energiewende. Ich
kann Sie nur auffordern, bei diesem Projekt mitzumachen und heute diesem Gesetz zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe Ihnen zwischendurch die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse
der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt, zunächst zum Antrag der Fraktion der SPD - es geht um
den „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung
der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen
Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des
Grundgesetzes“ auf Drucksache 17/13227 -: abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 211, mit Nein
haben gestimmt 326. Es gab 40 Enthaltungen. Damit ist
der Antrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 211
nein: 326
enthalten: 40
Ja
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({0})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Klaus Hagemann
({2})
Hubertus Heil ({3})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({4})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({5})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Christine Lambrecht
Christian Lange ({6})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({7})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Aydan Özoğuz
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({8})
({9})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({10})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({11})
Ulla Schmidt ({12})
Carsten Schneider ({13})
Swen Schulz ({14})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({15})
Dagmar Ziegler
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({16})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Sahra Wagenknecht
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Cornelia Behm
Harald Ebner
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Sylvia Kotting-Uhl
Kerstin Müller ({17})
Friedrich Ostendorff
Elisabeth Scharfenberg
Dorothea Steiner
Markus Tressel
Daniela Wagner
fraktionsloserAbgeordneter
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({18})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({19})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({20})
Dirk Fischer ({21})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({22})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({23})
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({24})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({25})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({26})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({27})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({28})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({29})
Anita Schäfer ({30})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({31})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({32})
Dr. Kristina Schröder
({33})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({34})
Detlef Seif
Johannes Selle
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({35})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({36})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({37})
Peter Weiß ({38})
Sabine Weiss ({39})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({40})
Claudia Bögel
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({41})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({42})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({43})
Michael Link ({44})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({45})
Burkhardt Müller-Sönksen
({46})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({47})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
({48})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({49})
DIE LINKE
Raju Sharma
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ute Koczy
Monika Lazar
Hans-Christian Ströbele
Arfst Wagner ({50})
Enthalten
CDU/CSU
Günter Lach
DIE LINKE
Halina Wawzyniak
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({53})
Bärbel Höhn
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Oliver Krischer
Renate Künast
Dr. Tobias Lindner
Dr. Konstantin von Notz
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({54})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dann komme ich zum Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU und der FDP mit dem Titel „Rechtsextremismus
entschlossen bekämpfen“ auf Drucksache 17/13225:
Hier wurden ebenfalls 577 Stimmen abgegeben.
Mit Ja haben gestimmt 318. Mit Nein haben gestimmt 259. Es gab keine Enthaltung. Dieser Antrag
ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 318
nein: 259
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({55})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({56})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({57})
Dirk Fischer ({58})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({59})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({60})
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({61})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({62})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({63})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({64})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({65})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({66})
Anita Schäfer ({67})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({68})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({69})
Dr. Kristina Schröder
({70})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({71})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({72})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({73})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({74})
Peter Weiß ({75})
Sabine Weiss ({76})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({77})
Claudia Bögel
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({78})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({79})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({80})
Michael Link ({81})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({82})
Burkhardt Müller-Sönksen
({83})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({84})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
({85})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({86})
Nein
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({87})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({88})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Klaus Hagemann
({89})
Hubertus Heil ({90})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({91})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({92})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Christine Lambrecht
Christian Lange ({93})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({94})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Aydan Özoğuz
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({95})
({96})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({97})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({98})
Ulla Schmidt ({99})
Carsten Schneider ({100})
Swen Schulz ({101})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({102})
Dagmar Ziegler
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Caren Lay
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({103})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({104})
Volker Beck ({105})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({106})
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Susanne Kieckbusch
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn
Renate Künast
Monika Lazar
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({107})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({108})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({109})
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloserAbgeordneter
Jetzt kommen wir zu unserer Debatte zurück. Ich
gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
({110})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zwei Jahre nach dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz haben wir jetzt ein Bundesbedarfsplangesetz vorliegen. Immerhin! Es war viel Arbeit, vor allen Dingen
für die Übertragungsnetzbetreiber und die Bundesnetzagentur. Nach allem, was man über die Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“, in die wir ja eingebunden
waren, und über Gespräche zum Beispiel mit Nichtregierungsorganisationen mitbekommen konnte, war das Verfahren insgesamt vergleichsweise transparent und die
Beteiligung angemessen - jedenfalls in weiten Teilen
des Verfahrens. Das ist gut so, und das kann man heute
in der Tat auch loben.
Auch die Länder haben sich in diese Verfahren konstruktiv eingebracht. Ich glaube, dass es zumindest eine
Bemerkung verdient, dass das mittlerweile im Wesentlichen rot-grün regierte Länder sind. Hier ist also eine
hohe Bereitschaft zur Kooperation selbst mit dieser Bundesregierung.
Gerade ist gesagt worden, dies sei ein wichtiger
Schritt zum Ausbau der Infrastruktur. Ja, in der Tat, es ist
ein Schritt; aber wir müssen uns auch klarmachen, dass
noch vieles fehlt. In diesem Falle beschränken wir uns
auf die Übertragungsnetze, wohl wissend, dass wir erhebliche Bedarfe auch im Bereich der Verteilnetze haben, zum Beispiel wenn ich an den qualitativen Ausbau
der Verteilnetze denke, den wir gerade auch im Hinblick
auf die intelligenten Netze brauchen angesichts dessen,
dass die Nachfrageseite flexibler werden soll.
Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Wir werden das aus einem ganz einfachen Grund machen - nicht weil dieses Gesetz in allen Teilen perfekt
wäre; es ist verbesserungsbedürftig; wir werden diesbezüglich Anträge vorlegen -: Es wäre für die Investoren,
für die Übertragungsnetzbetreiber, für die finanzierenden Banken ein schlechtes Signal, wenn wir sie kurz vor
einer Wahl im Zweifel lassen würden, ob denn die SPD
nach der Bundestagswahl möglicherweise eine 180-GradWende in Sachen Netzausbau plant. Das planen wir
nicht. Wir wollen, dass für den gesamten Sektor Planungssicherheit besteht, und deswegen senden wir das
Signal: Ja, wir unterstützen dieses Gesetz prinzipiell und
in den meisten Teilen. - Deswegen, wie gesagt, stimmen
wir zu.
({1})
Im Übrigen unterscheiden wir uns dadurch ganz erheblich von der Regierungskoalition,
({2})
die zurzeit am Ruder ist. Denn Sie haben im Jahr 2000
genau das Gegenteil gemacht.
({3})
Sie haben, als Rot-Grün ein Atomausstiegsgesetz vorgelegt hat und darüber mit den Marktakteuren verhandelt
hat, angekündigt: Wenn Sie einmal an die Regierung
kommen, werden Sie das komplette Gegenteil tun.
({4})
Damit haben Sie in den gesamten Sektor Planungsunsicherheit gebracht und gerade beim Netzausbau, aber
auch ansonsten im gesamten Energiesystemumbau
Attentismus verursacht. Genau das machen wir nicht.
({5})
Die Anträge die wir gestellt haben, will ich kurz im
Einzelnen begründen. Der erste Antrag - gemeinsam mit
Bündnis 90/Die Grünen - zielt darauf ab, dass wir eine
Deutsche Netzgesellschaft einrichten wollen. Im Übrigen haben Sie das in Ihrem eigenen Koalitionsvertrag
vor nur drei Jahren auch gesagt. Offensichtlich haben
Sie sich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist sozusagen eine weitere 180-Grad-Wende nach der, die Sie zwischenzeitlich auch vorgenommen haben: erst die Verlängerung der Laufzeiten, anschließend das Sich-Einfügen
in das Konzert derjenigen,
({6})
die den Atomausstieg wollen.
2009: Ja, wir wollen eine Deutsche Netzgesellschaft.
2013: Nein, wollen wir eigentlich lieber nicht. - Ihre
Verbraucherschutzministerin Aigner hat vor wenigen
Monaten gesagt, dass sie eine solche Deutsche Netzgesellschaft unterstützt. Sie hat auch den Zusammenhang
erkannt, nämlich dass man auf diese Art und Weise das
verhindern kann, was Sie vor wenigen Monaten verursacht haben, dass nämlich immer dann, wenn etwas
schiefgeht, immer dann, wenn Regressforderungen kommen,
({7})
die Haftung verschoben wird: weg von den Marktakteuren und hin zu den Endkunden. Das genau wollen wir
nicht.
({8})
Deswegen hat Frau Aigner recht. Wörtlich sagte sie:
Die Wähler verstehen nicht, warum sie über höhere
Strompreise für die Risiken der Energiewende haften
sollen, während die Netzbetreiber eine hohe garantierte
Rendite auf ihr Eigenkapital einstreichen.
({9})
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Das Zweite, was wir wollen, sind Bürgernetze. Wir
wollen den Bürgern die Möglichkeit geben, sich an der
Finanzierung der Netze zu beteiligen. Beteiligte haben
kein Problem mehr mit der Akzeptanz von Energieinfrastrukturen. Deswegen ist das der beste Weg.
Wir machen uns aber Sorgen bei dem, was zurzeit im
Kapitalanlagegesetzbuch geplant ist. Dadurch werden
Genossenschaften nicht mehr in der Lage sein, genau
solche Infrastrukturen mitzufinanzieren. Wir begrüßen
es daher, dass es mittlerweile einen Antrag der Fraktionen von Schwarz-Gelb gibt, dies jedenfalls bei der Ausgestaltung des Kapitalanlagegesetzbuchs zu verhindern.
Wir werden das unterstützen.
Drittens geht es um die Netzverknüpfungspunkte
- Herr Bareiß hat das gerade angesprochen - und in der
Tat nicht um die Positionierung der Verknüpfungspunkte, sondern um die der sogenannten Nebenanlagen.
Dieser Begriff ist vielleicht etwas irreführend. Man stellt
sich dabei etwas Kleineres, zum Beispiel ein Toilettenhäuschen, vor; es geht aber zum Teil um riesige Anlagen, große Konverter, Doppelkonverter möglicherweise.
Das kann in der Nähe von Wohnbebauung schon etwas
sein, was die Bürger auf die Palme bringt, was zum Widerstand gegen solche Infrastrukturen geradezu anreizt.
Deswegen begrüßen wir, dass Sie aufgrund der Anhörung, die wir gemeinsam durchgeführt haben, jetzt sagen: Wir wollen genau diese Konflikte verhindern, und
deswegen wollen wir mehr Flexibilität bei der Allokation dieser sogenannten Nebenanlagen.
Nur, die Art und Weise, wie Sie das sicherstellen wollen, läuft ins Leere. Sie wollen das in die Begründung
des Gesetzes schreiben. Die Fachjuristen sagen: Das
wird nicht reichen; Sie müssen es ins Gesetz schreiben. Wenn man Ihnen abnehmen soll, dass die Absicht ehrlich ist, dann folgen Sie bitte unserem Petitum und
schreiben Sie das ins Gesetz!
({10})
Das Vierte ist der Gesetzentwurf des Bundesrates, der
darauf abzielt, dass wir das erreichen, was wir eigentlich
schon vor Jahren wollten, unter anderem auch in der
Großen Koalition, nämlich dass die 110-kV-Erdverkabelung zur Regel wird. Wir unterstützen auch diesen Gesetzentwurf.
({11})
Er ist im Bundesrat im Übrigen mit sehr großer Mehrheit
verabschiedet worden, und auch Schwarz-Gelb war dabei nicht ganz unbeteiligt. Insofern: Vielleicht hören Sie
noch einmal in Ihre Länder hinein und folgen uns auch
bei diesem Vorhaben!
Meine Damen und Herren, ich habe es gerade angedeutet: Das Bundesbedarfsplangesetz ist ein Schritt zum
Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen aber auch erhebliche Fortschritte im Bereich der Verteilnetze, im Bereich der intelligenten Netze. Da geht es auch um intelligente Tarife, um eine flexible Nachfrage anreizen zu
können. Es geht um mehr Flexibilisierung auch auf der
industriellen Nachfrageseite. Da haben Sie einen ersten
Schritt mit der Abschaltverordnung gemacht. Aber man
kann da sehr viel kreativer sein und weitere Schritte un29730
ternehmen, um sozusagen eine Batteriefunktion, in Teilen jedenfalls, für die energieintensiven Industrien sicherzustellen. Wir brauchen mehr Speicherforschung,
damit wir die Speicher wenigstens dann, wenn wir sie
brauchen, zur Verfügung haben. Sie haben die Mittel in
diesen Bereichen reduziert.
Dann brauchen wir etwas, was noch ein bisschen
komplizierter ist. Deswegen haben Sie sich mit dieser
Frage, jedenfalls öffentlich, überhaupt noch nicht befasst. Sie kündigen immer etwas an, nämlich auf der einen Seite eine Reformierung des EEG, auch eine andere
Vermarktung von erneuerbaren Energien, und auf der anderen Seite einen neuen Marktrahmen für die Erzeugung
von Strom aus konventionellen Energieträgern. Wir hätten es begrüßt, wenn Sie sich mit dieser komplexen Materie, Herr Minister, befasst hätten und verhindert hätten,
dass stattdessen Ihr Kollege aus dem Umweltministerium zur Ablenkung eine oberflächliche Debatte über die
Strompreisbremse initiiert. Stellen Sie sich den eigentlichen Herausforderungen! Die sind komplex. Aber wir
sind bereit, Ihnen dabei die entsprechende Hilfestellung
zu geben.
({12})
Wir brauchen die Systemintegration der erneuerbaren
Energien. Wir brauchen aber auch den Systemumbau,
damit das System aufnahmefähiger für volatilen Strom
wird. Wir brauchen einen Marktrahmen für beide Energien, für erneuerbare wie konventionelle, der gleichzeitig für Versorgungssicherheit, für das Erreichen der Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien, aber auch für
Bezahlbarkeit sorgt. Das ist möglich. Man muss nur beginnen.
Vielen Dank.
({13})
Für die Bundesregierung hat das Wort der Bundesminister Dr. Philipp Rösler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Wir alle wissen, leistungsfähige
Netze sind entscheidend für die Versorgungssicherheit
im Rahmen der Energieversorgung in Deutschland. Wir
brauchen zur Netzstabilisierung bei einem zunehmenden
Beitrag der erneuerbaren Energien zur Stromversorgung
ein leistungsfähiges Netz im Bereich der Verteilnetze genauso wie im Bereich der Fernübertragung. Wir werden
aber auch weiterhin in der Umstellungsphase neue Netze
für die Energieerzeugung durch konventionelle Energieträger und die Integration der erneuerbaren Energien
brauchen.
Deswegen ist es gut, dass wir heute über das Bundesbedarfsplangesetz diskutieren und Sie es hoffentlich
nach der zweiten und dritten Lesung auch beschließen.
Damit kommen wir beim Netzausbau ein gutes Stück
voran. Wir zeigen: Wir sind im Plan. Es ist ein wesentlicher Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende in Deutschland.
({0})
Ich finde es gut, dass auch die Sozialdemokraten bereit sind, diesem Gesetz zuzustimmen. Ich glaube, bei
den Grünen ist das nicht der Fall. Das bedauere ich sehr;
denn sie könnten ein Versäumnis wiedergutmachen, das
ihnen unterlaufen ist, als sie damals den Ausstieg aus der
Kernenergie beschlossen haben.
({1})
Sie haben sich nämlich nur mit dem Ausstiegsbeschluss
zufriedengegeben, aber in der weiteren Umsetzung
nichts, aber auch gar nichts für einen beschleunigten
Netzausbau in Deutschland getan. Das zeigt, dass Sie es
mit dem Umbau der Energieversorgung in Deutschland
nie ernst gemeint haben.
({2})
In kürzester Zeit sind wir gut vorangekommen. Es hat
mit dem sogenannten Netzentwicklungsplan angefangen. Hier wurden die ersten Strukturen aufgezeigt. Es
ging nicht nur um das grobe Aufzeigen, sondern es ging
im ersten, frühen Stadium darum, mit den betroffenen
Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über den konkreten
Ausbaubedarf zu diskutieren. Dieses Beteiligungsverfahren ist beispielhaft für viele Infrastrukturmaßnahmen.
Denn es hat sehr frühzeitig begonnen, und zwar schon
auf der Ebene der Übertragungsnetzbetreiber, in der
Folge auch bei der Bundesnetzagentur.
Ich habe den Beitrag von Herrn Hempelmann so verstanden, dass mit dem Lob an die Übertragungsnetzbetreiber und an die Bundesnetzagentur vor allem die
Beschäftigten gemeint waren; denn sie haben bei der
Aufstellung des Netzentwicklungsplans in kürzester Zeit
Enormes geleistet. Er ist die Grundlage für das Bundesbedarfsplangesetz. Wir alle sollten uns, denke ich, bei
den Kolleginnen und Kollegen bedanken.
({3})
Vor allem aber ging es darum, sich mit den Menschen
über die künftigen Netzausbauvorhaben zu unterhalten
und zu erklären, warum wir diese neuen Strukturen brauchen und warum wir nur in wenigen Fällen die finanziellen Möglichkeiten für Erdverkabelungen haben. Wer etwas anderes verspricht oder fordert, der schummelt. Dies
wäre heute weder Stand der Technik, noch wäre es seriös
zu finanzieren. Deswegen ist es richtig, dass man mit den
betroffenen Menschen - es gab über 3 000 Eingaben - gesprochen hat. Man hat versucht, die Dinge auf den Weg
zu bringen, indem man sie ihnen erklärt hat, um von
vornherein Akzeptanz zu erreichen und Widerstände zu
vermeiden.
Es ist gelungen, den Zeitplan einzuhalten, um das
Bundesbedarfsplangesetz auf den Weg zu bringen. Ich
möchte mich bei Herrn Abgeordneten Bareiß bedanken,
der darauf hingewiesen hat, dass das Bundeskabinett
gestern die dazu passende Planfeststellungszuweisungsverordnung beschlossen hat.
({4})
Hinter diesem etwas komplexen Begriff verbirgt sich die
Bereitschaft der Länder - ich möchte mich bei allen Ländern ausdrücklich dafür bedanken -, dem Bund die Zuständigkeit nicht nur für die Fachplanung, sondern auch
für die konkrete Planfeststellung einzelner großer Trassenvorhaben zu übertragen. Bisher kam es beim Stromnetzausbau über Ländergrenzen hinweg zu erheblichen
Verzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass die großen
raumbedeutsamen Trassen, auch die grenzüberschreitenden Trassen, künftig in die Zuständigkeit der Bundesnetzagentur, also in die Zuständigkeit des Bundes, fallen.
Das hat einen erheblichen Beschleunigungseffekt zur
Folge. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit nur noch bei
einem Gericht, nämlich beim Bundesverwaltungsgericht. Auf diese Weise kommen wir unserem gemeinsamen Ziel, den Netzausbau in Deutschland deutlich zu
beschleunigen, näher.
Wir haben bisher Planungs- und Bauzeiträume von
zehn Jahren.
({5})
Mit diesem Gesetz und der dazu passenden Verordnung wird es gelingen, die Bauzeiträume von derzeit
zehn Jahren auf vier Jahre zu reduzieren. Das ist das erklärte Ziel dieser Regierungskoalition.
({6})
Ich verstehe Ihre Einlassung so, dass Sie nicht nur
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden, sondern
dass Sie vor Ort Widerstand gegen den notwendigen
Netzausbau zum Ausstieg aus der Kernenergie leisten
wollen.
({7})
Das ist Ihre „Glaubwürdigkeit“: Zwar fordern Sie den
Ausstieg aus der Kernenergie. Aber wenn es soweit ist,
kneifen Sie und zeigen Widerstand beim Netzausbau für
Deutschland.
({8})
Eines ist klar; das haben die Diskussionen gezeigt:
Nur gemeinsam - gemeinsam mit allen 16 Bundesländern, dem Bund und Europa - wird es gelingen, den
Netzausbau in Deutschland voranzutreiben. Das ist jetzt
in Form des Bundesbedarfsplangesetzes für die Übertragungsnetze gelungen. Das muss im Hinblick auf die Verteilnetze genauso gelingen. Das wird der nächste Schritt
sein.
({9})
Lassen Sie uns Folgendes festhalten: Wir liegen aktuell im Zeitplan, so wie sich das für diese Regierungskoalition gehört. Das ist ein guter Tag für die Energiewende. Das ist ein guter Tag für den Netzausbau in
Deutschland.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Liebe Kollegen, ich konnte nicht absehen, dass der
Herr Minister seine Redezeit nicht ausschöpft. Ich versuchte gerade, ihn auf Ihre Zwischenfrage oder Bemerkung aufmerksam zu machen.
({0})
- Wir debattieren aber jetzt nicht hier im Plenum darüber, wie sich das Präsidium verhält. Dafür haben wir
Regeln.
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Heute geht es um den Netzausbau beim
Strom.
({0})
Großkonzerne erwarten fette Profite, und die Stromkunden befürchten steigende Preise. Ständig tönt es von
CDU, CSU, SPD und Grünen: Der Netzausbau ist alternativlos. Denn im Norden weht der Wind, und der Windstrom muss nach Süden. Dafür braucht es zusätzliche
Leitungen. Dann klappt es aus deren Sicht mit der Energiewende. Wirklich?
Bei der Stromeinspeisung in die Netze gibt es eine
Reihenfolge: Zuerst dürfen die Erneuerbaren ran. Danach gilt: Je teurer ein Kraftwerk Strom produziert,
desto eher wird es abgeschaltet. Im Norden und Osten
gibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant:
Moorburg, Jänschwalde, Profen und andere. Derzeit
können diese Kohlekraftwerke Strom für 3 Cent je Kilowattstunde anbieten. Im Süden gibt es Strombedarf.
({1})
Dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke; zum
Beispiel in Irsching. Dort kostet der Strom 5 Cent je Kilowattstunde. Aber: Netzausbau und Stromtransport quer
durchs Land wären zu vermeiden.
Wie sieht die Realität heute aus? Wir haben einen
Engpass im Stromtransport zwischen Nord und Süd.
Weht viel Wind im Norden, geht der Windstrom übers
Netz. Für den Kohlestrom fehlt der Platz, und Irsching
kann umweltfreundlichen Strom liefern. Klimafeindlicher
Kohlestrom wird abgeschaltet.
Wenn die neuen Stromtrassen von der Küste bis zu
den Alpen reichen, ist Folgendes zu befürchten: Windkraftanlagen speisen weiterhin ihren Strom ins Netz ein;
sie haben Vorrang. Für den Restbedarf an Strom brummen die Kohlekraftwerke. Das Kraftwerk Irsching wird
abgeschaltet, es geht pleite. Dann fehlt aber nachts bei
Windstille der Gasstrom. Deshalb bekommt Irsching
Geld, damit es in Bereitschaft bleibt, und die Stromkunden zahlen doppelt. Irsching wird dann über Netzentgelte bezahlt. Von Netzentgelten sind Großkunden befreit. Sie profitieren damit vom Netzausbau. Alle
anderen bezahlen.
Fließt Strom von der Nordsee nach München, gibt es
bei 700 Kilometern Weg 20 Prozent Übertragungsverluste. Auch das wird über Netzentgelte bezahlt.
({2})
Wer macht bei diesem Netzausbau Kasse? Finanzinvestoren. Sie erhalten 9 Prozent Rendite für jede Investition
in Netze. Wo findet man so etwas heute noch, bei dieser
garantierten Sicherheit? Natürlich machen auch die Baufirmen und die Kohlekraftwerke Kasse. Und wer zahlt?
Handwerkerinnen und Handwerker, kleine und mittlere
Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher.
({3})
Deshalb lehnt die Linke diesen Netzentwicklungsplan
ab.
({4})
Der Bedarf, der diesem Netzausbauplan zugrunde
liegt, wurde wie folgt ermittelt: Die maximal erzeugbare
Menge an Strom aus Windenergie wird mit der maximal
möglichen Einspeisung von Strom aus Photovoltaik, der
kompletten Menge an Strom aus Biomasse und der kompletten Menge an Strom aus konventioneller Erzeugung
addiert, sodass auch die letzte Kilowattstunde abtransportiert werden könnte. Diese Rechnung dient nur dem
maximalen Netzausbau.
In eine realistische Netzplanung müssen für die Linke
folgende Punkte einfließen: Die künftige Stilllegung von
Atom- und konventionellen Kraftwerken wird eingerechnet. Die Erzeugung von Strom aus Biomasse wird
umgestellt, sodass sie nur erfolgt, wenn Wind und Sonne
nicht genug Energie liefern. Stromsteuerungsmaßnahmen wie beispielsweise die Verknüpfung von Fernwärme- mit Stromnetzen müssen vorgenommen werden.
Ein öffentlicher Hochspannungsnetzbetreiber ohne Interesse an Profit aus dem Leitungsbau ersetzt die jetzigen
vier Profitgesellschaften.
({5})
Die Technologie, Strom über Gas zu speichern und zu
transportieren, wird genutzt. Die Beteiligung großer
Stromerzeuger an den Netzkosten ist umzusetzen. Die
maximal mögliche Einspeisung von Strom aus Windenergieanlagen ist auf 80 Prozent der theoretisch möglichen Strommenge zu reduzieren. Dabei verliert man
nur 0,4 Prozent der jährlichen Windenergiemenge, spart
aber 20 Prozent Anschlussleistung. Bei Berücksichtigung dieser Punkte erhält man einen realistischen Bedarf
für den Netzausbau. Aber der Gesetzentwurf, den Sie
vorlegen, gefährdet die Energiewende, weil Kohlekraftwerke gefördert werden, umweltfreundlicher Gasstrom
verliert und regionale, verbrauchsnahe Stromerzeugung
vor Ort unterbleibt.
Die Bürgerinnen und Bürger haben sowohl in Meerbusch-Osterath als auch in Hessen und Thüringen mit ihrer Ablehnung der Ausbaupläne recht. Sie täten gut daran, die entsprechenden Initiativen ernst zu nehmen.
Bürgerinitiativen erkannten als Erste die Gefahren der
Asse. Bürgerinitiativen korrigierten über Volksbegehren
Fehler, etwa bei Kitas in Thüringen oder bei der Wasserversorgung in Berlin.
Bürgerinnen und Bürger werden notwendige Netzausbauten nur dann akzeptieren, wenn der entsprechende
Bedarf transparent und nachvollziehbar ermittelt wird
und die Belastungen gerecht verteilt werden. Anderenfalls wehren sie sich. Ohne einen nachvollziehbaren Bedarfsplan wird die Linke Netzausbauten ablehnen, sei es
der Konverter in Meerbusch-Osterath oder die 380-kVLeitungen in Hessen, im Thüringer Wald oder in der
Uckermark. Wir wollen die Energiewende - preiswert
für die Menschen, mit Gewinnen für die Umwelt statt für
Konzerne.
({6})
Nun hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Rösler, ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hören: Bei jeder Energiedebatte erzählen Sie uns hier, wir
wären verantwortlich dafür, dass es mit dem Netzausbau
nicht vorangeht, weil wir bis 2005, als hier Grüne Regierungsverantwortung getragen haben, nicht dafür Sorge
getragen hätten.
({0})
Meine Damen und Herren, ich sagen Ihnen eines: Seit
acht Jahren tragen Wirtschaftsminister von der Union
und der FDP in der Bundesregierung die Verantwortung.
In acht Jahren kann man alles bewegen, kann man alles
voranbringen. Dass beim Netzausbau im Rahmen der
EnLAG-Projekte heute nur 268 Kilometer von 2 000 Kilometern verwirklicht sind, das ist Ihre katastrophale Bilanz beim Netzausbau.
({1})
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, zu schauen,
was Sie denn in den Jahren 2000 bis 2005 hier zum
Thema Netzausbau vorgelegt haben, wenn Sie doch damals angeblich schon so weit voraus waren. Es gibt
nichts, keinen einzigen Antrag von Union und FDP zum
Thema Netzausbau. Sie singen nur Lobeshymnen auf die
Atomkraft, schwadronieren über Windindustriemonster
und bekämpfen den Ausbau erneuerbarer Energien. Das
war Ihre Energiepolitik in dieser Zeit. Darüber sollte
man reden, wenn Sie schon auf die Vergangenheit verweisen.
({2})
Eines ist völlig klar: Gerade für eine Energiewende
mit dezentralen Strukturen und einem Weg weg von
Kohle und Atom braucht man Netzausbau und Netzoptimierung auf allen Spannungsebenen. Deshalb haben wir
2009 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem
wir gefordert haben, dass man einen Bedarfsplan ausarbeitet und dass anhand des Energieszenarios ermittelt
wird, wie das Netz weiterentwickelt werden muss. Aber
Sie haben sich zwei Jahre lang nicht mit diesen Fragen
beschäftigt. Wir haben von Ihnen nur ein Schwadronieren über Laufzeitverlängerungen gehört. Erst als Sie damit nicht weiterkamen, haben Sie sich dem Thema Energiewende gewidmet.
({3})
- Frau Homburger, das waren zwei verlorene Jahre, in
denen wir hätten weiterkommen können.
({4})
Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, legen Sie einen
Plan vor. Das führt zu der Erkenntnis: Wir sind erst am
Anfang des Weges.
({5})
Es ist noch kein Kilometer Netz ausgebaut worden. Es
gibt zunächst nur einen Plan. Die Arbeit fängt gerade
erst an. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund zur
Selbstbeweihräucherung, Herr Bareiß und Herr Rösler.
({6})
Das Bundesbedarfsplangesetz, das vom Grundsatz
her richtig ist,
({7})
soll Legitimität und Akzeptanz für den Netzausbau
schaffen. Der Bundesrat hat Ihnen dazu etwas ins
Stammbuch geschrieben. Er hat Beschlüsse gefasst,
durch die genau diese Akzeptanz erhöht werden soll;
denn Sie haben in dem Gesetz eine Reihe von Maßnahmen verankert, die die Akzeptanz und damit das Kernelement des Gesetzes untergraben.
Zum Beispiel das Thema Erdkabel. Sie beschränken
den Erdkabelausbau auf zwei Pilotprojekte. Das ist aufgrund der Erfahrungen mit dem EnLAG-Projekt nicht
verantwortbar, weil nicht zu vermitteln ist, warum manche Menschen Erdkabel bekommen und manche nicht.
Damit untergraben Sie die Akzeptanz und provozieren
den Widerstand der Menschen.
({8})
Zum schönen Thema Meerbusch-Osterath. Aus dem
dortigen Planungsdesaster haben Sie überhaupt nichts
gelernt. Es grenzt an Volksverdummung - ich kann Ihnen das nicht anders sagen -,
({9})
wenn Sie jetzt nicht den Beschluss des Bundesrates
- den haben wir im Wirtschaftsausschuss zur Abstimmung gestellt - statt nur in die Gesetzesbegründung in
den Gesetzestext aufnehmen, der vorsieht - das ist das,
was Sie wollen; zumindest reden Sie davon -, dass es
Alternativenprüfungen für Nebenanlagen geben soll.
Auch das untergräbt die Akzeptanz des Themas Netzausbau.
Als dritter Punkt ist die Verkürzung des Klageweges
zu nennen. Sie glauben doch selbst nicht, dass die Reduzierung auf eine Instanz wirklich dazu führt, dass das
Ganze schneller geht. Die eine Instanz ist dann überlasteter, die Verfahren dauern länger, und das genau ist die
Erfahrung aus dem EnLAG-Projekt. Das ist eine Scheinverkürzung. Das führt nur dazu, dass sich die Menschen
wieder übergangen fühlen und dass wir am Ende wieder
Akzeptanz verlieren. Dazu darf es aus unserer Sicht
nicht kommen. Sie machen hier einen Fehler. Nehmen
Sie die Bürger ernst, und kommen Sie nicht mit Rechtswegverkürzungen, die die Akzeptanz am Ende wieder
nur zerstören.
({10})
Wir haben gemeinsam mit den Kollegen der SPD einen Antrag vorgelegt, mit dem wir eigentlich Punkte aus
dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umsetzen wollen,
nämlich eine Deutsche Netz AG zu gründen. Wir haben
dazu konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben vier Jahre
lang überhaupt nichts getan. Sie haben sich von diesem
Ziel verabschiedet.
({11})
Wir schlagen vor, dass wir die Probleme lösen, die
wir beim Netzausbau mit einzelnen Übertragungsnetzbetreibern haben. Von Ihnen kommt an der Stelle gar
nichts.
({12})
Sie sind einfach nur dagegen und kommen deshalb bei
dem Thema überhaupt nicht weiter.
({13})
Wir brauchen den Netzausbau. Das Bundesbedarfsplangesetz verfolgt einen richtigen Ansatz, den wir ausdrücklich unterstützen, ich möchte das hier noch einmal
betonen. Doch leider schaffen das diese Bundesregierung und diese Koalition trotz klarer Hinweise aus dem
Bundesrat nicht. Sie bräuchten nur das aufzugreifen, was
der Bundesrat beschlossen hat, um glaubwürdig zu werden und Akzeptanz zu erreichen. Aber am Ende wird die
Glaubwürdigkeit wieder untergraben.
Wenn Sie die Beschlüsse des Bundesrates aufgegriffen hätten, hätten wir diesem Gesetz gerne zugestimmt.
({14})
Aber so bleibt uns am Ende nur, uns zu enthalten.
({15})
Sie haben eine Chance verpasst.
Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Sie erweisen dem Netzausbau einen Bärendienst, und
damit untergraben Sie die Akzeptanz der Energiewende
und der Ziele, die Sie damit verfolgen. Am Ende können
und wollen Sie die Energiewende nicht erfolgreich voranbringen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Damit die Zuhörer auf den Tribünen die letzten beiden Reden verstehen können, muss man einmal generell erklären, was hier los ist:
({0})
Wir haben noch vier Sitzungswochen bis zur Bundestagswahl, und hier läuft nichts anderes als Wahlkampf.
Ihre Schuldzuweisungen von vorhin, Herr Krischer,
sind nichts anderes als platter, plumper Wahlkampf. Das
wird dem Thema aus meiner Sicht deshalb nicht gerecht,
weil ich der Auffassung bin, dass wir hier an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, nämlich an der Energiewende.
({1})
Man sollte sich klarmachen, dass diese Schuldzuweisungen und das Schlechtreden nicht nur bei einer Seite in
der Politik hängenbleiben, sondern die Menschen da
draußen allgemein irritieren.
({2})
Sie stellen jede Lösung, die angeboten wird, sofort infrage und können nicht auch einmal über den eigenen
parteipolitischen Schatten springen.
({3})
Sie sind nicht in der Lage, zu sagen: Im Grundsatz ist
das, was uns hier vorgelegt wird, ein gutes Gesetz, weil
es zeigt, wie man den Netzausbau in Deutschland vorantreiben kann.
({4})
Ich hätte erwartet, dass Sie an dieser Stelle Folgendes
würdigen: die Planung.
({5})
- Es ist ein Plan. Was Sie vorgetragen haben, war eher
ein bisschen wie Die Sendung mit der Maus.
({6})
- Zumindest auf den Zwischenruf des Kollegen muss ich
reagieren. - Das ist ein intensiv, auf Basis mehrerer Szenarien ausgearbeiteter Entwicklungsplan für die Netze,
die wir brauchen. Ich hatte gehofft - das wäre richtungsweisend gewesen -, dass zumindest die Grünen sagen,
dass wir diese Netze brauchen.
({7})
Denn ein System der Energieversorgung, bei dem, wie
Sie es wollen, die Erneuerbaren im Zentrum stehen, wird
immer Überkapazitäten haben müssen. Wenn man das
weiß und die Energieversorgung in diese Richtung ausbaut, muss man doch auch einmal ganz klar formulieren,
dass wir in größerem Umfang Netze bauen müssen.
({8})
- Ich sage gleich etwas zur Akzeptanz. Warten Sie es
doch ab, Frau Höhn. Seien Sie nicht immer so nervös.
Es hat doch keinen Sinn, Erneuerbare-Energien-Anlagen mangels Netzkapazitäten abzuschalten. Es müsste
doch Ihr Anliegen sein, die Netze möglichst zügig auszubauen, weil es keinen Sinn hat, Anlagen auszuschalten
und den theoretisch produzierten Strom zu vergüten, ihn
aber nicht zur Verfügung zu haben. Deshalb muss man
dieses Thema doch unterstützen.
({9})
Dieser Plan ist deshalb nicht trivial, weil er nicht
statisch, sondern dynamisch sein muss. Denn es geht
letztendlich darum, die derzeit ungesteuerte und vom
Verbrauch unabhängige Stromproduktion bei den Erneuerbaren zu integrieren. Außerdem müssen wir mit technischen Innovationen rechnen, die heute noch nicht im
Detail planbar sind.
Dazu gibt es die angesprochenen Pilotprojekte. Herr
Krischer, wenn Sie schon sagen, es gebe zu wenig Pilotprojekte, hätten Sie wenigstens dazusagen können, dass
uns diese Pilotprojekte immerhin im Bereich Forschung
und Entwicklung voranbringen können. Es sind deshalb
Pilotprojekte, weil sie nicht Stand der Technik sind. Bei
den Pilotprojekten kann man deshalb nicht sehr viel
mehr fordern.
({10})
Dieses Thema ist deshalb dynamisch, weil wir noch
nicht kalkulieren können, welche Rolle die Speicherung
letztendlich spielt.
Beim Netzausbau geht es natürlich zunächst einmal
um die Frage der Akzeptanz. Ich habe gerade gesagt,
dass die Parteien einen Beitrag zur Erhöhung der Akzeptanz leisten können, indem sie sagen, dass das alles notwendig ist. Ich glaube, dass wir die Akzeptanz auch dadurch erhöhen können, dass wir mehr Transparenz
schaffen; das tun wir. Ich glaube, dass wir auch dadurch
mehr Akzeptanz geschaffen haben, dass wir klar gesagt
haben, dass die Bestandsertüchtigung oberste Priorität
hat. Wenn der Netzausbau trotzdem nicht akzeptiert
wird, dann ist die Rechtswegverkürzung eine Möglichkeit, um schnell Rechtssicherheit zu schaffen. Das ist
nun einmal so. Es geht darum, schnell Rechtssicherheit
zu schaffen, und nicht darum, irgendjemandem Rechte
zu nehmen.
Jetzt sage ich etwas, was Sie überraschen wird: Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir über das Thema
Erdverkabelung noch einmal diskutieren müssen,
({11})
und zwar bezogen auf die 110-Kilovolt-Leitungen.
({12})
- Erstens stehen in dem Antrag des Bundesrates noch
mehr Dinge. Zweitens besitzt diese Koalition selbst genügend Weisheit, um im richtigen Moment die richtigen
Dinge zu entscheiden. Wir müssen nicht darauf warten,
dass uns der Bundesrat irgendetwas vorlegt. Das ist vollkommen unnötig.
({13})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Bezug auf
die 110-Kilovolt-Leitung eine Abwägungsentscheidung
treffen müssen. Wir müssen uns die Kosten, die Akzeptanz und den Nutzen anschauen, aber auch genau prüfen,
was das bezogen auf die Kilowattstunde kostet; denn
letztendlich kommt es darauf an. Damit will ich nicht irgendjemandem in die Parade fahren. Ich meine nur, dass
dies ein ganz wesentliches Thema ist, um die Akzeptanz
zu erhöhen.
Wir haben jetzt die Grundlage dafür geschaffen, dass
die Planungen in unserem föderalen Staat etwas einfacher laufen können. Bei länderübergreifenden Vorhaben
tritt eine Zentralisierung der Zuständigkeiten an die
Stelle paralleler Raumordnungsverfahren. Auch das wird
uns erheblich nutzen und die Realisierung der Maßnahmen erleichtern, die immerhin - ohne Erdverkabelung 10 Milliarden Euro kosten werden. Das ist ein stattlicher
Betrag. Er ist aber zu stemmen. Dieser Betrag ist finanzierbar, und die Maßnahmen sind somit letztendlich
auch umsetzbar. Damit die Leute sicher sind, dass die
Energiewende funktioniert - das ist unser Anliegen -,
muss man das immer wieder betonen. Wenn man immer
alles infrage stellt, sogar das, was man selbst vorgeschlagen hat, wird das natürlich nichts, Herr Krischer.
Nichtsdestotrotz müssen wir als Koalition unser Augenmerk stärker auf Themen jenseits des Netzausbaus
richten. Es ist klar, dass das EEG Teil eines Markteinführungskonzeptes ist und nur dann Teil eines Marktdurchdringungskonzeptes werden kann, wenn man es fortentwickelt. Auch das muss man gemeinsam machen. Ich
hoffe, dass wir diesbezüglich weniger Blockade als Unterstützung seitens des Bundesrates erfahren. Es kommt
hierbei auch auf den Bundesrat an. Auch er muss ein Interesse daran haben, dieses Thema voranzubringen.
({14})
Letztlich wird es darauf ankommen - das ist entscheidend -, dass wir ein neues Marktdesign entwickeln.
Hierzu hat die Koalition gute Vorarbeit geleistet. Letztendlich wird es darum gehen, die Fixkosten zu finanzieren, und zwar sowohl die Fixkosten, die im konventionellen Bereich entstehen, als auch die Fixkosten, die im
Bereich der erneuerbaren Energien entstehen.
({15})
Dafür braucht man neben dem Markt für elektrische Arbeit einen Leistungsmarkt. Einen solchen Leistungsmarkt schnell einzuführen, ist genauso wichtig wie das
Voranbringen des Netzausbaus. Das sage ich aber nur
am Rande.
Ich bin der Überzeugung, dass der heutige Tag einen
Meilenstein in Sachen Netzausbau und damit einen Meilenstein in Sachen Energiewende darstellt. Ich hätte mir
gewünscht, dass das aufseiten der Opposition nicht nur
die SPD erkennt.
Vielen herzlichen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Mir liegt eine
Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Heveling vor. Die nehmen
wir zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/12638 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und des Kollegen Heveling in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des
Kollegen Heveling angenommen.
Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 6 a
und kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/13276. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13277. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13278. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist
mit dem gleichen Abstimmungsverhalten wie die beiden
vorherigen abgelehnt.
Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 a.
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 17/11369 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 6 b. Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/13258 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12214 mit dem Titel „Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland
erhalten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktion
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Darf ich einen Hinweis Richtung Regierungsbank geben? Im Moment habe überwiegend ich das Wort. Wenn
Sie mit den Dingen, die Sie zu besprechen haben, nicht
ins Protokoll kommen wollen, wäre es sicherlich sinnvoll, die Lautstärke einzuschränken.
({0})1) Anlage 10
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 b.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/12681 mit dem Titel „Den Netzausbau bürger-
freundlich und zukunftssicher gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/12518 mit dem Titel „Ausbau der Übertra-
gungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finan-
zielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion und der Linken angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Lohndumping im Einzelhandel stoppen - Tarifverträge stärken, Entgelte und Arbeitsbedingungen verbessern
- Drucksache 17/13104 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Markus
Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung ({2})
- Drucksache 17/13106 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträgen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Tarifsystem stabilisieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern
- Drucksachen 17/8459, 17/8148, 17/4437,
17/10220 Berichterstattung:Abgeordnete Jutta Krellmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die meisten von uns kennen sie doch, die netten, freundlichen und zuvorkommenden Frauen und
Männer, die auch nach 20 Uhr ganz selbstverständlich
gute Miene zum bösen Spiel machen, etwa wenn genervte und gestresste Abgeordnete auf dem Weg nach
Hause vielleicht noch schnell einige Besorgungen erledigen wollen.
Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sich
anfühlt, auch um 22 Uhr noch dort sitzen zu müssen,
selbst am Samstag oder, je nach Bundesland, an vier bis
acht Sonntagen im Jahr? Haben Sie sich schon einmal
für die Arbeitsbedingungen dieser Kolleginnen und Kollegen interessiert? Was wissen Sie alle eigentlich über
Niedriglöhne und das Lohndumping in dieser Branche,
in der fast 3 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen,
arbeiten? Wir, die Linke, haben uns das gefragt. Wir haben mit Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften gesprochen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag
gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifverträge.
Nur falls es noch nicht jeder in diesem Saal weiß: Zu
Beginn dieses Jahres haben die Arbeitgeber des Einzelhandels in fast allen Bundesländern die Manteltarifverträge gekündigt. Sie wissen: Die Manteltarifverträge regeln die wesentlichen Arbeitsbedingungen für diese
Branche. Sie regeln auch die Eingruppierung und die
Höhe der Zuschläge für besonders ungünstige Arbeitszeiten. Kurz gesagt: Sie regeln den Wert einer Arbeit,
den wir alle schätzen sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Aber all das stellen die Arbeitgeber nun auf den Prüfstand. Diesen Generalangriff, wie ihn die Gewerkschaft
Verdi zu Recht nennt, können und dürfen wir in diesem
Haus nicht schweigend hinnehmen.
({1})
Schauen Sie sich die Lage der Beschäftigten im Handel an: Die Ladenöffnungszeiten wurden massiv ausgedehnt. Viele Verkäuferinnen arbeiten inzwischen rund
um die Uhr. Es gibt immer mehr unsichere Jobs. Die Beschäftigten arbeiten teilweise auf Abruf. Wissen Sie eigentlich, was es heißt, auf Abruf zu arbeiten? Das heißt
nichts anderes als weitgehenden Verzicht auf eigene Lebensgestaltung. Die Betroffenen können nicht einmal
mehr einen Kinobesuch einplanen; denn der Arbeitgeber
könnte sie ja zurückrufen.
Wird so viel zusätzliche Flexibilität aufseiten der Beschäftigten überhaupt honoriert? Nein, überhaupt nicht.
Im Gegenteil: Während den Beschäftigten immer mehr
abverlangt wird, sind Niedriglöhne auf dem Vormarsch.
Jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnbereich. Versuchen
Sie gar nicht erst, Ihre Hände in Unschuld zu waschen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Sie haben hier in diesem Hause die unsägliche Agenda 2010 beschlossen und
eine Lohnspirale nach unten in Gang gesetzt, die aufgehalten werden muss.
({2})
- Doch, Herr Lehrieder, genau so sieht es in der Arbeitswelt draußen aus.
({3})
Die Agenda 2010 hat die Löhne massiv gedrückt; das
kann man mit Zahlen belegen.
Die Linke schlägt vor, bestehende Hürden für eine
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abzubauen.
Wir wollen dafür sorgen, dass für alle Beschäftigten und
Arbeitgeber einer Branche verlässliche Regeln geschaffen werden können.
({4})
Auch viele Arbeitgeber müssen nämlich davor geschützt
werden, dass der Wettbewerb in der Arbeitswelt über die
Löhne und über die Arbeitsbedingungen geführt wird.
Die Damen und Herren FDP-Kollegen - der Herr
Vogel telefoniert jetzt - wollen uns wieder glauben machen, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber würden
das alles auch ohne Einflussnahme von außen mit großer
Vernunft regeln. Ich frage Sie, Herr Vogel: Was ist vernünftig daran, dass die Arbeitgeber vor gut zehn Jahren
ihre Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen aufgekündigt haben? Was ist vernünftig daran, wenn die Löhne im Handel so niedrig sind, dass der
Staat jährlich 1,5 Milliarden Euro fürs Aufstocken zur
Verfügung stellen muss? Das ist unzumutbar und das
muss abgeschafft werden.
({5})
Wir schlagen vor, dass alle repräsentativen Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären sind, auch
wenn sie bisher nicht für die Hälfte der Beschäftigten
gelten. Den Arbeitgebern soll zudem das Vetorecht entzogen werden. Wir wollen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird, sodass nur die Tarifverträge
wirksam werden, die über diesem gesetzlichen Mindestlohn liegen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft
in Deutschland gründen in der Tat darauf, dass wir ein
hochentwickeltes System von Tarifverträgen haben, die
Arbeitgeber und Gewerkschaften miteinander aushandeln und mit denen sie den Lohn und viele andere Dinge
- die Arbeitszeit usw. - regeln und mitgestalten.
Wir Bundestagsabgeordnete sollten tunlichst die Finger davon lassen, uns da einzumischen; denn - um es
kurz zu sagen - Arbeitgeber und Gewerkschaften regeln
das untereinander besser, als es der Bundestag regeln
könnte.
({0})
Bei dem, was die Kollegin Zimmermann vorgetragen
hat, muss man den Eindruck bekommen, dass sie gar
nicht von Tarifautonomie spricht.
({1})
Sie hat davon geredet, dass wir - der Bundestag, die
Politiker - uns einmischen sollten und per Gesetz - statt
durch die Tarifpartner - ein Mindestlohn in Deutschland
festgelegt werden sollte. Mit dem Antrag, der hier gestellt wird, ist offensichtlich nicht das gemeint, um was
es angeblich geht - in Wahrheit ist staatliche Einmischung in die Lohnpolitik gefordert.
({2})
Staatliche Einmischung in die Lohnpolitik - das zeigen sämtliche Beispiele aus Europa - führen in der Regel zu schlechteren Ergebnissen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Tarifverträge, die im Rahmen
der Tarifautonomie frei verhandelt wurden. Deshalb setPeter Weiß ({3})
zen wir uns für eine Stärkung der Tarifautonomie ein. In
der Tat haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten
erlebt, dass Flächentarifverträge infrage gestellt worden
sind. Spätestens die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, 2009, 2010 hat aber gezeigt: Deutschland - die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die deutschen Betriebe - wäre nicht so schnell und
so gut - besser als alle anderen Industrienationen Europas - aus dieser Krise herausgekommen, wenn es nicht
die Tarifautonomie gäbe. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht Vereinbarungen über Kurzarbeit getroffen hätten und wenn wir als Staat die Kurzarbeit
nicht massiv unterstützt hätten, wäre uns das nicht gelungen. Gerade die Krisenbewältigung zeigt: Die Tarifautonomie ist der beste Weg, um gute Lösungen für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu
schaffen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Jahr
2011 arbeiteten etwa 54 Prozent der westdeutschen und
37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben,
die an einen Tarifvertrag gebunden sind.
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung der Kollegin Zimmermann?
Bitte schön.
Vielen Dank, Kollege Weiß, dass Sie die Frage zulassen.
Sie kennen ja sicherlich die Callcenterbranche. Darin
arbeiten 500 000 Beschäftigte. Die Gewerkschaft Verdi
will für diese schon lange einen Tarifvertrag aushandeln,
aber auf der anderen Seite gibt es keinen Arbeitgeberverband. Ich frage Sie: Was machen wir mit diesen Kolleginnen und Kollegen dort - es sind immerhin 500 000 -,
die unter Lohndumping leiden und schwere Arbeitsbedingungen haben? Sie erhalten teilweise Löhne von 5, 6,
7 Euro in der Stunde.
Meine Frage an Sie: Wie können wir hier die Tarifautonomie walten lassen?
({0})
Frau Kollegin Zimmermann, ich habe mich mehrmals
mit Betriebsräten in der Callcenterbranche unterhalten
und habe große Sympathien dafür, dass wir zu einem Tarifvertrag für diese Branche kommen. Richtig ist: Dazu
muss es auf der anderen Seite einen Verhandlungspartner
geben. Ich gehe aber davon aus, dass die sehr konsequenten und, wie ich finde, inhaltlich auch gut vorgetragenen Argumente der Betriebsräte irgendwann zu diesem Erfolg führen werden.
Solange es den Tarifvertrag noch nicht gibt, bräuchten
wir für die Callcenter eigentlich eine Mindestlohnregelung. Sie wissen, dass von einer Arbeitnehmerorganisation ein solcher Antrag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt worden ist. Leider ist
dieser Antrag im Hauptausschuss unter Leitung von
Herrn von Dohnanyi abgelehnt worden. Ich habe den
Eindruck, dass er vor allem deshalb abgelehnt wurde,
weil er von der falschen Gewerkschaft gestellt worden
ist,
({0})
was zeigt: Es wäre besser, man würde beim Thema Mindestlöhne nicht die Organisationsinteressen gegeneinander ausspielen, sondern wirklich in der Sache handeln.
Ich hätte mich gefreut, wenn der Antrag auf eine Mindestlohnregelung für die Callcenterbranche im Hauptausschuss bewilligt und eine entsprechende Regelung in
Kraft gesetzt worden wäre.
({1})
Ich habe gerade vorgetragen, wie viele Beschäftigte
in einer Branche arbeiten, die einen Tarifvertrag hat.
Hinzu kommen etwa 7 Prozent der westdeutschen und
rund 12 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die in einem Betrieb arbeiten, der einen Firmentarifvertrag hat. Das heißt zusammengerechnet: Für 39 Prozent der Beschäftigten im Westen und für
51 Prozent im Osten gibt es keinen Tarifvertrag. Das ist
in der Tat ein Rückgang gegenüber früher.
Allerdings kommt jetzt etwas anderes hinzu: Für rund
20 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und rund 25 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird im Betrieb ein
Tarifvertrag angewandt, obwohl der Betrieb gar nicht tarifgebunden ist.
({2})
Hier haben die Zahlen zugenommen. Das zeigt doch,
dass in Deutschland nach wie vor die Tarifverträge für
die große Mehrheit der Arbeitgeber die Orientierungspunkte bei der Bezahlung sind.
Man kann meines Erachtens in der Tat die Frage stellen, ob bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, ihn also auch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben zu erstrecken,
die gar nicht tarifgebunden sind, auch die faktische Anwendung eines Tarifvertrags berücksichtigt werden
könnte; denn es ist natürlich gut, wenn man in einem Betrieb arbeitet, der tarifgebunden ist, und es ist schön,
wenn man in einem Betrieb arbeitet, der sich wenigstens
an einen Tarifvertrag hält, obwohl er gar nicht tarifgebunden ist, da er keiner Arbeitgeberorganisation angehört, aber eigentlich könnte man die faktische Anwendung des Tarifs hier mitzählen. Natürlich wäre es
wünschenswert, dass in mehr Bereichen Tarifverträge
abgeschlossen und für allgemeinverbindlich erklärt werden.
Peter Weiß ({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist heute
Morgen in der Debatte schon vorgetragen worden, aber
ich will es hier wiederholen: Es ist schon ein bemerkenswerter Fortschritt, dass es die Arbeitgeber und Gewerkschaften in einem Bereich, der in fast jeder Bundestagsdebatte für besonders niedrige Löhne an den Pranger
gestellt worden ist, dem Friseurhandwerk, geschafft haben, eine Verabredung für einen bundesweit gültigen Tarifvertrag zu finden, und dass sie angekündigt haben,
dafür eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu beantragen. Glückwunsch an das Handwerk! Es wäre eine
tolle Sache, wenn weitere Branchen es den Friseuren
nachmachen würden.
({4})
Das gilt natürlich auch für den Einzelhandel. Frau
Zimmermann hat hier verschwiegen, dass es jetzt über
zwei Jahre intensive Gespräche und Bemühungen gegeben hat, auch im Einzelhandel zu einer Vereinbarung zumindest über einen Mindestlohn oder aber über einen
Tarifvertrag zu kommen, für den die Allgemeinverbindlichkeit beantragt werden könnte. Es ist schade, dass das
den Tarifpartnern bis zur Stunde nicht gelungen ist. Aber
wir als Bundestagsabgeordnete können den Verhandlungspartnern diese Arbeit nicht abnehmen. Ich will
deutlich sagen: Ich wünsche den Verantwortlichen im
Einzelhandel, dass sie diese Gespräche wieder aufnehmen und versuchen, eine klare, eindeutige und gute tarifliche Vereinbarung zu finden; das wäre dringend notwendig.
({5})
Ich bin etwas verwundert darüber, dass die Linken
auch noch das Thema Kontrolle ansprechen. Es ist ihnen
entgangen, dass ausgerechnet CDU/CSU und FDP in ihrer jetzt bald vierjährigen Regierungszeit jedes Jahr die
Zahl derjenigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle, die für
die Aufdeckung von Schwarzarbeit und für die Kontrolle
von Mindestlöhnen zuständig sind, um 100 Personen
aufgestockt haben.
({6})
- Ja. Jedes Jahr ging diese Zahl um 100 nach oben. Entgangen ist ihnen auch, dass CDU/CSU und FDP die
Anzahl der Kontrolleure der Bundesagentur für Arbeit
um 30 Prozent aufgestockt haben.
Damit haben wir deutlich gemacht: Wir sind daran interessiert, dass es in der deutschen Wirtschaft für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für Unternehmen
gute vertragliche Regelungen gibt.
({7})
Wir sind auch bereit, sie zu kontrollieren.
Insofern ist klar und deutlich: Wir sind diejenigen, die
für Tarifautonomie stehen, die die Tarifautonomie stärken. Aber wir sollten bitte nicht per politischer Direktiven in die Tarifautonomie eingreifen. Das führt nur ins
Verderben.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Josip Juratovic
das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Kollege Peter Weiß, ich möchte Sie daran erinnern, dass auch Aufstockung eine Art von staatlicher Einmischung in Lohnpolitik ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es vergeht kein Tag,
an dem wir nicht in der Presse von Menschen erfahren,
die von ihrer Arbeit nicht leben können. Unser Land ist
stolz auf seine soziale Marktwirtschaft. Die Entwicklung
auf dem Arbeitsmarkt mit Niedriglöhnen, Befristungen,
Leiharbeit und Werkverträgen zeigt jedoch, dass die soziale Marktwirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten
ist. In unserem Wirtschaftssystem geht es zunehmend
darum, den Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten auszutragen. Die Unternehmer konkurrieren immer
mehr darum, den billigsten Preis anzubieten, sei es durch
Niedriglöhne ohne Tarif oder durch schlechte Arbeitsbedingungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Billiglohnkonkurrenz ist schlecht für die Arbeitnehmer, und sie ist
auch schlecht für unser Land; denn unsere Wirtschaft
wird sich nicht zukunftsweisend weiterentwickeln, solange es einigen Unternehmern nur um Strategien geht,
wie sie möglichst wenig Lohn zahlen. Wir brauchen dagegen einen Wettbewerb um die besten Ideen und Innovationen. Dafür braucht man gute und fair bezahlte Mitarbeiter.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Wettbewerb
um Innovationen und nicht die Konkurrenz um Niedriglöhne zu fördern, ist ein funktionierendes Tarifvertragssystem notwendig. Tarifverträge sind ein elementarer
Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Denn dadurch
werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter einen Hut gebracht. So kann sich die faire
und soziale Marktwirtschaft in unserem Land weiterentwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur möglich,
wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen stimmen.
Zu diesen Rahmenbedingungen gehört die Tarifautonomie. Leider gibt es jedoch immer mehr Unternehmen, in
denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert. Immer mehr Unternehmer sind entweder gar nicht mehr in
Arbeitgeberverbänden, oder sie haben eine OT-Mitgliedschaft, also eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. In
manchen Branchen wiederum sind die Arbeitnehmervertreter und die Gewerkschaften inzwischen nicht mehr
stark genug, um Tarifverhandlungen durchzusetzen und
durchzuführen.
Ein Blick nach Europa zeigt, dass die Tarifbindung in
Deutschland deutlich niedriger ist als in den meisten anderen Ländern. Deshalb ist die SPD-Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mehr
als berechtigt.
({2})
Aber es ist auch die Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für eine wirkliche Tarifautonomie mit Verhandlungen der Tarifpartner auf Augenhöhe zu schaffen.
Wir müssen das Tarifvertragssystem stärken und zuallererst die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen erleichtern, wie wir Sozialdemokraten in
unserem Antrag fordern. Wir dürfen die Tarifvertragsparteien nicht alleine lassen mit ihrer Tarifautonomie,
sondern müssen sie gesetzlich und politisch unterstützen.
Die Bundesregierung fällt beim Thema Tarifautonomie leider in ihre gewohnte Haltung: Sie lobt die Tarifpartner in Sonntagsreden. Politisch tut die Regierung
aber überhaupt nichts, um die Tarifautonomie tatsächlich
auch zu stärken. Mir ist es unverständlich, dass die CDU
im Ausschuss für Arbeit und Soziales sagt, es müsse
grundsätzlich auch Unternehmen ohne eine sogenannte
Unterwerfung unter einen Tarifvertrag geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, faire Tarife sind die
Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfen
nicht die Unternehmer in unserem Land politisch fördern, die sich von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet haben, sondern wir müssen die Unternehmer
fördern, die faire tarifliche Löhne zahlen.
({3})
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen sind auch im europäischen Kontext wichtig; denn
nur allgemeinverbindliche Löhne sind nicht nur für die
deutschen Arbeitnehmer bindend, sondern auch für Arbeitnehmer aus Europa, die bei uns arbeiten. So sorgen
wir dafür, dass Menschen - vor allem solche aus Osteuropa - nicht bei uns ausgebeutet werden, und wir sorgen dafür, dass sich die Arbeitnehmer in unserem Land
nicht vor Billigkonkurrenz fürchten müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Gesetze, die in unserem
Land im Tarifvertragssystem gelten, insbesondere das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz, auch wirksam sind.
({4})
Momentan kann dieses Gesetz gar nicht richtig angewandt werden, weil es extrem schwierig ist, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Bislang müssen 50 Prozent aller unter den Geltungsbereich des
Tarifvertrags fallenden Personen bei tarifgebundenen
Arbeitgebern beschäftigt sein, damit ein Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Dieses Kriterium wollen wir ersetzen. In Zukunft soll ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden können,
wenn er repräsentativ ist.
({5})
Es ist doch nicht sinnvoll, ein Gesetz zu haben, das
kaum angewandt werden kann. Eine Umsetzung des Gesetzes muss möglich sein. Auch deshalb ist es dringend
geboten, das Tarifvertragssystem zu reformieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und,
da ich in diesem Bereich aktiv bin, Kolleginnen und
Kollegen der Gewerkschaften und in den Betrieben: Die
SPD setzt sich dafür ein, dass die Tarifautonomie mit
fairen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wieder zur Regel in unserem Land wird.
Ich bitte um eure Unterstützung und danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
({6})
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland hat einen Niedriglohnsektor, ja, und zwar
als Ergebnis einer politischen Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung.
({0})
- Ja, das muss aber immer wieder gesagt werden. Verantwortung muss da abgeladen werden, wo Verantwortung auch besteht.
({1})
Die Kehrseite - ich mache das ja sehr fair und vollständig - dieses Niedriglohnsektors war, dass Rot-Grün gesagt hat: Wenn niedrige Löhne gezahlt werden, die nicht
reichen, um den eigenen Bedarf zu decken, dann soll
aufgestockt werden können. Beides gehört zusammen.
Sie wollten dies damals so; heute bekennen Sie sich
nicht mehr so richtig dazu.
({2})
Aber immerhin, es hat gewirkt. Als Sie diese Entscheidung getroffen hatten, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Heute haben wir 3 Millionen
Arbeitslose, und jeder Mensch, der einen neuen Arbeitsplatz gewonnen hat, hat ein Stück Autonomie und auch
die Möglichkeit gewonnen, eigene Chancen zu nutzen.
Oft sind Niedriglöhne ja auch nur eine Durchgangssituation.
({3})
Auch das muss man sehen: Sie bieten die Möglichkeit,
nach dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. Deswegen stehen wir auch heute noch zu den
Entscheidungen, die Sie damals getroffen haben, heute
aber nicht mehr wahrhaben wollen. - Das ist das Erste.
Das Zweite: Tarifautonomie wirkt und Tarifvertragspolitik funktioniert. Das haben wir bei den Friseuren in
dieser Woche gesehen. Ich gebe zu, es war schwer erträglich, im Bereich der Friseure immer wieder auf Tarifverträge verwiesen zu werden, die aus dem Jahr 1998
stammten. Es ist wirklich gut und zu begrüßen, dass die
Branche jetzt auch auf öffentlichen Druck reagiert hat
und einen gestuften Tarifvertrag abgeschlossen hat, beginnend im August dieses Jahres mit 6,50 Euro im Osten
und 7,50 Euro im Westen und einem anschließenden
Steigerungsziel. Das zeigt: Die Branche hat die Signale
verstanden. Es gibt überhaupt keinen Anlass für die Politik, in ein funktionierendes Tarifvertragsgeschehen einzugreifen.
