Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/25/2013

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich. Ich freue mich, dass wir uns nach zwei bemerkenswerten Fußballgala-Abenden ({0}) nun mit gefestigter Motivation unseren ähnlich glanzvollen parlamentarischen Geschäften widmen können. Wir fangen auch ganz vorsichtig und besonders fröhlich und freundlich an, indem wir der Kollegin Marie-Luise Dött und der Kollegin Annette Sawade gratulieren, die in den zurückliegenden Tagen jeweils ihren 60. Geburtstag gefeiert haben. Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre! ({1}) Für den verstorbenen Kollegen Ottmar Schreiner hat die Kollegin Astrid Klug erneut die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich darf Sie im Namen des ganzen Hauses herzlich begrüßen und wünsche uns für die verbleibende Zeit eine gute Zusammenarbeit. ({2}) Dann müssen wir noch eine Wahl von Mitgliedern des Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gemäß § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes durchführen. Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den turnusmäßig ausscheidenden Herrn Markus Meckel den Kollegen Siegmund Ehrmann sowie für eine weitere Amtszeit Herrn Professor Dr. Richard Schröder als Mitglieder des Beirats zu berufen. Stimmen Sie dem zu? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Ehrmann und Professor Schröder in den Beirat nach dem StasiUnterlagen-Gesetz gewählt. Darüber hinaus müssen wir noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, für die Kollegin Ingrid Remmers die Kollegin Sabine Leidig als Schriftführer zu wählen. ({3}) - Ich komme auch fast ins Grübeln, ob das Amt jetzt wöchentlich neu besetzt werden soll. ({4}) - Mit dieser feierlichen Bekräftigung vonseiten der unmittelbar zuständigen Fraktion nehme ich dann diesen Vorschlag als offenkundig einvernehmlich so zu Protokoll. Damit ist die Kollegin Leidig als neue Schriftführerin gewählt. ({5}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Große Vermögen durch Neuverhandlung des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens sowie durch eine Vermögensabgabe heranziehen({6}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD Bessere Politik für einen starken Mittelstand - Fachkräfte sichern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen verbessern - Drucksache 17/13224 - ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren- Ergänzung zu TOP 45 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013 - Drucksache 17/13195 29652 Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Neuorientierung im Umgang mit Gewalt und Organisierter Kriminalität in Mexiko und Zentralamerika - Sicherheitsabkommen unter dem Primat der Menschenrechte gestalten - Drucksache 17/13237 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8})Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Elften Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284, 17/13190 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen - Drucksache 17/13225 ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE NPD verbieten - Drucksache 17/13231 ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsextremismus umfassend bekämpfen - Drucksache 17/13240 ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampfdrohnen - Drucksache 17/13192 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch Selbstanzeige abschaffen - Drucksache 17/13241 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 8 und 13 werden getauscht. Die Redezeit für den Tagesordnungspunkt 8 beträgt nunmehr 30 Minuten, so wir denn nicht vor Beginn desselben anderes beschließen. Für den Tagesordnungspunkt 13 sind jetzt 45 Minuten vorgesehen. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 5 b abgesetzt werden. Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 18. April 2013 ({10}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehr dem Haushaltsauschuss ({11}) zusätzlich nach § 96 der Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung - Drucksache 17/13079 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({12})- Rechtsausschuss - Finanzausschuss - Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz- Ausschuss für Arbeit und Soziales - Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({13}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Stabilität, Wachstum, Fortschritt - Den star- ken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest machen - Drucksache 17/12700 - b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Bericht über den Erfolg der Programme zur Technologieförderung im Mittelstand in der laufenden Legislaturperiode, insbesondere über die Entwicklung des Zentralen Innova- tionsprogramms Mittelstand - Drucksache 17/12771 - Überweisungsvorschlag:- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Präsident Dr. Norbert Lammert c) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Situation des Mittelstands - Drucksachen 17/9655, 17/12245 - d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Petra Müller ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Öffentlich-Private Partnerschaften - Poten- tiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen - zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf- fentlich-Private Partnerschaften differen- ziert bewerten, mit mehr Transparenz wei- terentwickeln und den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz in Public Private Partnerships im Verkehrswesen - Drucksachen 17/12696, 17/9726, 17/5258, 17/13155 - Berichterstattung:- Abgeordnete Reinhold Sendker- e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rekommunalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Partnerschaften stoppen - Drucksachen 17/5776, 17/6515 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerOtto FrickeRoland ClausTobias Lindner ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bessere Politik für einen starken Mittelstand Fachkräfte sichern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen verbessern - Drucksache 17/13224 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion. ({17})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über Mittelstandspolitik, ein besonders wichtiges Thema. Ich vermisse den Kanzlerkandidaten der SPD, Herrn Steinbrück; aber vielleicht hat er auch Probleme mit seiner Politik für den Mittelstand. ({0}) Vor wenigen Jahren waren wir der kranke Mann Europas. „Sick man of Europe“ war das geflügelte Wort. Damals war Rot-Grün an der Regierung und hat die Regierungspolitik gestaltet. Wir hatten 5 Millionen Arbeitslose und Jahre lähmender Rezession. ({1}) Heute ist die Einschätzung eine andere. Heute findet man „Modell Deutschland“ auf dem Titel des Economist und anderer internationaler Zeitungen. Deutschland ist erfolgreicher als alle anderen Länder aus der Krise herausgekommen. Die internationalen Beobachter haben ein Schlüsselwort dafür - sie haben kein eigenes Wort, sondern nur ein Lehnwort -, nämlich „German Mittelstand“. Der Mittelstand ist also eine der Schlüsselgrößen dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind und wie erfolgreich wir Politik betrieben haben. ({2}) Mittelstand ist nicht irgendeine Betriebsordnung, Mittelstand ist eine Geisteshaltung, ist eine eigene Richtung, ist eine eigene Gedankenwelt. Da wird in Generationen, nicht in Quartalen gedacht. Viele dieser Mittelständler sind Hidden Champions in ihrem Bereich, also Weltmarktführer. Manche in Deutschland träumen von ein paar gewerkschaftsdominierten Aktiengesellschaften plus Millionen kleiner Ich-AGs. ({3}) Das ist nicht mein ökonomisches Weltbild; das will ich auch nicht haben. Ich will eine starke Mitte. Die Entwicklung ist geprägt durch ein - wie es im Ausland dargestellt wird - neues deutsches Wirtschaftswunder. Wir haben 42 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland. So viele gab es noch nie. ({4}) Das ist ein Beschäftigungswunder. Wir haben ein Exportwunder: Exporte in Höhe von gut 1 Billion Euro; das sind über 1 000 Milliarden Euro. Und die Ausländer kaufen unsere Produkte freiwillig, weil sie gut sind. Das ist keine Zwangsabnahme. Wir haben ein Wohlstandswunder: seit drei Jahren steigende Reallöhne. Es sind die fleißigen Menschen im Land, dynamische Unternehmen, die dies erreicht haben, aber auch die christlich-liberale Politik. ({5}) Wir haben die Weichen richtig gestellt. ({6}) Wir haben auf Entlastung gesetzt. Wir haben das Wachstum beschleunigt. Wir haben die Rentenbeiträge und damit Lohnzusatzkosten gesenkt. Wir haben die Renten erhöht. Wir haben die Praxisgebühr abgeschafft. Wir haben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Mittelstand bei der Erbschaftsteuer entlastet und 13 Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung gesteckt, ohne den Staatshaushalt aufzublähen. Das ist erfolgreiche Politik auch für den deutschen Mittelstand. Das sind die Rahmenbedingungen. ({7}) Die Staatsquote ist auf 45 Prozent gesenkt worden. Unser Ziel ist es, auf 40 Prozent herunterzukommen. Sozialsysteme haben Überschüsse statt Defizite, und wir haben im Haushalt die schwarze Null auf den Weg gebracht, erreicht. ({8}) Christlich-liberale Politik hat den Staat fit gemacht. Rot-grüne Politik will den Staat fett und träge machen. ({9}) Für den Kollegen Trittin ist die Staatsquote nur eine Recheneinheit, wie er sagt. Ihm ist egal, ob sie 40 Prozent, 45 Prozent, 60 Prozent beträgt. Das ist eben das fatal falsche Denken. Das macht den Mittelstand kaputt. ({10}) Sie wollen die Wirtschaft abwürgen: mit der Erhöhung der Erbschaftsteuer, mit der Erhöhung der Einkommensteuer, mit der Wiedereinführung der Vermögensteuer. ({11}) Ich habe mir das Gutachten der SPD-Finanzminister genau angeschaut und habe es auch dabei. Das Gutachten ist die Blaupause für die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Das trifft 160 000 Unternehmen in Deutschland. Das sind 160 000 Unternehmen zu viel, die davon betroffen werden. ({12}) Wenn in jedem Unternehmen dadurch nur ein Arbeitsplatz verloren geht, erreicht die Zahl, die wir an Arbeitsplätzen verlieren, eine Größenordnung, die der Einwohnerzahl einer Stadt wie Potsdam entspricht. Deshalb ist Ihre Politik falsch. Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für Sie ist offenbar nicht klar, dass für viele Mittelständler die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele Handwerker die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele Selbstständige und Freiberufler die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele Landwirte die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist. Mit Ihrer Politik der Einkommensteuererhöhung und auch mit der Erhöhung des Spitzensteuersatzes treffen Sie diese Bereiche des Mittelstands ins Mark. ({13}) Hinzu kommt die Erhöhung der Abgeltungsteuer, der Mehrwertsteuer, der Erbschaftsteuer. Rot-Grün würde die deutschen Steuerzahler, wenn Rot-Grün die Mehrheit bekäme, mit 30 bis 40 Milliarden Euro zusätzlich belasten - und das bei Rekordsteuereinnahmen von über 600 Milliarden Euro. Das ist absolut falsche Politik. Frau Andreae und andere Grüne laufen auch Sturm gegen die Vermögensteuerpläne der eigenen Partei. Sie warnen vor der Substanzbesteuerung, die der Möchtegern-Finanzminister Jürgen „Bilderberg“ Trittin einführen will. Aber Herr Trittin hat noch ein zusätzliches Konzept: eine Vermögensabgabe von 100 Milliarden Euro obendrauf, also Abgabe plus Wiedereinführung der Vermögensteuer. Das alles geht nicht ohne Einbeziehung der Betriebsvermögen; es wäre sonst auch verfassungswidrig. Herr Trittin hat kürzlich sogar erklärt, die Vermögensabgabe rückwirkend einziehen zu wollen. ({14}) Auch das halte ich für einen Verfassungsbruch. Das ist eine grottenfalsche Politik, die den Mittelstand voll trifft. ({15}) Man liest im Spiegel, dass Herr Trittin bei internen Sitzungen rumgebrüllt habe und gewarnt habe vor dem, was sich politisch abzeichne. Das zeigt: Er ist nervös. Die Grünen selber merken: Rot-Grün schwimmen die Felle davon. - Rot-Grün kann sich keiner leisten und will sich auch keiner leisten. Der aufziehende Wahlkampf muss deshalb mit aller Härte und Deutlichkeit geführt werden, damit der Mittelstand eine faire Chance hat. Wir schlagen in unserem Antrag 20 Punkte vor, damit der Mittelstand in Deutschland weiter gute Chancen hat: Wir wollen die kalte Progression abbauen. Wir wollen Basel III - ({16}) - Weil der Bundesrat mit Ihnen dabei, also Rot-RotGrün, blockiert. ({17}) Es ist doch immer das Gleiche. Fällt den Sozis etwas ein, muss es eine neue Steuer sein. Wer ist mit dabei? Die grüne Partei. - Das ist die Gefechtslage in Deutschland. ({18}) - Ja, schreien Sie nur rum! Die Bürger werden entscheiden, ({19}) ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrer Gulasch gemacht wird, also Ihr Rückmarsch in die Vorstellungen von vorgestern stattfindet. ({20}) Lassen Sie doch den Karl Marx in seinem Museum! Kommen Sie doch nicht wieder mit den alten Klamotten heraus! ({21}) Sie müssen doch mal was dazulernen! Das ist ja Museumspolitik, was Sie betreiben! ({22}) Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland klare Weichenstellungen. Wir brauchen mehr richtige Ingenieure und weniger rot-rot-grüne Sozialingenieure. Vielen Dank. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns jetzt ausnahmsweise mal über Mittelstandspolitik reden! Diese dampfplaudernden Reden nützen dem Mittelstand überhaupt nichts, Herr Brüderle. ({0}) Ich finde, Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie hier morgens Karnevalsreden halten, längst von der Realität mittelständischer Unternehmen verabschiedet. ({1}) Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Das wird verschiedentlich von allen Parteien so beschrieben. Aber klar ist auch, dass der deutsche Mittelstand von dieser Bundesregierung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Er ist gleichwohl erfolgreich. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, was der neue Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat - mit Verlaub, ich darf es zitieren -: Auch wenn wir derzeit gut dastehen: Zu wenig Reformen und Innovationen dürfen wir uns nicht leisten, sonst ist unser Vorsprung schnell weg. Wenn Sie uns nicht glauben und Herrn Schweitzer nicht glauben, der ja aus der FDP ausgetreten ist, Herr Brüderle, dann glauben Sie bitte dem Institut der deutschen Wirtschaft - keine Vorfeldorganisation der SPD -, das dieser Bundesregierung ins Stammbuch schreibt, dass sie nur von Entscheidungen von Vorgängerregierungen, vom Mut zu Strukturreformen aus rot-grüner Zeit profitiert und diesen Vorsprung durch das Chaos schwarz-gelber Politik aufbraucht. ({2}) - Übrigens: August Bebel war ein Handwerksmeister. Sie haben ja gar keine Ahnung von Geschichte; das haben Sie verschiedentlich bewiesen. Ich sage Ihnen: Das einzig gute Schwarz-Gelb war gestern Abend Dortmund. ({3}) Aber das, was Sie für den Mittelstand leisten, ist tatsächlich nichts, für das Sie sich rühmen können. Wie ist die Situation in Deutschland? Der BDI, der Bundesverband der Deutschen Industrie, der auch mittelständische Unternehmen vertritt, beklagt einen massiven Verfall der öffentlichen Infrastruktur im Land. Der Nord-Ostsee-Kanal muss gesperrt werden, weil diese Bundesregierung mit Herrn Ramsauer zu wenig in die Infrastruktur, auch in die wirtschaftsnahe Infrastruktur in diesem Land investiert. Das ist die Wirklichkeit. Autobahnbrücken müssen gesperrt werden, weil Sie nicht in der Lage sind, die notwendigen Investitionen zu schultern. Das schadet der Wirtschaft, auch dem Mittelstand in Deutschland. ({4}) Hubertus Heil ({5}) Meine Damen und Herren, hier muss ich Ihre dünnen Anträge zum Thema Mittelstandspolitik lesen und diese oberflächlichen Reden von Herrn Brüderle anhören. Sprechen Sie einmal mit real existierenden Mittelständlern in Deutschland - mit Handwerksmeistern, mit Familienunternehmern, mit einer freien Selbstständigen, mit einer Existenzgründerin -, dann stellen Sie fest: Diese haben ganz andere Sorgen als das, was Sie hier an die Wand malen. Sie haben ganz konkrete Ansprüche. Der Unterschied zwischen Ihrer Bundesregierung und dem guten deutschen Mittelstand ist: Im guten deutschen Mittelstand gibt es Unternehmer, die etwas unternehmen. Sie sind eine Regierung, die etwas unterlässt. ({6}) Nun zu unseren Anträgen und zu unseren Vorschlägen. In genau vier Bereichen sagen wir sehr konkret, was wir unter einer ambitionierten, einer zukunftsgerichteten Mittelstandspolitik in Deutschland verstehen. ({7}) Erstens. Was kann und muss getan werden für qualifizierte Fachkräfte in diesem Land? Zu diesem wichtigen Thema haben Sie keinen Satz gesagt. Es sind vor allen Dingen die kleinen und mittelständischen Unternehmen, Herr Brüderle, die unter Fachkräftemangel leiden werden. Die großen Konzerne können sich Personalrekrutierungen leisten. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht. Deshalb muss etwas getan werden, damit Frauen und Männer in diesem Land arbeiten können, damit sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen, das Arbeitsvolumen von Frauen in diesem Land tatsächlich entfalten kann. Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie statt Ihres idiotischen Betreuungsgeldes. Das trägt zur Fachkräftesicherung bei. ({8}) Wir müssen jungen Menschen eine Chance geben. 60 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr die Schule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Das duale System der beruflichen Erstausbildung ist unser Standortvorteil. Darum hätte sich diese Regierung kümmern müssen. In diesem Bereich haben Sie nichts getan. ({9}) Zweites Thema: Innovationsanreize, Investitionen in Forschung und Wissenschaft. Wir haben in Deutschland einen hochinnovativen Mittelstand. Aber von der öffentlichen Forschungsförderung dieser Regierung profitieren nur Großunternehmen, kleine und mittelständische Unternehmen nicht. ({10}) Wo ist eigentlich die steuerliche Forschungsförderung geblieben, die Sie dem Mittelstand versprochen haben? Wir werden steuerliche Forschungsförderung einführen, damit wir privates Kapital stärker in Forschung und Entwicklung gerade im Mittelstand lenken können, damit der Mittelstand davon profitieren kann. ({11}) Was tun Sie eigentlich für Existenzgründer? Sie haben den Gründungszuschuss plattgemacht, ein wesentliches Instrument für Menschen, die den Mut haben, sich selbstständig zu machen, um mit einer Markteinführung tatsächlich nach vorne zu kommen. Hier haben Sie am falschen Ende gestrichen. Sie haben nichts getan. Wir werden etwas tun, zum Beispiel im Bereich der Investitionszulagen. Wir brauchen eine Gründerkultur in Deutschland. Die Sozialdemokraten stehen an der Seite derjenigen, die den Mut haben, sich mit guten Konzepten selbstständig zu machen, aber im Moment von Ihnen sträflich vernachlässigt werden. Sie bekommen am Kapitalmarkt oft nicht die nötige Unterstützung. Deshalb werden wir in diesem Bereich handeln. ({12}) Drittens. Die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Ich habe schon über Verkehrswege gesprochen. Wir müssen aber genauso über die Frage der Breitbandinfrastruktur in diesem Land sprechen. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, die es oft auch im ländlichen Raum gibt, ist die Tatsache, dass Sie beim Ausbau des schnellen Internets nicht von der Stelle gekommen sind, mittlerweile zum Standortnachteil geworden. Bei allem Jubel über unsere Stärke müssen wir feststellen, dass Deutschland gegenüber anderen Ländern beim schnellen Internet zurückgefallen sind. Wer ist zuständig? Ihre Regierung. Wer hat nichts getan? Ihre Regierung. Warme Worte, Herr Brüderle, solche Reden, wie Sie sie hier halten, schaffen keinen Arbeitsplatz. Sie befriedigen mit Ihrer Art und Weise vielleicht einige in Ihren Reihen, aber sie nützen der deutschen Wirtschaft nichts. Im Bereich Breitband haben Sie nichts getan. ({13}) Zum Bereich der Energiepolitik haben Sie auch keinen Satz verloren. Gerade der Mittelstand in Deutschland leidet unter Ihrem energiepolitischen Chaos. Sie haben Planungs- und Investitionssicherheit in Deutschland zerstört. Sie belasten Unternehmen mit immer höheren Strompreisen. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Sie haben nichts getan, um in den letzten vier Jahren eine neue Ordnung am Strommarkt durchzusetzen. In diesem Bereich werden wir viel aufräumen müssen, ({14}) damit der Mittelstand von den Chancen der Energiewende profitieren kann und damit die Energiewende nicht zum wirtschaftlichen und sozialen Risiko für Deutschland wird. Auch das unterscheidet uns. ({15}) Hubertus Heil ({16}) Viertens. Im Mittelstand, Herr Brüderle, sind vor allen Dingen die klassischen Werte der sozialen Marktwirtschaft gefragt; das sind Maß und Mitte, Anstand und Augenmaß. Es sind gerade die deutschen Mittelständler, die über die Exzesse auf den Finanzmärkten entsetzt sind. Es sind gerade die mittelständischen Unternehmen, die in den letzten Jahren erlebt haben, dass in vielen Bereichen der Finanzwirtschaft Finanzdienstleistungen nicht mehr Dienstleistungen waren, vielmehr umgekehrt die Realwirtschaft, also auch der deutsche Mittelstand, als Dienstleister für Zocker auf den Finanzmärkten behandelt wurde. Das hat die mittelständischen Unternehmen, also diejenigen, die reale Werte schaffen und nicht spekulieren, richtig erzürnt. Die Unternehmen in diesem Land nehmen es einem übel, wenn mit ihrem Vermögen, mit ihrer Zukunft und mit ihren Arbeitsplätzen gespielt wird. Wir fragen uns deshalb: Wie regulieren wir den Finanzmarkt so, dass in die Realwirtschaft, also in Industrie und Mittelstand, investiert wird? Das ist die zentrale wirtschaftliche Frage. ({17}) Heute wird Herr Rösler seine Wachstumsprognose für dieses und nächstes Jahr vorlegen. Sie sind stolz auf ein Wachstum von 0,5 Prozent. Das ist ein schmales Wachstum in diesem Jahr.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie prognostizieren vor dem Hintergrund der Bundestagswahl ein Wachstum von 1,6 Prozent. Wir müssen erheblich etwas dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen. Denn die Wachstumserwartungen stehen durch die EuroKrise auf tönernen Füßen. Der deutsche Mittelstand braucht daher starke politische Partner. Schwarz-Gelb ist das nicht. Das zeigt sich auch in diesen Tagen. Schauen Sie sich einmal an, was Ihnen die Unternehmer ins Stammbuch schreiben. Von Wirtschaftspolitik hat diese Bundesregierung keine Ahnung. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Christian von Stetten ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie heute Morgen in die Wirtschaftsteile der deutschen Tageszeitungen schauen, dann können Sie viel über große Automobilkonzerne, über Versicherungskonzerne und über große börsennotierte Technologieunternehmen lesen. All diese sind sicherlich wichtige Unternehmen für die Bundesrepublik Deutschland. Aber das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, der Garant für die sicheren Arbeitsplätze sind und bleiben der Mittelstand und insbesondere die deutschen Familienunternehmen. ({0}) Es gibt 3,7 Millionen mittelständische Unternehmen in Deutschland. Diese Firmen sind das Herz unserer Wirtschaft. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir so gut aus der Krise gekommen sind. Sie stellen immer noch 71 Prozent aller Erwerbstätigen. 83 Prozent der Auszubildenden werden im Mittelstand ausgebildet. All das sind stolze Zahlen. Aber: Wir sollten diese Zahlen nicht nur in der heutigen Debatte hochhalten, sondern die Wichtigkeit und die Wertschätzung dieser Betriebe auch in unserer täglichen Gesetzgebung unterstreichen. Dass der Mittelstand heute gut dasteht, hat Herr Brüderle bereits ausgeführt. Die Bundesregierung stützt diese positive Entwicklung durch zahlreiche Maßnahmen. Wir haben Maßnahmen zur Fachkräftesicherung ergriffen. Wir haben mithilfe des Normenkontrollrates die Bürokratiekosten um 12 Milliarden Euro gesenkt. Wir haben die Mittel des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand um 500 Millionen Euro aufgestockt. Wir haben diverse Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzierung des Mittelstands auf den Weg gebracht. Wir haben hier im Deutschen Bundestag zahlreiche weitere Beschlüsse gefasst, um den Mittelstand, die mittelständischen Betriebe und die Mitarbeiter zu entlasten. Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - das wurde vorhin bereits deutlich gemacht -, haben diese Gesetze mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat gestoppt und somit verhindert. Die kalte Progression, also die sogenannte Facharbeiterfalle, ist vorhin schon angesprochen worden. Ich denke aber auch an die energetische Gebäudesanierung oder an die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Rechnungen und Belege. All das sind sinnvolle Maßnahmen, die Sie hier verhindert haben. Wenn jetzt einer einen Zwischenruf macht - ({1}) - Sie werden aber kommen. ({2}) Wenn jetzt einer von Ihnen sagt, dass dies keine sinnvollen Maßnahmen seien, dann fragen Sie einmal Ihren Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, wie er darüber denkt. Es stimmt: Die SPD hat, genau wie die Grünen, die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen abgelehnt. Keine zwei Monate später, am 4. März dieses Jahres, hat die IHK Siegen Herrn Steinbrück eingeladen, um seine Thesen zu sozialdemokratischer Mittelstandspolitik zu präsentieren. Einer der Teilnehmer hat mir das vom Kanzlerkandidaten verteilte und anschließend auch vom Willy-Brandt-Haus an die Medien verschickte Thesenpapier zukommen lassen. Da steht bei Punkt 7 unter der Überschrift „Der Mittelstand braucht Beinfreiheit“ - ich zitiere Peer Steinbrück -: Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kostenträchtige Regelungen abgeschafft werden: - und dann fordert er Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rechnungen und Belege … ({3}) Da bin ich zwar überrascht, aber ich kann zu 100 Prozent zustimmen. Wenn sich jetzt plötzlich CDU/CSU, FDP und der Kanzlerkandidat der SPD bei dieser wichtigen Maßnahme für den Mittelstand einig sind, dann sollten wir das entsprechende wichtige Gesetz zum Wohl des deutschen Mittelstandes noch vor der Wahl gemeinsam und ohne Streit hier im Deutschen Bundestag verabschieden. ({4}) Liebe Kollegen, wir haben dieses gemeinsame Anliegen von Peer Steinbrück und den Koalitionsfraktionen jetzt auch sofort wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Gestern hat der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages über die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen entschieden. Wir von CDU/CSU und FDP haben Wort gehalten und mit Mehrheit zugestimmt. Und was haben die Kollegen der SPD-Fraktion gemacht? Sie haben ihren Kanzlerkandidaten im Stich gelassen und gegen dessen eigenen Vorschlag gestimmt. - Herr Steinbrück hatte von Ihnen etwas Beinfreiheit verlangt. Und was haben Sie gemacht? Sie haben ihm die Beine einfach abgeschlagen. ({5}) Sie haben heute Nachmittag, wenn wir im Deutschen Bundestag abschließend über den Gesetzentwurf debattieren, die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren und diesem Gesetzentwurf zum Bürokratieabbau zuzustimmen. Wer das gesamte Wahlprogramm der SPD liest, der wird feststellen, dass die Vorstellungen des SPD-Kanzlerkandidaten im Wirtschaftsbereich überhaupt nicht mehr vorkommen. Die vereinigte Linke in der SPD hat sich komplett durchgesetzt. ({6}) Das geht sogar so weit, dass der SPD-Landesvorsitzende aus Baden-Württemberg, Nils Schmid, und der grüne Ministerpräsident Kretschmann zwei Tage vor dem SPD-Bundesparteitag in Augsburg gemeinsam einen Brandbrief an den SPD-Bundesvorsitzenden geschrieben haben, in dem sie vor den Folgen des eigentlichen Programms gewarnt haben. ({7}) Sie warnten vor den Folgen der Substanzbesteuerung und insbesondere vor deren katastrophalen Auswirkungen auf Mittelstand und Familienunternehmen. Und, hat dieser Protest etwas genutzt? ({8}) Nein, im Gegenteil: Am Ende des Tages hat sogar der Protestbriefschreiber Nils Schmid diesem Wahlprogramm zugestimmt. ({9}) Gott sei Dank ist es noch nicht Gesetz; es darf auch nie Gesetz werden. Alle SPD-Delegierten, auch die aus Baden-Württemberg, haben diesem Mittelstandsgefährdungsprogramm, bestehend aus höherer Einkommensteuer, höherer Erbschaftsteuer, zusätzlicher Vermögensteuer und zusätzlicher Bürokratie, einstimmig zugestimmt. Das ist sozialdemokratische Mittelstandspolitik, meine Damen und Herren. ({10}) Die Wiedererhebung der Vermögensteuer und die Erhöhung der Erbschaftsteuer sind Gift für unseren Mittelstand. ({11}) Sie führen zu einer Besteuerung der Substanz, selbst wenn das Unternehmen Verluste macht. Natürlich würde die Umsetzung der Vorschläge der Opposition zu einer Art Wettbewerbsverzerrung zugunsten der börsennotierten Unternehmen und zulasten der Familienbetriebe führen. Die großen DAX-Konzerne hätten mit der Einführung einer Vermögensteuer überhaupt keine Probleme, und eine Verdopplung der Erbschaftsteuer ist den DAXKonzernen auch egal. Aber unsere mittelständischen Betriebe, die Familienbetriebe, müssen diese zusätzlichen Kosten in ihre Preiskalkulation mit einrechnen. Dann ist doch klar, wer in Zukunft bei Ausschreibungen den günstigeren Preis anbieten kann. Das, was Sie verlangen, führt zu Wettbewerbsverzerrung. Wir werden das selbstverständlich verhindern. ({12}) Ihre Fraktion allerdings, Herr Bartsch - Sie sind ja der nächste Redner für die Linksfraktion -, ({13}) hat in der Mittelstandsdebatte den Vogel abgeschossen. ({14}) Mit Ihrer Forderung nach einer jährlichen Vermögensteuer ({15}) in Höhe von 5 Prozent bezogen auf den Verkehrswert kommen Sie einer Enteignung der betroffenen Bürger nahe. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. ({17}) In unserem heute zur Abstimmung gestellten Antrag „Stabilität, Wachstum, Fortschritt - Den starken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest machen“ wird deutlich, wie wichtig unserer Fraktion der deutsche Mittelstand ist. Durch unser Regierungshandeln werden wir das auch weiter unter Beweis stellen. Herzlichen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von Stetten, ich bedanke mich für die Ankündigung. Wenn ich Herrn Brüderle und Ihnen zuhöre und wenn ich den Titel der Unterrichtung lese: „Bericht über den Erfolg der Programme …“, dann werde ich an eine Zeit erinnert, die lange vorbei ist. Fragen Sie einmal die Ossis in Ihrer Fraktion; sie wissen, wie das ist, wenn nur von Erfolgen berichtet wird. ({0}) Halten Sie es lieber mit dem Altbundeskanzler Kohl, der gesagt hat: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Ich finde, das sollte der Maßstab sein. ({1}) Es reicht, eine Zahl zu nennen: 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Das ist faktisch nichts. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, die Sie hier zu verantworten haben. ({2}) Nur die realen Ergebnisse zählen wirklich. ({3}) Völlig unbestritten ist: Der Mittelstand in Deutschland hat viel geleistet. Ich war selber einige Jahre Unternehmensberater. ({4}) - Ja, da kann ich Ihnen viel erzählen. - Ich habe erlebt, wie dort agiert wird. Aber der Mittelstand ist nicht nur eine Geisteshaltung, der Mittelstand ist viel differenzierter. Es gibt sehr unterschiedliche Unternehmen in diesem Bereich, sodass man sie nicht über einen Kamm scheren kann. Gerade weil der Mittelstand in der deutschen Wirtschaftslandschaft eine herausragende Bedeutung hat, muss man ihn differenzierter fördern und zielgenauer agieren. Man muss vor allen Dingen seine Wettbewerbsposition gegenüber den Großunternehmen stärken und darf das nicht nur ankündigen, Herr von Stetten. Was ist denn geblieben von der Steuervereinfachung, die Sie in Ihrem Wahlprogramm angekündigt haben? Wie sieht es in der Realität aus? Nahezu nichts! Ich will aus Ihrem Antrag zitieren. Dort steht: Deutlicher denn je zeigt sich, dass die Selbstständigen und die kleinen und mittelgroßen Unternehmen … insbesondere auch in Ostdeutschland … das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden. Dieses Selbstlob steht in völligem Widerspruch zur Realität. Auch 23 Jahre nach der deutschen Einheit ist die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern doppelt so hoch wie in den alten Ländern, die Löhne befinden sich auf dem niedrigsten Niveau, wir haben weiterhin eine hohe Abwanderungsquote, und wir haben weiterhin 1,5 Millionen Pendlerinnen und Pendler. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Die Bundeskanzlerin ist zwar nicht da, aber lassen Sie mich einmal konkret auf unser gemeinsames Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommen. Mecklenburg-Vorpommern wird, wie andere norddeutsche Bundesländer, mit der finanziellen Hilfe für die Werften jetzt alleingelassen. Der Bund will das Bürgschaftsprogramm nicht weiterführen. Einen falscheren Zeitpunkt dafür kann es überhaupt nicht geben. ({5}) Jetzt, wo sich die Werften auf die Bereiche Spezialschiffbau und Offshoreprodukte ausgerichtet haben, streichen Sie das Programm. Das ist mittelstandsfeindlich; denn die Werften bei uns in Mecklenburg-Vorpommern sind nichts anderes als Mittelstand. Sie als FDP verhindern die Förderung. ({6}) Die Linke ist eine mittelstandsfreundliche Partei. ({7}) Ich will Ihnen das an einigen Punkten darlegen: Der Mittelstand hat überall, aber besonders in den neuen Ländern, Finanzierungsprobleme. Es geht um Finanzquellen, es geht aber auch um Finanzierungskonditionen. Die Finanzkrise hat die Probleme verstärkt. Fakt ist - Sie wissen das -: Kreditanträge von Kleinunternehmen mit weniger als 1 Million Euro Jahresumsatz werden deutlich öfter abgelehnt als Anträge von Unternehmen mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz. Das sind letztlich wettbewerbsverzerrende Rahmenbedingungen zulasten der Mittelständler. Wir setzen deshalb vor allen Dingen auf eine sichere Finanzierung durch Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken und nicht auf Ret29660 tungsmilliarden für Großbanken und deren Aktionäre. Das haben Sie in den letzten Jahren gemacht. ({8}) Die privaten Großbanken haben sich häufig aus dem normalen Geschäft mit dem Mittelstand zurückgezogen. Das ist gerade in den neuen Ländern zu beobachten. Da gibt es diese Geschäftsbeziehungen faktisch nicht mehr. Gott sei Dank gibt es die Sparkassen und Volksbanken, die das übernehmen. Der öffentliche Finanzsektor muss stärker auf die Finanzierung des Mittelstandes verpflichtet werden. Außerdem müssen wir die Rolle der Sparkassen weiter stärken, weil nur darüber die notwendige Eigenkapitalquotenerhöhung und -stärkung möglich ist. Häufig sind es Kleinstkredite, die benötigt werden, und die sind häufig sehr schwierig zu bekommen. Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, der auch unter den Mittelständlern unserer Partei umstritten ist: das Thema Mindestlohn. Aber unsere Position ist klar: Wir sind und bleiben bei unserer Forderung nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 10 Euro, weil dadurch gleiche Wettbewerbsregeln für die Unternehmen geschaffen werden. Es darf kein Geschäftsmodell sein, über Aufstocker Vorteile zu erzielen. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, der im Übrigen auch die Kaufkraft und die Nachfrage für Handwerk und Dienstleistung stärkt. ({9}) Die Energiewendepolitik ist für den Mittelstand ein ganz großes Problem. Eigentlich ist das gar keine Energiewendepolitik; denn das einzig Zuverlässige an Ihrem Kurs ist, dass für die Mittelständler nichts sicher, nichts planbar ist. Wer den Mittelstand fördern will, der muss die Macht der Energiemonopole brechen und für stabile Strom- und Gaspreise sorgen. Das ist Ihre Aufgabe, damit der niedrige Strompreis an der Leipziger Strombörse auch beim Mittelständler ankommt. Sie begünstigen einseitig stromintensive Großunternehmen. Das ist die Realität. Außerdem brauchen wir mehr Aufträge für den Mittelstand; auch das ist klar. Schauen Sie sich einmal Ihre Investitionspolitik in den letzten vier Jahren an: Bei jeder Haushaltsberatung hat die Opposition zu Recht kritisiert, dass die Investitionen viel zu gering sind. Mit Investitionen sanieren wir doch die Infrastruktur, tun wir etwas für Schulen, Krankenhäuser etc. und schaffen damit Aufträge auch für den Mittelstand. Wir brauchen auch ein anderes Vergabegesetz. Kleinere Lose sind notwendig, weil die öffentlichen Auftraggeber - egal ob unter CDU, SPD oder der Linken - sonst überhaupt keine Chance haben. Wenn Sie die regionale Wirtschaft wirklich fördern wollen, dann brauchen wir diesbezüglich ein anderes Herangehen. ({10}) Die Linke hat im Übrigen seit vielen Jahren einen eigenen Unternehmerverband - OWUS -, von dem wir viele Hinweise für unsere Politik bekommen, was sehr vernünftig ist, denn diese Hinweise helfen uns dann auch gerade in der Sozialpolitik. Ich will vor allen Dingen auf eines verweisen: Wir haben in Berlin den Wirtschaftssenator gestellt, hatten Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern und stellen jetzt in Brandenburg den Wirtschaftsminister. Sie alle können eine sehr erfolgreiche Politik vorweisen. Harald Wolf hat in Berlin unter einer rot-roten Regierung endlich einen einheitlichen Unternehmensservice geschaffen. Er hat außerdem in Berlin/Brandenburg eine Clusterentwicklung gefördert. Und weil wir letzte Woche die Diskussion über die Frauenquote in Aufsichtsräten hatten: In Berlin hat Harald Wolf als Wirtschaftssenator und zugleich Frauensenator den bundesweit höchsten Anteil von Frauen in Aufsichtsräten öffentlicher Unternehmen erreicht. Das kann sich doch wirklich sehen lassen. ({11}) Jetzt habe ich eine umfassende Erfolgsgeschichte, muss aber leider wegen der Redezeit abbrechen; ich weiß, Herr Präsident. Lassen Sie mich nur noch ein kleines Beispiel nennen. Helmut Holter hat in meinem Bundesland ein Mikrodarlehensprogramm für Existenzgründer geschaffen. Die Welt - wirklich keine linke Zeitung hat geschrieben, das sei europaweit einmalig. Dieses Lob gehört hierher. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Tobias Lindner ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Geständnis beginnen: ({0}) Als ich heute morgen zu dieser Debatte gegangen bin - es war ja die Koalition, die sie auf die Tagesordnung gesetzt hat -, da hatte ich als junger Abgeordneter tatsächlich für einen Moment die naive Hoffnung, Sie, Herr Brüderle, würden etwas über die Inhalte Ihrer Mittelstandspolitik erzählen. Einen Moment lang hatte ich diese naive Hoffnung. Nun ist es ja so, dass ich als Pfälzer Sie auch phonetisch dekodieren kann. ({1}) Wir haben von Ihnen keine Bilanz und auch keine großen Zukunftspläne der Koalition gehört. Nein, es gab nur die Aussage: Deutschland geht es gut. - Da würde ich Ihnen in einigen Punkten überhaupt nicht widersprechen. Ansonsten besteht das mittelstandspolitische Programm dieser Koalition einzig und allein noch in Abwehrreaktionen und Halbwahrheiten im Hinblick auf grüne und zugegebenermaßen auch rote Steuerpolitik. Wenn das Ihre Mittelstandspolitik ist, dann ist das ein Armutszeugnis. ({2}) - Es muss nicht immer alles im Manuskript stehen, Herr van Essen. Unternehmen in Deutschland - vor allen Dingen Mittelständlern - geht es um drei Dinge: Chancengleichheit, Planbarkeit und Durchschaubarkeit von Regeln. Fangen wir mit der Chancengleichheit an und sprechen kurz über Steuern. Deutschland gehen durch kreative und aggressive Steuergestaltung multinationaler Großunternehmen jährlich schätzungsweise bis zu 150 Milliarden Euro an Steuern verloren. Weltbekannte Kaffeehäuser und internationale Buchketten zum Beispiel zahlen hier so gut wie keine Steuern. Der deutsche Mittelstand kann entsprechende Steuergestaltungsschlupflöcher allerdings nicht nutzen. Das ist alles andere als Chancengleichheit. Da müssen wir gerade im Interesse des deutschen Mittelstands gegensteuern. ({3}) Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Punkt eingehen. Die wichtigste Voraussetzung, damit es dem Mittelstand in diesem Land gut geht, sind vernünftige Rahmenbedingungen, ist eine gute Infrastruktur, ({4}) die nicht einzig und allein aus Beton besteht, sondern zum Beispiel auch Breitbandinternetanschlüsse und die Verfügbarkeit von Fachkräften umfasst. ({5}) Der wichtigste Rohstoff, den wir in diesem Land haben, ist Grips. Die wichtigsten Voraussetzungen sind eine gute Bildungspolitik und eine gute Fachkräftepolitik. ({6}) Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, und dafür brauchen wir auch und gerade einen Staatshaushalt, der endlich einmal die Altschulden in den Blick nimmt und die Voraussetzungen für vernünftige Finanzen und dauerhaft stabile Rahmenbedingungen schafft. Deshalb fordern wir von Bündnis 90/Die Grünen eine zeitlich befristete und zweckgebundene Abgabe auf hohe Vermögen. ({7}) Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt - es ist schon interessant, dass man das gerade einer vermeintlich bürgerlichen Regierung erklären muss -: Es muss erst etwas erwirtschaftet werden, bevor man etwas verteilen kann. ({8}) - Ja. - Bevor Sie über Steuern reden, sollten Sie besser einmal über die Voraussetzungen reden, die erfüllt sein müssen, um Gewinn zu erzielen. Diesbezüglich war Ihre Rede, lieber Herr Brüderle, ganz schwach. Ich will noch etwas zum Thema Planungssicherheit sagen: Das Gegenteil von Planungssicherheit ist das, was Sie im Moment bei der Energiewende machen. Vier Novellen zum EEG in den letzten Jahren - können Sie mir erklären, wie ein Mittelständler, der die Energiewende als Chance begreift, angesichts dessen Investitionsentscheidungen treffen soll? Ich kann ihm das nicht erklären. ({9}) Jetzt reden wir einmal über Innovationspolitik. Jeder hier im Haus hält den Begriff „Innovation“ gerne hoch: Ja, wir müssen innovativ sein. Sie haben von „Hidden Champions“ geredet. Es ist natürlich richtig, dass unser Marktvorteil in den hochspezialisierten kleinen Unternehmen besteht. Aber sind in Deutschland wirklich die Voraussetzungen gegeben, dass wir aus den Innovationen eine Menge Gewinn ziehen können? Schauen Sie sich doch einmal den IT-Bereich an. Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland unbegabtere oder untalentiertere Informatiker oder Gründer als in anderen Ländern haben. Aber warum sind dann Firmen wie Yahoo, Facebook oder Google in den USA entstanden? Aus zwei Gründen: zum einen, weil an den Hochschulen in den USA eine ganz andere Kultur herrscht und die Strukturen dort ganz anders sind. Dort entstehen auf eine ganz andere Art und Weise aus Ideen Unternehmen. Zum anderen gibt es dort viel mehr privates Wagniskapital. Diese Regierung ignoriert faktisch die Frage, wie wir zu mehr privatem Wagniskapital in Deutschland kommen, wie wir diesbezüglich die richtigen Anreize setzen können. ({10}) Sie reden immer gerne über Bürokratieabbau und betonen, wie unbürokratisch alles sein müsste. Schauen wir uns einmal Ihre Innovationsförderung an: Im Etat des Bundeswirtschaftsministers findet man einen Dschungel an Förderprogrammen. Viele größere Unternehmen können da noch gut durchblicken. Sie haben Spezialisten, die wissen, wie man den Antrag schreibt und wo man Geld herbekommt. Aber viele Mittelständler, die eine Idee haben, haben weder Zeit noch Leute, um konkrete Anträge zu schreiben. Denen wäre mit einer steuerlichen Forschungsförderung besser gedient. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass Sie eine steuerliche Forschungsförderung anstreben. Sie hatten vier Jahre Zeit, aber Sie haben nichts gemacht, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition. ({11}) Hubertus Heil hat schon erwähnt, was der DIHKChef über die Mittelstandspolitik dieser Bundesregie29662 rung sagt. Ihre Hightech-Strategie, zu der diese Woche ein Treffen stattfand, wird vielfach gerade von mittelständischen Unternehmen kritisiert und als Rohrkrepierer bezeichnet. Das Problem ist, dass Sie sich auf den Erfolgen, die zu der derzeitigen Situation geführt haben, ausruhen, anstatt die Herausforderungen der nächsten Dekade in den Blick zu nehmen. Ich prophezeie Ihnen: Wenn das so weitergeht, werden wir in den nächsten Jahren die Folgen Ihrer Unterlassungen zu spüren bekommen. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. ({12}) Mittelständische Unternehmen zeichnen sich speziell in Deutschland insbesondere dadurch aus, dass sie nicht nur den Gewinn im Blick haben. Ja, Gewinn ist nötig, damit ein Unternehmen am Leben bleiben und wachsen kann. Mittelständische Unternehmen übernehmen aber auch Verantwortung, Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für ihre Familien und für die Eigentümer. Mittelständische Unternehmen denken über den Tag hinaus und haben ein breites Blickfeld. Das muss eine Mittelstandspolitik in den Blick nehmen. Diese Eigenschaften muss man bei einer Politik für den Mittelstand berücksichtigen. Das Gegenteil davon ist das, was Sie tun. So kann und darf es nicht weitergehen. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erhält nun der Bundeswirtschaftsminister das Wort. ({0})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist ihre Struktur im Allgemeinen und die mittelständische Struktur im Speziellen. Ja, es ist richtig: Unsere mittelständischen Unternehmer sind regional tief verwurzelt. Sie leisten Hervorragendes. Sie bringen hervorragende Produkte, Technologien und Dienstleistungen auf den Markt. Sie haben ein hervorragendes Verhältnis zu ihren Beschäftigten, und sie sind weltweit anerkannt. Deswegen bin ich den Regierungsfraktionen sehr dankbar dafür, dass sie genau dieses Thema heute auf die Tagesordnung gesetzt haben. Denn eines ist doch klar: Mittelstand ist nicht nur eine Frage von Strukturen, ist nicht nur eine Frage von Kennzahlen, sondern - Rainer Brüderle hat es gesagt - der unternehmerische Mittelstand in Deutschland ist weitaus mehr. Er ist eine Geisteshaltung, der sich diese Koalition in besonderer Weise verpflichtet fühlt. ({0}) Dass Rote, Grüne und Linke kein Interesse am Mittelstand haben, das kennen wir schon. ({1}) - Das sieht man jetzt wieder an Ihren Reaktionen. ({2}) Leider mussten wir gerade in den letzten Monaten feststellen: Sie haben nicht nur kein Interesse mehr, sondern Sie fangen jetzt auch langsam an, massiv Politik gegen den unternehmerischen Mittelstand in Deutschland zu betreiben. ({3}) Überall da, wo Sie in den Ländern Verantwortung tragen, machen Sie das Gegenteil von dem, was der Mittelstand in Deutschland heute braucht. ({4}) Stabiles Geld, Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit von Energie, Forschung, Technologie und Innovationen - dazu sollten sich die Grünen übrigens erst recht nicht äußern - sowie neue Märkte, neue Chancen. Das sind aktuell die Themen bei jedem Mittelstandsbesuch von Politikern, egal welcher Fraktion. Schauen wir uns einmal an, was Sie da machen. Ihre Europapolitik besteht doch darin, durch Europa zu reisen - so wie es gerade Ihr Spitzenkandidat getan hat - und nach der Rückkehr gegen solide Haushalte zu wettern. Das ist Ihre Europapolitik. Sie wollen eine Vergemeinschaftung von Schulden, Sie wollen am Ende EuroBonds, und das Schlimme daran ist, dass Sie hier in Deutschland die Steuern erhöhen wollen, um die Schulden in anderen europäischen Staaten zu bezahlen. ({5}) Beim Thema Fachkräftesicherung spricht Herr Dr. Lindner von Grips. Das finde ich schön. Aber schauen Sie sich doch einmal rot-grüne Bildungspolitik in den Ländern an. Als Allererstes wollen Sie das Sitzenbleiben abschaffen, um den jungen Menschen zu zeigen: Leistung lohnt sich nicht. Das ist Ihre Bildungspolitik und Ihr einziger trauriger Beitrag zur Fachkräftediskussion in Deutschland. ({6}) Energiepolitik. Gerade nach der letzten Woche finde ich Ihre Haltung wirklich bemerkenswert. Sie blockieren doch jede Reform, jeden kleinen Fortschritt bei der Verbesserung der Förderung der erneuerbaren Energien im Sinne von Bezahlbarkeit. ({7}) Ich sage Ihnen: Sie sind durch Ihre Politik verantwortlich dafür, wenn in den nächsten Monaten die Strompreise steigen. Sie sind für jede künftige Strompreissteigerung in Deutschland verantwortlich. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Ich bin jetzt so schön drin. Nein, vielen Dank.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gut.