({4})
Das Dritte, was ich ansprechen will, ist: Wir haben
ein gut funktionierendes und auch ausgereiftes Instrumentarium im Bereich der Tarifvertragspolitik. - Sie
schütteln den Kopf, Frau Müller-Gemmeke, aber es ist
doch so. Als Sie regiert haben, haben Sie es auch nicht
verändert. Wir haben bei Branchen mit einer sehr hohen
Tarifbindung, also über 50 Prozent der Beschäftigten,
nach dem Tarifvertragsgesetz die Möglichkeit, nicht nur
untere Lohnlinien, sondern ganze Lohngitter für allgemeinverbindlich zu erklären.
Wir haben mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz die
Möglichkeit, jedenfalls nach Maßstab unseres Handelns,
mit einer etwas abgesenkten Anforderung, nämlich bei
Repräsentativität der Tarifverträge, eine Lohnuntergrenze einzuziehen. Wir haben auch die Möglichkeit, in
praktisch nicht organisierten Bereichen mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einen von einer Kommission oder einem Fachausschuss ermittelten Lohn als
Lohnuntergrenze zu benennen. Das muss man beobachten, das funktioniert bisher anscheinend noch nicht so
gut. Das habe ich jedenfalls von Herrn von Dohnanyi gehört. Aber das zeigt insgesamt: Wir haben wirklich für
alle Fälle die Möglichkeit, zu handeln.
Ich bin nicht bereit - das sage ich hier sehr deutlich
für meine Fraktion -, auf das Votum des Tarifausschusses zu verzichten. - Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage, Frau Präsidentin.
Völlig überraschend möchte Ihnen die Kollegin
Zimmermann eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen. Sie lassen diese natürlich auch zu. - Bitte, Kollegin Zimmermann.
Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. - Ich schätze Sie sehr.
Aber mich interessiert wirklich: Was wäre bei Ihnen die
Lohnuntergrenze? Wo würde sie liegen? Ich habe es
nicht gelesen und auch noch keine Meinungsäußerung
von der FDP dahin gehend gehört, wo für die FDP die
Lohnuntergrenze liegt.
Ja, ich habe es verstanden.
Sie wissen, die Niedriglohnschwelle liegt bei
10,36 Euro. Das ist keine Zahl der Linken, sondern eine
Zahl vom Statistischen Bundesamt. Mich interessiert
wirklich, wie die FDP das sieht. Das finde ich jetzt richtig spannend.
Zunächst - so viel Zeit muss sein, Frau Kollegin
Zimmermann - will ich mich bei Ihnen und auch überhaupt bei den Kollegen der Linken einmal ausdrücklich
bedanken. Es funktioniert immer sehr gut: Meine Ausführungen führen dazu, dass es bei Ihnen Nachfragebedarf gibt, Herr Kollege Ernst, Herr Kollege Birkwald,
wer auch immer.
({0})
Das finde ich sehr erfreulich, weil es zeigt, dass von der
einen Seite des Plenarsaals zur anderen ein kommunikativer Draht besteht. Herzlichen Dank dafür!
({1})
Der zweite Punkt - Sie wollen mich natürlich aufs
Glatteis führen; das werde ich nicht zulassen - ist: Wenn
ich Ihnen eine Zahl nennen würde, würde ich genau in
diesen Über- oder Unterbietungswettbewerb einsteigen,
den wir gerade nicht wollen. Tarifautonomie heißt für
uns: Der Staat hält sich raus. Deswegen nennen wir keinen Wert. Es ist auch nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz vorgesehen, dass nicht der Staat eine Lohnhöhe festsetzt, sondern ein Fachausschuss, der nach der
Feststellung von sozialen Verwerfungen vom Hauptausschuss eingesetzt wird.
Diese Zahl ist der Referenzwert. Er ist nicht politisch
gesetzt, sondern wird der Politik von fachlich Betroffenen nahegelegt. Das ist eben etwas ganz anderes als das,
was in dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines
Mindestlohns des Bundesrates vorgesehen ist. Der Kollege Zimmer hat heute Morgen zu Recht auf die Mechanismen hingewiesen: Wenn nämlich die Tarifpartner
nicht handeln, dann soll der Staat selbst Zahlen nennen.
Wenn innerhalb einer bestimmten Frist kein Vorschlag
erarbeitet wurde, soll der Staat selbst einen Wert festsetzen. Das ist für uns Liberale absolut inakzeptabel. Wir
wollen keine staatlich festgelegte Lohnhöhe, sondern
wir wollen, dass die fachlich Betroffenen in den Branchen ihre Dinge regeln, weil sie selbst die beste und
nächste Anschauung dessen haben, was in den Betrieben
tatsächlich gezahlt werden kann. Vielen Dank für die
Frage.
({2})
Es gibt ein Instrumentarium. Wir sind nicht bereit, auf
die Mitwirkung des Tarifausschusses im Rahmen der
AVE zu verzichten, weil der Tarifausschuss eben eine
gesamtwirtschaftliche Perspektive herstellt. Die Erfahrung aus den letzten dreieinhalb Jahren zeigt: Es ist in jedem einzelnen Fall, teilweise mit erheblichen Geburtswehen - das gebe ich zu -, gelungen, ein entsprechendes
Votum zu erzielen, mit dem das in der Regel von uns allen gewünschte Ziel erreicht werden kann. Daran halten
wir fest. Es sollte zudem immer eine Kabinettsentscheidung geben und nicht allein das federführende Ressort
die Möglichkeit haben, per AVE zu handeln. All das ist
sinnvoll und richtig.
Ich finde, wir haben ein gutes Instrumentarium.
({3})
Es ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dass
wir auf unserem Nürnberger Parteitag am übernächsten
Wochenende darüber nachdenken werden, an welchen
Stellschrauben im Rahmen des bestehenden Systems
noch nachjustiert werden muss.
({4})
In der nächsten Sitzungswoche können wir Ihnen wahrscheinlich schon sehr viel Konkreteres zu unserer Nachjustierung berichten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Arbeitswelt läuft so einiges
schief. Heute geht es stellvertretend um den Einzelhandel. Verkäuferin ist ein Knochenjob, und das bei schlechter Bezahlung. 38 Prozent der fast 3 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten inzwischen im
Niedriglohnbereich. Das sind zu viele. Bei dieser Entwicklung ist der Verweis von Ihnen, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, auf die Tarifautonomie einfach zu wenig.
({0})
Früher hatten viel mehr Beschäftigte - gerade auch
im Einzelhandel - sozialen Schutz durch allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Heute aber wechseln zu
viele Arbeitgeber in Mitgliedschaften ohne Tarifbindung. Edeka und Rewe gliedern Filialen aus an selbstständige Kaufleute. Gleichzeitig gibt es immer mehr
zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. In der Folge
wird der Einzelhandel immer mehr zu einer Branche
ohne Betriebsräte. Vor allem aber funktioniert das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nicht
mehr, weil die Tarifbindung zu gering ist. Durch diese
unterschiedlichen Formen der Tarifflucht wird der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
({1})
Ich bin auch überzeugt, dass die Tarifbindung insgesamt weiter abnehmen wird. Unterstützung bei der Tarifflucht gibt es einmal mehr im Internet. So bietet beispielsweise die Haufe-Akademie ein Seminar an unter
dem Titel „Wege aus der Tarifbindung“ - ich zitiere -:
Praxisorientiert … lernen Sie, welche Möglichkeiten es gibt, Personalkosten zu sparen, flexibler zu
werden … und den Einfluss von Gewerkschaften
zu reduzieren.
Praktische Handlungsempfehlungen … zeigen Ihnen, wie Sie die Lösung aus tariflichen Bindungen
am besten umsetzen.
Die FDP sollte ruhig einmal zuhören. - Dann wird noch
die ganze Palette aufgeführt: OT-Mitgliedschaft, Wechsel des Arbeitgeberverbandes, Branchenwechsel, Umstrukturierung und Gestaltung der Arbeitsverträge. Es ist
unsäglich. Das hat nichts mehr mit Sozialpartnerschaft
zu tun. Hier geht der Anstand verloren.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie halten immer die Tarifautonomie hoch,
wie wir gerade wieder gehört haben. Sie müssen sich
aber langsam entscheiden, was Sie damit meinen und
was Sie wollen. Wenn es Ihnen nur um die negative Koalitionsfreiheit geht, dann sagen Sie das endlich ehrlich.
Dann wissen die Beschäftigten, was sie von Ihnen zu erwarten haben, nämlich gar nichts. Oder verstehen Sie
unter Tarifautonomie, dass den Tarifvertragsparteien
eine wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungskompetenz eingeräumt wird? Dann müssen Sie aber auch reagieren, wenn sich Arbeitgeber von dieser Verantwortung verabschieden. In der Konsequenz müssten Sie
dann, wenn auch nicht in allen Details, so doch zumindest im Grundsatz die vorliegenden Vorlagen unterstützen.
({3})
Wir brauchen erstens einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, zweitens mehr branchenspezifische
Mindestlöhne, und drittens muss die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtert werden;
denn wenn die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert,
dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt
werden.
({4})
Wir Grüne bringen heute noch einen kleinen Entwurf
eines Gesetzes ein, das unserer Meinung nach durchaus
große Wirkung erzielen kann, und zwar gegen zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. Wenn ein Scheinwerkvertrag gerichtlich festgestellt wird, dann ist das
verdeckte Leiharbeit - mit allen Konsequenzen: Ein
Bußgeld wird verhängt, die Sozialversicherungsbeiträge
werden nachgefordert, und die Beschäftigten haben automatisch ein Arbeitsverhältnis mit dem Werkvertragsbesteller. Eine Erlaubnis für Leiharbeit schützt die
Betriebe aber vor diesen Rechtsfolgen. Diese Gesetzeslücke im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wollen wir
schließen; denn manche Betriebe nutzen das schamlos
aus. Sie vergeben ihre dubiosen Werkverträge nur an
Fremdfirmen mit einer Erlaubnis für Leiharbeit. Damit
können sich die Unternehmen absichern und die Rechtsfolgen von Scheinwerkverträgen abmildern. Wir fordern
deshalb, dass die Erlaubnis nur für echte Leiharbeit gilt.
Wer mit Scheinwerkverträgen Löhne absenkt und Tarifflucht begeht, der soll künftig immer auch die rechtlichen Konsequenzen tragen. Das hat abschreckende Wirkung, und vor allem ist das gerecht, Herr Kolb.
({5})
- Sie haben das, glaube ich, einfach nicht verstanden.
Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, mit allen Anträgen, die heute vorliegen, soll
die Sozialpartnerschaft zum Schutz der Beschäftigten
gestärkt werden. Aber auch die tariftreuen Betriebe
brauchen diesen Schutz, damit sie von Schmutzkonkurrenz nicht vom Markt gedrängt werden. Reden Sie also
nicht nur von Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie,
sondern handeln Sie endlich!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktionen, studiert man die von Ihnen eingebrachten und heute
zur Debatte stehenden Anträge, so könnte man auf die
Idee kommen, dass es um die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Lage in Deutschland wirklich schlecht bestellt
ist.
({0})
Aber ich kann Sie beruhigen: Dem ist bei weitem nicht
so. Im Gegenteil: Betrachtet man die Entwicklung am
deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren,
dann sieht man, dass die Lage eigentlich kaum besser
sein könnte.
Im vergangenen Jahr waren mit nahezu 42 Millionen
Beschäftigten so viele Menschen in Deutschland in Beschäftigung wie nie zuvor.
({1})
Auch die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen ist mit
2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren
gefallen. 29,8 Millionen Personen, um die Zahl zu liefern, Frau Müller-Gemmeke, waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Darauf wollen Sie doch hinaus. Ich
kenne Ihre Fragen nach mehrjähriger Tätigkeit im Ausschuss.
({2})
In ihrer aktuellen Frühjahrsprognose geht die Bundesregierung für das laufende Jahr weiterhin von einem Anstieg der Beschäftigung um 200 000 sowie einem Rückgang der Arbeitslosigkeit auf deutlich unter 3 Millionen
Personen aus. Im europäischen Vergleich steht Deutschland, insbesondere was die geringe Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstand am besten da.
({3})
Die Vermittlung in Arbeit verläuft zügiger, und die
durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist gesunken. Das müssen auch Sie, Frau Kollegin Zimmermann,
bei aller Kritik zur Kenntnis nehmen. Wir werden im gesamten europäischen Ausland um unseren soliden und
äußerst robusten Arbeitsmarkt beneidet. Das sind die Erträge erfolgreicher christlich-liberaler Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik.
({4})
- Ich komme gleich dazu, lieber Toni Schaaf.
Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, entnehme ich eine ausgesprochen pessimistische Sicht auf
die Tarifbindung in Deutschland, die ich in keiner Weise
nachvollziehen kann. Auch die Sachverständigen haben
sich im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 6. Februar 2012 mit
Ihrer Sicht der Dinge sichtlich schwergetan. Zusätzlich
zur unmittelbaren Bindung der Unternehmen an Flächen- und Branchentarifverträge ist die Zahl der Hausund Firmentarifverträge deutlich gestiegen. Hinzu
kommt, dass sich ein erheblicher Teil der nicht tarifgebundenen Unternehmen an bestehende Flächen- und
Branchentarifverträge anlehnt.
({5})
Darauf wurde von Herrn Kollegen Kolb zutreffenderweise bereits hingewiesen.
Legt man diese Fakten zugrunde, kommt man entgegen Ihrer Ansicht zu dem Ergebnis, dass die Tarifbindung in Deutschland im europäischen Vergleich im oberen Bereich liegt. Laut dem Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung werden die Arbeitsbedingungen
von 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse immer noch
durch Tarifverträge bestimmt. Diese Zahlen belegen,
dass Tarifverträge trotz Ihrer Schwarzmalerei das wichtigste Element zur Aushandlung und Festsetzung von
Arbeitsentgelten, Arbeitsbedingungen und weiteren beschäftigungsrelevanten Fragen sind.
Mit einem Sammelsurium von Forderungen, angefangen bei einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der in jedem Ihrer Anträge steht, über eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bis hin zu
einer Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
von Tariflöhnen, versuchen Sie, einem angeblichen
Missstand entgegenzutreten.
Das Aushandeln von Löhnen muss grundsätzlich
Aufgabe der Sozialpartner sein. - Ich freue mich, dass
Kollege Klaus Ernst wieder unter uns ist, der natürlich
als alter Gewerkschafter hier von mir abermals hören
muss, dass es die christlich-liberale Koalition ist, die der
Tarifautonomie das Wort redet und die Rolle der Gewerkschaften würdigt und hochschätzt, anders als früher
Ihre Genossen.
({6})
Lassen Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen
Schaaf zu? ({0})
Bitte, Sie haben das Wort.
Sie lehnen den gesetzlichen Mindestlohn ja immer ab
mit dem Hinweis darauf, ein gesetzlicher Mindestlohn
sei eine Einmischung in die Tarifautonomie. Wir bzw.
unsere Vorgänger haben in diesem Haus eine Menge Gesetze beschlossen, die sich zum Beispiel damit befassen,
wie viel Urlaub mindestens gewährt werden muss, wie
hoch die Arbeitszeit in der Woche höchstens sein darf.
Wir haben die Betriebsverfassung. Sind das alles Einmischungen in die Tarifautonomie, oder sind das Mindeststandards, die wir in der sozialen Marktwirtschaft für
richtig halten?
({0})
Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie sind Arbeitnehmerschützer, genau wie ich.
({0})
Wir haben die Interessen der Arbeitnehmer im Fokus.
Gerade vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die Regelungen im Bundesurlaubsgesetz und in den
Arbeitszeitverordnungen betreffend die Urlaubsdauer
und die maximalen Wochenarbeitszeiten, quasi als Mindestlevel zum Schutz der Arbeitnehmer.
({1})
Allein der Umstand, dass wir bereits mehrere Grenzen
eingezogen haben, heißt aber doch nicht, dass wir weitere Grenzen einziehen müssen, die nicht zwingend erforderlich sind. Hier müssen wir eine weitere Einengung
der Verhandlungspositionen der Tarifvertragsparteien
gerade nicht vornehmen. Die branchenspezifische Lohnhöhe können sie doch viel besser selbst aushandeln.
Dass die minimale Urlaubsdauer als Arbeitsschutzrecht
vom Bundesgesetzgeber geregelt ist, ist richtig und auch
zutreffend. Das heißt aber nicht, dass das für alle Branchen einheitlich gemacht werden muss.
Frau Kollegin Zimmermann hat ja den netten Kollegen Kolb suggestiv gefragt: Wo würden Sie denn hier
die Lohnuntergrenze sehen? - Das ist doch etwas, was
von Branche zu Branche von den Tarifvertragsparteien
viel besser ausgehandelt werden kann. Wir sehen es
doch: Hier sind es 8,50 Euro, dort 10 Euro. Vielleicht
kommen wir auch irgendwann einmal zu 9 Euro oder
11,50 Euro.
({2})
Wir würden uns hier vor der Bundestagswahl in einem
Überbietungswettbewerb befinden, wer die besseren
Politiker sind, wer mehr Mindestlohn fordert - unabhängig davon, dass wir den Verlust von Arbeitsplätzen dann
gar nicht selber ausbaden müssten.
Lassen Sie uns den Tarifvertragsparteien etwas Vertrauen entgegenbringen und ihnen die Aushandlung der
Lohnhöhen in den einzelnen Branchen zugestehen! Das
können die besser als wir. Lieber Toni Schaaf, du weißt
so gut wie ich, dass wir die Tarifvertragsparteien ihr Geschäft machen lassen sollten.
Frau Präsidentin, da ist noch eine Wortmeldung.
Ich habe das gesehen, Kollege Lehrieder. Der Kollege
Ernst hat sich ebenfalls zu einer Frage oder Bemerkung
gemeldet. Ich entnehme Ihrem Hinweis, dass Sie diese
auch zulassen.
Herr Kollege Lehrieder, es geht mir um das Problem,
das eben angesprochen wurde. Ihre Argumentation
scheint mir nicht sehr schlüssig zu sein. Urlaubsdauer ist
ja etwas anderes als die Frage der Arbeitszeit. Wir haben
bezogen auf die Urlaubsdauer eine Mindestregelung im
Gesetz - 24 Werktage -; trotzdem haben die Tarifvertragsparteien die Freiheit, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren, zum Beispiel 30 Tage in der Metall- und Elektroindustrie. Inwiefern, glauben Sie, hat die Festlegung
einer Mindesturlaubsdauer die Gewerkschaften behindert, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren? Das ist eine
ganz konkrete Frage.
Zweitens. Wir haben ein Arbeitszeitgesetz. In diesem
Arbeitszeitgesetz haben wir Höchstarbeitszeiten vereinbart. Trotzdem haben sich die Gewerkschaften mit den
Arbeitgeberverbänden - wahrscheinlich zu Ihrer großen
Freude, weil das in die Tarifautonomie fällt - in verschiedenen Branchen auf die 35-Stunden-Woche geeinigt. Glauben Sie, dass die festgelegte Mindestarbeitszeit die Gewerkschaften behindert hat, als sie die
35-Stunden-Woche durchgesetzt haben? Oder war es
nicht so, dass sie auf Basis bestehender Gesetze eine
Verbesserung durchsetzen konnten?
Wenn Sie mir in diesen Fragen recht geben, Kollege
Lehrieder, ist es dann nicht so, dass selbstverständlich
die Gewerkschaften einen besseren Lohn als den Mindestlohn vereinbaren können, und zwar in den Bereichen, in denen sie selbst dazu nicht mehr in der Lage
sind, eine Basis, einen Mindestlohn zu verhandeln, auf
den sie aufsetzen können? Nur so können sie das in Anspruch nehmen, was Sie hier propagieren, nämlich eine
Tarifautonomie, die über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bessere Bedingungen bei Lohn, Urlaub usw. gewährt. Ist es
nicht sinnvoll, diesen Mindestlohn
({0})
zur Geltung der künftigen Tarifautonomie geradezu
zwingend einzuführen?
({1})
Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein. Ich begründe das sehr gern. - Lieber Kollege Ernst, bei den angesprochenen Regelungen zur Wochenarbeitszeit - wir
diskutieren auf der Brüsseler Ebene derzeit über
48 Stunden; diese Arbeitszeitobergrenze soll uns von der
Brüsseler Ebene vorgegeben werden - handelt es sich
schlicht um Arbeitnehmerschutzrechte. Gesundheit,
Wohlbefinden, Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers sind
von staatlicher Seite zu schützen.
({0})
Das ist etwas anderes, ein Aliud im Verhältnis zur Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es nicht um Arbeitnehmerschutz.
Beispiel: Urlaubszeit. Jede Mitbürgerin und jeder
Mitbürger braucht bei einer Vollzeitbeschäftigung eine
entsprechende Urlaubszeit, um sich wieder zu erholen
und die körperliche Fitness zu erhalten. Das ist logisch.
Das ist ein Arbeitnehmerschutzrecht. Das ist anders zu
betrachten als die Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es
darum: Wie ist die Produktivität in der Branche, an dem
Arbeitsplatz, möglicherweise in der Region? Das ist
durchaus differenziert zu betrachten. Da kann es keine
Einheitlichkeit geben.
Zu Ihrer Frage: Können die Gewerkschaften aus den
10 Euro nicht 11 Euro oder 12 Euro machen? Es besteht
das Risiko, lieber Klaus Ernst, dass tarifvertraglich vereinbarte höhere Löhne, etwa von 11 Euro oder 12 Euro,
auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden. Sie
geben den Mitbürgerinnen und Mitbürgern unter Umständen Steine statt Brot. Sie dürfen nicht glauben, dass
die Gewerkschaften auf die 10 Euro noch 1 Euro oder
2 Euro drauflegen müssen. Es kann genauso passieren,
dass bestehende tarifvertraglich vereinbarte Löhne in
Höhe von 11 Euro auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden.
Von daher: Ihr Optimismus in Ehren - ich glaube Ihnen das liebend gern; ich traue den Gewerkschaften
wahrscheinlich mehr zu als Sie -, aber das wird nicht
funktionieren, lieber Klaus Ernst. Die Arbeitszeitregelung auf der einen Seite und die Lohnhöhe auf der anderen Seite, das ist unterschiedlich zu betrachten. Die Arbeitszeit und die Lohnhöhe können in Tarifverträgen
zugunsten des Arbeitnehmers verbessert werden - da bin
ich bei Ihnen -; aber der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, der körperlichen Integrität des Arbeitnehmers
ist ein bisschen anders zu sehen als die Lohnhöhe. Da
bitte ich um Verständnis. Das wissen Sie als Gewerkschafter aber besser als ich.
Dass dies funktionieren kann, lieber Klaus Ernst - Sie
kommen aus Schweinfurt -, wissen Sie. Anfang der
Woche ist über dem Dom von Würzburg weißer Rauch
aufgestiegen. Man hat sich geeinigt. Die sogenannte
Würzburger Einigung der Friseure - unter dem Namen
mittlerweile weltbekannt - zeigt, dass die Tarifvertragsparteien hier tatsächlich eine Lösung erreichen können,
die eine Verdopplung von manchen Löhnen zur Folge
haben wird - zugegebenermaßen: erst in eineinhalb Jahren. Aber immerhin gibt es ein Ansteigen der Löhne im
Friseurgewerbe.
({1})
- Fragen Sie mich halt was, Frau Kollegin! Schreien Sie
nicht einfach dazwischen! - Ein Anstieg der Lohnhöhe
im Friseurgewerbe von 3,80 Euro oder 4,20 Euro auf zukünftig 8,50 Euro wäre, glaube ich, ein Supererfolg. Das
zeigt, was vernünftige Gewerkschaften in vernünftigen
Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite erreichen können - auch mit Erstreckung auf noch nicht tarifgebundene Unternehmen. Das Spannende bei den Friseuren ist
im Übrigen, wie das funktionieren wird, wie die sich
freiwillig bereit erklären, diese 8,50 Euro zu bezahlen.
({2})
- Ja, aber die Christlich-Liberalen haben es erreicht, lieber Herr Kollege.
({3})
Meine Damen und Herren, der richtige Weg der
Lohnfindung - ich habe bereits darauf hingewiesen sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Für den Fall,
dass eine zu geringe Tarifbindung auf Arbeitgeber- oder
auf Arbeitnehmerseite das nicht ermöglicht, hat Kollege
Kolb auf das MiArbG hingewiesen. Das funktioniert
noch nicht. Wir werden genau hinschauen müssen, wie
wir es über das MiArbG möglicherweise erreichen, die
Konditionen in den Branchen, in denen die Tarifbindung
recht schwach ist, zu verbessern.
Ich würde es begrüßen, wenn man im Einzelhandel
ähnlich wie bei den Friseuren mit vernünftigen Tarifvertragsparteien zu einer vergleichbaren positiven Lösung
im Interesse der Arbeitnehmer, aber auch im Interesse
der Branche kommen könnte. Lassen Sie uns in diesem
Sinne daran arbeiten!
Die vorgelegten Anträge sind in dieser Hinsicht nicht
zielführend. Deshalb werden wir sie - da bitte ich um
Nachsicht - samt und sonders ablehnen.
Danke schön.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte ist schon eigenartig. Hier wird zum Beispiel argumentiert, bei der Arbeitszeit müsse es einen Schutz
geben - das ist auch richtig -, aber es dürfe keinen gesetzlichen Schutz gegen Armut geben. Armut ist bekanntlich so gesund, und deswegen braucht man keinen
gesetzlichen Mindestlohn.
({0})
Dann wird hier allen Ernstes argumentiert, ein Mindestlohn von 8,50 Euro würde dazu führen, dass Löhne
auf diesen Mindestlohn gedrückt werden. Wir erleben im
Moment, dass durch den fehlenden Mindestlohn Löhne
gegen null gedrückt werden. Es ist also geradezu zwingend notwendig, dass wir hier eine Grenze ziehen.
({1})
Herr Kollege Weiß, Herr Kollege Lehrieder und die
Kollegen der FDP, ich finde es interessant, dass bei Ihnen die Tarifautonomie immer hochlebt, wenn es um den
gesetzlichen Mindestlohn oder gesetzliche Neuregelungen in diesem Bereich geht. Wir sehen doch an den genannten Beispielen, wie die Tarifautonomie durch den
gesetzlichen Rahmen beeinflusst wird. Man könnte jetzt
ausführen, wie der Druck auf die Arbeitsbedingungen
und die Tarifverträge in den letzten Jahren entstanden
ist, und zwar auch durch gesetzliche Veränderungen. Das
beste Argument haben Sie doch selber geliefert, als Sie
die Friseure nannten. Wie kommen die Friseure darauf,
zu sagen, dass es in anderthalb oder zwei Jahren einen
Mindestlohn von 8,50 Euro gibt? Genau das ist zufällig
die Forderung der SPD, der Grünen und zum Teil der
Linken.
({2})
Hier sieht man doch, wie Debatten über gesetzliche Regelungen auch Tarifverträge beeinflussen.
Ich wollte aber noch etwas anderes sagen, was in einer solchen Debatte immer untergeht. Wir alle wissen,
dass es noch anständige Arbeitgeber mit anständiger Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen gibt.
({3})
Die haben es aber immer schwerer, weil es immer mehr
Betriebe und Branchen gibt, die die Möglichkeiten der
prekären Beschäftigung und der Lohndrückerei nutzen,
zum Beispiel über befristete Verträge, Minijobs, Tarifflucht und Outsourcing. Deswegen habe ich vor einigen
Wochen gesagt: Amazon ist fast überall. Bei manchen ist
der Steuervermeidungstrieb stärker ausgeprägt als der
Sexualtrieb.
({4})
Bei manchen ist der Lohn- und Sozialdumpingtrieb stärker ausgeprägt als der Trieb zum Überleben. Der Einzelhandel ist ein Beispiel dafür. Insofern hat die Linke
recht, wenn sie dieses Thema anspricht.
Man muss auch noch einiges zum Einzelhandel sagen, um die Situation zu beschreiben. Im Einzelhandel
haben wir das Problem: immer mehr Fläche, immer längere Ladenöffnungszeiten, stagnierender privater Konsum aufgrund stagnierender Kaufkraft wegen niedriger
Löhne, ein brutaler Preiskampf und immer weniger
Beschäftigte. Dies kann doch bezogen auf die Arbeitsbedingungen nicht gut gehen. Was passiert also? Man
zimmert sich schnell einen Arbeitgeberverband, sucht
sich dann eine sogenannte christliche Gewerkschaft, genannt DHV - ich glaube, das heißt Deutscher Handlangerverband -,
({5})
und schon hat man Leiharbeitslöhne, die um 47 bzw.
44 Prozent unter dem Verdi-Tarif liegen. Gleichzeitig
bastelt man sich Dienst- und Werkverträge, um auch
noch den Mindestlohn in der Leiharbeit zu unterbieten.
Das alles geschieht unter der Überschrift „Tarifautonomie“. Oder man macht es wie Edeka und Rewe: Man
gründet immer mehr Filialen mit sogenannter Privatisierung aus. Dann hat man neben dem Tarifvertrag auch
noch den Betriebsrat vom Hals. Was ist das für ein Erfin29748
dungsreichtum! Ich wünschte mir, das Gehirnschmalz
würde darauf verwendet, etwas für die Kunden zu tun
oder es den Frauen zu ermöglichen, Erwerbsarbeit und
Familie zu vereinbaren, statt sich solchen Humbug auszudenken.
({6})
Wir brauchen andere gesetzliche Regelungen, damit so
etwas nicht Schule macht. Wir brauchen Regelungen,
wie sie in den heute vorliegenden Vorschlägen zur Arbeitnehmerüberlassung, Arbeitnehmerentsendung und
Allgemeinverbindlichkeit zu finden sind.
Zur Allgemeinverbindlichkeit, zum Thema des Antrags der SPD, muss man noch einmal deutlich machen:
Wir wollen keine Mindestlohnarbeitswelt, sondern wir
wollen allgemeinverbindliche Tarifverträge, die Leistungen und Erfahrungen honorieren, die Qualifikation und
gute Arbeit honorieren und die Aufstieg ermöglichen.
Wir wollen ein Gitter schaffen. Dieses Gitter kann man
nicht schaffen, indem sich nicht tarifgebundene Unternehmen an bestehende Tarifverträge anlehnen; denn
diese Unternehmen - wir alle wissen das - werden
sich nur die Rosinen herauspicken, also einen Tarifvertrag à la carte machen. Das kann nicht sein. Wir brauchen eine Verbindlichkeit der Tarifverträge. Ein Tarifvertrag ist geltendes Recht und muss im Zweifelsfall
auch durchgesetzt werden können.
({7})
Dann wird ein Schuh daraus; dann wird Missbrauch unterbunden, und dann wird es höhere Löhne und Einkommen geben. Das führt dann dazu, dass die Menschen,
Mann und Frau, wieder Geld haben, um im Einzelhandel
gute Preise für gute Ware zu bezahlen.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der zweiten sozialpolitischen Debatte des heutigen
Tages reden wir wieder einmal über das Thema Mindestlöhne.
({0})
- Nein, Frau Kollegin, wir haben Ihre Anträge sehr wohl
gelesen. Der Antrag der SPD beschäftigt sich aber eben
nicht nur mit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, sondern sieht auch wieder den einheitlichen
gesetzlichen Mindestlohn vor.
({1})
Ich will es Ihnen noch einmal erklären. Wir können leider in ganz Europa sehen - Guntram Schneider hat heute
Morgen das beste Beispiel dafür gegeben -, dass ein
Einheitsmindestlohn, der am Ende im Deutschen Bundestag festgelegt wird, den Einstiegschancen schadet.
Das sehen wir in Frankreich und anderen Ländern.
({2})
Ihr Sozialminister aus NRW hat sich heute Morgen hier
hingestellt und gesagt: Wir wollen eine unabhängige
Kommission; aber es müssen mindestens 8,50 Euro sein,
da fangen wir politisch an.
({3})
Das macht doch deutlich, wo Sie hinwollen. Sie wollen
politische Lohnfindung und lassen sich hier im Deutschen Bundestag von Klaus Ernst treiben. Das ist aber
falsch.
Wir wollen Tarifautonomie und Lohnfindung durch
die Tarifpartner. Das ist der bessere Weg.
({4})
Es ist richtig, dass wir diesen Weg weitergehen, dass wir
sagen: In den Branchen, in denen es Probleme gibt, kann
es Lohnuntergrenzen geben, wenn sich die Tarifpartner
darauf verständigen. Der Mindestlohn im Friseurhandwerk ist dafür das beste Beispiel.
({5})
Kollege Vogel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Gern sogar, aber eine Frage.
({0})
Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.
Sofern ich dann in Addition meiner Redezeit kurz reagieren darf, gern.
Die Uhr ist längst angehalten.
Herr Vogel, glauben Sie wirklich, dass die, die hier
für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten, die staatliche Festsetzung aller Löhne befürworten?
({0})
Wenn Sie behaupten, wir wären für die staatliche Festsetzung der Löhne, dann würde ich Sie bitten, dafür einen Beleg vorzulegen. Es geht nicht um die Festsetzung
staatlicher Löhne. Ich glaube, dass wir mit unserer Position die Tarifautonomie bei weitem mehr verteidigen als
Sie. Natürlich sind wir dafür, dass im Spiel der Kräfte, in
der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden - was allerdings starke Gewerkschaften voraussetzt, wenn dies Erfolg haben soll -,
Tariflöhne entstehen. Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Sicherung durch eine Untergrenze. Man muss
doch nicht, wenn man für einen gesetzlichen Mindestlohn ist, für festgesetzte Löhne sein. Ich weiß nicht, woher Sie diese Position haben. Ich kann nur für alle, die
ich kenne, die für einen gesetzlichen Mindestlohn sind,
sagen: Wir sind für die Tarifautonomie, aber auch für
Lohnuntergrenzen. Das ist etwas anderes.
({1})
Lieber Kollege Ernst, erstens sehen wir zum Beispiel
in Frankreich, dass der Mindestlohn sehr wohl Einfluss
auf das Tarifgeflecht hat.
({0})
- Aber keinen positiven Einfluss, Herr Ernst.
({1})
Zweitens. Wir reden hier über Untergrenzen. Die
Frage ist: Wer legt die Untergrenzen fest? Sie wollen ja
den politischen Einheitsmindestlohn
({2})
und leiten auch schon den politischen Überbietungswettbewerb ein. Man kann schon erkennen, wie die Kollegen
von SPD und Grünen mit Ihren Forderungen auf das,
was Sie von der Linkspartei als Zahlen vorgeben, reagieren. Die Frage der Lohnuntergrenze ist hochrelevant,
weil sie die Einstiegschancen von Menschen tangiert.
Deshalb sagen wir, wenn es um Lohnuntergrenzen geht:
politischer Einheitsmindestlohn, nein - tarifliche Lohnuntergrenzen, Branche für Branche differenziert, ja. Die
Friseure sind doch das beste Beispiel dafür, dass reale
Probleme mit diesem Ansatz gelöst werden können.
Das ist der bessere Weg - Kollege Kolb hat das schon
gesagt -; deshalb werden wir ihn weiter verfolgen.
({3})
In Ihren Anträgen kommt als Konglomerat so viel zusammen - leider auch viel Unsinn -, dass wir ihnen nicht
zustimmen können; sie bringen uns in dieser Frage nicht
weiter.
Ich will zum Abschluss meiner Rede - ich habe ja nur
drei Minuten - noch auf einen Punkt eingehen, den der
Kollege Barthel angesprochen hat. Herr Kollege Barthel,
Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass wir auf
den einzelnen Arbeitgeber schauen müssen. Das tun wir
ja auch. Wir reden viel darüber: Sind tarifliche Lohnuntergrenzen nicht deshalb richtig, weil es natürlich einzelne schwarze Schafe gibt? Wenn unanständig niedrige
Löhne gezahlt werden, dann ist das die richtige Antwort.
Deswegen hat diese Koalition die Festlegung mehrerer tariflicher Lohnuntergrenzen möglich gemacht.
Sie haben so schön gesagt: Wir wollen den anständigen Arbeitgeber, und wir müssen darauf achten, dass
Amazon nicht überall ist. - Das ist ein Anspruch, dem
wahrscheinlich alle hier zustimmen können. Die Frage
aber ist, lieber Kollege Barthel: Sollte man nicht persönlich mit bestem Beispiel vorangehen?
Ich fand es verblüffend oder zumindest bemerkenswert, was wir in den letzten Tagen lesen konnten, das
war ganz interessant. Uns alle erreichte wahrscheinlich
- so hoffe ich - aus dem hohen Norden die Nachricht,
dass Verdi für die Beschäftigten der SPD in SchleswigHolstein Arbeitskampfmaßnahmen angekündigt hat.
({4})
Lassen Sie mich zum Abschluss einige bemerkenswerte Sätze des Verhandlungsführers von Verdi zitieren.
({5})
„Wer alles gibt, hat mehr verdient!“:
({6})
Mit diesem Slogan wirbt die SPD in Schleswig-Holstein
für gute Arbeit und gerechte Löhne. Der Verdi-Verhandlungsführer stellt fest:
Im eigenen Hause jedoch herrschen andere Gesetzmäßigkeiten.
Das will man sich nicht mehr gefallen lassen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir
alle wollen anständige Arbeitgeber und keine schwarzen
Schafe. Aber wenn man dafür glaubwürdig politisch eintreten will, sollte man selber mit gutem Beispiel vorangehen, auch die SPD in Schleswig-Holstein.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist eine durchaus lohnenswerte und auch notwendige Debatte, die wir mit Blick auf die Bundestagswahl miteinander führen. Es geht um grundsätzliche Fragen, die sich uns Wirtschafts- und Sozialpolitikern in
diesem Land stellen.
Um den Versuch zu unternehmen, neben den vielen
Argumenten, die bereits genannt worden sind, die Debatte, die wir miteinander betreiben wollen, ein wenig
fortzusetzen: Herr Kollege Schaaf, Sie haben natürlich
völlig recht, wenn Sie sagen, dass es unsere Aufgabe als
Gesetzgeber ist, für die eine oder andere gesetzliche
Schutzfunktion zu sorgen. Das machen wir mit dem
Bundesurlaubsgesetz. Das stellt auch niemand in Frage.
Sie wissen aber genauso gut wie ich und wie wir alle,
dass es einen maßgeblichen Unterschied zwischen den
Urlaubsregelungen und den Entgeltregelungen gibt, die
alljährlich oder auch in einem längeren Zeitraum neu zu
treffen sind. Da gibt es eine ganz andere Dynamik.
Die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes stehen
fest. Es wird sicherlich das eine oder andere Mal eine
Anpassung vorgenommen; der eine oder andere Tarifvertrag wird auf den neuesten Stand gebracht, es gibt die
eine oder andere Besserstellung; denn wir müssen ja
auch auf den demografischen Wandel und die längere
Lebensarbeitszeit Rücksicht nehmen.
Bei den Entgeltbedingungen gibt es ständig den Bedarf, anzupassen: an die Produktivität, an die Inflation
oder an die spezifische Situation einer Branche oder
- wenn es ein Haustarifvertrag ist - innerhalb eines Unternehmens. Das heißt, hier muss - vielleicht nicht alljährlich, aber jedenfalls periodisch - in kurzen zeitlichen
Abständen immer wieder überprüft werden: Wie groß ist
der Kuchen, der zu verteilen ist? In welchem Umfang
verteilen wir ihn auf welche Beschäftigtengruppen? Das
findet in Deutschland in einer produktiven und auf eine
ganz tolle Art und Weise funktionierenden sozialpolitischen Auseinandersetzung statt, für die uns viele bewundern.
({0})
- Doch, das stellen Sie in Frage, wenn Sie den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden entscheidende
Möglichkeiten der Gestaltung nehmen wollen, indem
Sie per Gesetz regeln.
({1})
Ich will Ihnen etwas sagen: Schon der Begriff „Tarifautonomie“ beinhaltet Selbstbestimmung. Wenn Sie die
einschränken wollen, dann sagen Sie das auch offen.
Dann reden Sie aber in der nächsten Woche am 1. Mai
nicht mehr von Tarifautonomie, sondern dann sagen Sie
- die Linken schreibt das in ihren Antrag -: Wir wollen
ein gesetzliches System schaffen.
({2})
Wir stehen ohne Wenn und Aber dahinter, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diese Dinge alleine regeln können.
({3})
Damit ist Deutschland gut gefahren, damit sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut gefahren, und dabei
sollte es bleiben.
({4})
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Müller-Gemmeke?
Ja.
Ich habe mich die ganze Zeit zurückgehalten, aber
jetzt muss ich doch noch zwei Fragen stellen. Erstens
- aber das nur am Rande -: Sie haben schon zur Kenntnis genommen, dass wir, die Opposition, eine Kommission aus Vertretern von Arbeitgeberverbänden, der Arbeitnehmerseite und der Wissenschaft wollen, die einen
gesetzlichen Mindestlohn festsetzen und dann auch die
Anpassungen nach oben vornehmen soll?
Meine zweite Frage geht in eine andere Richtung: Sie
reden die ganze Zeit davon, dass wir Löhne und Lohngrenzen festsetzen wollen. Uns liegen jetzt aber Anträge
vor, bei denen es um etwas anderes geht. Wir haben
Gesetze wie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder das
Tarifvertragsgesetz, die klare Rahmenbedingungen dazu
enthalten, wie entweder Mindestlöhne oder Tarifverträge
allgemeinverbindlich erklärt werden können, sodass alle
unter diesen guten Bedingungen arbeiten können.
Die entsprechenden Rahmenbedingungen verändern
sich. Es gibt Tarifflucht, und wir haben eine niedrigere
Tarifbindung. Es geht jetzt darum, die genannten Gesetze und damit die Rahmenbedingungen an die Realität
anzupassen, sodass die Tarifparteien überhaupt wieder
Mindestlöhne und Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären lassen können.
Es geht um eine Stärkung der Tarifpartner. Wir wollen
gar nichts festlegen, sondern wir wollen die Tarifpartner
stärken, und zwar mit dem Ziel, dass nicht die Arbeitgeber Erfolg haben, die Tarifflucht begehen, sondern die
tariftreuen Betriebe und die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die sich wirklich noch um einheitlich gute Arbeitsbedingungen kümmern.
Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
({0})
Herzlichen Dank für die Anregung. Ich will gerne
noch einmal etwas dazu sagen. Indem Sie beginnen, einen gesetzlichen Mindestlohn festzulegen - und das
wollen Sie ja offenbar,
({0})
das soll wohl nicht infrage gestellt werden, auch wenn
die Grünen vor ihrem Bundesparteitag hier noch so manche Springprozession aufführen; wir warten einmal ab,
was sie letzten Endes beschließen -, bekommen Sie automatisch folgenden Effekt, den auch der Kollege Vogel
schon angesprochen hat: In dem Moment, in dem Sie ein
Minimalniveau festlegen, wird das Auswirkungen auf
das gesamte Tarifgefüge darüber haben. Außerdem wird
es, wenn wir uns auf eine solche Geschichte erst einmal
einlassen, selbstverständlich eine politische Debatte in
Form eines Überbietungswettbewerbes geben.
({1})
Den erleben wir bei Ihnen jetzt schon. Die Grünen
waren vor wenigen Wochen noch bei 7,50 Euro. Mittlerweile haben sie erkannt, dass die Sozialdemokraten bei
8,50 Euro sind, sie also aufholen müssen. Sie erhöhen
ihre Forderung jetzt auch auf 8,50 Euro. Wenn Sie die
Sache konsequent durchdenken, müssten Sie irgendwann die Argumentation der Linkspartei übernehmen,
({2})
die sagt: Frühestens ab einem Lohn von 10,00 Euro pro
Stunde ist man nicht mehr auf staatliche Ergänzungsleistungen angewiesen.
Wenn Sie ganz konsequent sind, werden Sie wahrscheinlich früher oder später diese Position übernehmen.
({3})
- Ich will das schon vor den Wahlen verdeutlichen, bei
denen alle wissen sollen, worum es geht.
Sie werden sich sehr schnell diesem Überbietungswettbewerb anschließen. Der Kollege Barthel hat das
selber sehr deutlich gemacht, indem er in seiner Rede
auf unternehmerische Gestaltungen bei Edeka und anderswo eingegangen ist und gesagt hat, er könne beurteilen, ob das Humbug ist oder nicht.
({4})
Das ist nicht unsere Aufgabe, Herr Kollege Barthel
und Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Unsere Aufgabe
ist es, soziale Rahmenbedingungen zu schaffen, die Armut verhindern.
({5})
In Deutschland haben wir soziale Rahmenbedingungen,
nach denen sich viele Menschen auf der ganzen Erde alle
zehn Finger lecken.
({6})
Dabei bleibt es auch; die stellen wir nicht infrage.
Außerdem wollen Sie einige Regelungen aufgrund
der von Ihnen behaupteten Tarifflucht und der aus Ihrer
Sicht nicht mehr so starken Wirkung des Tarifvertragssystems ausweiten. Anknüpfend an das, was Peter Weiß
schon gesagt hat, will ich Ihnen dazu zwei Dinge sagen:
Erstens ist es überhaupt nicht nachgewiesen, dass die
faktische Wirkung von Tarifverträgen in Deutschland
nachgelassen hat. Das völlig unabhängige IAB, auf das
Sie sich immer beziehen, hat festgestellt, dass für
80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse nach wie vor die
entsprechenden Tarifverträge maßgeblich sind. Dazu
sage ich Ihnen: Das ist gut so. Das sollte man nicht infrage stellen. Hören Sie auf, das Tarifvertragssystem in
Deutschland schlechtzureden!
({7})
Zweitens. Natürlich gibt es immer mal wieder
schwarze Schafe. Natürlich gibt es Formen von Tarifflucht und rechtsmissbräuchliche Gründungen von Arbeitgeberverbänden - das haben wir alles erlebt -; aber
wir haben auch eine Reaktion darauf erlebt - das Rechtssystem hat reagiert -: Das Bundesarbeitsgericht hat solche Vereinigungen zum Teil für rechtsunwirksam erklärt.
({8})
Das hatte zur Folge, dass entsprechende Nachzahlungen
an die Sozialkassen usw. vorzunehmen waren.
({9})
Das heißt, Sie werden nie ausschließen können, dass der
eine oder der andere eine Regelung missbraucht; aber
wir haben funktionierende Mechanismen, bis hin zum
Bundesarbeitsgericht. Das ist kein Grund, das System
insgesamt zu diskreditieren.
({10})
Damit sind wir bei den Kernfragen: Was wollen wir
im Bereich des Niedriglohnsektors machen, und was ist
der tatsächliche Grund dafür, dass sich der eine oder die
andere dort befindet? Denn das ist in der Tat nicht unbedingt wünschenswert. Wir müssen feststellen: Es verlas29752
sen mehr Menschen den Niedriglohnsektor, als Sie immer behaupten.
({11})
Das IAB hat festgestellt, dass etwa ein Viertel nach einem Jahr den Niedriglohnsektor, den Sektor des SGB-IIBezugs verlässt.
({12})
Das heißt, Wirtschaftswachstum und Stabilität des Arbeitsmarktes wirken sich auch auf Menschen in diesem
Sektor aus, und das ist gut so. Das wollen wir so fortsetzen.
({13})
Frau Müller-Gemmeke, weil Sie das abschließend
noch einmal angesprochen haben, möchte ich Ihnen vorhalten, was Ihr Parteikollege, Herr Boris Palmer, kürzlich gesagt hat - das sollten Sie sich bei der Formulierung weiterer Anträge vielleicht noch einmal vor Augen
führen; ich zitiere wörtlich -:
In der Summe machen wir damit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig, auf
die wir früher zu Recht stolz gewesen sind.
({14})
Hört! Hört!
({15})
Er sagte abschließend - dem kann ich mich auch nur anschließen -:
Ein Minijob oder eine Beschäftigung als Leiharbeiter bedeuten mehr Teilhabe an der Gesellschaft als
gar kein Job.
({16})
Mit unseren Worten: Sozial ist, was Arbeit schafft. Wir
haben für viel Arbeit in Deutschland gesorgt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/13104 und 17/13106 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 c. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/10220.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8459 mit dem Titel
„Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen - Sicherung
der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträ-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8148 mit dem Titel „Tarifsystem stabilisieren“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/4437 mit dem Titel „Tarifvertragssystem stärken -
Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifi-
sche Mindestlöhne erleichtern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Innenentwicklung in den
Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
- Drucksache 17/11468 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 17/13272 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Peter Götz-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela
Wagner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Baugesetzbuch wirklich novellieren
- Drucksachen 17/10846, 17/13272 Berichterstattung:Abgeordnete Peter GötzHans-Joachim Hacker
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
Vizepräsidentin Petra Pau
und der FDP sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Götz für die Unionsfraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die heutige Beratung freue ich mich ganz besonders. Die geplante Fortentwicklung des Bau- und Planungsrechts hat
einen längeren Entwicklungsprozess hinter sich. Als
Grundlage für die Beratungen wurden mit sieben Gemeinden Planspiele durchgeführt. Dies ist eine Praxis,
die sich in der Vergangenheit, die sich seit Jahrzehnten
beim Städtebaurecht bewährt hat. In den letzten Wochen
und Monaten gab es Zeitpunkte und Wegstrecken, bei
denen Zweifel am möglichen Abschluss dieses Projekts
aufkamen. Nun soll es aber gelingen. Es wäre ein toller
Erfolg für viele, die daran intensiv gearbeitet haben.
Ein gemeinsamer Änderungsantrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zu einem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nicht alltäglich und
deshalb besonders erwähnenswert.
Beim Baugesetzbuch ist mir persönlich und vielen
meiner Kollegen daran gelegen, notwendige Änderungen auf eine breite politische Basis zu stellen. Denn
diese Rechtsmaterie, über die wir heute abschließend beraten, ist die wesentliche Grundlage für die kommunale
Planungshoheit in Deutschland.
({0})
In den Rathäusern arbeiten viele Tausend Menschen
mit dem Baugesetzbuch. Es ist eines der wichtigsten Gesetze, das fast alle ehrenamtlichen Gemeinde- oder
Stadträte studieren, wenn sie in ihren kommunalen Gremien über Bauvorhaben befinden. Für Investoren ist es
ebenfalls von großer Bedeutung.
Die beste Grundlage für eine gute Zukunft von Städten und Gemeinden ist eine nachhaltige Stadtentwicklung. Wir wollen dafür noch bessere Voraussetzungen
schaffen und der Innenentwicklung künftig verstärkt den
Vorrang vor der Zersiedelung des Umlandes geben. Innenstädte und Ortszentren sollen wieder Kernbereich der
Stadtentwicklung werden. Sie bieten den Menschen Heimat. Urbanität, Attraktivität und Kultur stärken die Identifikation. Um die Flächeninanspruchnahme im Außenbereich zu reduzieren und eine Zersiedelung des
Umlands zu vermeiden, soll die Bebauung von Wiesen,
Äckern oder Waldflächen künftig stichhaltig begründet
werden.
Mit diesem Gesetz sollen neben der Stärkung der
Innenentwicklung kommunale Selbstverwaltung in
Deutschland und kommunale Planungshoheit weiter gefestigt und ausgebaut werden. Ich denke, dies ist in vielfältiger Form gut gelungen. So können Kommunen wieder rechtssicher Erschließungsverträge mit eigenen
Unternehmen abschließen. Ein Investitionsstau in Millionenhöhe wird damit aufgelöst.
Kindertagesstätten sind künftig in angemessener
Größe in reinen Wohngebieten generell zulässig. Die
Anzahl von Spielhallen und Vergnügungsstätten kann
auch im nicht beplanten Innenbereich besser als bisher
gesteuert werden. Ferner wird - ich nenne zusätzlich nur
eines von vielen Beispielen - die Ausübung des gesetzlichen Vorkaufsrechts der Gemeinde gegenüber Dritten
vereinfacht. Dies beschleunigt auch Investitionen in den
Städten und Gemeinden.
Für den schwierigen Komplex der Schrottimmobilien
haben wir für die Kommunen eine bessere verfassungskonforme Regelung gefunden. Verwahrloste Gebäude
können jetzt leichter rückgebaut werden. Dabei bekommen die Kommunen auch die Möglichkeit, Eigentümer
in begrenztem und vertretbarem Umfang finanziell am
Abriss zu beteiligen. Für viele Städte mit problematischen Gebieten kann diese Neuregelung das hilfreiche
Instrument sein, mit dem eine nachhaltige Aufwertung
ganzer Straßenzüge und Quartiere stattfinden kann. Das
ist auch für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Für die Aktivitäten einer klimagerechten Stadterneuerung werden ebenfalls unterstützende Änderungen vorgenommen. In einem Entschließungsantrag haben wir
die Anregungen aus dem Lebensmitteleinzelhandel aufgegriffen, die Fragen einer qualifizierten Nahversorgung
im Zusammenhang mit der ohnehin anstehenden Diskussion über eine grundsätzliche Neuordnung der Gebietstypologie der Baunutzungsverordnung zu untersuchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen sehr breiten
Raum in der öffentlichen und auch internen Diskussion
nahm die bestehende Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich ein. Die vorgenommenen Änderungen im Planungsrecht, bei der gewerblichen Tierhaltung, werden zu einer Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung und zu mehr Rechtssicherheit führen.
Ab einer bestimmten Größenordnung entscheidet künftig der Gemeinderat einer Kommune darüber, ob und wo
die Ansiedlung einer großen Tierhaltungsanlage möglich
ist. Uns war es wichtig, bei diesem sensiblen Thema eine
einvernehmliche Lösung zu entwickeln, die unserer heimischen Landwirtschaft den notwendigen Raum für eine
Weiterentwicklung lässt. Wir haben es geschafft, über
Fraktionsgrenzen hinweg in vielen Einzelfragen gute
Kompromisse zu finden. Dieser wichtige Gesetzentwurf
ertrinkt somit nicht im parteipolitischen Kleinkrieg.
Mein Dank geht - bei allen politischen Unterschieden an den Kollegen Hans-Joachim Hacker für das in einer
wahrlich nicht einfachen Gemengelage kollegiale und
konstruktive Miteinander.
({1})
In diesen Dank schließe ich selbstverständlich die vielen
Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ein, die sich
aus unterschiedlichen Bereichen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens engagiert und eingebracht haben.
Ich bedanke mich aber auch bei den Kolleginnen der anderen Fraktionen: bei Petra Müller, bei Bettina Herlitzius
und bei Heidrun Bluhm. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass wir heute mit einem überzeugenden Votum des federführenden Ausschusses die Annahme des
Gesetzentwurfes mit den vereinbarten Veränderungen
empfehlen. Ein besonderes Dankeschön sage ich abschließend Minister Peter Ramsauer und dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak Ferlemann für die konstruktive Begleitung dieses parlamentarischen
Verfahrens.
({2})
Ich bitte Sie, diesen Dank an die Mitarbeiter Ihres Ministeriums weiterzuleiten. Ich weiß sehr wohl: Wir haben es
Ihnen in den letzten Monaten nicht immer leicht gemacht.
({3})
Meine Damen und Herren, ein wichtiges innenpolitisches Gesetzgebungsverfahren findet heute einen guten
und erfolgreichen Abschluss. Ich empfehle deshalb uneingeschränkte Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege HansJoachim Hacker das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Damen und Herren auf der
Zuschauertribüne! Liebe Kommunalpolitiker in
Deutschland! Das ist heute ein guter Tag. Die heutige
zweite und dritte Lesung der Baurechtsnovelle könnte
die Überschrift tragen: „Ende gut, alles gut“. Die lange
Geschichte der Novelle des Bauplanungsrechts, die uns
die ganze 17. Legislaturperiode begleitet hat, geht heute
dem Ende entgegen.
Herr Götz, ich stimme Ihnen völlig zu: Wir haben
eine gute Tradition fortgesetzt, nämlich die, dass anzustreben ist, Änderungen im Bauplanungsrecht fraktionsübergreifend zu beschließen, wie es in der Vergangenheit
immer dann der Fall war, wenn es vernünftige Kompromisse gab. Nur dann ist das möglich. Ich denke, wir haben in vielen Punkten gute Kompromisse gefunden. Auf
einzelne Beispiele komme ich noch zu sprechen.
Hinter uns liegen 16 Monate eines zähen, harten Ringens. Daher möchte ich als Vertreter der Opposition
noch ein paar kritische Anmerkungen machen - das ist
in diesem Prozess wohl auch berechtigt -, die aber vielleicht eher als ein Appell an die Bundesregierung zu verstehen sind. Man hätte die SPD und die Opposition insgesamt bei diesen Themen eher einbinden können.
Einen Streit hätten wir uns ersparen können, Herr
Müller: In der Frage, wie weit wir an § 35 Abs. 1 Nr. 4
BauGB herangehen, gab es im Hause Aigner eine Blockadehaltung und unnötige Verzögerungen. Man hatte
den Eindruck, dass da andere Interessen als die Interessen der Allgemeinheit im Blick waren. Wie sonst kam
es, dass ein Referentenentwurf, der schon in der Öffentlichkeit war - er lag bei uns in den Fraktionen und bei
den Verbänden auf dem Tisch -, innerhalb weniger Stunden wieder einkassiert worden ist? Sie schmunzeln, Herr
Müller: Sie wissen, wer da im Hintergrund gewirkt hat.
Das wissen wir alle. Zum Glück kommen wir heute auf
einem guten Weg weiter.
Ich will unterstreichen, was Kollege Götz gesagt hat:
Die sachliche Grundlage für den Gesetzentwurf - deswegen ist ein Großteil des Gesetzentwurfs unstreitig gewesen - ist in den sogenannten Berliner Gesprächen zum
Städtebaurecht und in der Beteiligung der kommunalen
Spitzenverbände zu sehen. Das war eine gute Grundlage,
das war der richtige Weg - ein Weg, der sich in den letzten Jahren bewährt hat. Bei der nächsten Novelle - die
sicherlich irgendwann kommen wird - sollte man diese
Praxis wieder betreiben.
Ich will aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion die
Punkte ansprechen, die uns in den Beratungen ganz
wichtig waren: Die Regelung zur Intensivtierhaltung war
in dem Entwurf aus unserer Sicht nicht ausreichend.
Auch bei der Regelung zu den Schrottimmobilien bestand dringender Handlungsbedarf; über diese Thematik
waren wir mit den kommunalen Spitzenverbänden und
mit den Ländern intensiv im Gespräch. Auch im Hinblick auf Kinderbetreuungseinrichtungen waren Regelungen erforderlich.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode, Anfang 2010,
habe ich einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Der Titel lautete: „Kinderlärm - Kein Grund
zur Klage“. Die Koalitionsfraktionen haben diesen Antrag damals erwartungsgemäß abgelehnt. Nachdem wir
eine immissionsschutzrechtliche Regelung schon vor
zwei Jahren getroffen haben, werden wir hierzu heute
auch eine baurechtliche Regelung treffen. Das hätten wir
schon ein bisschen früher machen können.
({0})
Aber so ist das Spiel hier im Parlament: Das ist ein
Denkprozess. Auch in diesem Punkt sind wir nun auf einem guten Weg.
Es gibt noch ein paar kleine Kritikpunkte, auf die ich
aber heute im Sinne der Sache nicht weiter eingehen
möchte.
Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und
Herren, noch einige Punkte ganz konkret anzusprechen.
Das, was wir heute beraten und wo ich empfehle, dass
dem Änderungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDP
alle zustimmen - der Appell richtet sich vor allen Dingen an Bündnis 90/Die Grünen und an die Linke -, ist
das Ergebnis intensiver Verhandlungen.
Ganz herzlichen Dank, Peter Götz, für Ihr konstruktives Mitwirken! Die Zusammenarbeit mit den anderen
Kolleginnen und Kollegen war auch sehr vertrauensvoll.
Ganz herzlichen Dank!
({1})
Herr Ramsauer, Sie haben die SPD in dieser Legislaturperiode oft enttäuscht; aber hier haben Sie Stehvermögen bewiesen gegen Frau Aigner. Das war gut so.
Nehmen Sie das Lob ruhig an! Sie sehen, der Staatssekretär beglückwünscht Sie auch. Sie haben sich gegen
Frau Aigner und gegen die Agrarlobby durchgesetzt; das
war richtig so. Ihren Mitarbeitern - Ihren Mitarbeiterinnen natürlich auch -, die uns begleitet haben, gilt ebenso
ein herzliches Dankeschön. Das war ein kollegiales Verfahren, Herr Ferlemann. Wenn uns das in anderen Verfahren auch so begleiten würde, wäre das ein gutes Aushängeschild für den Parlamentarismus in Deutschland.
({2})
Die Problematik des § 35 Abs. 1 Nr. 4 - Anlagen zur
gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich war tatsächlich der Knackpunkt; das weiß jeder, der direkt oder indirekt damit zu tun hatte. Der Entwurf war
aus unserer Sicht, wie gesagt, eingangs nicht ausreichend. Aber der Widerstand von Frau Aigner - wo man
nicht wusste, ob sie sich auf die Seite des Verbraucherschutzes oder auf die Seite der Lobbyverbände schlägt ist überwunden worden. Im Außenbereich begrenzen
nun bereits die unteren Schwellwerte des UVP-Gesetzes
den weiteren Zubau von Großställen; sie sind Grundlage
für die Entprivilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 4, für die
Durchführung einer UVP-Prüfung - da kann man auch
Beispiele nennen -: Bei Mastgeflügel ist jetzt statt bei
85 000 Stellplätzen bei 30 000 Schluss, bei Puten - um
noch einmal ins Geflügelleben einzusteigen - statt bei
60 000 jetzt bei 15 000. So war das auch ursprünglich
vorgesehen. Wohlgemerkt, meine sehr verehrten Damen
und Herren: Bis heute, nach bisherigem Recht, gab es
überhaupt keine Begrenzung.
Wir haben auch für die Kumulierung eine Regelung
gefunden, indem wir eine Anpassung an das Umweltverträglichkeitsgesetz vorgenommen haben. Wir haben damit eine rundum abgestimmte Regelung gefunden, und
es bestehen auch keine Brüche in der Bundesgesetzgebung.
({3})
Es ist richtig, Peter Götz: Die Entscheidungsbefugnis
bezüglich der entsprechenden Anlagen wird jetzt dorthin
delegiert, wo sie hingehört, nämlich vor Ort. Die Kommunalpolitiker bekommen jetzt die Entscheidungsbefugnis, die ihnen zusteht. Auch deswegen ist das eine gute
Lösung.
Eine gute Lösung haben wir auch bei den sogenannten Schrottimmobilien gefunden. Im Regierungsentwurf
war lediglich eine Ausdehnung auf die Gebiete ohne Bebauungsplan und keine Kostentragungsregelung vorgesehen. Es gab hier in der Expertenanhörung - es war gut,
dass wir eine solche durchgeführt haben - unterschiedliche verfassungsrechtliche Bewertungen dazu, wie wir
die Kostenproblematik in den Griff bekommen können.
Am Ende wird jeder einen noch besseren Vorschlag haben. Ich glaube aber, wir haben eine verfassungssichere
Lösung gefunden, einen guten Kompromiss: Die Kommunen können die Eigentümer bis zur Höhe der durch
die Beseitigung der Immobilie erfolgten Wertsteigerung
heranziehen. Das muss ein Grundstückseigentümer gegen sich gelten lassen, der eine Immobilie verfallen lässt.
Das ist ein guter, verfassungsrechtlich sicherer Kompromiss.
Die städtebaulichen Verträge über Erschließungsmaßnahmen waren ein ganz wichtiger Punkt für die Fraktionen - ich nenne hier einmal meine eigene, die SPD -,
die ein starkes Herz für Kommunen haben. Viele SPDPolitiker sind in den Kommunen ehrenamtlich oder in
Funktionen tätig.
({4})
Gerade eine Regelung zu diesem Punkt ist von den
Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden
dringend erwartet worden. Wir alle standen hier unter einem moralischen Druck, eine Lösung zu finden. Eine
entsprechende Klarstellung ist uns gelungen. Die kommunalen Spitzenverbände, die Kommunen selber und
die Politiker haben dringend darauf gewartet. Jetzt können auch Kommunen städtebauliche Verträge über Erschließungsleistungen mit juristischen Personen abschließen. Das ist eine wichtige Klarstellung, die in der
Vergangenheit durch die Rechtsprechung ein Stück weit
ausgehöhlt worden ist und unsicher war.
({5})
Auch das ist ein gutes Ergebnis.
Ich hatte gesagt, die Summe der erreichten Kompromisse lässt es zu, dass heute alle Fraktionen ihre Zustimmung geben. Ein gutes Verhandlungsergebnis liegt auf
dem Tisch. Deswegen richte ich meinen Appell noch
einmal insbesondere an Sie, Frau Herlitzius. Sie haben
auch Vorschläge gemacht und Forderungen gestellt, die
im Änderungsantrag ihren Widerhall finden. Ich denke
hier insbesondere an das Problem der gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich auf Grundlage von
§ 35 Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch. Wenn Sie, wie auch
die Linken, dem Änderungsantrag zustimmen und damit
wichtige Punkte einer Regelung zuführen, dann können
Sie in der Konsequenz dem Gesetzentwurf doch nicht
die Zustimmung versagen.
({6})
Gleichwohl wird es keine Gegenstimmen zum Gesetzentwurf geben.
Auch das Medientheater, das von einigen Kollegen in
den letzten Tagen über Agrarzeitungen schon veranstaltet worden ist - vor allen Dingen von Kollegen, die am
Diskussionsprozess gar nicht beteiligt waren -, muss uns
nicht irritieren. Es gehört eben auch zum politischen Geschäft, Peter, dass man sich mit Lorbeeren schmückt, die
man selber nicht einmal gepflückt hat.
({7})
Es handelt sich insgesamt um eine gute Regelung.
Der Kompromiss kann sowohl in den Kommunen als
auch bei den Vertretern des Verbraucher- und Tierschutzes, aber auch - das sage ich nicht zuletzt, sondern da
gehört es zuallererst hin - vor den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes gut vertreten werden.
Ich finde, dass die parlamentarischen Beratungen und
die Ergebnisse, die wir hier heute vorgelegt haben, gute
Beispiele für die parlamentarische Arbeit im Deutschen
Bundestag sind: gegen engstirniges Denken, wo immer
es aufgetreten ist, auch gegen die Interessen von Lobbyisten, die sich einmischen und versuchen, Parlamentarier
zu vereinnahmen. Wenn dies die parlamentarische Arbeit in diesem Hause stärker prägen würde, ohne damit
politische Unterschiede zu verkleistern, dann würden
wir für unsere Arbeit noch ein Stück mehr Akzeptanz in
der Gesellschaft finden.
An die Bundesregierung richtet sich der Appell, Herr
Ramsauer, die Opposition ernst zu nehmen, uns immer
frühzeitig einzubinden und uns auf Fragen, die wir haben, ordentliche Antworten zu geben.
({8})
Diese Antworten sind manchmal kritikwürdig; das
könnte ich Ihnen seitenweise belegen.
Hier geht es um das Bauplanungsrecht. Wir haben
gute Gründe, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Für
meine Fraktion sage ich: Wir sind ein Stück weit stolz
auf das Erreichte, weil wir für bestimmte gesellschaftliche Gruppen und für Kommunen ein gutes Ergebnis erzielt haben. Noch einmal ganz herzlichen Dank all jenen,
die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben. Dir, Peter
Götz, ganz herzlichen Dank für deine Mitwirkung. Du
hast es in deiner eigenen Fraktion und mit der Landesgruppe der CSU nicht einfach gehabt.
({9})
Herr Kollege.
Dafür meine Anerkennung und alles Gute!
({0})
Petra Müller hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Verabschiedung der zweiten Novelle
des Baugesetzbuchs gehen wir einen großen und bedeutenden Schritt hin zu einem modernen, nachhaltigen und
zukunftsorientierten Stadtbaurecht. Ich glaube, das ist
die wichtige Botschaft des Tages. Ich will mit dieser
Rede aber nicht gleich schon enden, nachdem die Kollegen uns das bereits so ausführlich erklärt haben.
Was ganz wichtig war - das möchte ich auch noch
einmal betonen -: Wir sind diesen Schritt gemeinsam
gegangen. Wir haben Kompromisse geschlossen und Lösungen gefunden, und das nicht nur in diesem Hohen
Hause, in den Ausschüssen, sondern auch in Gesprächen
mit den Fachverbänden - auch das sei noch einmal erwähnt -, mit der Wohnungswirtschaft, mit den Kommunalverbänden, mit den Ländern. Wir haben Planspiele in
den Kommunen durchgeführt. Wir haben uns fraktionsübergreifend verständigt.
Der Dank der FDP-Bundestagsfraktion geht daher
erst einmal an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen hier
in diesem Hohen Hause, an den Minister Dr. Peter
Ramsauer, an die Staatssekretäre, an die Vertreter der
Länder, an die Verbandsvertreter und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BMVBS. Sie mussten für uns
teilweise über das Wochenende neue Entwürfe erstellen.
Nichtsdestotrotz: Wir haben 16 Monate gebraucht. Vielen Dank Ihnen allen!
({0})
Ich denke, wir alle können mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sehr zufrieden sein. Er stärkt die kommunale
Selbstverwaltung für die Städte und Gemeinden. Er
schafft Rechtssicherheit in vielen Fragen - ich glaube,
das ist ein ganz wichtiger Punkt - und, das freut die FDP
besonders, gibt ein wichtiges Signal an Investoren.
In der Kürze der Zeit möchte ich einige Punkte herausgreifen, die uns besonders wichtig sind, aber zuvor
nicht vergessen, die Inhalte, die dieses Gesetz ausmachen, und die damit verbundenen Ziele aufzugreifen: die
Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich,
die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen
- auch ein ganz wichtiger Punkt in diesem Gesetz -, die
Regelungen zur besseren Steuerung der Ansiedlung von
Vergnügungsstätten durch die Kommunen - dazu gab es
auch einmal einen Antrag der Grünen, nicht wahr? -, die
Erweiterung der Vorkaufsrechte der Gemeinden zugunsten Dritter.
Erlauben Sie mir, zu zwei Punkten zu kommen, die
ich näher erklären möchte.
Es gibt zum einen die Regelung für die sogenannten
Schrottimmobilien in § 179 Baugesetzbuch. Die Änderung dieser Vorschrift kommt vielen Händlern, Kaufleuten und Besitzern von Immobilien in Innenstädten zugute. Denn diese Schrottimmobilien verpesten ihr
Umfeld. Sie entwerten dieses Umfeld. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, über den wir nachher abstimmen,
regelt das Rückbaugebot auch außerhalb eines Bebauungsplanes. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Er regelt
Petra Müller ({1})
aber noch etwas: Er regelt die finanzielle Beteiligung der
Immobilienbesitzer. Denn wenn sie beim Rückbau einer
Schrottimmobilie einen Gewinn machen, dann werden
sie von den Kommunen künftig mit zur Kasse gebeten.
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch im
Hinblick auf die Eigenständigkeit der Städte und Gemeinden.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Lösung, die
ich Ihnen gerade vorgestellt habe, ausdrücklich, weil sie
im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates verfassungstreu und gerecht ist.
({2})
Aber diese Regelung gibt den Kommunen noch mehr:
Sie gibt ihnen Handlungsfähigkeit, sie entlastet sie finanziell, wie ich eben ausgeführt habe, und sie sichert
sie rechtlich ab. Das Ergebnis wird wachsende Attraktivität von Städten und Gemeinden sein. Das ist doch genau das, was wir alle wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Punkt:
Mit der Änderung der Erhaltungssatzung in § 172
BauGB stellen wir uns, die FDP-Bundestagsfraktion und
auch die christlich-liberale Koalition, an die Seite der
Wohnungswirtschaft und der Immobilienbesitzer. Hier
geht es um die Erhaltung und die Sanierung von Immobilien. Regelungswut und moralische Entrüstung erreichten ja in den letzten Monaten Höchststände; ich
nenne die Stichworte „Luxussanierung“ und „Genehmigungsverbote“ und das Beispiel des Pankower Bürgermeisters, der eine Milieuschutzsatzung erlassen hat. Was
hat er damit erreicht?
({3})
- Das mag sein. - Er hat unter anderem erreicht, dass
nicht energetisch saniert werden kann. Genau um diesen
Punkt haben wir uns gekümmert. Es wurde ein Genehmigungsanspruch geschaffen, der dem Vermieter erlaubt, bauliche Maßnahmen zu ergreifen, die dem Mindestmaß der EnEV entsprechen.
({4})
Damit wird einem sinnlosen Handeln einiger Bürgermeister nicht nur im Berliner Bereich der Riegel vorgeschoben. Ich glaube, auch dies ist eine ganz wichtige
Botschaft dieser Gesetzesnovelle.
({5})
Mit der im BauGB getroffenen Regelung haben wir einem wichtigen Anliegen, der Stärkung der Innenstädte,
Rechnung getragen.
Ziel der schwarz-gelben Koalition war es auch, die
Neuinanspruchnahme von Flächen einzudämmen. Flächenverbrauch auf der grünen Wiese wird jetzt weitestgehend vermieden. Auch dies ist ein wichtiger Punkt,
der in diesem Gesetz gelungen ist.
({6})
Ich habe eben schon darauf hingewiesen: 16 Monate
Verhandlungen. Das macht deutlich, dass wir es uns
nicht leicht gemacht haben. Es macht aber auch deutlich,
welch hohen Stellenwert dieses Baugesetzbuch fraktionsübergreifend hat. Es ist eine gute Tradition - Peter
Götz und Kollege Hacker haben es eben gesagt -, dass
insbesondere solche Regelungen für Städte und Gemeinden im Konsens getroffen werden, weil sie von großer
Wichtigkeit sind. Ich hoffe, dass diese Tradition bei der
nächsten Baugesetzbuchnovelle, die natürlich erst in
zehn Jahren kommen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch weiterhin in diesem Haus Bestand haben wird.
Ich danke allen Beteiligten und bedanke mich auch
für Ihre Aufmerksamkeit. - Vielen Dank.
({7})
Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Baugesetzbuch ist die gesetzliche Grundlage für alles, was in Deutschland geplant und gebaut wird. Es ist
nicht nur die Fibel für den planenden und bauenden Berufsstand sowie die Genehmigungsbehörden der Kommunen, nein, was wir hier alles zu regeln haben, hat auch
Auswirkungen auf das Leben der Menschen, also auch
auf die Nutzer des Gebauten, sowie auf die Umwelt.
Konkret untersetzt wird das Baugesetzbuch durch
länderspezifische Landesbauordnungen, um den regionalen Besonderheiten an dieser Stelle auch gerecht zu
werden. Somit ist nicht nur der Bund, sondern sind auch
die einzelnen Bundesländer in besonderer Planungsverantwortung für ihre Regionen. Die allgemeingültigen
Standards aber für das Bauen werden durch das Baugesetzbuch für alle vorgegeben. Diese Standards sind von
Zeit zu Zeit zu überprüfen, sie sind den sich entwickelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.
Das wollen wir mit der heute hier zu verabschiedenden
Novelle erreichen.
Dabei dürfen wir nicht nur den Wünschen derer nachgeben, die bauen wollen, sondern müssen auch immer
eine Güterabwägung hinsichtlich der Umwelt und derjenigen vornehmen, die mit dem Gebauten täglich leben
sollen und die auch ertragen müssen, was gebaut ist. Vor
allem aber müssen wir die gesamtgesellschaftlichen
Ziele im Auge haben, auf die wir uns alle gemeinsam
mehrheitlich verständigt haben. Aus dieser Betrachtung
heraus sagt auch die Linke: Ja, wir haben mit den vorliegenden Änderungen des Baugesetzbuchs den notwendigen Änderungsbedarf erfasst.
Herr Götz hat gestern im Ausschuss gesagt, Qualität
gehe vor Geschwindigkeit. Er hat damit gemeint, dass
wir etwas länger gebraucht haben, um zu diesem gemeinsamen Kompromiss zu kommen. Auch von mir
deshalb an dieser Stelle ein Lob für das Bemühen, die
Opposition auf den Weg zu dieser Novelle, zu diesem
Entwurf, mitzunehmen. Umfangreicher kann ich wegen
der Redezeit meinen Dank nicht ausfallen lassen.
({0})
Ja, wir haben bei vielen Fragen einen Konsens gefunden, so zum Beispiel beim Vorrang der Innenentwicklung vor der Bebauung des Außenbereichs.
Wir haben den Kommunen einen Umgang mit sogenannten Schrottimmobilien ermöglicht, ihnen die baurechtliche Planungskompetenz erleichtert und vor allem
strittige Paragrafen so konkretisiert, dass sie jetzt nicht
mehr vor Gericht ausgeurteilt werden müssen. Auch die
längst überfällige Klärung zum Bau und zu dem Betrieb
von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten ist hier
schon angesprochen worden. Auch dieser Punkt ist in
der Vorlage aufgegriffen worden; das loben wir.
Was aber eine wirklich revolutionäre Leistung dieser
Novelle des Baugesetzbuches für uns ist, ist, dass wir explizit die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen
in einer ganz neuen Qualität festgeschrieben haben. Das
ist etwas Neues. Das ist sicherlich für uns alle ein wichtiger Moment.
({1})
Selbst auf die vieldiskutierte Frage nach Ausmaß und
Größe industrieller Tierhaltung wird mit dieser Novelle
eine Antwort in die richtige Richtung gewiesen, wenn
auch die Massentierhaltung in Deutschland damit noch
nicht vom Tisch ist. Diesem Vorschlag hat sogar der
Landwirtschaftsausschuss zugestimmt.
Noch einmal zu Herrn Götz. Er hat sich bei allen
Fraktionen für den gefundenen Konsens bedankt. Dazu
sage ich: Bitte schön, Herr Götz, das ist gern geschehen.
Ich sage aber auch: Wir haben zu vielen Fragen einen
Konsens gefunden, weil sich alle bewegt haben. Leider
ist Ihnen das in einer für uns sehr wichtigen und wesentlichen Frage nicht gelungen. Deshalb können wir uns bei
der heutigen Abstimmung über die Novelle leider nur
der Stimme enthalten.
({2})
Mit unserem Antrag „Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln“ haben wir seinerzeit beantragt, die von Deutschland unterzeichnete UN-Konvention zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen
auch im Baugesetzbuch sicherzustellen. Diesen Antrag
haben Sie abgelehnt; das sind wir allerdings gewohnt.
Aber Sie hätten jetzt bei der vorliegenden Novelle die
Gelegenheit gehabt, diese selbstverpflichtende Konvention aufzunehmen. Mit dem Hinweis, dass das in den
Landesbauordnungen geregelt werden kann, haben Sie
unsere Bitte abgetan. Damit entziehen Sie sich leider der
Verwirklichung des Grundrechts auf Barrierefreiheit auf
Bundesebene und überlassen das dem Ermessen der
Länder.
Sie entziehen sich der Verpflichtung, die Rechte und
Belange älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung in angemessener Weise zu sichern, und bleiben
ihnen damit gleichberechtigte Teilhabe deutschlandweit
schuldig. Sie entziehen sich der Pflicht, bei Bau- und
Infrastrukturvorhaben deren Barrierefreiheit oder Barrierearmut sicherzustellen, und schließen somit einen
wachsenden Teil unserer Menschen aus. Diese Menschen teilhaben zu lassen, ist jedoch grundlegende Aufgabe eines Sozialstaates. Das haben Sie verpasst - leider.
({3})
Aber bei der nächsten Novelle - Frau Müller, da widerspreche ich Ihnen; sie wird nicht zehn Jahre dauern werden wir dieses Ziel weiter verfolgen.
({4})
Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister
Dr. Peter Ramsauer.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich persönlich könnte beinahe sagen: Das ist
für mich heute eine wirkliche Wohlfühldebatte,
({0})
wie sie selten vorkommt. Ich kann mich kaum an eine solche Debatte in meinen 23 Jahren im Deutschen Bundestag
erinnern. Dazu gehört auch die Feststellung, lieber Herr
Kollege Hacker - das ist quasi eine Selbstverpflichtung
für uns -, dass wir seitens der Bundesregierung natürlich
alle Ihre Fragen immer vollumfänglich beantworten werden,
({1})
sofern Ihre Fragen zur Beantwortung geeignet sind.
({2})
Meine Damen und Herren, es geht uns im Kern bei
diesem Gesetz, wie es der Titel des Gesetzes auch besagt, um die Stärkung der Innenentwicklung unserer
Städte und Gemeinden. In Anbetracht der kommunalen
Entwicklung in ganz Deutschland - das kann ich aus jahrelanger Erfahrung in der Kommunalpolitik sagen - sowie dessen, was sich in den letzten zehn Jahren im Außenbereich getan hat, müssen wir alles dafür tun, dass
sich unsere Ortskerne strukturell so entwickeln, dass
auch das soziale Herz, das kulturelle Herz eines Ortes im
innerörtlichen Bereich weiter schlagen kann, sich hier
also das wirkliche Leben eines Ortes abspielen kann;
denn das soziale und kulturelle Leben sowie Geschäftigkeit und Lebendigkeit eines Ortes kann man nicht an Autobahnausfahrten oder auf die grüne Wiese verlagern.
Das ist ein wichtiges Kernanliegen.
({3})
Der Kollege Franz-Josef Holzenkamp wird gleich
noch die Punkte im Detail beleuchten, die die Landwirtschaft betreffen. Nur so viel: Wir haben auch zwei wichtige Anliegen der Landwirtschaft aufgegriffen. So sind
wir der in immer stärkerem Maße erhobenen Forderung
des Deutschen Bauernverbandes nachgekommen, den
zusätzlichen Flächenverbrauch außerhalb der Orte, also
die vielen Hektar, die täglich in unterschiedlicher Weise
in Anspruch genommen werden, zu reduzieren, indem
wir den Kommunen mehr Möglichkeiten der baulichen
Gestaltung der Innenstädte - ich nenne als Stichworte
„Schrottimmobilien“ und „Verdichtung“ - gegeben haben.
Als ich als 24-Jähriger zum ersten Mal in den Stadtrat
meiner Heimatstadt gewählt wurde, habe ich mir schon
damals gedacht, welch fürchterliche Hürden und Hindernisse beim flexiblen Bauen im Außenbereich das Baurecht für die insbesondere für landwirtschaftliche Familien existenzielle Entwicklung bereithält. Ich war immer
überzeugt: Wenn wir den Strukturwandel in der Landwirtschaft zulassen und ihn den landwirtschaftlichen Familien - so weit gehe ich mit meiner Aussage - zumuten, dann müssen wir diesen Familien aber auch im
landeskulturellen Interesse die baurechtlichen Möglichkeiten geben, ihre landwirtschaftlichen Anwesen ordentlich zu erhalten und ihre familiären Existenzen zu
sichern.
({4})
Das bedeutet oft, eine Umnutzung zur Existenzerhaltung
zu ermöglichen. Genau diesen Weg gehen wir. In
Zukunft werden wir es erleichtern, landwirtschaftliche
Anwesen anders zu nutzen, wenn in etwa die Kubatur
und das Äußere eines Gehöfts erhalten bleiben; denn
landwirtschaftliche Anwesen prägen das Gesicht unseres
Landes und sind identitätsstiftendes Merkmal unserer
deutschen Kulturlandschaften in all ihren Ausprägungen.
({5})
Nachdem der Kollege Peter Götz zu erkennen gegeben hat, dass er dem nächsten Deutschen Bundestag
nicht mehr angehören wird, dir, lieber Peter Götz, von
mir persönlich und auch im Namen der Bundesregierung
ein herzliches Dankeschön oder - wie wir im Süden sagen - „Vergelt’s Gott“ für deine großartige Arbeit.
({6})
Ich kann mich gut erinnern: Als wir vor 23 Jahren gemeinsam in den Deutschen Bundestag einzogen, warst
du schon das kommunalpolitische und baurechtliche
Herz und Gewissen unserer Fraktion. Dass wir heute in
zweiter und dritter Lesung dieses schwierige Werk über
alle Fraktionsgrenzen hinweg abschließen können, ist
neben dem Verdienst der bereits Genannten vor allen
Dingen dein großartiges Verdienst. Dafür herzlichen
Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt Bettina Herlitzius für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie kennen mich auch schon ein paar Jahre. Insofern erwarten Sie, glaube ich, jetzt von mir nicht, dass
ich in diesen schwarz-rot-gelben Honeymoon einstimme.
({0})
Ich muss leider noch einmal ein Jahr zurückblicken. Vor
gut einem Jahr haben Sie uns einen Gesetzentwurf zum
Baugesetzbuch vorgelegt, der wirklich grottenschlecht
war.
({1})
Wir haben damals lange darüber debattiert. Seitdem ist
sehr viel Zeit vergangen. Je näher wir aber der Bundestagswahl kommen, desto mehr wird Ihnen klar, dass Sie
mit einem solch schlechten Gesetzentwurf nicht an die
Öffentlichkeit gehen können.
Auf unser Drängen und unsere guten Anträge hin haben Sie in einigen Punkten nachgebessert.
({2})
Jetzt gibt es endlich eine Klarstellung zur Zulässigkeit
von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten.
({3})
Auch sollen nun die Besitzer an den Kosten für den Abriss von Schrottimmobilien beteiligt werden. Das war
vor einem halben Jahr für die FDP noch undenkbar.
({4})
Zur Massentierhaltung hatte der Kabinettsentwurf
eine reine Augenwischerei vorgesehen. Mit dem aktuellen Änderungsantrag wird nun erstmals ein wirkungsvoller Ansatz gewählt. Doch der Durchbruch ist das noch
lange nicht.
({5})
Den Durchbruch würden Sie erreichen, wenn Sie unserem entsprechenden Entschließungsantrag zustimmen
würden. Darin wird deutlich, was wichtig ist und worauf
es ankommt. Unter dem falschen Deckmantel der bäuerlichen Landwirtschaft bleiben weiterhin zahlreiche
Riesenställe in Mecklenburg und in Brandenburg privi29760
legiert. Die Haltung von 85 000 Hähnchen in einem Stall
ist nach wie vor möglich. Unter bäuerlicher Landwirtschaft verstehen wir Grüne etwas anderes, Herr Minister.
({6})
Wir haben heute schon viel Lob über das Verfahren
gehört. Sie sind stolz auf die Beteiligung der Kommunen
im Planspiel und die umfangreiche Verbändeanhörung.
Doch echte Beteiligung sieht anders aus, Herr Götz, Frau
Müller.
({7})
Beteiligen ist nicht nur einladen. Zum Beteiligen gehört
auch das Zuhören. Haben Sie die Proteste der Verbände
gegen den Ersatzneubau im Außenbereich wahrgenommen?
({8})
Alles das, was der Herr Minister gerade als identitätsstiftende Baukultur bezeichnet hat, haben die Verbände abgelehnt.
({9})
Vom Bundesrat über den Naturschutzbund bis hin zum
Bauernverband - selten waren sich Experten bei einem
Thema im Baugesetzbuch so einig: Der Ersatzneubau im
Außenbereich, den Sie vorschlagen, fördert die Zersiedlung; der Ersatzneubau im Außenbereich gefährdet erhaltenswerte Bausubstanz, die identitätsstiftende Baukultur kann zerstört werden; und der Ersatzneubau im
Außenbereich ist ein Privatwunsch des Ministers, ein
Geschenk an seinen Wahlkreis.
({10})
Eine solche privat motivierte Gesetzesänderung habe ich
hier in diesem Hause noch nicht erlebt.
({11})
So etwas hat in der Baugesetzbuchnovelle nichts zu suchen. Das sind politische Geschenke, die uns alle in Verruf bringen. Die Neuregelung zum Ersatzneubau gehört
ersatzlos gestrichen.
({12})
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir dem
Gesetz nicht zustimmen. Es bleiben zu viele Punkte offen. Mit der Novelle wird eine große Chance vertan. Die
Gemeinden brauchen dringend Instrumente zur qualitativen Innenentwicklung. Dazu müssen Mietobergrenzen
- ich erinnere an die Debatte hier in Berlin - für Sanierungs- und Milieuschutzgebiete wieder zugelassen werden. Damit können Bewohner vor Verdrängung aus ihrem Stadtviertel geschützt werden. Das ist ein richtiger,
ein wichtiger Baustein für eine attraktive Städte- und
Gemeindepolitik.
In der letzten Baugesetzbuchnovelle haben Sie ursprünglich ein bemerkenswertes Instrument vorgeschlagen: Sanierungsgebiete für den Klimaschutz. Das ist ein
so grünes Instrument, grüner geht es gar nicht. Damit
könnte man die neuen Instrumente der Bundesförderung
und die bewährten Instrumente der Städtebauförderung
gemeinsam für einen sinnvollen Klimaschutz in den
Kommunen verwenden. Dieser Ansatz war sehr innovativ, aber Sie haben ihn buchstäblich in letzter Minute auf
Drängen der Lobbyisten wieder zurückgezogen.
({13})
Wer macht bei Ihnen eigentlich die Politik? Haus &
Grund?
({14})
Dabei brauchen die Kommunen bei der energetischen
Neuausrichtung unserer Städte und Gemeinden dringend
unsere Unterstützung. Aber Sie lassen sie im Städtebaurecht im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen.
Ein weiteres Thema, das Sie in Ihrem Koalitionsvertrag groß angekündigt haben, ist die Baunutzungsverordnung. Aber daraus ist nichts geworden. Papier ist geduldig, auch das Papier von Koalitionsverträgen. Das, was
Sie uns vorlegen, ist Stückwerk. Sie fordern eine Studie
zum Einzelhandel. Dabei wird das der Thematik nicht
gerecht. Damit beruhigen Sie höchstens die Einzelhandelslobby. Doch die Debatte zur Baunutzungsverordnung darf nicht auf diesen Teilaspekt reduziert werden.
Wir brauchen eine zeitgemäße Baunutzungsverordnung,
die nicht mehr auf den Leitbildern der 60er-Jahre beruht.
({15})
Insgesamt sind wir von der Novelle enttäuscht. Bei
der Innenentwicklung der Städte und beim Schutz der
kleinen Städte und Gemeinden vor Agrarfabriken gibt es
noch viel zu tun.
Auch wenn Sie mit Ihrem Änderungsantrag
Frau Kollegin.
- einen Satz noch? -, den wir unterstützen, einiges
korrigiert haben, so haben Sie mit dieser Novelle - wie
bei vielen anderen Novellen, die Sie in letzter Zeit vorgelegt haben - eine Chance einfach verstreichen lassen.
Frau Kollegin.
Nachhaltige grüne Stadtpolitik sieht anders aus.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Franz-Josef Holzenkamp.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch für mich
ist die heutige Debatte ein absolut freudiger Anlass. Es
geht richtig friedlich und sachlich zu. Das ist nicht unbedingt Tagesgeschäft. Ich freue mich insbesondere deshalb, weil es gelungen ist - trotz Vorwahlkampfzeit,
wenn man das so sagen darf -, die gute Tradition, eine
Novellierung im großen Konsens durchzuführen - die
wir gerade beim Baugesetz immer gepflegt haben -,
fortzusetzen. Das ist gut für unser Land, das ist gut für
die Planungssicherheit vor Ort, sorgt für mehr Gestaltungsfreiheit für unsere Kommunen und letztlich auch
für mehr Investitionssicherheit für unsere Wirtschaft.
Auch von mir ein herzliches Dankeschön an alle
Beteiligten, an alle Berichterstatter, an alle, die da mitgewirkt haben - insbesondere an das Ministerium, an
Bundesminister Peter Ramsauer, aber auch an Enak
Ferlemann als Staatssekretär. Herr Bundesminister, Sie
sind heute ja fast schon seliggesprochen worden,
({0})
aber in diesem Fall haben Sie es auch wirklich verdient,
oder?
({1})
Das meine ich jedenfalls.
Die Landwirtschaft ist von dieser Novelle in besonderem Maße betroffen. Deshalb möchte ich auf ein paar
Punkte eingehen.
Zunächst einmal möchte ich kurz etwas zum Thema
Flächenverbrauch sagen. Peter Ramsauer hat das angesprochen: Wir verbrauchen in Deutschland immer noch
80 bis 90 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche pro
Tag. Unser Ziel ist es, den Flächenverbrauch zu reduzieren.
({2})
Um dies hinzubekommen, bedarf es vieler Stellschrauben. Eine Stellschraube nutzen wir mit dem Baugesetzbuch, weil wir die Kommunen verpflichten, genauer zu
prüfen, ob zunächst nicht Flächen innerhalb der Kommune - Stichwort „Innenentwicklung“ - bebaut werden
können, bevor man in den Außenbereich geht.
Des Weiteren müssen die Kommunen künftig die
agrarstrukturellen Belange bei den Kompensationsmaßnahmen stärker berücksichtigen.
Zusammenfassend kann man also sagen: Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Das ist der richtige
Weg, vor allen Dingen angesichts der demografischen
Entwicklung in unserem Land.
({3})
Damit ist das Flächenproblem natürlich noch nicht
komplett gelöst - das ist richtig -, aber es ist ein guter
Schritt nach vorn.
Ein Hinweis ist mir noch wichtig, weil ich manchmal
darauf angesprochen werde oder es mir vorgehalten
wird: Dies ist nicht gegen den Naturschutz gerichtet,
sondern wir wollen den Naturschutz qualitativ verbessern. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten - insbesondere mit Geldersatzleistungen.
Ich will auch noch einmal das Thema Umnutzungen
unterstreichen. Peter Ramsauer hat auch das angesprochen, und ich bin dem Minister sehr dankbar dafür, dass
er sich hier eingesetzt und engagiert hat. Wir können bei
dem stattfindenden Strukturwandel im ländlichen Raum
mehr machen. Das bedeutet mehr Erhalt von Gebäudesubstanz und mehr Vielfalt im ländlichen Raum. Das ist
gut für den Erhalt unserer Dörfer.
({4})
Bei den Biogasanlagen haben wir mehr Flexibilisierung ermöglicht. Künftig kann, und zwar ohne Überschreitung der zulässigen Jahresmenge, der Strom dann
produziert werden, wenn er tatsächlich gebraucht wird.
Das ist wieder ein kleiner Schritt in Richtung mehr Effizienz, und deshalb ist es ein guter Schritt.
Meine Damen und Herren, ich will auch auf das
Thema Privilegierung eingehen. Um es vorwegzunehmen: Ich denke, es ist gelungen, einen vernünftigen
Kompromiss zu finden. Einerseits haben die Kommunen
mehr Steuerungsmöglichkeit. Sie können künftig einfacher entscheiden, ob größere Ställe zu den örtlichen
Strukturen passen oder nicht. Andererseits geht es darum
- das ist uns im Sinne der Landwirtschaft ein besonderes
Anliegen -, dass man kleine, flächenarme Betriebe
schützt.
Jetzt komme ich zu Ihrem Entschließungsantrag. Ich
finde, Sie müssen neu überlegen; da sollten Sie noch einmal tiefer einsteigen.
Voraussetzung für eine Privilegierung soll sein - das
schlagen Sie beispielsweise vor -: 50 Prozent des Futters
muss selbst angebaut worden sein. Das klingt wunderbar. Aber ein Landwirt kann das Futter dann beispielsweise nicht mehr vom Nachbarn kaufen; er muss es
selbst anbauen.
({5})
Was bedeutet dieser Zwang gerade für kleinere, flächenärmere Betriebe? Sie verlieren ihren Schutz, ihre
Privilegierung. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht
zu Ende gedacht. Wenn man das weiterspinnt, führt das
zum Schluss zurück zum Großgrundbesitzertum. Ich
denke, wir alle wollen eine solche Entwicklung in unserem Land nicht.
({6})
Was passiert, wenn dem kleineren Landwirt eine
Pachtfläche gekündigt wird? Der Pachtanteil in Deutschland beträgt bis zu 70 Prozent; es ist also ein sehr hoher
Pachtanteil. Wenn Pachtflächen gekündigt werden, verliert der Landwirt seine Privilegierung, und dann fällt er
auch als kleinerer Landwirt automatisch in die Gewerblichkeit.
Da wollen wir einen Schutz erreichen. Deshalb haben
wir diesen Kompromiss gemacht. Das war eine lange
Diskussion.
Wir wollen den Strukturwandel nicht zusätzlich anfeuern. Sie haben die Megaställe insbesondere in Ostdeutschland angeführt.
Herr Kollege.
Auch heute gibt es da schon Steuerungsmöglichkeiten. Ich kenne das aus meiner Region, wo schon seit
über zehn Jahren gesteuert wird. Wenn man will, dann
geht das, meine Damen und Herren. Wir haben ein gutes
Verhandlungsergebnis erzielt.
Herr Kollege.
„Kompromiss“ heißt „Es bewegen sich alle“. Es haben sich alle bewegt. Vielen Dank dafür! Ich bitte um
breite Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden
und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/13272, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/11468 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen will, der möge das
mit dem Handzeichen deklarieren. - Die Gegenstim-
men? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen; alle übrigen haben zugestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, möge sich bitte erheben. - Die Gegenstim-
men? - Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Zunächst Abstimmung über den Entschließungsan-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/13281. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch CDU/
CSU, FDP und Linke angenommen. Gegenstimmen gab
es keine. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13282. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Die Gegenstimmen? - Die
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linke
haben zugestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/13272 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10846
mit dem Titel „Baugesetzbuch wirklich novellieren“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke gestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthal-
ten.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c so-
wie Zusatzpunkt 8 auf:
9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine bewaffneten Drohnen für die Bundes-
wehr - Internationale Rüstungskontrolle von
bewaffneten unbemannten Systemen voran-
bringen
- Drucksache 17/13235 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Beschaffung unbemannter Systeme
überprüfen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung
({3}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({4})
Stand und Perspektiven der militärischen
Nutzung unbemannter Systeme
- Drucksachen 17/9414, 17/6904, 17/11083 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Reinhard BrandlDr. Hans-Peter BartelsRainer ErdelPaul Schäfer ({5})-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({7}), Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen für
die Bundeswehr
- Drucksachen 17/12437, 17/12725 Berichterstattung:Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({8})Rainer ArnoldRainer ErdelPaul Schäfer ({9})Agnes Brugger
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für eine umfassende Debatte zum Thema
Kampfdrohnen
- Drucksache 17/13192 Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.
Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Brugger für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuss hat gemeinsam ein Gutachten zu
„Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme“ initiiert. Die Gutachter kamen zu
dem Ergebnis, dass wesentliche ethische, menschen- und
völkerrechtliche Fragen in Bezug auf den Einsatz bewaffneter unbemannter Systeme zu prüfen und zu diskutieren sind. Diese Schlussfolgerungen haben wir in unserem ersten Antrag vom April 2012 aufgegriffen. In den
Ausschussberatungen haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sehr deutlich gemacht, dass Sie
diese Prüfung nicht wollen. Das halten wir für falsch.
({0})
Ein Aspekt, der bisher in der Diskussion um bewaffnete
Drohnen zu kurz kommt, ist die absehbare technologische
Entwicklung. Viele Experten halten eine zunehmende Automatisierung dieser Systeme für zwangsläufig. Die Debatte aus den Militärkreisen in den USA weist auch genau in diese Richtung. Deshalb müssen wir in weiser
Voraussicht dafür sorgen, dass die Entscheidung über
den Einsatz militärischer Gewalt beim Menschen verbleibt und nicht auf ein autonom agierendes System
übertragen wird. Wir müssen uns auf internationaler
Ebene für die Ächtung autonomer bewaffneter Systeme
einsetzen.
({1})
Auch im Hinblick auf diese erschreckende Vorstellung, dass bald Programme und nicht Menschen über
den Einsatz von Waffengewalt entscheiden, wäre ein
deutscher Einstieg in die bewaffnete Drohnentechnologie alles andere als unproblematisch.
Aber auch die jetzt verfügbaren bewaffneten Drohnen
sind nicht einfach eine Variante eines bereits bestehenden Systems. Bewaffnete Drohnen stellen eine technologische Entwicklung dar, die den Einsatz militärischer
Gewalt und die Kriegsführung ganz erheblich verändert.
Das hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die politischen Entscheidungen über ihren Einsatz. Mit der Ansicht, es würde keine Rolle spielen, ob wir über die Entsendung von Soldaten oder von Maschinen abstimmen,
macht man es sich zu leicht. Dort, wo bewaffnete Drohnen heute mehrheitlich eingesetzt werden, nämlich für
die sogenannten gezielten Tötungen durch die USA, erleben wir doch gerade eine Aushöhlung des Völker- und
Menschenrechts.
({2})
In einer Untersuchung dieser höchstumstrittenen Praxis kommt der UN-Sonderberichterstatter Alston zu dem
Ergebnis, dass zwischen der Technologie und der Entscheidung über die gezielten Tötungen ein Zusammenhang
besteht. Die Möglichkeit des risikoärmeren Tötens verleite
politische Entscheider, die rechtlichen Regelungen über
den Einsatz militärischer Gewalt zu weit auszulegen. Mit
anderen Worten: Die Verfügbarkeit bewaffneter Drohnen
befördert das Risiko, dass die Hemmschwelle zum Einsatz von militärischer Gewalt sinkt. Das sollte und darf
man nicht einfach ignorieren.
({3})
Die Behauptung, das könne uns mit unserer Tradition
der demokratischen Kontrolle nicht passieren, ist leichtgläubig. Oder wollen Sie behaupten, politische Kontrolle
sei den USA fremd? Natürlich wäre die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr auch ein Signal
für andere Staaten. Wir müssen doch nicht erst in die Geschichtsbücher schauen, um uns klarzumachen: Wenn
man sich nicht rechtzeitig um Regelungen und Begrenzungen für eine neue Waffentechnologie bemüht, son29764
dern dieser blind hinterherrennt, dann feuert man den
gleichen Beschaffungsdrang auch bei anderen an. Die
Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, die Gefahr einer
neuen Aufrüstungsspirale, ist deshalb nicht kleinzureden, sondern ernst zu nehmen.
({4})
Mit diesen und weiteren Fragen haben wir Grüne uns
sehr intensiv auseinandergesetzt. Ein Mitglied der
Unionsfraktion ließ dagegen Ende März verlauten, dass
aus den eigenen Reihen niemand mehr auf eine Entscheidung vor den Wahlen drängen werde. Dieser anonyme Abgeordnete ließ sich bei tagesschau.de mit den
Worten zitieren: „Das würde uns“ - also der Union - „im
Wahlkampf auf die Füße fallen“; das Thema sei wegen
der völkerrechtlichen Diskussion emotional zu stark besetzt.
Wenig später erschien die Ankündigung de Maizières
in den Medien, dass eine Entscheidung erst nach der
Bundestagswahl fallen werde. Meine Damen und Herren, das ist doch nichts anderes als ein durchsichtiges
Wahlkampfmanöver.
({5})
Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des
Drohneneinsatzes, nicht zuletzt durch die USA, mit den
Risiken einer neuen Aufrüstungsdynamik, mit dem Risiko
der Automatisierung und der sinkenden Hemmschwelle
bei der Entscheidung über den Einsatz von militärischer
Gewalt lässt für uns Grüne nur einen Schluss zu. Mit unserem zweiten Antrag fordern wir deshalb, auf die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr zu
verzichten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Das ist nicht demokratisch, was Sie hier auf der Besuchertribüne tun. Setzen Sie sich bitte hin, und folgen Sie
einfach der Diskussion.
Ich bitte Sie, die Besuchertribüne zu verlassen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie bereits vor einigen Wochen diskutieren
wir auch heute das Thema „Kampfdrohnen für die Bundeswehr“. Anlass ist übrigens nicht eine konkrete Beschaffungsanfrage der Bundeswehr, sondern sind zwei
Anträge, einer von der SPD und einer von den Grünen.
In beiden Anträgen finden Sie die Forderung, dass eine
gesellschaftliche Debatte zum Thema Kampfdrohnen
geführt werden muss. Da kann ich nur sagen: Herzlichen
Glückwunsch! Wie immer radeln Sie der Regierung hinterher; denn diese Debatte läuft bereits. Es war der Verteidigungsminister de Maizière, der schon vor Monaten
diese Debatte eröffnet hat. Damals wurde er übrigens
auch von Ihnen kritisiert. Weil inzwischen auch Sie die
Debatte wollen, sollten Sie ihm heute danken, dass er
diese in Gang gebracht hat.
Der Unterschied zwischen den Anträgen ist, dass die
SPD auf der einen Seite tatsächlich ein Für und ein Wider diskutieren möchte, während die Grünen auf der anderen Seite eine Debatte führen wollen, in der nur die
Gründe für ein Nein diskutiert werden sollen.
({0})
Das sieht man an der Überschrift „Keine bewaffneten
Drohnen für die Bundeswehr“. Das sieht man im Text an
der Formulierung, dass es „eine breite Debatte über die
damit verbundenen Risiken geben“ muss. Typisch für
die Grünen!
({1})
Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Chancen
und die Möglichkeiten zu beleuchten. Durch ein Auflisten von vermeintlichen Gefahren, von zum Teil konstruierten oder nichtexistenten Risiken versuchen Sie, den
Teufel an die Regierungswand zu malen. „Hauptsache
verhindern“ ist auch bei dieser Debatte einmal mehr Ihr
Motto.
({2})
Natürlich gibt es wie bei jedem Waffensystem Nachteile. Die wollen wir auch nicht unter den Teppich kehren.
({3})
Unter bestimmten Umständen Gewalt gegen andere einsetzen zu müssen, muss immer völkerrechtlich legitimiert und ethisch abgewogen sein.
({4})
Ich fordere Sie nur auf, Herr Ströbele, diese Debatte
sachlich zu führen. Es geht nicht darum, ob wir in Zukunft an völkerrechtswidrigen Einsätzen teilnehmen
oder nicht. Um Völkerrecht zu brechen, brauchen Sie
keine Drohne. Jedes Waffensystem kann völkerrechtswidrig eingesetzt werden.
({5})
Es geht auch nicht um einen Einsatz von vollautomatisierten Systemen, die völlig autonom agieren, bei denen die Software die Entscheidung trifft, wann oder wo
geschossen wird. Unterlassen Sie diese Täuschungsversuche! Lassen Sie uns sachlich über dieses Thema diskutieren.
({6})
- Ja, ich beginne damit. - Ein Argument ist Ihr Vorwurf,
mit einer Beschaffung von Kampfdrohnen würde
Deutschland eine Rüstungsspirale lostreten.
({7})
Da muss ich Ihnen ehrlich sagen: Das ist ein bisschen
naiv;
({8})
denn die weltweite Entwicklung und Produktion läuft
bereits. Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, ob
wir diese Technologie in Europa selbst beherrschen oder
ob wir uns im Zweifel von anderen abhängig machen
wollen.
({9})
Ein anderer Vorwurf von Ihnen: Kampfdrohnen sorgen dafür, dass die Hemmschwelle zum Einsatz militärischer Gewalt bei unseren Soldaten sinkt. - Schon heute
steht der Soldat meistens nicht mehr Face to Face seinem
Gegner gegenüber. Schon heute ist meistens ein Bildschirm dazwischen. Ich sehe nicht, dass dies dazu geführt hat, dass unsere Soldaten verantwortungslos handeln. Im Gegenteil: Unsere Soldaten machen in den
Einsätzen einen sehr verantwortungsbewussten Job. Daran wird eine Drohne nichts ändern. Hören Sie auf, unsere Soldaten in ein so schlechtes Licht zu stellen! Das
haben sie wirklich nicht verdient.
({10})
Ihr nächster Vorwurf lautet - auch meine Vorrednerin
hat ihn ins Feld geführt -,
({11})
dass die Zurückhaltung bei politischen Entscheidungen
über Militäreinsätze durch den Einsatz von Drohnen aufgeweicht werden könnte, sprich: Wir könnten im Bundestag leichtfertiger über Mandate entscheiden, weil es
Drohnen gibt. Ich muss ehrlich sagen: Es scheint fast so,
als wollten Sie sich durch ein Beschaffungsverbot in Bezug auf Drohnen vor sich selbst schützen, weil dann kein
Soldat mehr da wäre, hinter dem man sich verstecken
kann.
Natürlich ist die Gefährdung der eigenen Truppe ein
wichtiger Faktor, aber genauso wichtig sind die Faktoren
Völkerrecht, Verhältnismäßigkeit, Ethik und andere. Ich
habe großes Vertrauen in die Mehrheit dieses Hauses,
dass wir auch in Zukunft Auslandseinsätze wohlüberlegt
beschließen oder auch nicht beschließen werden.
Lassen Sie mich abschließend festhalten. Erstens.
Auch wenn es nicht um eine eilige Entscheidung geht:
Ich stehe grundsätzlich einer Beschaffung bewaffneter
Kampfdrohnen als zusätzliche Fähigkeit für unsere Bundeswehr positiv gegenüber;
({12})
denn sie schützen unsere Soldaten im Einsatz, sie senken
das Risiko für unsere Piloten, und sie ermöglichen in
vielen Situationen einen schnelleren, flexibleren und
präziseren Einsatz.
Zweitens. Es war richtig, dass der Minister das
Thema vor Monaten zur Diskussion gestellt hat und dass
wir diese Debatten führen.
Drittens. Diese Diskussion hat im Übrigen inzwischen dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerung
für eine Beschaffung und einen Einsatz im Notfall ist.
Das zeigt eine aktuelle forsa-Studie, die Sie unter anderem auf Spiegel Online nachlesen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die SPD-Fraktion gebe ich jetzt dem Kollegen
Dr. Hans-Peter Bartels das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich stelle fest: Sie haben aufgrund massiven öffentlichen Drucks, auch von uns Sozialdemokraten, hier in der letzten Plenardebatte, entschieden, jetzt
nicht über eine Beschaffung von Kampfdrohnen zu entscheiden. Sie stellen das zurück. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Wir hatten Sie vor Schnellschüssen gewarnt. Ihr Koalitionspartner hat kluge Fragen gestellt, die es zu beantworten gilt. Selbst Ihre eigene Unionsfraktion hat nachvollziehbar keine Neigung, ein paar Wochen vor der
Bundestagswahl eine umstrittene Eilentscheidung über
die Beschaffung dieser oder jener ausländischen Waffe
zu treffen. Es gibt überhaupt keinen Zeitdruck, eine Debatte über bewaffnungsfähige, unbemannte Luftfahrzeuge zu führen.
({0})
Es gibt keinen Zeitdruck, weil es keine Fähigkeitslücke gibt: nicht in der NATO, nicht in der EU und nicht
in der Bundeswehr. Es gibt keinen Zeitdruck; lassen Sie
sich das auch nicht von der Industrie einreden - nicht
schon wieder über den Tisch ziehen lassen!
Wir haben Zeit für eine vernünftige Debatte, eine Debatte über ethische Fragen: Sind Kampfdrohnen ethisch
neutral? Sind sie wirklich vergleichbar mit Pfeil und Bo29766
gen, wie der Minister gespottet hat? Wie blockiert man
international den technischen Trend hin zu autonomen
Systemen, bei denen kein Mensch mehr entscheidet?
({1})
Wie verhindern wir gegebenenfalls eine völkerrechtswidrige Praxis?
({2})
Und wie bekommen wir dieses Thema auf die Tagesordnung der Rüstungskontrolldiplomatie? Darüber müssen
wir reden, bevor hier Beschaffungsvorlagen geschrieben
werden.
({3})
Das Motto „Dabei sein ist alles“ ist hier als olympische Weisheit nicht zu gebrauchen. Wir sind auch gespannt auf die Antworten der Regierung auf unsere
Große Anfrage zu Kampfdrohnen, die seit einem halben
Jahr im Verteidigungsministerium liegt.
Eine Frage will ich heute näher betrachten: Was können eigentlich bewaffnete Drohnen, was herkömmliche
Waffensysteme nicht können? Keine Sorge, meine Antwort lautet nicht: nichts. Es gibt etwas, was moderne
Kampfdrohnen wie Predator, Reaper und auch Heron TP
besser können als andere Waffen:
({4})
Mit diesen Apparaten kann man zielgenau einzelne Personen töten, ohne dafür eigenes Personal in die Nähe der
Zielperson bringen zu müssen. Sie können das zu einem
beliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort tun, in einem beliebigen Land, in einem scheinbar rechtsfreien
Raum.
In einer gewissen Weise ähnelt diese Einsatzart des
Waffensystems dem Einsatz von Sondereinsatzkommandos der Polizei oder militärischen Spezialkommandos
bzw. den Geschichten, die man manchmal von Geheimdiensten hört, mit dem Unterschied, dass Polizisten,
KSK-Soldaten oder Geheimagenten niemanden, den sie
gefunden haben, gleich einfach töten dürfen. Sie versuchen vielmehr, den mutmaßlichen Übeltäter gefangen zu
nehmen. Das kann man mit einer bewaffneten Drohne
natürlich nicht. Man kann nur beobachten und gegebenenfalls zielgenau töten - in der US-Terminologie Targeted Killing genannt.
Aber auch in den USA gelten diese Missionen inzwischen als umstritten. Es darf nämlich nicht darum gehen,
wie es auf den Kaffeebechern im Andenkenshop von
Guantánamo steht, den Bösen Böses zu tun. Es geht darum, das Böse zu stoppen. Dafür dürfen wir die Prinzipien unserer freiheitlichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht aufgeben, auch nicht teilweise. Wir leben
nicht im permanenten Notstand.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen uns das
Gesetz des Handelns nicht von Terroristen diktieren lassen. Das CIA-Kampfdrohnenszenario kommt für uns in
Deutschland nicht infrage.
({6})
Wenn das aber der wichtigste Anwendungsfall ist, für
den bewaffnete Drohnen in der Realität heute überwiegend gebraucht werden, dann brauchen wir sie nicht dafür nicht.
({7})
Da wir uns in der Ablehnung der gezielten Tötung
mittels Kampfdrohnen hier im Hause vermutlich parteiübergreifend vollständig einig sind, bleibt die Frage, für
welchen Anwendungsfall die Bundesregierung dann
glaubt bewaffnete Drohnen anschaffen zu sollen. Minister de Maizière erwähnte die Möglichkeit des Schutzes
von NATO-Patrouillen mit deutscher Beteiligung in Afghanistan.
({8})
Eine Drohne kann den Konvoi lange begleiten, das Umfeld laufend aufklären und, wenn feindliche Kräfte aus
dem Hinterhalt schießen, diese aus der Luft sofort wirksam bekämpfen.
Das hört sich erst einmal plausibel an. Die Amerikaner haben Dutzende von Kampfdrohnen in Afghanistan,
auch im Norden, stationiert. NATO-Konvois sind permanent auf den gefährlichen Straßen dort unterwegs. Ich
habe die Bundesregierung gefragt, wie oft es denn vorkommt, dass US-Drohnen eingreifen, wenn deutsche
Kräfte beteiligt sind. Die Antwort, die ich bekam, lautet:
In den zwölf Jahren der deutschen Präsenz in Afghanistan ist das genau zweimal vorgekommen.
Im Übrigen gelten für jedes Wirken aus der Luft im
NATO-Rahmen die NATO-Einsatzregeln, die wir ja
im Kunduz-Untersuchungsausschuss besonders intensiv
kennengelernt haben. Das sind aus guten Gründen für
Drohnen die gleichen restriktiven Regeln wie für Jagdbomber oder Kampfhubschrauber, die in Afghanistan zu
dem gleichen Zweck - Aufklärung und Wirken aus der
Luft - auch eingesetzt werden.
({9})
Ich will nicht für alle Zeit ausschließen, dass es sinnvolle Einsatzaufgaben für diese neuen Waffensysteme
geben mag.
({10})
Die beiden eben von mir beschriebenen Anwendungsbereiche jedenfalls drängen uns nicht zu einer eiligen
Beschaffung.
({11})
Völlig unbestritten ist dagegen, dass wir unbemannte
Aufklärungssysteme dringend brauchen. Heron 1 in AfDr. Hans-Peter Bartels
ghanistan ist sehr nützlich. Eine Verlängerung des Mietvertrages werden wir unterstützen.
Eine echte Fähigkeitslücke ist bei der signalerfassenden Aufklärung, SIGINT, dringend zu schließen. Seit
Jahren sind die Bréguet-Atlantique-Flugzeuge außer
Dienst gestellt. Der Euro-Hawk sollte mit etwas Zeitverzug die Lücke füllen. Jetzt hören wir von der Bundesregierung, dass er vielleicht niemals für die Luftwaffe
fliegen wird. Das erste Exemplar steht seit zwei Jahren
in Manching und bereitet Kummer.
Bis zum Ende dieses Haushaltsjahres wird uns das
Euro-Hawk-Abenteuer 688 Millionen Euro gekostet haben. Es gibt keine Zulassung, keine Dokumentation,
keine Zertifizierung und keinen Flugbetrieb. Außerdem
stellt man in den USA möglicherweise die Produktion
des zugrunde liegenden Global Hawk ein.
Dieses Programm, Herr Minister, ist ein Desaster.
Über eine halbe Milliarde Euro für nichts! Wieso hat bis
heute niemand die Reißleine gezogen?
Herr Minister, ich sage Ihnen: Die Zukunft dieses
Drohnenprojekts ist möglicherweise doch noch einmal
ein bemanntes Flugzeug.
Schönen Dank.
({12})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde es gut, dass unsere Kollegen von der
Opposition darauf bestehen, dass wir eine Debatte über
die Einführung eines neuen technologischen Systems bei
der Bundeswehr führen.
Nur, ich habe Ihr Debattenverhalten beobachtet: Als
der Kollege Hahn von unserem Koalitionspartner seine
Argumente vorgetragen hat - ganz unstreitig gehört zu
einer Debatte das Vortragen kontroverser Argumente -,
haben einige Kollegen von Ihnen weder die Geduld noch
die Höflichkeit besessen, ihm genau zuzuhören, sondern
sie haben das, was der Kollege Hahn hier vorgetragen
hat, in Bausch und Bogen abgelehnt und als nicht relevant bezeichnet. Wenn Sie hier im Hause über dieses
Thema debattieren wollen, dann gehört eine gewisse
Form der Debattenkultur dazu.
({0})
- Verehrte Frau Kollegin, ich habe hinreichend Redezeit,
um noch das vorzutragen, was ich hier heute zu diesem
Thema sagen möchte. Im Übrigen führen wir diese
Debatte in diesem Hause nicht zum ersten Mal. Wir be-
schäftigen uns schon seit einiger Zeit mit dieser wichti-
gen Thematik.
Erster Punkt. Ich denke, völlig unbestritten ist, dass
der Einsatz von unbemannter Technologie in dem zurzeit
längsten und gefährlichsten Einsatz unserer Soldatinnen
und Soldaten eine notwendige Fähigkeit ist, um den
Schutz unser Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen.
Zweiter Punkt. Sie versuchen seit geraumer Zeit - das
adressiere ich insbesondere an einige Kollegen von der
Fraktion der Grünen -, die Situation in Amerika völlig
undifferenziert eins zu eins auf die Bundesrepublik
Deutschland zu übertragen. Aber das wird Ihnen nicht
gelingen, weil die Bundesregierung a) so etwas nicht
darf und b) dieses Thema nicht ansteht. Hören Sie auf,
die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen, indem Sie
hier sagen, dass wir an der Schwelle zum Targeted
Killing stehen. Sie wissen, dass die Verfassung das verbietet, dass das Gesetz das verbietet und auch der politische Wille dieses Hauses.
({1})
Jetzt komme ich zu einem in diesem Zusammenhang
ganz wichtigen Punkt: Die Entscheidung über die Beschaffung - das gilt für alle Beschaffungsvorschläge des
Bundesministeriums der Verteidigung - fällt nicht der
Minister, sondern das Parlament und die dafür zuständigen Ausschüsse.
({2})
In diesem Rahmen werden alle notwendigen Debatten
geführt.
Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen - das
haben wir oft genug wiederholt -: Wir brauchen eine
saubere sicherheitspolitische Begründung. Wir wollen
wissen, was man mit diesem System in Bezug auf die
Fähigkeit „Close Air Support“, also Luftnahunterstützung, tun kann, was man mit bereits vorhandenen
Systemen nicht tun kann. Das sind Dinge, die die Bundesregierung im Vorfeld einer Entscheidung selbstverständlich darlegen muss.
({3})
- Herr Kollege Ströbele, hören Sie doch einfach einmal
zu! Sie können sich zu Wort melden und eine Frage stellen. Dann kann man über alles diskutieren.
Eigentlich geht es hier um Folgendes - diesbezüglich
sind wir vielleicht viel näher zusammen, als diese Diskussion den Eindruck erweckt -: Selbstverständlich werden wir uns auf internationaler Ebene darum bemühen
müssen, dass es klare Normen und Regeln für den Einsatz von unbemannter Technologie in Kampfzonen gibt.
Ich betone: in Kampfzonen. Hier haben wir zurzeit ein
erhebliches Defizit, weil die Definition nicht klar ist:
Wer ist in asymmetrischen Szenarien Kombattant? Wer
ist Angreifer? Wer ist als legitimes Ziel im Sinne des
Völkerrechts zu identifizieren?
Dazu höre ich von Ihnen keine Vorschläge. Ich sehe
auch nicht, dass Sie versuchen, der Öffentlichkeit auch
die andere Seite der Medaille näherzubringen. Sie sagen
zwar, dass Zivilisten umgebracht werden und dass das
schrecklich ist. Aber ich höre von Ihnen nie, dass al29768
Qaida, Taliban, Tahrik-i-Taliban und wie sie alle heißen
genau das Gleiche tun und unschuldige Menschen töten.
({4})
Jetzt kommen wir zu dem Punkt, um den es geht: Was
ist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft? Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es, dafür zu
sorgen - das betrifft auch die Bundesrepublik Deutschland -, dass klar definiert wird, wer Gegner ist; auch unsere Soldatinnen und Soldaten müssen das wissen. Denn
auch sie brauchen Klarheit über die Dinge, die von ihnen
in asymmetrischen Konflikten erwartet werden. Hier
gibt es Defizite.
Frau Hoff?
Ja, bitte?
Herr Nouripour würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne, Kollege Omid Nouripour. Aber ich würde
den Gedanken gerne erst zu Ende führen.
Wenn wir uns dieses Themas gemeinsam annehmen
- ich glaube, dass die Bundesregierung hier noch mehr
Druck machen kann, als das in der Vergangenheit der
Fall war -, dann haben wir auch die Möglichkeit, uns auf
internationaler Ebene auf Standards zu einigen.
Aber eines ist klar - ich sage es noch einmal -: Jetzt
steht keine Beschaffungsentscheidung für ein bewaffnetes unbemanntes System an. Es gibt keine Anfrage an
wen auch immer hinsichtlich der Beschaffung eines bewaffneten unbemannten Systems.
({0})
Wenn eine Entscheidung hier ansteht, wird die Bundesregierung erklären müssen, was sie mit diesem System
tun will. Last, but not least wird dieses Parlament dann
darüber entscheiden. - Jetzt möchte ich die Zwischenfrage des Kollegen Nouripour zulassen.
Herr Nouripour, bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. - Verehrte Kollegin, Sie
haben am Anfang angemahnt, dass wir eine sachliche
Debatte führen sollen. Ich teile diese Auffassung. Aber
Sie haben hier etwas wider besseres Wissen gesagt. Davon gehe ich jedenfalls aus.
Es gab hier viele Debatten zum Thema Afghanistan,
und im Ausschuss haben wir Woche für Woche auch
über die Zahl der zivilen Opfer geredet, die natürlich in
der Mehrzahl von Aufständischen verursacht werden;
darüber sprechen wir hier im Plenum, und darüber sprechen wir im Ausschuss. 90 Prozent derjenigen, die in
Afghanistan getötet werden, werden von den Aufständischen getötet. Deshalb ist dieser Einsatz ja auch damals
von diesem Hohen Hause beschlossen worden.
Natürlich ist es sinnvoll, dass wir eine ganz andere
Anspruchshaltung gegenüber unseren eigenen Truppen
haben. Wir müssen natürlich versuchen, die Zahl ziviler
Opfer so weit wie möglich zu reduzieren bzw. dafür zu
sorgen, dass es keine gibt. Finden Sie, dass es ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte ist, wenn Sie uns
vorwerfen, dass wir nur über diese 10 Prozent der zivilen
Opfer reden würden, die nicht von Aufständischen getötet werden?
Herr Kollege Nouripour, wenn Sie sich an meine
Ausführungen erinnern, wissen Sie, dass ich von einigen
Kollegen Ihrer Fraktion gesprochen habe. Ich nehme Sie
ausdrücklich aus.
({0})
- Der junge Mann, der vor Ihnen sitzt - Kollege
Ströbele.
Wir haben oft erlebt, dass unseren Streitkräften permanent unterstellt wird, dass sie sozusagen in einem illegitimen Kampf Zivilisten töten.
({1})
Das entspricht weder der Wahrheit noch wird dadurch
anerkannt, welchen Anteil die Taliban, al-Qaida und andere Kämpfer an dieser Situation haben.
Ich wünsche mir wirklich sehr, an dieser Stelle auch
einmal einen Vorschlag von Ihrer Seite vorgelegt zu bekommen, der aufzeigt, wie man mit dem Problem von
asymmetrischer Kriegsführung umgeht. Man kann über
alles diskutieren. Aktuell wird mit dem Finger immer
nur auf die regulären Streitkräfte gezeigt. Dies habe ich
in dieser Debatte häufig genug erlebt. Das ist meine
Meinung. Sie haben eine andere Meinung.
({2})
Ich glaube, ich habe Ihre Frage damit beantwortet.
Frau Hoff, Sie hätten die Gelegenheit, Ihre Redezeit
weiter zu verlängern, indem Sie die Frage von Frau Zapf
zulassen. Möchten Sie das?
Mit Rücksicht auf die anderen Kollegen, auch auf die
Kollegen, die hier noch zu anderen Tagesordnungspunkten einen Redebeitrag vortragen möchten, möchte ich
die letzten Sekunden meiner Redezeit für ein paar abschließende Sätze nutzen.
({0})
Kollege Nouripour, ich höre gerne, dass Sie zu einer
Versachlichung der Diskussion beitragen wollen. Dies
ist auch dringend geboten. Denn wir müssen unseren
Soldatinnen und Soldaten erklären, warum wir das, was
von dem Minister vorgeschlagen worden ist, nämlich ein
solches System ausschließlich zum Schutz der eigenen
Soldaten zu beschaffen,
({1})
jetzt nicht tun. Aber hören Sie doch auf, uns eine
Debatte über die Anwendung dieser Technologie aufzuzwingen, die in Deutschland de jure ausgeschlossen ist.
Wenn Sie das tun, dann kann man über alles reden.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Zapf.
Herzlichen Dank. - Liebe Kollegin Hoff, ich hätte Ihnen ja gerne eine Zwischenfrage gestellt. Jetzt frage ich
im Rahmen einer Kurzintervention, ob eine Debatte, die
hier im Deutschen Bundestag schon oft geführt worden
ist, in einer solch merkwürdigen Konstellation stattfinden muss.
({0})
Sie müssten genauso wie die CDU/CSU und alle
anderen Fraktionen wissen, dass wir schon zwei Expertenanhörungen zu dem Thema im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
durchgeführt haben und dass es eine Große Anfrage der
SPD zu diesem Thema gibt, die leider noch nicht beantwortet wurde. Es gab im Unterausschuss die Verabredung, dass wir, wenn diese Anfrage beantwortet ist
- dies ist uns jetzt für Mai signalisiert -, eine öffentliche
Veranstaltung durchführen, bei der wir transparent über
das Für und Gegen solcher Anschaffungen diskutieren.