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Nehmen wir uns einmal das Beispiel Belastungen vor. Wenn wir Ihnen vorwerfen würden, dass Sie den Mittelstand belasten, dann könnten Sie sagen: Nein, es ist die Aufgabe der Regierung, etwas für den Mittelstand zu tun. ({0}) Die taz von heute - ja, ich gebe zu, ich muss mich outen, auch ich lese die taz ({1}) hatte eine dazu passende Überschrift. Es geht in dem Artikel um die Belastungen durch Rot und Grün, insbesondere durch die Grünen und die Dinge, die Sie morgen und am Wochenende auf Ihrem Bundesparteitag beschließen wollen. Die Überschrift lautet: „Grün am Steuer, das wird teuer“. ({2}) All das, was Sie vorhaben, bedeutet 40 Milliarden Euro Belastungen für den Mittelstand, für die gesellschaftliche Mitte; dazu kommen noch die neuen Pläne der Grünen. Das ist Ihre Mittelstandspolitik für Deutschland. ({3}) Schauen Sie sich den Bereich Forschung und Technologie an. Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Es gilt als Goldstandard der Innovationsförderung im Mittelstand. Was ist Ihr Beitrag gerade für junge Unternehmen, die hochkreativ sind, die hochinnovativ sind? Stichwort Wagniskapital. Sie haben durch Ihre Politik im Bundesrat zunächst verhindert, dass es volles Gründungskapital für junge Start-up-Unternehmen gibt, weil Sie als Allererstes genau dieses Streubesitzkapital, dieses Gründungskapital besteuern wollten. So sieht Ihre Innovationsförderung aus. Das ist eine Schande, und das schadet gerade den neuen Unternehmen in Deutschland. ({4}) Neue Märkte, neue Chancen. In jeder Debatte im Wirtschaftsausschuss wird aufs Neue kritisiert, dass der deutsche Mittelstand exportstark ist, dass unsere Produkte, Dienstleistungen und Technologien nachgefragt werden. Da wird kritisiert, dass wir Außenhandelsbilanzüberschüsse haben. ({5}) Diese wollen Sie reduzieren. Es ist kein Nachteil, wenn man Überschüsse hat, sondern das ist ein Beweis für die Leistungsfähigkeit unseres Mittelstandes in Deutschland. ({6}) Abschließend. Herr Kollege Heil, Sie haben hier mit Grabesstimme eine Grabesrede auf den Mittelstand gehalten. ({7}) Das ist für Ihre Mittelstandspolitik bezeichnend. Erst haben Sie den Mittelstand nicht wahrgenommen, dann haben Sie ihn im Bundesrat bekämpft. Aber die Krönung ({8}) war das Thema „IHK und Übergabe der Präsidentschaft“; Sie haben davon berichtet. Ihr Spitzenkandidat war dort ({9}) er ist ja sonst sehr geschickt - und hat den Unternehmern, dem versammelten Mittelstand in Deutschland, erzählt, dass er - Punkt eins - eigentlich gar keine Steuererhöhungen will ({10}) und dass er - Punkt zwei - eine Vermögensteuer ohne Substanzbesteuerung will. ({11}) Ich glaube, er glaubt selber nicht daran, meine Damen und Herren. Es fängt langsam an, dass Rote, Grüne und Linke den Mittelstand in Deutschland verhöhnen. Das ist Ihre Mittelstandspolitik, und das, meine Damen und Herren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Heil das Wort.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister Rösler, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie nicht souverän genug waren, eine Zwischenfrage zuzulassen. ({0}) - Herr Präsident, muss ich mich vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion bleidigen lassen? ({1}) Ich bitte, das im Protokoll nachlesen zu lassen. Herr Kauder, Sie können sich ja nachher entschuldigen, wenn Sie die Größe dazu haben. ({2}) Lesen Sie diesen Begriff bitte im Protokoll nach. Wir können das ja nachher miteinander klären. Jetzt zur Sache. Herr Rösler, ich habe mich zu Wort gemeldet, um mit Ihnen über Energiepolitik zu sprechen, weil ich eigentlich den Eindruck hatte, dass Sie neben Herrn Altmaier in den letzten Jahren der dafür zuständige Minister gewesen sind. Herr Altmaier hat einen Vorschlag gemacht, den er nicht mit Ihnen abgestimmt hat, unter dem Stichwort „Strompreisbremse“. Ich sage Ihnen: Wir sind bei diesem Thema nach wie vor zu Verhandlungen bereit, und wir haben konkrete Vorschläge gemacht. Wir haben gesagt: Wir sind bereit zu Sofortmaßnahmen beim EEG, um den Anstieg der EEG-Umlage zu bremsen. Wir haben gesagt: Wir sind bereit, darüber zu reden, wie wir die Befreiungstatbestände bei den Ausnahmen für energieintensive Betriebe mit Augenmaß regeln können. Außerdem haben wir den Vorschlag gemacht, die Stromsteuer zu senken. Das sind konkrete Vorschläge. Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie, weil Sie als zuständiger Minister sich nicht mit Herrn Altmaier einig sind - das ist ein Teil des Problems der Energiewende -, von Ihrer Uneinigkeit ablenken wollen, indem Sie versuchen, den Schwarzen Peter anderen zuzuschieben. Sie tragen als Regierung seit 2009 in Deutschland die Verantwortung für die Energiepolitik. Sie sind Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie sind Zickzack gefahren und haben die Planungs- und Investitionssicherheit kaputtgemacht. Deshalb meine ganz klare Bitte, Herr Rösler: Erzählen Sie dem deutschen Mittelstand keine Märchen, wenn die EEG-Umlage und die Energiepreise im Herbst dieses Jahres, vielleicht auch schon im August, massiv steigen werden. Sie sind dafür verantwortlich, niemand sonst. ({3}) Zeigen Sie nicht mit dem Finger auf andere! Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie es in vier Jahren nicht geschafft, gemeinsam als Regierung einen klaren Vorschlag im Hinblick auf ein neues Strommarktdesign bzw. eine neue Ordnung am Strommarkt zu machen? Im Bereich der Energiepolitik sind Sie eine Nichtregierungsorganisation. Übrigens habe ich keine Grabesrede auf den Mittelstand gehalten. Wir haben einen starken und guten Mittelstand. Wenn Sie zugehört hätten - das haben Sie vielleicht nicht getan; das kann sein -, hätten Sie gehört, dass ich gesagt habe: Der Mittelstand in Deutschland ist nicht schwach; er ist stark und gut aufgestellt. Aber er ist darauf angewiesen, dass die Politik bzw. die Bundesregierung Rahmenbedingungen schafft, vor allen Dingen im Bereich der Energiepolitik, die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit gewährleisten. Hier zeigt sich Ihr Versagen, Herr Rösler. Davon können Sie nicht ablenken, indem Sie mit dem Finger auf andere zeigen. Sie haben ausgespielt, gerade in der Energiepolitik. Wir brauchen einen Neuanfang. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister Rösler, zur Erwiderung.

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Ich darf zunächst einmal Ihren Parteivorsitzenden, den Kollegen Sigmar Gabriel, zitieren. ({0}) Er hat in einer Debatte, die schon etwas länger her ist, gesagt: Wer die ganze Wahrheit kennt, aber nur die halbe Wahrheit nennt, ist trotzdem ein ganzer Lügner. ({1}) Herr Kollege Heil, Sie haben sehr schön dargelegt, was Sie alles angeboten haben. Das ist auch alles richtig. Nur, am Ende haben Sie nichts gemacht. ({2}) In all den Diskussionen und Verhandlungen, die wir geführt haben, waren Sie dagegen, haben blockiert oder verhindert. Ich sage Ihnen: Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({3}) Wir haben Vorschläge gemacht, um die Förderung der erneuerbaren Energien effizienter auszugestalten; um herauszukommen aus dem bisherigen System; um die Bezahlbarkeit sicherzustellen. Bei all diesen Maßnahmen waren Sie am Ende dagegen. Deswegen sage ich Ihnen nochmals: Sie - SPD, Grüne und Linke - werden für alle künftigen Strompreissteigerungen allein verantwortlich sein. ({4}) Denn Sie haben im Bundesrat zusammengearbeitet - so viel also dazu, dass SPD und Grüne auf Bundesebene nicht mit den Linken zusammenarbeiten wollen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, Herr Minister Rösler, bei Ihnen beiden ist im Zusammenhang mit dem Mittelstand das Wort „Geisteshaltung“ vorgekommen. Ich konstatiere: Mittelstand ist für Sie etwas, was sich im Geiste abspielt, ({0}) aber nicht etwas, was in konkrete Maßnahmen mündet. Das ist der große Unterschied zwischen dem, was Sie dem Mittelstand anbieten, und dem, was der Mittelstand braucht. ({1}) Wir brauchen eine konkrete Politik für den Mittelstand. Herr Rösler, die Jacke muss ja ganz schön brennen, wenn Sie hier derartige Pappkameraden aufbauen und dann beschießen: wenn Sie so tun, als ob die SPD etwas vorschlüge, was Sie zu bekämpfen hätten. Ich möchte das im Einzelnen einmal durchdeklinieren. Erster Punkt. Der Mittelstand braucht eine verlässliche Basis, was die Finanzierung anbetrifft. Die SPD ist angetreten, den Wählerinnen und Wählern deutlich zu machen, wie wir das Geld, das der Mittelstand braucht - zum Beispiel für seine wirtschaftsnahe Infrastruktur -, beschaffen wollen. Wenn die SPD einschließlich ihres Kanzlerkandidaten deutlich sagt: „Der Mittelstand soll gestärkt werden, der Mittelstand soll entlastet werden, der Mittelstand soll auf Verlässlichkeit und Planbarkeit setzen können“, und wenn wir sagen: „Wir werden den Mittelstand nicht in seiner Substanz besteuern“, dann können Sie, Herr Rösler, hier nicht immer wieder diesen zusammengeleimten Pappkameraden aufstellen und so tun, als müssten Sie ihn beschießen. ({2}) Das Zweite. Sie behaupten gebetsmühlenartig, dass wir im Bundesrat etwas verhindern würden, was dem Mittelstand nützt. ({3}) Gehen wir das einmal im Einzelnen durch: Der Mittelstand braucht die energetische Sanierung der Gebäude. Am Verhandlungstisch sitzen zwei Parteien: auf der einen Seite der Bund, auf der anderen Seite die Länder. Der Bund hat ein Konzept für eine steuerliche Entlastung vorlegt, dessen Umsetzung die Länder Hunderte von Millionen Euro kosten würde. ({4}) Das können die Länder im Zusammenhang mit der Schuldenbremse nicht stemmen. Die Bundesregierung hat die Mittel für das KfW-Programm - die KfW ist die Hausbank des Mittelstands - zurückgezogen. Dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Länder gegen Ihre Vorschläge stimmen. Sie sind diejenigen, die mit ihrem schlechten Programm zur energetischen Gebäudesanierung die Verhinderung im Bundesrat provoziert haben; deswegen wird dem Mittelstand das Geld nicht zukommen. So wird eine Wahrheit daraus. ({5}) Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der kalten Progression. Auch da wiederholen Sie gebetsmühlenartig, der Bundesrat sei schuld, dass die kalte Progression nicht bekämpft werden könne. Dabei wissen Sie genau, dass die Gelder, die dafür nötig wären - es geht um reichlich 1 Milliarde Euro -, nicht vorhanden sind. Die Länder wissen nicht, woher sie dieses Geld nehmen sollen - es sei denn, Sie würden die unsägliche und sinnlose „Hotelsteuer“ abschaffen und die dadurch zusätzlich eingenommenen Gelder dafür einsetzen. Dann hätten Sie wahrscheinlich den Bundesrat einschließlich der rot-grünen Länder an Ihrer Seite. ({6}) Wenn man danach fragt, was Sie für den Mittelstand tun, muss man auch hier wieder sagen: Fehlanzeige. Wir wollen etwas für den Mittelstand tun, auch bei den Finanzen. Gehen wir ein weiteres Feld durch: Herr Brüderle, Sie haben keinen einzigen Satz zur Fachkräftesituation und zum demografischen Wandel gesagt. Wenn Sie tatsächlich - so wie wir - in den letzten Wochen und Monaten mit Mittelständlern geredet hätten, dann wüssten Sie: Für den Mittelstand ist das ein drängendes Problem. Dieses Problem hat drei Facetten. Erstens. Wir müssen für bessere Bildung sorgen. Woher soll das Geld dafür kommen? Das Kooperationsverbot haben Sie nicht angefasst. Wir werden es anfassen. ({7}) Wir wollen, dass es eine Ausbildungsgarantie gibt, dass junge Leute die Schule nicht ohne Abschluss verlassen. Zweitens. In einer Debatte vor zwei Jahren, als Sie eine Art Mittelstandspapier eingebracht haben, im Fe29666 bruar 2011, haben Sie gesagt - ich habe es noch einmal nachgelesen -: Wir wollen mehr Frauen in den Chefsesseln. - Das ist interessant im Hinblick auf die Debatte in der letzten Woche. Was tun Sie eigentlich, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Freizeit zu erleichtern? Sie schaffen ein Betreuungsgeld. Dieses Betreuungsgeld gehört aber abgeschafft, damit wir hier vorankommen. ({8}) Drittens. Es stellt sich die Frage, wie wir, wenn das gesamte Potenzial nicht reicht und wir das Potenzial der älteren Arbeitnehmer ausgeschöpft haben, auch Menschen aus dem europäischen, dem internationalen Raum zu uns holen können. Was tun Sie? Fehlanzeige! Die Bluecard ist ein Witz. Ich habe im Tagesspiegel unlängst von einem jungen Mann gelesen, Herrn Shaam, einem Harvard-Studenten, der hierher gekommen ist. Er kann kein Konto eröffnen, weil er keinen Wohnsitz hat, und weil er kein Konto hat, bekommt er keine Wohnung. Er dreht sich im Kreise. Nur weil es Leute gibt, die ihn privat unterstützen, konnte er hier überhaupt aktiv sein und mittlerweile 14 Arbeitsplätze schaffen. Was tun Sie eigentlich dafür, dass Deutschland eine Willkommenskultur für diejenigen hat, die wir hier dringend brauchen? Fehlanzeige, Herr Minister, und Sie müssten das aufgrund Ihrer Vita eigentlich besser wissen. ({9}) Ein weiteres Thema ist die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Wir verhandeln heute indirekt zum Beispiel auch über Public-private-Partnership. Was ist aus diesem Instrument geworden? Schauen Sie sich einmal die Firma „Partnerschaften Deutschland“ an, die wir gegründet haben. Die Anzahl der Projekte im Bereich PPP ist nahe null. Das verantworten Sie. Dieses Finanzierungsinstrument, das nicht zuletzt auch für die Kommunen segensreich ist, haben Sie sträflich vernachlässigt. Wir werden das ändern und dieses Instrument dort, wo es sinnvoll ist, wieder einsetzen. ({10}) Ich komme nun zum Thema Energie. Herr Brüderle, wenn Sie zu den Unternehmern gehen - wir haben das in der letzten Zeit getan -, dann hören Sie dort immer wieder die Frage: Wie können wir die Energiepreise bezahlbar halten? - Wir haben hier Vorschläge auf den Tisch gelegt. Was findet man bei Ihnen? In Ihrem Antrag steht doch tatsächlich: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Energiewende mit … Augenmaß umzusetzen … Na, großartig! ({11}) Toll! Das spiegelt Ihre Geisteshaltung wider: Man soll es mit Augenmaß machen. Wo sind die konkreten Projekte, zum Beispiel dafür, das EEG so zu reformieren, dass aus dem Markteinführungsinstrument ein Marktdurchdringungsinstrument wird, und dafür, dass die Energienetze genauso wie die IT und die Infrastruktur im Hinblick auf die Mobilität vorangetrieben werden? Fehlanzeige! Chaos zwischen den Ministerien! Keine Abstimmung zwischen Europa, dem Bund, den Ländern und den Regionen! Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem Chaos kann der Mittelstand in Zukunft nicht zum stabilen Anker für die Volkswirtschaft werden. Deshalb wenden sich immer mehr Mittelständler unserer Politik zu. Das haben wir in den letzten Monaten erfahren. ({12}) Wir hoffen, dass wir recht bald all das, was Sie in unseren Anträgen und in unserem Mittelstandspapier lesen, durchsetzen können. ({13}) Der Mittelstand ist sowohl mit seinen Stärken als auch mit seinen Sorgen, Nöten und Befürchtungen bei der SPD besser aufgehoben als bei Schwarz-Gelb. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lena Strothmann von der CDU/CSU-Fraktion ist die nächste Rednerin. ({0})

Lena Strothmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen, Herr Bartsch: Dass wir in Deutschland keinen gesetzlichen Mindestlohn brauchen, zeigt doch eigentlich das Beispiel des Friseurhandwerks sehr deutlich. Die Verantwortlichen haben das auch so bestens hinbekommen. ({0}) Deutschland geht es gut: Den Menschen in unserem Land geht es gut, die Betriebe in Mittelstand und Handwerk haben volle Auftragsbücher, und sie schauen zuversichtlich in die Zukunft. Der gesamte deutsche Mittelstand ist seit Jahren stabil. Die mittelständischen Unternehmen in Deutschland - das sind 99 Prozent aller Unternehmen - haben ihre Leistungsfähigkeit immer wieder bewiesen. Noch nie in der deutschen Geschichte waren so viele Menschen in Beschäftigung, noch nie wurde ein höherer Wohlstand erreicht. Dass wir solch einen Satz einmal in einen Antrag schreiben können, hätten wir nie gedacht und macht uns stolz. ({1}) Wir sind vor allen Dingen stolz auf unseren Mittelstand. In Deutschland hat der Mittelstand eine besondere Ausprägung. Hier liegt ein Unterschied zu unseren europäischen Nachbarn. Auch in anderen Ländern gibt es viele kleine und mittlere Betriebe; aber bei uns ist die hohe Qualität der Arbeit der Standard. Die Treue zu den Mitarbeitern ist fest verankert, und die Ausbildungsquote ist hoch, höher als in der Industrie. ({2}) Das unternehmerische Denken ist geprägt von Verantwortung, besonders im Handwerk auch von Familienstrukturen. Rendite um jeden Preis ist nicht das oberste Ziel. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Krise 2008/2009 hat es sich gezeigt: Es gab wenig Entlassungen. Die Verbraucher waren unbeeindruckt und sorgten für eine gute Binnenkonjunktur. Es gab keine Kreditklemme, und die Betriebe haben relativ schnell wieder investiert. - Das ist die Basis für unseren Wohlstand in den letzten Jahren. Wir wollen diese Basis erhalten und vor allen Dingen stärken. Steuererhöhungen, wie SPD und Grüne sie planen, sind schädlich. Denn Mittelständler können rechnen. Einen Euro kann man eben nur einmal ausgeben: für Steuern und Abgaben oder eben für Arbeitsplätze und Investitionen. Mittelstand braucht also keine Steuerandrohung, er braucht Unterstützung, zum Beispiel bei der Fachkräftesicherung. Wir stecken schon mittendrin im Fachkräftemangel. In vielen Branchen werden schon jetzt Mitarbeiter gesucht, der Markt ist praktisch leergefegt, und es wird immer schwieriger, Stellen zu besetzen. Deshalb ist die Fachkräftesicherung das A und O. Das setzt aber voraus, dass wir junge Menschen zu Fachkräften ausbilden. Das Handwerk weiß das und tut das bereits seit Jahren. Aber im letzten Jahr konnten 15 000 Lehrstellen im Handwerk nicht besetzt werden, und im gesamten Mittelstand waren es schätzungsweise 60 000. Das finde ich alarmierend. ({3}) Deshalb werben wir intensiv um Nachwuchs. Wir brauchen die jungen Menschen als Fachkräfte, für Führungspositionen, als Betriebsgründer, aber eben auch für Betriebsübernahmen. Denn jedes Jahr stehen über 20 000 Handwerksbetriebe zur Übergabe an, weil die Inhaber das Rentenalter erreicht haben. Geeignete Nachfolger zu finden, wird immer schwieriger. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mittelstand, das Handwerk sind bei der Ausbildung sehr engagiert. Die Ausbildungsquote beträgt im Handwerk fast 10 Prozent. Das ist herausragend, und das muss auch so bleiben. ({4}) Wir stellen aber auch einen Trend zu mehr Bildung fest. Immer mehr junge Menschen wollen Abitur machen. Das ist gut so. Aber Deutschland ist auch ein Industrieland. Wir brauchen mehr gewerblich-technische Fachkräfte. Jugendliche mit gewerblich-technischen Ausbildungen haben auf dem Arbeitsmarkt, was den Mittelstand angeht, die besten Chancen, und sie haben dort viele individuelle Aufstiegsmöglichkeiten, die vielen leider nicht bekannt sind. Deshalb kommt der Berufsorientierung in den Schulen ein wichtiger Part zu. ({5}) Hier kommen Schüler und Lehrer oft zum ersten Mal mit Mittelstand und Handwerk in Berührung. Allein im Handwerk gibt es über 130 Ausbildungsberufe. Nach dem Gesellenbrief gibt es noch viele weitere Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten und ebenso gute Verdienstmöglichkeiten. Auch viele Eltern kennen die Chancen des dualen Systems für ihre Kinder nicht. Deshalb kooperieren viele Betriebe schon mit regionalen Schulen, zum Teil auch mit Kindergärten. Ich glaube, das ist der richtige Weg. ({6}) Wir müssen einfach mehr für die duale Ausbildung bei unseren Jugendlichen werben. Andere Länder mit einem verschulten Berufsbildungssystem und einer akademisierten Bildung haben derzeit eine sehr hohe Zahl arbeitsloser Jugendlicher. Der Zusammenhang ist offensichtlich: Unser Mittelstand und das duale System verhindern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in unserem Land. Auch das gehört zum Erfolgsrezept des „German Mittelstand“. Obwohl das duale System bereits seit vielen Jahren als Exportschlager gilt, waren unsere Nachbarn bislang sehr zögerlich mit der Einführung. Ein Grund dafür war zum Beispiel, dass es natürlich Geld kostet - für den Staat, aber vor allen Dingen auch für die Betriebe. Noch schrecken die Betriebe zurück; sie erkennen aber zunehmend die Chancen. Ich würde es begrüßen, wenn sich das duale System schneller europaweit durchsetzen würde. ({7}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gehört aber auch zu einer ehrlichen Debatte über die Fachkräftesicherung, dass wir sowohl gute Ausbilder als auch genügend Ausbilder brauchen. Ausbilder sind im Handwerk unsere Meister. Das duale System und der Meisterbrief gehören zusammen, und alle Versuche in Brüssel, den Meisterbrief auszuhöhlen, sollten wir gemeinsam im Keim ersticken. ({8}) Die Meisterfortbildung ist nicht nur eine Ausbilderschulung, sondern auch eine Unternehmerschulung. Hier wird das Rüstzeug für Gründung und Leitung eines Unternehmens erworben. Aber leider gehen die Gründerzahlen im Handwerk zurück. Gerade Firmengründungen sind wichtig, weil damit Wachstum und Beschäftigung erhalten werden. Leider ist in Deutschland die Kultur der Selbstständigkeit noch nicht so stark ausgeprägt wie in anderen Ländern. Selbstständigkeit und Unternehmertum erfordern Einsatz und Verantwortung; sie sind aber auch immer ein Risiko. Deshalb verdient jeder, der diesen Schritt wagt, Unterstützung und Anerkennung. ({9}) Die Regierungskoalition und die Bundesregierung geben diese Unterstützung. Wir fördern Existenzgründer, Innovationen und neue Ideen, wir geben Entfaltungsmöglichkeiten und helfen bei der Finanzierung. Wir helfen ausbildungswilligen Betrieben, und wir tragen zur Fachkräftesicherung bei. Der Mittelstand in Deutschland wird deswegen auch in Zukunft stark bleiben. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland Claus nun das Wort. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, dass Sie nicht liefern im Amte, daran haben wir uns hier leider alle schon irgendwie gewöhnt. Aber dass Sie jetzt die Folgen Ihres Lieferstreiks bei der Opposition abladen wollen, das ist schon ein starkes Stück, das wir so nicht hinnehmen können. Das müssen wir Ihnen einmal sagen. ({0}) In schöner Regelmäßigkeit wird vor anstehenden Wahlen hier im Parlament die Verneigung vor dem Mittelstand zelebriert. Der Mittelstand ist da skeptisch geworden. Ich verweise darauf, dass am heutigen Tage die größte Versammlung der Mittelstandsförderer in Dresden stattfindet. Ich meine den Sparkassentag in Dresden. Von den Sparkassen kann man mit Blick auf den Mittelstand durchaus sagen: Sie tun etwas, sie liefern; sie verdienen unsere Anerkennung und Unterstützung. ({1}) Die Sparkassen haben zu einem breiten Dialog eingeladen. Alle Foren, die in diesen Tagen dort stattfinden, sind per Internet für die Öffentlichkeit zugänglich; es ist zum Mitmachen eingeladen. Meine Partei hat in Dresden gestern einen solchen Beitrag zum Mitmachen geleistet, indem sie ihre Position zur Mittelstandsförderung eingebracht hat. Sie hat gesagt: Internet ist ja nicht schlecht, aber man kann ja auch einmal persönlich hingehen. - Deshalb haben die Vertreter der Linken unsere Position dort deutlich gemacht und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sparkassentages sehr herzlich begrüßt. ({2}) Meine Damen und Herren, die Linke steht für eine Wirtschafts- und Mittelstandspolitik, die kleinen und mittelständischen Unternehmen und Existenzgründern Chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft, von der Beschäftigte auch sorgenfrei leben können, und die so zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Kleiner geht es bei uns nicht. Ich will, wie auch mein Kollege Dietmar Bartsch, auf die Situation der ostdeutschen Mittelständler verweisen. Ich glaube nämlich, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen im Osten über spezielle Transformationserfahrungen verfügen, das heißt über spezielle Erfahrungen im Bewältigen von besonders schwierigen Umbruchsituationen. Sie mussten ohne große Geldgeber in die Selbstständigkeit, in die wirtschaftliche Entwicklung gehen. Wir haben im Osten nach wie vor keine einzige große Firmenzentrale. Wir haben dort im Niedriglohnbereich einen Anteil von über 40 Prozent, das Doppelte dessen, was wir im Bundesdurchschnitt haben. Deshalb sind sehr viele Unternehmen darauf angewiesen, neue Entwicklungspfade beim sozial-ökologischen Umbau zu suchen, neue Entwicklungspfade zu finden, von denen wir bundesweit viel stärker profitieren könnten, wenn wir diesen Erfahrungsvorsprung denn auch anerkennten. ({3}) Wir müssen uns zudem auf ein schwieriges Problem einstellen: Viele dieser jungen Unternehmen sind in der Nachwendezeit entstanden, wenn man so will, unter den Bedingungen einer Nachwendenarkose. Jetzt steht der Generationswechsel an der Spitze an - die Narkose wirkt zum Glück nicht mehr -, und es bedarf anderer Rahmenbedingungen. Ich wünschte mir, dass wir die Kraft fänden, diese gemeinsam zu gestalten. Natürlich könnten wir solche Erfahrungen wie die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung aus dem Osten viel stärker nutzen und sagen: Die Kinderbetreuung im Westen soll zumindest auf Ostniveau gebracht werden. ({4}) Es ist für die örtlichen Kleinunternehmen natürlich gut, wenn die Kommunen etwas zu sagen haben, wenn die Kommunen über Eigentum verfügen, wenn die Stadtwerke der Stadt gehören und nicht irgendwelchen fremden Besitzern. Seinem Stadtrat kann der Malermeister noch auf der Straße begegnen, einem Fondsmanager aber nicht. Deshalb der Antrag der Fraktion Die Linke, die Daseinsvorsorge zurück in die öffentliche Hand zu geben. Rekommunalisierung nennen wir das. ({5}) Es gibt da wirklich kuriose Vorgänge. Ich traf letztens die Bürgermeisterin von Coswig. Sie hat zwei Jahre lang vergeblich versucht, den Besitzer des Bahnhofs in Coswig ausfindig zu machen. Es ist ihr nicht gelungen. Der Bahnhof ist an irgendjemanden verscheuert worden, und den Eigentümer konnte sie nicht in Erfahrung bringen. ({6}) Noch schlimmer wird es dann, wenn man einem Bürgermeister die Frage stellt: „Wem gehört eigentlich euer Rathaus?“, und der Bürgermeister muss daraufhin antworten: Das weiß ich nicht, aber das ist eine gute Frage. ({7}) Deshalb sind wir der Auffassung, dass ÖPP- bzw. PPP-Konstrukte final gescheitert sind, also die Versuche, die öffentliche Daseinsvorsorge in die Hände von Finanzmärkten zu geben. ({8}) Der Weg aus der Sackgasse beginnt in der Sackgasse, nämlich mit dem Eingeständnis: Raus komme ich hier nur, wenn ich zurückgehe. Die größte Gefahr für den Mittelstand - darauf will ich auch hinweisen - geht momentan von den internationalen Finanzmärkten und besonders den Schattenbanken aus. Deren Philosophie ist es, weltweit aus der Wertschöpfung anderer Profit zu ziehen, ohne selbst je den Anspruch zu erheben, Werte zu schöpfen. Diese Banken sind natürlich auf das aus, was vom Mittelstand geleistet wird. Warren Buffett hat deshalb diese Instrumente auch einmal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ genannt. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik wird erst dann wieder möglich sein, wenn diese Übermacht der Finanzmärkte über die Realwirtschaft gebrochen wird. ({9}) Da versagt diese Bundesregierung natürlich auf der ganzen Linie. Das ist eigentlich kein Wunder. Wir haben es hier nämlich mit einem Bundesminister zu tun, der als Bundeswirtschaftsminister mit der linken Hand Fördermittel verteilt und dann als Parteivorsitzender mit der rechten Hand Spenden einkassiert. Da muss man sich nicht wundern, wenn dabei eine wirkliche Regulierung von Finanzmärkten ausbleibt. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Claus, würden Sie einmal einen Blick auf die Uhr werfen?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das tue ich gerne und komme zum Schluss. - Ich gehe im Moment davon aus, dass ich Sie von unserem Antrag überzeugen konnte und dass Sie deshalb zustimmen: für die Stärkung von Mittelstand und Kommunen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von Wirtschaftsminister Rösler war mehr als überraschend; denn der Minister hat dargestellt, dass für das Handeln der Regierung, was die Energiepolitik angeht, SPD und Grüne verantwortlich sind. Ich glaube, Herr Minister, Sie haben ein paar ganz grundsätzliche Dinge nicht verstanden. Sie sind Minister und Teil der Regierung und haben deshalb den Auftrag, die Politik dieses Landes mitzugestalten, statt hier Polemik zu verbreiten. ({0}) Ich komme nun zu dem Punkt, über den heute eigentlich debattiert werden sollte, nämlich zum Thema PPP. Ob eine Regierung mittelstandsfreundlich ist oder nicht, erkennt man nicht daran, ob ein Herr Brüderle im Bundestag die heute-show imitiert, sondern eine solche Regierung erkennt man an ihrem konkreten Handeln. Wie das ausschaut, können wir am Beispiel PPP wunderschön sehen. Was macht die Regierung? Sie setzt einen ganzen Haufen PPP-Projekte im Bereich Autobahnen um. Diese dienen erstens dazu, die Schuldenbremse zu umgehen, was schon einmal ein Skandal an und für sich ist. ({1}) Sie dienen zweitens dazu, den Mittelstand aus dem Bereich Straßenbau herauszuhalten. ({2}) Warum? Wie funktionieren diese Modelle? Diese Modelle funktionieren so, dass sich der Staat nicht mehr bei den Banken, sondern bei großen Baufirmen bzw. großen Konsortien verschuldet, damit diese dann für die öffentliche Hand beispielsweise Autobahnen erweitern oder ausbauen. Neben der Tatsache, dass PPP als Vorfinanzierung missbraucht wird, um so die Vorgaben der Schuldenbremse zu umgehen, ist ein weiterer Effekt, dass sich der Mittelstand nicht mehr direkt beteiligen kann; denn die Projekte haben in der Regel ein Konzessionsvolumen von 400 Millionen bis 1 Milliarde Euro. Mittelständler sind damit ausgeschlossen. Ein weiterer Effekt ist de facto eine Oligopolbildung in diesem Bereich. Die öffentliche Hand zahlt unglaub29670 lich viel für solche Projekte. Die Kosten fallen allerdings über 30 Jahre verteilt an. Deswegen hat der Bundesrechnungshof klar gesagt, dass PPP-Projekte zukünftig nur noch durchgeführt werden sollten, wenn sie wirtschaftlich sind. Was ist daraus zu schlussfolgern? Dass die bisherigen PPP-Projekte im Autobahnbereich eben nicht wirtschaftlich waren. Warum macht man das Ganze dann? Weil sich so die Vorgaben der Schuldenbremse umgehen lassen. Man könnte ehrlicher vorgehen und die entsprechenden Projekte in vernünftigen Losgrößen ausschreiben, sodass sich auch der Mittelstand beteiligen kann. Aber dann müsste man zum Finanzminister gehen und sagen, dass man für die entsprechenden Autobahnprojekte Geld braucht, oder man müsste sich die eine oder andere Umgehungsstraße sparen, weil man sie sich dann nicht mehr leisten kann. Aber nein! Was macht man? Man macht riesige Projekte, die unglaublich aufwendig sind und nur noch von den größten Baufirmen zu stemmen sind. Man umgeht also die Vorgaben der Schuldenbremse, sorgt für wunderschöne Gelegenheiten, Bändchen bei Autobahneröffnungen durchzuschneiden, und verschiebt die Finanzierung in die Zukunft. Das ist nicht mittelstandsfreundlich, sondern eine finanzpolitische Frechheit. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ernst Hinsken der nächste Redner. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt, dann gewinnt man zum Teil den Eindruck: Hier reden welche, die vom Mittelstand überhaupt nichts verstehen. ({0}) Sie vermitteln den Eindruck, als lebten Sie in einer anderen Welt. Sie sind nicht bereit, anzuerkennen, was Großartiges gerade in den letzten Monaten und Jahren für den Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland unter Leitung des tüchtigen Wirtschaftsministers Rösler geleistet worden ist. ({1}) Das, was mein Kollege von Stetten und Frau Kollegin Strothmann, immerhin Präsidentin einer Handwerkskammer, hier ausgeführt haben, hat sich von Ihren Reden, meine Damen und Herren von der Opposition, wohltuend abgehoben. Ich möchte aber nicht alleine Aussagen darüber treffen, wie es um den Mittelstand steht, sondern ich möchte in diesem Fall andere sprechen lassen. Der BDI-Präsident Grillo hat am 14. April 2013 gesagt: „,German Mittelstand‘ ist im Ausland eine echte Marke unseres Industriestandortes.“ BDA-

Not found (Mitglied des Präsidiums)

„Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung stehen dabei für eine hervorragende Politik.“ BDI-

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„Wir sehen gute Chancen, dass die deutsche Wirtschaft … deutlich an Fahrt gewinnt.“ Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Otto Kentzler, hat ausgeführt: „Das Handwerk ist zuversichtlich und blickt positiv in die Zukunft.“ Das sind Aussagen von Verbandsvertretern, die in vorderster Linie stehen und wissen, wo der Schuh drückt. Sie wissen, was sie sagen. Sie würden uns ins Gewissen reden, wenn die Lage nicht so wäre, wie sie sein sollte. Aber tatsächlich ist alles gut. Diese Verbandsvertreter sind bereit, anzuerkennen, was sich getan hat. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind dazu nicht bereit. ({0}) Ja, der Mittelstand ist das Bollwerk der Wirtschaft. Mithilfe eines leistungsfähigen Mittelstandes haben wir die Krise mit am besten bewältigt. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen haben in den vergangenen Jahren maßgeblich zur deutschen Erfolgsgeschichte beigetragen. Mein Resümee: Es lohnt sich ersichtlich, Politik für den Mittelstand zu machen; denn dieser ist nirgendwo stärker ausgeprägt als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden überall gerade um diesen starken und tüchtigen Mittelstand beneidet. Andere sind dabei, einen Mittelstand aufzubauen. Wir haben ihn, wir setzen auf ihn und geben ihm Freiheit. Wir wollen die Mittelständler unterstützen, damit sie sich weiterhin großartig entfalten können. ({1}) Zum Beweis dafür möchte ich anführen, dass die Anzahl der kleinen Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Umsatz unter 1 Million Euro laut Unternehmensregister seit 2006 um 1,6 Prozent und gleichzeitig die der mittleren Unternehmen mit 10 bis 499 Beschäftigten und einem Umsatz zwischen 1 und 50 Millionen Euro um 4,1 Prozent gestiegen ist. Es ist wieder in, Mittelständler zu werden, in die Selbstständigkeit zu gehen. ({2}) Jahrelang haben wir für den Mittelstand gerungen und gekämpft. Wir haben den Leuten gesagt: Seid wieder bereit, selbst Aufgaben zu übernehmen, selbst in die Wirtschaft zu gehen, euch selbst zu entfalten. - Jetzt ist diese Situation erreicht, und die Zahlen liefern dafür einen eindeutigen Beweis. ({3}) Diese Bundesregierung schafft dafür die Rahmenbedingungen, natürlich auch unterstützt von unserem hervorragenden Kammersystem, das keinesfalls negativ gesehen werden darf. Unsere Kammern sind wichtig. Gäbe es sie nicht, müssten sie erfunden werden. Sie leisten als Körperschaften des öffentlichen Rechts für uns, den Staat, hervorragende Arbeit. Deswegen möchte ich hier ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum Kammersystem in der Bundesrepublik Deutschland ablegen. ({4}) Mittelständler sind Unternehmer und keine Unterlasser. ({5}) Sie nehmen die Herausforderungen an. Weil sie die Herausforderungen annehmen und weil sie erfolgreich sind - ich darf dabei auf den Sparkassenverband verweisen -, ist die Eigenkapitalquote der mittelständischen Unternehmen von 11,5 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell 20,7 Prozent angestiegen. Das ist fast eine Verdopplung. Die Wertschöpfung und die Erwerbstätigkeit waren in der deutschen Geschichte noch nie so hoch wie 2012. Die Zahl der Beschäftigten in kleinen und mittleren Betrieben mit weniger als 250 Mitarbeitern liegt um sage und schreibe 921 000 über dem Stand von 2009. Das war vor wenigen Jahren. Besonders erfreulich ist für mich, dass die Beschäftigungsaussichten weiterhin positiv bleiben. So rechnet der DIHK für das Jahr 2013 mit rund 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Das Handwerk rechnet mit einem Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent. Damit leistet der Mittelstand auch in diesem Jahr auf herausragende Weise einen namhaften Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungslage. Ich könnte hier natürlich noch Verschiedenes ausführen, vor allen Dingen was die Investitionen in Forschung und Entwicklung anbelangt. Auch dort können wir positive Zahlen vermelden. Das würde aber den zeitlichen Rahmen sprengen, sodass ich mich auf das beschränken möchte, was ich Ihnen als Botschaft zurufen möchte. Wenn ich bei einer Veranstaltung mit einem Mittelständler spreche und frage: „Was bedrückt dich denn?“, dann antwortet er: Zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie, zu hohe Sozialkosten, zu wenig Fachkräfte und zu hohe Energiekosten. Zu den Steuern. Wir arbeiten am Abbau der kalten Progression und wollen vor allen Dingen die Umsatzgrenzen für die Istbesteuerung anheben. Zur Bürokratie. Seit 2005 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 600 Gesetze und Verordnungen weniger registriert. Hier ist also ein Positivum zu verzeichnen. Mit den Erleichterungen bei den elektronischen handelsrechtlichen Bilanzveröffentlichungen und dergleichen mehr haben auch wir unseren Beitrag dazu geleistet, dass der bürokratische Unsinn so weit wie irgendwie möglich zurückgedrängt wird. Zu den Sozialkosten. Bei der Rentenversicherung haben wir eine Beitragssatzsenkung auf 18,9 Prozent vorgenommen. Das ist eine Entlastung um 6 Milliarden Euro: 3 Milliarden Euro bei den Arbeitnehmern, 3 Milliarden Euro bei den Unternehmern. Insbesondere davon betroffen ist der Mittelstand. Zum Thema Fachkräfte. Wir erschließen noch mehr inländische Fachkräfte und erleichtern die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch was die Energiekosten anbelangt - Herr Präsident, ich bin am Ende -,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Oh, das kann ich mir gar nicht vorstellen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- werden wir die Belastung für den Mittelstand auf einem vertretbaren Niveau halten. Das darf die Bevölkerung wissen, das darf der Mittelstand zur Kenntnis nehmen. Der Mittelstand kann sich auf uns verlassen. Er muss nur am 22. September richtig wählen, damit es so bleibt, wie es ist. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es für diese Regierung ein Arbeitszeugnis gäbe, dann würde darin stehen: Die Bundesregierung hat sich bemüht. ({0}) - Immerhin, Herr Kauder. - In der Zeugnissprache heißt dies - Wirtschaftsexperten wissen das -: auf der ganzen Linie versagt. ({1}) Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zur Situation des Mittelstandes kann auch nicht als Werbeblock bewertet werden. Das war auch schon so bei der Großen Anfrage zur Energiewende: keine Zahlen, keine Daten. Überhaupt fragt man sich, auf welcher Basis Sie eigentlich Politik machen. ({2}) Den Mittelstand landauf, landab als Rückgrat der deutschen Wirtschaft zu bezeichnen, sind viele schöne warme Worte. Aber eigentlich muss man sagen: Es ist schon interessant, dass unser robuster Mittelstand so erfolgreich war - trotz dieser Regierung. ({3}) Der Economist hat die Bedeutung des deutschen Mittelstandes ganz gut beschrieben - die haben das erkannt -: Du musst kein Silicon Valley Nerd in Flip-Flops sein, um erfolgreich zu sein. Unsere mittelständischen Unternehmen sind gut damit gefahren, dass sie bei ihren Leisten geblieben sind. Dem Mittelstand geht es bisher zwar gut, aber vor den Herausforderungen des demografischen Wandels, der Energiewende, der Finanzierungen und der Existenzgründungen verschließen Sie die Augen. Die neuesten Zahlen sprechen nämlich eine ganz andere Sprache. Der Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt, dass sich die Stimmung mehr und mehr eintrübt. Sie verschließen davor die Augen. ({4}) Die Fachkräftesicherung wurde schon mehrfach angesprochen. Sie nehmen das Potenzial von Frauen gar nicht wahr. Nein, Sie gewähren lieber ein Betreuungsgeld und finden es dann gut, wenn die Frauen zu Hause bleiben, und beklagen sich dann auch noch. Da brauchen wir doch gar nicht über die Frauenquote oder gar über gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu sprechen. Wenn Sie auf unsere Frage, was Sie denn tun, um Mädchen und junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, antworten, dann nennen Sie den Girls’ Day. - Dieser Tag ist übrigens heute. Unsere Girls’-Day-Mädchen sitzen jetzt hier auf der Tribüne und sind begeistert. ({5}) Weiter verweisen Sie auf „Jugend forscht“. Beides ist nicht auf Ihrem Mist gewachsen, und Sie haben nichts Neues hinzugesetzt. Sicherlich wurden viele Frauen, die in dieser Sache auf die Kanzlerin gesetzt haben, herb enttäuscht, weil da nicht mehr Schwung in die Frauenpolitik und die Arbeitspolitik gekommen ist. ({6}) Herr Kauder, heute schreibt das Handelsblatt zur Energiewende - das ist mein nächster Punkt -: Energiewende ist aus Sicht der Industrie größter Minuspunkt der Kanzlerin. Wie wahr! Das Auf und Ab dieser Bundesregierung in der Energiepolitik ist ein gewichtiger Risikofaktor für mittelständische Unternehmen geworden. Sie sind zur Investitionsbremse in dieser Branche geworden und schaden Deutschland. Das ist ein energiepolitisches Versagen dieser Regierung auf ganzer Linie. ({7}) Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Umweltverträglichkeit beschwören Sie zwar; aber Sie machen keine Politik, die auch zukunftsfähig ist. Es mangelt an Koordination zwischen Bund und Ländern und auch mit der europäischen Ebene. Ein Schelm, wer denkt, das sei Taktik. Strategie ist es sicherlich nicht. Langfristiges Denken ist für Sie ein Fremdwort. ({8}) Aus Nischen heraus sind unsere mittelständischen Unternehmen oftmals erfolgreich, nicht nur hier im Inland, sondern auch im Ausland. An dieser Stelle komme ich zur europäischen Rechtssetzung. Wenn Sie diesen Mittelstand immer so beschwören, dann hätten Sie sich auch einmal dafür einsetzen können, dass die Gesetzgebung in Brüssel etwas mittelstandsfreundlicher wird. Aber nichts dergleichen! Auch einen europäischen Normenkontrollrat - das zum Thema Bürokratieaufbau; Entschuldigung: Bürokratieabbau ({9}) haben Sie nicht erreicht. Sie bauen dagegen Bürokratie auf. Die Lage hochqualifizierter Arbeitskräfte wurde schon mehrfach angesprochen. Die steuerliche Forschungsförderung steht bei Ihnen im Koalitionsvertrag. Sie haben vier Jahre Zeit gehabt. Daraus ist nichts geworden. Erster Klasse beerdigt! ({10}) Wir fordern eine steuerliche Forschungsförderung, und zwar für kleine und mittlere Unternehmen - es soll keine Mitnahmeeffekte durch die großen geben -, mit einem wachstumsorientierten Personalkostenzuschuss. Damit leisten wir konkret Unterstützung für junge Unternehmen. Die können wirklich etwas damit anfangen. Sie können Personal für Forschung und Entwicklung einstellen und so innovativ unterwegs sein. Das ZIM wollen wir über 2013 hinaus fördern, ebenso Existenzgründungen. Wir sind wirklich fast Schlusslicht bei den Existenzgründungen; das hat sich massiv verschlechtert. Auch da haben Sie sich nicht mit Ruhm bekleckert. ({11}) Als Letztes möchte ich noch ein Wort zur europäischen Gesetzgebung sagen. Was den Mittelstand, kleine und mittlere Unternehmen sowie insbesondere das Handwerk, richtig trifft, ist die Umsetzung der Zahlungsverzugsrichtlinie. Zahlungsmoral fordern Sie ein. Das funktioniert bei uns in Deutschland, und Sie öffnen jetzt das Tor dafür, dass dieses Leitbild quasi fällt. Kleine Unternehmen kommen in Liquiditätsprobleme, weil Sie diese Richtlinie nicht richtig umsetzen. ({12}) Sie werden die Rechtsposition der Handwerksbetriebe als Gläubiger total schwächen. Da geht es wirklich richtig ums Eingemachte, richtig ums Geld und nicht nur um schöne Worte. ({13}) Alles in allem: Mittelstandspolitik der schwarz-gelben Koalition bedeutet: viel in der Auslage, wenig geliefert und nichts auf Lager. Diese Mittelstandspolitik muss ein Ende haben. Am 22. September gehen wir da mit neuem Schwung heran und machen eine neue Reformpolitik mit Mut und auch für die Realwirtschaft. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Jasper, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dieter Jasper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schwarzelühr-Sutter, viele Länder in der Welt hätten gerne die Probleme, die wir in Deutschland haben. Statt in Ihr Wehklagen einzustimmen, möchte ich lieber damit beginnen, die Aussage der Kollegin Lena Strothmann zu unterstützen: Der deutschen Wirtschaft geht es gut, und den Menschen in Deutschland geht es ebenfalls gut. ({0}) Noch nie in der Geschichte unseres Landes waren so viele Menschen in Beschäftigung, und noch nie ist ein größerer Wohlstand erreicht worden. Grundlage dieser außerordentlichen Stabilität und Wachstumsstärke der deutschen Wirtschaft ist die dynamische mittelständische Unternehmenslandschaft. Es sind insbesondere die inhabergeführten Familienbetriebe, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Die Arbeitslosigkeit in unserem Land ist in den letzten Jahren von über 5 Millionen auf heute unter 3 Millionen gesunken. Hieran haben die mittelständischen Unternehmen einen erheblichen Anteil. ({1}) In den letzten fünf Jahren wurden über 1,8 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Auch in diesem Jahr rechnet man mit über 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Handwerk und Mittelstand leisten somit erneut einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungslage. Wichtige Eckpfeiler sind hierbei die Sozialpartnerschaft, aber natürlich auch die Tarifautonomie. Investitionen in Forschung und Entwicklung sind ein Indikator für die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftssystems. Diese Investitionen sind auf 2,9 Prozent des BIP gestiegen. Unser Ziel von 3 Prozent ist nahezu erreicht. Investitionen und Initiativen im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung haben die Innovationskraft und auch die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland gestärkt. Viele weitere Beispiele lassen sich nennen. Doch das allein reicht nicht aus. Es ist erst die Risikound Leistungsbereitschaft des innovativen Mittelstands, die Wachstum, Wohlstand und Innovation in unserem Land sichert. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind die Treiber des Strukturwandels und des Fortschritts. Der gute und robuste Zustand des Mittelstands darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Zukunft weitere und neue Herausforderungen gibt, die es zu meistern gilt. Wenn ich mich mit meinen Unternehmerkollegen unterhalte und sie frage, welche drei zentralen Probleme in der Zukunft gesehen werden, dann werden in der Regel drei genannt: Ganz oben steht der Fachkräfte- und Nachwuchsmangel. Es folgen steigende Energiekosten und der Rohstoffmangel. Und genau da gilt es dann anzusetzen. Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen und Unterstützungen generiert werden, damit die Unternehmen Mittel und Wege finden, diese Probleme zu lösen. ({2}) Wir sollten über die Stärke dieser Unternehmen froh sein und alles tun, damit das so bleibt. Wenn ich sehe, was vonseiten der Linken, der SPD und der Grünen in diesem Bereich hauptsächlich gefordert wird, nämlich Steuererhöhungen, wirkt das genau in die entgegengesetzte Richtung. Was will Rot-Grün? Die Wiederbelebung der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe, die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Anhebung des Spitzensteuersatzes und viele Dinge mehr. Statt die Schaffung von Vermögen und Eigentum zu fördern, ist das linke Bedürfnis nach Umverteilung größer denn je. ({3}) Die propagierten Steuererhöhungen in den unterschiedlichsten Bereichen gehen insbesondere zulasten des Mittelstandes. Die Investitions- und Innovationsfähigkeit wird entscheidend eingeschränkt. Es wird verhindert, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch Unternehmensgründungen werden erschwert. Wenn der Fraktionsvorsitzende der Grünen in der gestrigen Aktuellen Stunde darüber schwadroniert, dass Deutschland eine Steueroase sei, weil es hier noch keine Vermögensabgabe oder keine Vermögensteuer gibt, dann hat er nichts verstanden. ({4}) Der Aufwand zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer und der daraus resultierende Ertrag stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander. Ein Großteil des in Deutschland vorhandenen Vermögens ist in Unternehmen gebunden. Somit sind es genau die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die am stärksten von der Vermögensteuer betroffen sind. Im Kern findet eine Substanzbesteuerung statt. Es wird Vermögen vernichtet. ({5}) Auch die schnell aufgestellte Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Prozent auf dann 49 Prozent trifft in erster Linie die Leistungsträger unserer Gesellschaft. ({6}) Neben den Facharbeitern ist das die große Zahl der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in der Regel als Personengesellschaften organisiert sind. Bei diesen führt die geplante Steuererhöhung zu erheblichen Problemen. Anders als große Kapitalgesellschaften können sie beispielsweise nicht ins Ausland ausweichen und müssen die volle Steuerlast tragen. Gleiches gilt für den Bereich der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Für viele Handwerker und Unternehmer wird es ohnehin immer schwieriger, einen Nachfolger zu finden. Hohe Zahlungen durch eine Erbschaftund Schenkungsteuer erschweren das zusätzlich und bedeuten auch manchmal das Aus für die Betriebe. Die von der linken Seite immer wieder geforderten Erhöhungen von Steuern und Abgaben sind eindeutig der falsche Weg. Der deutsche Staat verfügt über Steuereinnahmen in nie dagewesener Höhe. Hiermit gilt es hauszuhalten. Ein ausgeglichener Staatsaushalt bietet auch für die Unternehmen in Deutschland die beste Gewähr und eine gute Voraussetzung für ein nachhaltiges und stetiges Wachstum. ({7}) Dieses Wachstum schafft nicht nur neue Arbeitsplätze, sondern entlastet auch die Sozialkassen. Nur so ist es letztendlich zu erklären, dass die Leistungsträger durch eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um mehr als 6,3 Milliarden Euro entlastet werden konnten. ({8}) Der richtige Weg ist: Haushalt konsolidieren, sparsam haushalten, Erleichterungen an die Bürger weitergeben, Erhöhungen von Steuern und Abgaben nur dann, wenn es zwingend erforderlich ist. ({9}) Und das zum Schluss: Viele kleine und mittelständische Unternehmen zahlen ihre Steuern in Deutschland und tun das auch mit großer Überzeugung. Die Einstellung, dass starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, ist bei vielen Unternehmern durchaus vorhanden. Dazu braucht es nicht immer die Begründung, dass durch Umverteilung sozialer Frieden begründet werden kann. Es gibt auch pragmatische Gründe, die hier bereits dargestellt wurden: eine funktionierende Infrastruktur, eine gute Aus- und Weiterbildung junger und älterer Menschen, eine gute Verwaltung und viele Dinge mehr. Das schafft eine solide Basis für nachhaltiges Wirtschaften und ist ein Wettbewerbsvorteil für die deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Dennoch ist die Summe aus Steuern und Abgaben enorm hoch. Eine leichtfertige Erhöhung vorhandener und die Einführung neuer Steuern unter dem Stichwort „Reichensteuer“ ist diffamierend und schadet dem Standort Deutschland. Es werden gerade nicht die von Rot-Rot-Grün verfolgten Millionäre getroffen. Diese sind jederzeit in der Lage, ihre Vermögen im Ausland anzulegen. ({10}) Getroffen werden vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die in Deutschland gebunden sind und ihre Steuern auch hier zahlen müssen. Rot-Grün zielt auf eine Handvoll Millionäre, trifft aber die gesamte Breite des Mittelstandes. ({11}) Bei allem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und sozialem Frieden darf nicht vergessen werden, dass vor dem Verteilen das Erwirtschaften steht. Dieses Erwirtschaften erfolgt hauptsächlich in den kleinen und mittelständischen Betrieben unseres Landes. Diesen darf nicht die Luft zum Atmen genommen werden. Es gibt viele Möglichkeiten, den deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest zu machen, sei es in den Bereichen Fachkräftesicherung, Sicherstellung der Energieversorgung, Förderung von Innovationen und vielen Bereichen mehr, die bereits angeführt wurden. Die Bundesregierung hat hier in den letzten Jahren viel erreicht. Nicht durch das Erhöhen und Schaffen neuer Steuern sind wir so erfolgreich gewesen, sondern durch nachhaltiges und effizientes Haushalten. Die ganze Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen konnte sich so voll entfalten. ({12}) Deutschland kann sich im europäischen und auch im internationalen Vergleich mehr als sehen lassen. Der Dank hierfür gilt in erster Linie den Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Deutschland, aber natürlich auch der unionsgeführten Bundesregierung, die eine eindrucksvolle Bewerbung für eine neue Legislaturperiode abgegeben hat. Danke schön. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Reinhold Sendker, ebenso für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Reinhold Sendker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004153, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Tiefensee, von Stillstand bei den ÖPP, den öffentlich-privaten Partnerschaften, kann überhaupt keine Rede sein. ÖPP-Projekte machen im Bereich des Hochbaus 60 Prozent aus. Die Möglichkeiten sind hier noch lange nicht ausgeschöpft. Ferner gibt es ÖPP-Projekte im Dienstleistungs- und IT-Bereich, denen Experten ein enormes Wachstum voraussagen. Im Bereich des Fernstraßenausbaus bilanzieren wir ein Ausbauvolumen von 300 Kilometern und einen privaten Kapitaleinsatz von 1,5 Milliarden Euro. Dafür, dass der Fernstraßenausbau derzeit aufgehalten wird, sind letztendlich rot-grüne Landesregierungen, zum Beispiel in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, verantwortlich. Schauen wir auf weitere positive Botschaften bei den öffentlich-privaten Partnerschaften: auf die Qualität der Bauausführung, auf einen hochwertigen Betriebsdienst und auf einen schnellen und zeitnahen Ausbau der Bundesfernstraßen. Ich nenne außerdem ausdrücklich die Effizienzvorteile, wobei wir sagen müssen, dass die Wirtschaftlichkeit den gesamten Lebenszyklus „Planen, Bauen, Betreiben“ betrifft. Die ÖPP bieten bemerkenswerte Optionen. Es ist deshalb völlig richtig, alle Beschaffungsvarianten unvoreingenommen zu beurteilen und ihnen die gleichen Chancen einzuräumen. Ideologische Vorbehalte gehören hier nicht hin. ({0}) Wo besteht noch Handlungsbedarf? Dass die ÖPP mittelstandsfreundlich weiterentwickelt werden, ist für uns ein ganz zentraler Punkt. Mittelständische Unternehmen sollen sich mit einem höheren Investitionsvolumen an ÖPP-Projekten, sprich am Fernstraßenausbau, beteiligen können. Folglich bitten wir darum, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine verstärkte Beteiligung des Mittelstandes am Fernstraßenausbau zu erreichen. ({1}) Die Richtigkeit der These „Mehr Transparenz schafft Akzeptanz“ hat die christlich-liberale Bundesregierung schon bei der Realisierung des Finanzkreislaufs Straße nachgewiesen. Bei den ÖPP wollen wir nicht nur ein bisschen, sondern deutlich mehr Transparenz. Wir schlagen Ihnen daher vor, bei ÖPP-Projekten eine frühzeitige Information und Beteiligung der Öffentlichkeit und eine weitreichende Transparenz, auch in der Betriebsphase, durch regelmäßige Berichte an den Deutschen Bundestag sicherzustellen, mit der steten Nachfrage: Ist das, was zugesagt wurde, auch erreicht worden? Es ist erfreulich, dass die deutsche Bauwirtschaft im Herbst letzten Jahres zu mehr Transparenz bei ÖPP aufgerufen hat. Den wilden Spekulationen über Vergabe und Vertragsinhalte wird damit der Wind aus den Segeln genommen. Deutlich mehr Transparenz und die Effizienznachweise führen zu mehr Vertrauen; hiermit kann ideologischen Vorbehalten entgegengetreten werden. Das ist Zielführung. Dafür treten wir ein. ({2}) Transparenz endet aber dort - das ist ein Stück Wahrheit -, wo es um schützenswerte Interessen der Projektbeteiligten und um die wirtschaftlichen Interessen des Staates geht. Dahin gehend darf sie das Erfolgsmodell ÖPP nicht seiner Vorteile berauben. Schauen wir schließlich auf die Vergleichbarkeit im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Die Rechnungshöfe führen an: ÖPP-Projekte basieren auf konkreten Ausschreibungs- und Verhandlungsergebnissen. Bei der konventionellen Methode hingegen seien es überwiegend Kostenschätzungen und Erfahrungswerte. Folglich wird eine bessere Vergleichbarkeit gefordert. Ferner kann mit der obligatorischen Eignungsprüfung, die ich hier ausdrücklich nennen möchte, bereits in einem frühen Stadium die grundsätzliche Eignung eines ÖPP-Projekts geprüft werden. Daher fordern wir, dieses Instrument der Projektsteuerung künftig zu standardisieren und zu verbreiten. Ja, wir wollen eine bereits erfolgreiche Beschaffungsvariante ausdrücklich stärken, eine Variante mit mehr Mittelstand, vor allem beim Fernstraßenausbau, mit deutlich mehr Transparenz und Kommunikation und mit vergleichbaren Wirtschaftlichkeitsnachweisen. Leider - auch das ist ein Stück Wahrheit - erleben wir bei ÖPP-Projekten unter rot-grünen Landesregierungen zurzeit den großen Verschiebebahnhof: Es soll überprüft und nochmals geprüft werden. Ich sage Ihnen: Wenn in einem konkreten Einzelfall längst feststeht, dass ÖPP besser sind, dann sollten ÖPP hier auch den Zuschlag bekommen. ({3}) Was die Oppositionsanträge angeht, kann ich nur feststellen: Die Sozialdemokraten zögern und zaudern. Bei den Grünen stehen wieder einmal ideologische Vorbehalte gegen Zukunftsoptionen. Herr Dr. Hofreiter, dadurch, dass Sie die Vorwürfe eines Schattenhaushalts und eines Verstoßes gegen die Schuldenobergrenze wiederholen, werden diese Vorwürfe nicht besser. ({4}) Die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts an den Auftragnehmer stellt keine Kreditaufnahme im Sinne des Art. 115 Grundgesetz dar. Es ist also keine Umgehung der Schuldengrenze. Das bestätigt uns der Bund-LänderAusschuss. Ähnlich hat sich der Bundesrechnungshof geäußert. Ich bitte, das bei Gelegenheit doch einmal zur Kenntnis zu nehmen. ({5}) In der gegenwärtigen Haushaltssituation können wir es uns gar nicht leisten, ideologische Vorbehalte gegen ÖPP aufrechtzuerhalten. Wir möchten diese Variante stärken. Es ist eine Beschaffungsvariante, die es zu prü29676 fen gilt. Wir wollen ihre Anwendung unterstützen - mittelstandsfreundlich, wirtschaftlich und transparent. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/12700 mit dem Titel „Stabilität, Wachstum, Fort- schritt - Den starken deutschen Mittelstand weiter zu- kunftsfest machen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b wird interfraktio- nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/12771 an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno- logie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 3 d. Hier geht es um die Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Druck- sache 17/13155. Hierzu liegt mir eine schriftliche Erklä- rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord- nung des Kollegen Groß vor.1) Ich lasse zunächst über die Beschlussempfehlung un- ter Buchstabe a abstimmen. Da empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/12696 mit dem Titel „Öffentlich-Private Partnerschaften - Potentiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transpa- renz erhöhen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den vorhin genannten Mehrheiten angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksa- che 17/9726 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastruktur- konsens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/5258 mit dem Titel „Transparenz in Public Pri- vate Partnerships im Verkehrswesen“. Wer stimmt der Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter dem Tagesordnungspunkt 3 e geht es um die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rekom- munalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Part- nerschaften stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/6515, den Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der SPD-Fraktion auf der Drucksache 17/13224 mit dem Titel „Bessere Politik für einen starken Mittelstand - Fachkräfte si- chern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen ver- bessern“. Wer stimmt für diesen Antrag der SPD-Frak- tion? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Elke Ferner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch - Drucksache 17/13226 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})- Innenausschuss - Finanzausschuss - Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Ausschuss für Gesundheit - Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung- Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohns ({1}) - Drucksache 17/12857 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})- Rechtsausschuss - Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tabea Rößner, Memet Kilic, Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit einem Nationalen Aktionsplan die Chancen des demografischen Wandels ergreifen - Drucksache 17/13246 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})- Innenausschuss - Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für Arbeit und Soziales - Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4}) zu dem Antrag der Abgeordne-1) Anlage 2 Präsident Dr. Norbert Lammert ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher Mindestlohn jetzt - Drucksachen 17/8026, 17/9613 - Berichterstattung:- Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda - Drucksachen 17/12683, 17/13182 Berichterstattung:Abgeordneter Markus Kurth Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion. ({6})

Peer Steinbrück (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hat Deutschland stark gemacht? Ganz unzweifelhaft die industriellen Fertigkeiten und unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit, unzweifelhaft unser sehr starker Mittelstand mit einem besonderen unternehmerischen Ethos, unzweifelhaft eine sehr gute Forschungslandschaft, universitär und außeruniversitär, die duale Ausbildung - das konnte ich gerade am Sonntag wieder feststellen, als ich erlebte, wie 1 110 Jungmeisterinnen und Jungmeister von der Handwerkskammer in Düsseldorf ihre Urkunden erhalten haben - und die soziale Partnerschaft. Aber Deutschland hat noch mehr stark gemacht, zum Beispiel das Aufstiegsversprechen für alle tüchtigen und fleißigen Bürgerinnen und Bürger oder die Chance auf einen besseren Bildungsabschluss, als ihn die Eltern hatten, oder die faire Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg oder intakte Kommunen, die Leistungen für diejenigen bereitstellen, die sich Bildung, Sport, Kultur, Sicherheit und Kinderbetreuung nicht privat leisten können, oder auch der Sinn für Maß und Mitte, für Anstand und Fairness oder ein, wenn man so will, rheinischer Kapitalismus, also eine soziale Marktwirtschaft, die genau erkannt hat, dass der soziale Ausgleich die wesentliche Voraussetzung ihrer Existenzberechtigung ist. Was ist nun der Befund heute? Deutschland ist zweifellos nach wie vor ein starkes Land, aber nicht alle haben Zugang zu Teilhabe. Viele sehen ihre Leistung eben nicht anerkannt, geschweige denn angemessen belohnt. 6,8 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro, 1,4 Millionen sogar für weniger als 5 Euro. Fast 1,5 Millionen Menschen zwischen 25 und 35 Jahren haben keinen Schul- und keinen Berufsabschluss. 71 von 100 Akademikerkindern gehen an die Hochschule, aber nur 24 von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien. Frauen verdienen im Durchschnitt 22 Prozent weniger als Männer. Staat und Politik befinden sich in einem Schraubstock, ausgelöst durch die Finanzmarktkrise, in der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Sie sind erpressbar geworden. Der Steuerzahler ist zum Garanten in letzter Instanz geworden. Bezahlbares Wohnen wird inzwischen nicht nur in Ballungsräumen zu einem Problem. Wir haben es deshalb inzwischen in meinen Augen nicht nur mit Parallelgesellschaften in den oberen Etagen bis hin zum Penthouse unseres gesellschaftlichen Gebäudes zu tun, sondern auch mit Parallelgesellschaften unten, mit Menschen, die sich deklassiert und ausgegrenzt fühlen, die sich nicht mehr zugehörig fühlen. Wir haben es nicht nur mit einem Unverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger zu tun, dass die persönliche Leistung immer weniger wichtig und immer weniger wert ist. Wir haben es mit Engpässen dahin gehend zu tun, öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge für den überwiegenden Teil unserer Bürgerinnen und Bürger zu finanzieren. Aber es ist mehr als das. Wir haben es mit unverhältnismäßigen Boni zu tun, die in keinem Verhältnis zur Leistung stehen, mit gefälschten Doktorarbeiten, mit Lobbygesetzen und auch dem lässigen Umgang mit Steuerbetrug. All dies tritt Werte wie Anstand, Ehrlichkeit und Fairness mit Füßen. So empfinden das viele Menschen. ({0}) Ich glaube, wir laufen Gefahr, dass Teile der deutschen Eliten und auch politische Beliebigkeit das bürgerliche Wertefundament unterminieren könnten. Ehrliche Bankkaufleute sind inzwischen Zocker, und Geiz wird als „geil“ dargestellt und verkauft. Während eine Kassiererin wegen einer Wertmarke für 50 Cent ihren Job verlieren kann, bleiben millionenschwere Steuerbetrüger entweder in der Anonymität oder werden gar nicht erst erkannt, oder sie kommen mit einer Nachzahlung davon. Wie wirkt das auf den überwiegenden Teil der Bürgerinnen und Bürger? ({1}) Aus aktuellem Anlass sage ich: Nicht der Fall Hoeneß ist das eigentliche Problem, ({2}) sondern die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug sind das eigentliche Problem, bei dessen Bekämpfung Sie nicht besonders hilfreich gewesen sind. ({3}) Nicht nur die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug sind das Problem, sondern auch die legale Steuervermeidung von Konzernen, die die nationalen Steuersysteme gegeneinander ausspielen. Nicht der Fall Hoeneß allein ist das Problem, sondern es sind die Steueroasen, die Briefkastenfirmen zulassen. Es sind Banken, die Geschäftsmodelle und Dienstleistungen anbieten, mit denen man Steuerhinterziehung und Steuerbetrug betreiben kann. Es sind vor allen Dingen auch die Länder, die sich nach wie vor einem automatischen Informationsaustausch verweigern. Noch einmal klar festgestellt: Die Bundesregierung hat den Elan, den wir 2009 mit Frankreich und mit der OECD entfacht haben, um Steuerbetrug und Steuerhinterziehung auf internationaler Ebene zu bekämpfen, nicht genutzt. Sie haben eingeschlafene Füße gehabt! ({4}) Sie wollten uns ein Steuerabkommen mit der Schweiz präsentieren, das die Steuerbetrüger in der Anonymität belassen hätte und mit einem Ablass hätte davonkommen lassen. Das ist das, was Sie uns nach wie vor als vorbildlich verkaufen wollen. Sie sind nicht einmal in der Lage gewesen, für Deutschland denselben Informationsaustausch herauszuverhandeln, den die USA bezogen auf ihre Steuerbürger in der Schweiz bekommen haben. Sie versuchen, uns diesen Entwurf, der vonseiten der SPD und von den Grünen abgelehnt worden ist, bis heute mit kranken Argumenten schönzureden. ({5}) Wenn wir die Auflösung und Relativierung von Werten wie Anstand, Fairness, Ehrlichkeit und soziale Balance weiter dulden, dann sage ich voraus, dass unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung über die Schnödigkeit im Umgang mit diesen Fragen - um einen Begriff von Theo Sommer, dem früheren Herausgeber der Zeit, aufzugreifen - in eine Krise geraten wird, weil die Menschen den Eindruck haben, dass bestimmte Regeln wie Anstand, Fairness und Ausgleich nicht mehr gelten. Dann hilft es nicht, im Einzelfall bloß enttäuscht zu sein, wie wir das gerade bei Frau Merkel erlebt haben, ({6}) sondern man muss sich als Regierungschef oder Regierungschefin gefordert sehen, das Wertefundament von Politik und Wirtschaft zu erneuern. Das vermisse ich bei dieser Bundeskanzlerin. ({7}) Es geht der SPD in diesem Zusammenhang nicht um irgendeine Sozialromantik, und es geht auch nicht darum, im 150. Jahr unseres Bestehens die nostalgische Beschwörung von Werten zu betreiben. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass nur eine gerechte Gesellschaft auch eine starke Gesellschaft ist. ({8}) Ich bin davon überzeugt, dass Gerechtigkeit und ein sozialer Ausgleich eine der wesentlichen Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg sind. ({9}) Ich bin überzeugt, dass umgekehrt auch gilt, dass der wirtschaftliche Erfolg eine Voraussetzung ist, um sozialen Ausgleich zu betreiben. Ich bin davon überzeugt, dass sich eine ungerechte Gesellschaft am Ende für niemanden rechnet, auch nicht für die Wohlhabenden. ({10}) Es ist kein Geringerer als der amerikanische Ökonomienobelpreisträger Joseph Stiglitz gewesen, der ein Buch mit dem Titel Der Preis der Ungleichheit geschrieben hat, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Er macht deutlich, dass der Preis der Ungleichheit nicht nur in einem Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhaltes besteht, sondern dass die Ungleichheit auch einen ökonomischen Preis hat. Deshalb scheue ich mich nicht, von einer Ökonomie der Gerechtigkeit zu sprechen. Ich bin überzeugt, dass Gerechtigkeit nicht nur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist, sondern sich auch für alle rechnet und für alle rechnen muss. ({11}) Ich will das an einigen wenigen Beispielen deutlich machen. Die Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt, wenn sie Kinder haben wollen, ist nicht nur individuell ungerecht, sondern sie ist auch volkswirtschaftlicher Unsinn, insbesondere wenn man sich die Demografie unseres Landes anschaut und weiß, dass junge Frauen inzwischen bessere schulische, berufliche und akademische Abschlüsse machen als Männer. Dumpinglöhne vernichten Arbeitsplätze bei den verantwortungsbewussten Unternehmen, die sich anständig verhalten. ({12}) Und dann sind wir auch noch in der Verlegenheit, den Menschen, die Dumpinglöhne bekommen, mit Aufstockerbeträgen zulasten der Steuerzahler helfen zu müssen, was an die 10 Milliarden Euro kosten dürfte. Ein Bildungssystem, in dem nicht Anstrengung und Leistung, sondern das Einkommen oder die Beziehungen der Eltern für den Aufstieg sorgen, ist für die gesamte Gesellschaft und für den Erfolg unserer Volkswirtschaft schädlich. ({13}) Gerade wegen der demografischen Entwicklung gilt: Wir dürfen kein Kind zurücklassen. ({14}) In der Schule muss ebenso wie im Berufsleben und in Bezug auf Existenzgründungen gelten: Wir brauchen eine zweite Chance. Finanziell marode Kommunen und verwahrloste Städte produzieren auch verwahrloste Seelen und Köpfe. Sie integrieren sich nicht mehr sozial und kulturell, sondern sie fühlen sich ausgeschlossen. Sie sind desintegriert, und das verursacht Folgekosten. Das läuft darauf hinaus, dass wir es anschließend mit sozialen Folgekosten zu tun haben, im Zweifelsfall bis hin zu Verwahrlosung und Kriminalität, weil wir unsere Kommunen nicht in den Stand versetzt haben, soziale Brennpunkte zu vermeiden. ({15}) Eine ungerechte Gesellschaft verursacht Sozialkosten: Immer mehr Menschen werden von einer Aufstiegschance ausgeschlossen. In der Folge werden sie zwangsläufig resignieren und zu reinen Beziehern von Sozialleistungen. Das ist der Grund, warum wir in einen vorsorgenden Sozialstaat statt in einen reparierenden Sozialstaat investieren müssen. ({16}) Ein höherer Beitrag derjenigen, die stärkere Schultern haben, zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, die angemessene finanzielle Ausstattung von Kommunen oder auch der Ausbau der Kinderbetreuung anstelle des Betreuungsgeldes sind daher nicht bloß Einzelentscheidungen, die hier im Berliner Politikbetrieb quasi aus wahl- und machtarithmetischen Überlegungen getroffen werden sollten. All das sind vielmehr Entscheidungen, denen aus meiner und aus SPD-Sicht eine klare Idee zugrunde liegen muss, wie das Miteinander in unserer Gesellschaft organisiert werden soll, wie wir gesellschaftliche Teilhabe organisieren, wie wir in einem modernen Deutschland für Gleichberechtigung sorgen können. ({17}) Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der die Bürger sich belohnt fühlen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der Bürger morgens aufstehen und antreten. Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der man bereit ist, sich anzustrengen und gegebenenfalls auch Opfer in Kauf zu nehmen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft, die Leistung honoriert, die gegen die großen Lebensrisiken wie Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit absichert, die aber auch allen Menschen eine zweite, gegebenenfalls sogar eine dritte Chance gibt. Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der Reichtum nicht verteufelt wird, in der Armut aber auch nicht der Caritas zugeführt wird. ({18}) Es ist die Idee von einer Gesellschaft, die individuelle Lebensentwürfe ermöglicht und sich gleichzeitig dem Gemeinwohl verpflichtet sieht. Es geht nicht nur um den Preis für eine solidarische Gesellschaft, sondern es geht in meinen Augen vor allen Dingen um den Wert einer solidarischen Gesellschaft. Deshalb will ich sagen: Wettbewerbsfähigkeit und Wertbindung gehören in einem modernen Deutschland nach Auffassung der SPD zusammen. Genau das ist der Grund für Deutschlands Erfolgsgeschichte. Genau das macht die Stärke Deutschlands aus, und genau darum wird es am 22. September dieses Jahres gehen. Vielen Dank. ({19})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. - Bitte schön, Frau Bundesministerin. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Steinbrück, so jämmerlich, wie Sie Deutschland sehen, ist es nicht. ({0}) „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Das ist ein Wort, das Kurt Schumacher der SPD schon vor Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben hat. Betrachten wir einmal die Wirklichkeit von heute: Noch nie hatten wir so viel Arbeit in Deutschland. ({1}) Wir haben heute 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte; das sind 2,6 Millionen mehr, seitdem Angela Merkel Kanzlerin ist. ({2}) Es ist gute Arbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse ist seit 2005 stärker gestiegen als die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der älteren Erwerbstätigen über 55 ist um 1,8 Millionen gestiegen, seit Angela Merkel Kanzlerin ist. ({3}) Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in ganz Europa. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit 2007 um 40 Prozent gesunken. ({4}) Heute sind eine viertel Million Kinder weniger in Hartz IV. Das ist die Wirklichkeit in dem Land, in dem Angela Merkel seit sieben Jahren regiert. Die Erfolge am Arbeitsmarkt kommen bei den Menschen an. ({5}) Ja, Herr Steinbrück, ich habe den Antrag, zu dem Sie hier heute eigentlich reden sollten, im Gegensatz zu Ihnen gelesen. Von Steuerpolitik steht in dem Antrag der SPD nichts. ({6}) Aber in dem Antrag steht, dass die Einkommensschere in Deutschland auseinandergegangen ist. ({7}) Ja, das stimmt. Die Einkommensschere ist durch die Agenda 2010 auseinandergegangen. Aber seit den letzten drei Jahren schließt sie sich wieder, und zwar dank der guten Wirtschaftslage und dank der guten Tarifabschlüsse. ({8}) Es ist richtig, dass der Arbeitsmarkt durch die Agenda 2010 geprägt ist; auch das gehört mit zum Betrachten der Wirklichkeit. ({9}) Sie von der SPD schaffen es, hier einen Antrag einzubringen - über diesen debattieren wir hier -, in dem Sie auf 14 Seiten wortreich eine Agenda für 2020 darlegen, ohne auch nur mit einem einzigen Wort die Agenda 2010 zu erwähnen, geschweige denn, dass Sie die Urheberschaft dafür haben. ({10}) Was ist eigentlich mit Ihnen los? Schämen Sie sich dafür, oder was ist mit Ihnen passiert? ({11}) Das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt flexibler zu machen und Menschen in Beschäftigung zu bringen, die vorher keine Chance hatten. Das wurde erreicht. ({12}) Aber die rot-grüne Agenda war handwerklich so lausig gemacht, dass sie schwere Gerechtigkeitslücken gerissen hat, die wir hinterher alle flicken mussten. ({13}) Wir mussten die Konstruktionsfehler der Agenda 2010 beheben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen die Jobcenterreform um die Ohren gehauen. Wir mussten die Jobcenter auf feste Füße stellen. Hätten wir das nicht getan, gäbe es heute in Deutschland keine Jobcenter. ({14}) Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen Ihre Hartz-IVReform um die Ohren gehauen. Rot-Grün hat die HartzIV-Regelsätze teilweise geschätzt. Wir haben sie berechnet und verfassungsfest gemacht. ({15}) Am schlimmsten ist, dass Rot-Grün die Kinder in Hartz IV vollständig vergessen hat. ({16}) Keinen einzigen Cent für den Zugang zu Teilhabe und Bildung der Kinder haben Sie bei der Berechnung von Hartz IV hineingerechnet. Das hat Ihnen das Verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben. Wir haben das Bildungspaket eingeführt, weil uns die Chancengerechtigkeit der Kinder am Herzen liegt. Sie reden, wir handeln. So sieht das aus. ({17}) Rot-Grün hat die Zeitarbeit vollständig dereguliert. Wir halten Zeitarbeit für richtig, aber es muss dabei fair zugehen. Deshalb haben wir den Mindestlohn in der Zeitarbeit eingeführt. Wir haben die Drehtürklausel zum Schutz der Beschäftigten eingeführt. Rot-Grün redet von Gerechtigkeit, wir handeln, wir setzen sie durch. ({18}) Herr Steinbrück, ich habe zwei Forderungen herausgehört, die Sie in Ihrem 14-seitigen Antrag, den Sie eben debattieren sollten, erheben. Die eine Forderung lautet: Steuern rauf! Die andere Forderung lautet: Wir wollen den Mindestlohn im Parlament diktieren und die Tarifautonomie nicht mehr respektieren! ({19}) Wir gehen einen anderen Weg. Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit ist Gott sei Dank vorbei. FachkräfteBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen sicherung, das ist das große Thema in Deutschland. Wir wollen benachteiligte Jugendliche in Ausbildung bringen, und zwar jetzt, da sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt dreht. Auf dem Ausbildungsmarkt ist das Angebot an Ausbildungsplätzen derzeit größer als die Nachfrage. Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. Der Ausbildungspakt ist auf genau diese Jugendlichen konzentriert worden; denn sie brauchen jetzt eine Chance. ({20}) Wir kümmern uns auch um die 25- bis 35-Jährigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die in der Regierungszeit von Rot-Grün nicht nur die Schule geschmissen, sondern auch ihre Ausbildung abgebrochen haben. ({21}) Diese Menschen sind jetzt ohne Abschluss in Hartz IV, und sie brauchen eine zweite und eine dritte Chance. Diese geben wir ihnen, und zwar mit unserer Initiative „AusBILDUNG wird was - Spätstarter gesucht“. In den nächsten drei Jahren wollen wir 100 000 dieser jungen Menschen zwischen 25 und 35 Jahren zu einem Abschluss führen. Ich freue mich, dass die SPD diese Initiative, die wir auf den Weg gebracht haben, so gut findet, dass sie sie, nur unter einem anderen Namen, selbst in ihr Programm schreibt. Sie reden, wir handeln. Hier sieht man es wieder. ({22}) Das setzt sich bei den Frauen fort. Sie haben eben das Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ angedeutet. Wie war denn die Geschichte der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie? ({23}) Wer hat denn 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt? ({24}) Es ist die Union gewesen. ({25}) Wer hat denn dafür gesorgt, dass es ab 2013 den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz gibt? Es ist die Union gewesen. Sie reden, wir handeln. Wir sorgen für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie. ({26}) Wer hat denn den Mindestlohn in der Pflege eingeführt? Es ist diese Regierung gewesen. Vom Mindestlohn in der Pflege profitieren insbesondere Frauen, meine Damen und Herren. Sie reden, wir handeln. Das ist das, was sich hier und heute herauskristallisiert. ({27}) Ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Älteren am Arbeitsmarkt. Ich habe vermisst, dass Sie zu diesem Thema etwas sagen. In Ihrem Antrag steht dazu etwas, wenn auch in verklausulierter Form. Warum haben Sie darüber nicht gesprochen? Wir debattieren heute schließlich Ihren Antrag. Es haben noch nie so viele Ältere über 55 Jahre Arbeit in Deutschland gehabt wie heute. ({28}) Rot-Grün sieht die Älteren immer nur vom Defizit her; Sie sehen nur, was sie nicht können, und sagen nur, was Sie ihnen nicht zutrauen. Wir machen das anders. Wir sind der Meinung, dass ältere Menschen Lebenserfahrung und Stärken haben. Wir brauchen sie am Arbeitsmarkt. Deshalb ist uns daran gelegen, nicht nur dafür zu sorgen, dass sie länger in den Betrieben bleiben, sondern jetzt auch dafür zu sorgen, dass gerade die arbeitslosen Älteren bessere Chancen bekommen, eingestellt zu werden. Wir begleiten die älteren Menschen bis in die Betriebe hinein, um ihnen eine Perspektive zu geben, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. ({29}) Auch schwerbehinderte Menschen haben aufgrund der guten Arbeitsmarktsituation eine große Chance - auch dazu habe ich von Ihnen nichts gehört; auch was dieses Thema angeht, haben Sie zu Ihrem Antrag nichts gesagt -, aber sie profitieren nicht so stark wie alle anderen Gruppen. Deshalb müssen wir noch mehr Anstrengungen unternehmen, um dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderung besser in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. ({30}) Die Bundesagentur für Arbeit nimmt gezielt 2,5 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand, um diesen Menschen den Schritt ins Arbeitsleben zu erleichtern. Im Rahmen der „Initiative Inklusion“ haben wir weitere 100 Millionen Euro alloziert, um dazu beizutragen, dass gerade junge Menschen mit Behinderung den Weg in die Ausbildung und den ersten Arbeitsmarkt schaffen. ({31}) Meine Damen und Herren, entlarvend ist, dass die SPD ({32}) in ihrem 14-seitigen Papier über Deutschland 2020 kein einziges Wort über Zuwanderung oder Integration verliert. Das ist nicht unser Zukunftsbild von Deutschland! ({33}) Wir brauchen die Gruppe der Zuwanderer und der Migranten am Arbeitsmarkt, und wir schätzen sie, meine Damen und Herren. ({34}) Deshalb haben wir die Anwerbestoppausnahmeverordnung, dieses aufgeblähte Monster, ersatzlos gestrichen. Wir haben stattdessen die Bluecard eingeführt und die Beschäftigungsverordnung im Hinblick auf Facharbeiter neu geordnet. Für uns zählt nicht, woher jemand kommt, ({35}) sondern für uns zählt, ob er oder sie gemeinsam mit uns dieses Land voranbringen wird. Das ist unsere Haltung im Hinblick auf Deutschland 2020. ({36}) Meine Damen und Herren, das SPD-Papier - über das der Kandidat hier leider nicht debattiert hat, das aber auf der Tagesordnung steht - zeigt, dass die SPD nach der vollständigen Deregulierung im Rahmen der Agenda ({37}) mit ihrer Agenda 2020 jetzt eine maximale Regulierung erwartet und anstrebt. Und wie wir eben gehört haben: Sie reden das Land schlecht. Sie gehen von einem Extrem ins andere. Wir gehen den Weg der Fairness und der wirtschaftlichen Vernunft, ({38}) wir gehen den Weg der Mitte. Vielen Dank. ({39})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Klaus Ernst. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, wie sich hier zwei Parteien, die sich eigentlich - wie ich in den letzten acht Jahren im Bundestag erlebt habe - bei sehr vielen Aktionen im Prinzip einig waren, jetzt darüber streiten, wer von ihnen eigentlich der Schlimmere war. Ich möchte noch einmal feststellen, Frau von der Leyen: Das, was Sie eigentlich erreichen wollten - mehr Beschäftigung in Deutschland -, haben Sie nicht erreicht. Ausschlaggebend ist nämlich nicht, ob mehr Leute im Niedriglohnbereich beschäftigt sind - da gibt es natürlich einen Zuwachs - oder ob mehr Leute in befristeter Beschäftigung sind - da gibt es auch einen Zuwachs -, sondern das wirkliche Maß kann nur die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden sein. ({0}) Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hat in der Bundesrepublik Deutschland trotz der Deregulierung am Arbeitsmarkt nicht zugenommen. Das müssen Sie einmal nüchtern zur Kenntnis nehmen, Frau von der Leyen! ({1}) Die Arbeit ist billiger geworden, die Arbeit ist unsicherer geworden, und die Arbeitsverhältnisse haben sich für viele Menschen dramatisch verschlechtert. Ich möchte heute vor allen Dingen etwas zu dem Antrag der Linken zum Mindestlohn sagen. Wir hätten heute die Chance, gemeinsam - mit Ihnen von den Regierungsfraktionen - eine riesige Ungerechtigkeit in diesem Lande zu beseitigen. Um was geht es? Es geht um nicht weniger als die Einhaltung unserer Verfassung. In Art. 1 des Grundgesetzes steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Es gehört zur Würde, meine Damen und Herren, dass Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, von ihrer Arbeit leben können und nicht hinterher zum Amt gehen müssen, weil das Geld nicht reicht. So etwas entspricht nicht unserer Verfassung. ({2}) Diejenigen, die 3 oder 4 oder 5 Euro die Stunde verdienen, sind insbesondere Frauen. Mich freut ja Ihr Engagement, Frau von der Leyen - wir haben Sie dabei ja unterstützt, auch wenn Ihnen Ihre eigene Partei von der Fahne gegangen ist -, für mehr Frauen in Führungspositionen. Aber wo bleibt Ihr Engagement für die vielen Frauen in diesem Land - es betrifft überwiegend Frauen -, die zu niedrigsten Löhnen arbeiten müssen? In dieser Frage, Frau von der Leyen, haben Sie völlig versagt, da haben Sie null Engagement gezeigt. ({3}) Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen noch einmal in aller Klarheit sagen: Sie haben einen Eid auf die Verfassung geleistet - und nicht auf das Programm der Arbeitgeberverbände, die die Mindestlöhne eigentlich verhindern wollen. ({4}) Sie regieren mit Ihrer Haltung gegen Mindestlöhne gegen das Volk. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will Mindestlöhne: Laut Emnid sind es 86 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Übrigens ist auch eine Mehrheit in Ihrer Partei für Mindestlöhne. Auch die Mehrheit der SPD-Wähler ist für einen Mindestlohn. Ich garantiere Ihnen: Sie werden in dieser Frage schneller rückwärts laufen, als Sie nach rückwärts gucken können. Sie werden noch merken - auch bei den Wahlen; das hoffe ich sehr -, dass Sie eine Mehrheit in diesem Lande gegen sich haben. Übrigens sind auch die Selbstständigen, Herr Brüderle, für die Einführung eines Mindestlohns. Sie sehen: Auch Ihre Klientel ist in dieser Frage weiter als Sie selbst. ({5}) Die Koalition hat sich auf die Fahne geschrieben: Leistung soll sich lohnen. - Ich frage: Lohnt sich denn tatsächlich eine Leistung bei einem Stundenlohn von 3 oder 4 Euro? ({6}) Wenn man zum Aufstocken zum Amt gehen muss, lohnt sich diese Leistung nicht. Ein Viertel der Beschäftigten sind Niedriglöhner. 1,4 Millionen Menschen verdienen weniger als 5 Euro die Stunde; die Zahlen haben wir hier des Öfteren diskutiert. Lohnt es sich denn tatsächlich für einen Rettungssanitäter - das sind die, die uns von der Straße auflesen, wenn uns etwas passiert ist -, ({7}) etwas zu leisten, wenn er dafür weniger als 9 Euro die Stunde bekommt? Ist das tatsächlich eine Entlohnung, die dem angemessen ist, was dieser Mensch leistet? Ich sage: Die Mehrheit der Menschen ist für einen vernünftigen Mindestlohn, weil ein Mindestlohn etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Mit aller Klarheit: Wer einen Mindestlohn ablehnt, wie Sie das tun, der hat mit der Mehrheitsmeinung in diesem Land und dem Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger nichts mehr am Hut. ({8}) Sie werden nicht müde, negative Beschäftigungswirkungen bei der Einführung eines Mindestlohns zu konstatieren. Es gibt weltweit keine einzige Studie - keine einzige! -, ({9}) die Ihnen mit Ihrer Position recht gibt. Ich möchte bitte schön gerne einmal wissen, wo Sie diesen Unfug eigentlich herhaben. Die Realität ist ganz anders. Selbst in England, wo der Mindestlohn schon seit Jahren gilt, sagen die Unternehmerverbände: keine negativen Auswirkungen. ({10}) Daneben führen Sie gerne das Argument Frankreich an und sagen: Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit so hoch, weil es dort einen Mindestlohn gibt. - Wissen Sie, was das Problem ist? Durch das Lohndumping in der Bundesrepublik, dadurch, dass wir keine Mindestlöhne haben und die Löhne sinken, sind wir Mitverursacher der Arbeitslosigkeit in Frankreich und bei anderen europäischen Nachbarn. Deshalb müssen wir vor dem Hintergrund der internationalen Lage auch bei uns einen Mindestlohn einführen. ({11}) - Weil ich mich immer freue, wenn Sie sich so aufregen, will ich natürlich auch noch etwas zur Tarifautonomie sagen: Dass Sie sich zum Schutzpatron der Tarifautonomie machen, ist wirklich interessant. Ich kann mich noch an Ihre Vorschläge erinnern, das Streikrecht einzuschränken. Hat das die Tarifautonomie gefördert oder eher behindert? Ich kann mich auch noch an Rogowski erinnern, den Arbeitgeberpräsidenten. Der war Ihrem Lager eh bei weitem näher als jedem anderen hier im Haus. Er wollte Tarifverträge verbrennen. Und Sie machen sich zum Schutzpatron von Tarifverträgen! Darüber kann ich nicht einmal mehr lachen. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. ({12}) Sie argumentieren, dass die Tarifautonomie letztendlich eingeschränkt werden würde, wenn wir einen Mindestlohn auf einem unteren Level festlegen würden. Merkwürdigerweise sind die Gewerkschaften, also die Träger dieser Tarifautonomie, selber dafür, dass Mindestlöhne eingeführt werden. Diese sehen darin also keinen Versuch, die Tarifautonomie einzuschränken. Sie tun das aber. ({13}) Glauben Sie nicht, dass die Gewerkschaften selber wissen, was für ihren Job wichtiger ist? Glauben Sie wirklich, sie brauchen Sie dazu? Glauben Sie wirklich, die Gewerkschaften brauchen den Rat der FDP dafür, wie die Tarifautonomie zu verteidigen ist? Das wäre genauso, als wenn der FC Bayern Ihren Rat dafür brauchen würde, wie man besser Tore schießt. ({14}) Die braucht er überhaupt nicht. Genauso wenig brauchen die Gewerkschaften Ihren Rat dafür, wie man Tarifverträge verteidigt; denn ich sage Ihnen: Sie haben mit Tarifautonomie eigentlich nichts am Hut. Wenn Sie im Kern Ihrer Gedanken wirklich für Tarifautonomie wären, dann würden Sie dazu beitragen, dass die Tarifautonomie gestärkt wird. Was müssten Sie dann machen? Sie müssten dann dafür sorgen, dass wir starke Gewerkschaften haben, die sich für höhere Löhne einsetzen. Ist das Ihre Position? Das würde mich wundern. Seit wann ist die FDP für starke Gewerkschaften? Sie müssten dann auch für eine Ausweitung des Streikrechts eintreten, weil ein starkes Streikrecht die Voraussetzung dafür ist, dass die Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautonomie auch tätig sein können. Sie sind mit Ihrer Politik doch mitverantwortlich dafür, dass es in der westlichen Welt nur noch zwei Länder gibt, in denen weniger gestreikt wird als in der Bundesrepublik, nämlich die Schweiz und den Vatikanstaat. Darauf können Sie stolz sein. Darum sage ich: Wenn Sie sich um die Tarifautonomie kümmern, dann habe ich immer leichte Bedenken. ({15}) Durch die Politik, die wir hier heute auch diskutieren, sind die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt worden: Dafür war natürlich die Einführung von Hartz IV verantwortlich, weil die Leute dadurch Angst vor Arbeitslosigkeit haben, was die Kampfkraft der Gewerkschaften natürlich nicht stärkt. Daneben nenne ich die Deregulierung der Arbeit, die Tatsache, dass Beschäftigte befristet eingestellt werden, die Leiharbeit und die Werkverträge, Frau von der Leyen. Sie nehmen die Gewerkschaften hier immer in die Pflicht, das vernünftig zu regeln. Gleichzeitig tun Sie aber nichts dafür, dass die Leiharbeit wieder beschränkt wird, dass die befristete Beschäftigung eingedämmt wird und dass der Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen, egal wie sie bezahlt wird, beseitigt wird. Wenn das so bleibt, dann schwächen Sie die Gewerkschaften. Deshalb traue ich Ihnen beiden nicht über den Weg, wenn Sie die Tarifautonomie verteidigen. Sie werden es mir nachsehen. ({16}) Ich kann Ihnen auch sagen, dass trotz der Tarifverträge niedrige Löhne gezahlt werden: im Fleischerhandwerk 6,19 Euro pro Stunde, in der Floristik 5,26 Euro pro Stunde, im Garten- und Landschaftsbau - im Westen - 6,25 Euro pro Stunde. Trotz der Tarifverträge! Warum - Sie können hier auf die bösen Gewerkschaften schimpfen; die haben das abgeschlossen - ist das so? Es ist so, weil die Voraussetzung für die Durchsetzung eines vernünftigen Tarifvertrags ist, dass man stark ist und streiken kann. Sonst sind Tarifverhandlungen nichts als kollektives Betteln. Ich habe das oft erlebt. Ich sagen Ihnen: Wir müssen, wenn wir Tarifautonomie und Streikrecht verteidigen wollen, alles tun, um die entsprechenden Gesetze zu ändern - und das tun wir leider nicht. Ihre Politik ging in die Richtung: Gewerkschaften schwächen, Löhne senken, und dann sollen es die Gewerkschaften über die Tarifautonomie wieder richten. Das haut nicht hin. Meine Damen und Herren, das, was Sie eigentlich tun, ist die Verteidigung von Niedriglöhnen. Damit ist die seit Jahren praktizierte Haltung der Parteien CDU, CSU und FDP mitverantwortlich für Löhne, von denen Menschen nicht mehr leben können. Heute hätten wir die Möglichkeit, das zu korrigieren. ({17}) Meine Damen und Herren, ich komme aber nicht umhin, noch einmal anzusprechen, warum dieses Problem überhaupt vorhanden ist. Kanzler Schröder hat explizit gesagt, er möchte die Einführung eines Niedriglohnsektors, und hat sich dafür selber gelobt. Dafür wird er von der SPD auch heute noch auf den Sockel gestellt. Es wird immer wieder behauptet, die SPD habe damals den Mindestlohn nicht eingeführt, weil die Gewerkschaften dagegen gewesen seien. Das ist eine interessante Argumentation. Die Gewerkschaften waren ja auch gegen die Agenda 2010, und trotzdem hat die SPD sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren auch gegen die Rente mit 67, und trotzdem hat die SPD sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes, und trotzdem hat die SPD sie durchgesetzt. Zu sagen „Die Gewerkschaften waren schuld, dass wir den Mindestlohn nicht eingeführt haben“, das ist wirklich pure Heuchelei. ({18}) Ich bin trotzdem froh, dass Sie zumindest in dieser Frage auf den Pfad der Tugend zurückgekommen sind. Deshalb werden wir dem Entwurf eines Gesetzes über die Festsetzung eines Mindestlohns zustimmen, obwohl ich der geplanten Mindestlohnhöhe eigentlich nicht zustimme; 8,50 Euro sind zu wenig. Das wäre ein Lohn zulasten Dritter. Jeder, der einen solchen Lohn sein ganzes Leben bekommt, ist später auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Das wollen wir nicht. Deshalb sind wir für einen Mindestlohn von 10 Euro. Danke fürs Zuhören. ({19})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine große Inszenierung war geplant. Die SPD-Fraktion verfasst, wie ich jetzt feststellen muss, mit heißer Feder einen Antrag „Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch“. Der Kanzlerkandidat gibt den Arbeiterführer. Wenn das, was Sie, lieber Peer Steinbrück, heute Morgen hier abgeliefert haben, Ihr Ziel ist, dann muss ich sagen: Das war einfach blamabel. ({0}) Es ist deutlich geworden, warum Sie bei den Menschen in diesem Lande nicht ankommen: weil das, was Sie sagen, abgehoben wirkt. Sie stehen nicht für das, was Sie sagen. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern. Sie reden viel über Chancengerechtigkeit; aber als Kanzlerkandidat stehen Sie für eine Politik der Umverteilung. Das ist ein Widerspruch. Das passt nicht zusammen. Das muss man hier sehr deutlich feststellen. - Umverteilung, das ist die Sozialpolitik der Gleichheit. Das mag für Sie noch gelten. Aber Chancengerechtigkeit, das ist die Sozialpolitik der Freiheit, lieber Peer Steinbrück, und damit hat die SPD und damit haben Sie persönlich nichts am Hut. Das will ich hier einmal sehr deutlich sagen. ({1}) Immerhin hat er es geschafft - das muss ich einräumen -, zu dieser Debatte zu kommen. Als wir heute Morgen über den Mittelstand gesprochen haben, den Sie, lieber Peer Steinbrück, in Ihrer Rede ja so hoch gelobt hatten, da konnten Sie Ihre Anwesenheit offensichtlich nicht einrichten. Ich weiß nicht, ob Sie keine Lust oder keine Zeit hatten oder ob einfach das schlechte Gewissen Grund für Ihre Abwesenheit gewesen ist. Schließlich wissen Sie natürlich, was Sie dem Mittelstand mit ihren steuerpolitischen Vorhaben zumuten. Das geht an die Wurzel unserer Volkswirtschaft. Den kleinen und mittelständischen Unternehmen, den Handwerksbetrieben, den kleinen Einzelhändlern, den Freiberuflern wollen Sie ans Zeug, ({2}) und damit werden Sie eine erfolgreiche Wirtschaft nicht auf- und ausbauen können. ({3}) Wer die Wörter „Bildung“ und „Bildungsgerechtigkeit“ in den Mund nimmt - nichts „hätte, hätte, hätte“, lieber Peer Steinbrück -, der muss sich auch fragen lassen, wie es er bzw. die Parteifreunde, die Genossinnen und Genossen, dort halten, wo sie die Mehrheit haben. Bildung findet dadurch statt, dass Unterricht in Schulen gegeben wird. Wie sieht es denn in einem Land wie Hessen, schwarz-gelb regiert, aus? Da werden in diesem Schuljahr 2 000 Lehrer neu eingestellt. ({4}) In Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün vor kurzem die Macht übernommen hat, werden 7 000 Lehrerstellen abgebaut. ({5}) - Sie können gleich etwas dazu sagen, Guntram Schneider. - Das ist das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen. Das hilft jungen Menschen nicht weiter. ({6}) Wer das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde führt, der muss sich auch fragen lassen, wie er es mit der Leistungsgerechtigkeit hält. Da ist das Thema „kalte Progression“ eines, das wir hier auf den Tisch bringen müssen, und wir tun das auch heute; denn die SPD war es, ({7}) die im Bundesrat verhindert hat, dass die Vorschläge zum Abbau der kalten Progression Gesetz werden. Sie haben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - der Krankenschwester, dem Handwerker, dem Facharbeiter nicht gegönnt, dass sie, wenn sie eine Lohnerhöhung oder Gehaltserhöhung erhalten, von dieser auch wirklich profitieren. 3,5 Milliarden Euro wären das für die Menschen in diesem Lande gewesen. ({8}) Die SPD, die einmal von sich behauptet hat, sie sei die Partei der kleinen Leute, ({9}) hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss gegen diese Vorhaben votiert. ({10}) - Das ist wahr, liebe Kollegin Ferner. Da können Sie hier gestikulieren, wie Sie wollen. Das wird mit Ihnen am Ende dieser Legislaturperiode nach Hause gehen. ({11}) Wir wollen die Menschen entlasten, wir wollen, dass sie mehr Netto vom Brutto haben. Da, wo wir es konnten, haben wir es getan: Durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge haben wir eine Entlastung um 10 Milliarden Euro realisiert. Da, wo wir Sie brauchten, haben Sie die Hand verweigert. ({12}) Sie wollten die Menschen in diesem Lande nicht entlasten, ({13}) und es ist schändlich, dass Sie sich so verhalten haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({14}) Das, was Sie sagten, lieber Peer Steinbrück, hat deswegen nicht verfangen, weil schon Ihr Ansatz der falsche ist. Sie mussten ja selbst einräumen: Deutschland ist ein starkes Land. - Ja, und auch die letzten vier Jahre sind gute Jahre für Deutschland und für die Menschen in Deutschland gewesen, ({15}) mit guten Arbeitsplatzchancen, mit guten Lohn- und Gehaltssteigerungen. Deswegen können Sie hier dann nicht den Miesmacher geben, was Ihnen offensichtlich Ihre Partei so aufgeschrieben hat. Wenn Sie also noch einmal den Arbeiterführer versuchen, sollten Sie dies unbedingt auch mit einem neuen Redenschreiber angehen. ({16}) Das ist mein Rat, den ich Ihnen hier noch einmal sehr deutlich mitgeben will. ({17}) Nein, das, was die SPD hier präsentiert, ist politische Beliebigkeit. Ich habe Ihren Antrag gelesen und sehe es so ähnlich wie die Ministerin. Ich habe gedacht: Nach der Agenda 2010 kommt jetzt ein großer Wurf, Deutschland 2020. - Aber es ist wirklich viel heiße Luft. Ich sage es Ihnen noch einmal: Bei einem zweiten Aufguss kommt, wenn Sie sich einen Kaffee kochen, nur noch eine dünne Brühe heraus. Genau das ist der Antrag der SPD, der heute hier in Rede steht. ({18}) Damit können Sie nicht erfolgreich sein. Vier gute Jahre haben verdient, in die Verlängerung zu gehen. Deswegen werden wir bis zum 22. September dafür kämpfen und auch gewinnen. Deutschland hat vier weitere gute Jahre verdient. ({19}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Katrin Göring-Eckardt. Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Frau von der Leyen, letzte Woche haben alle darauf gewartet, dass Sie hier etwas sagen würden. Diese Woche haben Sie geredet - um Ihr politisches Überleben. Sie hatten nichts zu sagen, die eigenen Leute sind nicht dagewesen, und Beifall haben Sie höchstens dünnen bekommen. ({0}) Das muss man vielleicht einmal klar und deutlich sagen: Das, was Sie denjenigen vorwerfen, die die Agenda 2010 mit dem klaren Ziel auf den Weg gebracht haben, zu fördern und zu fordern, haben Ihre Leute im Bundesrat gemacht, ({1}) egal ob es um die Leiharbeit ging, egal ob es um das immer weitere Herunterschrauben der Regelsätze ging. Das waren Sie, das waren nicht SPD und Grüne. Sie sind diejenigen gewesen, die das verschlimmbessert haben, ({2}) gerade für die Arbeitslosen, gerade für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber dann behaupten Sie hier, Sie handelten. ({3}) Frau von der Leyen, letzte Woche haben Sie weder geredet noch gehandelt; aber das sei einmal dahingestellt. ({4}) Ansonsten sind Sie nichts weiter als eine große Ankündigungsministerin, auch heute wieder. Sie haben die Lebensleistungsrente angekündigt. Wo ist sie denn? Sie haben die Bekämpfung der Altersarmut angekündigt. Nichts ist passiert. Sie haben angekündigt, als alle davon redeten, dass der Stress am Arbeitsplatz zunimmt, Sie machten eine Antistressverordnung. Nichts! Sie haben Verbesserungen der Werkverträge angekündigt. Nichts! Sie haben sich für den Mindestlohn eingesetzt. Nichts ist passiert. ({5}) Entgeltgleichheit, Quote - wir könnten jetzt eine Stunde lang darüber reden, was Sie nicht gemacht haben. Das ist peinlich, und das ist nicht im Sinne der Menschen. ({6}) Reden wir über die Realität. Herr Rösler hat diese Woche seiner Partei gesagt, sie möge doch bitte einmal beim Thema Mindestlohn die Lebensrealität der Menschen in den Blick nehmen. - Wir stellen fest: Die FDP regiert seit vier Jahren, und zwar nach eigenen Angaben seit vier Jahren an der Lebensrealität vorbei. ({7}) Was ist die Realität?