Ich habe im Moment das Gefühl, dass der völkerrechtliche Aspekt, obwohl er immer wieder betont wird,
nicht klar ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist
überhaupt nicht klar - das hat der Kollege Bartels gerade
erwähnt -, welche Szenarien notwendig sind, um solches
Gerät anzuschaffen. Frau Kollegin Hoff, eine Antwort
auf die Frage, ob man einer asymmetrischen Bedrohung
ausgerechnet mit unbemannten bewaffneten Drohnen
beikommt, würde ich gerne auch einmal von Experten
hören.
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich in Großbritannien gerade verschiedene Initiativen bilden, die sich insbesondere für die völkerrechtliche Ächtung automatisierter Drohnen einsetzen. Auch diese Unterscheidung
ist wichtig. Darüber sollten wir hier im Deutschen
Bundestag tiefgehend diskutieren. Ich fordere alle auf,
die Anhörung noch in dieser Legislaturperiode durchzuführen.
Danke sehr.
({1})
Bevor sich Frau Hoff entscheidet, ob und wie sie antwortet, gebe ich zu einer zweiten Kurzintervention dem
Kollegen Ströbele das Wort.
Frau Kollegin, ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie dem Gedanken der Anschaffung von
Killerdrohnen - ich nenne sie ganz bewusst so, weil das
auch die Amerikaner tun - das Wort reden, mit der Begründung, es gebe eine asymmetrische Kriegsführung
und wir müssten mit den Aufständischen gleichziehen.
Ich sage Ihnen: Sie haben recht. Damit stellen wir uns
auf eine Stufe mit denen, die die alliierten Soldaten in
Afghanistan mit Bombenanschlägen und aus Hinterhalten bekämpfen.
({0})
Dann sollten wir darüber auch nicht mehr die Nase
rümpfen und von gemeinen, hinterhältigen Anschlägen
reden. Denn worin besteht der Unterschied zwischen einem hinterhältigen Anschlag mit einem irgendwo auf
der Straße deponierten Sprengkörper und einer lautlos
operierenden Drohne? Die Folgen für die Menschen sind
identisch.
({1})
Nur dann, wenn man keine Killerdrohnen verwendet,
kann man verhindern, dass sie zu solchen Zwecken gebraucht oder missbraucht werden, wie es die USA fast
täglich - nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, im Jemen und in Somalia - tun. Deutschland darf
das auf gar keinen Fall tun.
({2})
Frau Hoff, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Ströbele, Sie sind Jurist und wissen, dass es im Kriegsvölkerrecht den Begriff des legitimen Ziels gibt.
({0})
- Jetzt bin ich dran, Herr Kollege; ich habe Ihnen doch
auch zugehört.
({1})
In dem Moment, in dem erkennbar ein Angriff stattfin-
det, wissen wir also, dass auch unsere Soldatinnen und
Soldaten darauf reagieren dürfen.
Den Begriff „Killerdrohne“ habe ich übrigens nicht
verwendet. Zudem kann ich mich nicht daran erinnern,
mich in dem Zusammenhang, den Sie skizziert haben,
für den Einsatz einer solchen Technologie ausgespro-
chen zu haben. Vielmehr habe ich gesagt: Wenn der
Bundesminister der Verteidigung einen Schutz unserer
Soldatinnen und Soldaten in einem ganz besonderen
Einsatzsegment durch die neue Technologie für notwen-
dig hält, nämlich bei der Luftnahunterstützung - „Close
Air Support“ ist der gängige Begriff -, dann muss er die
Gründe darlegen.
Wir müssen uns dann die Frage stellen: Können wir
unsere Ziele auch durch Verwendung anderer Systeme
erreichen? Wenn diese Frage verneint werden muss, sehe
ich, was dieses Szenario - und nur dieses Szenario -
angeht, keinen Grund, warum nicht auf dieses System
zurückgegriffen werden sollte. Das heißt aber auch, dass
im Rahmen der sicherheitspolitischen Begründung, die
das Plenum des Deutschen Bundestages schon mehrfach
gefordert hat, auch deutlich gemacht werden muss, wo-
für diese Waffensysteme nicht eingesetzt werden sollen.
Auch für uns Parlamentarier, für die politischen Ent-
scheider, muss vollkommen klar sein, um was es geht.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bundesminister
der Verteidigung a) dies tun wird und b) selbstverständlich jederzeit in der Lage ist, dies zu begründen.
Frau Kollegin Zapf, eine Anhörung ist sicherlich
sinnvoll; aber das sind Sachen, die entscheiden wir nicht
hier. Sie sagten, Sie wollen, dass im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung darüber diskutiert wird. Deswegen möchte ich die Bemerkung machen: Viel mehr
Öffentlichkeit als im Deutschen Bundestag kann man eigentlich nicht herstellen. Die Debatte, die in diesem Moment stattfindet, findet in der Öffentlichkeit statt. Das ist
gut so, das ist richtig so, das war explizit auch von der
Bundesregierung so gewollt. Fragen, die aus Ihrer Sicht
möglicherweise unbeantwortet geblieben sind, können
selbstverständlich in einer solchen Anhörung zur Sprache kommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die
Diskussion an irgendeiner Stelle verhindert würde; diesen Vorwurf kann ich jetzt nicht nachvollziehen.
Noch einmal - ich wiederhole das an dieser Stelle explizit -: Mir sind wichtig: eine sicherheitspolitische Begründung, eine klare Beschreibung der Fähigkeiten und
des Wofür, eine klare Beschreibung, warum man das
Ziel mit anderen Systemen nicht erreichen kann, und
eine klare Beschreibung dessen, was mit dem System
eben nicht gemacht werden soll. Ich glaube, dass wir unter Beachtung dieser vier Punkte durchaus auch im Sinne
des Schutzes unserer Soldaten dann, wenn es notwendig
ist, darüber entscheiden können.
({2})
Jetzt hat der Kollege Jan van Aken das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Welcome to the drone zone! Frau Hoff, Sie haben den Einsatz von Kampfdrohnen in Ihrer Rede eben gerechtfertigt mit dem Argument: Wenn die uns umbringen, wie
soll man dann anders reagieren?
({0})
Das ist das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ein
Mord für einen Mord. Dafür sollten Sie sich schämen!
({1})
Hier sind sehr viele gute Argumente gegen Kampfdrohnen genannt worden, zum Beispiel dass damit natürlich ein neues Wettrüsten ausgelöst wird. Es ist schon
peinlich, Herr Hahn, wenn Sie sagen: „Wieso Wettrüsten? Das beschaffen doch eh schon alle.“
({2})
Sie haben das Prinzip einer Rüstungskontrolle nicht verstanden. Rüstungskontrolle funktioniert nicht so, dass
sich alle eine bestimmte Waffe anschaffen und danach in
Abrüstungsverhandlungen eintreten. Rüstungskontrolle
funktioniert so, dass - um von vornherein zu verhindern,
dass ein Wettrüsten entsteht - diese Waffe gar nicht erst
angeschafft wird.
({3})
Ein zweites Argument: Es besteht die drängende Gefahr, dass die Entwicklung direkt weitergeht hin zu vollautonomen Kampfdrohnen bzw. Kampfrobotern; dass
Maschinen ganz allein über Leben und Tod entscheiden.
({4})
Ich finde, das ist eine grauenvolle Vorstellung. Das allein
reicht als Ablehnungsgrund.
Drittens. Eine Verletzung des Völkerrechts durch den
Einsatz von Kampfdrohnen findet heute schon jeden Tag
statt: durch die USA. Auch deswegen lehnen wir diese
Kampfdrohnen ab.
Viertens - das ist für mich ein ganz entscheidender
Grund - droht durch diese Kampfdrohnen eine Enthemmung und eine Entgrenzung des Krieges.
({5})
Der Einsatz von Kampfdrohnen führt unweigerlich zu
einer Ausweitung von Kriegen und zu einer Enthemmung bei der Anwendung von Gewalt. Bei Herrn
de Maizière hört sich das immer einfach an: Wenn ich
ein Kampfflugzeug mit Pilot losschicke, riskiere ich sein
Leben. Wenn ich das gleiche Flugzeug ohne Pilot losschicke, schütze ich damit deutsche Soldaten.
({6})
Das hört sich zwar ganz simpel an; aber das ist komplett falsch, und Sie wissen, dass es falsch ist und dass es
mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat.
({7})
Kampfdrohnen werden doch nicht da eingesetzt, wo bewaffnete Kampfflugzeuge eingesetzt werden, sondern
sie werden doch für ganz andere Einsätze eingesetzt,
({8})
für Einsätze, die mit bewaffneten Flugzeugen nie geflogen würden, weil sie zu riskant sind.
Es ist doch ganz eindeutig - Sie müssen das nur einmal an sich heranlassen -: Wer Maschinen für sich
kämpfen lässt, entscheidet schneller, andere Menschen
zu töten. Wer Maschinen für sich kämpfen lässt, entscheidet schneller, Gewalt anzuwenden: weil er das aus
sicherer Entfernung tun kann.
({9})
Das ist die Realität; da können Sie den Kopf schütteln,
so viel Sie wollen. Das findet heute schon jeden Tag
statt.
Wir brauchen nur nach Amerika zu schauen. Was ist
dort in den letzten Jahren passiert? Mit der Einführung
der Kampfdrohnen hat sich der amerikanische Krieg völlig entgrenzt. Tausende von Menschen sind mit diesen
Kampfdrohnen umgebracht worden, und zwar nicht nur
in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, auch im Jemen, auch in Somalia. All diese Einsätze wären niemals
mit bewaffneten Kampfflugzeugen geflogen worden.
Das wäre für die Piloten viel zu riskant gewesen, und natürlich schickt man kein bewaffnetes Kampfflugzeug
nach Somalia, nach Pakistan oder in den Jemen. Mit diesen Ländern befinden sich die USA nicht im Krieg.
Diese Länder würden nicht hinnehmen, wenn eine bewaffnete Flotte vor ihrer Küste auftauchte. Diese tödlichen Angriffe sind nur mit Kampfdrohnen möglich, und
das wissen Sie. Das ist für uns ein sehr guter Grund,
diese Drohnen abzulehnen.
({10})
Herr de Maizière hat gesagt, dass er die Entscheidung
im Prinzip schon getroffen hat. Er hat sie jetzt vertagt.
Ich finde die Entscheidung falsch; aber seine Aussage ist
wenigstens ehrlich.
Was mich richtig wütend macht, ist das Herumgeeiere
seitens der SPD. Sagen Sie endlich einmal konkret, was
Sie wollen und was Sie nicht wollen! Alle guten Argumente sind hier genannt worden. Sie haben sie selbst
vorgetragen, aber Sie sagen nicht, dass Sie gegen eine
Einführung von Kampfdrohnen sind. Sie wollen sich bis
zur Bundestagswahl einfach jedes Hintertürchen offenhalten und hinterher die Dinger dann doch anschaffen.
Das finde ich wirklich unehrlich.
({11})
Das wirklich einzig Konkrete, das ich von den Sozialdemokraten in den letzten Wochen über Drohnen gehört
habe, hat Herr Arnold von der SPD vor einigen Wochen
hier zu Protokoll gegeben, nämlich: wenn schon Kampfdrohnen, dann bitte deutsche oder europäische Kampfdrohnen. Bloß nicht in Amerika kaufen! - Auch Sie,
Herr Bartels, haben heute wieder gesagt: Bloß keine ausländischen Drohnen anschaffen! Glauben Sie denn, für
Menschen, die an einer Hochzeitsfeier in Pakistan teilnehmen, macht es einen Unterschied, ob sie von einer
deutschen oder von einer amerikanischen Drohne getötet
werden? Ich finde Sie an dieser Stelle wirklich unsäglich.
({12})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, keine Kampfflugzeuge, keine Kampfdrohnen, gar nichts.
Danke schön.
({13})
Jetzt hat der Kollege Bernd Siebert für die CDU/CSU
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Die heutige Debatte ist die Fortsetzung der
Diskussionen der letzten Monate. Im Januar haben wir
unsere Argumente bereits ausführlich und, ich denke,
zum Teil auch erschöpfend ausgetauscht. Ich muss am
Ende dieser Debatte allerdings feststellen: Neue Argumente habe ich von der Opposition heute nicht zur
Kenntnis nehmen können.
Der Verteidigungsminister hat die Debatte vor einigen
Monaten angestoßen und mittlerweile entschieden, in
dieser Legislaturperiode keinen Beschaffungsbeschluss
für bewaffnete Drohnen mehr herbeizuführen. Ich kann
nach der heutigen Diskussion nur denjenigen zustimmen, die auf die Frage, warum denn diese Debatte jetzt
geführt wird, antworten: In den Reihen der Opposition
glaubt man, dass hier ein Wahlkampfthema gefunden
werden kann. - Ich denke aber, Sie täuschen sich. Die
Menschen sind weit klüger, als Teile der Opposition mitunter glauben.
({0})
- Ich habe von Teilen der Opposition gesprochen. - Eine
aktuelle Umfrage zeigt, dass nur 27 Prozent der Befragten bewaffnete Drohnen ablehnen. Über 70 Prozent stehen dieser Technologie eher positiv und offen gegenüber.
Interessant ist, dass die Stimmen der Vernunft, die bei
den Sozialdemokraten und den Grünen bei dieser Thematik in der Vergangenheit meiner Ansicht nach durchaus zu hören waren, mittlerweile verstummt sind. Seltsam, denn die Aussagen von geschätzten Kollegen wie
Rainer Arnold, der noch im Juli vorigen Jahres erklärt
hat, dass „an der Anschaffung von bewaffneten Drohnen
kein Weg“ vorbeiführe, oder von Herrn Nouripour, der
ebenfalls im Juli vorigen Jahres erklärt hat, es gebe eine
„sehr, sehr schmale graue Zone, in der gezielte Tötungen
erlaubt sein können, wenn für eine größere Gruppe von
Menschen unmittelbar Gefahr bevorsteht“,
({1})
lassen den Schluss zu, dass die Meinungen zu Drohnen
unserer nicht ganz unähnlich sind.
({2})
- Ich habe das Zitat aus der Frankfurter Rundschau vom
30. Juli 2012 vollständig hier, Herr Nouripour. Ich habe
nicht gelesen, dass Sie sich von diesen Aussagen damals
distanziert haben.
({3})
Ich habe den Eindruck, dass es noch immer den einen
oder anderen in der Opposition gibt, die differenziert
über diese Fragen nachdenken. Ich sage ganz offen: Das
hat mich eben etwas überrascht. Kollege Hans-Peter
Bartels hat das Thema an einigen Stellen ja durchaus differenziert betrachtet. Deswegen denke ich, dass wir,
nachdem der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen
ist, auch über diese Frage wieder konstruktiv in den Dialog eintreten und dazu beitragen können, dass vernünftige Lösungen für die Bundeswehr und für die Verbesserung der Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz
gefunden werden können.
All das, was Verteidigungsminister de Maizière und
meine Kollegen von den Koalitionsfraktionen bereits im
Januar gesagt haben, besitzt auch heute noch Gültigkeit:
Drohnen, ob groß oder klein, werden längst eingesetzt auch bei der Bundeswehr. Ihr Einsatz ist günstiger, sicherer und flexibler als die Nutzung bemannter Maschinen. Sie können wesentlich länger über einem Einsatzgebiet in der Luft bleiben als ein bemanntes Flugzeug.
Die deutschen Regularien, die für den Waffeneinsatz bemannter Systeme gelten, gelten selbstverständlich auch
für Drohnen.
Völkerrechtlich bedenkliche Szenarien wie in Nordpakistan oder im Jemen wären für deutsche Streitkräfte
meiner Ansicht nach undenkbar. Die Verantwortung für
die Nutzung unbemannter Systeme obliegt einem Menschen. Das Gleiche gilt für die Kontrolle des Fluggerätes, wie bei anderen Systemen übrigens auch. Es gibt bei
uns keinen „Roboterkrieg“ und keine Automatismen.
({4})
Dies heißt, mittelfristig wird auch die Bundeswehr
diese neuartigen Fähigkeiten ausbauen. Das gebietet die
Vernunft; denn es ist umständlich, fehleranfällig und
teuer, eine unbewaffnete Drohne zunächst aufklären zu
lassen und dann ein bemanntes Flugzeug oder ein anderes Waffensystem herbeizuholen, um ein Ziel bekämpfen
zu lassen. Diese derzeit in Afghanistan mögliche Option
kann deshalb nur eine Übergangslösung sein, die im Übrigen durch eine Entscheidung der Bundesregierung bis
zum Jahr 2015 gesichert worden ist.
Ich selbst sage daher ganz klar, dass eine übereilte
Beschaffungsentscheidung zum heutigen Zeitpunkt auch
aus dem oben genannten Grund noch nicht notwendig
ist.
({5})
Dafür gibt es viele Gründe. Bei einer technologisch so
wichtigen Weichenstellung für die Zukunft geht Sorgfalt
eindeutig vor Eile. Auch die Diskussion, die wir hier
heute führen, muss fortgesetzt werden. Auch das wurde
bereits mehrfach gesagt.
Abschließend möchte ich noch einmal meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass wir uns im Herbst wieder
auf eine vernünftige Art und Weise über dieses Thema
unterhalten können. Umso wichtiger ist es, dass wir uns
heute keine Beschränkungen in Form von Anträgen auferlegen. Daher sind die vorliegenden Anträge von uns
abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass unbemannte, unbewaffnete Drohnen nützlich sein
können, ist doch unbestritten. Ich habe in dieser Diskussion eines gehört: Es wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass die Opposition Kritik anbringt, ohne dass
dazu eigentlich ein Anlass besteht.
Erster Punkt. Ich weise darauf hin: Die Friedensforschungsinstitute werden über dieses Thema der bewaffneten Kampfdrohnen eine öffentliche Diskussion in
Gang setzen, die ich für richtig halte. Die Gefahr, dass
sich solche Waffensysteme sozusagen automatisieren, ist
vorhanden, und zwar international. Daher können wir
doch nicht so tun, als hätten wir damit nichts zu tun. Zu
Recht hat Harald Müller in einer Diskussion mit Herrn
de Maizière vor wenigen Tagen die Frage gestellt: Was
passiert eigentlich, wenn die amerikanische Seite „Das
sind Bündnisverpflichtungen“ sagt? - Die Automatisierung ist eine echte Gefahr, und deshalb muss man rechtzeitig vor ihr warnen.
Zweiter Punkt. Auch die Proliferation kommt in
Gang. Es gibt Länder, die Millionen und Milliarden aufbringen können, um solche Systeme aufzubauen. Was
heißt das, wenn es weltweit Praxis wird, dass entsprechende Aktionen gegen andere Länder durchgeführt
werden? Beispielsweise könnte davon die Zivilbevölkerung in unserem Land betroffen sein.
Dritter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
sage schon einmal vorbeugend: Auch ich halte die Entwicklung solcher bewaffneten Systeme auf europäischer
Ebene für falsch. Sie kosten Milliarden Euro. Wichtiger
wäre ein Signal der internationalen Abrüstung und der
Ächtung dieser Systeme sowohl durch Deutschland als
auch durch die Europäische Union.
({0})
Europa hat den Friedensnobelpreis nicht dafür erhalten,
dass es neue Waffensysteme exportiert, sondern dafür,
dass es soziale und ökologische Entwicklungen in die
Welt exportiert, um zu helfen. Daran sollten wir uns
orientieren.
Vielen Dank.
({1})
Herr Siebert, möchten Sie entgegnen? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13235
mit dem Titel „Keine bewaffneten Drohnen für die Bun-
deswehr - Internationale Rüstungskontrolle von bewaff-
neten unbemannten Systemen voranbringen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Zugestimmt haben dem Antrag Bünd-
nis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der SPD-
Fraktion. Gegen den Antrag hat die Koalition gestimmt.
Der überwiegende Teil der SPD-Fraktion hat sich genau
wie die Fraktion Die Linke enthalten. Der Antrag ist da-
mit abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache
17/11083. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9414 mit dem Titel „Die Beschaffung unbe-
mannter Systeme überprüfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen
waren SPD und Grüne. Die Fraktion Die Linke hat sich
enthalten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäfts-
ordnung auf Drucksache 17/6904 zu „Stand und Per-
spektiven der militärischen Nutzung unbemannter Sys-
teme“ zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Das ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen
für die Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12725, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12437
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linke
war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-
ten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13192 mit dem Ti-
tel „Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampf-
drohnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag wurde abgelehnt
bei Zustimmung durch die einbringende SPD-Fraktion.
Dagegen waren CDU/CSU, FDP und Linke, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 17/12678 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
- Drucksache 17/13279 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13280 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Barthle-
Rolf Schwanitz-
Dr. Florian Toncar-
Roland Claus-
Sven-Christian Kindler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren
Maßnahmen spürbar verbessern
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Drucksachen 17/11041, 17/13279 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Das Wort gebe ich der Kollegin Dorothee Bär für die
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich
sehr, dass wir nach der ersten Lesung und nach einer
sehr konstruktiven Zusammenarbeit mit fast allen Fraktionen hier im Deutschen Bundestag heute die Änderungen zum Conterganstiftungsgesetz mit einer großen
Mehrheit verabschieden werden, weil wir alle - deswegen noch einmal ganz herzlichen Dank besonders an die
Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD - erkannt haben,
({0})
dass die Ergebnisse der Studie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg eine unmittelbare und
vor allem deutliche Verbesserung der Situation der contergangeschädigten Menschen erforderlich machen. Ich
freue mich wirklich sehr, dass wir nicht nur ab heute,
sondern rückwirkend zum 1. Januar 2013 die Conterganrenten um jährlich 90 Millionen Euro erhöhen werden.
Wir wollen uns im Namen der Koalition ganz herzlich
bei den Betroffenen bedanken, die in den letzten Wochen
und Monaten ein wirklich konstruktiver Partner waren.
Wir wollen gerade wegen der Gespräche mit den Betroffenen eine noch wesentlich größere Einzelfallgerechtigkeit gewähren können. Deswegen haben wir auf Wunsch
der Betroffenen in der Rententabelle, die als Anlage zu
den Richtlinien veröffentlicht wird, zusätzliche Schadensstufen eingeführt. Wir haben für diejenigen, die
wirklich mit schwersten Behinderungen leben müssen,
die prozentual höchste Anhebung der Renten vorgesehen. Das heißt, künftig soll mit einem Betrag von monatlich 6 912 Euro dafür gesorgt werden, den Schwerstgeschädigten ein Stück Unabhängigkeit zurückzugeben,
und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, ohne Antragstellung selbst zu entscheiden, welche Leistungen sie
brauchen und was ihrer momentanen Situation am allerbesten entspricht, beispielsweise der behindertengerechte Umbau des Autos und der Wohnung oder Hilfen
im Alltag.
Wir werden zusätzlich 30 Millionen Euro für die Deckung spezifischer Bedarfe in den Haushalt einstellen,
zum Beispiel für Rehabilitationsleistungen, für Heilmittel, für Hilfsmittel und - das ist ganz besonders wichtig;
das habe ich auch in meiner Rede in der ersten Lesung
angesprochen - für zahnärztliche und kieferchirurgische
Behandlungen.
Das ist ein wichtiger Schritt. Das sollten wir positiv
herausstellen. Ich verstehe nicht, Herr Kollege Seifert,
warum Sie die ganze Zeit so destruktiv an die Sache herangehen, wenn sich sogar Betroffene freuen und sich
bedanken.
({1})
Das wird weder unserer Arbeit noch dem Anliegen der
Betroffenen gerecht. Das finde ich sehr schade.
Das von uns gewählte Antrags- und Bewilligungsverfahren ist sehr gut und vor allem - das ist für mich das
Entscheidende - sehr bürokratiearm. Wenn die vom Arzt
verordnete Leistung bei den Kassen beantragt wird und
die Erstattung der Leistung abgelehnt wird, dann leiten
diese den Antrag direkt an die Conterganstiftung weiter.
Dann entscheidet die Conterganstiftung auf Grundlage
der Richtlinien des BMFSFJ über den Antrag.
Wir haben über die finanziellen Maßnahmen hinaus
Verbesserungen aufgenommen: zum Beispiel dass unterhaltspflichtige Angehörige von Conterganopfern, die Sozialhilfe beziehen, vom Träger der Sozialhilfe nicht in
Anspruch genommen werden können; denn Eltern, Kinder und Ehepartner von contergangeschädigten Menschen sind durch die mit der Behinderung verbundenen
Anforderungen ohnehin schon belastet. Das ist eine ganz
wichtige Maßnahme, um Sicherheit für die Angehörigen
zu schaffen, die neben der finanziellen Belastung seit
vielen Jahrzehnten eine ganz große physische und psychische Belastung zu schultern haben.
In diesem Zusammenhang ist eine weitere Änderung
konsequent, die wir im Rahmen eines Änderungsantrages vorgenommen haben, nämlich dass das Einkommen
und das Vermögen einerseits der Betroffenen selbst und
andererseits das ihrer Ehepartner bei der Gewährung der
anderen Leistungen des SGB XII, die unmittelbar mit
der Behinderung zusammenhängen, wie beispielsweise
Hilfen zur Gesundheit, Hilfen zur Pflege, Eingliederungshilfe, vollkommen außer Betracht gelassen werden.
Natürlich ist uns bewusst, dass mit den Neuregelungen nicht allen und nicht jedem einzelnen Wunsch entsprochen wird, weil er nicht zu erfüllen war. Das ist
selbstverständlich, weil kein Gesetz der Welt jedem Einzelfall wirklich zu 100 Prozent gerecht werden kann.
({2})
Aber ich bin wirklich zuversichtlich, dass diese Neuregelungen den Menschen mit Conterganschäden helfen
werden, im Alltag selbstständiger und eigenbestimmter
zu werden und den Alltag besser zu bewältigen.
Deswegen noch einmal vielen herzlichen Dank an
alle Kolleginnen und Kollegen für die nicht einfache und
auch emotionale Arbeit der letzten Wochen und Monate.
Noch einmal ein ganz großes Dankeschön nicht nur an
die Geschädigten, sondern vor allem auch an deren Angehörige für den langen Weg, den sie gemeinsam gegangen sind.
Vielen Dank.
({3})
Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir werden heute am Ende der Debatte den Entwurf eines Drittes Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes mit großer Mehrheit, wie ich denke, hier
im Parlament verabschieden. Man muss sich natürlich
fragen: Was war der Grund für dieses Gesetz? Diese
Frage muss man immer dann stellen, wenn etwas schon
lange zurückliegt; denn dann vergisst man: Warum müssen wir handeln?
In den 50er-Jahren gab es ein Medikament, das allgemein unter dem Namen „Contergan“ bekannt war.
Frauen, die es in der Schwangerschaft eingenommen haben, haben schwer geschädigte Kinder zur Welt gebracht. Etwas über 10 000 Kinder waren es. Von diesen
etwas über 10 000 leben heute noch etwa 2 700 Personen, etwa 2 450 in Deutschland und etwa 250 im Ausland.
Damals gab es noch nicht das, was wir heute unter
dem Stichwort „Arzneimittelhaftung“ kennen. Man hat
eine Lösung gesucht und gefunden. Sie war nicht einfach, weder für die Eltern noch, wie ich denke, für die
Politik, die überhaupt nicht abschätzen konnte, was auf
sie zukam.
Die Firma Grünenthal, die damals das Medikament
auf den Markt gebracht hat, hat 100 Millionen D-Mark
in einen Fonds eingezahlt und Entschädigung geleistet.
Dann wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerk
für behinderte Kinder“ gegründet. Deshalb werden die
Angelegenheiten der contergangeschädigten Menschen
im Familienausschuss und nicht im Ausschuss für Arbeit
und Soziales behandelt, in dem wir uns üblicherweise
mit Angelegenheiten von Menschen mit Behinderung
befassen. Wir sind seither dafür zuständig; denn seit der
Gründung der Stiftung ist die Bundesrepublik Deutschland in die Rechtsnachfolge der Firma getreten. Das darf
man nicht vergessen; sonst weiß man nicht, warum wir
heute solche Gesetze machen.
In all den Jahren hat die genannte Stiftung den betroffenen Menschen Entschädigungszahlungen geleistet.
Heute verabschieden wir hoffentlich mehrheitlich das
Dritte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes.
({0})
- Es ist sehr schön, wenn Sie mitstimmen, Herr Seifert.
({1})
- Wunderbar.
Bislang haben wir ein erstes und ein zweites Änderungsgesetz verabschiedet. Schon beim zweiten haben
wir gedacht, dass wir ganz viel geregelt haben. Aber wir
müssen es erneut revidieren. Es war zwar der richtige
Weg, aber wir sind nicht weit genug gegangen. Wir haben 2008 die Renten der Betroffenen von 545 Euro auf
1 090 Euro verdoppelt. Wir haben noch etwas anderes
geregelt - das weiß kaum jemand -: Diese Zahlungen
dürfen auf keine anderen Leistungen, auf sogenannte
Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, angerechnet werden. - Das war ein Riesenschritt. Wir haben
des Weiteren eine Regelung zur automatischen Anpassung dieser Renten verabschiedet. Damals betrug die
durchschnittliche Rente etwa 982 Euro.
Ein weiterer Punkt, über den wir sehr lange debattiert
haben, war die Ausschlussfrist. Nach Ablauf dieser Frist
konnte kein Betroffener mehr seine Ansprüche geltend
machen. Diese Ausschlussfrist haben wir aufgehoben.
Diese Änderung war im Hinblick auf die damals noch
gar nicht abzuschätzenden gesundheitlichen Folgen,
zum Beispiel für Gefäße und Nerven, wichtig. So konnten auch diese berücksichtigt werden.
Wir hatten damals zudem jährliche Sonderzahlungen
über 25 Jahre verabredet. Derzeit werden Sonderzahlungen in Höhe von durchschnittlich 2 200 Euro ausgezahlt.
Wir haben damals aber noch mehr getan. Wir haben in
einem Antrag festgehalten: Da wir überhaupt nicht wissen, wie sich die betroffenen Menschen entwickeln werden, wollen wir, dass dazu eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben wird. Damals haben die
Betroffenen gesagt: Wir wollen nicht vermessen werden. Das haben wir gut verstanden. Aber eine solche Untersuchung war notwendig; denn erst mit dem Untersuchungsbericht ist uns in aller Deutlichkeit klar geworden, dass es sich bei den gravierenden Veränderungen,
die bei den betroffenen Menschen im Laufe der Jahre
eingetreten sind, nicht um Einzelfälle handelt. Diese
Menschen haben große Bedarfe, um am Leben teilzuhaben und es zu gestalten.
Der Zwischenbericht, der im Sommer letzten Jahres
vorgestellt und zu Weihnachten eingebracht wurde und
zu dem eine Anhörung mit über 200 Betroffenen im Februar dieses Jahres durchgeführt wurde, führt nun zur
Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des
Conterganstiftungsgesetzes. Frau Bär hat schon die wesentlichen Punkte genannt. Ich nenne zur Verdeutlichung
noch einmal die alten Rentenwerte: Von etwa 1 100 Euro
gibt es nun eine Steigerung auf bis zu 7 000 Euro monatlich. Diesen Höchstbetrag erhalten 119 Betroffene. Die
drei- und vierfach Betroffenen werden am meisten bekommen. Aber alle werden mehr bekommen. Nur die
prozentuale Steigerung fällt unterschiedlich hoch aus.
Das alles bringen wir nun auf den Weg. Sollte sich
aber herausstellen, dass wir erneut nachjustieren müssen,
wird sich der nächste Bundestag sicherlich wieder auf
den Weg machen, erneut aus den Erfahrungen und dem
Leben der Betroffenen lernen und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen.
Wir haben lange auch darüber diskutiert, wie wir das
abdecken können, was die gesetzlichen Sozialversicherungen nicht bezahlen, weil sie sich weigern. Deshalb
wurde dieser Fonds in Höhe von 30 Millionen Euro jährlich eingerichtet. Diese 30 Millionen Euro sollen - Frau
Bär hat es gesagt - möglichst bürokratiearm in Anspruch
Marlene Rupprecht ({2})
genommen werden können. Aber Sie wissen ja - so sagt
man das bei uns -: Das Teufele steckt im Detail. Um zu
verhindern, dass sich einige Sozialversicherungszweige,
die zahlen müssten, weigern und die Anspruchsberechtigten gleich an den Fonds verweisen, muss dem Bundestag nach zwei Jahren berichtet werden, ob es einen
Verschiebebahnhof gibt oder nicht, damit wir feststellen
können, ob das Geld wirklich den Menschen zugutekommt oder ob sich einige der Lasten entledigen, die sie
eigentlich tragen müssten.
Was man gar nicht so sieht - das ist, denke ich, neben
der Rentenerhöhung das Wichtigste -, ist, dass jetzt
jemand zum Beispiel eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmen kann, ohne dass er wie andere Menschen, die diese in Anspruch nehmen, mit seinem Einkommen, seinem Vermögen oder dem Einkommen oder
Vermögen seiner Angehörigen herangezogen wird. Das
ist ein enormer Paradigmenwechsel, der zeigt, dass der
Bundestag seine Verantwortung, die er gegenüber den
Menschen hat, die durch Contergan geschädigt sind,
ernst nimmt.
Was ich aber auch gelernt habe - jetzt war ich
17 Jahre für dieses Thema zuständig -: Wir werden nie
aufhören, zu lernen, und wir werden nie aufhören, zu begreifen, dass wir eine Verantwortung haben und im Notfall nachjustieren müssen. Wenn die 30 Millionen Euro
nicht reichen, dann - das sage ich Ihnen - wird der Bundestag darüber noch einmal nachdenken müssen. Das ist
das Leben. Ich wünsche mir, dass heute alle gemeinsam
den Gesetzentwurf verabschieden und damit das Signal
setzen, dass rückwirkend ab 1. Januar alle Betroffenen
mehr Geld bekommen. Das ist das Wichtigste. Die Betroffenen stoßen hier im Parlament immer auf offene
Ohren, und zwar bei allen Fraktionen.
Vielen Dank an die Kollegen dafür, dass es geklappt
hat.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es
steht außer Frage, dass es die Contergangeschädigten
und deren Eltern waren, die von Anfang an für Gleichstellung und Teilhabe eingetreten sind. Der Weg beim
Kampf dieser Eltern für die Rechte ihres Kindes war
steinig. Es war der Kampf gegen den ärztlichen Rat, gegen eine behindertenfeindliche Gesellschaft und gegen
Grünenthal. Den damaligen gesellschaftlichen Umgang
mit Behinderung und Behinderten infrage zu stellen, begründete den Weg, der zur gesellschaftlichen Teilhabe
von Menschen mit Behinderung führen soll.
Diese Teilhabe kostet Geld. Die Rente aus der Conterganstiftung wird den heutigen Bedürfnissen der Betroffenen nicht mehr gerecht. Die finanziellen Belastungen durch die Folgen der Conterganschädigung nehmen
immer weiter zu, da die körperlichen Einschränkungen
immer größer werden. Mit der Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes wollen wir sicherstellen, dass sich die Lebenssituation der Contergangeschädigten nun endlich ganz
entscheidend verbessert.
Ich darf ganz ehrlich sagen: Ich freue mich sehr, dass
wir bei diesem bewegenden Thema wieder eine sehr
breite Mehrheit im Bundestag erreichen können, über
die Parteigrenzen hinweg. Ich möchte mich hier ganz
ausdrücklich bei den Betroffenen, bei der SPD und beim
Bündnis 90/Die Grünen für die konstruktiven Gespräche
bedanken. Es ist im Sinne der Geschädigten, dass wir geschlossen und schnell handeln.
Vor fast genau vier Jahren, am 22. Januar 2009, hat
der Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und der FDP zugestimmt, der
eine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung
der Conterganopfer zum Ziel hatte. Ich zitiere:
Die Lebensleistung der Contergangeschädigten verlangt uns größten Respekt ab. Sie haben sich in bewundernswerter Weise ihren Platz in Familie und
Beruf erkämpft, ihre Selbständigkeit mit großem eigenen Engagement und Selbstbewusstsein erstritten. Doch jetzt stoßen sie an schmerzliche Grenzen.
Den Antragstellern war damals bewusst, dass wir genauere Fakten benötigen, um gegenüber dem Steuerzahler eine Lösung zu rechtfertigen, die über den Beschluss
von 2008 deutlich hinausgeht. Es ging damals um die
Verdopplung der sogenannten Conterganrenten. Bereits
diese Verdopplung war angesichts der eigentlich geplanten Erhöhung um circa 5 Prozent ein enormer Schritt. Frau Rupprecht, Sie nicken. Ich war leider nicht dabei,
aber ich weiß es aus Erzählungen.
Trotzdem war den Fachpolitikern bewusst, dass dieser Schritt nicht ausreichen würde, da sich der Gesundheitszustand der Betroffenen verschlechterte. In diesem
gemeinsamen Antrag haben die Fraktionen von Union,
SPD und FDP den Auftrag an das Familienministerium
formuliert, eine Studie durchzuführen. Ziel war es, den
Gesundheitszustand der circa 2 700 Conterganopfer zu
untersuchen, die in den Geltungsbereich des Conterganstiftungsgesetzes fallen. Die drei Fraktionen wollten in
einer umfassenden, lebensbegleitenden und auf Teilhabe
angelegten Längsschnittstudie ein genaues Bild über die
Lebenssituation Contergangeschädigter zeichnen, und
zwar unter Einbeziehung von Folge- und Spätschäden,
mit dem Ziel, geeignete Handlungsempfehlungen für
weitere angemessene Hilfe darzustellen.
Fraktionsübergreifend hatten wir das Ziel, ein weiteres Gesetz zu verabschieden, um die Spätfolgen der
Conterganschädigung abzumildern. Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend. Die Spätfolgen der Conterganopfer sind gravierender, als Mediziner vorausgesagt
hatten. Überlastete Gelenke, schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- und Unterstützungsbedarf
erheblich.
Die Situation stellt sich weit dramatischer dar, als es
auch den Fachpolitikern bewusst war. Inzwischen leiden
85 Prozent der Conterganopfer an chronischen Schmerzen. Die Hälfte von ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele haben Depressionen. Damit wird auch die
unabhängige Lebensperspektive derjenigen Menschen
mit Conterganschäden gefährdet, die trotz aller Widrigkeiten eine stabile Lebenssituation für sich erkämpft haben.
Ich finde es bei aller Schwere des Conterganskandals
erfreulich, dass wir heute wieder darüber diskutieren, die
Leistungen - sprich: die finanziellen Zuwendungen - an
die Opfer zu verbessern. Es ist gut, dass wir die Zustimmung aller Fraktionen hierzu haben. Dies war mir immer
ein persönliches Anliegen.
Bei allem verständlichen Frust, den die Betroffenen
im Hinblick auf die Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Contergan haben, halte ich das seit dem letzten
Jahr gemeinsam Erreichte für enorm: Für die Schwerstbetroffenen hat sich seit 2008 die monatliche Rente fast
verdreizehnfacht. Hinzu kommen Einmalzahlungen, die
auf andere Sozialleistungen nicht angerechnet werden,
und eine bessere medizinische Versorgung.
Dabei ist sich die FDP immer bewusst, dass alle
finanziellen Leistungen den Schaden für die Gesundheit
und die schwere seelische Belastung der Betroffenen
nicht ausgleichen können. Die Koalition - wir alle wollen, dass Contergangeschädigte eine gute Lebensperspektive haben. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen,
das muss das Ziel sein.
Wir stehen zu unserer Verantwortung. 6 912 Euro
Höchstrente statt bislang 1 152 Euro lindern zumindest
in finanzieller Hinsicht das entstandene Leid. Dieser
Rentenanspruch wird rückwirkend zum 1. Januar 2013
ausgezahlt. Zusätzlich werden anrechnungsfrei andere
notwendige Sozialleistungen gewährt. Im Bereich von
Zahnersatz und Reha bekommen die Geschädigten die
notwendigen Therapien über den Leistungskatalog der
Krankenkassen hinaus.
Trotz der schwierigen Bemühungen, einen strukturell
ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen,
ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen, für die
Conterganopfer die eindrucksvolle Summe von 120 Millionen Euro jährlich dauerhaft zu verankern. Dafür
möchte ich auch einmal Danke sagen.
Die Koalition hat vier Jahre lang erfolgreiche und
gute Politik für Deutschland gemacht. Auch für die Contergangeschädigten können wir heute dieses wirklich
deutliche Zeichen der Hoffnung und Zuversicht und der
Übernahme der Verantwortung setzen.
Auch ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank allen, die wir zusammengearbeitet haben, und ich freue
mich wirklich über das Ergebnis. Ich bedauere, dass die
Fraktion Die Linke da leider nicht mitmachen konnte.
({0})
Der Kollege Dr. Ilja Seifert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu sagen, dass wir „leider nicht mitgemacht“ hätten, ist wirklich eine Frechheit. Obwohl Sie uns die ganze Zeit aus
allen Verhandlungen zu diesem Gesetz systematisch ausgegrenzt haben, wird die Linke selbstverständlich zustimmen, weil es die Lebensbedingungen für viele Conterganopfer und ihre Angehörigen verbessert.
({0})
Das ist in erster Linie ein großer Erfolg des jahrzehntelangen und sehr engagierten Kampfes der Contergangeschädigten selbst und ihrer Familien. Und ich meine,
auch die Unterstützung der Linken trug dazu bei. Dies
begann mit einer Kleinen Anfrage im Juni 2006 und
zieht sich bis zu unserem Antrag durch, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht.
Wir feiern heute einen Erfolg! Ja. Auch ich. Und zwar
an der Seite der Betroffenen.
({1})
Dennoch ist Kritik angesagt, und sie muss auch einmal
ausgesprochen werden.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FünfParteien-Koalition, hatten - genau wie ich - in den letzten Wochen eine Vielzahl von Gesprächen sowie schriftlichen Kontakten mit den Conterganopfern. Sie lasen die
Studie und die Handlungsempfehlungen der Uni Heidelberg. Sie erlebten die Anhörung am 1. Februar mit mehr
als 200 Teilnehmern. Sie haben die Sachverständigen im
nichtöffentlichen Fachgespräch am 15. April angehört.
Es gab sehr einleuchtende, sehr vernünftige, kluge Vorschläge.
Die Linke legte bereits im Oktober 2012 ihren Antrag
vor. Dieser entstand in sehr intensivem Dialog mit den
Betroffenen. Es gibt Stellungnahmen und Vorschläge
von verschiedenen Conterganverbänden sowie von der
Anwaltskanzlei Menschen & Rechte. Und trotzdem: Sie
schusterten - vergleichbar mit dem Gesetzgebungsverfahren vor der Bundestagswahl 2009 - in unnötigem Eiltempo einen Gesetzentwurf hin, der viele Fragen offen
und viele Probleme ungelöst lässt.
Meinen Sie wirklich, dass eine Entschuldigung seitens des Bundestages, der Bundesregierung, der Justiz
und des Landes NRW für ihren Anteil an dem fortwährenden Conterganskandal nicht nötig wäre?
Meinen Sie wirklich, dass es richtig ist, wenn die
Schadensverursacher - die Firma Grünenthal und die
milliardenschwere Familie Wirtz - nicht angemessen an
den Kosten beteiligt werden?
Meinen Sie wirklich, dass die Conterganrente, vor allem bei wirklich Schwerstgeschädigten mit hohem As29778
sistenzbedarf, reicht, um diese aus der Armutsfalle des
SGB XII herauszuholen?
Meinen Sie wirklich, dass man trotz der Ergebnisse
aus der Studie der Uni Heidelberg die Spät- und Folgeschäden weiterhin unberücksichtigt lassen kann?
Meinen Sie wirklich, trotz der Deckelung des Fonds
für besondere Bedarfe ein praktikables Verfahren hinzubekommen?
Meinen Sie wirklich, dass die im Fachgespräch vorgelegte - nicht erklärbare - Rententabelle gerechter sei
als ein einheitlicher Wert je Schadenspunkt?
Meinen Sie wirklich, dass man ohne strukturelle Änderungen in der Stiftung den Rechtsfrieden herstellen
kann?
Meinen Sie etwa, die berechtigten Ansprüche und
Forderungen der Conterganopfer mit weniger als zehn
Schadenspunkten, der von Ausschlussfristen Betroffenen sowie der im Ausland lebenden Opfer mit den Gesetzesänderungen wirklich befriedigend berücksichtigt
zu haben?
Nein, Sie meinen das nicht wirklich. Das, was Sie hier
tun, ist vorsätzliche Unterlassung!
({2})
Ja, auch ich teile die Freude auf die zu erwartende
Rentenerhöhung. Aber sie wird für rund 20 Prozent der
Opfer nicht reichen, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben oberhalb des Existenzminimums zu ermöglichen.
Das betrifft vor allem diejenigen mit hohem Bedarf an
Assistenz und Pflege. Es erfolgt eben kein vollständiger
Schadensausgleich.
Eine Reihe von Fragen wird über Richtlinien geklärt.
Hier ist der Bundestag leider nicht beteiligt. Ich verhehle
nicht, dass ich der Exekutive gegenüber sehr skeptisch
bin.
Aber ich bin sicher: Was wir heute hier beschließen,
darf kein Schlussgesetz sein. Der kommende Bundestag
wird sich sehr bald nach seiner Konstituierung - nicht
erst nach zwei Jahren - erneut mit der Problematik befassen müssen und befriedigende Lösungen für all die
von mir genannten und noch etliche weitere Fragen finden müssen.
Im Zeichen der UN-Behindertenrechtskonvention
wird die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen mit
den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen dazu führen,
dass die Regelungen für die Conterganopfer aufgegriffen
und weiterentwickelt werden.
Einkommens- und vermögensunabhängig. Diskriminierungsfrei.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt
dem Kollegen Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Seifert, ich bin seit gut zehn Jahren
Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich muss sagen:
Die meisten Gesetze haben es so an sich, dass nicht alle
Wünsche und Probleme, die damit verbunden sind, auf
einen Schlag damit gelöst werden, sonst müsste man sie
nicht auch noch manchmal ändern.
({0})
Selbstverständlich ist auch uns bewusst, dass noch
eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten ist. Ich
werde auf die Details gleich noch näher eingehen. Natürlich muss man sehen, wie das Gesetz umgesetzt wird.
Aber das kann doch kein Grund sein, nicht noch in dieser Legislaturperiode wirklich einen Durchbruch zu
schaffen und die Situation der Betroffenen ganz erheblich zu verbessern.
({1})
Wir können wirklich froh sein, dass an dieser Stelle Einigkeit in diesem Hause herrscht.
Die Beharrlichkeit, die viele Kolleginnen und Kollegen an den Tag gelegt haben, hat sich gelohnt. Ich nenne
hier insbesondere Frau Rupprecht. Vor vier Jahren, als
die Entschädigungszahlungen, gemeinhin auch als Conterganrente bekannt, verdoppelt worden sind, haben eine
ganze Reihe von Abgeordneten gesagt: Das ist toll und
reicht jetzt. Diejenigen, die sich mit dem Thema intensiv
beschäftigt hatten, wussten schon damals, dass die Zahlungen nicht ausreichen würden. Damals zeichneten sich
schon längst die Folgeschäden ab bzw. waren schon vorhanden. Der Prozess der sogenannten Dekompensation
hatte eingesetzt. Aufgrund der besonderen Leistungen
mit den verbleibenden Gliedmaßen, dem Mund, mit anderen Hilfsmitteln, die die Geschädigten vollbracht hatten, hatte der Verschleiß auch vor vier Jahren schon
längst eingesetzt.
Die Studie der Universität Heidelberg fand dann Eingang in einen Entschließungsantrag. Deren Ergebnisse,
so die Hoffnung vor vier Jahren, würden dazu beitragen,
die Situation in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit ungeschminkt zu sehen, und das würde zu einer Anpassung
der Entschädigungszahlungen führen. Das ist bis heute
ein gutes Stück weit gelungen.
({2})
Der Änderungsantrag - deswegen stimmt auch meine
Fraktion für den Gesetzentwurf, auch wenn sie nicht auf
dem ursprünglichen Gesetzentwurf stand - enthält wesentliche Punkte. Hier sind vor allen Dingen die Nichtanrechnung von Leistungen der Behindertenhilfe und
der Hilfe zur Pflege sowie Einkommen und Vermögen
zu nennen. Ich betone ausdrücklich, auch mit Blick auf
Herrn Seifert, dass wir auch Veränderungen bei der Conterganstiftung selbst vorgenommen haben.
({3})
Die Sitzungen der Stiftung sind öffentlich. Die Nichtöffentlichkeit muss ausdrücklich erklärt werden. Weitergehende Änderungen, die etwa die Mehrheitsverhältnisse betreffen, werden selbstverständlich auch in der
kommenden Legislaturperiode weiter geprüft. Aber solange öffentliche Mittel in diese Stiftung fließen, wird es
kein Finanzminister, egal welcher Partei, zulassen, dass
zum Beispiel der Bund nicht auch die Mehrheit hat. Solche Rechtsverhältnisse muss man berücksichtigen.
Auch die Deckung spezifischer Bedarfe wird hoffentlich funktionieren. Dabei muss man natürlich darauf
achten, dass nicht die vorgelagerten Sozialleistungsträger, insbesondere die Krankenkassen, rundweg alles ablehnen und dass die Stiftung die Widerspruchsverfahren
für die Betroffenen in die Hand nehmen muss. Diesen
Bereich müssen wir uns sehr genau ansehen.
Der Umgang mit den Folgeschäden, die in dem Gesetzentwurf nicht enthalten sind, verdient in der kommenden Legislaturperiode eine genauere Betrachtung.
Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Firma Grünenthal sich das ebenfalls noch einmal ansieht und klarer
die Verantwortung für das übernimmt, was auf ihr geschäftliches Verhalten zurückgeht.
({4})
Es ist nicht nur der Bund, der gefragt sein wird. Aus
dem Bundeshaushalt werden künftig jährlich 155 Millionen Euro gezahlt. Wir werden also in einigen Jahren bei
den Kosten für die Folgeschäden die Milliardengrenze
überschreiten. Hinzu kommen die Ausgaben der Sozialversicherungsträger.
Die Firma Grünenthal hat 1972 114 Millionen D-Mark
bezahlt, 2009 noch einmal 50 Millionen Euro. Wenn
man sich die Verhältnisse ansieht, ist das geradezu lächerlich. Ich weiß, dass man das rechtlich - es gibt Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes - jetzt natürlich nicht mehr revidieren kann. Aber die moralische
Verantwortung der Firma Grünenthal ist unzweifelhaft.
Ich bin schon etwas irritiert, wenn ich sehe, dass die
Firma Grünenthal in den vergangenen drei Jahren für
100 Millionen Euro an ihrem Standort in der Nähe der
Uni Aachen den Grünenthal-Campus gebaut und gefördert, aber für die Geschädigten keine finanzielle Verantwortung übernommen hat. Uns bleibt hier im Deutschen
Bundestag leider nur der immer wieder neue Appell. Damit, dass wir in diesem Hause gemeinsam Verantwortung übernommen haben, können wir erst einmal einigermaßen zufrieden sein.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Hubert Hüppe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über Jahrzehnte fühlten sich contergangeschädigte
Menschen verraten und verkauft. Sie fühlten sich von
der Firma Grünenthal ausgetrickst, und sie fühlten sich
auch von diesem Staat im Stich gelassen. Aus der Öffentlichkeit kennen wir Menschen mit Conterganschädigungen. Wir kennen Künstler, Paralympics-Gewinnerinnen und -Gewinner, die ihren Sport inzwischen aber
längst nicht mehr ausüben können und Schmerzen haben. Aber es gibt auch ganz viele Menschen, die wir nie
gesehen haben. Es sind Menschen - durch die Studie
haben wir gelernt, dass es im Alter immer schlimmer
wird -, die jeden Tag, zu jeder Stunde Schmerzen haben
und die sich nur mit Schmerzmitteln am Leben erhalten
können. Es sind Menschen, die organische Schäden haben, die ohne Assistenz nicht aus dem Haus kommen.
Was viele auch nicht wussten: Es gibt zum Beispiel
auch Menschen, die aufgrund des Contergans gehörlos
sind und die einen besonderen Assistenzbedarf haben.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Arme und wären
gehörlos: Sie könnten noch nicht einmal Gebärdensprache.
Diese Menschen waren immer misstrauisch. Sie waren übrigens auch misstrauisch, als 2009 die Studie in
Auftrag gegeben wurde, weil sie gedacht haben, dass die
Politik wieder auf Zeit spielt und hinterher doch nichts
dabei herauskommt. Es gab sogar einige, die zum Boykott aufgerufen haben; auch das ist die Wahrheit. Dann
kam diese Studie, die zeigte, wie dramatisch die Schäden
sind, und dass sie zum Teil noch schlimmer sind, als
selbst die Fachleute geglaubt haben.
Als wir mit den Betroffenen gesprochen haben - das
haben ja alle Parteien bzw. Fraktionen getan -, zeigte
sich, dass es drei Punkte gab, die sie sich gewünscht haben und die ihnen wichtig waren. Das Erste war, dass die
Renten bzw. die Entschädigungsleistungen erhöht werden, damit man, ohne jemals einen Antrag stellen zu
müssen, selbst bestimmen kann, was man mit diesem
Geld macht. Das Zweite war, dass die Sonderbedarfe
schnell eingeführt werden. Das Dritte war - Kollege
Seifert, es ist kein Problem, sondern es war richtig -,
dass diese Leistungen schnell kommen, weil diese Menschen sagen: Wir haben nicht mehr viel Zeit, uns läuft
die Lebenszeit weg.
({0})
Deswegen war es richtig, dass, drei Wochen nachdem
dieses Gutachten vorgelegt worden ist, die Koalitionsparteien sofort gesagt haben: Wir stellen über einen
Haushalt nachträglich - das bitte ich auch einmal anzuerkennen - ab dem 1. Januar 2013 zusätzlich 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Das heißt, hier hat man
wirklich einmal für die Betroffenen gesorgt, und alle
Parteien haben mitgemacht. Das ist auch gut so. Es gehört sich, das hier noch einmal zu betonen.
({1})
Sicherlich sind nicht alle Forderungen erfüllt worden.
Ich habe mit den betroffenen Menschen gesprochen.
Alle erhalten von uns ein Schreiben, jeder hat seinen Ansprechpartner, oft sind es dieselben. Die Betroffenen
schreiben, dass sie trotz aller Kritik erst einmal dankbar
sind, dass endlich etwas geschehen und auch nachhaltig
geschehen ist.
({2})
Ich weiß noch, dass mich jemand anrief und sagte: Ich
muss protestieren! 120 Millionen für die restliche Lebenszeit, das ist viel zu wenig. - Da habe ich gesagt:
Nicht für die restliche Lebenszeit, sondern für jedes
Jahr! - Das war zu Beginn der Diskussion. Da kamen
natürlich viele Dinge zusammen. Aber ich denke, dass
die Entschädigungsleistung eine wirklich gute Sache ist;
da sie nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, umso
mehr.
Noch einmal: Die Betroffenen sind dankbar. Ich bin
dankbar, dass alle Beteiligten dafür gesorgt haben, dass
wir zügig handeln konnten. Es ist auch ein Beitrag zur
Verbesserung der Glaubwürdigkeit der Politik,
({3})
dass wir die Empfehlungen der Studie umgesetzt haben
und nicht noch weiter diskutiert haben, vielleicht sogar
bis in die nächste Legislaturperiode. Der Gesetzentwurf
ist vor allen Dingen ein Fortschritt für die Menschen, die
die Hilfe dringend benötigen.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Thomas Jarzombek von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Bevor ich im Jahr 2009 in
den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, war mir
natürlich bekannt, dass es Contergangeschädigte gibt,
aber mit den Einzelheiten dieser Schicksale war ich bis
dahin nicht vertraut. Seit ich im Familienausschuss für
meine Fraktion Berichterstatter zu diesem Thema bin,
habe ich von den Schicksalen vieler Betroffener erfahren. Angesichts der Schilderungen muss ich sagen: Ich
bin wirklich betroffen.
Es sind unvorstellbare Schicksale aus der Sicht von
jemandem, der selber so etwas nicht erlebt hat. Ich kann
nur sagen: Ich habe wirklich großen Respekt vor denjenigen, die gelernt haben, mit diesen Schädigungen umzugehen, die trotzdem ihr Leben gestaltet haben. Diesen
Respekt zolle ich ihnen heute.
({0})
Ich habe bereits in der Anhörung gesagt - ich möchte
das heute wiederholen -: Als ob das Schicksal, das durch
dieses Medikament verursacht wurde, nicht schon schlimm
genug wäre, so sind den Opfern, den Betroffenen, im
Laufe der Jahrzehnte verdammt viele Steine in den Weg
gelegt worden. Manche Art und Weise im Umgang war
unwürdig. Ich finde, wir haben die Pflicht, uns bei allen
Betroffenen dafür zu entschuldigen.
({1})
An dieser Stelle möchte ich meinen Dank und meine
Anerkennung auch denjenigen Kollegen aussprechen,
die in der letzten Legislaturperiode mit dem Zweiten
Conterganstiftungsänderungsgesetz viel Gutes auf den
Weg gebracht haben. Ich finde es großartig, dass wir es
hinbekommen haben, das heute mit dem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz fortzuführen, dass wir
den Geschädigten, den Opfern, unkompliziert und ohne
lange Antragsverfahren helfen; und das in einer Haushaltssituation, in der es in Anbetracht der Schuldenbremse so gut wie unmöglich ist - das weiß ich aus
meinen anderen Themenbereichen -, auch nur kleine
Summen für neue Projekte zu erhalten. Wir stellen nun
jedes Jahr 120 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
Wir tun hier einen großen Schritt, um für ein weiterhin
selbstbestimmtes bzw. verbessertes Leben der Geschädigten zu sorgen, und darauf kommt es an.
Ich kann dem Kollegen Kurth nur zustimmen: Wenn
sich unser Staat eine Entschädigungszahlung von zusätzlich 120 Millionen Euro pro Jahr leistet - ausdrücklich
keine Sozialleistung; das ist mir wichtig; das wurde übrigens durch die vorgenommenen Änderungen gewährleistet -, die nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet wird, dann fände ich es nur angemessen, wenn auch
die Firma Grünenthal ihren Beitrag zur Entschädigung
leisten würde.
({2})
Man kann auch einen großen Dank an diejenigen
richten, die in der Stiftung viel Gutes getan haben, auch
wenn es manchmal sicher schwierige Situationen gewesen sind. Ich bedanke mich an dieser Stelle und wünsche
mir - auch das im Hinblick auf Änderungen, die wir im
Beratungsverfahren erreicht haben und in die ich große
Hoffnungen setze -, dass öfter öffentlich getagt wird.
Am Ende bin ich stolz, an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet zu haben. Selten hat man ein so sicheres Gefühl, genau das Richtige zu tun. Wenn man sich das
Schicksal der Betroffenen anschaut, kommen wir hier
wohl allesamt zu der Überzeugung, heute genau das
Richtige zu tun.
Darauf bin ich stolz, und ich danke allen, die das ermöglicht haben. Ich hoffe, dass die Betroffenen damit
wieder ein bisschen mehr Mut für ihr Leben fassen können.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13279, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf
Drucksache 17/12678 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend auf Drucksache 17/13279 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/11041 mit dem Titel „Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen
mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz
und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen
1814 ({1}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({2})
vom 2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom 7. Oktober
2008, 1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1851
({5}) vom 16. Dezember 2008, 1897 ({6})
vom 30. November 2009, 1950 ({7}) vom
23. November 2010, 2020 ({8}) vom 22. November 2011, 2077 ({9}) vom 21. November
2012 und nachfolgender Resolutionen des
Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union ({10}) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012
- Drucksache 17/13111 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({11})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dieser
Aussprache nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen,
damit die anderen dem Redner folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle, das Wort.
({12})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr geehrte
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Atalanta
ist eine erfolgreiche Mission. Seit Beginn des Einsatzes
konnte sichergestellt werden, dass über 150 im Auftrag
des Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffstransporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichten.
Insgesamt konnte 1 Million Tonnen Nahrungsmittel und
Hilfsgüter nach Somalia gebracht werden. Das ist der eigentliche Grund, warum wir diese Mission begonnen haben. Wir wollen den Menschen helfen.
Es ist auch einen Dank wert, dass die Frauen und
Männer der Bundeswehr so erfolgreich gearbeitet haben.
({0})
Als wir hier vor einem Jahr über Atalanta debattierten, waren sieben Schiffe und über 200 Geiseln in den
Händen von Piraten. Heute sind es noch zwei Schiffe
und 60 Geiseln. Die letzte Entführung eines Schiffes
liegt fast ein Jahr zurück. Auch die Zahl der versuchten
Kaperungen ist eindeutig rückläufig. Das heißt nicht,
dass alles gut ist. Wenn sich die Dinge gut entwickeln,
dann sollte man aber einfach einmal einen Augenblick
innehalten und die Geschehnisse Revue passieren lassen.
Dabei stellt man fest, dass die Bedenken, die im letzten
Jahr bezüglich der Anpassung des Atalanta-Mandates
geäußert worden sind, von der Realität augenscheinlich
nicht bestätigt worden sind. Mit anderen Worten: Ich
bitte die Opposition, die dem Mandant damals nicht zugestimmt hat, weil sie Zweifel an der Ausweitung des
Mandats hatte, diesem Mandat heute ihre Unterstützung
zu gewähren. Die Bedenken, die Sie geäußert haben, waren augenscheinlich nicht zutreffend.
({1})
Das ist eigentlich ein guter Anlass, wieder zu einer gemeinsamen Haltung des Deutschen Bundestages zurückzukehren.
Das Engagement der Europäischen Union mit deutscher Unterstützung war erfolgreich. Die Mandatserweiterung, nach der die Europäische Union bzw. unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt auch Waffen und Ausrüstung
der Piraten am Strand zerstören dürfen, war beim letzten
Mal Gegenstand einer großen Kontroverse. Heute sehen
wir: Das war eine wirksame Mandatserweiterung. Ich
meine, das wäre ein guter Anlass, die Verweigerung der
Zustimmung vom letzten Jahr dieses Mal nicht zu wiederholen.
({2})
Natürlich ist der militärische Einsatz am Horn von
Afrika in einen politischen Gesamteinsatz für Somalia
eingebettet. Bei der Verfolgung der Hintermänner der
Piraterie und der Aufdeckung ihrer Finanzen können wir
Fortschritte verzeichnen. Auf Betreiben der Bundesregierung erhält dieses Thema auf internationaler Ebene
nun deutlich mehr Aufmerksamkeit. Wir haben neue
Strukturen geschaffen und die Zusammenarbeit der Polizeibehörden verbessert. Das erhöht den Druck auf die
Hintermänner der Piraten. Es darf auf keinen Fall vergessen werden, dass es nicht ausreicht, die Piraten zu bekämpfen, indem man sie von ihren unrechtmäßigen
Handlungen abhält. Es ist auch wichtig, die Hintermänner bei der Ausübung ihres blutigen Handwerks zu stören. Auch diesbezüglich ist durch die politische Arbeit
einiges vorangekommen.
Die Sicherheitslage in und um Mogadischu und in
Teilen Süd- und Zentralsomalias hat sich deutlich verbessert. AMISOM, also die Mission der Afrikanischen
Union in Somalia, hat bei der Verdrängung Al-SchababMilizen gute Erfolge erzielt. Die jüngsten Anschläge haben aber auch gezeigt, dass die Lage immer noch fragil
ist. Das heißt, es ist richtig und geboten, dass wir mit unserem Engagement zum Beispiel die Schifffahrtsrouten
weiter schützen, dass wir als Handelsnation die Seefahrtswege verteidigen, dass wir unsere Staatsbürger,
aber auch die Bürger unserer Partner weiter schützen.
Beim Aufbau der staatlichen Strukturen in Somalia
gibt es ebenfalls Fortschritte. Seit September hat Somalia mit Hassan Sheikh Mohamud einen neuen Präsidenten und seit November eine vom Parlament bestätigte
Regierung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
hat bereits am 18. September letzten Jahres einstimmig
das Ende der Übergangsphase anerkannt. In vier Jahren
soll es dann zu allgemeinen Wahlen kommen. Ich darf
Ihnen mitteilen, dass Deutschland seit kurzem wieder
durch eine Botschafterin bei der somalischen Regierung
akkreditiert und Deutschland damit wieder vor Ort vertreten ist. Damit konnten wir eine mehr als 20-jährige
Phase ohne förmliche Vertretung beenden. Auch das ist
Ausdruck der Normalisierung der Lage in Somalia.
Abermals will ich aber hinzufügen, dass die Lage unverändert fragil ist.
Es ist also nicht alles gut in Somalia. Es bleibt noch
viel zu tun, bevor wir von einer stabilen Staatlichkeit in
Somalia sprechen können. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen den eingeschlagenen Weg entschlossen fortsetzen: durch politische Unterstützung,
durch Entwicklungszusammenarbeit - übrigens auch
durch humanitäre Hilfe, wo sie weiterhin nötig ist - und
nicht zuletzt durch unsere Beteiligung an der EU-geführten Operation Atalanta.
Die völkerrechtlichen Grundlagen dieses Einsatzes
bilden weiterhin die Resolutionen des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen, die Beschlüsse des Rates der
Europäischen Union sowie die Zustimmung der somalischen Regierung.
Für die Bundesregierung beantragen der Bundesverteidigungsminister und ich hier die Verlängerung des
Mandats ohne inhaltliche Veränderung. Was wir im letzten Jahr beschlossen haben, hatte Hand und Fuß. Es war
erfolgreich. Wir sollten es in diesem Jahr fortsetzen.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Karin Evers-Meyer.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Bundestagsfraktion ist für eine Fortsetzung der
EU-geführten multinationalen Operation Atalanta auf
See. Ich wiederhole das noch einmal: auf See. Die Operation ist erfolgreich. Die Bundeswehr hat im Rahmen
von Atalanta mitgeholfen, die Piraten vor der somalischen Küste zurückzudrängen. Seit Mai 2012 hat es dort
keine Schiffsentführungen mehr gegeben, immerhin in
einem Seegebiet, das größer als der ganze europäische
Kontinent ist. Die professionelle Einsatzplanung und das
konsequente Vorgehen der beteiligten Truppen haben bewirkt, dass sich das Geschäftsmodell Piraterie nicht
mehr lohnt. Die Bundeswehr hat ihren Anteil an diesem
Erfolg, einen großen Anteil.
Als SPD-Fraktion hätten wir daher heute gern für eine
Verlängerung des Mandats gestimmt. Leider macht die
Bundesregierung uns diese Zustimmung erneut unmöglich.
({0})
Wieder verbindet sie in ihrem Antrag die Mandatsverlängerung mit einer Ausweitung des Einsatzes auf die
Küstengewässer und das Staatsgebiet von Somalia einschließlich des Luftraums. Dem stimmen wir auch heute
nicht zu. Der Auftrag von Atalanta ist der Schutz der
Schiffe, die im Rahmen des UN-Welternährungsprogramms mit Hilfsgütern für Somalia unterwegs sind. Die
Erfolgsquote von Atalanta liegt bei 100 Prozent. Wir bezweifeln allerdings nach wie vor den militärischen Nutzen der Mandatserweiterung.
({1})
Mit dieser Einschätzung sind wir nicht allein. Im vergangenen Jahr wurden nur ein einziges Mal tatsächlich
Ziele an der somalischen Küste angegriffen.
({2})
Über dieses eine Mal hinaus haben die Militärs vor Ort
offensichtlich keine Notwendigkeit für weitere Einsätze
an der Küste gesehen. Atalanta und die Bundeswehr sind
erfolgreich, ohne dass der Operationskorridor auf Küstengewässer hätte ausgedehnt werden müssen.
({3})
Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines erweiterten Mandats
für die Bundeswehr haben daher nicht zuletzt auch Fachleute aus den Reihen der Bundeswehr selbst.
({4})
Noch etwas, verehrte Kolleginnen und Kollegen
- seien Sie sich dessen bitte bewusst -: Jede Erweiterung
des Mandats erhöht auch die Risiken für die Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz. Wollen Sie die Bundeswehr an
Somalias Stränden dem Risiko aussetzen, in unübersichtliche Gefechtssituationen zu geraten, obwohl sie dafür gar nicht ausgerüstet ist?
({5})
Wollen Sie das Risiko eingehen, dass Unbeteiligte von
der Bundeswehr in Kampfhandlungen verwickelt werden?
({6})
Es ist auch unsere Aufgabe, die Truppe und Zivilisten
vor unnötigen Risiken zu schützen. Genau das tun wir
als SPD-Fraktion. Wir sind unverändert gegen diese
Mandatserweiterung. Wir brauchen sie nicht, um erfolgreich zu sein. Deswegen werden wir unsere Soldatinnen
und Soldaten keinem zusätzlichen Risiko aussetzen.
Wir unterstützen ausdrücklich das deutsche Engagement am Horn von Afrika, wir unterstützen die Operation Atalanta, aber der Ausweitung des Mandats auf die
Strandgebiete und küstennahe Gewässer haben wir nicht
zugestimmt, und wir werden dies auch heute nicht tun.
({7})
Wir brauchen die Mandatsverlängerung - die brauchen
wir wirklich -, aber wir brauchen keine Mandatserweiterung.
Sehr geehrte Damen und Herren aus den Regierungsfraktionen, ich werde Sie trotz guter Argumente heute sicherlich nicht von Ihrer Überzeugung abbringen, dass
die Bundeswehr auch an der somalischen Küste aktiv
werden muss. Wenn aber schon das nicht geht, dann erlauben Sie mir die Frage: Warum stimmen wir über die
Mandatserweiterung nicht getrennt von der Mandatsverlängerung ab? Wir haben Ihnen mehr als einmal vorgeschlagen, dies getrennt zu behandeln: eine Abstimmung
über die Ausweitung des deutschen Einsatzes am Horn
von Afrika,
({8})
eine Abstimmung über die Verlängerung des Mandats
für Atalanta.
({9})
Sie haben das ohne Angabe von Gründen abgelehnt.
({10})
- Das tun wir; das habe ich ja eben gesagt. - Stattdessen
legt uns die Bundesregierung heute einen Antrag vor, der
die Verlängerung des Mandates inklusive der von uns
schon beim letzten Mal abgelehnten Ausweitung vorsieht.
Kolleginnen und Kollegen, damit haben Sie keine
Größe bewiesen.
({11})
Ihre Spielchen gehen doch zulasten der Soldatinnen und
Soldaten. Diese haben ein Recht darauf, dass sich aus
den Ergebnissen der Abstimmungen des Bundestages
über die Einsätze der Bundeswehr ein differenziertes
Bild ergibt.
({12})
Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir hier im
Hause größtmöglichen Rückhalt für ihre Einsätze organisieren.
({13})
Mit zwei getrennten Anträgen wären Sie diesen Erwartungen gerecht geworden.
({14})
Aber das wollten Sie nicht. Das Ergebnis lautet: Mit der
Verquickung von Mandatsverlängerung und -erweiterung haben Sie die berechtigten Erwartungen der Soldatinnen und Soldaten in Sachen Atalanta enttäuscht.
({15})
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben auch viele Mitglieder dieses Hauses vor den Kopf
gestoßen. Denn Sie wissen: Jede Entscheidung über einen Einsatz der Bundeswehr ist für viele Kolleginnen
und Kollegen eine schwerwiegende Gewissensentscheidung.
({16})
Meine Fraktion und ich hätten uns gewünscht, dass Sie
den Kolleginnen und Kollegen den gebotenen Respekt
zollen
({17})
und ihnen die Möglichkeit geben, das Gute und Richtige
vom Unnötigen zu trennen. Einsatzverlängerung und
-ausweitung sind zwei Paar Schuhe und nicht zwei Seiten derselben Medaille.
({18})
Lassen Sie mich nach der Feststellung dieses Ergebnisses noch etwas zur Situation in Somalia sagen. Wir
sind uns darin einig, dass es in der Region weiter darum
gehen muss, Ursachen zu bekämpfen. Symptome zu behandeln, reicht auf Dauer nicht aus. Die wesentlichen
Impulse, durch die die bewaffneten Kämpfer auf See gestoppt werden können, müssen aus Somalia selbst kommen, und da gibt es noch ganz viel zu tun.
Seit 1991 versinkt Somalia im Strudel aus Gewalt und
Chaos. Nicht nur Piraten bereiten Sorge, sondern auch
Islamisten der Terrorgruppe al-Schabab, die mit al-Qaida
kooperieren. Vornehmlich sind es bisher Soldaten aus
Uganda und Kenia, die sich den Al-Schabab-Milizen
entgegenstellen, sie zurückdrängen und aus den Städten
vertreiben. Eine dauerhafte Stabilisierung der Lage kann
nur die somalische Regierung in Mogadischu selbst herbeiführen.
Wir können allerdings helfen: bei der Herstellung einer verlässlichen Gerichtsbarkeit, der Errichtung rechtsstaatlicher Strukturen und der Eindämmung der Korruption.
({19})
Es gibt vieles, bei dem wir mithelfen können, um den
Piraten und den Al-Schabab-Milizen das Wasser abzugraben. Es gibt genug Möglichkeiten, Atalanta durch
durchdachte Maßnahmen an Land zu flankieren. Die
Ausbildung somalischer Rekruten im Rahmen der European Union Training Mission in Uganda ist ein gutes
Beispiel dafür. Hier zeigt die Bundeswehr ihre Leistungsfähigkeit, unter zum Teil schwierigsten Bedingungen. Seit April 2010 haben Soldaten der EU, auch der
Bundeswehr, etwa 3 000 somalische Soldaten ausgebildet. Sie sollen helfen, Somalia von innen zu stabilisieren.
Diesen Weg wollen wir als SPD-Fraktion weitergehen. Dafür haben Sie unsere Unterstützung. Wir fordern
Sie auf, hier endlich entschlossener zu Werke zu gehen,
anstatt die Glaubwürdigkeit eines guten und richtigen
Mandates durch eine nach wie vor fragwürdige Erweiterung aufs Spiel zu setzen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister
Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in den letzten Wochen und Monaten viel über die
Rolle der Europäischen Union im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik diskutiert. Wir stehen
mitten in der Vorbereitung eines Gipfels, auf dem wir
uns im Dezember dieses Jahres erstmalig mit der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschäftigen werden.
Wir können in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
gemeinsam mehr machen; wie viel mehr, darüber diskutieren wir. Wir sollten mehr tun. Deswegen fange ich
meine Rede in dieser Debatte über die EU-geführte Operation Atalanta so an.
Somalia ist, jedenfalls seit einiger Zeit, ein gutes Beispiel dafür, dass der Mehrwert der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht
darin besteht, dass man nur auf die Soldaten, das Zivile,
die Polizei oder das Ökonomische blickt, sondern darin,
dass man im Rahmen eines vernetzten Ansatzes wirkt.
Ich sage das deswegen, weil ich - gerade als Verteidigungsminister - zu denen gehört habe, die kritisiert haben, dass die ganze Last dessen, was in Somalia zu leisten war, auf den Soldaten lag, die Piraten bekämpft
haben, und der Kampf gegen die Hintermänner, das Wirken am Strand - dazu komme ich gleich -, die Stabilisierung der Regierung, all das vernachlässigt worden war.
Seit einiger Zeit ist vieles besser geworden. Darüber
freuen wir uns, und deswegen geht es in Somalia - der
Außenminister hat das vorgetragen - auch voran.
Das Mandat, über das wir heute diskutieren - Atalanta -, ist ein EU-Mandat. Für die gleichen Gewässer
gibt es aber auch ein NATO-Mandat, in diesen Gewässern agieren auch andere Staaten - ich weiß nicht, ob das
bekannt ist; ich nenne einmal einige dieser Staaten - die
Vereinigten Arabischen Emirate, China, Thailand, sogar
der Iran, Indien, Malaysia, Russland, Saudi-Arabien,
Singapur und Japan. Sie alle versuchen teils mit eigenen,
unabhängig operierenden Schiffen Piraten zu bekämpfen
und sind erfolgreich dabei.
Interessanterweise wird das alles von einer Stelle aus
koordiniert. Ich erwähne das nicht nur deswegen, weil es
eine gute Zusammenarbeit zwischen EU und NATO
gibt, die einen leise fragen lassen kann, ob die Mandate
nicht auf Dauer - in welcher Weise auch immer - zu einem Mandat zusammengelegt werden könnten, ich erwähne das auch deswegen, weil wir es schaffen, mit einzelnen Staaten, die sich einem gemeinsamen Anliegen
verbunden fühlen, so zusammenzuarbeiten, dass ein gutes Ganzes dabei herauskommt.
Die Dinge sind nicht nur durch den Einsatz der Soldaten besser geworden, sondern auch durch eine Verbesserung der Ausrüstung der Schiffe und durch - natürlich
haben wir darüber diskutiert, und das ist durchaus zu
problematisieren - die Entsendung privater Escort
Teams, die Schutz bieten sollen. Wir haben in der letzten
Woche ein entsprechendes Gesetz für deutsche Zertifizierungen verabschiedet. Das alles sind Beiträge, die die
Situation verbessert haben, und die zeigen: So ein Einsatz geht nur gemeinsam.
Die nötige Gemeinsamkeit hatten wir auch in diesem
Parlament. Liebe SPD, als ich Frau Evers-Meyer gehört
habe, musste ich an einen alten Spruch von Konrad
Adenauer denken: Geht es nicht eine Nummer kleiner?
Sie haben behauptet, wir würden das Leben der Soldaten
gefährden, wenn es um das Wirken am Strand geht, und
wir sollten Sie in Ihrer Gewissensnot nicht überfordern
mit all dem.
Ich will Ihnen einmal sagen: Wir reden über einen
Wunsch der Soldaten. Es war ein einstimmiger Beschluss aller EU-Staaten - egal wer dort regiert hat -,
den Einsatz so durchzuführen. Wir haben von Anfang an
gesagt: Das ist keine große qualitative Veränderung, sondern nicht mehr und nicht weniger als eine nützliche
kleine zusätzliche Option.
Sie haben da eine riesige Eskalationsgefahr gesehen
und haben danach gefragt, ob man Zivilpersonen wie
Fischer überhaupt von Piraten unterscheiden könne. Es
hat einen Vorfall gegeben; Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 2012
führte ein solcher Einsatz von Hubschraubern auf dem
Land zur Zerstörung mehrerer Piratenskiffs und mehrerer Außenbordmotoren. Es gab keine zivilen Verletzten,
aber der Einsatz hatte eine ziemlich abschreckende Wirkung. Wir wissen ja ganz genau, wo sich die Infrastruktur der Piraten befindet, und wir haben beim letzten Mal
im Ausschuss die Bilder alle gezeigt. Wir können Ihnen
jetzt auch Bilder zeigen: Es gibt diese Infrastruktur nicht
mehr am Strand; daher muss man sie auch nicht mehr
bekämpfen. Deswegen sollten wir aber dieses Mandat
- so wie es ist - fortsetzen.
({0})
Denn wir haben gezeigt, dass unsere Soldaten mit solchen Optionen maßvoll, vernünftig, deeskalierend und
im Ergebnis effektiv umgehen. Deswegen wiederhole
ich: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?
Ich verstehe, dass Sie Schwierigkeiten damit haben,
so kurz vor der Bundestagswahl aus einer Ablehnung
eine Zustimmung zu machen. Das kann ich politisch verstehen. In der Sache ist es jedoch nicht richtig. Bitte machen Sie Ihre Kritik eine Nummer kleiner; das ist auch
eine Ermunterung an den nächsten Redner von den Grünen, der vielleicht Ähnliches vortragen wollte. Ich bitte
Sie also für die Bundesregierung - gemeinsam mit meinem Kollegen Westerwelle - um die Verlängerung dieses Mandats.
Wir sind uns einig: Das kann nur in einem gemeinsamen, vernetzten Ansatz funktionieren. Wir alle sollten
unsere Soldaten in der ganzen Breite des Mandats unterstützen.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vor beinahe genau 20 Jahren, am
21. April 1993, befahl der damalige Verteidigungsminister Rühe von der CDU den Bundeswehreinsatz im Rahmen der Mission UNOSOM II. Ich erinnere mich noch,
dass ich damals bei einer Protestaktion vor dem Kanzleramt in Bonn eine Salami zerschnibbelt habe.
({0})
Damit wollte ich darauf hinweisen, dass dieser Einsatz
Bestandteil einer Salamitaktik ist, um die deutsche Öffentlichkeit daran zu gewöhnen, dass deutsche Soldaten
wieder in Kriege ziehen.
({1})
Diese damalige Salamitaktik ist leider aufgegangen,
und auch Sie, Herr Minister, praktizieren sie weiter;
denn durch die schrittweise Ausweitung
({2})
wollen Sie sozusagen immer weitere Kreise für diese
Militäreinsätze ziehen.
Heute wird die Bundeswehr in aller Welt eingesetzt,
als ob das selbstverständlich wäre. Die Kollegin EversMeyer hat eine vorsichtige Anfrage zu einem ganz konkreten Mandat gestellt und ist hier mit der geballten
Macht der Ministerreden abgestraft worden. Das kann
doch wohl so nicht sein!
({3})
Wir müssen heute wieder über die Verlängerung des
Atalanta-Militäreinsatzes sprechen, und zwar auch deshalb, weil alle Bundesregierungen seit 1990 immer wieder auf militärische Lösungen für die Probleme dieser
Welt gesetzt haben. Wir müssen uns aber 20 Jahre später
fragen: Welches dieser Probleme ist wirklich gelöst worden?
({4})
Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ich
als Geschäftsführerin einer Friedensorganisation gearbeitet. Dabei habe ich gelernt: Wenn ich staatliche Mittel
für Friedensprojekte haben möchte, dann muss ich sehr
überzeugende Anträge stellen und vor allem begründen,
dass die Projekte innovativ und nachhaltig sind. Das
Ganze muss man evaluieren, um die Wirksamkeit zu belegen. Sonst gibt es kein Geld.
Großzügig sind Sie immer nur dann, wenn es um Militäreinsätze geht. Die Bundesregierung lässt sich diesen
Einsatz von 340 Soldaten jedes Jahr mehr als 100 Millionen Euro kosten. Das ist mehr als dreimal so viel, wie
Sie für alle 300 Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes,
die in 40 Ländern der Welt für Frieden und Versöhnung
arbeiten, insgesamt ausgeben.
({5})
Ihre militärfixierte Politik verschleudert aber nicht
nur Geld. Das Schlimme ist: Sie kostet auch Menschenleben. - Das ist wirklich ein Skandal.
({6})
Innovation und Nachhaltigkeit: Wo sind sie in diesem
Konzept? Sie greifen immer wieder zum gleichen untauglichen Mittel, und wenn dieses Mittel keinen Erfolg
bringt, dann erhöhen Sie einfach die Dosis oder definieren die Ziele so um, dass es nach Erfolg aussieht.
Ich habe im Antrag der Bundesregierung einen ganz
richtigen Satz gelesen. Er lautet:
Die nachhaltige Lösung des Piraterieproblems liegt
… in der nur langfristig zu erreichenden Stabilisierung der Verhältnisse an Land.
({7})
Ich muss Sie wirklich fragen: Wie nachhaltig ist das,
was wir hier tun? Wie nachhaltig ist es, wenn Sie diesen
Einsatz Mal um Mal verlängern? Wir alle wissen nämlich: Es müsste eigentlich eine politische Lösung geben,
die nicht nur auf eine Bürgerkriegspartei setzt, sondern
alle Konfliktparteien, die lokalen Autoritäten und die Zivilgesellschaft auch in politische Prozesse einbindet.
({8})
Tun Sie doch ein einziges Mal das, was Sie von jeder
kleinen Entwicklungsorganisation verlangen: Evaluieren
Sie diesen Einsatz!
Ich habe hier nur davon gehört, dass alles erfolgreich
ist. Natürlich ist die Zahl der Piratenangriffe zurückgegangen, aber auf die Frage, was die konkreten Ursachen
dafür sind, haben ja selbst die Minister zugegeben, dass
sie sich nicht sicher sind, woher das kommt.
({9})
Ist das wirklich eine Folge von Atalanta, oder hat das
vielleicht mit der veränderten Situation an Land oder mit
dem veränderten Umgang der Reedereien mit den Risiken zu tun? Das müsste man doch durch unabhängige
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einmal ordentlich evaluieren, bevor man diesen Einsatz hier wieder verlängert.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von den Grünen, Sie haben sich letztes Jahr mit teilweise
guten Argumenten gegen die Ausweitung des Mandates
auf das Festland gewandt. Ich hoffe, das haben Sie noch
nicht vergessen.
Die Linke war jedenfalls von Anfang an gegen diesen
Militäreinsatz,
({11})
und so wird es auch bleiben.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion hat dem Atalanta-Einsatz bis zum letzten
Jahr immer zugestimmt. Im Auftrag der UNO werden
die Schiffe des Welternährungsprogramms zur Versorgung der Bevölkerung gegen Piraten geschützt, und der
freie Zugang zur hohen See für die zivile Schifffahrt in
der Region wird gesichert. Das ist richtig. Das unterstützen wir ausdrücklich.
Aber letztes Jahr hat die Bundesregierung gravierende Änderungen am Mandat vorgenommen.
({0})
Es war und ist hoch riskant, das Mandat auf Luft-BodenOperationen über dem Land auszuweiten, und zwar
2 Kilometer tief ins Landesinnere auf 3 000 Kilometer
Küstenlänge.
({1})
Das sei unbedingt notwendig, um die Piraterie erfolgreich zu bekämpfen, wurde gesagt. Da habe ich gedacht,
Herr Minister: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?
Wir alle wissen: Gerade bei Angriffen aus der Luft
drohen zivile Opfer. Das ist eine bittere Lehre der vergangenen Jahre. Das muss nicht, aber könnte die Gewaltspirale weiter antreiben und eine politische Lösung
des Somalia-Konflikts erschweren.
({2})
Solche Einsätze gehen natürlich einher mit zusätzlichen
Risiken für die Soldaten.
Das Argument „Es ist bisher nicht passiert, es hat nur
einen Einsatz gegeben, und es wird auch weiter nichts
passieren“ überzeugt uns in doppelter Hinsicht leider
nicht.
({3})
Dass es elf Monate keine entsprechenden Operationen
gab, heißt ja nicht, dass es sie in den nächsten Monaten
nicht geben wird oder nicht geben muss.
({4})
Und umgekehrt: Die Tatsache, dass es kaum entsprechende Operationen gab, entkräftet ja Ihr Argument, die
Mandatsveränderung sei für eine erfolgreiche Bekämpfung der Piraterie unbedingt erforderlich gewesen. Das
ist ja dann offenkundig nicht so.
({5})
Deswegen werde ich meiner Fraktion empfehlen, sich
bei der Abstimmung über die Verlängerung dieses Mandats wie letztes Jahr zu enthalten.
({6})
In den vergangenen Monaten haben wir eine zunehmende Stabilisierung in Somalia erlebt. Die Piraterie ist
weiter zurückgegangen. Die Al-Schabab-Milizen wurden durch den Einsatz der Afrikanischen Union und insbesondere durch Kenia zurückgedrängt. Der politische
Prozess macht Fortschritte, wenn auch sehr kleine. Doch
es bleibt unklar, welche weiteren Schritte die Bundesregierung unternehmen will.
Wir haben im letzten Jahr einen Evaluierungsbericht
zum bisherigen Einsatz gefordert. Ein solcher Bericht
liegt wieder nicht vor. Dabei wäre das notwendig, um zu
sehen, welche Fortschritte oder auch Rückschritte es
gibt. Damit meine ich insbesondere den zivilen Bereich.
Wir brauchen eine intensive zivile Aufbauarbeit. Wir
brauchen einen Versöhnungsprozess, der lokale Führungseliten aus allen Landesteilen und die Zivilgesellschaft umfasst. Dazu gehört auch, die neue Regierung
unter Scheich Mahmud viel gezielter beim Wiederaufbau zu unterstützen. Die Weltbank macht es, der Internationale Währungsfonds auch, die Bundesregierung aber
leider nicht. Deswegen fordern wir von Ihnen: Füllen Sie
endlich Ihr eigenes Somalia-Konzept mit Leben, damit
die Menschen dort die Friedensdividende mehr spüren.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Als Herr Schmidt ans Rednerpult getreten
ist, habe ich zunächst einmal die Hoffnung gehabt, dass
er den eigenen Argumentationen im Ausschuss und an
anderer Stelle, etwa dort, wo sich die Grünen öffentlich
zu diesem Thema äußern, folgt und dann zu dem Schluss
kommt, diesem Mandat zustimmen zu können. All das,
was Sie als Konditionalität hier genannt haben, ist genau
das, worüber vorhin beide Minister gesprochen haben.
Nichts anderes hat die Bundesregierung hier getan, als
die Fortschritte im Rahmen dieser Mission zu beleuchten.
Ich wiederhole, worum wir gemeinsam mit unserer
Regierung bei jeder Mandatsverlängerung bitten: Wir erklären, dass wir davon überzeugt sind, dass eine rein militärische Lösung nie von Dauer sein kann. Vielmehr
sind wir davon überzeugt, dass militärische Komponenten Teil einer Lösung sind. Auch deshalb widerspreche
ich der Linkspartei, die hier sehr engagiert eine Totalablehnung vorgetragen hat. Gerade das Beispiel Atalanta
zeigt doch, wie hoch die Akzeptanz innerhalb der deutschen Bevölkerung ist, wenn eine Mission nachhaltig erfolgreich ist
({0})
und wenn sie in einen größeren politischen Rahmen eingebettet ist, wie ihn Herr Schmidt von uns hier so engagiert eingefordert hat. Es ist doch in der Tat so, dass wir
- nicht nur, was den bemerkenswerten Einsatz der Soldatinnen und Soldaten angeht, sondern auch, was die Entwicklungshelfer und das diplomatische Korps angeht alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen,
um Somalia in dieser schwierigen Phase zu unterstützen.
Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie, Herr
Schmidt - Sie haben am Ende gar keine Meinung geäußert; denn Enthaltung ist gar keine Meinung -: Geben
Sie bitte im Verlauf der Ausschussberatungen Ihrem
Herzen noch einmal einen Ruck und folgen Sie unserer
Argumentation. Wir sind ja auch gerne bereit, noch weiter mit Ihnen zu diskutieren und dies auch öffentlich zu
tun; das machen wir ja bei vielen Gelegenheiten. Aber
Ihre Enthaltung an dieser Stelle kann ich nicht nachvollziehen. Da empfinde ich es fast schon als konsequenter,
was die Fraktion die Linke macht, die sich hier wie bei
allen Mandaten verantwortungslos zeigt und sich dabei
in ideologischen Widersprüchen verheddert.
Was ich allerdings am wenigsten verstehe, Frau
Evers-Meyer, ist Folgendes: Sie hatten ja hier sehr groß
vorgetragen, dass Sie von uns die Trennung der Mandate
einfordern.
({1})
Es ist zu offensichtlich - Minister de Maizière hat es ja
auch angesprochen -, dass Ihr jetziges Verhalten mit
dem Wahltermin zusammenhängt;
({2})
denn Sie verabschieden sich hier aus einem Mandat, das
wir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben
({3})
und das aus Ihren eigenen Reihen - leider sehe ich Herrn
Kollegen Bartels gerade nicht - ja sogar gelobt wird.
Kollege Bartels lobt nicht das Mandat der Vergangenheit, vielmehr fand ich als aufmerksamer Leser der
Kieler Nachrichten vom 16. Januar dieses Jahres Folgendes - ich lese Ihnen das vor; ich kann Ihnen das nicht
ersparen -: Für besonders erfolgreich hält Bartels auch
die laufenden Marine-Missionen. Der Anti-PiratenEinsatz „Atalanta“ vor der somalischen Küste sei zu Beginn belächelt worden. Doch nach und nach sei es gelungen, den Piraten das Kaper-Geschäft deutlich zu erschweren: durch gesicherte Korridore für Handelsschiffe
und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen der Reeder. In
der Folge sind die Angriffe drastisch zurückgegangen.
2012 konnten die Piraten nur noch fünf Schiffe in ihre
Gewalt bringen - nach 25 im Vorjahr.
Wenn das Ihre Expertise dazu ist, dann verstehe ich
nicht, warum die SPD hier dem Mandat nicht zustimmen
will;
({4})
denn Herr Bartels hat recht mit dem, was er gesagt hat,
und er spricht hier deutlich von dem aktuellen Mandat
und von nichts anderem.
({5})
- Ich lasse die Zwischenfrage von Herrn Arnold natürlich gern zu; darauf freue ich mich.
({6})
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie
unsere Kollegen immer so gerne zitieren.
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass all das, was Sie vorgelesen haben, ausschließlich mit der Aufgabe der Bundeswehr auf See zu tun hat? All das, was Sie vorgelesen
haben, hat die Bundeswehr auf See erledigt.
Nein, stimmt ja gar nicht!
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass der
entscheidende Faktor für den Erfolg der Mission neben
dem großen Engagement der Streitkräfte - das ist wirklich wichtig - die Sicherheitsmaßnahmen der Reeder an
Bord sind? Ist Ihnen bekannt, dass kein einziges Schiff
mehr gekapert wurde, auf dem bewaffnete Sicherheitskräfte waren? Deshalb müssen wir auch darüber reden.
Ich stelle eine dritte Frage, Herr Kollege. Man kann ja
darüber reden, was an Land Sinn macht oder nicht. Aber
wenn wir etwas mandatieren, dann muss es doch Sinn
machen.
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass es in der ganzen Zeit nur ein erkanntes sogenanntes Piratencamp am Strand gab? Ist es
Ihnen ein Mandat wert, drei kleine Boote und eine Handvoll Außenborder zu zerstören?
({1})
Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass überhaupt kein
Piratengerödel am Strand liegt, weder vorher noch nachher, das bekämpft werden konnte und bekämpft werden
kann, sondern dass die Piraten vor und nach Ihrer
Mandatserweiterung immer alles aus den Dörfern herangeschleppt und sofort auf die größeren Schiffe hinausgebracht haben?
Das heißt, Herr Kollege: Müssen wir etwas mandatieren, was so marginal ist? Ich glaube, dazu sind unsere
Mandate zu ernsthaft. Darum geht es uns im Kern,
({2})
um genau das, was Ihr Minister gesagt hat.
Herr Kollege Arnold!
Ich bin fertig. - Das ist also genau das, was Ihr Minister gesagt hat: eine Nummer kleiner bei Ihrer Erweiterung.
({0})
Bleiben Sie bitte stehen, Herr Arnold?
Das Adenauer-Zitat muss Sie sehr getroffen haben,
Frau Evers-Meyer, nicht wahr? Aber Adenauer kann
man immer gut zitieren. Wir präsentieren Ihnen bei einer
der nächsten Debatten noch ein paar Zitate.
Ich habe Ihnen dazu nur Folgendes zu sagen, Herr
Arnold: Wir glauben und sind der festen Überzeugung
- ansonsten hätten wir es ja hier gar nicht so eingebracht -,
dass beide Komponenten zusammengehören. Wir sind
davon überzeugt - Sie können das gerne anders sehen -,
dass die Erweiterung des Mandats dazu beigetragen hat,
dass sich die Piraten um ihrer eigenen Sicherheit willen
defensiver verhalten. Wir würden es bedauern - das fänden wir nicht gut -, wenn die Zahl der Zwischenfälle gestiegen wäre. Wir sagen: Die Wirksamkeit eines Mandats macht sich auch daran fest - das haben wir übrigens
auch bei anderen Missionen schon diskutiert -, dass die
Zahl der Zwischenfälle sinkt. Dies darf unter militärischen Gesichtspunkten nicht außer Acht gelassen werden.
({0})
Wie gesagt, ich habe Herrn Bartels deshalb zitiert, weil
er sich auf das Mandat als Ganzes bezieht und hier keine
Differenzierung macht. Das gibt das Zitat eindeutig her,
und auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Wir werben dafür - damit beantworte ich Ihre Frage
ganz klar -, im Rahmen dieses Mandats die Piraten an
diesem Küstenstreifen auch logistisch zu bekämpfen.
Ein Detail: Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir
die Erweiterung des Mandats in unserer eigenen Fraktion kritisch begleitet haben. Ich habe damals an einer
Unterrichtung teilgenommen, die inhaltlich nicht dem
entspricht, was Sie in Ihrer Frage 2 oder 3 an mich behauptet haben. Vielleicht haben wir an unterschiedlichen
Unterrichtungen teilgenommen. Aber ich habe das anders in Erinnerung und widerspreche Ihnen deshalb in
diesem Punkt.
Ich bin der Meinung, dass wir das politische Engagement für Somalia bzw. für ganz Afrika - das soll mein
abschließender Punkt sein - fortsetzen sollten. Wenn
hier im Plenum nur schlaglichtartig über einzelne Mandate oder einzelne Aktivitäten in Afrika diskutiert wird,
dann ist das bedauerlich. Dass ausgerechnet heute
Abend so viele Kolleginnen und Kollegen da sind, finde
ich eine erfreuliche Tatsache.
({1})
Sie zeigt aber auch, dass wir unser Engagement in
Afrika auch dann, wenn es um nichtmilitärische Maßnahmen geht, genauso eifrig angehen müssen.
Ich bin deshalb der Meinung, dass die Afrika-Politik
insgesamt einen größeren Stellenwert verdient hat. Unser Kollege Hartwig Fischer, der sich auf diesem Gebiet
in den vergangenen Jahren sehr viel Ruhm erarbeitet hat,
macht immer wieder deutlich, dass wir uns dann, wenn
wir in Afrika nachhaltig erfolgreich sein wollen, dauerhaft verpflichten müssen. Deshalb ist ein militärischer
Beitrag, der zeitlich begrenzt ist und der mit einem dauerhaften Engagement im Idealfall wenig zu tun hat, nur
eine Komponente.
Ich bin Minister Westerwelle außerordentlich dankbar, dass er in die Debatte die politische Dimension
eingebracht hat, um so unser großes außenpolitisches
Engagement für Somalia zu begleiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Michael Groß, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konsens für eine moderne Infrastruktur - Die
Bundesverkehrswege solide finanzieren
- Drucksache 17/13191 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Infrastruktur verfällt. Die Industriebosse in Deutschland haben Angst davor, den großen Standortvorteil, den wir
hatten, zu verspielen. Ich glaube, das ist nach vier Jahren
kein gutes Zeugnis für die schwarz-gelbe Regierung,
ausgestellt von einer Gruppe, die eher Ihnen zugerechnet
wird.
In dem Bericht der Kommission „Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ wird ebenso die Sorge
um den Wirtschaftsstandort Deutschland zum Ausdruck
gebracht. Es ist genau diese Daehre-Kommission, die einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von jährlich
7,2 Milliarden Euro für die Straße, die Schiene und die
Wasserstraßen sieht. Auch das ist nach vier Jahren kein
gutes Fazit für die Regierung. Es geht aber nicht nur um
Arbeitsplätze, Güterverkehre und Logistik, sondern auch
um die Lebensqualität in Deutschland, bezahlbare Mobilität, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Die Akzeptanz
von Infrastrukturvorhaben wird letztendlich vom Nutzen
und von der Belastung der Menschen in diesem Land abhängen. Der Schutz vor Verkehrslärm beispielsweise ist
enorm relevant, wenn es darum geht, ob wir die Infrastruktur wie das Straßen- und das Schienennetz weiter
ausbauen können. Sie haben aber weder beim Klimaschutz noch beim Verkehrslärm noch bei der Barrierefreiheit etwas erreicht. Wir sehen hier eher Rückschritte
statt Fortschritte.
({0})
Sie werden mir recht geben, dass NRW eine große
Verkehrsdrehscheibe in Deutschland ist.
({1})
Aus gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Gründen brauchen wir gerade in Nordrhein-Westfalen
eine funktions- und leistungsfähige Infrastruktur aus
Straßen und Brücken; sonst sind Auswirkungen auf die
gesamte Bundesrepublik und die angrenzenden Länder
zu spüren. NRW darf nicht zum Nadelöhr der Bundesrepublik werden. Sonst muss demnächst bei den Prognosen ein Elefant durch das Nadelöhr. Das gilt es zu verhindern.
Von den 8,6 Milliarden Euro im Investitionsrahmenplan der Bundesregierung für den Neu- und Ausbau von
Schienenwegen soll NRW bis 2015 sage und schreibe
2 Prozent erhalten. Das sind circa 170 Millionen Euro.
So wenig wie noch nie! Das wird dem Bedarf nicht gerecht. Von den bundesweit rund 7 Milliarden Euro Bundesregionalisierungsmitteln erhält NRW etwa 16 Prozent. Das ist viel zu wenig.
Die SPD-Fraktion hat seit drei Jahren Dialoge geführt
und einen Infrastrukturkonsens erarbeitet. Die Ergebnisse dieses Konsenses sind in unserem Antrag zusammengefasst, der Ihnen heute vorliegt. Wir wollen wesentlich mehr Geld in die Infrastruktur stecken, und zwar
zusätzlich circa 2 Milliarden Euro jährlich. Wir brauchen ein Programm zur Sanierung der Bundesautobahnen mit dem Schwerpunkt Autobahnbrücken. Wir fordern ein nationales Verkehrswegeprogramm mit einer
klaren Priorisierung und der Beseitigung von Engpässen,
Knoten und Staus.
({2})
Die Finanzierung muss überjährig für fünf Jahre fixiert
werden, um Planungssicherheit herzustellen. Außerdem
brauchen wir eine verkehrsträgerübergreifende Netzplanung.
Wir brauchen einen verkehrsträgerübergreifenden
Finanzierungskreislauf und dürfen die Kommunen nicht
alleinlassen.
({3})
Es gibt Städte, die im nächsten Jahr nur zwei Straßen sanieren können, obwohl sie 21 sanieren müssten. Die
Bürger müssen in ihren Autos mit 10 Kilometern pro
Stunde über die Straßen fahren, weil Sie die Kommunen
alleinlassen, sie nicht unterstützen. Sie sorgen letztendlich dafür, dass die Menschen keine Lebensqualität mehr
in den Städten haben.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({4})
Das Wort hat der Kollege Reinhold Sendker von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende SPD-Antrag proklamiert nicht wirklich viel
Neues. In der Forderungsliste befinden sich Positionen,
die schon vorher bekannt waren. Etliches ist durch die
Koalition längst auf den Weg gebracht worden.
({0})
Im Blickpunkt des Antrags Ihrer Fraktion, Herr Kollege Groß, steht die Forderung nach zusätzlich 2 Milliarden Euro für die Verkehrsinfrastruktur.
({1})
Ja, wir benötigen dringend mehr Mittel für den Erhalt
sowie für den Aus- und Neubau der Verkehrsanlagen.
2012 und 2013 haben die Koalitionsfraktionen mit den
Investitionsbeschleunigungsprogrammen I und II fast
2 Milliarden Euro zusätzlich erreichen können. Ich füge
dem hinzu: Vor dem Hintergrund und den Ansprüchen
einer erfolgreichen Haushaltskonsolidierung ist dies ein
klarer Erfolg der Koalition und des Ministers, der dafür
sehr erfolgreich gestritten hat.
({2})
Sie sprechen den Substanzerhalt an und fordern Priorität für den Erhalt vor Aus- und Neubau mit Blick auf
Brückenbauwerke und insbesondere mit Blick auf Autobahnbrücken. In dieser Legislaturperiode hat die christlich-liberale Koalition dem Erhalt in der Infrastrukturfinanzierung ganz klar Vorrang eingeräumt.
({3})
Der Löwenanteil der Haushaltsmittel - hören Sie gut
zu! - wird mittlerweile für die Erhaltungsinvestitionen
verwandt;
({4})
bei den Bundesfernstraßen sind es in 2013 2,5 Milliarden Euro. Darunter ist aktuell bei Brücken und Tunneln
ein Bedarf von 830 Millionen Euro angezeigt, in den
nächsten Jahren von 1 Milliarde Euro. Allein diese Zahlen unterstreichen: Die Grunderneuerungen sind unausweichlich; Erhalt hat Priorität vor Neubau. Da sind wir
uns einig, und da werden wir auch Kurs halten.
({5})
Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,
LuFV, hat unser Minister gestern im Verkehrsausschuss
im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Brücken,
Tunneln und Bahnhöfen klar Stellung bezogen. Auch die
Instandsetzung von Schleusen steht längst auf der
Agenda.
({6})
Allein die Finanzmittel, die im Investitionsbeschleunigungsprogramm II für die Bundeswasserstraßen vorReinhold Sendker
gesehen sind, fließen zu 54 Prozent - das sollten Sie
festhalten - in dringende Erhaltungsmaßnahmen, zu
16 Prozent in die Verstärkung laufender Ausbau- und
Neubaumaßnahmen und zu 30 Prozent in wichtige Neubeginne. Aber gerade die Erhaltungsinvestitionen - das
lassen Sie mich hier bemerken ({7})
setzen Bestandsaufnahme und teils zeitaufwendige technische Untersuchungen voraus. Insofern sind zeitliche
Verzögerungen nicht unbedingt kritikwürdig.
Kritikfähig hingegen ist, dass in früheren Wahlperioden - lassen Sie uns auch davon einmal sprechen ({8})
unter den SPD-Verkehrsministern eindeutig zu wenig im
Bereich der Instandhaltung investiert worden ist. Hier
liegen die Versäumnisse.
({9})
Die SPD fordert in ihrem Antrag ferner, die infrastrukturellen Voraussetzungen für den Deutschland-Takt
auf der Schiene zu schaffen. Auch dieser Ansatz befindet sich bereits in der gutachterlichen Prüfung, wenngleich er nach dem Schweizer Modell wohl kaum in
Deutschland umsetzbar ist.
Die Kapazität des Schienennetzes für den Güterverkehr wollen Sie bis 2030 verdoppeln. Einerseits, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, fordern Sie
Vorrang für die Erhaltungsinvestitionen und viel Geld,
was aber den Spielraum für die Neu- und Ausbauinvestitionen weiter deutlich verringert, andererseits wollen Sie
hier verdoppeln. Wie Sie das machen wollen, bleibt
wohl Ihr Geheimnis. Ich stelle fest: Wirklich seriös ist
das nicht.
({10})
Wenn Sie schließlich das Instrument des Finanzierungskreislaufs ansprechen, dann verweise ich auch bei
diesem Punkt darauf, dass wir es längst geschaffen haben. Besonders der Finanzierungskreislauf Straße hat zu
Recht viel Lob erfahren. Im Gegensatz zu dem von Ihnen geforderten verkehrsträgerübergreifenden Finanzierungskreislauf leisten die Kreisläufe Schiene und Straße
mehr Transparenz und verdeutlichen vor allem den Bedarf des einzelnen Verkehrsträgers. Transparenz in der
Mittelverwendung und Transparenz beim Mittelbedarf das ist zielführend, und dieser Weg ist richtig.
({11})
In Ihrem Antrag geben Sie an, auch die Erschließung
der Fläche nicht zu vernachlässigen. Das beantragen Sie
hier in Berlin. Lassen Sie mich, Herr Kollege Groß, einmal vom Landtag von Nordrhein-Westfalen reden. Dort,
wo Sie regieren, erhalten wichtige Umgehungsstraßenprojekte in ländlicher Region keine Planungspriorisierung. Das passt nun gar nicht zusammen; da sind Sie
schlicht unglaubwürdig. Ich darf feststellen, dass auch in
dieser Beziehung der Antrag nicht gelungen ist.
({12})
Also: alles in allem wenig Neues im Antrag der SPD.
Er gibt uns aber Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass
die Koalition in der Schaffung moderner Infrastruktur in
dieser Wahlperiode
({13})
auf gutem Wege ist. Wir werden in Deutschland - lassen
Sie mich das abschließend feststellen ({14})
als starkem Logistikstandort, als Transitland und als
Wachstumslokomotive in Europa dank der christlich-liberalen Koalition vor allem bei den Güterverkehren
noch enorme Zuwächse zu verkraften haben. Dazu müssen wir das Verkehrsnetz insgesamt ertüchtigen. Diese
Herausforderung - eine große Herausforderung - ist
auch in der nächsten Wahlperiode bei der christlich-liberalen Koalition in guten Händen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine
Leidig das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
insbesondere von der SPD, wir Linke haben zu Beginn
und nicht zum Ende dieser Wahlperiode bereits einen
umfassenden Antrag eingebracht und die grundlegende
Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik verlangt,
und zwar für Klima- und Umweltschutz, für Barrierefreiheit, für soziale Gerechtigkeit und für neue Arbeitsplätze.
Es gibt tatsächlich einige Parallelen zu dem, was die
SPD-Kollegen hier fordern. Vor allem der Ausbau der
Schiene und das Ziel, die Bahn in der Fläche so zu entwickeln, dass Deutschland-Takt funktioniert, gehören
dazu.
({0})
Dies gilt auch für den Vorschlag, die Lkw-Maut auszuweiten. Wir haben vor zwei Jahren beantragt, dass sie
auf das gesamte Straßennetz ausgedehnt und in der Höhe
angehoben wird, wie in der Schweiz. Also: Einverstanden!
Sie wollen den Schutz vor Verkehrslärm deutlich verbessern. Das wollen wir auch. Deshalb hatten wir im November letzten Jahres in einem Antrag gefordert, dass
alle Menschen gleichermaßen vor Verkehrslärm geschützt werden müssen - egal ob sie an Straßen, an Güterzugtrassen oder unterhalb der Einflugschneisen von
Flughäfen wohnen. Das soll nicht nur gelten, wenn Strecken neu gebaut werden. Es geht um die Gesundheit und
das Wohlbefinden von Hunderttausenden, die schon
heute unter Verkehrslärm leiden. Wir verlangen, dass in
zehn Jahren an allen bestehenden Strecken Lärmschutz
verwirklicht ist und die lautesten Abschnitte in den
nächsten fünf Jahren saniert werden.
({1})
Die SPD hat übrigens mit den Koalitionsfraktionen gegen diesen Antrag gestimmt. Das finde ich sehr schade.
Aber das ist nicht der einzige Punkt, den ich hier kritisch
anmerken will.
Klar, was Sie hier vorstellen, ist mit Abstand sinnvoller als die Verkehrspolitik aus dem Hause Ramsauer.
Aber das ist auch nicht schwer.
({2})
Es gibt allerdings berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Immerhin - darauf wurde gerade verwiesen hat die SPD elf Jahre lang die Verkehrsminister gestellt.
({3})
Die A-Modelle, also die Privatisierung von Autobahnen,
sind zum Beispiel auf Ihrem Mist gewachsen.
Sie fordern in Ihrem Antrag den Vorrang für die
Schiene. Fehlanzeige! 2001 hat Ihr Verkehrsminister
Bodewig stolz verkündet, dass die Bundesregierung die
Ausgaben für den Straßenbau auf Rekordniveau erhöht
hat. Das war übrigens unmittelbar nach dem Klimagipfel. In der mittelfristigen Finanzplanung der zweiten
Schröder-Regierung sind die Straßenbaumittel gegenüber 2003 auf 4,9 Milliarden Euro erhöht, die Investitionen in die Schiene dagegen um 10 Prozent auf 4 Milliarden Euro gekürzt worden. Das ist wirklich skandalös.
In einem Kabinettsbeschluss vom August 2000 hat
sich die damalige Regierung aus SPD und Grünen übrigens für einen massiven Ausbau der deutschen Flughäfen ausgesprochen, um eine Verdopplung des Flugverkehrs bis 2015 zu ermöglichen. Tatsächlich ist diese
hoch subventionierte und umweltschädlichste Verkehrsart seither um über 50 Prozent gewachsen. Dazu schreiben Sie kein einziges Wort. Aber wir brauchen eine
Wende auch in der Flugverkehrspolitik. Rund ein Viertel
aller Flüge könnte relativ zügig auf die Bahn verlagert
werden. Genau das fordern wir mit unserem Konzept,
dazu ein ausreichendes Nachtflugverbot von 22 bis
6 Uhr mindestens und die Deckelung der Zahl der Flugbewegungen. Außerdem müssen endlich die direkten
und indirekten Subventionen abgeschafft werden. Dann
wäre auch mehr Geld da, zum Beispiel für ordentliche
Fahrradwege. Auch dazu, werte Kollegen von der SPD,
schreiben Sie kein Wort. Wer mit dem Fahrrad oder gar
zu Fuß unterwegs ist, kommt in Ihrem Verkehrsinvestitionskonzept gar nicht vor. Dabei werden die meisten aller Wege nicht motorisiert zurückgelegt.
Wie der Teufel das Weihwasser scheuen Sie den Begriff der Verkehrsvermeidung. Damit sind Sie ganz beim
Bundesverband der Deutschen Industrie. Der will nämlich mehr öffentliche Mittel für Lärmschutz - das hat der
Kollege Sendker gerade ausgeführt -, damit die Akzeptanz für noch mehr Lkws und noch mehr Flugzeuge
steigt. Aber auf keinen Fall soll darüber geredet werden,
wie man Wohlstand mit weniger Güterverkehr organisieren kann. Genau das aber ist unser Ansatz.
({4})
Verkehr ist keine Leistung, auf die man stolz sein sollte;
Verkehr ist Aufwand, den man möglichst gering halten
sollte, und vor allem ist er eine zunehmend unverantwortliche Last für Menschen und Natur. Davon ist in Ihrem Antrag leider nichts zu erkennen. Ich sage Ihnen:
Hier ist die Linke weiter. Wir wollen Mobilität für alle
mit weniger Verkehr.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Oliver
Luksic das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mobilität ist Ausdruck von Lebensqualität und wichtiger
Baustein für Wirtschaftswachstum. Ja, trotz vielfältiger
Bemühungen haben wir in der Tat Bedarf, hier noch ein
Stück mehr zu tun. Kollege Groß, Sie haben ein Zerrbild
der Realität dargestellt, beispielsweise in den Ländern,
in denen Sie mit den Grünen regieren, etwa in Rheinland-Pfalz. Was passiert denn da bei der Infrastruktur?
Die A 1 - der Kollege Schnieder hat mehrfach darauf
hingewiesen - soll nicht ausgebaut werden.
({0})
Die SPD hat ein bisschen Asphaltallergie. Insofern: Halten Sie sich mit Ihrer Kritik da mal ein bisschen zurück!
({1})
Wir haben in der Tat mehr Bedarf. Deswegen werden
wir in der nächsten Wahlperiode mit dieser Koalition zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssen. Wir
brauchen geschlossene Finanzierungskreisläufe für
Straße und Schiene.
Bei der Schiene - Kollege Groß hat es angesprochen haben wir die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, die wir in dieser Woche diskutiert haben. Es ist so,
dass nicht alle Gelder, die vorgesehen sind, von der Bahn
auch verbaut werden. Insofern gibt es hier ein Stück weit
Nachholbedarf.
Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön.
Herr Kollege Luksic, nachdem Sie Rheinland-Pfalz
erwähnt haben und Ihrem CDU-Generalsekretär in
Rheinland-Pfalz offenbar auf den Leim gegangen sind,
frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Koalition in Rheinland-Pfalz klar politisch beschlossen hat, dass der Lückenschluss der A 1 zum Bundesverkehrswegeplan angemeldet wird?
({0})
Lieber Kollege Herzog, ich glaube, die Kollegen der
Grünen in Rheinland-Pfalz sehen das massiv anders.
({0})
Alle Verlautbarungen dort besagen doch, dass das für die
Landesregierung keine Priorität hat. So ist es auch in
zahlreichen anderen Bundesländern: in Baden-Württemberg das Gleiche, in NRW auch.
({1})
Dort, wo Sie mit den Grünen zusammen regieren - der
Kollege Kühn wird es Ihnen nachher noch einmal sagen -,
wollen Sie die Infrastruktur nicht ausbauen. Deswegen
ist das, was die CDU in Rheinland-Pfalz gesagt hat, absolut richtig.
({2})
- Die Aufregung zeigt, dass da offenbar ein wunder
Punkt getroffen wurde.
({3})
Zum Thema Schiene. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass die Bahn nicht alle vorhandenen Mittel ausgenutzt hat! Deswegen ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung jetzt vorschlägt, 500 Millionen Euro
zusätzlich für Bahnhöfe und Brücken auszugeben.
({4})
Es ist ein gutes Programm, das wir jetzt auf den Weg
bringen.
({5})
Wir sehen es anders als Sie, was das Thema der zusätzlichen Belastung angeht. Sie wollen in Ihrem Antrag
unter die 12-Tonnen-Grenze gehen. Sie wollen die Ausdehnung der Maut auf Landes- und Kommunalstraßen.
Unsere Befürchtung ist, dass das, was Sie vorschlagen,
insbesondere das Handwerk und den Mittelstand trifft.
({6})
Deswegen sind wir dagegen, da bis auf 3,5 Tonnen herunterzugehen. Das ist der falsche Ansatz.
Die Daehre-Kommission hat die Daten vorgelegt; das
ist gut und richtig. Das ist eine wichtige Handreichung
für die Kollegen in Bund und Land. Wir, die Verkehrspolitiker aller Fraktionen, sind uns völlig einig, dass wir
stärker dafür werben müssen, dass die Infrastruktur als
Standortfaktor wahrgenommen wird.
({7})
Die Bodewig-Kommission wird hier mit Sicherheit weiter in die richtige Richtung arbeiten.
({8})
Entscheidend ist die Planungssicherheit. Herr Groß,
Sie sagen, dass wir mehr Geld für die Infrastruktur brauchen; das teilen wir. Kollege Sendker hat aber absolut zu
Recht darauf hingewiesen, dass in der mittelfristigen
Planung von Herrn Steinbrück die Mittel für die Verkehrsinvestitionen noch niedriger waren.
({9})
9,4 Milliarden Euro waren damals vorgesehen.
({10})
Die Große Koalition hat auch ungefähr in dem Rahmen
geplant.
({11})
Wir haben das Ganze jetzt auf 10 Milliarden Euro erhöht, zusätzlich 1 Milliarde Euro und 750 Millionen
Euro in diesem Jahr sozusagen auf den Tisch gelegt.
Klar ist: Immer dann, wenn Sie in der Verantwortung
waren, haben Sie durch Steuererhöhungen belastet, aber
die Verkehrsinvestitionen zurückgefahren. Das gehört
zur Wahrheit dazu.
({12})
Sie planen in der Tat eine Reihe von Steuererhöhungen. Ob davon etwas bei der Infrastruktur ankommt, da
haben wir wirklich große Fragezeichen zu setzen.
({13})
Völlig klar ist, Kollege Kahrs, dass das, was Sie uns vorschlagen, wirklich wenig Substanz hat.
({14})
Sie haben während Ihrer eigenen Verantwortung weniger
Geld ausgegeben. Insofern sind Sie da leider wenig
glaubwürdig. Ich erinnere beispielsweise an die Mautlüge. Insofern hat die SPD während ihrer Verantwortung
den Stau, den sie jetzt beklagt, mit verursacht.
Es ist festzuhalten, dass diese Koalition in dieser Legislatur einiges vorangebracht hat: lärmabhängige Trassenpreise, Schienenbonus, Eisenbahnregulierungsgesetz,
VZR-Reform, NABEG, Reform der WSV,
({15})
BF17, Liberalisierung des Fernbusverkehrs, Planungsvereinfachung. Das ist wirklich eine beachtliche Bilanz,
die wir vorlegen können.
Der Investitionshaushalt ist gestiegen. Wir haben zusammen mit dem Bundesverkehrsministerium zusätzliche Gelder erstritten, trotz der Sparbeschlüsse.
({16})
Wir haben auf der einen Seite konsolidiert, und auf der
anderen Seite wurden die Investitionen angehoben. Wir
können sagen, dass wir in Deutschland vier gute Jahre in
der Verkehrspolitik hatten und weitere vier gute Jahre
haben werden.
Vielen Dank.
({17})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Stephan Kühn das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Industrieland sind wir auf hochwertige
Verkehrsnetze angewiesen. Angesichts knapper Staatsfinanzen müssen wir aber klug investieren und die Infrastruktur klug anpassen und ausbauen. Deshalb ist es
wichtig und richtig, dass wir heute hier zusammensitzen.
Allerdings stelle ich fest, dass hier fast nur Verkehrspolitiker sind und wenige Haushaltspolitiker; die sollten aber
eigentlich auch an der Debatte beteiligt sein.
Der Abschlussbericht der Daehre-Kommission zeigt
die Baustellen in der Infrastrukturpolitik, die wir in der
nächsten Legislaturperiode anpacken müssen. Auch die
Erhaltungsbedarfsprognose für das Bundesfernstraßennetz offenbart einen stark ansteigenden Bedarf für den
Erhalt in Höhe von jährlich 3,7 Milliarden Euro. Derzeit
werden jährlich nur 2,5 Milliarden Euro für den Erhalt
aufgebracht. Die Ursache für den Nachholbedarf ist die
sträfliche Vernachlässigung des Substanzerhalts durch
eine auf Neubau fixierte Politik der Spatenstiche gerade
dieser Bundesregierung. Das sogenannte Infrastrukturbeschleunigungsprogramm von Verkehrsminister Peter
Ramsauer, die sogenannte Zusatzdreiviertelmilliarde im
Haushalt, ist genau das: ein Spatenstichprogramm. Der
Straßenneubau geht zulasten des Substanzerhalts. Bereits jetzt fehlen für die laufenden Projekte über 2 Milliarden Euro. Sie beginnen neue Projekte, obwohl Ihnen
das Geld fehlt und die Finanzierung der Projekte nicht
gesichert ist. „Erhalt vor Neubau“ bleibt oft ein Lippenbekenntnis. Jedes Jahr findet eine Zweckentfremdung
von Bundesmitteln statt, die eigentlich für den Erhalt
vorgesehen sind, aber in Neubauprojekte gesteckt werden, gerade vor Wahlen. Das führt zum Substanzverzehr.
Nach der Grundkonzeption für den nächsten Bundesverkehrswegeplan soll Investitionen in den Erhalt der Infrastruktur Vorrang vor Neu- und Ausbau eingeräumt
werden. Ohne eine längst überfällige verkehrspolitische
Neuausrichtung der Infrastrukturpolitik bleibt der Ruf
nach neuen Finanzierungsinstrumenten wirkungslos. Zuerst brauchen wir eine verbindliche Prioritätensetzung
über Verkehrsprojekte, dann können wir über mehr Geld
reden, nicht andersherum.
({0})
Es schadet auch der Glaubwürdigkeit von Politik,
wenn die Länder immer längere Wunschlisten mit neuen
Vorhaben einreichen, obwohl jedem klar sein müsste,
dass die Kluft zwischen verfügbaren Mitteln und Projektwünschen unüberbrückbar ist. Ich nenne eine Zahl:
Das Restvolumen des sogenannten vordringlichen Bedarfs bei der Straße im Bundesverkehrswegeplan beträgt
42 Milliarden Euro. Das heißt, der aktuelle Bundesverkehrswegeplan ist hoffnungslos überzeichnet.
({1})
Es besteht keine Chance, all diese Projekte zu realisieren. Das gehört zur Ehrlichkeit.
({2})
Wir brauchen eine Reform der Bundesverkehrswegeplanung, damit der verkehrsträgerübergreifende Ausbau
des Kernnetzes, also die Engpassbeseitigung auf den
Hauptachsen des Autobahn- und Schienennetzes, endlich im Vordergrund steht.
Nach so viel Übereinstimmung mit dem Antrag der
SPD zum Abschluss ein kritischer Hinweis zu Ihrer Forderung, die Erschließung der Fläche nicht zu vernachlässigen. Wir haben in dieser Woche die Ergebnisse einer
von der grünen Bundestagsfraktion beauftragten Studie
zu den regionalwirtschaftlichen Effekten von Straßenbau
erhalten. Ergebnis: Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen neuen Autobahnen und überdurchschnittlicher regionalwirtschaftlicher Entwicklung. Durch
den Bau weiterer Autobahnen lassen sich weder Erreichbarkeitsdefizite mindern noch die daraus resultierenden
Wachstumsschwächen beseitigen. - Als Instrument zur
Förderung der regionalen Wirtschaft taugt Autobahnbau
also leider nicht.
({3})
Trotzdem sollen weitere 1 000 Kilometer Asphaltschneisen durch die Republik gezogen werden. Milliardenteure
Autobahnprojekte wie die Nordverlängerung der A 14,
die Westverlängerung der A 20 oder die A 39 müssen
bei der Aufstellung des neuen Bundesverkehrswegeplans infrage gestellt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Karl
Holmeier das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem uns heute vorliegenden Antrag stellt die SPDFraktion ihren Ministern für die elf Jahre von 1998 bis
2009, in denen sie das Ministerium geführt haben, ein
miserables Zeugnis aus.
({0})
Im Antrag werden die Defizite in der Verkehrsinfrastruktur unseres Landes, die die SPD-Verkehrsminister verursacht haben, zutreffend beschrieben. Ich darf der Vollständigkeit halber ergänzen, dass wir dies schon zu
Beginn der Legislaturperiode erkannt haben. So heißt es
in unserem Koalitionsvertrag:
Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblieben.
Die Schlussfolgerung der SPD ist insofern nicht ganz
korrekt. Es war ihre Politik, die die heutigen Engpässe
verursacht hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsminister Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und
Tiefensee. Sie haben es über elf Jahre hinweg versäumt,
sich um den Erhalt der Bundesstraßen, der Autobahnen
und zahlreicher Brücken zu kümmern.
({1})
Die Straßen und Brücken sind doch nicht in den letzten
drei Jahren so schlecht geworden. Die Versäumnisse haben schon viel früher begonnen.
({2})
Der CSU-Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer muss
nun die Suppe auslöffeln, die ihm die SPD eingebrockt
hat.
({3})
Doch anstatt sich in Demut zu üben, schieben Sie die
Schuld auf die jetzige Bundesregierung. So geht es nicht.
({4})
Lassen Sie mich das korrekt darstellen: Die SPD war
es, die über Jahre hinweg zu wenig Geld in den Verkehrshaushalt gesteckt hat. Wir hingegen haben im
Jahr 2012 1 Milliarde Euro erkämpft und 2013 750 Millionen Euro.
({5})
Die SPD war es, die die Einführung der Lkw-Maut
verstolpert hat. Ihr Minister hat uns eine Verurteilung
durch das Oberverwaltungsgericht Münster beschert.
({6})
Wir müssen das nun mit einem Maut-Änderungs-Gesetz
ausbügeln. Ihr Minister Stolpe hat uns ein Schiedsverfahren beschert, weil er dilettantisch verhandelt und
keine klaren vertraglichen Regelungen für den Fall der
verspäteten Mauteinführung getroffen hat. Er hat sich
von Toll Collect über den Tisch ziehen lassen. Das müssen wir heute ausbügeln.
({7})
Die SPD war es, die nach der Einführung der Maut
die Mittel im allgemeinen Haushalt abgesenkt hat. Wir
hingegen haben mit dem neuen Finanzierungskreislauf
Straße einen historisch wichtigen Schritt für mehr Unabhängigkeit vom Verkehrsetat getan.
({8})
Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. Wilms?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie handhaben ja hier
mit allen möglichen Zahlen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass wir als Ergebnis der Daehre-Kommission
zwar ein Vermögen in Form der Infrastruktur in Höhe
von 1,1 Billionen Euro haben, aber auch einen täglichen
Vermögensverzehr von 13 Millionen Euro durch unterlassene Instandhaltung? Wir beschäftigen uns nämlich
nur mit Kosmetik. Ich hätte von Ihnen gerne einmal gehört, wie Ihr Verkehrsminister damit umgeht. Er macht
nämlich nur Spatenstiche und kümmert sich nicht um die
Substanz.