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute in Deutschland - Stichtag 25. April 2013 - für rund 4 Millionen Menschen Mindestlöhne gelten ({0}) und dass diese branchenbezogenen Mindestlöhne auf der Basis von Tarifverträgen eingeführt wurden? Wären Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der weit überwiegende Teil dieser Mindestlöhne, nämlich für 3,8 von 4 Millionen Menschen, unter schwarzgelben Regierungen eingeführt wurde, ({1}) 1996 im Baubereich beginnend und in dieser Legislaturperiode für 2,1 Millionen Menschen fortgesetzt? Das zeigt, dass wir die Realität der Menschen längst im Blick haben und dass wir da, wo es erforderlich ist, entsprechend reagieren. Was uns von Ihnen unterscheidet, ist, dass Sie glauben, mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn die Menschen glücklich machen zu können. Ich sage Ihnen - ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen -: Es ist eben nicht vorstellbar, dass ein gleiches Lohnniveau in der Oberlausitz, im Bayrischen Wald, in Ostfriesland genauso Gültigkeit haben kann, ({2}) wie das beispielsweise im Rhein-Main- oder im RheinNeckar-Raum, in Hamburg, Düsseldorf oder München der Fall ist. ({3}) Das geht nicht. Aber wir haben immer gesagt: Branchenbezogene Mindestlöhne gehen. Das ist der Weg, den wir in Nürnberg weiter ins Auge fassen wollen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das ist Ihre Frage.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kolb, ich meine, Sie müssen mit Ihrem Parteivorsitzenden darüber reden, warum er jetzt sagt, die FDP müsse einmal die Lebensrealität zur Kenntnis nehmen. Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. ({0}) Ich kann Ihnen aber sagen, wie die Situation tatsächlich ist: 6,8 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für einen Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das sind diejenigen, die arbeiten und dann aufstocken müssen. ({1}) Das sind diejenigen, bei denen nicht mehr von Leistungsgerechtigkeit die Rede ist, sondern die zu echten Hungerlöhnen in Deutschland arbeiten. Das sind zum Teil übrigens auch diejenigen, die in Branchen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen arbeiten. Wissen Sie, was passiert? Sie bekommen Löhne von zum Teil unter 5 Euro. ({2}) Davon kann man nicht leben. Da kann man auch nicht mehr davon reden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Diese Woche, sehr geehrter Herr Kolb, haben wir das gesehen, von dem Sie behaupten, dass es nicht funktioniert: Diese Woche hat das Friseurhandwerk einen Mindestlohn von 8,50 Euro verabredet. ({3}) Sie behaupten immer: In einem solchen Fall gehen die Arbeitsplätze flöten. - Sie sind auf dem völlig falschen Dampfer, Herr Kolb. Sie haben nicht in den Blick genommen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn für alle Gerechtigkeit bedeutet. ({4}) Mit einem Mindestlohn bekommt man Fachkräfte und vermeidet einen Flickenteppich in Deutschland nach dem Motto: Die einen so, die anderen so. Wir sorgen dafür, dass es eine gesetzliche Untergrenze gibt. Das hat mit Gerechtigkeit zu tun. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit zu tun. Das hat damit zu tun, dass man endlich anerkennt, was die Leistung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wert ist, Herr Kolb. ({5}) Ich will gerne bei der Lebensrealität bleiben. Drei Viertel der über 7 Millionen Minijobberinnen und Minijobber in Deutschland arbeiten für einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun. Ein Viertel der Erwerbstätigen sind inzwischen atypisch beschäftigt. Sie können mir doch nicht sagen, dass Leiharbeit, dass befristete Beschäftigung, dass geringfügige Beschäftigung, wie sie im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufgelistet werden, jedenfalls in dem Teil, den Sie mit unterschrieben haben, irgendetwas mit einer Verbesserung der Situation am Arbeitsmarkt zu tun haben. Das Gegenteil ist der Fall. ({6}) Insbesondere die Situation der Frauen - da muss man wieder Frau von der Leyen in den Blick nehmen - ist ein Desaster. Fast jede dritte Frau in Deutschland arbeitet für einen Niedriglohn. Die Zahl der Frauen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, hat sich seit 2005 verdoppelt. Das ist doch keine Erfolgsbilanz, Frau von der Leyen. Das ist definitiv das Gegenteil. ({7}) Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Lebensrealität in Deutschland, was Leiharbeit, Mindestlöhne, die es nicht gibt oder die viel zu gering sind, und die Situation gerade der Minijobberinnen angeht, hat mit dem, was Sie behaupten, nichts zu tun. Minijobberinnen bekommen in der Regel keinen Einstieg in eine reguläre Beschäftigung. Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, behaupten zwar ständig, Minijobs seien eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Aber die Frauen, die heutzutage Minijobs haben, kommen zum allergrößten Teil nicht in reguläre Beschäftigung. Sie landen entweder wieder zu Hause, in einer kleinen Teilzeitstelle oder in irgendwelchen Überbrückungsmaßnahmen. Sie sind außerdem nicht abgesichert. Deswegen brauchen wir zuallererst eine Gleichbehandlung der Minijobs, wenn es beispielsweise um Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit und Urlaubsansprüche geht. ({8}) Entsprechende Sofortmaßnahmen würden den Minijobberinnen und Minijobbern helfen und sie nicht länger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse erscheinen lassen. Das sind sie heute tatsächlich. Die meisten haben nur einen Minijob und nichts anderes. ({9}) Was mich am meisten aufregt, ist, dass Sie gerade die Arbeitslosen in Deutschland, diejenigen, die arbeiten wollen, zunehmend so behandeln, als ob diese nicht mehr in Ihrem Fokus stünden. Sie haben beim Eingliederungstitel immer weiter gekürzt. Nun wird wieder die Diskussion aufkommen, ob pro Kopf gekürzt wurde oder nicht. Ich sage Ihnen: Ja, Sie haben etwa ein Viertel des Geldes für jede und jeden, die bzw. der in Deutschland leistungsberechtigt ist, gekürzt. Das hat nichts mehr mit Fördern zu tun. Gleichzeitig werden so viele Sanktionen ausgesprochen wie nie zuvor. Sie gängeln die Arbeitslosen, anstatt ihnen zu helfen, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Eine Alleinerziehende, die Kinder unter drei Jahre aufzieht, braucht natürlich Unterstützung und Hilfe. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Ihre Kürzungen gehen zulasten der Leistungsberechtigten und der Arbeitslosen. Dabei brauchen wir diese Menschen dringend als Fachkräfte in unserem Land. ({10}) Damit sind wir beim Fachkräftemangel. Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, hat gesagt, wir müssten jeden Monat 10 000 Einwanderer in Deutschland aufnehmen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wir brauchen dringend eine vernünftige Einwanderungspolitik, die das angeht. Ja, wir brauchen mehr Frauenerwerbstätigkeit. Ja, wir brauchen mehr und besser ausgebildete Jugendliche. Ja, wir brauchen eine Kultur gegen Altersarbeit. All das brauchen wir. Ich will abschließend sagen: Es geht nicht nur darum, dass wir endlich dafür sorgen müssen, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber wieder auf Augenhöhe sind, sondern auch darum, ob Deutschland wettbewerbsfähig ist, ob Fachkräfte hierherkommen und hierbleiben. Die soziale Frage ist in ökonomischer Hinsicht mindestens genauso entscheidend wie alles andere. Da haben Sie versagt. Das müssen Sie sich in das Stammbuch schreiben lassen. Auch darüber wird am 22. September entschieden. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl Schiewerling. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich: Schauen wir auf die Realität, oder stehen wir mitten in einer Nebelwolke? Was Sie bislang hier abgeliefert haben, ist nichts anderes als Nebelkerzen, die dazu dienen, den Blick auf die Realität völlig zu verstellen. ({0}) Die Bundesarbeitsministerin hat vorhin in aller Deutlichkeit dargelegt, wie sich die Arbeitsmarktsituation entwickelt hat. Es gibt mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Wollen Sie uns eigentlich ankreiden, dass 29,8 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind? Wollen Sie uns wirklich ankreiden, dass nun insgesamt fast 42 Millionen Menschen in Beschäftigung sind? Wollen Sie uns Rekordüberschüsse in den sozialen Sicherungssystemen ankreiden? Wollen Sie uns eigentlich dafür ausschimpfen, dass es den Menschen in unserem Land besser geht? Was ist das denn für eine Mentalität, wie Sie über Deutschland reden? Nutzen Sie den 1. Mai als Gelegenheit, um den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen: Noch nie in den vergangenen Jahren haben die Menschen laut Umfragen so wenig Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt wie heute. - Das ist die Realität, in der wir leben. ({1}) All dies haben wir übrigens erreicht, obwohl uns zu Beginn dieser Koalition vorgeworfen wurde, wir würden massiv in Rechte der Arbeitnehmer eingreifen wollen. Nichts ist passiert. Der Kündigungsschutz wurde nicht gelockert. Es hat keine Benachteiligung oder Hintanstellung der Gewerkschaften gegeben. Trotzdem oder gerade deswegen haben wir eine hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in unserer Wirtschaft. Ich denke, das sind die Botschaften, die wir hier auszusenden haben. Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit unserer Bundesarbeitsministerin ein Dankeschön dafür, dass sie es ist, die immer wieder auf die Situation der Kinder und Jugendlichen hinweist, ({2}) dass sie es ist, die immer wieder das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Frage der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben aufgreift und umsetzt. ({3}) Ich verschweige auch nicht, Herr Kollege Heil und alle anderen, dass wir diese Dinge im Vermittlungsausschuss, in der gemeinsamen Runde zwischen Bundestag und Bundesrat, verhandelt haben. Es war ein mühsames Ringen. Aber die Initiative, den richtigen Weg einzuschlagen, hat die Bundesarbeitsministerin ergriffen. ({4}) Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ändert nichts daran, dass es in Deutschland Branchen gibt, in denen es der einen oder anderen Firma schlecht geht, zum Beispiel Opel in Bochum, wo die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz bangen. Heute diskutiert der Landtag in Nordrhein-Westfalen in einer Aktuellen Stunde über die Situation von Opel in Bochum. Ich habe mich doch sehr gewundert, dass der zuständige Landesarbeitsminister nicht an seinem Arbeitsplatz in Düsseldorf ist, sondern sich hier befindet. ({5}) Kommen wir zum Inhalt Ihres Antrages. Dort heißt es: „Die Gesellschaft driftet auseinander.“ Hätten Sie den viel zitierten Armuts- und Reichtumsbericht gelesen, dann hätten Sie gesehen, dass die verfügbaren Einkommen steigen. Unter Rot-Grün ist die Einkommensschere auseinandergegangen. Seit 2005 geht die Einkommensspreizung zurück, und gerade die realen Haushaltseinkommen der unteren 40 Prozent der Einkommensbezieher sind stärker als beim Rest der Bevölkerung gestiegen. ({6}) Das ist die Wahrheit. Auch wenn das, was Sie verkünden, etwas anderes aussagt: Es stimmt nicht. Vor diesem Hintergrund stellen Sie sich jetzt hin und sagen: Wir machen alles noch gerechter, wir ändern dieses und jenes und machen es solidarischer. Dabei gerät bei Ihnen immer wieder die Zeitarbeit in den Mittelpunkt. Ich kann es nur wiederholen: Die Änderungen in der Zeitarbeit sind ohne den Bundesrat und ohne die Beteiligung der Union passiert. Rot-Grün hat in den HartzGesetzen die Zeitarbeit so flexibilisiert, dass sie diese Entwicklung genommen hat. ({7}) Ich kann nur sagen: Wir haben die Schlecker-Drehtürklausel eingeführt, um die Dinge gerechter zu machen. Wir haben die Tarifpartner dazu gebracht, einen Mindestlohn zu vereinbaren. ({8}) Wir sind diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass die Menschen in diesem Bereich nach und nach Equal Pay bekommen, was übrigens den Gewerkschaften sehr genutzt hat. Vor kurzem haben uns noch Gewerkschaftsvertreter gesagt, dass sie gerade aus der Zeitarbeit viele neue Mitglieder gewinnen konnten, ({9}) weil die Menschen gemerkt haben, dass die Gewerkschaften für sie vieles erreicht haben. Herzlichen Glückwunsch! Wir freuen uns darüber. Das ist der richtige Weg und eine gute Botschaft zum 1. Mai. ({10}) Jetzt wollen Sie doch wohl bei 29,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, von denen gerade einmal 800 000 als Zeitarbeiter arbeiten, nicht das blanke Elend Deutschlands beschwören. Sie wollen doch wohl nicht die blanke Verelendung Deutschlands an diesen 800 000 Menschen festmachen, die auch noch Löhne erhalten, die die Gewerkschaften ausgehandelt haben, ({11}) und zudem noch sukzessive Equal Pay bekommen. Ich halte das für ein starkes Stück, was Sie den Deutschen hier vorführen. ({12}) Lassen Sie mich einen Satz zu den Minijobs sagen, weil Frau Göring-Eckardt gerade darauf eingegangen ist. Auch dieses Thema ist dazu geeignet, riesige Nebelwolken zu erzeugen. 6,9 Millionen Menschen arbeiten in Minijobs. ({13}) Davon sind fast 20 Prozent Jugendliche bzw. Schüler und Studenten. Dazu kommen 20 bis 25 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Die Aufstockungsmöglichkeiten und die Minijobs, die sich dann ausgeweitet haben - auch das will ich Ihnen klar sagen, Frau GöringEckardt -, sind ohne Zutun der CDU/CSU und der FDP 2003/2004 in den Hartz-Gesetzen verankert worden. ({14}) Sie haben die Möglichkeit eröffnet, dass man nicht nur ein normales sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis haben kann, sondern darüber hinaus auch einen Minijob, der dann steuerlich nicht angerechnet wird. Das haben nicht wir gemacht, sondern Sie. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Minijobs explosionsartig um 2,3 Millionen angestiegen. Auch das gehört zur Wahrheit. Stellen Sie es hier nicht anders dar! ({15}) Wir haben die Opt-out-Regelung eingeführt, ({16}) sodass die Menschen, die jetzt einen Minijob haben, rentenversicherungspflichtig arbeiten, es sei denn, sie erklären sich gegen die Versicherungspflicht. Das hat dazu geführt, dass wir mittlerweile einen deutlichen Anstieg der Zahl der rentenversicherungspflichtigen Minijobber verzeichnen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch kurz einen Satz zum Mindestlohn sagen. ({17}) Auch hier ist wirklich eine Nebelkerze geworfen worden. Wir wollen den tariflichen Mindestlohn. Wir wollen einen Mindestlohn, den Arbeitgeber und Gewerkschaften gefunden haben. Wir wollen den Mindestlohn, der vor allen Dingen dort eingeführt wird, wo keine ordentlichen Tarifverträge bestehen. ({18}) Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von Arbeitgebern und Gewerkschaften erarbeitet wird. Das ist etwas völlig anderes als ein hier im Parlament kurz vor den nächsten Bundestagswahlen im Wettbewerb zwischen SPD, Linken und den Grünen nach oben getriebener Mindestlohn, der jetzt bei der SPD bei 8,50 Euro liegt und bei den Linken bei 10 Euro. Ich bin gespannt, womit andere noch kommen werden, ob er weiter nach oben getrieben wird. Das ist keine ordentliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Diese Politik würde zu einer Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit führen; denn es ist eine Politik der Arbeitsplatzvernichtung, wie wir in einigen Ländern Europas beobachten können. ({19}) Aber ein Mindestlohn, den die Tarifpartner finden, ist vernünftig, ist sachgerecht und orientiert sich an der Lebenswirklichkeit der Menschen. Meine Damen und Herren, für diese ordentliche, sachgerechte Politik werden wir uns weiter einsetzen. Dafür werden wir kämpfen. ({20}) Das ist Politik der Union. Wir verstehen unter sozialer Gerechtigkeit, Menschen auch teilhaben zu lassen. Achten Sie darauf, dass Sie die Welt nicht so schwarz malen, dass Sie hinterher selbst nicht mehr durchblicken! Herzlichen Dank. ({21})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. - Bitte schön, Herr Guntram Schneider. ({0}) Guntram Schneider, Minister ({1}): Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schiewerling, eine Bemerkung: In Nordrhein-Westfalen gibt es einen Arbeitsminister, der auch etwas von Wirtschaft versteht, ({2}) und es gibt einen Wirtschaftsminister, der auch etwas von Arbeit versteht. ({3}) Wir arbeiten da im Team, und machen Sie sich keine Sorgen über die Präsenz des Wirtschafts- und des Arbeitsministers bei der heutigen Plenardebatte in Düsseldorf zum Thema Opel. ({4}) Im Übrigen hat ja Ministerpräsident Rüttgers schon einmal durch persönliche Anwesenheit ({5}) in Detroit Opel in Bochum gerettet. Ich habe mir sagen lassen, er ist kaum über das Pförtnerhäuschen hinausgekommen. ({6}) Auch dies gehört zu den Realitäten. Verehrte Frau Bundesministerin, Sie haben den Beitrag von Herrn Steinbrück als jämmerlich bezeichnet. ({7}) Ich muss Ihnen eines sagen: Es ist jämmerlich, wie Sie, obwohl noch im Amt, mit der Sozialgeschichte umgehen. ({8}) Es waren doch nicht Sie, die den Mindestlohn in der Zeitarbeit eingeführt haben. Dieses Thema ist im Rahmen der Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabepaket verhandelt worden, ({9}) Minister Guntram Schneider ({10}) und wir haben Ihnen dies abgerungen. Da waren Sie noch gar nicht so weit, ({11}) und die Herren Schiewerling und Kolb waren auch intellektuell noch nicht so weit, ({12}) um zu verstehen, dass dies notwendig ist. Ähnlich war es auch mit der Schulsozialarbeit. Auch da haben wir einen großen Wurf gelandet. Jetzt geht es darum, hier Anschlussregelungen zu finden, weil sich herausgestellt hat: Die Benachteiligung von armen Kindern kann man nicht nur mit Geld ausgleichen, sondern man muss vor allem die Strukturen verbessern. Dabei spielt die Schulsozialarbeit eine herausragende Rolle. Meine Damen und Herren, natürlich gibt es in unserer Gesellschaft nicht nur Armut. Auch der nordrhein-westfälische Armuts- und Reichtumsbericht - wir waren da schneller als die Bundesebene; wir brauchten nicht so viel nachzuarbeiten ({13}) zeigt auf: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr Menschen, denen es gut bis sehr gut geht; andererseits gibt es immer mehr Menschen, denen es schlecht geht, die arm sind. - Wir verkleistern da nichts; das überlassen wir anderen. ({14}) 700 000 arme Kinder in Nordrhein-Westfalen, das ist skandalös. ({15}) Wir halten uns an die alte Maxime: Politik beginnt damit, dass man sagt, was Sache ist, ({16}) und nicht mit schöngeistigen Verkleisterungen, die dafür sorgen, dass die Realitäten nicht zum Vorschein kommen. Es gibt also immer mehr Armut. Natürlich haben wir auch mehr versicherungspflichtige Beschäftigung. Aber ich sage Ihnen nochmals: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft ({17}) - Sie haben es immer noch nicht begriffen! -, sondern sozial ist, was gute Arbeit schafft. ({18}) Zur guten Arbeit gehört, dass man mit dem Einkommen sein Auskommen hat. Weil das in immer weniger Bereichen der Fall ist, brauchen wir einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. ({19}) Sie wollen im Grunde genommen das Gegenteil. Sie wollen eine Regelung, die zu einem Flickenteppich führen würde. ({20}) Sie reden immer noch davon, dass die Höhe der Einkommen entscheidend dafür ist, welche Qualität und Güte Arbeitsplätze haben. Nach dieser Logik müsste Mecklenburg-Vorpommern eine blühende Wirtschaftslandschaft sein und München das Armenhaus der Republik. Bekannterweise ist das nicht so. Natürlich spielt die Höhe der Einkommen eine Rolle; aber das ist nicht entscheidend. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, einem Industrieland; da funktioniert die Tarifautonomie noch. ({21}) Aber wir haben auch Unternehmen, in denen der Krankenstand höher ist als der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Da können Sie nicht erwarten, dass es über die Tarifvertragsparteien zu ordentlichen Mindestlöhnen kommt. Deshalb brauchen wir gesetzliche Regelungen. ({22}) Wir beginnen hier mit 8,50 Euro. ({23}) Wir wollen keine parteipolitische Auseinandersetzung um die Höhe des Mindestlohns. ({24}) Wir wollen ein Modell in Anlehnung an das, was in Großbritannien praktiziert wird. Da gibt es eine Kommission, die unter Einbeziehung der Preissteigerungsrate, der Lohnentwicklung und der allgemeinen Produktivitätsentwicklung - das ist das Entscheidende Vorschläge für die Fortentwicklung des allgemeinen ge29692 Minister Guntram Schneider ({25}) setzlichen Mindestlohns macht. Auf diesem Wege sind keine Arbeitsplätze gefährdet worden. Natürlich kann man Mindestlöhne nicht nach Gutdünken festsetzen. ({26}) Mindestlöhne müssen auch durch wirtschaftliche Leistung untersetzt werden. ({27}) - Das ist kein Widerspruch in sich. Wenn das ein Widerspruch in sich wäre, dann hätten wir in 21 Ländern in der Europäischen Union wirtschaftliche Hasardeure. ({28}) - Die haben doch keine hohe Arbeitslosigkeit wegen der Mindestlöhne. ({29}) Vereinfachen Sie doch nicht das Problem! ({30}) Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Über 80 Prozent der Menschen wollen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Sie sollen nicht die Letzten sein, die ihn bekommen; ich stelle dies so fest. Wenn Sie weiter argumentieren wie bisher, dann werden Sie zu den letzten ökonomischen Exoten in diesem Land gehören. Deshalb noch einmal: Passen Sie auf! Sie werden nicht darum herumkommen, hier zu handeln. ({31}) Die Frau Bundesministerin hat ein wichtiges Stichwort genannt: Einwanderungspolitik. Sehr richtig. Auch ich bin davon überzeugt, dass wir eine organisierte Einwanderung brauchen. Aber wenn Sie dies durchsetzen wollen, Frau von der Leyen, dann haben Sie in Ihrer eigenen Partei noch viel Aufräumarbeit zu leisten. Ich erlebe das in NRW jeden Tag. ({32}) Die Konservativen haben immer noch nicht verstanden, dass wir ein Einwanderungsland sind. Ich warne davor, mit stumpfen Ablehnungen gegenüber allem, was fremdartig ist, unsere Möglichkeiten für eine organisierte Einwanderung zunichtezumachen. ({33}) Das passt nicht zusammen. Ich erlebe das beim Thema Roma. Der nordrhein-westfälische Oppositionsführer will sie ausweisen, obwohl das nach der EU-Gesetzgebung gar nicht geht. Die Einwanderungspolitik der CDU ist: Raus, raus, raus! - Dies muss ich leider sehr oft zur Kenntnis nehmen. ({34}) Meine Damen und Herren, ich sprach von der guten Arbeit. Dazu gehört die Zurückdrängung befristeter Arbeitsverhältnisse. Es ist skandalös, wenn unter 25-Jährige kaum mehr die Möglichkeit haben, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis einzugehen. Das geht nicht so weiter. ({35}) Wir brauchen eine neue Regulierung der Leiharbeit. Wir wollen sie nicht abschaffen. Wir wollen sie zurückführen auf ihren eigentlichen Sinn. Wir brauchen generell eine Offensive für bessere, auch gesunderhaltende Arbeit. Wenn die Menschen länger im Erwerbsprozess bleiben sollen und müssen, dann müssten wir eine breite Offensive zur Humanisierung der Arbeit starten, wie sie Hans Matthöfer, der ehemalige Leiter der Bildungsabteilung der IG Metall, ins Leben gerufen hat.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Landesminister, Guntram Schneider, Minister ({0}): Ich bin gleich fertig.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