({0})
Wir haben den Etat im Jahr 2012 um 1 Milliarde Euro
und 2013 um über 700 Millionen Euro aufgestockt, und
ein großer Teil dessen wurde für Unterhalt und Sanierung verwendet. Aber das, was Sie sagen, reicht ja in die
Zeit der SPD zurück. Nicht die letzten drei Jahre sind am
Zustand der Straßen schuld.
({0})
Die SPD war es, die in den elf Jahren, in denen sie an
der Regierung war, den Bestand sträflich vernachlässigt
hat und sich stattdessen lieber auf dem internationalen
Parkett gesonnt und Verträge für grenzüberschreitende
Projekte mit teuren Verpflichtungen unterschrieben hat.
Wir hingegen legen einen klaren Schwerpunkt auf die
Sanierung des Bestandes der Straßen und sehen dabei einen erheblichen Nachholbedarf in Westdeutschland.
Ich könnte meine Auflistung beliebig fortführen. Wer
hat denn eigentlich den Verkehrswegeplan 2003 konzipiert mit all den falschen Prioritäten, den unzähligen
Projekte, die überhaupt nicht realisiert werden können?
Andere wichtige Projekten wurden nicht aufgenommen.
Ich könnte Bahnlinien usw. aufzählen.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole,
muss ich noch einmal klarstellen: Schuld an der aktuellen Misere
({1})
ist nicht die christlich-liberale Bundesregierung, schuld
ist die SPD.
({2})
Jetzt wollen Sie uns gute Ratschläge geben. Vielen
Dank, auf die können wir verzichten. Wir von der christlich-liberalen Koalition sind auf einem guten, auf einem
sehr guten Weg.
({3})
Wir werden es auch nach dem September 2013 sein.
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
die Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf Plus“
schaffen, durch die gewährleistet wird, dass besonders
dringliche Projekte ganz vorne angestellt werden.
({4})
Wir werden in der nächsten Legislaturperiode die
Einführung einer Pkw-Maut auf Autobahnen und ausgewählten Bundesstraßen angehen, um den Finanzierungskreislauf Straße zu stärken.
({5})
- Jawohl. Als ich hingegen den Vorschlag der SPD zum
Thema Maut gelesen habe, wäre ich fast vom Stuhl gefallen. Sie sollten über dieses Thema mit Ihren Mittelstandspolitikern sprechen. Heute Vormittag haben diese
erklärt, sie wollen den Mittelstand in Deutschland stärken. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen das gründlich
misslingen wird, wenn Sie auf allen Bundes-, Landesund Kommunalstraßen eine Lkw-Maut einführen. Die
kleinen und mittleren Handwerksbetriebe werden Ihnen
dann aufs Dach steigen.
({6})
Was Sie heute vorschlagen, ist ein Existenzvernichtungsprogramm. Ungeachtet der negativen Auswirkungen wird Ihnen jeder, der etwas von diesem Thema versteht, erklären, dass sich der technische Aufwand und
vor allen Dingen der Kontrollaufwand im Zuge der
Mauterhebung auf allen Straßen nicht im Ansatz rechnet.
Meine Ausführungen zeigen, dass unser Land alles
andere braucht als ein SPD-geführtes Verkehrsministerium und die Ratschläge der SPD.
({7})
Daher kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass wir den
vorliegenden Antrag der SPD ablehnen.
Vielen Dank.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Johannes Kahrs.
Sehr geehrter Herr Präsident! An dieser Stelle würde
man normalerweise sagen: Sehr geehrter Herr Minister;
aber er ist ja nicht da. Wenn wir über den Haushalt diskutieren, dann ist er mit seinen fünf Staatssekretären immer anwesend. Daran merkt man, welchen Stellenwert
man Fachpolitikern in diesem Hause beimisst. Statt fünf
Staatssekretären und einem Minister sitzt immerhin der
Kollege Scheuer hier, den ich sehr schätze.
({0})
Bei einem Minister und fünf Staatssekretären ist das allerdings ein bisschen ärmlich.
Wenn Sie die heutige Debatte verfolgt haben, werden
Sie festgestellt haben, dass CDU/CSU und FDP behaupten: Wir brauchen mehr Geld, sie hätten mehr Geld herangeschafft.
({1})
Als Haushälter kann ich nur sagen: Manchmal dient der
Wahrheitsfindung ein Blick in den Haushalt; denn dann
würden Sie merken, dass der Eckwertebeschluss zu Ihrem Haushalt - das sollten Sie sich als Fachpolitiker einmal näher betrachten - jährlich um 1 Milliarde Euro abgesenkt worden ist. In den nächsten vier Jahren werden
Sie jedes Jahr 1 Milliarde Euro weniger bekommen.
({2})
Das steht in dem Eckwertebeschluss. Lesen Sie das einmal nach. All das, was Sie hier erzählt haben, ist in der
Sache falsch. Ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern,
dass Sie noch keinen Blick in den Haushalt geworfen haben.
({3})
Angesichts der Tatsache, dass alle von Ihnen getroffenen Feststellungen auf der Sachebene falsch sind, sollten
Sie nachlesen, was in unserem Antrag steht. Wir fordern,
dass der Verkehrsetat um 2 Milliarden Euro erhöht werden soll, und das gegenfinanziert. Das sagen wir nicht
deswegen, weil die Straßen in einem guten Zustand sind,
sondern weil wir alle wissen, in welchem beklagenswerten Zustand die Straßen, die Verkehrswege und - auch
darauf muss man hinweisen - die Kanäle, zum Beispiel
der Nord-Ostsee-Kanal, in Deutschland sind. Wir hatten
das Geld zur Verfügung gestellt, wir haben für die Planungsreife gesorgt. Sie haben nichts gemacht, außer das
Geld aus diesem Bereich abzuziehen.
({4})
In der Sache wissen wir, dass Sie versagt haben. Hätte
es die Wahl in Schleswig-Holstein nicht gegeben und
hätte das Parlament keinen Druck ausgeübt, dann hätten
Sie kein Geld für den Nord-Ostsee-Kanal zur Verfügung
gestellt. Allein dem Druck der Opposition, unserem
Druck, ist es zu verdanken, dass wir jetzt ein Gesamtkonzept hinbekommen.
({5})
Ihr Minister ändert alle zwei Wochen seine Meinung. Ihr
Minister hat im Hinblick auf die Sanierung von einer
Perlenkette geredet: eine Maßnahme nach der anderen.
({6})
- Es ist ja schön, dass Sie hier herumbrüllen. Trotzdem
haben Sie Ihren Haushalt pro Jahr um 1 Milliarde Euro
abgesenkt.
Wenn man feststellt, wie Sie bei der Verkehrspolitik
versagt haben, dann fragt man sich natürlich, warum Sie
hier so laut herumhupen.
({7})
Ich glaube, dass liegt daran, dass Sie das Versagen der
- wie Sie immer so schön sagen - christlich-liberalen
Koalition in den letzten dreieinhalb Jahren hier verbergen wollen.
Wir wissen doch, dass wir für die Bundesfernstraßen
800 Millionen Euro mehr brauchen. Für die Brücken
brauchen wir 1 Milliarde Euro. Für die Schienenwege
brauchen wir 1 Milliarde Euro. Und bei den Bundeswasserstraßen brauchen wir sogar 1,5 Milliarden Euro.
({8})
Was Sie dem Industriestandort Deutschland bieten,
ist, dass Sie pro Jahr 1 Milliarde Euro aus dem Etat streichen, und sich dann hier hinstellen und herumhupen.
Das ist doch peinlich. Das kann doch gar nicht wahr
sein. CDU/CSU haben mit ihrer Politik in diesem Lande
versagt.
Dass Ihr Minister heute nicht hier ist, kann ich gut
nachvollziehen. Ich würde mich an seiner Stelle bei der
Leistungsbilanz, die ich hier vorlege, auch schämen.
({9})
Weil das so ist, sitzt auf der Regierungsbank nur der
arme Kollege Scheuer. Mit ihm kann man es ja machen.
Er muss es stellvertretend für all die anderen aushalten.
({10})
- Er ist ein feiner Kerl, aber in der Sache wissen wir,
dass die Regierung nichts gerissen hat.
Wenn man über Haushaltsklarheit und -wahrheit redet, dann muss man diese Blackbox Verkehrsetat vielleicht einmal aufbrechen. Vielleicht müsste jede neue
Maßnahme über 25 Millionen Euro durch den Fachausschuss und den Haushaltsausschuss gehen und einzeln
beschlossen werden, damit nicht die Mitarbeiter im
Ministerium, in den Landesministerien entscheiden, was
gebaut wird, sondern eine parlamentarische Kontrolle
stattfindet. Dann müsste jedes große Projekt individuell
im Haushalt abgebildet werden. Dann könnte man jährlich den Baufortschritt nachvollziehen. Dann kämen nur
noch Großprojekte in den Haushalt, die durchfinanziert
sind. Dann hätte man nicht dieses Elend, das Sie in den
letzten drei Jahren verbockt haben.
Von der SPD lernen heißt: Alles wird besser.
({11})
Senken Sie den Etat nicht um 1 Milliarde Euro pro
Jahr ab, sondern lesen Sie unseren Antrag. Lesen bildet,
und Denken hilft.
Glück auf!
({12})
Das war angesichts der späten Stunde eine muntere
Debatte. Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13191 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
- Drucksache 17/13082 29798
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/13259 Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingLothar Binding ({1})Dr. Barbara Höll
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13268 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthlePetra Merkel ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({5})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz, dessen wesentliche Maßnahmen wir bereits vor
knapp sechs Monaten in diesem Haus beschlossen haben
und das dann an der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat
gescheitert ist. Deshalb wende ich mich heute ganz besonders an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün. Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen wirklich
ernst mit dem Schließen sogenannter Steuerschlupflöcher ist.
Es besteht in diesem Haus in weiten Teilen Einigkeit,
dass es bei der Erbschaftsteuer im Hinblick auf die sogenannten Cash-GmbHs einen Missbrauchstatbestand gibt.
Es gibt deshalb auch eine Vorlage des BFH an das Bundesverfassungsgericht. Heute können wir eine Regelung
beschließen, die jenen Missbrauch und jene Gestaltungsmöglichkeit ganz massiv einschränkt. Nur zur Steuerverkürzung gegründete bzw. konstruierte Unternehmen
können auf Basis unseres Vorschlags, den wir heute beschließen, nicht mehr als Vehikel zur Vermögensverschiebung genutzt werden.
Es gibt auch einen Vorschlag des Bundesrats, den Sie
favorisieren; aber dieser Vorschlag ist hochgradig gefährlich. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Verwaltungsvermögenstest wäre für die Unternehmen ein Anreiz, jegliche Liquidität im Unternehmen zu vermeiden.
Das wäre eine dahin gehende Steuerung, dass man Liquidität aus dem Unternehmen heraushält. Was das für
den betrieblichen Alltag bedeutet, was das gerade in Zeiten der Krise bedeutet, ist klar: Verlust von Arbeitsplätzen und Gefährdung des ganzen Unternehmens.
Unser Vorschlag, den wir heute hier vorlegen, ist erheblich besser. Er ist vor allem praxistauglich. Die verfassungsrechtlich gebotene Zielgenauigkeit der Vergünstigungsregelungen wird mit unserem Vorschlag deutlich
erhöht. Indem wir die Zielgenauigkeit deutlich erhöhen,
schaffen wir auch die Missbrauchs- und Gestaltungsanfälligkeit ab. Wenn es Ihnen also ernst ist mit Ihrem Anliegen, Steuergestaltungsmodelle zu verhindern, dann
stimmen Sie heute zu.
({0})
Sie können heute auch beweisen, ob es Ihnen mit dem
Anliegen, den Mittelstand von Bürokratie zu entlasten,
wirklich ernst ist. Sie werden erklären müssen, warum
Sie sich hier gegen die Verkürzung der Fristen zur Aufbewahrung von Unterlagen bei Mittelständlern wenden,
({1})
obwohl das einer Entlastung beim Bürokratieaufwand in
Höhe von über 2 Milliarden Euro entspricht. Sie wenden
sich dagegen,
({2})
und das, obwohl Ihr Kanzlerkandidat, Peer Steinbrück
- ich muss es noch einmal sagen, auch wenn ich weiß,
dass das wehtut -, erst vor wenigen Wochen auf einer
Mittelstandstagung gesagt hat, dass man den Mittelstand
von unnötigen kostenträchtigen Regelungen befreien
muss.
({3})
Er hat dabei explizit die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen angesprochen.
({4})
Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen ernst ist mit
dem Wunsch, dass man rechtliche Betreuer und Leistungen von Bühnenregisseuren und Choreografen von der
Umsatzsteuer befreit.
({5})
Wenn Sie wie wir den besonderen Gewerbesteuerzerlegungsmaßstab bei Photovoltaikanlagen tatsächlich
wollen, dann stimmen Sie heute zu. Sie werden den
Menschen erklären müssen, warum Sie diesen Gesetzentwurf aufhalten. Sie werden ihnen erklären müssen,
warum Sie dadurch die längere Geltungsdauer bei Freibeträgen im Lohnsteuerabzugsverfahren verhindern, obwohl das nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern gerade
auch für die Steuerverwaltungen in den Ländern eine
Vereinfachung bedeuten würde. Sie werden erklären
müssen, warum Sie das nicht möchten.
Eine Frage, die ich Ihnen hier letzte Woche schon einmal gestellt habe, muss ich wiederholen:
({6})
Glauben Sie, dass zum Beispiel die zivilen Freiwilligendienstleistenden Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün
die von uns gewollte Steuerbefreiung ihres Taschengeldes aufhält, dass Rot-Grün das im Bundesrat weiterhin
blockiert? Ich glaube nicht, dass sie dafür Verständnis
haben.
Nehmen Sie die im Bundesrat aufgehaltenen Steuerbefreiungsvorschriften für die freiwillig Wehrdienstleistenden und die Reservisten. Wir wollen sie entlasten.
Wir wollen sie steuerlich gerecht behandeln. Hier liegt
der Gesetzentwurf. Stimmen Sie zu!
({7})
Die Opposition und damit auch die rot-grün regierten
Bundesländer müssen sich jetzt ihrer Verantwortung
stellen. Sie müssen ihre Blockadehaltung aufgeben, und
sie müssen aufhören, für dieses Land wichtige Maßnahmen immer nur mit Blick auf die Bundestagswahl im
Bundesrat zu blockieren und zu verhindern.
({8})
Sie von der Opposition waren es, die im Vermittlungsverfahren, das die meisten der heutigen Punkte enthielt,
den Stock in das laufende Rad gesteckt haben.
({9})
Damit haben Sie für den Crash dieses Gesetzentwurfs
gesorgt. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass dieser
Gesetzentwurf nicht noch einmal im Bundesrat scheitert.
Stimmen Sie zu, und sorgen Sie dafür, dass die Blockade
im Bundesrat endlich aufhört.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Ingrid Arndt-Brauer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gutting,
ich weiß nicht so recht, ob mir bei Ihrer Rede die Tränen
kommen sollten oder welchen Effekt Sie hier produzieren wollten.
({0})
- Ja, Sie hätten schon beim Jahressteuergesetz im
Vermittlungsausschuss zusammen mit dem Bundesrat
zustimmen können.
({1})
Alle Maßnahmen, über die wir heute reden, waren dabei: die Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer,
Bühnenbildner, Regisseure und Choreografen, die Steuerbefreiung des Taschengeldes beim zivilen Freiwilligendienst,
({2})
die Steuerbefreiung für Reservisten und Wehrdienstleistende. All diese Personengruppen hätten Sie schon vor
sechs Monaten beglücken können.
({3})
Sie haben von einem Stock zwischen den Speichen gesprochen. Was war das denn? Sie hätten auch noch die
Lebenspartnerschaften beglücken können. Sie hätten das
ganze Land mit einem Schlag glücklich machen können.
Das ging aus irgendwelchen ideologischen Gründen
nicht.
Jetzt werfen Sie uns vor, dass wir Ihr Gesetz verhindern. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen, den Sie hier einbringen, ist lediglich eine Krücke. Was bedeutet das im Ergebnis?
({4})
- Unser Kanzlerkandidat hat das bei einer Konferenz angedeutet.
({5})
Unser Kanzlerkandidat hat aber nicht angedeutet, dass
wir 2,5 Milliarden Euro übrig haben, um diese als Beglückung über die Welt zu schütten. So viel würde dieses
Gesetz kosten. Dieses Geld haben wir nicht.
({6})
Es kommt noch etwas dazu. Welche Konsequenzen
hat es, wenn wir die Aufbewahrungsfristen nur verkürzen, so wie Sie das möchten?
({7})
Sie springen nur ein kleines Stück. Sie wollen Bürokratieabbau, verzichten aber auf Steuereinnahmen, weil Sie
die Maßnahmen, die wir bräuchten, nicht vollziehen. Sie
wollen nicht mehr Steuerbeamte einstellen. Sie wollen
nicht mehr Betriebsprüfer einstellen.
({8})
- Moment, diese Forderung erheben Sie nicht gleichzeitig mit diesem Gesetzentwurf. Das müssten Sie aber ehrlicherweise tun. - Sie produzieren hier Steuerausfälle,
die nicht zu verantworten sind. Deswegen können wir
Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({9})
Jetzt schieben Sie da unseren Kanzlerkandidaten vor
nach dem Motto: Der hat das mal angesprochen. - Wenn
Sie all das umsetzen würden, was er angesprochen hat,
wären wir in dieser Republik schon ein Stück weiter.
({10})
Noch einmal. Ich finde das, was Sie hier tun, sehr
scheinheilig.
({11})
Sie hätten all die Maßnahmen, die Sie angesprochen haben und die wir bis auf die Verkürzung auch für sinnvoll
halten,
({12})
schon vor einem halben Jahr umsetzen können. Das haben Sie nicht getan, obwohl Sie im Koalitionsvertrag
auch Lösungen für die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften angekündigt haben.
({13})
Sie haben im Vermittlungsausschuss die ganze Sache
platzen lassen. Deswegen sitzen wir hier heute Abend
noch einmal. Für uns ist das kein Problem; denn wir sind
Arbeit am Abend gewohnt.
({14})
Aber Sie blockieren hier heute Abend den ganzen Apparat. Sie bekommen von uns natürlich keine Zustimmung.
Sie glauben, Sie könnten uns hier vorführen, aber jeder,
der das verfolgt hat, sieht, wie durchsichtig das ganze
Verfahren ist. Ich finde es schade, dass wir uns allen das
hier zumuten.
Ich möchte Sie noch einmal ermutigen: Gehen Sie mit
vernünftigen Zielsetzungen in den Vermittlungsausschuss, dann bekommen Sie auch vernünftige Ergebnisse.
({15})
Der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ohne mehr
Steuerbeamte, ohne mehr Betriebsprüfer und ohne angepasstes Verhalten können wir nicht zustimmen.
({16})
Ich möchte die Debatte hier nicht unnötig verlängern.
Ich denke, ich habe alles dazu gesagt. Ich finde es
schade, dass Sie so uneinsichtig sind; auch ein Tenor in
Richtung Mitleid wird Ihnen nicht helfen.
({17})
Wir können leider nicht zustimmen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie in den letzten vier Wochen eine gute
Politik gemacht hätten. Leider haben Sie das nicht geschafft. Das ist eine Sache mehr, die wir machen müssen. Wir werden es im September angehen. Einige von
Ihnen werden wir dann ja wiedersehen, alle wahrscheinlich nicht. Ich wünsche uns allen einen schönen Sommer.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk von der
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD! Liebe
Frau Arndt-Brauer, wir legen heute den Entwurf eines
Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen vor
und beziehen uns damit ausdrücklich auch auf die Aussage Ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.
({0})
Es ist erstaunlich, wie viel Beinfreiheit Sie Ihrem Kanzlerkandidaten zugestehen, wenn Sie sich hier hinstellen
und sagen, er habe das nur angedeutet.
({1})
- Sie können unserem Gesetzentwurf heute zustimmen.
Ich möchte nur kurz darauf hinweisen: Ihrem Kanzlerkandidaten scheint die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ja nicht so wahnsinnig wichtig zu sein;
({2})
denn er nimmt an dieser Debatte noch nicht einmal teil.
({3})
Insofern muss man feststellen: Vielleicht haben Sie gar
nicht so unrecht, dass Ihr Kanzlerkandidat wolkige Andeutungen macht. Aber wenn es wirklich zum Schwur
kommt, dann ist er ganz schnell weg. Er macht also
keine vernünftige Politik für den Mittelstand in Deutschland und keine vernünftige Steuerpolitik. Aber das kennen wir ja schon aus seiner Amtszeit als Finanzminister.
Insofern sind wir auch nicht besonders überrascht.
({4})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, um ein weiteres Thema aufzugreifen:
({5})
Eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen führt in den
Unternehmen, insbesondere in den mittelständischen
Unternehmen, zu einer Einsparung von Bürokratiekosten im Milliardenbereich.
({6})
Das kostet keinen einzigen Euro Steuergeld. Es sind
wirklich überflüssige Bürokratiekosten, die wir damit
einsparen.
({7})
Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist, die Bundesregierung aufzufordern, mehr Finanzbeamte und mehr
Betriebsprüfer einzustellen. Darf ich Sie von der SPD
einmal fragen: Was machen Sie denn in den Bundesländern, in denen Sie dafür verantwortlich sind, dass mehr
Finanzbeamte eingestellt werden?
({8})
Dazu höre ich von Ihnen nämlich gar nichts.
({9})
In Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in BadenWürttemberg höre ich dazu gar nichts von Ihnen.
({10})
Insofern: Kommen Sie doch bitte nicht mit diesem Argument! Führen Sie nicht das, was in der Verantwortung
der Bundesländer liegt, hier auf Bundesebene als Argument gegen diesen Gesetzentwurf an!
Sie sagen natürlich zu Recht, dass wir uns mit den
Themen, um die es in unserem Gesetzentwurf geht,
schon einmal befasst haben, nicht nur mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen, sondern zum Beispiel
auch mit der Umsatzsteuerbefreiung für Bühnenregisseure und der Steuerfreiheit des Taschengeldes für die
Jugendfreiwilligendienste. Übrigens, dadurch würden
80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende entlastet und
unterstützt werden.
({11})
80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende, das ist, denke
ich, eine beachtliche Zahl. Die jungen Menschen, die
diesen Dienst leisten, müssen wir unterstützen.
({12})
Deswegen sollten Sie diesem Gesetzentwurf hier im
Bundestag zustimmen.
Aber Sie haben natürlich vollkommen recht: Diese
Themen wurden, wie gesagt, schon im Bundesrat und im
Vermittlungsausschuss behandelt.
({13})
Aus dem Vermittlungsausschuss kam ein Vorschlag zur
Erbschaftsteuer. Dabei geht es um die sogenannten
Cash-GmbHs.
({14})
Mit dem Vorschlag, den der Vermittlungsausschuss gemacht hat - man muss Vorschläge ja auch einmal in
Ruhe bewerten -, hätte man deutlich über das Ziel hinausgeschossen.
({15})
Das wäre wirklich ein Angriff auf die Finanz- und Kapitalausstattung insbesondere von Familienunternehmen
gewesen.
({16})
Deswegen haben wir die Regelung zu den Cash-GmbHs
eindeutiger, detaillierter, treffsicherer gemacht, und zwar
wirklich nur im Hinblick auf missbräuchliche Gestaltungen.
({17})
Dass Sie an Themen wie der Kapitalausstattung, dem
Betriebsvermögen und der Bedeutung der Finanzausstattung insbesondere für mittelständische Unternehmen
überhaupt kein Interesse haben, sieht man daran, dass
Sie planen, eine Vermögensteuer einzuführen, die zwingend dazu führen würde, dass die Betriebsvermögen und
damit auch die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen reduziert würden.
({18})
Sie haben die Bedeutung von Eigenkapital in Unternehmen offenbar noch immer nicht verstanden.
({19})
Wenn Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gesagt hat,
dass eine Vermögensteuer Betriebsvermögen auf jeden Fall
nicht treffen würde - oder hat er das nur angedeutet? -,
({20})
muss man deutlich darauf hinweisen: Er kann das nicht
verhindern, Sie können das auch in Ihrer vollen Pracht
und Schönheit als SPD-Fraktion
({21})
nicht verhindern: weil eine Unterscheidung zwischen
Privatvermögen einerseits und Betriebsvermögen andererseits nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich ist.
({22})
Dementsprechend muss man deutlich sagen: Die Steuerpolitik, die Sie vorschlagen und die Sie über Ihre
Blockademehrheit im Bundesrat vertreten, ist ein Frontalangriff auf die mittelständischen Unternehmen in
Deutschland.
({23})
Wir haben in den letzten vier Jahren genau den umgekehrten Kurs eingeschlagen: Wir haben dafür gesorgt,
dass insbesondere die mittelständischen Unternehmen
gut arbeiten können, dass es genügend Arbeitsplätze
gibt. Das waren vier gute Jahre für Deutschland,
({24})
und das werden wir fortsetzen.
({25})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Axel Troost.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
meinen fast acht Jahren Bundestag habe ich in diesem
Parlament einiges an Mätzchen und Spielchen erlebt.
({0})
Die Abläufe im Zusammenhang mit dem Jahressteuergesetz 2013 bekommen in einer Liste der Absurditäten auf
jeden Fall einen Spitzenplatz: Der Bundestag hat gegen
die Opposition ein Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetz
ging an den Bundesrat. Im Vermittlungsausschuss war
im Prinzip Konsens hergestellt; doch dann ist alles an einem Punkt gescheitert. Anstatt dass man versuchte, wenigstens die restlichen Punkte vernünftig abzuarbeiten,
wurde ein neuer Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag
wurde vom Bundestag verabschiedet, ging wieder an
den Bundesrat und lag wieder im Vermittlungsausschuss. Jetzt sollen in einem dritten Anlauf noch einmal
Veränderungen vorgenommen werden.
({1})
Meine Redezeit ist leider begrenzt; aber ich will noch
einmal auf die geplante Verkürzung der Aufbewahrungszeiten eingehen. Zurzeit müssen Unternehmen Unterlagen zehn Jahre aufbewahren. Jetzt wird vorgeschlagen,
diese Frist auf fünf Jahre zu verkürzen.
({2})
- Es sind je nachdem zehn Jahre oder acht Jahre; es geht
ja um unterschiedliche Unterlagen.
({3})
Für die Unternehmen ist eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen natürlich angenehm. Ich habe selbst ein
Unternehmen und weiß, was für Aktenberge man da aufbewahren muss.
Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf geschätzt, dass die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
für den Staat Kosten von 1 Milliarde Euro verursacht.
Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie kommt
diese Milliarde zustande? Die Antwort war: Ursächlich
ist, dass die Auswertung von Steuerunterlagen für Betriebsprüfungen und Steuerfahndung zeitlich nur eingeschränkt möglich ist.
({4})
Zu deutsch: Wenn die Aufbewahrungsfristen verkürzt
werden, sind die Steuerprüfer nicht mehr in der Lage, so
zu prüfen, wie sie das eigentlich machen müssten, und
dadurch entstehen Steuerausfälle von - geschätzt; es
sind möglicherweise viel mehr - 1 Milliarde Euro. Das
ist doch absurd. Haben Sie denn aus dem Fall Hoeneß
und aus anderen Fällen überhaupt nichts gelernt?
({5})
Sie marschieren genau in diese Richtung weiter.
Jetzt sagen Sie: Da müssen die Länder ran, das ist
doch deren Problem. Nehmen wir einmal das Land Bayern. In Bayern wird ein mittelgroßes Unternehmen im
Durchschnitt nur alle 20 Jahre geprüft, ein Kleinunternehmen sogar nur alle 40 Jahre.
({6})
- Alles ordentliche Steuerzahler, und es gibt keinerlei
Rückstände. Aber warum sollen dann die Aufbewahrungsfristen verkürzt werden mit dem Argument, dass
die Unternehmen entlastet werden sollen? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Es geht nicht nur um die Einnahmen,
({7})
es geht in dieser Republik auch um Steuergerechtigkeit.
({8})
Was Sie hier machen, hat damit überhaupt nichts zu tun,
sondern ist das genaue Gegenteil.
({9})
Das Gleiche gilt für die Cash-GmbH im Bereich der
Erbschaftsteuer. Sie haben sich sozusagen durchgesetzt
damit, dass bei der Vererbung von Betriebsvermögen ein
Sonderweg gewählt werden kann.
({10})
Jetzt ist aber klar: Der wird, wie immer, bis zum Gehtnichtmehr missbraucht.
Sie haben jetzt einen Kompromiss aufgelegt, der aber
kein wirklicher Kompromiss ist, weil er das Ganze nur
eingeschränkt verändert. Der ursprüngliche Vorschlag
vom Bundesrat und vom Vermittlungsausschuss hätte
wesentlich mehr Ergebnisse gebracht. Insofern ist auch
dieser Weg für uns nicht akzeptabel.
Wegen dieses ganzen Kuddelmuddels werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wohl wissend, dass
darin zum Beispiel Regelungen für Bühnenregisseure
und andere enthalten sind, denen wir gerne helfen würden.
({11})
Wir können aber nicht zustimmen, wenn das mit solchen
Kröten verbunden ist.
Insofern wird das Gesetz noch einmal in den Vermittlungsausschuss gehen, und wir werden dann mit RotRot-Grün und nach Diskussionen mit Ihnen hoffentlich
zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat nun Thomas Gambke für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs hatte ich eigentlich denselben Eindruck wie
heute Morgen, als der Herr Minister Rösler hier gesprochen und sich mit dem Thema Energiewende beschäftigt
hat.
({0})
Er hat gesagt: Wir sind in der Regierung, aber Sie von
der Opposition tragen die Verantwortung dafür, dass wir
das nicht hinkriegen.
({1})
Der Satz, Herr Volk, beinhaltet zwei richtige Aussagen.
Es ist erstens in der Tat richtig: Schwarz-Gelb stellt die
Regierung.
({2})
Die zweite richtige Aussage ist: Sie kriegen das nicht
hin. - Genau das trifft auch auf den vorgelegten Gesetzentwurf zu.
({3})
Das ist doch kein Gesetzentwurf; das sind Bruchstücke eines Jahressteuergesetzes. Wir hatten doch einen
fertigen Gesetzentwurf. Den haben Sie gekippt. Jetzt haben wir ein paar Einzelregelungen.
({4})
Herr Gutting, als Berichterstatter haben Sie das ja in bemerkenswerter Offenheit geschrieben. Sie haben geschrieben - ich darf das zitieren -:
Allen sei aber klar, dass dann sicherlich noch an der
einen oder anderen Stelle nachgebessert werden
müsse.
Und das legen Sie uns heute hier vor, einen Gesetzentwurf, zu dem Sie selber sagen: „Da muss man nachbessern“? Das ist doch unmöglich. Das können Sie uns hier
doch nicht vorlegen.
Dabei gibt es ein fertiges Vermittlungsergebnis. Dem
könnten wir sofort zustimmen. Wir haben den Antrag
gestellt. Sie haben ihn abgelehnt, nicht wir.
({5})
Das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik - Sie haben das sehr
schön beschrieben - ist ein Flickenteppich, genauso wie
Ihr Gesetzentwurf. Sie sagen das ja selber. Er hat Mängel; das räumen Sie selber ein.
({6})
Oder, schlicht und einfach: Sie machen Steuerpolitik, indem Sie gar nichts tun. Gucken Sie sich doch einmal die
Umsatzsteuerreform an! Da haben Sie versagt. Sie haben
sie einfach zurückgezogen. Ich kann nur sagen: Erbärmlich.
({7})
Ich will Ihnen ein paar Beispiele aus dem vorliegenden Gesetzentwurf nennen:
Erstes Beispiel: Cash-GmbH. Das, was Sie hier vorlegen - das ist schon angesprochen worden -, durchlöchert
das Vermittlungsergebnis. Sie nehmen nach unserer Auffassung im Prinzip billigend in Kauf, dass das Bundesverfassungsgericht das wieder kippen wird, und das Gemeine ist: Sie legen etwas vor, was die Länder am Ende
ausbaden müssen; denn ihnen steht die Erbschaftsteuer
zu. Deshalb wird das wieder im Vermittlungsausschuss
landen.
({8})
Zweites Beispiel: RETT-Blocker. Wo ist hier die Regelung? Das ist ein Steuersparmodell für die Konzerne.
Das wollten wir beenden; das war ein Vermittlungsergebnis. Wo ist die Regelung geblieben? Das ist einfach
nicht akzeptabel und geht wieder zulasten der Länder.
({9})
Drittes Beispiel: Aufbewahrungsfristen. Wir Grüne
sind auch sehr für Bürokratieabbau, aber
({10})
nicht zulasten des Staates. Sie schreiben hier - ich zitiere
wieder aus der Beschlussempfehlung -, dass man
zu dem Ergebnis kommen könne, dass erhebliche
Steuerausfälle entstehen würden.
Das wird darin dann auch noch vorgerechnet und beziffert: 1,05 Milliarden Euro pro Jahr. Und das legen Sie
uns hier vor!
({11})
Sie machen in diesem Fall den zweiten Schritt vor dem
ersten. Das ist wirklich toll.
({12})
Der erste Schritt wäre doch, dass die Finanzämter so
ausgestattet werden, dass sie wirklich Betriebsprüfungen
durchführen können.
({13})
Sie gehen davon aus - Herr Volk hat das sehr schön gesagt -, dass alle steuerehrlich sind. Ja, dann schaffen Sie
doch die Aufbewahrungsfristen gleich ganz ab, wenn Sie
der Auffassung sind: Wir brauchen die nicht,
({14})
wir machen sowieso keine Betriebsprüfungen, wir haben
keine Leute, die das regelmäßig prüfen können, sondern
sie prüfen nur alle 20 bis 40 Jahre.
({15})
- Sie kommen doch aus Bayern, Herr Volk. Ihre Partei
regiert dort doch noch mit.
({16})
Wenn ich mich richtig erinnere, gehört die FDP dort der
Regierung an. Dann tun Sie doch endlich etwas!
({17})
- Nein, Sie tun es nicht.
Meine Damen und Herren, das ist eine Regierung, die
manchmal offensichtlich ins Stolpern gerät; sie macht
den zweiten Schritt vor dem ersten. Das kann nicht funktionieren.
({18})
Greifen Sie auf das Vermittlungsergebnis zurück!
({19})
Wenn Sie uns hier das Vermittlungsergebnis vorlegen,
dann stimmen wir sofort zu. Dann brauchen wir keine
Zeit mehr zu verschwenden, Zeit, die im Übrigen weder
die Bürger noch die Unternehmen haben. Dann wäre
auch die Verunsicherung der Finanzbeamtinnen und -beamten beendet, und dann hätten wir ein gutes Ergebnis.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf in diesem Haus seit über zehn Jahren Kulturpolitik machen.
Bislang war es in der Kulturpolitik so, dass es einen breiten Konsens in allen Fraktionen gab, dass wir Kultur
nicht nur als etwas sehen, was uns besonders lieb ist,
sondern auch als etwas, was uns besonders teuer ist. Wir
waren uns immer einig, dass wir gemeinsam für unsere
kulturellen Schätze kämpfen. Wir haben den Rohstoff
Geist.
({0})
Wir sind diejenigen, die immer, auch parteiübergreifend,
versucht haben, zu guten Lösungen zu kommen, das ehrenamtliche, aber eben auch das oft sehr gering bezahlte
Engagement zu unterstützen. Das macht unsere gesellschaftliche Identität in Deutschland aus. Wir konnten gerade für den Haushalt des Kulturbereichs - das war in
unserem Haushalt nicht immer üblich - in den letzten
Jahren bei unseren Haushaltspolitikern immer wieder einen Aufwuchs durchsetzen.
({1})
Das macht deutlich, dass es dieser Bundesregierung
ganz besonders wichtig ist, die Kultur zu fördern.
Insofern wundert es mich schon - deswegen darf ich
für meine Fraktion heute hier sprechen -, dass die SPD
nun versucht, ganz billig auf Kosten von Kulturschaffenden Wahlkampf zu machen.
({2})
- Hören Sie mir zu! Schreien Sie nicht herein! Sie verstehen es hoffentlich dann, wenn ich es Ihnen jetzt erkläre.
({3})
Sie machen Wahlkampf auf Kosten von Theaterregisseuren in unserem Land, und Sie machen Wahlkampf auf
Kosten derjenigen, die sich im FSJ Kultur engagieren.
({4})
Alle Obleute aller Fraktionen im Ausschuss für Kultur und Medien waren sich nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs einig,
({5})
dass das geltende Recht im Ergebnis nicht entgegen dem
Willen des Gesetzgebers ausgelegt werden sollte. Deshalb - jetzt hören Sie gut zu; dann können Sie etwas lernen - sollte die Umsatzbesteuerung für Theaterregisseure gesetzlich geregelt werden. Um hier zu einer
klaren Regelung zu kommen, sollten sowohl die Steuerbefreiung für Theaterregisseure als auch die Steuerbefreiung für das Taschengeld - das Taschengeld! - im
Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur in das Jahressteuergesetz 2013 aufgenommen werden.
({6})
Mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat haben Sie dafür gesorgt
- das ist schofel, und deswegen muss man das hier auch
ansprechen -, dass das Jahressteuergesetz nicht umgesetzt werden konnte. Das war ein Tritt in den Hintern für
alle Theaterregisseure in unserem Land und für alle, die
sich im FSJ Kultur befinden.
({7})
Sie wussten ganz genau, dass das ein wichtiger Erfolg
für alle Kulturschaffenden in unserem Land war. Gerade
für Mitglieder Ihrer Fraktion ist es immer besonders
chic, sich wie Buddies bzw. Spezis neben Künstler zu
stellen und wichtigtuerisch Fotos zu machen.
({8})
Ihr Altkanzler Schröder war Meister darin, immer so zu
tun, als ob er mit Künstlern auf Du und Du ist, ließ sie
immer Wahlkampf für sich machen. Das ist ein uralter
Trick der SPD - und jetzt fallen Sie den Künstlern so in
den Rücken. Das ist wirklich eine absolute Unverschämtheit.
({9})
Nicht genug damit, dass Sie die bisherige Regelung
gekippt haben und allen Theaterregisseuren den besagten Tritt in den Hintern gegeben haben: Jetzt besitzen Sie
auch noch die Unverfrorenheit, von der Bundesregierung - ich zitiere - eine „Klarstellung der Umsatzbesteuerung freier Regisseure“ zu fordern, obwohl Sie diejenigen waren, die diese Klarstellung verhindert haben.
({10})
Folglich sind Sie dafür verantwortlich, dass die Frage
der Umsatzsteuerbefreiung für Theaterregisseure noch
immer nicht geklärt ist und Kulturschaffende immer
noch um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen.
({11})
Da muss ich einmal ganz ehrlich sagen: Entweder haben die Kulturpolitiker in Ihrer Partei keine Lobby und
können sich in Ihrer eigenen Partei auch nicht durchsetzen, wenn es darum geht, Regisseure und vor allem
Menschen im FSJ besserzustellen. Oder Sie haben ein
sehr kurzes und noch kürzeres Kurzzeitgedächtnis, weil
Sie von Steuererhöhungen für Reiche reden, aber Steuerfreiheit für Taschengelder verhindert haben. Das ist
wirklich ein starkes Stück, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen.
({12})
Da wir aber als christlich-liberale Koalition weiterhin
an sachorientierter Politik interessiert sind, gehen wir
heute einen ganz neuen Weg, um Theaterregisseure und
Menschen im FSJ zu entlasten. Deswegen haben wir unser Vorhaben erneut in den Bundestag eingebracht, diesmal im Rahmen des Gesetzes für die Verkürzung von
Aufbewahrungsfristen.
({13})
Deswegen heißt es im Gesetzentwurf schlicht und einfach:
Zu den weiteren entlastenden Maßnahmen gehören
z. B. die Umsatzsteuerbefreiungen für rechtliche
Betreuer, Bühnenregisseure und -choreographen
sowie die Steuerbefreiung des Taschengeldes bei zivilen Freiwilligendiensten.
Lassen Sie uns also gemeinsam für die Kulturschaffenden und die im Kulturbereich Engagierten heute einmal ein Zeichen setzen, indem wir gemeinsam für den
Gesetzentwurf stimmen. Sollten Sie das nicht tun, weiß
ich genau, was auf den Bühnen dieser Welt los sein wird.
({14})
Dann wird nämlich jedem klar, das Sie hier auch nur
Theater machen. Schade!
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung
auf Drucksache 17/13259, den Gesetzentwurf der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/13082 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der
zweiten Lesung angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der
Fehmarnbelt-Querung sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand - Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
dem Königreich Dänemark verhandeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten - Verhandlungen mit dem Königreich
Dänemark über den Ausstieg aus dem
Staatsvertrag über den Bau einer Festen
Fehmarnbeltquerung aufnehmen
- Drucksachen 17/11365, 17/8912, 17/9407,
17/13154 Berichterstattung:Abgeordneter Gero Storjohann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die feste Fehmarnbelt-Querung ist wieder einmal Gegenstand einer
hochspannenden Debatte; darüber freuen wir uns alle.
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der im Wesentlichen darauf abzielt, eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs im Umfeld der zukünftigen Baustelle auf See zu veranlassen.
Die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass viele
Forderungen der SPD sich bereits in der Umsetzung befinden und die Seesicherheit bei den Bauarbeiten gewährleistet ist. Die Betonung liegt auf: Bauarbeiten. Ich
freue mich, dass die SPD weiterhin zu diesem Projekt
steht.
({0})
- Herr Hacker, Sie kennen doch die Vorgeschichte. Es
war nicht einfach, Minister Tiefensee überhaupt dazu zu
bewegen, diese Nummer mitzumachen,
({1})
die für uns im Norden sehr wichtig ist.
({2})
Ich komme zu den beiden Anträgen der Linken und
der Grünen und möchte betonen, dass es im Bundestag
eine breite Mehrheit für die Realisierung des Projektes
„feste Fehmarnbelt-Querung“ gibt. Das hat bereits die
Debatte zu den Anträgen gezeigt. Ich halte es auch nicht
für hilfreich, diese Ausstiegsforderung immer wieder zu
erheben. Deutschland und Dänemark wollen die feste
Fehmarnbelt-Querung realisieren, und die Bundesrepublik Deutschland wird sich auch an die eingegangene
Verpflichtung halten, die deutsche Hinterlandanbindung
zeitgerecht fertigzustellen.
({3})
Die Hinweise von Linken und Grünen auf Art. 22 des
2008 abgeschlossenen Staatsvertrages über eine feste
Fehmarnbelt-Querung laufen ins Leere. Es ist auf dänischer Seite kein Wille erkennbar, nicht einmal ansatzweise, auf dieses Bauvorhaben zu verzichten. Nur bei
übereinstimmender Willenserklärung auf dänischer und
deutscher Seite wäre über einen Ausstieg zu verhandeln;
das ist unter angesehenen Juristen völlig unstreitig.
Was mir bei Ihrer Betrachtungsweise fehlt, ist der Ertrag, der Mehrwert dieser Baumaßnahme. Das meine ich
sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.
({4})
Es geht beim Bau des Absenktunnels um ein großes europäisches Projekt, das wir von der Union ausdrücklich
begrüßen. Mit der Fehmarnbelt-Querung schaffen wir
eine feste Direktverbindung zwischen Skandinavien und
Kontinentaleuropa,
({5})
und zwar als Straßen- und Schienenverbindung.
Die Zukunft wird von der Elektromobilität bestimmt
sein. Eine neue Schienenverbindung zwischen Dänemark und Deutschland ist somit nur zu begrüßen. Die
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen
Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.
({6})
Der 17,6 Kilometer lange Absenktunnel durch den Fehmarnbelt wird Nordeuropa und Zentraleuropa enger zusammenwachsen lassen. Das ist auch ein großer Wunsch
unserer Nachbarn aus Schweden und aus Dänemark.
({7})
Die Linken und die Grünen stellen sich gegen dieses
Projekt, ein Projekt mit europäischen Dimensionen. Sie
präsentieren uns Anträge, in denen sie uns auffordern,
aus dem Staatsvertrag quasi auszusteigen.
({8})
Aber wie weit sind wir denn jetzt schon?
({9})
Die Beratungen haben Folgendes ergeben: Die technischen Planungen sind praktisch abgeschlossen.
({10})
Die Umweltuntersuchungen sind abgeschlossen. 2015
ist mit dem Baubeginn beim Tunnel zu rechnen. Für die
CDU/CSU-Fraktion bestätige ich Ihnen gerne: Wir stehen uneingeschränkt zu diesem Projekt.
({11})
Deshalb können Sie sich schon ausmalen, was mit Ihren
Anträgen passieren wird.
Wir wollen dieses Projekt. Wir wollen die 4 000 Arbeitsplätze, mit denen bei diesem Projekt Jahr für Jahr zu
rechnen ist, generieren.
({12})
500 dieser Arbeitsplätze werden auf deutscher Seite in
der Region von Puttgarden entstehen.
({13})
Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für
die Menschen im Großraum Hamburg und Ostholstein.
Die Dänen haben ihre Tunnelprojekte in Krisenzeiten
konzipiert und waren nachher, als die Wirtschaft
boomte, rechtzeitig mit den Projekten fertig. Das war genau die richtige Entscheidung für das dänische Staatswesen. Das ist ein Vorbild, wie man Geld sinnvoll einsetzen
kann.
({14})
Linke und Grüne wollen jetzigen und zukünftigen
Generationen diese großartigen Chancen verwehren. Sie
verweigern sich der Zukunftsgestaltung. Das machen
wir nicht mit. Wir sind inzwischen so weit, dass wir über
die konkrete Ausgestaltung der Hinterlandanbindung
auch auf deutscher Seite des Tunnels sprechen. Wir
nehmen die Anregungen der Menschen vor Ort auf.
Deshalb wird aktuell über den Bau einer sogenannten
2 + 1-Trasse im Schienenverkehr diskutiert. Sie könnte
festgeschrieben werden, sobald ein entsprechendes
Raumordnungsverfahren abgeschlossen wird. 2 + 1 bedeutet: Der Nahverkehr würde weiter über die Bäderorte
an der Ostsee verlaufen. Zwei neue Trassen würden parallel zur A 1 für den Fern- und Güterverkehr gebaut
werden.
({15})
Diese neue Trasse muss natürlich noch im Bundesverkehrswegeplan berücksichtigt werden und muss dazu
von Schleswig-Holstein angemeldet werden. Das ist
aber schon angegangen worden. Insofern können wir
sehr zuversichtlich sein, dass die Landesregierung das
mitmacht.
Ein wesentlicher Kritikpunkt ist der Schienenlärm
durch die Zunahme des Güter- und Fernverkehrs. Hier
haben wir uns in der Koalition und auch parteiübergreifend geeinigt, den Schienenbonus ab 2015 abzuschaffen.
({16})
So. Das ist ein gutes Signal für Schleswig-Holstein,
auch, Ingo Gädechens, für Ostholstein. Es muss jetzt ein
bisschen neu geplant werden. Aber das macht, wie ich
glaube, die Sache ein bisschen einfacher.
Meine Damen und Herren, das, was die Grünen und
die Linken hier vorgelegt haben, ist ein Armutszeugnis.
Wir werden der Beschlussempfehlung des Ausschusses
unsere Zustimmung geben und damit die Anträge versenken.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Einen herzlichen, schönen Abend zu später Stunde! Die späte Stunde ist wohl auch der Grund dafür, Herr Kollege Storjohann, dass Sie sich mit dem
SPD-Antrag überhaupt nicht auseinandergesetzt haben.
({0})
Der SPD-Antrag geht nämlich auf ganz wichtige Fragen
ein, über die wir bereits in Verbindung mit der Ratifizierung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Dänemark vom
3. September 2008 hier in diesem Hause am 18. Juni
2009 diskutiert haben. Ich will in Erinnerung rufen: Herr
Storjohann, damals waren Abgeordnete der CDU aus
Mecklenburg-Vorpommern dabei, die gegen den Staatsvertrag gestimmt haben. Nicht, dass Sie versuchen, hier
ein falsches Bild zu malen. So verlief die damalige Abstimmung.
({1})
Heute sind wir einen Schritt weiter. Die SPD hat mit
ihrem Verkehrsminister Tiefensee den Vertrag vom Ergebnis her gut ausverhandelt. Ob man für das Projekt ist
oder nicht, darüber kann man lange diskutieren; diese
Debatten führen wir auch. Aber der Vertrag ist hinsichtlich der finanziellen Belastung für Deutschland vorteilhaft. Deshalb hat am Ende der Deutsche Bundestag diesen Vertrag ratifiziert.
Wir waren uns aber schon vor der Debatte am 18. Juni
einig, dass die Planungsphase mit gründlichen Untersuchungen verbunden werden muss. Ich nenne als Beispiele nur Fragen der Schiffssicherheit, Fragen nach
Auswirkungen auf Flora und Fauna - in dem infrage stehenden Bereich der Ostsee gibt es Schweinswale ({2})
sowie die Fragen nach Auswirkungen auf Wirtschaft und
Tourismus. All diese Fragen werden im Moment von der
Planungsgesellschaft Femern A/S untersucht. Damit
wird im Grunde genommen ein Auftrag erfüllt, den der
Deutsche Bundestag mit der Ratifizierung des Vertrags
verbunden hatte.
Genau hier, meine sehr verehrten Damen und Herren,
setzt der SPD-Antrag an. Wir wollen, dass der Schutz
vor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung
sichergestellt wird. Dazu hat die SPD-Bundestagsfraktion einen ganzen Katalog vorgelegt, der den Inhalt der
damaligen Debatte sinngemäß aufgreift. In diesem Zusammenhang soll sich die Bundesregierung für verschiedene Maßnahmen der IMO, der EU, der Ostseeanrainer
und der zuständigen Bundesländer einsetzen. Am Ende
geht es der SPD-Bundestagsfraktion darum, mit diesem
Antrag die Akzeptanz des Staatsvertrags in der Region
zu erhöhen. Wir möchten, dass Unsicherheiten, die in einigen Teilen der Bevölkerung noch vorhanden sind, ausgeräumt werden. Wir möchten Fragen der Sicherheit im
Bereich der Baustelle nicht nur stellen, sondern auch von
der Bundesregierung ganz klare Antworten darauf haben.
({3})
Ich finde, das liegt nicht nur im legitimen Interesse der
Bürgerinnen und Bürger in Ostholstein. Vielmehr kommen wir damit auch einer Verantwortung nach, die wir
als Bundestagsabgeordnete, insbesondere als Verkehrspolitiker, tragen.
({4})
Die Planungsfirma Femern A/S hat im Januar dieses
Jahres berichtet, dass sie selber einen Vertrag mit den
Organisationen RINA und SINTEF geschlossen hat, der
die Beurteilung der Sicherheit der Eisenbahnverbindung
zum Gegenstand hat und die Konformität mit EU-Vorschriften prüfen soll. Ich finde, das ist genau der richtige
Weg, den auch die Bundesregierung gehen muss. Die
Bundesregierung hat Verantwortung dafür, dass die
Sicherheitsbelange geprüft und dass die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Prüfungsprozess mitgenommen
werden. Die Menschen in Schleswig-Holstein dürfen
nicht den Eindruck gewinnen, dass in Berlin Politik über
ihre Köpfe hinweg gemacht wird.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, SchleswigHolstein hat zu Beginn des Jahres 2013 das Raumordnungsverfahren eingeleitet. Hier werden die notwendigen Untersuchungen vor Ort angestellt. Herr Ferlemann,
noch ein Appell an Sie: Herr Storjohann hat ja die rückwärtigen Bahnverbindungen angesprochen. Es ist ja jetzt
nicht mehr klar, was aus der Sundbrücke werden soll.
Die Frage, die ich Ihnen dazu gestellt habe, hat zwar Ihr
Haus beantwortet. Aber auch Fragestellungen wie Auslastung der Sundbrücke und Sanierungsmaßnahmen
müssen in die weiteren Untersuchungen einbezogen
werden. Diese werden wir in den nächsten Jahren noch
zu behandeln haben.
Kollege Storjohann, vor diesem Hintergrund ist nicht
nachvollziehbar, dass Sie sich der Beschäftigung mit einer Thematik widersetzen, über die wir hier bereits 2009
diskutiert haben. Dass man sich damit beschäftigt, dass
umfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden,
und zwar auch im Sicherheitsbereich, war jedenfalls für
die zustimmenden Fraktionen essenziell für ihr Abstimmungsverhalten. Das erinnert mich ein wenig daran,
dass Sie bestimmte Verkehrssicherheitsfragen nicht ernst
nehmen. Das hier ist in etwa vergleichbar mit den Sicherheitsfragen betreffend die Kabinenluft in Flugzeugen, Herr Staffeldt. Dafür sind Sie als Freizeitpilot ja
Spezialist. Sie gehen mit diesem Thema, mit dem sich ja
unser Antrag beschäftigt, ähnlich oberflächlich um wie
mit dem Thema der -
Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Hacker, ich habe den Antrag der SPD
sehr genau gelesen.
Das ist schön.
Er stammt vom November. Wenn man ihn liest,
könnte man meinen, die SPD glaube immer noch, dass
die feste Fehmarnbelt-Querung in Form einer Brücke
ausgeführt werden soll; nur dann spielt das große Thema
der Schiffskollisionen und der Schiffssicherheit im Fehmarnbelt eine Rolle. Nun soll es aber ein Tunnel werden.
Gleichwohl ist uns die Schiffssicherheit in der Ostsee
genauso wichtig wie in der Deutschen Bucht oder in der
Nordsee.
An dieser Stelle möchte ich gerne einhaken, weil Sie
gerade den Staatssekretär Ferlemann erwähnt und behauptet haben, dass die Regierung die Schiffssicherheit
nicht ernst nehme. Ist Ihnen bekannt, dass so wie auf
Helgoland bereits ein Radar installiert wurde, um die
Deutsche Bucht zu überwachen, die Regierung mittlerweile veranlasst hat, dass auch ein Radar auf Fehmarn
installiert wird, um nicht nur den Fehmarnbelt, sondern
auch die Kadetrinne zu überwachen und damit eine erhöhte Schiffssicherheit zu gewährleisten? Das alles geschah im Vorgriff auf die beginnenden Bautätigkeiten.
Deshalb ist Ihr Antrag, Kollege Hacker, eigentlich obsolet, aber vielleicht wissen Sie nicht, was ich eben erwähnt habe.
Herr Gädechens, diese Maßnahme der Bundesregierung ist nur zu unterstützen. Ich habe die Bundesregierung doch nicht dafür kritisiert, dass sie die Verkehrsund Bausicherheit nicht gewährleisten würde. Dieser
Antrag richtet sich doch zuerst einmal an die Fraktionen
im Deutschen Bundestag, die gemeinsam die Bundesregierung auffordern sollen, etwas zu unternehmen.
({0})
Das ist doch die Zielrichtung.
Wenn Sie der Auffassung sind, die Bundesregierung
sei schon auf einem guten Weg, dann stimmen Sie doch
unserem Antrag zu. Wir können die Bundesregierung
anregen, noch mehr Verkehrssicherheit zu schaffen, und
zwar im Bereich der Baustelle, nicht im Bereich der Brücke. Da haben Sie völlig recht. Über die Brücke diskutiert heute keiner.
({1})
Wir sprechen über die Baustelle für den Absenktunnel.
({2})
Da gibt es genug zu tun. Sie, Herr Gädechens, haben die
Chance, in einer halben Stunde unserem Antrag zuzustimmen. Für Ihre Frage bedanke ich mich. Ich hoffe,
Sie haben ein bisschen was mitgenommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt
komme ich aber doch zu den beiden Anträgen vom
Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Darauf ist
an dieser Stelle schon mehrfach eingegangen worden.
Sie, Herr Storjohann, haben mit Ihrem Einwand ausdrücklich recht. Das will ich Ihnen attestieren. Sie haben
hier Art. 22 zitiert. Jeder, der sich mit der Evaluierung
des Vertrages und dem Ausstieg aus dem Vertrag beschäftigt, sollte einen Blick in den Vertragstext werfen.
In Art. 22 steht ganz klar:
Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Vertragsstaaten geändert, ergänzt oder aufgehoben werden.
({3})
Das ist unbestritten. Dann verpflichten sich die Vertragspartner im Weiteren, alles in ihrer Macht Stehende zu
unternehmen, um das Projekt gemäß den Annahmen zu
verwirklichen.
({4})
Mir ist nicht bekannt, dass bei unserem Vertragspartner, der Regierung des Königreichs Dänemark, oder im
dänischen Parlament Überlegungen angestellt werden,
diesen Vertrag zu ändern oder aufzuheben. Die dänische
Seite tut alles, um den Gegenstand des Vertrages, nämlich die Herstellung einer festen Fehmarnbelt-Querung,
umzusetzen. Demzufolge sage ich: Das ständige Wiederholen, dass eine Ausstiegsmöglichkeit und Nachverhandlungsmöglichkeit gemäß Art. 22 bestehe, führt
nicht zum Ziel. Das streut den Menschen in Ostholstein
Sand in die Augen, weckt bei den Bürgerinnen und Bürgern dort, die den Vertrag nicht gelesen haben - es muss
nicht jeder Bürger jeden Vertrag lesen, den wir hier im
Deutschen Bundestag verabschieden -, möglicherweise
Hoffnung. Es gibt diese Möglichkeit im Moment nicht.
Was wir zu tun haben, ist, die Verpflichtungen aus
dem Vertrag für die nächsten Jahre zu prüfen. Hierbei
geht es zum Beispiel darum, die rückwärtigen Anbindungen zu ertüchtigen. Genau dort setzt das an, was ich
angesprochen habe: Die Bundesregierung hat noch eine
Bringschuld.
Ich bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren,
deshalb darum, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion
zu unterstützen - es gibt gute Gründe dafür; das hat ja
auch die Frage von Herr Gädechens jetzt noch einmal
deutlich gemacht -, weil wir genau das aufgreifen und
umsetzen, was ein wesentlicher Begleitbestandteil der
Ratifizierung des Vertrages war.
Zu den beiden Anträgen vom Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linken -
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wilms?
Aber gerne.
Herr Kollege, herzlichen Dank.
Bitte schön.
Herr Kollege, wenn Sie schon auf Art. 22 des Vertrages Bezug nehmen, dann sollten Sie sich diesen Artikel
vielleicht einmal genau anschauen. Da steht nämlich
durchaus noch etwas mehr drin.
Ja.
Ich zitiere einmal:
Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln
als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt
des Abschlusses des Vertrags bekannt ist, werden
die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern.
Dies gilt unter anderem für wesentliche Kostensteigerungen im Zusammenhang mit dem Projekt.
Insofern wundert es mich, wie Sie zu Ihrer Aussage
kommen. Wie können Sie sich das erklären? Also, in
dem Vertrag ist - gerade über den Art. 22 - eine eindeutige Möglichkeit vorgesehen, zumindest in Verhandlungen über einen Ausstieg einzusteigen.
Liebe Frau Wilms, Sie suggerieren erneut, dass es
hier Verhandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten
gibt. Die dänische Seite hat eindeutig die Kostenlast für
die Errichtung des Bauwerkes übernommen. Wenn sich
dort Kostenentwicklungen ergeben, die für die dänische
Seite nicht Verhandlungsgegenstand sind, dann wird
Dänemark mit uns keine Verhandlungen aufnehmen,
weil Dänemark dann in eigener Verantwortung eine Kostenentwicklung bewertet und darüber entscheidet.
Wir sind jetzt genau an dem Punkt, dass in Dänemark
- in der Regierung und im Parlament - nicht von einer
Fraktion und nicht von einem Regierungsmitglied überhaupt eine Diskussion zu Nachverhandlungen geführt
wird.
Wir erwecken hier mit diesen beiden Anträgen offenbar den Eindruck, als stünde es kurz vor Nachverhandlungen. Es gibt diese Grundlage nicht.
({0})
Ich bleibe noch einmal dabei - unter Hinweis auf Art. 22
Abs. 1 -:
Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Vertragsstaaten geändert, ergänzt oder aufgehoben werden.
Dafür gibt es im Moment, soweit ich das beurteilen
kann, keine Grundlage. Im Gegenteil,
({1})
die bauvorbereitenden Maßnahmen, die Planungsmaßnahmen, laufen auf Hochtouren. Einiges befindet sich im
Zeitverzug - darüber haben wir hier vor einem Jahr
schon einmal diskutiert -; das ist offenkundig.
({2})
Es gibt auch hinsichtlich der Kosten keine Grundlage für
Nachverhandlungen.
Deswegen, liebe Frau Wilms, haben Sie die Chance,
Ihren Antrag zurückzuziehen. Wir können ihm jedenfalls
nicht zustimmen, genauso wenig wie dem Antrag der
Linken.
An die Koalition der Appell: Sie können aus gutem
Grund zustimmen, auch wenn Herr Storjohann das an
dieser Stelle noch nicht erklärt hat. Sie haben jetzt noch
die Chance, das nachzuschieben oder das nachher im
Abstimmungsverhalten deutlich zu machen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was wir
gerade hier erlebt haben, war ein wenig das Abbild dessen, wie es in Schleswig-Holstein in Kiel im Moment
zugeht. Dort sagt die Landesregierung: Ja, das Projekt ist
gut. - Ich zitiere beispielsweise den Ministerpräsidenten
Torsten Albig: Ich bin überzeugt, die Feste FehmarnbeltQuerung bietet neue Perspektiven und große Entwicklungschancen, besonders für Lübeck und Ostholstein. ({0})
Die Grünen hingegen, die grüne Fraktion im Landtag
von Schleswig-Holstein, versuchen nach wie vor, dieses
Projekt zu torpedieren. Das ist doch interessant. Darauf
sollte man an der einen oder anderen Stelle immer wieder hinweisen. Die streiten sich immer noch, obwohl sie
eigentlich zu dem Projekt stehen müssten.
Die SPD vertritt da klar die Position - wie wir auch -:
Die Fehmarnbelt-Querung muss kommen, soll kommen,
wird kommen.
Die Grünen sind wie immer, wie auch der heute vorliegende Antrag ausweist, der Meinung: Das soll alles
tatsächlich - aktualisiert mit Daten, Informationen, zusätzlichen Prozessen - zu einem Ausstieg führen. So
kann man den Antrag der Grünen, der recht voluminös
ist, zusammenfassen. Er sagt im Endeffekt aber nur eines: Alle unsere Ziele machen deutlich, dass wir nicht
aussteigen wollen; es soll alles so bleiben, wie es ist.
Ähnlich ist es mit dem Antrag der Linken, der einige
Punkte anspricht. Da soll das Dialogforum gestärkt werden, da soll der Staatsvertrag neu verhandelt werden.
Aber am Ende soll als Ergebnis der Ausstieg stehen, und
der Güterverkehr soll nach wie vor über die JütlandRoute rollen.
({1})
Der einzige vielleicht halbwegs konstruktive Hinweis
bei den Linken ist, dass die Bauarbeiten außerhalb der
Saison stattfinden sollen.
Der Antrag der SPD, dem ich mich jetzt ein wenig intensiver widmen werde - da haben Sie Glück, Herr
Hacker; ich habe das genauso gelesen wie mein Kollege
Kammer, der gleich noch an der Reihe sein wird -, ist eigentlich ein Sammelsurium von „Wünsch dir was“, nach
der Devise „Jeder darf schreiben, was ihm dazu einfällt“.
Er glänzt - das muss ich als jemand, der sich mit Schifffahrt, Häfen und insbesondere Schiffssicherheit ein bisschen auskennt, ganz klar und eindeutig sagen - durch
völlige Ahnungslosigkeit. Das ist so. Da redet der Blinde
von der Farbe.
({2})
- Ich bin auch Seemann; da haben Sie Pech gehabt. Ich
kann beides.
({3})
- Nein, ich bin nicht alles, aber ich bin gelernter Seemann, Herr Hacker. Im Gegensatz zu Ihnen und zur SPD
weiß ich, dass AIS zum Beispiel längst Standard ist. Da
gibt es eine Vorschrift. Gemäß SOLAS - Safety of Life
at Sea - sind alle Schiffe ab einer Größenordnung von
500 Bruttoregistertonnen heutzutage ohnehin verpflichtet, diese AIS, diese Automatic Identification Systems,
an Bord zu haben.
({4})
Wenn Sie so etwas noch fordern, kann ich nur sagen tut mir leid -: Da besteht völlige Unkenntnis. Sie haben
keine Ahnung von dem, was Sie da schreiben.
Auch die Überwachung, die Sicherheit auf den 19 Kilometern zwischen Puttgarden und Rodbyhavn gibt es
schon längst. Es wurden eben schon die Radarketten angesprochen. Wir haben in dem Fall sogar noch eine
schwierigere Situation, weil wir eine Staatsgrenze dazwischen haben. Aber das funktioniert seit Jahren und
Jahrzehnten glücklicherweise sehr gut, sowohl auf deutscher als auch auf dänischer Seite.
({5})
Denn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dort
ist gewährleistet.
In Ihrem Antrag finde ich, dass insbesondere die Bauphase unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Geltung
zusätzlicher Sicherheitskriterien erfolgen soll. Da fallen
Ihnen solch geniale Ideen ein wie: Jedes Schiff soll von
einem Escort-Schlepper begleitet werden. Hallo?! Wissen Sie, was das bedeutet? Ob man da über 66 000 oder
35 000 Schiffsbewegungen redet: Wenn Sie jedem
Schiff, das durch den Bereich fährt, einen Escort-Schlepper zur Seite stellen wollen, brauchen Sie da keine
Schifffahrt mehr.
Die Bergungsschlepper gibt es schon jetzt,
({6})
und die werden während der Bauphase - da bin ich sicher - auch garantiert da sein. Es gibt da Verantwortliche. Zum Beispiel die deutsch-dänische maritime Koordinierungsgruppe kümmert sich schon jetzt darum, Herr
Hacker. Die Bergungsschlepper werden also da sein. Die
werden Stand-by sein, wie sich das gehört, wie das ganz
normal ist.
Insofern sind Ihre Forderungen - so kann ich nur sagen - völlig absurd. Sie gehen ja noch weiter. Sie schreiben, dass die Havariekommission mit mehr Personal
ausgestattet werden soll, dass die Berufsfeuerwehren an
Land speziell für den Fall ausgebildet werden sollen,
dass auf der Baustelle einmal etwas passiert. Herr
Hacker, grundsätzlich ist es erst einmal die Verantwortung des bauenden Unternehmens, für Sicherheit zu sorgen, und nicht unsere Verantwortung als Staat, zumal wir
nur bis zur Hälfte der Strecke zuständig sind. Nicht wir
als Staat haben dort einen Sicherheits- und Rettungsapparat aufzubauen, den wir an anderer Stelle auch nicht
haben.
Wir haben jetzt eine ähnliche Diskussion bei den Offshoreanlagen in der Nordsee und in der Ostsee. Da wird
auch immer verlangt, der Staat müsse alles machen. Es
ist aber die originäre Aufgabe der Unternehmen, sich darum zu kümmern, dass es funktioniert und dass entsprechende Rettungsketten vorhanden sind. Ich gehe auch
fest davon aus, dass es funktioniert, dass es so gemacht
wird wie an anderer Stelle auch.
({7})
Dann haben Sie noch darauf hingewiesen, Herr
Hacker, dass angeblich der Vertrag mit Dänemark von
Tiefensee so gut verhandelt worden sei. Ich habe durchaus auch andere Meinungen dazu gehört. Man kann auch
in den Anträgen lesen, dass es dazu eine unterschiedliche Wahrnehmung gibt. Sei es drum!
Ich bin sicher, dass Ihr Antrag so überflüssig ist wie
ein Kropf, weil wir die notwendigen Sicherungssysteme
längst haben. Ich habe das an einigen Beispielen beleuchtet.
Ich bin sicher, dass die Fehmarnbelt-Querung kommt.
Ich bin genauso sicher, dass wir unseren Part leisten,
dass wir die Hinterlandanbindungen, die natürlich notwendig sind, zeitgerecht, elektrifiziert, zweigleisig, idealerweise, wie vom Kollegen Storjohann schon dargestellt
wurde, parallel zur Autobahn realisieren, um die Belastung der Bürgerinnen und Bürger durch Schienenlärm zu
reduzieren.
Ich bin froh und dankbar, dass wir es in dieser Koalition geschafft haben - das wurde schon gesagt -, den
Schienenbonus abzuschaffen. Das heißt, solche Neubauprojekte müssen im Endeffekt leise sein.
Insofern ist alles auf dem richtigen Weg. Weil alles
auf dem richtigen Weg ist und weil die beiden Ausstiegsvarianten der Grünen und der Linken für uns keine Alternative darstellen, werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Ich bin froh, dass wir in den vier Jahren hier Gutes für
Deutschland leisten konnten; wir werden das auch weiterhin so machen.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat Herbert Behrens für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele Arbeitnehmer und auch Unternehmer in Ostholstein bangen um ihre berufliche Existenz. Sie leben nämlich davon, dass über 1 Million Touristen die landschaftliche Schönheit und das gute Klima an SchleswigHolsteins Ostseeküste schätzen.
({0})
Kommt die Feste Fehmarnbelt-Querung, droht ihnen
Tag und Nacht der Lärm von 80 Güterzügen, und zwar
jeden Tag und jede Nacht, entlang der Ostseeküste über
die Insel Fehmarn und durch die Tourismusregionen hinauf nach Dänemark. Und diese Lärmbelästigung kostet
auch noch unendlich viel Geld. Über 10 Milliarden Euro
für ein Tunnelprojekt mit Hinterlandanbindung, das den
Lärm überhaupt erst nach Ostholstein bringen soll. Wir
wollen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in
Ostholstein mit guten touristischen Angeboten und einer
guten Verkehrsinfrastruktur. Das geht nicht mit einem
Milliardenprojekt, das diesen Teil des Landes zu einer
reinen Transitstrecke für Gütertransporte zwischen
Schweden und Kontinentaleuropa macht.
({1})
Fast 2 Milliarden Euro kostet allein Deutschland der
Bau der Hinterlandanbindung. Bei diesen Riesenbeträgen könnte man denken, in der Region gäbe es keine
Verkehrswege. Das stimmt aber nicht. Die Fährverbindung als schwimmende Brücke zwischen Lolland und
Fehmarn bringt schon heute viele Güter und viele Menschen sicher und schnell über den Belt, egal ob mit dem
Auto, dem Lkw, dem Personenzug oder dem Güterzug
transportiert wird.
({2})
Die Verkehrspolitik der Mammutprojekte vernichtet
das Geld, das wir für Instandhaltung, Lärmschutz und
gute Eisenbahnverbindungen zu den Ostseebädern brauchen. Darum fordern wir den Ausstieg aus dem Projekt,
bevor Fakten geschaffen werden.
({3})
Das fordern auch viele Betroffene vor Ort.
({4})
Bereits vor 15 Jahren gab es große Zweifel, ob die
Fehmarnbelt-Querung überhaupt sinnvoll ist. Die Bürgerinnen und Bürger hatten gute Argumente, um die PlaHerbert Behrens
nungen schon damals zu stoppen. Da ist zum Beispiel
das Nutzen-Kosten-Verhältnis. Das bedeutet, jeder investierte Euro muss mindestens das wieder hereinbringen, was investiert worden ist. Aber von vielen anderen
Großprojekten wissen wir, dass schöngerechnet wird,
dass zweifelhafte Annahmen von Planern dafür sorgen,
dass diese Bauprojekte überhaupt durchgedrückt werden
können. So ist es auch bei der Fehmarnbelt-Querung.
Die Bürgerinitiativen sind beharrlich geblieben. Der
Bund und das Land Schleswig-Holstein sahen sich gezwungen, das Dialogforum einzurichten. Aber sie wollten die Bürgerinnen und Bürger damit eigentlich dazu
bringen, endlich einzulenken. Das ist nicht gelungen. Ihr
Verständnis von Bürgerbeteiligung ist, dass Bürgerinnen
und Bürger ihren Widerstand aufgeben sollen. Dieses
Konzept von nachgelagerter Bürgerbeteiligung ist eindeutig gescheitert.
Die Bundesregierung steckt natürlich in der Klemme.
Sie hat ein Projekt der letzten Bundesregierung geerbt.
Aber heute haben wir die Große Koalition wieder auferstehen sehen. Beteiligt waren alle, die dafür sprechen.
Heute behaupten Sie immer wieder, der Staatsvertrag sei
nicht veränderbar. Auch das stimmt nicht. Es gibt eine
Verständigungsklausel in dem Vertrag, die schon angesprochen wurde, nach der die Vertragspartner Deutschland und Dänemark bei gravierenden Veränderungen neu
verhandeln können. Es gibt sogar einen gemeinsamen
Ausschuss, der regelmäßig tagt und in dem solche Fragen verhandelt werden können. Da muss nichts aufgekündigt werden.
Es ist nicht hinnehmbar, dass Sie sehenden Auges
Milliarden Euro versenken und zusätzlich auch noch die
Wirtschaftskraft Schleswig-Holsteins nachhaltig schwächen. Schluss damit!
({5})
Nach gravierenden Planungsänderungen - von der
Brücke zum Tunnel -, der Halbierung der Verkehrsprognosen, einer gravierenden Kostenexplosion, tausendfachen Einwendungen, großen Bürgerprotesten ist die
Zeit reif, den Sinn oder den Unsinn dieses Projektes festzustellen. Eine ergebnisoffene Neubewertung des Projektes muss her. Noch ließe sich das Projekt stoppen.
Noch sind keine Baufahrzeuge angerollt. Die Linke fordert Neuverhandlungen, nicht gegen den Staatsvertrag,
sondern mit den Mitteln, die dieser Staatsvertrag bietet.
Sollten Sie heute dazu nicht den Mut aufbringen - das ist
zu erwarten -, muss die neue Bundesregierung ran. Diejenigen, die sich schon heute als Regierungsalternative
anbieten, sollten wissen: Die Bürger sind beharrlich.
Aber auch die Linke wird den Auftrag, Verkehrspolitik
für die Bürger und mit den Bürgern zu machen, in die
neue Fraktion mitnehmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zu
dieser späten Stunde: Schön, dass noch Besucher anwesend sind. Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist
eine erstaunliche Debatte. Manche lernen aus Fehlern,
manche nicht. Zu Letzteren gehören leider
({0})
diese Bundesregierung und scheinbar auch einige aus
der Fraktion der SPD.
Seit Jahren diskutieren wir über die Risiken von
Großprojekten.
({1})
Wir streiten über Stuttgart 21. Wir erleben im ganzen
Land, dass Bürger mehr Mitsprache verlangen. Die
Menschen wollen umfassend eingebunden werden,
wenn die Politik ihr Lebensumfeld umgestalten will.
({2})
- Herr Hacker, genau das ist entscheidend. Das tun wir
so nicht.
({3})
Große Verkehrsprojekte greifen oft massiv in das Leben der Menschen vor Ort ein. Deswegen müssen wir
die Menschen beteiligen und es ihnen erklären. Aber das
reicht nicht. Es muss auch echte Möglichkeiten zur Änderung der Pläne geben,
({4})
sonst fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen.
Pseudobeteiligung ist schlimmer als gar keine Beteiligung; denn da weiß man von Anfang an, dass man nichts
ändern kann.
({5})
So etwas möchte ja scheinbar eine große Koalition
hier in diesem Hause. Durch den Staatsvertrag hat man
all die Erfahrungen mit Großprojekten in den letzten
Jahren offensichtlich wieder komplett vergessen. Der
Vertrag wurde geschlossen, das Projekt festgelegt. Erst
dann wurden die Bürgerinnen und Bürger als Alibi beteiligt. Deswegen ist unsere Forderung eine tatsächliche
Abwägung des Nutzens und der Risiken. Wir brauchen
endlich einmal einen wirklich ergebnisoffenen Dialog.
Ergebnisoffen bedeutet auch die Möglichkeit, aus dem
Projekt auszusteigen.
({6})
Nur wenn wir diese Möglichkeit schaffen und in den
Prozess ernsthaft einbeziehen, können wir auch die
Menschen vor Ort endlich einbinden. Andernfalls können wir es bleiben lassen.
({7})
Denn, werter Herr Storjohann, das ist unser Weg: mit
den Menschen, für die Menschen und nicht nur für die
hauptamtlichen Politikerinnen und Politiker.
({8})
Wir dürfen aber nicht nur über einzelne Projekte diskutieren. Das haben wir viel zu lange getan. Die Zukunft
der Mobilität muss im Gesamtzusammenhang gedacht
werden. Wir müssen erst festlegen, was wir mit unserer
Mobilität wirklich erreichen wollen. Wir müssen uns
Ziele setzen, was unser Verkehrsnetz zukünftig leisten
muss und wie wir das so günstig und umweltschonend
wie möglich schaffen. Erst dann dürfen wir uns um die
einzelnen Projekte und deren Verbindung kümmern.
Derzeit machen wir es genau umgekehrt. In der nächsten
Legislatur läuft der jetzige, völlig überholte Bundesverkehrswegeplan aus. Diesen müssen wir endlich zu einem
Bundesmobilitätsplan weiterentwickeln,
({9})
und zwar mit klaren Zielen und eindeutigen Prioritäten.
Wenn wir dazu ein Grundkonzept haben, können wir
auch wieder darüber reden, auf welchen Wegen wir zukünftig nach Dänemark kommen.
({10})
Die Bundesregierung hat das leider überhaupt nicht
verstanden. Stattdessen wurstelt sie weiter herum und
benutzt die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
mit der Deutschen Bahn, um Gelder für die Hinterlandanbindung der Fehmarnbelt-Querung zu parken.
Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen. Es gibt kein vernünftiges Gesamtkonzept für unseren Verkehr. Es gibt auch keine klaren Vorgaben für
die Deutsche Bahn, wie sie das Netz mit Steuergeldern
erhalten soll. Stattdessen werden ein unfertiges Verkehrsprojekt, Fehmarnbelt-Querung genannt, und eine
halbgare Vereinbarung mit der Bahn zusammengeworfen. Es geht zu wie auf dem Jahrmarkt. Das versteht kein
Mensch mehr.
({11})
Dieser Regierung fehlt eine Grundrichtung. Sie können nicht einfach alles so zusammenwerfen, wie es
gerade auf Ihrem Schreibtisch landet. Die Leute in unserem Land wollen endlich einmal wissen, ob die Regierung weiß, wo sie hinwill. Aber das ist von dieser Bundesregierung ganz offensichtlich nicht mehr zu erwarten.
Abgewirtschaftet hat sie.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Kollege Gero Storjohann hat vor knapp einem Jahr und
auch heute wieder zu den Anträgen der Linken und der
Grünen ausführlich Stellung genommen. Insofern, Herr
Kollege Hacker, werde ich mich im Wesentlichen mit Ihrem Antrag beschäftigen, weil er ja doch einige interessante Perspektiven aufweist.
Herr Behrens, vorab noch einige Worte. Sie sprechen
von einer nachhaltigen Entwicklung, die in SchleswigHolstein einsetzen muss, und von der Wirtschaftskraft,
die dahinterstehen muss. Ich habe Ihren Antrag von vor
zwei Jahren bezüglich der Weser-Vertiefung gelesen.
Wirtschaftskraft besteht bei Ihnen offenbar darin, dass
Sie Container mit Kajaks befördern wollen. Das ist das
Verständnis der Linken von Wirtschaftspolitik.
({0})
Ihnen, Frau Dr. Wilms, muss ich eines sagen. Sie haben hier ja vehement für Bürgerbeteiligung geworben
und dafür, dass wir das einfordern müssen, dass wir mit
den Bürgern etwas machen.
({1})
Das finde ich prima. Aber wenn die Ergebnisse nicht so
sind, wie Sie das erwartet haben, Beispiel Stuttgart 21,
dann zählt für Sie der Bürgerentscheid auf einmal nicht
mehr. Da müssten Sie dann konsequent sein.
({2})
Nun zum Antrag der SPD-Fraktion, der zwei gute Ansätze enthält. Erstens haben Sie erkannt, dass diese Bundesregierung auch nach dem Wahltag an der Entwicklung weiterarbeiten wird. Sie haben richtig erkannt, dass
diese Bundesregierung weitermachen wird.
({3})
Zweitens enthält Ihr Antrag ausnahmsweise einmal einen wahren Satz, nämlich dass die Feste FehmarnbeltQuerung eine große Herausforderung darstellt. Das haben Sie richtig erkannt.
({4})
Ich möchte in diesem Zusammenhang lobend erwähnen, dass die Sozialdemokraten sehr verlässlich sind.
Man kann sich darauf verlassen, dass sie auf Veränderungen reagieren, und zwar mit Angstmacherei. Sie wollen Angst schüren, Angst verbreiten. Genau so ist das
hier.
({5})
Der Staatsvertrag über den Bau der Fehmarnbelt-Querung wurde am 3. September 2008 unter Mitwirkung eines sozialdemokratischen Ministers geschlossen, der
- das habe ich hier noch stehen - wie kaum einer für
Pleiten, Pech und Pannen steht; aber das verkneife ich
mir jetzt einmal. Er hat den Vertrag damals geschlossen.
Da konnte einem schon angst und bange werden.
({6})
- Sie hatten den schwachen Minister zu verantworten.
({7})
Gott sei Dank tragen jetzt Bundeskanzlerin Merkel
und Peter Ramsauer die Verantwortung für dieses Projekt, sodass Ihre Angst, meine Damen und Herren von
der Opposition, völlig unbegründet ist. Die FehmarnbeltQuerung ist nicht der BER; das muss man deutlich sagen.
Diese Bundesregierung wird alles dafür tun, die Beeinträchtigungen für den Schiffsverkehr so gering wie
möglich zu halten.
({8})
Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion werden
sie dabei unterstützen.
({9})
Diese Bundesregierung wird alles tun, um Gefahr für
Leib und Leben der Menschen und für die Natur abzuwenden. Die Regierungskoalition wird dabei helfen. Wir
brauchen keine Nachhilfe von den Sozialdemokraten.
({10})
Das können wir auch so. Wir können es sogar besser.
Muss man Angst vor der Fehmarnbelt-Querung haben? Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Ja, wenn man
ein roter Berufspessimist ist.
({11})
Für normal denkende Menschen sieht die Sache ganz anders aus. Diese Menschen sehen die Chance, die dieses
Projekt mit sich bringt. Bei der Planung des Tunnels
zwischen Lolland und Fehmarn ist nichts von Dilettantismus, Gigantonomie oder möglichen Luxustrends zu
verspüren. Das ist übrigens keine Einschätzung der
CDU-Pressestelle, sondern dem Hamburger Abendblatt
vom 20. April dieses Jahres entnommen. Die Zeitung hat
recht: Hier geht es nicht um Prunk und Prestige, sondern
um dringend benötigte Infrastruktur, Herr Behrens: Infrastruktur gegen Stau und Stillstand, Infrastruktur für
Handel und Wandel in Europa, Infrastruktur für den
Fortschritt.
Uns ist auch klar, Herr Behrens und Frau Wilms, dass
es den Fortschritt nur mit den Anwohnern geben darf,
nicht gegen sie. Es ist nachvollziehbar, dass sich die
Menschen auf Fehmarn Gedanken über die Auswirkungen der Fehmarnbelt-Querung auf ihre Insel, ihr Umfeld
und ihre berufliche Existenz machen. Das sind berechtigte Fragen. Das verstehen wir. Diesen Fragen haben
wir uns gestellt und werden wir uns auch weiterhin stellen.
({12})
Ich glaube, dass gewisse Bedenken ausgeräumt sind. Die
guten Gespräche im Dialogforum Feste Fehmarnbeltquerung haben sicherlich einen Teil dazu beigetragen.
Ein sachlicher Dialog kann einiges bewegen.
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer wird sich für
eine zweite Bahntrasse an der Autobahn A 1 abseits der
Ferienorte einsetzen, damit die schweren Güterzüge
nicht durch die Zentren der Ortschaften auf der Insel rollen müssen. Die neue Trasse nimmt den Güterverkehr
auf, die alte Trasse bleibt zum Wohle der Anwohner und
Touristen erhalten. Das ist ein vernünftiger Kompromiss.
Das ist die Politik der Union. Das ist Verantwortung für
die Menschen. So müssen die großen Herausforderungen dieses Jahrhundertprojekts gemeistert werden: mit
den Menschen für die Menschen. Seien Sie mit uns optimistisch: Wir werden das gemeinsam hinbekommen.
Ihre Anträge werden wir selbstverständlich ablehnen.
Danke.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/13154. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Empfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/11365 mit dem Titel „Schutz vor Schiffs-
unfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstel-
len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von
Linken und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8912 mit dem Titel „Feste Fehmarnbeltquerung
auf den Prüfstand - Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
dem Königreich Dänemark verhandeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9407
mit dem Titel „Chancen und Risiken ergebnisoffen be-
werten - Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark
über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau
einer Festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen der Linken und Grünen ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. November 2011 zur Änderung der Richtlinie 98/78/EG, 2002/87/EG, 2006/48/EG und
2009/138/EG hinsichtlich der zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen eines
Finanzkonglomerats
- Drucksachen 17/12602, 17/12997 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/13245 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Ralph Brinkhaus-
Manfred Zöllmer-
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente ({1})
- Drucksache 17/12295 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 17/13131 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Patricia Lips-
Dr. Carsten Sieling-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,
Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren
- Drucksachen 17/8182, 17/13131 Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Carsten SielingBjörn Sänger
Zum Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes
liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in der aktuellen Debatte unter den Stichworten
„Honoraranlageberatung“ sowie „Finanzkonglomerate“
und im weiteren Sinne dann auch hinsichtlich der Besteuerung von Erlöspools in der deutschen Seeschifffahrt
gleich mehrere Maßnahmen. Lassen Sie mich zu zwei
Punkten Stellung nehmen.
Mit dem Gesetz zur Anlageberatung schaffen wir
Rahmenbedingungen und stärken damit die Finanzberatung auf Honorarbasis. Zu oft war im Zuge der Finanzkrise zu beobachten, dass Menschen in diesem Land
einen Schaden davongetragen haben, weil sie unzureichend - im schlimmsten Falle sogar falsch - beraten
wurden, wenn das Provisionsinteresse des Beraters stärker war als das eigentliche Anliegen des Kunden. Aus
den genannten Gründen haben wir die provisionsgestützte Beratung bereits reguliert, unter anderem im Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz sowie
im Finanzanlagenvermittlergesetz.
Nun wollen wir zusätzlich die Honorarberatung aus
ihrem Nischendasein herauslösen, um den Kunden eine
transparentere Wahlfreiheit als bisher zu geben. Hierfür
gehen wir heute einen ersten Schritt. Es ist ein erster
Schritt, weil wir uns, erstens, auf den auch für die Krise
maßgeblichen Finanzbereich konzentrieren. Der Versicherungsbereich bleibt in der Tat ausgeklammert. Das
hat neben den erforderlichen sehr umfangreichen Vorarbeiten auch einen anderen sehr guten Grund: Denn,
zweitens, wir nehmen bei diesem Gesetz erneut parallele
Verhandlungen auf europäischer Ebene zu einem vergleichbaren Thema vorweg. Bis zum Ende dieser Verhandlungen dauert es uns nicht zum ersten Mal zu lange.
Deshalb lösen wir einen Bereich heraus, bei dem bestimmte Inhalte absehbar sind, um wenigstens an einer
sehr wichtigen Stelle bereits den sprichwörtlichen Fuß in
die Tür zu bekommen. Wir schaffen damit eine gute
Grundlage. Diese Regulierung ist uns wichtig. Wir wollen damit ein weiteres Signal setzen.
({0})
Absehbar ist bereits, dass es am Ende keine komplette
Abschaffung der provisionsgestützten Beratung geben
kann. Sie ist und bleibt Bestandteil des Angebots. Beide
Varianten, die honorar- und die provisionsgestützte Beratung, haben Vor- und Nachteile. Keines der Modelle ist
frei von Interessenskonflikten. Viele Menschen haben
einen guten Kontakt zu ihren Vermittlern und Beratern,
oft über viele Jahre hinweg. Sie vertrauen ihnen, zumeist
auch zu Recht. Es ist deshalb nicht an uns, eine ganze
Branche unter Generalverdacht zu stellen. Unser Ziel ist
es auch nicht, die Kunden zu bevormunden. Der Berater
auf Honorarbasis soll jedoch in der Wahrnehmung der
Verbraucher gestärkt werden. Der Verbraucher soll erkennen, dass es mehr als eine Form der Anlageberatung
gibt.
Was sind die wichtigsten Eckpunkte? Die Honoraranlageberatung wird zu einem Berufsbild mit geschütztem
Begriff. Nur wer bestimmte Kriterien erfüllt, darf sich
künftig entsprechend bezeichnen. Das Regulierungsniveau inklusive der Qualifizierung wird darüber hinaus
angepasst. Das reicht von der Registrierung über die
Aufsicht und die Wohlverhaltenspflichten bis hin zur
Sachkunde und vielem anderen mehr.
Im Gegensatz zur Opposition wollen wir aber nicht,
dass dabei einseitig sogenannte Nettofinanzprodukte in
die Beratung einfließen. Das würde bedeuten, dass der
Berater rundweg gar keine Produkte einbeziehen dürfte,
die über einen Emittenten eigentlich mit einer Provisionsvergütung versehen sind. Die Nettoprodukte sollen
natürlich in erster Linie empfohlen werden. Auch von
uns wird dieser Weg verfolgt. Nur wenn das empfohlene
Finanzinstrument nicht provisionsfrei erhältlich ist, darf
dieser Weg eingeschlagen werden.
Doch auch dann gelten Regeln: Fällt eine Provision
an, darf diese nicht beim Berater verbleiben. Er hat also
keinen Vorteil davon. Er muss die Provision unverzüglich an den Kunden weiterleiten. Es gilt: Am Ende darf
ein Produkt dem Kunden auf keinen Fall zum Schaden
gereichen, aber auch nicht zu einem Mehraufwand führen. Für uns gilt aber auch: Nicht das Verfahren und
nicht Prinzipienreiterei, die zum Ausschluss von Dingen
führen könnten, die für den Kunden vielleicht sogar von
Vorteil wären, dürfen am Ende im Mittelpunkt stehen,
sondern das beste Produkt für den Kunden.
({1})
Ich möchte etwas zitieren:
Eine Honorarberaterin bzw. ein Honorarberater
muss aus dem gesamten Bereich von Finanz- und
Versicherungsinstrumenten optimale individuelle
Lösungen für seine Kundinnen und Kunden bereitstellen können.
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dies ist ein
Zitat aus Ihrem Antrag. Ich hätte es nicht besser formulieren können.
({2})
Abschließend sage ich: Der vorliegende Gesetzentwurf steht in einer Reihe mit den Gesetzen aus den letzten Jahren, mit denen diese Koalition nicht nur die Finanzbranche stärker reguliert hat, sondern vor allem
auch für den Verbraucher ein hohes Maß an Sicherheit
und Transparenz schaffen konnte. Er bildet eine Basis
für weitere Schritte. Damit können wir in einem wichtigen Bereich kurzfristig für mehr Sicherheit und Transparenz sorgen.
Lassen Sie mich in einem weiteren Teil meiner Ausführungen ein anderes Thema ansprechen. Es geht um
die sogenannten Schiffserlöspools im Bereich der deutschen Seeschifffahrt. Diese Pools sind ein Instrument zur
gemeinsamen flexiblen Vermarktung der in einem Pool
vereinten Schiffe, also im Prinzip eine gute Sache.
Die Frage, inwieweit eine Versicherungsteuer für
diese zur Anwendung kommen soll, ist kürzlich aufgeworfen worden. Das führt zur Verunsicherung. Wir wollen heute klarstellen, dass für diese Pools weder rückwirkend noch bis Ende 2015 eine Pflicht zur Zahlung einer
Versicherungsteuer entsteht. Damit wird Planungssicherheit gegeben. In der Folge soll es zu einer umfassenden
Neuregelung der Versicherungsteuerpflicht kommen.
Letztendlich ergibt sich diese Maßnahme aus den Lehren, die wir aus der Finanzkrise seit 2008 gezogen haben. Gerade auf den Schifffahrtsmärkten gab und gibt es
langanhaltende Verwerfungen. Wir wollen unsere maritime Wirtschaft damit unterstützen.
Danke schön.
({3})
Carsten Sieling hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der
Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf mit dem
wunderschönen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente“ ist leider ein weiterer Beleg dafür,
dass Sie zwar schöne Überschriften formulieren, der Inhalt aber selten hält, was die Überschrift verspricht.
Weil wir hier schon mehrfach darüber diskutiert haben und die Zeit schon fortgeschritten ist, möchte ich direkt sagen, dass es so leider nicht gelingen wird, eine
vernünftige und nachvollziehbare Alternative zu einer
standardisierten provisionsbezogenen Beratung und zu
einem provisionsbezogenen Vertrieb für die Menschen
zu schaffen.
Ich glaube, man hat bei meiner Vorrednerin sehr deutlich gemerkt, wie kompliziert und verworren das Konstrukt ist, das produziert worden ist. Dies hat ja viel mit
Konflikten in Ihren Reihen zu tun.
({0})
Bundesverbraucherministerin Aigner, die Sie ja jetzt
wieder zurück nach Bayern schicken, weil Sie dort eine
Reihe von Ersatzpersonal brauchen - auch gerade nach
dem heutigen Tag -,
({1})
hat einen umfangreichen Vorschlag gemacht, der in vielerlei Hinsicht vernünftige Elemente beinhaltet hat. Das
ist dann leider vom Bundesfinanzminister mit tätiger
Hilfe der FDP zersägt worden.
({2})
- Ich bedanke mich für diese Frage. Sie zeigt, man
konnte mir bislang gut folgen.
({3})
Ich will Ihnen meine Kritik kurz erläutern.
Erstens. Sie ermöglichen eben nicht eine durchgreifende und umfassende Beratung. Die Menschen brauchen Sicherheit, sie brauchen ein breit strukturiertes Angebot zu unterschiedlichen Produkten.
({4})
Darum ist es falsch, dass Sie kein umfängliches Berufsbild für Honorarberater vorsehen und auch keine produktübergreifenden Anlageberatungen ermöglichen.
Zweitens. Sie trennen nicht deutlich zwischen den
Vertriebskosten und den Produktkosten. Das ist der entscheidende Punkt. Die verpflichtende Ausweisung von
Nettotarifen wäre ein wichtiges Element. Sie sehen nur
vor - das ist der dritte Kritikpunkt -, denen, die etwas
verkaufen, die Möglichkeit zu geben, die Provision an
die Kunden weiterzuleiten. Damit geben Sie ein völlig
falsches Signal und irritieren an einer wichtigen Stelle.
({5})
Letztlich schaffen Sie es nicht, die Aufsicht in diesem
Bereich endlich einmal zu ordnen. Ich finde nach wie
vor, dass es ein Skandal ist, dass die Industrie- und Handelskammern und die Gewerbeaufsichtsämter, die in der
Gastronomie die Bedingungen kontrollieren, sich um
diesen schwierigen Bereich kümmern müssen. Wir haben von Beginn an gesagt, dass das alles von der BaFin
kontrolliert werden soll, aber Sie sehen dies wieder nicht
vor.
Im Ergebnis wird der Beratungssektor weiterhin eine
Subkultur bilden. Das ist schade. Das ist wirklich ein
Verlust für die Sicherheit und für die Perspektiven. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab und haben einen
eigenen Antrag vorgelegt. Wir bitten um Zustimmung
für diesen Antrag.
Ich darf, weil dies eine Debatte ist, in der verschiedene Punkte thematisiert werden, auch das Thema der
Schiffspools und der Versicherungsteuer ansprechen.
Frau Kollegin Lips, eines will ich ausdrücklich sagen.
Sie haben hier so schön formuliert: Und dann kam da
plötzlich irgendwoher der Vorschlag, diese Dinge einer
Versicherungsteuer zu unterwerfen. - Nennen Sie doch
bitte Ross und Reiter. Dieser Vorschlag ist von Bundesfinanzminister Schäuble gemacht worden, er hat weder
Hand noch Fuß und ist von Grund auf falsch und auch
nicht sachgemäß.
({6})
Das hat die Anhörung im Finanzausschuss sehr deutlich
gezeigt.
Sie haben jetzt versucht, zu reparieren. Ich hatte bis
vorgestern noch geglaubt, dass Sie richtig reparieren und
einsichtig geworden sind. Aber nein, Sie trauen sich
nicht. Sie machen eine befristete Regelung bis Ende
2015.
({7})
Damit schaffen Sie nur eine vorübergehende Rechtssicherheit. Ich habe heute eine Presseerklärung dazu gelesen, in der es hieß: „Das Damoklesschwert … ist an die
Seite gelegt worden.“ Richtig, es wird bis Ende 2015 an
die Seite gelegt, aber es liegt noch da, um dann wieder
aufgehängt zu werden.
Meine Damen und Herren, entweder sind diese Pools
versicherungsteuerpflichtig oder nicht. Ein bisschen
schwanger geht nicht. Sie legen hier einen solchen Unsinn vor. Gut, es gibt einen positiven Aspekt dabei: Wir
haben nach dem 22. September, wenn wir regieren, die
Aufgabe, daraus etwas Konsistentes zu machen und dafür zu sorgen, dass die Versicherungsteuer an der Stelle
wirklich der Vergangenheit angehören wird.
Angesichts dieser späten Stunde habe ich etwas Redezeit eingespart.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zuge der Finanzkrise gab es bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern, bei den Anlegerinnen und Anlegern eine große Verunsicherung. Sie wussten nicht,
wie sie mit der Situation umgehen sollten. Misstrauen ist
entstanden. Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU
und FDP hat reagiert. Rückblickend kann man mit Fug
und Recht feststellen: Es waren vier gute Jahre für
Deutschland im Bereich des Anlegerschutzes.
({0})
Wir haben Sicherheit und Vertrauen geschaffen,
({1})
indem wir beispielsweise das Anlegerschutzgesetz verabschiedet haben. Wir haben die Beratungsprotokolle
eingeführt. Wir haben die Produktinformationsblätter
eingeführt, die wir zukünftig reformieren werden; wir
wollen versuchen, sie zu vereinheitlichen. Wir haben ungedeckte Leerverkäufe verboten und die Kreditverbriefungen geregelt. Wir haben eine Initiative zu den Eigenkapitalquoten im Zuge des Basel-III-Prozesses gestartet.
Wir haben den Hochfrequenzhandel und den Derivatehandel reguliert.
({2})
Jüngst haben wir uns im Ausschuss mit dem AIFMUmsetzungsgesetz beschäftigt und den grauen Kapitalmarkt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Insgesamt
kann man wirklich mit Fug und Recht feststellen: Bislang waren es vier gute Jahre für Deutschland. Wir machen sie aber noch besser,
({3})
und zwar durch das Honoraranlageberatungsgesetz, das
wir vorgelegt haben.
({4})
Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und
Herren, schaffen wir Wahlfreiheit. Auf die Wahlfreiheit
kommt es uns nämlich an. Die Kundinnen und Kunden,
die Anlegerinnen und Anleger sollen die Wahl haben, zu
entscheiden, wie sie sich in ihren privaten Geldangelegenheiten beraten lassen.
({5})
Das ist eben der Unterschied zwischen uns und Ihnen:
Bei uns entscheidet der Kunde, bei Ihnen entscheidet das
Wir. Wir sind der Meinung, es ist besser, wenn der
Kunde entscheidet.
({6})
Aus diesem Grund haben wir das Berufsbild des
Honoraranlageberaters geschaffen. Wir haben klar festgelegt, welche Voraussetzungen er erfüllen muss, was er
machen darf und was er nicht machen darf. Vermutlich
wird es auch bei der Honorarberatung schwarze Schafe
geben. Davor ist man allerdings nie gefeit; auch die provisionsgestützte Beratung hat Vor- und Nachteile. Aber
jetzt kann der Kunde selbst entscheiden,
({7})
und ein Markt kann sich entwickeln.
In der Tat ist die Honorarberatung, Kollege Sieling,
noch nicht ganz so umfassend geregelt, wie wir es uns
wünschen würden. Allerdings muss man berücksichtigen: Im Rahmen der MiFID ist eine europäische Regulierung zu erwarten. In etwa zwei Jahren wird es so weit
sein, dass sie auch bei uns landet.
({8})
Damit wir dieses Gesetz dann nicht werden ändern müssen, sondern weiterhin Rechtssicherheit haben, haben
wir aus dieser europäischen Regulierungsrichtlinie das
herausgegriffen, was man schon jetzt umsetzen kann.
Dabei geht es im Wesentlichen um Wertpapiere, bedauerlicherweise nicht um Versicherungen. Weil es noch
keinen vernünftigen Markt für sogenannte Nettoprodukte gibt, also für Produkte, die keinen Provisionsanteil
enthalten, haben wir die Vorschrift eingeführt, dass der
Berater, wenn das für den Kunden beste Produkte eine
Provision beinhaltet, diese Provision an den Kunden
weiterleiten muss.
Insofern haben wir einen Ordnungsrahmen geschaffen, der für mehr Wettbewerb zwischen den Beratungsformen und für mehr Wettbewerb zwischen den Beratern
führen wird. Anbieter, die sagen: „Ich möchte meinen
Kunden zukünftig Honorarberatung anbieten“, können
dies tun, ohne in zwei Jahren möglicherweise mit einer
weiteren Gesetzesänderung rechnen zu müssen. Ich
finde, in Anbetracht sich ständig ändernder Rahmenbedingungen ist das eine gute Lösung.
Ich fasse zusammen: Der Kunde entscheidet, und wir
haben Wettbewerb geschaffen. Es waren in der Tat vier
gute Jahre für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat Harald Koch für die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verbraucherinnen und Verbrauchern entsteht jedes
Jahr durch falsche Anlageberatung und schlechte Finanzinstrumente ein Schaden von über 50 Milliarden Euro.
({0})
- Stellen Sie die Frage; dann sage ich Ihnen das.
({1})
Mit dem Honoraranlageberatungsgesetz will die Bundesregierung die Beratung auf Honorarbasis stärken, um
wenigstens ein klein wenig für bessere Finanzberatung
zu sorgen. Doch das gelingt ihr leider nicht. Das liegt
zum einen daran, dass sie zwei entscheidende Gründe
für massenhafte Falschberatung im Finanzbereich völlig
ignoriert: die provisionsgestützte Beratung und Vermittlung sowie den Vertriebs- bzw. Verkaufsdruck, der oft
auf Vermittlern und Beratern lastet. Zum anderen liegt es
daran, dass sie, um die manipulative Finanzlobby nicht
zu vergrätzen, nicht den Blick über den Tellerrand wagt.
Aus diesem Grund lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab. Wir haben aber zugleich einen Entschließungsantrag eingebracht, den ich Ihnen allen dringend zur
Lektüre empfehlen möchte.
Es reicht nicht aus, wenn man sich, wie es die SPD
und die Grünen mit ihren Anträgen tun, stur auf die Honorarberatung stürzt. Ihre Forderungen zur Stärkung der
Honorarberatung teilen wir aber weitestgehend.
Wir wollen unter anderem, dass der Begriff „Berater“
unter Bezeichnungsschutz gestellt wird. Es müssen natürlich auch Nettotarife für alle Finanzmarktinstrumente
eingeführt werden. Eine bundeseinheitliche Aufsicht für
alle Honoraranlageberater hat durch die BaFin zu erfolgen. Die Vergütung der Beratenden muss zum Schutz
einkommensschwacher Menschen besser geregelt werden. Honorarberatung darf auch nicht zum Privileg der
Reichen werden. Schließlich sollte die Beratung finanzinstrumenteübergreifend erfolgen und zum Beispiel Versicherungen mit einschließen.
({2})
Deswegen habe ich Ihre Aussage, Frau Lips, wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Doch nun muss der Blick weiter reichen als von der
Tapete bis zur Wand: Wir brauchen eine wirklich unabhängige und flächendeckende verbrauchergerechte
Finanz- und Anlageberatung auf einer viel breiteren Basis. Daher müssen neben der Honorarberatung vor allem
die Beratungsangebote der Verbraucherzentralen und der
Schuldnerberatungsstellen gestärkt werden, aber auch
die öffentliche Rechtsberatung zum Anlegerschutzrecht.
Die Verbraucherzentralen müssen personell, strukturell,
rechtlich und finanziell in die Lage versetzt werden, ihr
Beratungsangebot und ihre Marktwächterfunktion ausbauen zu können.
Im Gegensatz zu SPD und Grünen will die Linke das
System der provisionsgestützten Finanzberatung und -vermittlung überwinden.
({3})
An dieser Stelle merkt man ganz deutlich, dass auch
SPD und Grüne das Problem der Falschberatung nicht
ernst genug nehmen
({4})
und der Finanzlobby nicht an den Karren fahren wollen.
({5})
Solange es eine provisionsgestützte Finanzberatung gibt,
hat die Honorarberatung wenige Chancen.
Produktbezogene Verkaufsvorgaben der Kredit- und
Finanzinstitute, der Versicherungen und Finanzvertriebe
sind ebenso gesetzlich zu verbieten. Schließlich brauchen wir neben einer Verbraucherschutzbehörde für
Finanzmärkte einen Finanz-TÜV, der allen Finanzmarktakteuren, -instrumenten und -praktiken nur bei Unbedenklichkeit eine Zulassung erteilt.
({6})
Ohne Zulassung kein Geschäft, nur so vermeidet man etliche weitere Verlustgeschäfte für die Bürgerinnen und
Bürger, die sich in der Folge auch in steigender Altersarmut bemerkbar machen.
Alles in allem getraut sich nur die Linke, das Goldene
Kalb der Provision zu schlachten. Die Finanzberatung
muss endlich von den Bedürfnissen, Lebensumständen
und Anlagezielen der Verbraucherinnen und Verbraucher
ausgehen, und zwar nur davon. Es bestehen also
noch große Probleme im finanziellen Verbraucherschutz.
Eine deutliche Stärkung der Verbraucherinteressen und
-rechte ist dringend notwendig. Nur die Linke ist hier
Anwältin der Bürgerinnen und Bürger.
Die Zahlen, Herr Brinkhaus, habe ich von Professor
Dr. Andreas Oehler von der Universität Bamberg, nachzulesen im Handelsblatt vom 27. Dezember 2012.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Ziel des Gesetzentwurfes, die Honorarberatung in Deutschland zu fördern und zu regulieren - Frau
Lips hat dieses Ziel schön vorgetragen -, unterstützen
wir aus vollem Herzen.
({0})
Leider wird dieses Ziel mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht erreicht. Anstelle eines umfassenden,
an den Kundenbedürfnissen orientierten Berufsbildes
zur Honorarberatung, das alle Finanzprodukte einschließt - Sie haben da aus dem Entschließungsantrag
der Linken zitiert -, produzieren Sie weiteres Chaos auf
dem Markt.
Mit Begriffen wie „Honoraranlagenberater“ und „Honorarfinanzanlagenberater“, die mitnichten über alle für
die Verbraucher relevanten Produkte beraten können,
schaffen Sie bei den Verbrauchern Verwirrung. Stellen
Sie sich die Situation vor: Sie gehen zu einem Honorarfinanzanlagenberater. Der darf Sie aber nicht dahin gehend beraten, dass Sie zum Beispiel erst einmal eine
private Haftpflichtversicherung oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen sollten, bevor Sie sich
Gedanken über Aktien, Sparpläne und geschlossene
Fonds machen. Wir finden: Das hat nichts mit umfassender Finanzberatung zu tun.
({1})
Ich denke, es ist keine Kaffeesatzleserei, wenn ich prognostiziere, dass nur ein kleiner Kundenkreis bereit sein
wird, für eine derart eingeschränkte Form der Beratung
überhaupt Honorare zu zahlen.
Die Bundesregierung und die Fraktionen von Union
und FDP vergeben die Chance auf einen Paradigmenwechsel im Markt für Finanzberatung in Deutschland.
Wenn Sie einen wirklichen Paradigmenwechsel, einen
echten Wettbewerb zwischen Honorar und Provision, gewollt hätten, dann wären Sie mutige Schritte gegangen,
zum Beispiel mit der Pflicht zur Einführung von Nettotarifen und der steuerlichen Gleichstellung von Provision und Honorar.
({2})
Frau Lips, Sie haben gesagt, die Durchleitung von
Provisionen sei eine Alternative zu den Nettotarifen.
Mitnichten! Die Provisionsdurchleitung kann nur ein
Modell für einen Übergang sein. Danach brauchen wir
die Pflicht zur Einführung von Nettotarifen, damit die
Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich verständliche Alternativen am Markt haben, die sie ohne ein
Ökonomiestudium miteinander vergleichen können.
Das Instrument der Provisionsdurchleitung wurde in
der Anhörung hart kritisiert. Damit öffnen Sie neuen
Fehlanreizen Tür und Tor. Sie erlauben damit eine vermeintliche Schnäppchenjagd für die Verbraucherinnen
und Verbraucher und verlagern Fehlanreize vonseiten
der Anbieter und Vermittler zu den Verbrauchern. Hier
kann man sich nur fragen: Halten Sie das wirklich für
sinnvoll?
Meine Damen und Herren, die Kritik aus dem Bundesrat, aus der Anhörung und vonseiten der Opposition
haben Sie mit wenigen Ausnahmen ignoriert.
({3})
Von Ilse Aigners großen Ankündigungen, die sie 2011 in
Form eines durchaus brauchbaren Eckpunktepapiers
vorgelegt hat, ist nur wenig übrig geblieben.
({4})
Herausgekommen ist dieser Gesetzentwurf, den man,
denke ich, mit Fug und Recht als Entwurf eines Honorarberatungsverhinderungsgesetzes bezeichnen kann,
und so etwas lehnen wir ab.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat nun Ralph Brinkhaus für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Maisch, ich glaube, das, was Frau Aigner in ihr
Eckpunktepapier geschrieben hat, ist schon zu großen
Teilen umgesetzt worden.
({0})
Man muss auch einfach einmal eines sagen: Das, was
davon in dieser Legislaturperiode umzusetzen war, ist
auch umgesetzt worden. Wir müssen hier einfach auch
einmal realistisch bleiben.
({1})
Die Honoraranlageberatung ist von dieser Bundesregierung und von dieser Regierungskoalition das erste
Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzlich
verankert worden.
({2})
Das Honoraranlageberatungsgesetz steht als ein Element
in einer ganz langen Reihe von vielen Verbraucherschutzmaßnahmen, die diese Bundesregierung auf den
Weg gebracht hat.
({3})
Diese Bundesregierung hat so viel für den Verbraucherschutz im Bereich der Finanzen getan wie keine Bundesregierung zuvor. Auch das gehört zur Wahrheit.
({4})
Um Ihnen das nur noch einmal in Erinnerung zu rufen, nenne ich: das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, die
Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie, die Verbesserungen der Aufsichtsstrukturen, das AIFM-Umsetzungsgesetz, das gestern durch den Ausschuss gegangen ist, die
Deckelung der Provisionen bei der privaten Krankenversicherung und bei der Lebensversicherung, unsere Mitwirkung an MiFID II - daran wirken wir noch immer
mit - und Maßnahmen in Bezug auf die Geldautomaten
und Verjährungsfristen.
({5})
Ich glaube, wenn Sie in der Zeit, in der Sie Verantwortung getragen haben, so viel vorzuweisen gehabt hätten, dann könnten Sie stolz sein. Das haben Sie aber
nicht.
({6})
Kommen wir zum zweiten Gesetzentwurf, den wir
heute hier verabschieden werden. Es geht dort um Finanzkonglomerate. Dazu hat sich noch keiner geäußert.
Ich glaube, der Kollege Zöllmer wird sich dieser Aufgabe gleich annehmen.
Ich mache es einmal ganz kurz und bündig: Was ist
ein Finanzkonglomerat? Das ist ein Konzern, in dem
- ganz grob vereinfachend gesagt - sowohl ein Versicherungsunternehmen als auch eine Bank ist. Das bedeutet,
dass es da durchaus Probleme geben kann, weil Banken
und Versicherungen getrennt beaufsichtigt werden. Deswegen ist es notwendig, dass die gemeinsame Aufsicht
koordiniert wird. Deswegen ist es notwendig, dass man
bei Organisation und Eigenmitteln besondere Anforderungen beachtet.
Das Ganze war im deutschen Recht bisher in einigen
Gesetzen geregelt, aber noch nicht europarechtskonform. Das wird jetzt nachgeholt. Wir werden europäische Vorgaben umsetzen, und wir werden aus verschiedenen Gesetzen ein neues Gesetz machen: ein
Finanzkonglomerate-Aufsichtsgesetz, in dem verschiedene Paragrafen vereint sind. Wir werden auch diesen
Bereich vernünftig überwachen lassen. Ich glaube, das
ist im Wesentlichen unstrittig. Wir haben darauf verzichtet, in größerem Umfang etwas hinzuzufügen. Dementsprechend war es in den Ausschussberatungen eigentlich
einhellige Meinung, dass dieses Gesetz ein gutes Gesetz
ist. Ich bedanke mich bei den Koberichterstattern für die
vertrauensvolle Zusammenarbeit.
„Was machen eigentlich zwei Gesetze wie das Honoraranlageberatungsgesetz, also ein Gesetz zum Verbraucherschutz, und ein Gesetz zu Finanzkonglomeraten in
ein und derselben Debatte?“, könnte man sich fragen.
Die erste Antwort darauf ist: Wir verabschieden so unglaublich viele Gesetze im Bereich der Finanzmarktregulierung und des finanziellen Verbraucherschutzes,
dass wir von unseren Parlamentarischen Geschäftsführern immer weniger Debattenzeiten für Themen dieser
Art bekommen. Dementsprechend müssen wir diese beiden Gesetzentwürfe an dieser Stelle zusammen beraten.
Die zweite Antwort darauf ist: Zwischen diesen beiden Bereichen gibt es doch eine Verbindung. Wir haben
gerade sehr viel über den finanziellen Verbraucherschutz
gesprochen, über Transparenz, über Informationen, über
Beratungen, über Vertrieb, über Provisionen und ähnliche Dinge. Aber eigentlich ist es so, dass der beste finanzielle Verbraucherschutz stabile Finanzmärkte sind.
Genau das hat diese Bundesregierung mit auf den Weg
gebracht, und zwar durch über 25 Initiativen, Gesetzgebungsverfahren, Umsetzungen von europäischen Normen. Das haben wir eigentlich richtig gut gemacht.
({7})
Wir haben dabei ein System gehabt: Wir haben dafür
gesorgt, dass bei Finanzinstituten, Banken und Versicherungen weniger Fehler gemacht werden. Wir haben
Fehlanreize bei den Vergütungsstrukturen beseitigt. Wir
haben den Unsinn, der bezüglich Ratingagenturen gemacht worden ist, abgestellt. Wir haben Verbriefungen
und Großkredite reguliert.
Wir haben in einem zweiten Schritt dafür gesorgt,
dass die Fehlertragfähigkeit dieser Institute größer wird.
Das heißt, wir haben Eigenkapital- und Liquiditätsregeln
geschaffen. Bestimmte Sachverhalte, bestimmte Geschäfte, wie Leerverkäufe, haben wir aus dem Gesetz herausgenommen.
Wir haben in einem dritten Schritt die Aufsicht gestärkt und haben erst einmal Transparenz geschaffen.
Bestimmte Informationen sind für die Aufsicht das erste
Mal überhaupt sichtbar. Wir haben europäische Aufsichtsstrukturen verändert, wir haben deutsche Aufsichtsstrukturen verändert, und - was ganz wichtig ist wir haben ganz viele Bereiche, die nie reguliert waren,
das erste Mal überhaupt in die Aufsicht hineingenommen: den grauen Kapitalmarkt, Hedgefonds. Das ist etwas, wofür diese Bundesregierung verantwortlich ist.
Diese Punkte werden deswegen ein wesentlicher Bestandteil in der Bilanz dieser Bundesregierung und dieser Koalition nach vier Jahren Regierungszeit sein.
Wir haben darüber hinaus Neues auf den Weg gebracht, nämlich ein Restrukturierungsregime für Banken. Das ist erstmals in Europa geschehen. Es ist sehr
schade, dass es ein solches Restrukturierungsregime
noch nicht auf europäischer, sondern nur auf deutscher
Ebene gibt. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode daran arbeiten, dass sich das ändert.
Der letzte Punkt, den wir im Bereich „sichere Finanzmärkte“ umgesetzt haben: Wir waren die Ersten, die dafür gesorgt haben, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, sich auch an den Kosten beteiligen.
({8})
Wir haben die Bankenabgabe auf den Weg gebracht. Es
war diese Bundesregierung, die es geschafft hat, das Instrument der Finanztransaktionsteuer in den europäischen Verhandlungsprozess einzubringen.
({9})
Ich schließe meinen Redebeitrag zu dieser nächtlichen Zeit. Man kann eines sagen: Wir haben eine ziemlich gute Bilanz im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes. Wir haben eine super Bilanz im Bereich
der Finanzmarktregulierung. Das Ganze werden wir in
der nächsten Legislaturperiode fortsetzen, und darauf
freuen wir uns schon.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Manfred Zöllmer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Brinkhaus, hat die merkwürdige Zusammenlegung der Beratung dieser beiden Gesetzentwürfe
vielleicht etwas damit zu tun, dass Sie verschleiern wollen, dass Sie etwa im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes und der Honorarberatung inhaltlich gar
nichts vorzuweisen haben? Kann das nicht der Grund
sein? Ich glaube, das ist er.
({0})
- Nein, ich habe jetzt noch eine Minute und 36 Sekunden Redezeit.
({1})
Eine Erkenntnis der Finanzkrise war, dass die Aufsicht über Finanzinstitute verbessert werden muss. Der
Kollege Brinkhaus hat eben definiert, worum es bei diesen Finanzkonglomeraten geht. Wir halten es für richtig,
dass deren Beaufsichtigung in Deutschland verbessert
wird. Wir haben zwar nur relativ wenige solcher Unternehmen hier in Deutschland; aber trotzdem können sie
im Fall einer Krise systemische Wirkungen entfalten.
Sie setzen dabei die europäische Finanzkonglomeraterichtlinie um. Es ist im Wesentlichen eine Eins-zueins-Umsetzung europäischer Vorgaben. Ich darf daran
erinnern: Sie loben sich hier immer für Gesetzentwürfe,
die im Wesentlichen nur Umsetzungen europäischer
Vorgaben sind.
({2})
Das muss man, glaube ich, auch einmal sagen.
Sie haben auf der Ebene der Finanzkonglomerate nur
einen Stresstest neu eingeführt. Das halten wir in diesem
Zusammenhang für richtig.
({3})
In einem Fachgespräch ist deutlich geworden, dass
dieser Gesetzentwurf auch von den Experten insgesamt
begrüßt wird. Es gab Fragen, wie Bundesbank und
BaFin bei der Aufsicht eigentlich zusammenarbeiten sollen, und es gab den Wunsch der Versicherungen, deutlich zu machen, dass es hier schlanke Strukturen geben
solle und es nicht sinnvoll sei, dass zweimal berichtet
wird. Wir hoffen, dass das insgesamt dann auch umgesetzt wird. Doppelte Berichtswege sollten hier vermieden werden. Wir müssen hier etwas mit weniger Bürokratie schaffen. Wir werden diesem Gesetzentwurf
zustimmen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 zur
Änderung verschiedener EG-Richtlinien hinsichtlich der
zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen eines Finanzkonglomerats. Der Finanzausschuss empfiehlt
in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13245, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/12602
und 17/12997 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13131, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12295 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dieser Empfehlung folgen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13247. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/13248. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der
Linken mit den Stimmen des Hauses abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13249. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von Grünen und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/13131 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8182 mit
dem Titel „Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen
bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, Beate
Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz bei Steinkohleimporten
- Drucksachen 17/10845, 17/12228 Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. Lämmel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil für
die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute fand in Karlsruhe die Hauptversammlung der
Energie Baden-Württemberg AG statt; die von RWE
fand vor einer Woche in Essen statt. Beide Veranstaltungen haben eines gemein: Sowohl in Karlsruhe als auch in
Essen wurde ein kunterbuntes Schauspiel vorgeführt,
und zwar von Aktivisten, denen Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, mit Ihrem Antrag hier
und heute das Wort reden. Ein paar Kollegen von der
SPD machen munter mit.
({0})
Dazu bedarf es einer Erklärung. Umwelt-NGOs fahren den Häuptling eines indigenen Volkes aus dem Norden Kolumbiens, wo Steinkohle abgebaut wird, von
Hauptversammlung zu Hauptversammlung der großen
Energieversorger in Deutschland. Dabei inszenieren sie
dessen Auftritt zur Verfolgung ihrer eigenen Zwecke wie
eine Zirkusvorführung mit Trommeln und Federn.
Ich finde das aus zwei Gründen unter aller Kritik:
Erstens haben wir die Zeiten, in denen es solche plakativen Vorführungen aus einer anderen Welt gegeben hat,
hinter uns gelassen - Gott sei Dank! Zweitens ziehen
diese Organisationen mit solchen Kampagnen im Ausland das Ansehen deutscher Unternehmen durch den
Dreck, und damit auch das von Deutschland.
({1})
Auch wenn Sie in Ihrem Antrag etwas anderes behaupten: Der Handel mit fungiblen Commodities - dazu
zählt die Steinkohle - wird über organisierte Warenterminbörsen abgewickelt. Das bedeutet: Einzelnen Rechnungsposten einen Fußabdruck oder Footprint anzuheften, ist schlichtweg unmöglich. Aber das ist auch gar
nicht nötig. Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Finanzierung rohstofffördernder Unternehmen berichten.
Die deutschen EVU beziehen ihre Kohle von weltweit aktiven Unternehmen aus der Rohstoffförderung.
Diese Unternehmen sind schon durch ihre Eigentümerstrukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten Standards einzuhalten. Lassen Sie mich das erklären: Kapitalsammelstellen, wie zum Beispiel das California
Public Employees’ Retirement System, auch als Calpers
bekannt, aber auch andere bekennen sich zu strengen sozialen und ökologischen Selbstverpflichtungen.
({2})
Gemäß dieser Selbstverpflichtungen entscheiden sie
über Veräußerung oder Akquise von Beteiligungen an
Unternehmen in Milliardenhöhe.
Es ist nicht schwierig, nachzuvollziehen, dass Auftritte wie der heutige oder der der vergangenen Woche
auch für deutsche Unternehmen nicht unbedingt hilfreich sind; denn auch hier achten Investoren mehr und
mehr auf ethisch-ökologische Anlagekriterien. Was hilft
es zum Beispiel unserem gemeinsamen Projekt, der
Energiewende, wenn wir in der ohnehin schon stark belasteten Energiebranche auch noch die Anleger verschrecken?
({3})
Damit machen wir es ihnen doch noch schwerer, in dringend benötigte Gaskraftwerke - hören Sie zu, Herr Kollege Krischer - oder den Zubau erneuerbarer Energien
zu investieren. Das wollen Sie doch.
Nachhaltigkeit kann und darf für diese Unternehmen
schon aufgrund ihrer Eigentümerstrukturen nicht nur
eine Worthülse im CSR-Bericht sein. Also müssen viele
Aktiengesellschaften nachhaltig wirtschaften, soziale
und ökologische Standards einhalten, allein schon deshalb, um ihre Kapitalgeber bei der Stange zu halten. Ein
Schelm, wer Böses dabei denkt. Vielleicht ist das aber
auch gerade das Ziel dieser NGOs oder Ihres Antrages.
Ich sehe zusätzlich einen betriebswirtschaftlichen
Punkt, weshalb diese Unternehmen soziale und ökologische Standards einhalten. Sie führen nämlich zu Nachhaltigkeit und damit über sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand in den Förderregionen zu Produktivität
und Verlässlichkeit. Diese Produktivität und Verlässlichkeit liegen doch im Interesse aller.
Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben zur Flankierung dieser Handelsaktivitäten gemacht. Es gibt weltweit Initiativen und Abkommen, die der Verbesserung
der Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstandards dienen. Wir sind in vielen Fällen aktiv eingebunden. Wir unterstützen die Initiative zur Verbesserung der
Transparenz in der Rohstoffindustrie politisch und finanziell. Wir sind derzeit Mitglied im internationalen Aufsichtsgremium. Zahlreiche Staaten haben die formulierKlaus Breil
ten Standards anerkannt, ebenso eine Reihe von
Unternehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWE
und die KfW dazu - eigeninitiativ und ohne Zwang. Das
im Antrag genannte Lieferland Kolumbien ist Mitglied
der International Labour Organization, und es hat die
ILO-Konvention 169 ratifiziert. Die Überwachung obliegt alleine der ILO. Damit sind die im Antrag erhobenen Forderungen entweder unnötig oder bereits erfüllt.
Wir unterstützen die betreffenden Länder mit unserer
Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Gerade
erst haben wir hier über ein Rohstoffabkommen mit Peru
und Kolumbien debattiert. Auch damit wirken wir auf
die Anerkennung und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards hin. Alles, was darüber hinausgeht, widerspricht jedenfalls meinem Verständnis von der nationalen Souveränität einzelner Staaten. Aber diese Bedenken
blenden Sie einfach aus.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Zuerst einmal ein Kompliment, Klaus Breil: Sie haben
gerade in Ihrer Rede einen sehr langen englischen Begriff verwendet und haben ihn fehlerfrei vorgetragen.
Das war ganz hervorragend.
({0})
Ich fange deshalb auch mit zwei englischen Begriffen
an. Liebe Freunde von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antrag, in dem es letztlich um Transparenz im Rohstoffsektor geht, sind Sie nicht First Movers, sondern
Late Followers; denn die SPD hat bereits im Januar 2013
zwei Anträge zu diesem Thema eingebracht: erstens den
Antrag „Transparenz in den Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien“
und zweitens den Antrag „Transparenz für soziale und
ökologische Unternehmensverantwortung herstellen Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Arbeits- und Umweltbedingungen europäisch einführen“.
Im ersten Antrag zur Transparenz der Zahlungsflüsse
im Rohstoffbereich geht es vor allem um die Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft in solchen rohstoffreichen Ländern, die Gewinne aus dem Bergbau in
erster Linie in die Taschen korrupter Eliten lenken und
dadurch eine Wohlstandsentwicklung bei den zumeist
völlig verarmten Bevölkerungen gar nicht erst zulassen.
Außerdem soll durch Zertifizierung von Minen sichergestellt werden, dass Rohstoffe aus Konfliktregionen nicht
auf die Weltmärkte gelangen und auf diese Weise zur
weiteren Finanzierung bewaffneter regionaler Konflikte
beitragen.
Im zweiten Antrag zur Transparenz von Arbeits- und
Umweltbedingungen finden sich ähnliche Ansätze wie
im heute zu diskutierenden Antrag der Grünen. Allerdings beschränkt sich unser Antrag nicht auf einen einzigen Rohstoff, die Steinkohle, sondern adressiert den
gesamten Bereich der energetischen und nicht energetischen Rohstoffe. Das ist uns wichtig, Herr Krischer, weil
erst gar nicht der Eindruck entstehen soll, es gehe uns in
Wahrheit nicht um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Minensektor oder die Umweltbedingungen bei
der Förderung, sondern um die Diskriminierung eines
bestimmten Rohstoffes.
({1})
Wir fordern in unserem Antrag, die Unternehmen gemäß der OECD-Leitsätze zu verpflichten, vollständige
Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten
ihrer Geschäftstätigkeit entlang der gesamten Lieferkette
abzugeben. Wir verlangen außerdem, dass die Informationen durch unabhängige Prüfgesellschaften geprüft
und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Aspekte öffentlich verfügbar gemacht werden.
Wir fordern des Weiteren ein europäisches bzw. möglichst internationales Akkreditierungs- und Zertifizierungssystem sowie die gesetzliche Verankerung eines
Indikatorensystems für die verpflichtende Unternehmensberichterstattung. Dieses Indikatorensystem soll
sich an den OECD-Leitlinien, den ILO-Kernarbeitsnormen, der ILO-Erklärung für grundlegende Prinzipien
und Rechte bei der Arbeit sowie an der Global Reporting
Initiative - auch das ist englisch - und der ISO 26 000
orientieren.
({2})
Der Antrag der Grünen berücksichtigt in Punkt 13 lediglich die ILO-Konvention 169 über indigene Völker,
nicht aber die ILO-Konventionen 176 und 182 zum Arbeitsschutz in Bergwerken und zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Das ist uns, ehrlich gesagt, zu wenig.
({3})
Unsere Anträge sind also in jeder Hinsicht umfassender, weshalb wir uns bei dem Antrag der geschätzten
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
heute leider enthalten müssen.
({4})
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dass
die Kohle, die Braunkohle und die Steinkohle, im deutschen Energiemix im Moment eine ganz entscheidende
Rolle spielt; denn ansonsten, liebe Freunde von der grünen Partei, könnten Sie heute diese Debatte gar nicht
führen, weil wir keine Grundlast hätten. Denn die Sonne
scheint nicht, auch ist es draußen windstill.
({0})
Ohne den Strom aus Kohlekraftwerken und Atomkraftwerken könnten Sie heute diese Debatte überhaupt nicht
führen.
({1})
Ich danke Ihnen für Ihren Antrag ganz herzlich.
Schon auf der ersten Seite kann man eine wichtige Erkenntnis lesen. Das ist interessant. Da steht der Satz,
dass „Deutschland noch für eine längere Zeit weiterhin
Steinkohle importieren“ wird.
({2})
Sehr gut! Sie haben gelernt, dass wir in Deutschland einen guten Energiemix aus verschiedenen Energieträgern
brauchen. Es hat sich offensichtlich nun auch bei Ihnen
festgesetzt, dass die Steinkohle wie auch die Braunkohle
im Energiemix in Deutschland eine sehr wichtige Rolle
spielen. Das werde ich mir für andere Debatten merken.
Wir werden ja gelegentlich wieder darauf zurückkommen.
Dann hört es aber auf, was Erkenntnisse in Ihrem Antrag betrifft. Gefordert wird, wie oft in Ihren Anträgen,
die Einführung einer Reihe zusätzlicher Berichtspflichten für deutsche Unternehmen. Sie richten die weitere
Forderung an die Bundesregierung, dass sie sich auf EUEbene für noch mehr Bürokratie engagieren soll. Aber
Sie wissen auch ganz genau, dass die deutsche Wirtschaft nicht mehr Bürokratie braucht, sondern mehr Zeit,
um unternehmerisch tätig zu sein.
Für uns als christlich-liberale Koalition ist der Bürokratieabbau Politikziel. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode das Ziel gesetzt, 25 Prozent Bürokratie
abzubauen. Wir stehen kurz davor.
({3})
Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, bei
dem es wieder um mehr Bürokratie geht. Außerdem
muss man auch deutlich sagen: Nicht jedes Problem auf
der Welt kann mit deutschen Gesetzen und deutschen
Verordnungen gelöst werden. Das wissen auch Sie eigentlich ganz genau; denn bei den Förderländern, die Sie
in Ihrem Antrag aufgeführt haben, handelt es sich um
souveräne Staaten.
({4})
Wir sind keine Kolonialmacht, die ihre Verordnungen
diesen Ländern aufzwingen kann, um dort für Ordnung
zu sorgen.
({5})
So etwas würden Sie sich vielleicht wünschen, aber das
geht eben nicht, Herr Krischer.
Bei den aufgezählten Forderungen geht aus meiner
Sicht jedes Maß verloren. Die Privatautonomie und die
Organisationshoheit privater Unternehmen haben in Ihrem Gedankengut keinerlei Bedeutung. Ich will auf all
Ihre Forderungen gar nicht eingehen; mein Kollege Breil
hat dazu schon einiges gesagt.
Auf eine Unklarheit Ihres Antrages muss man aber
schon hinweisen: Sie wollen die Verpflichtung von Unternehmen einführen, „innerhalb ihrer Einflusssphäre“
auf Standards zu achten, die sie nicht unmittelbar beeinflussen können. Das ist doch sehr fraglich. Das müssen
Sie mir einmal erklären. Wie wollen Sie das denn definieren? Wie soll das abgegrenzt werden?
({6})
Das ist im Prinzip außerhalb der internationalen Standards, die schon existieren. Sie werden uns sicherlich sagen, was Sie damit meinen. Denn Sie wissen ja auch genau, dass es beim internationalen Rohstoffabbau eine
Unzahl von NGOs gibt. Die Medien werfen einen sehr
genauen Blick auf die Abbaubedingungen vor Ort nicht bloß bei der Kohle, sondern auch bei anderen Rohstoffen.
({7})
Insofern ist Öffentlichkeit in großem Umfang hergestellt. Ich verweise hierzu auch auf den Artikel zum
Kohleabbau in Kolumbien vom 18. April 2013 in einer
großen Wochenzeitung.
Sie versäumen, in Ihrem Antrag zumindest einmal zu
erwähnen, was die christlich-liberale Koalition in diesem Bereich schon geleistet hat.
({8})
Deshalb will ich Ihnen das gern noch einmal kurz sagen.
({9})
Die Bundesregierung setzt sich bereits im Rahmen
der G-8- und auch der G-20-Verhandlungen für eine
breite internationale Unterstützung der EITI-Initiative
ein - das hat ja selbst Kollege Hempelmann schon erAndreas G. Lämmel
wähnt -, und wir ermuntern Unternehmen ganz intensiv,
sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen.
({10})
Diese Schwerpunkte sind schon in der Rohstoffstrategie
der Bundesregierung von 2010 festgelegt. Hätten Sie
einmal einen Blick hineingeworfen, hätten Sie uns diese
Debatte heute ersparen können. Dann hätten Sie eine
Menge Energie gespart und wären auch eher zu Hause
gewesen.
Ich will nicht noch einmal auf das Thema Rohstoffpartnerschaften eingehen. Denn genau diese Rohstoffpartnerschaften erfüllen ja das, was Sie in Ihrem Antrag
fordern. Hier geht Deutschland also ganz neue Wege,
und es ist, so glaube ich, international auch sehr anerkannt, dass diese Rohstoffpartnerschaften in den Beziehungen zwischen einzelnen Staaten ein völlig neues Niveau herstellen.
Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe - auch das ist nicht unbekannt - führt bereits ein
Pilotprojekt im Rahmen der G 8 zur Zertifizierung von
Handelsketten - in diesem Fall für mineralische Rohstoffe - durch. Aber Kollege Hempelmann hat ja schon
darauf hingewiesen, welche schmale Spur Ihr Antrag
fährt. Es geht eben nur um die Kohle. Das ist ja sozusagen Ihr Hauptangriffspunkt.
Ich will damit schließen, dass an Ihrem Antrag auch
interessant ist, dass Sie indirekt beschreiben, dass das
deutsche Bergrecht und die deutschen Gesetzlichkeiten
für die Rohstoffgewinnung eigentlich hervorragend sind,
dass sie das Vorbild sein sollen für die Rohstoffgewinnung in der Welt.
({11})
Dafür bedanken wir uns natürlich sehr; denn Sie haben ja schon in mehreren Anträgen versucht, gegen das
aktuelle Bergrecht und für ein modernes Bergrecht zu argumentieren. Jetzt wollen Sie das in die Welt tragen.
Also, Sie müssen sich einmal für irgendeine Variante
entscheiden.
({12})
Sie merken, Ihr Antrag ist voller Widersprüche, ist
sehr schmalspurig, und deswegen können wir ihm heute
leider auch nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind immer noch mitten im fossil-atomaren Zeitalter gefangen.
({0})
Obwohl wir in Deutschland aus der Atomkraft und aus
der Steinkohleförderung ausgestiegen sind, werden immer noch 20 Prozent des deutschen Stroms aus Steinkohle gewonnen. Die Tendenz ist steigend, und Planungen für den Bau neuer Steinkohlekraftwerke werden
vorangetrieben.
({1})
Zwei Studien haben uns in der letzten Zeit gezeigt,
warum eine echte Energiewende mit den großen Energiekonzernen nicht zu machen ist. Das Schwarzbuch
Kohlepolitik von Greenpeace hat die Verfilzung von
Politik und Kohlewirtschaft aufgedeckt, die den sozialökologischen Umbau blockiert.
({2})
- Dass Sie das ärgert, glaube ich.
Das beste Beispiel dafür ist die STEAG. Für die sechs
NRW-Stadtwerke war die Übernahme durch die STEAG
ein einträgliches Geschäft. Sie werden dieses Jahr mit einer Gewinnausschüttung von 25 Millionen Euro rechnen
können.
Aber mit der öffentlich-rechtlichen Kontrolle waren
auch Hoffnungen auf einen sozial-ökologischen Umbau
verbunden. Die wurden bisher enttäuscht. Statt ausreichend in die Erzeugung erneuerbarer Energien zu investieren, setzt die STEAG auf fragwürdige Geschäfte im
Ausland. Vorschläge der Linken vor Ort, über einen Beirat aus Kommunalvertretern, Gewerkschaften und Umweltverbänden mehr Transparenz und mehr Druck für
einen Umbau zu erreichen, werden blockiert.
Dabei wäre der Ausstieg aus der Kohleverstromung,
wie ihn die Linke fordert, auch wirtschaftlich geboten.
({3})
Denn Kohlekraftwerke lassen sich nicht mehr rentabel
betreiben. Selbst für das hochmoderne Kraftwerk Lünen
- Herr Kollege, hören Sie zu! -, das diesen Herbst ans
Netz gehen soll, lässt sich das nachweisen. Um aber an
der Kohleverstromung festhalten zu können, steigt nun
der Druck der Lobby auf die FDP - oder die FDP ist
selbst die Lobby, wie wir gehört haben -, die Energiewende zu blockieren.
Die Konzerne setzen derweil auf den Import von Billigkohle. Das ist Gegenstand der zweiten Studie: Die
beiden NGOs FIAN und urgewald haben recherchiert,
woher RWE und andere die Steinkohle für deutsche
Kraftwerke beziehen, und haben in ihrer Studie „Bitter
Coal“ Erschreckendes festgestellt: In Kolumbien soll für
einen neuen Tagebau der Ranchería-Fluss umgeleitet
werden, die Lebensader für die dort lebenden Indigenen
und für die Landwirtschaft in dieser Region. In den USA
werden in den Appalachen die Bergspitzen weggesprengt. Im russischen Kusbass hat die Kohleförderung
Luft, Böden und Trinkwasser enorm belastet. Im trockenen Südafrika bedroht der hohe Wasserverbrauch der
Kohleminen die Trinkwasserversorgung. Der RWE-Lieferant Drummond aus den USA steht in Verdacht, für die
Ermordung von zwei kolumbianischen Gewerkschaftern
verantwortlich zu sein.
Der Antrag der Grünen will in einem ersten Schritt
Transparenz bei Handelswegen, Zahlungen, Krediten
und den sozialen und ökologischen Standards in den Lieferbeziehungen erreichen. Das ist gut so, aber es ist nicht
ausreichend.
({4})
Es geht dabei auch darum, dass über multilaterale und
bilaterale Verträge Spielräume wieder eingeschränkt
werden. Das wollen wir alle nicht. Deshalb müssen
künftig Menschenrechte, Sozialstandards und Umweltschutz Vorrang bei allen Handels- und Rohstoffabkommen bekommen.
({5})
Wenn wir aber mit der umweltzerstörenden und sozial
verheerenden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss machen wollen, müssen wir in den Industrieländern beginnen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas,
Kohle und Metallen zu entkoppeln.
({6})
An einem Kohleausstieg, der absoluten Senkung des
Rohstoffverbrauchs und einer fairen Welthandelsordnung kommen wir deshalb nicht vorbei.
Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Und nun hat Oliver Krischer für die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin froh, dass wir diese Debatte heute hier führen, wenn
auch zu später Stunde, und darf ganz herzlich Gäste aus
Kolumbien auf der Tribüne begrüßen; Herr Breil hat
eben schon auf Kolumbien hingewiesen.
Ich muss schon sagen, dass Sie, Herr Breil und Herr
Lämmel, mit Ihren Beiträgen hier ein Bild abgegeben
haben,
({0})
das irgendwo zwischen Kabarett und Sarkasmus anzusiedeln ist.
({1})
Wenn Sie sich mit der Situation vor Ort auseinandersetzen würden - ich möchte am Beispiel Kolumbien deutlich machen, was die Menschen dort erleben, die vom
Kohlebergbau betroffen sind -, dann würden Sie, glaube
ich, hier anders sprechen.
({2})
Kolumbien ist für Deutschland inzwischen zum wichtigsten Lieferland für Steinkohle geworden. Dort betragen die Förderkosten unter 20 Euro die Tonne. Das geben die Unternehmen jedenfalls hinter vorgehaltener
Hand zu. Der Weltmarktpreis liegt bei 80 bis 100 Euro
die Tonne. Selbst wenn man Förderzins und Transportkosten abzieht, ist das ein absolutes Riesengeschäft.
Wenn Sie nach Nordkolumbien kommen und sich die
Gegend angucken, in der die Kohle abgebaut wird, werden Sie feststellen: Das ist das Armenhaus des Landes.
Bei den Menschen, die dort in der Region leben, kommt
überhaupt nichts an. Dass Rohstoffsegen in Wahrheit ein
Fluch ist, das können Sie dort besichtigen.
({3})
Die Menschen, die das Pech haben, dass sie gerade
auf der Kohle leben, die von internationalen Konzernen
wie Cerrejón, Glencore, Xstrata, Prodeco und anderen
- Drummond, ein amerikanischer Konzern, ist eben
schon erwähnt worden - abgebaut werden soll, trifft es
ganz besonders hart. Sie müssen erleben, dass sie von ihrem Land vertrieben werden, dass sie vielfach nicht entschädigt werden, weil es in Kolumbien oft keinen Nachweis gibt, dass man Land besitzt. Wenn sie vielleicht
doch entschädigt werden, bekommen sie ein Haus, aber
ihre Existenzgrundlage ist weg. Das Ganze endet in den
Slums von Städten. Das ist das Ergebnis der Politik des
Rohstoffabbaus ohne Rücksicht auf Verluste. Das kann
uns an dieser Stelle nicht egal sein.
({4})
Ich will hier gar nicht über die Naturzerstörung reden.
Ich will nicht über die Umweltverschmutzung reden. Ich
will nicht über den Wasserverbrauch reden. Das Allerschlimmste, das man zur Kenntnis nehmen muss, ist,
dass die Verantwortlichen vor Ort, die Unternehmen und
die Regierungsstellen, das alles gar nicht abstreiten. Die
sagen: Wir haben ein Riesenproblem. Das findet alles so
statt, wie ich es eben beschrieben habe. - Es gibt dort
eine organisierte Verantwortungslosigkeit. Einer schiebt
die Verantwortung auf den anderen. Am Ende gucken
alle weg, und das alles nur, um den Gewinn zu maximieren auf Kosten von ein paar Tausend betroffenen Menschen, denen man mit einem verschwindend geringen
Betrag zu einer vernünftige Existenz verhelfen könnte.
Dass Sie dies nicht ernst nehmen und hier nicht einmal
darüber reden wollen, finde ich beschämend.
({5})
Wir haben den Antrag eingebracht, damit endlich etwas passiert - Herr Kollege Hempelmann, es ist richtig,
dass man das alles viel umfassender machen kann; insoweit haben wir Ihrem Antrag zugestimmt -: Man kann
im Kohlebergbau die Verbindung vom Abbau, also dem
Bagger, bis zum Kessel, in dem die Kohle verbrannt
wird, herstellen. Damit ist auch klar, wer die Verantwortung trägt, nämlich dass Unternehmen wie RWE, Eon,
STEAG, EnBW und andere, die die Kohle beziehen,
Verantwortung für das tragen, was dort passiert. Dort
muss sich etwas ändern.
({6})
Wir sind der festen Überzeugung - die Europäische
Kommission ist mit ihrem Richtlinienentwurf schon viel
weiter; er wird leider von der Bundesregierung blockiert -,
dass nur durch diese Transparenz, dass die Menschen sehen, woher die Kohle kommt, die im Kraftwerk vor Ort
verbrannt wird, erreicht werden kann, dass sich hier tatsächlich etwas ändert.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss. - Ich glaube und gebe auch
die Hoffnung nicht auf - auch wenn Sie heute den Antrag wieder ablehnen -, dass wir erreichen, dass die Unternehmen in diesem Land die Verantwortung dafür
übernehmen werden, was dort passiert. Dies kann uns
nicht egal sein. Es zerstört die Existenzgrundlage von
vielen Menschen, die an den Rohstoffen überhaupt nicht
partizipieren. Das müssen wir ändern.
Ich danke Ihnen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Transparenz bei Steinkohleimporten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12228, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10845 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes
- Drucksache 17/12012 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0})
- Drucksache 17/13219 Berichterstattung:Abgeordnete Johannes SelleAngelika Krüger-LeißnerDr. Claudia WintersteinKathrin Senger-SchäferClaudia Roth ({1})
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/13219, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12012 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmen
will, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
29. Juni 2012 zur Gründung einer Assoziation
zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika
andererseits
- Drucksache 17/12355 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2})
- Drucksache 17/13176 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerKlaus BarthelHans-Werner EhrenbergWolfgang GehrckeKerstin Müller ({3})
1) Anlage 13
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir sprechen heute zu später Stunde
über das Assoziationsabkommen der Europäischen
Gemeinschaft mit Zentralamerika, ein Abkommen, das
seinesgleichen sucht. Wir reden heute nicht über irgendeinen bilateralen Vertrag oder eine x-beliebige Freihandelszone. Wir reden über ein Assoziationsabkommen,
wie es umfassender nicht sein könnte. Ich meine damit
wirklich alle Aspekte.
Gestatten Sie mir, Ihnen diese Bedeutung ein wenig
zu veranschaulichen. Es geht hier nämlich nicht vorrangig um den wirtschaftlichen Aspekt und um bestimmte
Zollquotenregelungen, wie das von meinen Kollegen
von der Opposition und von einigen wenigen deutschen
Hilfswerken behauptet wird.
({0})
Jene haben das Abkommen einfach nicht verstanden.
Nochmals: Es geht bei dem Assoziationsabkommen vor
allem um die Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union in den Bereichen Demokratie, Stärkung der Zivilgesellschaft, Umweltschutz, Achtung der Menschenrechte, Schaffung von nachhaltigem Wohlstand, Integration und Frieden.
Was ist daran eigentlich auszusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition? Welche Geisteshaltung steckt dahinter, dass Sie dieses Abkommen im
Ausschuss rundweg abgelehnt haben? Dass hierbei auch
die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Herabsetzung von Handelsbarrieren nicht ausgeklammert werden dürfen, versteht sich von selbst. Wirtschaftliche
Freiheit und der bessere Zugang zu einem breiten Warenangebot und freien Märkten schaffen Wohlstand und
Arbeitsplätze. Das sind Dinge, die die Länder Lateinamerikas dringend benötigen. Ich finde es geradezu lächerlich, wenn bestimmte Hilfswerke und meine Kollegen von der Opposition in diesem Zusammenhang
behaupten, durch dieses Abkommen würden Arbeitsplätze in Zentralamerika zerstört.
({1})
Ich habe sehr ausführlich mit allen Botschaftern der
zentralamerikanischen Länder in Berlin über den Inhalt
und die Auswirkungen dieses Abkommens gesprochen.
Ich habe vor kurzem Guatemala und Nicaragua besucht
und dort mit Regierungsvertretern diskutiert. Stellen Sie
sich vor: Die Rückmeldungen waren von allen Seiten
positiv.
({2})
Dass die Europäische Union mit Zentralamerika ein
solch umfassendes Abkommen nicht nur auf Augenhöhe, fair und ohne Druck verhandelt hat, sondern in
vielen Punkten sogar in Vorleistung geht, ist für alle
Zentralamerikaner hochattraktiv.
Es ist nicht nur immer wieder zur Sprache gekommen, dass die EU als Vorbild für Zentralamerika in Sachen Integration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
betrachtet wird, sondern man ist vor allem stolz darauf,
dass es ein Abkommen zwischen zwei Regionen ist;
denn das existiert in dieser Form bis dato nur einmal auf
der Welt. Darauf sind die Zentralamerikaner stolz. Man
spricht sogar von einem Modellcharakter dieses Abkommens für andere Regionen.
({3})
Die Attraktivität des Abkommens ist de facto so hoch,
dass auch die Regierung von Panama die EU gebeten
hat, ihm beitreten zu dürfen.
Nun hatte ich vor meinem Besuch in Nicaragua vermutet, dass speziell die linksorientierte sandinistische
Regierung von Daniel Ortega das Abkommen ablehnen
würde, wie es ja auch von den Linken und anderen abgelehnt wird. Weit gefehlt. Man versicherte mir nicht nur,
dass man Vorteile im Abkommen erkennen könne, sondern auch, dass man es sogar als erstes Land ratifiziert
habe.
Auch wenn ich mich wahrlich nicht als Freund sandinistischer Politik bezeichnen möchte, frage ich mich,
warum meine Kollegen von den Linken eine andere
Position als Ortega vertreten. Sie sollten sich einmal vor
Ort mit Ihren Freunden genauer darüber informieren; das
hilft.
({4})
Wir verpflichten die Länder Zentralamerikas durch
dieses umfangreiche Vertragswerk vor allem dazu, einen
gemeinsamen Wertekonsens zu achten und ihn in Zusammenarbeit mit uns weiterzuentwickeln. Deshalb verdient Zentralamerika auch in Zukunft unsere Partnerschaft auf Augenhöhe. Jetzt gilt es, von unserer Seite
Druck aufzubauen, damit auch alle anderen EUMitgliedstaaten das Abkommen zügig ratifizieren. Hier
sehe ich die Bundesregierung auf europäischer Ebene in
der Pflicht. Lassen wir die Länder Zentralamerikas, die
die Ratifizierung dieses Abkommens von europäischer
Seite dringend wünschen und benötigen, jetzt nicht im
Stich.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Ehrenberg, in Ehren:
({0})
Was Sie eben über das Abkommen gesagt haben, hat
sich unheimlich schön angehört: Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat usw.
({1})
Sie haben gesagt, es wäre ein umfassendes Abkommen,
aber das können Sie nur Menschen erzählen, die dieses
Abkommen nicht gelesen haben.
({2})
Deswegen will ich vor allen Dingen darauf eingehen,
was in diesem Abkommen wirklich steht.
Zunächst einmal wollen wir festhalten, was Assoziierung im eigentlichen Wortsinn bedeutet, nämlich Zusammenschluss, Vereinigung. Assoziierung meint etwas im
umfassenden Sinn. Im Handlexikon der Europäischen
Union von Bergmann, aus dem ich hoffentlich mit Zustimmung des Präsidenten zitieren darf, steht dazu:
Die Assoziierungsabkommen haben völkerrechtsverbindliche Wirkung, beruhen auf einem System
wechselseitiger Rechte und Pflichten und sehen gemeinsame paritätisch besetzte Ausführungsorgane
vor. … Assoziationsräte, -ausschüsse und Parlamentarische Assoziationsausschüsse.
Assoziierungsabkommen sind also damit eine besondere
Form mit politischen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Dimensionen.
Wir müssen uns aber fragen: Genügt dieses Abkommen den hehren Ansprüchen, die an das Abkommen gestellt werden? Um das herauszufinden, müssen wir uns
erst einmal die Situation in den Partnerländern anschauen. Ich glaube, dazu wird noch einiges gesagt werden.
Die zentralamerikanischen Länder haben Diktaturen
und Bürgerkriege erlebt, sie sind enorm gewaltintensiv,
sie haben hohe Mordraten zu verzeichnen, und als Demokratien sind sie sehr labil. Honduras, zum Beispiel,
hat vor nicht allzu langer Zeit einen Putsch hinter sich
gebracht. Das haben Sie von der FDP zwar richtig gefunden, aber mit Demokratie hatte das wenig zu tun.
({3})
Minimalste Menschenrechtsstandards werden in vielen
dieser Länder überhaupt nicht erfüllt. Man darf nicht nur
mit Regierungen reden, sondern man muss sich selbst
ein Bild von der Lage des Landes machen.
({4})
Es ist allgemein bekannt, dass Honduras nach Kolumbien die höchste Mordrate an Gewerkschafterinnen und
Gewerkschaftern hat, es ist eine Hochburg von Drogenhandel, Menschenhandel und Geldwäsche. Das alles
kann man überall nachlesen, aber auch an Ort und Stelle
beobachten.
Das Abkommen selber verrät alles. Ja, es ist ein sehr
detailliertes Freihandels- und Marktöffnungsabkommen, aber die Erwähnung von Menschenrechten, Demokratie usw. - Herr Ehrenberg hat das eben beschworen ist reine Dekoration.
Das fängt beim Volumen an. Ein Fünftel dieses Abkommens beschäftigt sich mit den hehren Zielen der
Einhaltung der Menschenrechte und der Förderung der
Demokratie, auch mit Arbeitsrecht, vier Fünftel beschäftigen sich mit dem Freihandel und der Wirtschaft.
Schauen wir uns die Sprache an. Sie ist verräterisch,
wenn es darum geht, zu klären, wie belastbar die Ankündigungen, für mehr Demokratie zu sorgen, sind. Da heißt
es so schön - wer solche Abkommen kennt, der kennt
auch die Sprache -, dass man für die Grundsätze der
Rechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführung
eintreten will, dass man die Grundsätze der Demokratie,
der Menschenrechte und der Grundfreiheiten achten
will, dass man zusagt, bei der Armutsbekämpfung zusammenzuarbeiten, dass es ein Bewusstsein gibt der
Notwendigkeit eines umfassenden Dialogs über Migration, dass es Ziele gibt wie die privilegierte politische
Partnerschaft. Und - das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen - es geht zumindest um die - ich zitiere
wörtlich -:
… Aufrechterhaltung und vorzugsweise Weiterentwicklung des Niveaus der guten Regierungsführung
und der Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen, dass
durch die wirksame Anwendung der internationalen
Übereinkünfte erreicht wird, die zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens dieses Abkommens für die Vertragsparteien gelten …
Das bedeutet zunächst: Künftige Abkommen werden
nicht eingehalten. Das heißt auch: Wir verpflichten uns,
etwas einzuhalten, wozu wir ohnehin schon verpflichtet
sind. Das ist ja sensationell. Dann geht es weiter mit dem
institutionellen Rahmen. Der Assoziationsrat empfiehlt
und braucht Konsens. Der Assoziationsausschuss unterstützt, gibt sich eine Geschäftsordnung und beschließt.
Dann gibt es noch einen Unterausschuss, der sich auch
eine Geschäftsordnung gibt und beschließt. Der Parlamentarische Assoziationsausschuss erarbeitet Empfehlungen.
Das kann man alles nachlesen - alles, bloß nichts Verbindliches: keine Kontrolle, keine Umsetzung, keine
Sanktionen. Und das bei der Situation in diesen Ländern.
Das geht so bis zu dem Passus im Hinblick auf die „Achtung der wesentlichen Grundsätze und Rechte am Arbeitsplatz, die in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation festgelegt sind“.
Dann war da noch etwas, was man bei der Debatte
dieser Tage hervorheben muss - ich zitiere wörtlich -:
… erkennen die Vertragsparteien die gemeinsamen
und international vereinbarten Grundsätze der guten Regierungsführung im Steuerbereich an und bekennen sich zu ihnen.
Sensationell - bei dem, was wir über die Steueroase
Panama gehört haben! Zum Glück für alle Adams und
Evas im Steuerparadies Panama sucht man im Abkommen vergebens nach einer Umsetzung oder gar Kontrolle
dieses Bekenntnisses.
So geht es im ersten Fünftel bis auf Seite 25 weiter.
Man könnte sagen: So ist das nun einmal in internationalen Verträgen - da bekommt man nichts Verbindlicheres
hin, wenn die Bedingungen so unterschiedlich sind.
Aber dann - auf den restlichen rund 70 Seiten kommt es: Da geht es um Wirtschaft und Handel, und da
ändern sich Inhalt und Sprache dieses Abkommens
plötzlich. Das muss man sich einmal durchlesen. Plötzlich ist die Rede von Rechten und von Pflichten. Zum
Beispiel ist die Rede von der „Schaffung eines wirksamen, fairen und berechenbaren Streitbeilegungsmechanismus“. Einen solchen gibt es im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie nicht.
Anders als bei den Menschenrechten gibt es klare Definitionen, zum Beispiel dazu, was unter „Tage“ zu verstehen ist. Es wird nicht aufgeführt, was unter Demokratie und Menschenrechten zu verstehen ist, aber was unter
„Tage“ zu verstehen ist, nämlich Werktage. Es wird bis
ins letzte Detail beschrieben, was unter „Person“ oder
unter „Maßnahme“ zu verstehen ist. Da geht es um
Rechtssicherheit, um Maßnahmen und Verwaltungsverfahren.
Plötzlich lauten die Verben nicht mehr „sollen“ und
„streben wir an“, sondern „muss“, „wir verpflichten uns“
usw. Da wird es dann plötzlich verbindlich.
Da werden branchenweite Marktzugänge und Niederlassungsfreiheit, Liberalisierung im elektronischen Geschäftsverkehr, bei Dienstleistungen, bei verpflichtenden
Überprüfungen zum Investitionsschutz, bei Kurierdiensten, Post, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen,
im öffentlichen Beschaffungswesen, Urheberrecht usw.
bis ins letzte Detail geregelt.
Dann kommen zum Schluss noch einmal die Gremien
zum Tragen. Die haben bei allen Handelsfragen - bei allen Handelsfragen! - umfassende Kompetenzen, Kontrollrechte und Sanktionsmöglichkeiten.
Also: Wir gestalten intensiv die Wirtschaft. Regelungen zum Alltagsleben, zur Umwelt der Menschen bleiben im Handelsteil. Da soll die Welt am europäischen
Wesen genesen. Aber bei den Menschenrechten, der Arbeit, der Umwelt und den Steuern, da sind wir unheimlich flexibel, tolerant und geduldig.
Deswegen genügt ein solches Abkommen, das sich
auch noch Assoziationsabkommen nennt, unseren Ansprüchen nicht. Das hat einfach etwas damit zu tun, dass
wir Politik für die Menschen und nicht für die Märkte
machen wollen.
({5})
Das Wort hat nun Egon Jüttner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem in den 1980er-Jahren begründeten Dialog
von San José haben sich die Beziehungen zwischen den
Ländern der Europäischen Union und den Ländern Zentralamerikas stetig intensiviert. Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Guadalajara bekräftigten beide Regionen
ihren Entschluss, diesen Prozess weiter voranzutreiben
und die Beziehungen weiter auszubauen. Die Verhandlungen zu dem jetzt vorliegenden Abkommen begannen
unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im Oktober
2007. Mit dem Assoziationsabkommen stellen die beiden Regionen ihre langjährigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen auf eine neue und intensivere Grundlage.
Durch den Handelsteil des Abkommens werden neue
Geschäftsmöglichkeiten geschaffen, die zusätzliche Arbeitsplätze in Zentralamerika und in der Europäischen
Union nach sich ziehen. Der Zugang für Produkte aus
Zentralamerika zum europäischen Markt wird deutlich
verbessert. Europa bietet den zentralamerikanischen
Staaten einen Absatzmarkt mit rund 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Natürlich spielen hier
auch andere Faktoren wie die Wettbewerbsfähigkeit der
Preise sowie die Qualität der Produkte eine Rolle. Dennoch stellt das Handelsabkommen einen wichtigen
Schritt für die Exportausweitung der zentralamerikanischen Länder auf den europäischen Markt dar.
({0})
Die Rate der Exporte aus der Europäischen Union in
die zentralamerikanischen Staaten ist mit rund 0,2 Prozent bislang sehr niedrig. Auf der anderen Seite gehen
rund 12,3 Prozent der zentralamerikanischen Exporte in
die Europäische Union, wobei zwei Drittel davon aus
Costa Rica kommen. Die zentralamerikanischen Staaten
kommen durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Erhöhung der Importquoten in den Genuss weitreichender
neuer Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Markt.
In Studien, die für die EU-Kommission durchgeführt
wurden, wird der positive wirtschaftliche Effekt für Zentralamerika auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt. Insbesondere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Ausfuhrerzeugnissen wirken sich die Senkung der Einfuhrzölle
und die Erhöhung der Importquoten aus, beispielsweise
bei Bananen, Zucker, Rindfleisch, Fisch und Rum.
Darüber hinaus gewährt die Europäische Union mit
dem Inkrafttreten des Abkommens volle Zollfreiheit für
gewerbliche Erzeugnisse zentralamerikanischen Ursprungs. Umgekehrt werden auch die europäischen Exporteure, die gewerbliche Erzeugnisse und Fischereierzeugnisse nach Zentralamerika ausführen, vollständig
von der Pflicht zur Entrichtung von Zöllen befreit. Europäischen Investoren bietet das Abkommen auf dem zentralamerikanischen Markt ein stabiles Wirtschafts- und
Investitionsumfeld. So werden für Investoren Anreize
geschaffen, vermehrt in den zentralamerikanischen Ländern zu investieren.
Weiter verpflichten sich die Vertragspartner mit dem
Abkommen, im Rahmen ihrer Handelsvereinbarungen
Nachhaltigkeits- und Umweltschutzstandards einzuhalten.
Damit wird deutlich, dass dieses Assoziationsabkommen
weit über ein herkömmliches Freihandelsabkommen hinausgeht. Zentrales Anliegen der Europäischen Union
ist dabei auch die Stabilisierung und Demokratisierung
Zentralamerikas. So bilden die Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einen wichtigen Teil des Abkommens. Weiter thematisiert das Abkommen die Zusammenarbeit auf konkreten Gebieten,
so etwa beim Kampf gegen Terrorismus, Drogen, Geldwäsche und organisierte Kriminalität.
({1})
Gegner des Assoziationsabkommens kritisieren die
ihrer Meinung nach einseitige Akzentuierung der Handelspolitik in dem Abkommen. Tatsächlich dürfen Menschenrechte und wirtschaftliche Interessen sich nicht
ausschließen und kein Hindernis für den Aufbau sozialer
Wirtschafts- und demokratischer Gesellschaftsstrukturen
in den mittelamerikanischen Staaten sein. Die EU muss
und wird alles daransetzen, etwa die Beachtung der
Rechte der indigenen Bevölkerung einzufordern.
({2})
Sie wird ihre Möglichkeiten nutzen, etwa im Bereich
großer Bergbauprojekte oder bei der Abholzung, auf die
zentralamerikanischen Staaten so einzuwirken, dass eine
Verschärfung bestehender Konflikte, die die Gegner des
Abkommens befürchten, vermieden wird.
({3})
- Davon gehe ich aus.
({4})
Viele politische Akteure in den Staaten Zentralamerikas, nicht nur Mitglieder der jeweiligen Regierungen erhoffen sich von diesem Abkommen eine Verbesserung
der wirtschaftlichen Situation aller Bevölkerungsschichten in ihren Ländern. Wir befürworten deshalb das Abkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika, und wir sind überzeugt davon, dass es sich für
beide Partner positiv auswirken wird. Daher bitte ich Sie
um Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren zwar heute zu sehr später Stunde
über dieses Assoziationsabkommen, aber das ist noch
lange kein Grund, daraus eine Märchenstunde zu machen, wie die Bundesregierung es hier betrieben hat.
({0})
Wir haben darauf bestanden, hier über dieses zu
schließende Assoziationsabkommen zu debattieren, weil
wir die Möglichkeit haben, mit darüber zu entscheiden.
Das ist nicht bei vielen Entscheidungen der EU möglich.
Dieses Recht müssen wir nutzen. Vor allem haben wir
als Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine große
Verantwortung, weil wir hier auch über die Zukunft von
Millionen von Menschen in Zentralamerika entscheiden.
({1})
Ähnlich wie bei dem Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru, über das wir hier auch sehr kontrovers diskutiert haben, gibt es viele Vorbehalte. Denn
Freihandel schafft Vorteile für die Industriestaaten, für
wirtschaftlich starke Staaten, aber nicht für die Länder
des Südens. Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab.
({2})
Es wurde bereits erwähnt, dass es in Zentralamerika
Staaten wie Honduras und Guatemala gibt, die zu den
gefährlichsten der Welt zählen, in denen es die höchsten
Mordraten und massive Menschenrechtsverletzungen
bei Landkonflikten gibt. Vor allem in Honduras - auch
das wurde schon erwähnt - hat die Zahl der Menschenrechtsverletzungen seit dem Putsch 2009 massiv zugenommen. In diesem Zusammenhang muss ich einen Satz
in Richtung FDP sagen: Der Kollege Breil hat vorhin in
der Debatte zu den Steinkohlenimporten das Festlegen
sozialer und ökologischer Standards als Einmischung in
innere Angelegenheiten bezeichnet. Die FDP und die
Friedrich-Naumann-Stiftung haben aber kein Problem
damit, einen Putsch in Honduras zu unterstützen. Ich
frage mich: Was ist denn eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Länder?
({3})
Da gibt es einen sehr großen Unterschied. Sie pervertieren wirklich die Ansprüche an die wirtschaftliche Zusammenarbeit.
({4})
Ich muss dazu sagen: Wir haben ja bereits Erfahrungen mit Freihandel. Zentralamerika hat bereits mit den
USA ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, CAFTA.
Dort konnten wir die Folgen solch eines Freihandelsabkommens sehr genau sehen: Es gibt billige US-Importe
im Nahrungsmittelbereich, die regionalen Märkte sind
zusammengebrochen, die eigene landwirtschaftliche
Produktion auch. Jetzt sind diese Länder abhängig von
Nahrungsmittelimporten. Bei steigenden Preisen führt
das zu mehr Hunger und zu mehr Armut. Dies ist eine
Gefahr für die Ernährungssicherheit. Das können wir als
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
nicht verantworten.
({5})
Was war die Antwort aus dem Wirtschaftsministerium, als wir im Ausschuss darüber diskutiert haben?
Die Bevölkerung kann zukünftig nicht nur US-Waren
kaufen, sondern auch EU-Waren und EU-Nahrungsmittel.
({6})
Was ist denn das für eine zynische Logik? Das ist doch
keine Problemlösung, sondern verschärft diese Problemlage. Wir müssen die eigene Produktion in diesen Ländern stärken, damit sie zu einer Ernährungssouveränität
kommen.
({7})
Das stellt Ihre Argumentation wirklich auf den Kopf.
Wir lehnen es ab, dass in diesem Abkommen Privatisierungen im Wassersektor und im Gesundheitswesen
vorgesehen sind, dass die lokale Produktion von Generika erschwert wird und dass die Einführung von Patenten auf Saatgut Bäuerinnen und Bauern dazu zwingen
wird, ihr Saatgut bei europäischen Konzernen teuer einzukaufen. All das können Folgen dieses Freihandelsabkommens sein. Deshalb lehnen wir es ab.
Es gibt noch einen weiteren sehr gewichtigen Grund.
Es ist völlig verantwortungslos, dass in Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union
in diesem Abkommen die weitere Liberalisierung von
Finanzdienstleistungen festgeschrieben wird. Das trägt
die Krise nach Lateinamerika.
({8})
Deswegen stimmen wir gegen dieses Abkommen.
Ich richte meinen Appell an Rot-Grün. Es hängt jetzt
wirklich davon ab, wie im Bundesrat entschieden wird.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen, dass ich es
gut fand, dass die Grünen aus Rheinland-Pfalz gegen das
Abkommen mit Kolumbien und Peru gestimmt haben,
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- aber die SPD hat dies leider nicht getan. Deswegen
lautet mein Appell: Rot-Rot-Grün muss im Bundesrat
beide Abkommen verhindern.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion der
Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union
und ihren Partnerländern sind bisher meist unter hoher
Geheimhaltungsstufe ausgehandelt worden. Parlamentariern, kritischen Journalisten und NGOs wurden kaum
Einblicke gewährt, wohl aber den Wirtschaftsverbänden
und den Vertretern großer Unternehmen. Um kaum eine
andere Abteilung der Europäischen Kommission scharten und scharen sich mehr Lobbyisten als um die DG
Trade, um die Generaldirektion Handel. Aber inzwischen haben das Europäische Parlament und - das ist
neu - auch die nationalen Parlamente mehr Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen. Sie sind zwar noch unzureichend, aber immerhin: Handelspolitik kann nicht
mehr in der Dunkelkammer gemacht werden, und das ist
auch gut so.
({0})
Das hat sich auch schon im Deutschen Bundestag
ausgewirkt. Handelsabkommen werden nicht einfach
nur nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern es wird
endlich auch in unseren Ausschüssen über sie diskutiert,
sie werden auf den Prüfstand gestellt, in Anhörungen
durchleuchtet, kritisch hinterfragt und - wenn auch, wie
jetzt, zu später Stunde - im Plenum öffentlich debattiert.
Da hat sich wirklich schon etwas verändert. Das sieht
man auch daran, dass das Freihandelsabkommen der EU
mit Peru und Kolumbien hier im Bundestag kürzlich von
der Opposition geschlossen abgelehnt wurde.
Spannend wird sein, was im Bundesrat geschieht.
Denn dieses Abkommen kann nur dann ratifiziert werden und in Kraft treten, wenn auch der Bundesrat zustimmt. Dort haben SPD, Grüne und Linke die Mehrheit.
Wir warten also gespannt darauf, was am 3. Mai dieses
Jahres geschieht. Es kann sein, dass dieses Abkommen
die erforderliche Zustimmung nicht bekommt. Was dann
geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen.
Nach unserer Meinung - sie wird gestützt durch ein
neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages und durch Studien von Wirtschaftswissenschaftlern und Völkerkundlern - tritt dann nicht, wie
hier behauptet, der Handelsteil des Abkommens in Kraft
und nur die anderen Teile nicht, sondern nach dieser
Rechtsauffassung muss dann das gesamte Abkommen
nachverhandelt werden. Das wäre ein starkes Signal in
Richtung der DG Trade der EU-Kommission: kein Weiter-so in der Handelspolitik, kein Festhalten am Liberalisierungsdogma um jeden Preis, sondern stärkere Beachtung von Sozial- und Umweltstandards und von
Menschenrechtskriterien!
({1})
Heute geht es um ein Assoziierungsabkommen mit
Zentralamerika, das genauso umstritten ist wie das Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Auch im
Hinblick auf dieses Abkommen ist zu befürchten, dass
die kleinbäuerliche Landwirtschaft in den Partnerländern
unter die Räder kommt und von hochsubventioniertem
Milchpulver und anderen Molkereiprodukten aus europäischer Überschussproduktion überschwemmt wird.
Es ist auch zu befürchten, dass Wirtschaftssektoren
stimuliert werden, in denen es schon jetzt zu massiven
Umweltschäden, zu Zwangsvertreibungen von Indigenen und Kleinbauern und zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Debatte über die kolumbianische Steinkohle, die gerade ausgetragen wurde, haben wir alle ja
noch im Ohr. Das gleiche Problem besteht auch in Zentralamerika. Bestimmte Wirtschaftssektoren, gerade der
exzessive Anbau von Palmöl und Bergbauaktivitäten,
würden durch dieses Abkommen enorm stimuliert werden. Das würde zu Gewinnen für einige wenige führen,
hätte aber fatale Folgen gerade für arme Bevölkerungsgruppen. Sogar die von der EU-Kommission selbst in
Auftrag gegebene Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung
kommt zu dem Ergebnis, dass durch das Abkommen der
Druck auf das Land erhöht wird und dadurch auch Landkonflikte - Stichwort „Land-Grabbing“ - weiter verschärft werden.
Es waren nicht nur einige wenige, sondern mehr als
40 Nichtregierungsorganisationen, darunter auch das
evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ und das katholische Hilfswerk „Misereor“, die dringend an uns appelliert haben, dieses Abkommen in dieser Form nicht
zu unterzeichnen. Auch der katholische Bischof von
Guatemala, Bischof Ramazzini - viele Kolleginnen und
Kollegen aus dem Bundestag kennen ihn -, hat uns bei
mehreren Podiumsveranstaltungen eindringlich gebeten, dieses Abkommen genau zu prüfen und es in dieser
Form nicht zu unterzeichnen.
Wir könnten ein klares Signal setzen
Kollege, Sie möchten bitte zum Schluss kommen.
- pardon -, zuerst wir im Bundestag, dann der Bundesrat. Müsste dieses Abkommen nachverhandelt werden, könnte es im Sinne einer sozialen und ökologischen
Marktwirtschaft verbessert werden, und zwar dahin gehend, dass genau diese Flankierungen gestärkt werden.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam eintreten!
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf - ({0})
- Entschuldigung, es ist schon spät. - Bitte, Herr Kollege Holmeier.
({1})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist wieder einmal einer der seltenen Tage, an denen wir im Deutschen Bundestag ein Stück Geschichte
schreiben dürfen. Mit der Zustimmung zu dem vorliegenden Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika schließen wir einen
Prozess erfolgreich ab, der als Friedensprozess schon im
Jahr 1984 begonnen hat - unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich
Genscher.
({0})
Dieses Abkommen steht ganz in der Tradition der europäischen Idee, auf der Grundlage wirtschaftlicher Zusammenarbeit für Frieden und Stabilität zu sorgen. Es
bildet die Grundlage für eine politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Integration zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika.
Das Abkommen ist aber auch noch aus einem anderen
Grund historisch: Es ist das erste biregionale Assoziierungsabkommen, das die Europäische Union seit dem
Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon unterzeichnet
hat. Umso bedauerlicher finde ich es, dass sich die Opposition im Deutschen Bundestag nicht zu einer Zustimmung zu diesem Abkommen durchringen konnte.
Wenn man sich dieses Abkommen einmal in seiner
gesamten Breite anschaut, wird schnell klar, dass es ei29836
nem übergeordneten Ziel folgt: Es geht nicht darum, aus
rein wirtschaftlichem Eigennutz ein Abkommen mit
Schwellenländern zu schließen, die ohne Zweifel vielerorts durch hohe Armut, soziale Ausgrenzung sowie soziale und ökologische Instabilitäten geprägt sind. Es geht
vielmehr darum, die politische und gesellschaftliche
Entwicklung in Zentralamerika durch eine enge Zusammenarbeit und wirtschaftliche Verzahnung positiv zu beeinflussen und zu begleiten. Wer dieses Abkommen auf
seine wirtschaftliche Dimension reduziert, hat schlicht
nicht verstanden, worum es eigentlich geht.
({1})
Dieses Assoziierungsabkommen ist weit mehr als nur
ein Handelsabkommen: Es bildet die Grundlage für eine
privilegierte Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer
Werte und Zielvorstellungen.
({2})
Der Handelsteil ist der letzte von drei Grundpfeilern des
Abkommens. Ihm gehen die Abschnitte „Politischer
Dialog“ und „Zusammenarbeit“ voraus. Hierin wird
klargestellt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
die Achtung der Menschenrechte sowie der bürgerlichen
und politischen Rechte das Fundament des Assoziierungsabkommens mit Zentralamerika bilden. Diesen
Grundprinzipien wird eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da sie das Kernstück des gemeinsamen europäischen und zentralamerikanischen Wertesystems darstellen. Als weitere Ziele werden ausdrücklich genannt:
Armutsreduzierung, Bekämpfung von Ungleichheit,
nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klimaschutz. Auch die Abrüstung und Nichtverbreitung von
konventionellen, chemischen und biologischen Waffen
finden sich als Zielvorgabe in diesem Abkommen,
({3})
ebenso wie der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus,
gegen Drogen, Geldwäsche, Korruption und organisierte
Kriminalität. Das zeigt, wie umfassend dieses Assoziierungsabkommen tatsächlich ist.
Angetrieben vom Interesse an einem gegenseitigen
Handel und einem weitreichenden Zugang zum europäischen Markt, fördert das Abkommen eine politische, soziale und gesellschaftliche Integration. Dieser vielversprechende Entwicklungsprozess ist nicht nur im
Interesse einiger weniger Unternehmen oder politischer
und wirtschaftlicher Eliten. Nein, er ist im Interesse der
Menschen in Zentralamerika und in Europa. Ich kann
Sie daher nur um Ihre Zustimmung zu diesem Abkommen bitten.
Danke schön.
({4})
Jetzt schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer
Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika andererseits.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
17/13176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/12355 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zusammenbruch des Emissionshandels abwenden - Überschüssige Zertifikate aus dem
Markt nehmen
- Drucksache 17/13193 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Das Europäische Parlament hat den BackloadingVorschlag der Kommission erst einmal abgelehnt.
Doch noch sind wir nicht am Ende der Debatte. Das
Erreichen einer Preissteigerung durch Herausnehmen
der Zertifikate ist noch nicht endgültig gescheitert.
Diese Preissteigerung ist aber nötig, damit der Emissionshandel seine Funktion erfüllen kann.
Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den
Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich gemeinsam mit dem Europäischen Rat und der Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Dieses
Ergebnis kann dann dem Plenum erneut vorgelegt werden.
Aber auch der Positionierung des Rates kommt entscheidende Bedeutung zu. Ich unterstütze daher
ausdrücklich die eindringlichen Bemühungen von
Bundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Denn die Bundesregierung muss hier
ein klares Signal setzen. Ich fordere die Bundesregierung auf, eindeutig Stellung für ein fest umrissenes
Backloading und eine Erhöhung des Reduktionsziels
innerhalb der EU auf 30 Prozent bis 2020 zu beziehen.
Andreas Jung ({0})
Denn gelingt es nicht, das ETS zu stabilisieren,
dann gehen der Europäischen Union für den Klimaschutz die kommenden Jahre bis 2020 verloren. Von
dem zu erwartenden Zertifikatepreis für diese Handelsperiode werden sicherlich kaum klimapolitische
Impulse ausgehen.
Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in
der letzten Woche ist ein herber Rückschlag für die internationalen Bemühungen um ambitionierte Klimaschutzziele.
Es geht darum, mit dem Emissionshandel das Herzstück der europäischen Klimapolitik zu stabilisieren.
Der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zertifikaten wird in absehbarer Zeit nicht zu einem signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise führen.
Wir sprechen beim Backloading über eine temporäre Reduzierung des immensen Zertifikateüberschusses. Das vorgeschlagene Backloading beendet diesen
Überschuss an Zertifikaten nicht, sondern begrenzt ihn
lediglich. Nach wie vor hätte es für die Industrie ausreichend Zertifikate am Markt gegeben, um auch bei
steigender Produktion nach der Wirtschaftskrise ohne
Härten in den Klimaschutz investieren zu können. Vielmehr hätte es diese Investitionen möglich gemacht.
Allerdings - und das ist das Entscheidende bei dieser
Diskussion - hätte das Herausnehmen von 900 Millionen Zertifikaten das Signal gegeben, dass es der EU
ernst ist mit der Umsetzung ihrer klimapolitischen
Ziele.
Dabei kann das Backloading selbst nur ein erster
Schritt sein. Mindestens genauso wichtig wird es sein,
sich über eine langfristige Strukturreform des Emissionshandels klar zu werden. Die marktorientierte Ausrichtung des Emissionshandels halte ich weiterhin für
richtig. Allerdings sollte alles dafür getan werden, die
Geburtsfehler und Kinderkrankheiten des Systems wie
beispielsweise eine zu großzügige Zertifikatsaustattung am Anfang oder die Bereitstellung von zu vielen
Zertifikaten aus ökologisch fragwürdigen Klimaschutzprojekten zu beheben bzw. zu heilen.
Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese
beiden Eingriffe. Nur durch die klar definierte Herausnahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraum
und eine daran anschließende grundlegende Reformierung der nächsten Handelsperiode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerelement als Kernelement
der europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten.
Daher muss es neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaftliches Instrument auch darum gehen, die
Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,
um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.
Die Bundesregierung muss sich geschlossen dafür
einsetzen, dass die Europäische Union ihre Ziele bis
2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbst gesteckten Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu
senken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse gegeben. Darauf gilt es aufzubauen. Auch die EU muss
diesen Schritt gehen. Insgesamt haben wir in der Europäischen Union schon jetzt zu einem Großteil unsere
Reduktionsziele für 2020 erreicht und würden in unseren Anstrengungen in den nächten Jahren unnötig
nachlassen, wenn wir hier nicht nachbessern.
Bundesumweltminister Altmaier setzt sich innerhalb der EU zusammen mit einigen seiner Kolleginnen
und Kollegen stark für diese Position ein, und ich
unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Die
Bundesregierung ist nun am Zug, sich hier klar zu
positionieren und den Klimaschutz in Europa voranzubringen.
Letzte Woche hat das Europaparlament die Reform
des Emissionshandels abgelehnt. Dies war ein Schock
und ein schwarzer Tag für den Klimaschutz. Die kirchliche Hilfsorganisation Brot für die Welt sprach richtigerweise von einem „Votum der Unvernunft“. Hauptverantwortlich waren in der Mehrheit konservative
und liberale Abgeordnete aus ganz Europa.
Eine ganz entscheidende Verantwortung trägt aber
auch die deutsche konservative Partei und deren Parteivorsitzende Angela Merkel. Die jahre- und monatelange regierungsinterne Lähmung hat fatale Signale in
Richtung Brüssel ausgesendet. Die Bundesregierung
hatte keine einheitliche Position; Wirtschaftsminister
Rösler und Teile der Koalitionsfraktionen haben offensiv daran gearbeitet, die Reform des Emissionshandels
zu verhindern. Bis heute hat die Bundesregierung
keine Meinung, obwohl die Bundeskanzlerin erklärt
hat, dass sie nach der Abstimmung im Europaparlament für eine einheitliche Position sorgen wird.
Nach diesem Rückschlag im Europaparlament muss
die Bundesregierung ihre destruktive Rolle aufgeben
und retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächsten
Wochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Entscheidung geben wird, werden wir bis zum Jahr 2020
keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Der Emissionshandel würde keinen Anreiz zum Klimaschutz geben und wäre als politisches Instrument praktisch tot.
Besonders absurd ist diese Situation, da andere Staaten wie Australien oder China in Emissionshandelssysteme einsteigen wollen. Und die EU, die Pionierin des
Emissionshandels mit dem derzeit größten Emissionshandelssystem der Welt, lässt ihr mühsam aufgebautes
System sehenden Auges kollabieren und sorgt so bei all
denen für Auftrieb, die schon immer gegen marktwirtschaftliche Instrumente waren.
Wir werden nun Debatten über ordnungsrechtliche
Lösungen bekommen, wie wir in der Debatte zum Antrag der Linken für ein Kohleausstiegsgesetz gesehen
haben. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Regelungen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systems
entstehen. Großbritannien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis für CO2 eingeführt; die Niederlande und Spanien haben eine Steuer auf Kohle; Italien debattiert über eine Steuer. Ich habe den Eindruck,
dass viele Industrievertreter und konservative AbgeZu Protokoll gegebene Reden
ordnete nicht verstanden haben, was sie angerichtet
haben, und dass wir genau das Gegenteil des „level
playing field“ erhalten werden, von dem die Industrie
immer redet.
Die Mehrheit der Europaabgeordneten wollte aber
die Reform des Emissionshandels nicht endgültig
scheitern lassen. Mit großer Mehrheit haben die Abgeordneten dafür gestimmt, die Backloading-Entscheidung wieder in die Ausschüsse zurückzuüberweisen.
Nun hat der Umweltausschuss des Europaparlaments
maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich mit Rat und Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Noch ist
unklar, wie solch ein zustimmungsfähiger Kompromiss
aussehen kann. Das Ergebnis könnte dann wieder dem
Plenum vorgelegt werden.
Dies ist auch der Hintergrund, warum wir unseren
neuen Antrag zum Backloading in den Bundestag eingebracht haben. Wir wollen eine Abstimmung, aus der
klar hervorgeht, wie sich die schwarz-gelbe Koalition
zum Backloading verhält. Die Haltung Deutschlands
ist entscheidend, wenn es darum geht, im Rat eine
Mehrheit zu organisieren. Die irische Ratspräsidentschaft ist auf eine aktive Rolle Deutschlands angewiesen. Hierzu muss sich die Kanzlerin endlich gegen den
Wirtschaftsminister durchsetzen.
Über die Zukunft des Emissionshandels wird jedoch
nicht nur in der Backloading-Debatte entschieden,
sondern auch in einer weiteren Debatte, nämlich der
aktuellen Diskussion, welche Ziele im Klimaschutz
sich die EU für die Zeit nach 2020 geben wird. Wenn
wir ein Klimaziel für das Jahr 2030 wählen, das zu
dem abnehmenden berechenbaren Reduktionspfad zum
2050-Ziel passen soll, so muss dieses Ziel mindestens
40 Prozent Minderung bedeuten. Dies hätte mit dem
bestehenden 2020-Ziel zur Folge, dass die Industrie
bis 2020 sehr wenig machen muss, nach 2020 aber
plötzlich ihre Anstrengungen vervielfachen müsste.
Solch ein Bruch kann nicht im Interesse der Planbarkeit von Investitionen sein.
Deshalb müssen wir zeitnah, unabhängig von einer
noch ausstehenden abschließenden Entscheidung des
Europäischen Parlamentes und des Europäischen
Rates zum Backloading, einen Diskurs in den europäischen Institutionen über eine ambitioniert ausgestaltete Handelsperiode nach 2020 führen. Es muss eine
Lösung angestrebt werden, um über eine ehrgeizige
Absenkung des Caps umfängliche Innnovationen und
Investitionen und damit Effizienzsteigerungen in den
vom Emissionshandel betroffenen Unternehmen anzustoßen bzw. zu unterstützen.
Die Ausgestaltung muss so sein, dass diese Investitionen in die Emissionssenkung auch schon in der laufenden Handelsperiode ausgelöst werden. Wichtig ist
eine zeitige Einigung, sodass auch die gewünschten
Investitionsziele möglichst bald eintreten können.
Ohne einen funktionierenden Emissionshandel mit anspruchsvollen Emissionsobergrenzen würden die nicht
dem Emissionshandel unterliegenden Sektoren Verkehr, Haushalte und Gebäude vor Herausforderungen
gestellt, die kaum zu bestehen sind. Auf diesen Zusammenhang haben wir in unserem Antrag explizit hingewiesen.
Nach diesem „Votum der Unvernunft“ wachen nun
hoffentlich einige konservative und liberale Abgeordnete aus ihrem Koma auf und zeigen sich konstruktiv,
um noch in letzter Minute eine Lösung zu erreichen.
Viel Zeit haben sie nicht mehr. Die Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen können schon einmal vormachen, wie es geht, und diesem Antrag zustimmen.
Die SPD fordert in ihrem erfreulich übersichtlichen
Antrag, dass die Bundesregierung die Position der
EU-Kommission unterstützt, zur Stabilisierung des
CO2-Preises das sogenannte Backloading anzuwenden, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handelsperiode zurückzuhalten. Aber schon im ersten Absatz
der Antragsbegründung klingen Sie nicht mehr so
überzeugt von Ihrem Vorhaben und räumen „instrumentelle Vorbehalte“ ein. Diese Vorbehalte sind in der
Tat nicht von der Hand zu weisen. Denn Sinn und
Zweck des Emissionshandels ist nicht ein Mindestpreis
für CO2-Emissionen, sondern die Einhaltung des Cap,
das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an
CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen ausstoßen. Schraubt man willkürlich an der Zertifikatmenge,
um einen bestimmten Preis anzupeilen, führt man das
System ad absurdum. Zudem basiert das Vertrauen der
Wirtschaftsakteure in das System auf stabilen Rahmenbedingungen. Eine willkürliche Änderung dieser Rahmenbedingungen würde das Emissionshandelssystem
mehr gefährden als der aktuell sehr niedrige Preis.
Ich gebe zu, dass dieser Preis unerfreuliche Seiten
hat: Er führt zu einem niedrigeren Anreiz, in neue
CO2-arme und nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU
nach 2020 das Emissions-Cap absenkt, um auf dem
Klimaschutzpfad bis 2050 voranzukommen. Daneben
brechen die Einnahmen des Energie- und Klimafonds
ein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung
der Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelle
Jahr konnte dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der
Einnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kompensiert werden. Somit können Programme für internationalen Klimaschutz, die Gebäudesanierung und
die Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden.
Auch das neu eingeführte Speicherförderprogramm für
die Photovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die
Finanzierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr somit eine gangbare Lösung gefunden.
Die Bundesregierung hat in der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen, dass sie eine AnheZu Protokoll gegebene Reden
bung des Klimaziels für 2020 auf 30 Prozent befürwortet, wenn Deutschland sein nationales 40-Prozent-Ziel
nicht erhöhen muss und alle EU-Staaten einen angemessenen Beitrag leisten. Diesen Ansatz sollte man
nach dem Scheitern der Backloading-Pläne im Europäischen Parlament jetzt noch einmal forcieren. Denn
dies ist ein systematischerer Ansatz als das doch recht
willkürliche Backloading.
Man mag zum EU-Emissionshandel, ETS, stehen,
wie man will. Fakt ist, dass von der ersten zur dritten
Handelsperiode etliche Kardinalfehler behoben wurden, die das System zutiefst diskreditiert hatten. So
werden seit diesem Jahr zumindest an die Energiewirtschaft die geldwerten CO2-Emissionsrechte nicht mehr
verschenkt, sondern versteigert. Das Problem der leistungslosen Extragewinne wäre also hier vom Tisch.
Zudem wurde die Nutzung neuer missbrauchsanfälliger CDM-Zertifikate für die dritte Handelsperiode extrem eingeschränkt.
Leider sind durch die in der Vergangenheit von der
einschlägigen Lobby aufgebrochenen Lücken im ETS
- zu denen auch eine Überzuteilung an die Industrie
gehört - jede Menge überschüssiger Zertifikate aufgelaufen. So macht allein der Zufluss von CDMGutschriften aus zweifelhaften Klimaschutzprojekten
im globalen Süden etwa 1,6 Milliarden der 2 Milliarden Überschüsse aus, ist also Hauptursache für die
Krise des Handelssystems. Von diesen 1,6 Milliarden
sind auch noch die Hälfte faul. Die CDM-Gutschriften
lassen nicht nur die Preise in den Keller stürzen - aktuell kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 ja nur so viel
wie ein Brot beim Bäcker statt der ursprünglich erwarteten 30 Euro -, sie führen auch zu einem zusätzlichen
Klimagasausstoß. Die Wirtschaftskrise tat ein Übriges
für die derzeitige Zertifikateschwemme.
Würde man nun diese ungenutzten, aber leider
übertragbaren Emissionsrechte endgültig stilllegen
und würde man zudem den linearen Minderungspfad
entsprechend den veränderten Rahmenbedingungen
verschärfen, so könnte sich dieses marode Cap-andTrade-System erstmalig zu einem tatsächlichen Klimaschutzinstrument wandeln.
Genau dies hat zumindest die EU-Kommission mit
ihrem Backloading-Vorschlag im Blick. Das zeitweise
„Zurücklegen“ von Zertifikaten über 900 Millionen
Tonnen CO2, anstatt sie zu versteigern, würde den Zertifikatepreis zwar zunächst nur wenig anheben. Denn
die Märkte antizipieren ja, dass die Menge 2019 und
2020 doch noch in den Markt geht, die 2013 bis 2015
bei den Auktionen aufgespart wird. Das Backloading
würde aber den Weg für eine grundlegende Reform des
Emissionshandels freimachen, weil es Zeit schindet.
Und die braucht man, da Strukturreformen vor 2015
sicher nicht wirksam werden.
Diese zwei bis drei Jahre hätten die Mitgliedstaate