- ich möchte nur sagen: Wenn Sie Abgeordneter wären, würde ich Sie auf die Redezeit aufmerksam machen. Aber Sie sind Landesminister und haben hier Rederecht. Guntram Schneider, Minister ({0}): Vielen Dank dafür. ({1}) Gut, dass der Föderalismus dies vorsieht. Die Menschen müssen länger gesund im Erwerbsprozess verbleiben können. Dies wird eine große Aufgabe für die nächste Wahlperiode sein. Herr Kolb, Sie sprachen von Arbeiterführern. Arbeiterführer haben, soweit es sie noch gibt, im Allgemeinen keine Redenschreiber. ({2}) Sie sagen, was in der Gesellschaft passiert. ({3}) - Ja, das ist die liberale Abart von Arbeiterführern. Darüber kann man reden. Das ist aber nicht unser Vorgehen; das wollen wir nicht. Seien Sie sich, was die Mehrheiten in diesem Lande angeht, nicht so sicher. Am 13. Mai letzten Jahres war die Landtagswahl in NRW. Minister Guntram Schneider ({4}) ({5}) Am 1. Mai schien noch alles verloren. Passen Sie auf! Seien Sie nicht so selbstzufrieden! Wir werden schon die richtigen Mehrheitsverhältnisse für eine soziale und demokratische Zukunft herbeiführen können. Vielen Dank. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Landesminister. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat von Ihnen, Herr Steinbrück, beginnen. Sie haben vor einiger Zeit in der Zeit geschrieben: ({0}) Wenn die SPD unter dem Druck von Identitätsproblemen … diesen Reformprozess - Sie meinten die Agenda 2010 abbrechen oder bis zur Unkenntlichkeit - und damit Unwirksamkeit - verdünnen sollte, dann verlöre sie nach meiner Überzeugung mehr als die Regierungsfähigkeit. Sie verlöre ihren … Anspruch, … eine Partei der Veränderung im Sinn ihrer Grundwerte gewesen zu sein. Herr Steinbrück, kann es sein, dass Sie heute hier so lustlos gesprochen haben, weil im Wahlprogramm der SPD genau das steht, was Sie beklagt haben? ({1}) Kann es sein, dass das Ihr Motivationsproblem ist? Frau Göring-Eckardt, Sie haben uns eben fachpolitisch mit dem Thema Minijobs beglückt. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Minijobs kein gutes Beispiel sind, um die angebliche Verderbtheit am Arbeitsmarkt darzustellen. Drei Viertel aller Minijobber wollen genau das, nämlich einen Minijob. Sie bekommen im Übrigen netto alles andere als einen Niedriglohn. Das zeigt in meinen Augen vor allem, dass Sie mit fachpolitischen Arbeitsmarktdebatten sonst nicht viel zu tun haben. ({2}) Kann es sein, dass Sie hier davon ablenken wollen, dass vonseiten Ihrer eigenen Partei bemerkenswerte Sätze kommen? Ich habe hier ein Zitat von Herrn Palmer, der sich vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Blick auf Ihr Wahlprogramm folgendermaßen äußerte: In der Summe machen wir damit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig, ({3}) auf die wir früher zu Recht stolz gewesen sind weil sie vielen Menschen einen Job verschafft hat. ({4}) Kann es sein, dass Sie deshalb hier so lustlos gesprochen haben, weil Sie wissen, dass das, was in Ihrem Wahlprogramm steht, und die Realität in Deutschland - gute Arbeitsmarktlage und gute Perspektiven für die Menschen - nicht zusammenpassen? ({5}) Wir, die Kollegen und die Ministerin - das wurde schon dargestellt -, haben für bessere Perspektiven für die Menschen in Deutschland gesorgt. Es waren vier gute Jahre für die Menschen in Deutschland. Deswegen werben wir dafür, dass diese vier guten Jahre um vier weitere gute Jahre unter schwarz-gelber Verantwortung verlängert werden. ({6}) Ich möchte auch ein bisschen auf Nordrhein-Westfalen eingehen, weil ich selber von dort komme und weil ein nordrhein-westfälischer Landesminister hier gesprochen hat. Herr Steinbrück, Sie sprachen gerade von der vorsorgenden Sozialpolitik - das ist die große Überschrift, unter die die Ministerpräsidentin NordrheinWestfalens von der SPD ihre Politik stellt - und haben Ihren Antrag damit begründet. Die Ministerin hat eben zu Recht darauf hingewiesen, dass sich diese Koalition sehr wohl Gedanken darüber macht, was jetzt kommen muss und wie eine Agenda 2020 für Deutschland aussieht. Ein wesentlicher Bestandteil muss natürlich - Herr Steinbrück, da gebe ich Ihnen recht - der Punkt „Aufstiegschancen durch Bildung“ sein. Schauen wir uns doch einmal an, was Nordrhein-Westfalen in diesem Bereich tut! Herr Schneider, Sie haben eben von Gerechtigkeit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen leben 22 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Die Neuverschuldung Ihrer Landesregierung macht aber 60 Prozent aller Neuverschuldungen der Bundesländer aus. ({7}) Das kann vieles sein; aber mit Generationengerechtigkeit hat das nichts zu tun. ({8}) Johannes Vogel ({9}) Ich möchte noch etwas ausführlicher auf dieses Thema eingehen, da es etwas über Ihre Politik aussagt und zeigt, was unter Ihrer Verantwortung im größten Bundesland passiert: Obwohl Sie in Nordrhein-Westfalen so viele Schulden machen, wurde die Anzahl der Stellen aller Landesministerien um 70 erhöht. ({10}) Das geschah übrigens nicht nach Bedarf, sondern einfach per Quorum, auf alle Landesministerien verteilt. ({11}) Anstatt zu sparen und den Staat effizienter zu machen, geben Sie Geld aus, das Sie sich zulasten der jungen Generation gepumpt haben, Herr Minister. ({12}) Wenn es allerdings darauf ankommt, dann kürzen Sie. Gerade erst haben Sie wieder einen Kürzungsvorschlag gemacht. Die Schulministerin in Nordrhein-Westfalen hat kürzlich angekündigt, beim Vertretungsunterricht zu kürzen, Herr Minister. ({13}) Der Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-Westfalen sagt, das entspreche einer Kürzung von 500 Lehrerstellen. Herr Minister Schneider, lieber Herr Steinbrück, so stellen wir uns vorsorgende Sozialpolitik nicht vor - ganz sicher nicht. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Haben Sie Ihre Redezeit im Auge?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum letzten Satz. - Dem steht eine schwarz-gelbe Bundesregierung gegenüber, ({0}) die 1 Milliarde Euro mehr für Bildung und Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik ausgibt, obwohl es 1 Million weniger Arbeitslose gibt als zu Ihrer Zeit, und die auch sonst sehr erfolgreich für Einstiegs- und Aufstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Wir können darüber in den nächsten Monaten gerne diskutieren und die Bevölkerung bei der Bundestagswahl darüber entscheiden lassen. Ich bin mir sicher: Die Wählerinnen und Wähler werden entscheiden, dass es vier weitere gute Jahre mit einer schwarz-gelben Bundesregierung geben wird. Vielen Dank. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU und CSU der Kollege Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Matthäus-Evangelium heißt es: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Wohlgemerkt: Nicht an ihren wohlklingenden Reden und nicht an ihren wohlformulierten Anträgen im Bundestag, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. ({0}) Insofern muss man in einer solchen Debatte, wenn man sie ehrlich führt, auf die rot-grüne Regierungszeit unter Gerhard Schröder zurückkommen. Gerhard Schröder hat am 28. Januar 2005 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Folgendes gesagt: Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Das war die große Botschaft von Rot-Grün: Wir haben den größten Niedriglohnsektor, den es je in Deutschland gegeben hat, aufgebaut. - Alle Probleme, die Herr Steinbrück, Herr Schneider und Frau Göring-Eckardt hier angesprochen haben, alle Probleme, die in den Anträgen, die hier vorliegen, beschrieben werden, sind Früchte rot-grüner Politik. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ ({1}) Es ist in der Tat beschämend, dass keiner der Rednerinnen und Redner zu dieser Verantwortung gestanden hat. Ihre Glaubwürdigkeit ist Ihr größtes Problem. Der Unterschied zwischen Reden und Handeln ist bei RotGrün so groß, dass ich allen Wählerinnen und Wählern in Deutschland nur zurufen kann: Traut denen nicht, die nicht zu ihren Taten stehen, die heute anders reden! ({2}) Es ist eben so: Sie haben für eine Deregulierung der Zeitarbeit gesorgt. Wir haben erste Regulierungen wieder eingeführt. Die Einkommensspreizung - schauen Sie im Armuts- und Reichtumsbericht nach! - hat ausgerechnet in der rot-grünen Regierungszeit massiv zugenommen. Jetzt wird dies langsam wieder korrigiert. Unter Rot-Grün gab es Massenarbeitslosigkeit; heute haben wir die geringste Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Ich könnte weitere Punkte aufzählen, auch was das Thema Lohn anbelangt. Heute gibt es zwölf branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland. Nur ein einziger davon wurde in der rot-grünen Regierungszeit in Kraft gesetzt, elf unter der Verantwortung einer christdemokratischen Kanzlerin. „An ihren FrüchPeter Weiß ({3}) ten sollt ihr sie erkennen“, nicht an dem hohlen Gerede, dem keine Taten folgen. ({4}) Auch uns reichen zwölf branchenbezogene Mindestlöhne nicht aus. Deswegen haben wir von der Union vorgeschlagen, einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn in Deutschland einzuführen. ({5}) Aber es gibt einen Unterschied zu den Vorschlägen der Sozialdemokraten und der Grünen und zum hier vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wir wollen, dass die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervertreter, die Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen, den Mindestlohn in einer Kommission miteinander aushandeln ({6}) und die Bundesarbeitsministerin anschließend dieses Verhandlungsergebnis für allgemeinverbindlich erklärt, sodass es in ganz Deutschland zwingend durchzusetzen ist. ({7}) Auch im Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine Kommission vorgesehen. Aber diese Kommission soll erst tagen dürfen, wenn der Bundestag einen Beschluss gefasst hat, dass der Mindestlohn zum Beispiel 8,50 Euro betragen muss. Dann darf diese Kommission über die Weiterentwicklung des Mindestlohnes beraten. Wenn das Beratungsergebnis dem Bundesarbeitsminister nicht passt, darf er dieses Beratungsergebnis in den Papierkorb schmeißen und machen, was er machen will. - Es ist doch eine Verhöhnung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, sie einzuladen, in einer Kommission einen Mindestlohn auszuhandeln, und anschließend das Verhandlungsergebnis in den Papierkorb zu schmeißen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag ist in Wahrheit ein Vorschlag zur Stärkung der Tarifautonomie. Herr Steinbrück hat die Frage aufgeworfen: Was hat Deutschland stark gemacht? Ich sage: Deutschland hat stark gemacht, dass starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände gute Tariflöhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land vereinbart haben. ({8}) Es ist doch für einen Arbeitnehmer nur dann interessant, in eine Gewerkschaft einzutreten, wenn er weiß: Diese Gewerkschaft handelt tatsächlich einen Lohn aus.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Weiß, Sie haben es gesehen: Es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus Ernst.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Herr Kollege.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Weiß, Sie haben gerade die Gewerkschaften angesprochen. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass sich die Gewerkschaften, die Sie in ihrer Tarifautonomie stärken wollen, explizit für den Mindestlohn aussprechen? Glauben Sie, dass die nicht wissen, was sie tun? Oder könnte es nicht sein, dass sie vielleicht besser wissen, was ihnen guttut? Zweitens. Wenn in einer Kommission nur dann ein Ergebnis zustande kommt, wenn sich beide, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einig sind, eine Seite aber erklärterweise kein Interesse an der Einführung eines Mindestlohnes hat, wie man es bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände erkennen kann, bedeutet das dann nicht, dass die eine Seite der Kommission ein Vetorecht in Bezug auf die Einführung des Mindestlohns hat? Ist dann nicht das Ergebnis, dass kein Mindestlohn zustande kommt bzw. einer, der so niedrig ist, dass man darauf auch verzichten könnte? Drittens. Sind Sie nicht auch der Auffassung, Herr Weiß, dass die Voraussetzung dafür, dass die Gewerkschaften ihre Tarifautonomie ausüben können, ein starker gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist? Wir haben aber eine abnehmende Tarifbindung und abnehmende Organisationsgrade zu verzeichnen und müssen konstatieren, dass immer schlechtere Tarifverträge bei den Verhandlungen herauskommen. Es gibt Tarifverträge, in denen eine Bezahlung von weit unter 8,50 Euro vereinbart wurde. Müssen wir als Bundestag nicht eingreifen, um die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sichern? Fazit: Ist es nicht besser, die Tarifautonomie dadurch zu stärken, dass man einen Mindestlohn einführt, auf dessen Grundlage die Gewerkschaften über vernünftige Löhne verhandeln können? Dadurch würden die Gewerkschaften gestärkt. Das wäre besser, als den Gewerkschaften den Mindestlohn zu verweigern. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, ich nehme Ihre Frage gerne zum Anlass, Ihnen unser Konzept noch einmal zu erläutern. Erstens. Der Vorschlag der Unionsfraktion sieht vor, dass man sich einigen muss, notfalls durch Schlichtung; sprich: Die Mindestlohnkommission muss zu einem Ergebnis kommen. Peter Weiß ({0}) ({1}) Sie kann eine Einigung nicht auf ewig vertagen. Zweitens. Wenn für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer klar ist, dass der Mindestlohn durch das Parlament festgesetzt wird und nicht durch die Gewerkschaften, warum sollen sie dann noch in eine Gewerkschaft eintreten? ({2}) Wenn klar ist, dass der Mindestlohn durch den Bundestag festgesetzt wird und nicht durch die Arbeitgeberorganisationen, die mit den Gewerkschaften verhandeln, warum sollen die Unternehmer dann in einen Arbeitgeberverband eintreten? Die Erosion der letzten Jahre in den Bereichen Gewerkschaftsmitgliedschaft und Tarifbindung der Unternehmen würde weiter zunehmen. ({3}) Unser Vorschlag ist: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verhandeln den Mindestlohn. Er wird später von der Regierung in Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass ich als Arbeitnehmer in die Gewerkschaft eintreten muss, um sie für die Verhandlungen stark zu machen. Ich muss als Unternehmer in den Arbeitgeberverband eintreten, um die Interessen meines Unternehmens bei den Verhandlungen geltend zu machen. - Unser Vorschlag führt im Gegensatz zu dem, was der Bundesrat vorschlägt, tatsächlich dazu, dass die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wieder stark werden, wodurch die Tarifautonomie in Deutschland insgesamt gestärkt wird. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um es noch einmal klar zu sagen: Wir wollen einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn und damit die Tarifautonomie stärken. Das ist die Botschaft, mit der wir in den Bundestagswahlkampf gehen. Wir wollen aber noch mehr. Wir wollen, dass der Respekt vor geleisteter Arbeit durch eine Erneuerung des Aufstiegsversprechens aus der Wirtschaftswunderzeit gestärkt wird. Wer arbeitet, wer sich qualifiziert, muss im Normalfall ein existenzsicherndes Einkommen erwarten dürfen. Das ist ein breiter Wohlstandsbegriff im Sinne Ludwig Erhards. Voraussetzung dafür ist vor allem eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Diese entwickelt sich natürlich nicht mit Dumpinglöhnen, sondern mit hervorragend qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen noch mehr als bisher eine Gesellschaft, in der alle entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen - ungeachtet ihrer Herkunft - gute Bildungschancen und damit Möglichkeiten zu persönlicher Entfaltung und sozialem Aufstieg haben. Sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit, das ist unsere Agenda, auf die wir setzen. ({5}) Wir sind es, die zum Beispiel den Bildungsetat dieses Bundeshaushaltes - beim Abtritt von Schröder 2005 waren es rund 9 Milliarden Euro - auf über 13 Milliarden Euro gesteigert haben. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ ({6}) Wir sind diejenigen, die die Arbeitslosigkeit massiv abgebaut haben, die dafür gesorgt haben, dass seit 2007 40 Prozent der Langzeitarbeitslosen, die es besonders schwer haben, wieder in Arbeit gekommen sind. Wir wollen nach der Bundestagswahl unsere erfolgreiche Arbeit für mehr Aufstiegschancen für alle in Deutschland durch Bildung und Arbeit fortsetzen. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Brigitte Pothmer. - Bitte schön, Frau Kollegin.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Weiß, habe ich Sie richtig verstanden: Sie unterstützen diese niedrigen Löhne, um auf diese Weise die Gewerkschaften zu stärken? ({0}) Das ist eine Verelendungsstrategie, die mir noch aus meiner Studierendenzeit vom KBW bekannt ist. ({1}) Dass Sie diese jetzt verfolgen, ist allerdings neu. Es wurde gerade sehr viel über Gerechtigkeit geredet. Das zentrale arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitskonzept ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Er steht nicht nur symbolisch für Wert und Würde der Arbeit. Zu dieser Frage müssen Sie von der Regierungskoalition sich verhalten. ({2}) Nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahren haben Sie nichts weiter gemacht, als die immer gleiche Behauptung zu wiederholen, flächendeckende Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten. Frau Merkel hat sich in einem Bild-Interview sogar zu der These verstiegen, die Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern sei deswegen so hoch, weil es zu hohe Mindestlöhne gebe. Ich frage mich, anhand welcher Länder sie diese These verifizieren will. ({3}) Meint sie vielleicht Großbritannien? Es hat seit 1999 Mindestlöhne, und es gibt keinerlei negative Beschäftigungseffekte. Oder meint sie vielleicht die Niederlande? Sie haben einen Mindestlohn von 9,18 Euro und eine Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent. ({4}) Nein, die höchste Arbeitslosigkeit in Europa haben wir derzeit in den Ländern, in denen der Mindestlohn am niedrigsten ist. ({5}) - Sie haben doch inzwischen selbst erkannt, dass es beim Mindestlohn Handlungsbedarf gibt. Sie nennen das Projekt verschämt „Lohnuntergrenze“. Ich finde dieses Konzept falsch; denn mit diesem Konzept würden Sie weiterhin Ausbeutung mit Tarifvertrag zulassen. Das wollen wir nicht. ({6}) Aber Sie sollten hier im Bundestag überhaupt einmal etwas vorlegen. ({7}) Sie sind die Regierung, Sie müssen handeln. Sie reden, wir handeln! ({8}) Von Ihnen kommt nichts. Wenn überhaupt etwas kommt, dann wird das in Ihr Wahlprogramm entsorgt. Sie haben hier noch keinen einzigen Vorschlag vorgelegt. ({9}) Sie wollen weiterhin zulassen, dass wir in Deutschland 1,4 Millionen Menschen haben, die mit Löhnen von unter 5 Euro pro Stunde brutto abgespeist werden. Sie wollen, dass Betriebe weiterhin das ALG II in ihre Lohnkalkulation einbeziehen und damit den Wettbewerb über Lohndumping verzerren. ({10}) Wenn Sie das korrigieren wollen, dann braucht es jetzt keine halsstarrig geführte ordnungspolitische Debatte, sondern dann braucht es einen vernünftigen Gesetzentwurf, und zwar jetzt. Dieser liegt heute hier vor, und zu diesem müssen Sie sich verhalten. ({11}) Jetzt noch ein paar Sätze zur FDP. ({12}) Es ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten, ({13}) wenn ausgerechnet Sie hier das Hohelied der Tarifautonomie singen. Es ist noch nicht lange her, dass Sie die Gewerkschaften mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft haben. ({14}) Ich erinnere Sie nur an eine Aussage Ihres ehemaligen Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle. Er hat gesagt - ich zitiere -: Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage in Deutschland… Er hat behauptet - ich zitiere weiter -: Die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre kostet mehr Jobs, als die Deutsche Bank je abbauen könnte. Finden Sie, dass Sie sich mit diesen Aussagen wirklich als Freunde der Gewerkschaften bezeichnen können? ({15}) Herr Rösler hat verstanden und Ihnen empfohlen, den Blick auch einmal auf die Lebenswirklichkeit der Menschen zu richten. Was hat er gesehen, als er seinen Blick auf die Lebenswirklichkeit der Menschen gerichtet hat? Er hat gesehen, dass Löhne von 3 Euro die Stunde nichts mit Leistungsgerechtigkeit zu tun haben. ({16}) In einer Partei der Blinden ist der Einäugige König! Sie haben in Ihrer Partei sehr viele Blinde, zum Beispiel Herrn Brüderle. Er empfiehlt den Niedriglöhnern, die mehr verdienen wollen, tatsächlich, sich einfach einen neuen Arbeitgeber zu suchen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie kennen Ihre Redezeit, Frau Kollegin.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß nicht, in welcher Parallelwelt Herr Brüderle unterwegs ist. Eines weiß ich aber genau: dass Gerechtigkeit ohne Mindestlohn nicht zu haben ist. Ich danke Ihnen. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner für die Fraktion der FDP: Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Pothmer, Heuchelei ist das, was Sie tun. Heuchelei ist auch das, was Sie vonseiten der SPD tun. Ich denke an Guntram Schneider. Herr Schneider, Sie geißeln in Ihrer Rede hier befristete Beschäftigungsverhältnisse - Sie waren, wenn ich richtig informiert bin, DGB-Landesvorsitzender -, und seit 2004 gibt es eine Direktive des DGB-Bundesvorstands, in der eigenen Zentrale nur noch befristete Beschäftigungsverhältnisse zu vereinbaren. ({0}) Im aktuellen Jahresbericht des DGB-Bundesvorstands zeigt sich, dass das kein Versehen war und auch nicht korrigiert worden ist. Da heißt es auf Seite 145: Der Anteil der befristeten Arbeitsverträge betrug zum Jahresende 13 Prozent. Das waren 108 Beschäftigte. ({1}) Lieber Herr Schneider, es ist Heuchelei, wenn Sie sich hier hinstellen und etwas sagen, was Ihr eigener Verband nicht durchzusetzen vermag. ({2}) Der Kanzlerkandidat der SPD, der leider schon aufbrechen musste, ({3}) stellte sich hierhin und sang das Hohelied der dualen Berufsausbildung, weiß aber offensichtlich nicht, dass die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg in dieser Woche, am Montag, den 22. April 2013, von der Vorsitzenden des Berufsschullehrerverbandes ein ganz schlechtes Zeugnis ausgestellt bekommen hat. Sie sagte wörtlich, die grün-rote Landesregierung würde in Baden-Württemberg die Berufsschulen aushungern lassen, weil sie es versäumt, insgesamt 600 Stellen zu besetzen, die für die Berufsschulen dringend nötig wären. ({4}) Sich trotzdem hier hinzustellen und das Hohelied der dualen Berufsausbildung zu singen, ist Heuchelei. ({5}) „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, hat der Kollege Weiß völlig zu Recht aus der Bibel zitiert. Wir werden Sie mit Ihrer Regierungsleistung in den Ländern stellen. Frau Göring-Eckardt, Sie sprechen von Gerechtigkeit. Was ist denn das für eine Gerechtigkeit, wenn man immer mehr Schulden auftürmt, ({6}) wenn man künftige Generationen belastet, anstatt sie zu entlasten? Das ist das, was Sie in Baden-Württemberg tun. Die Bayerische Staatsregierung hält sich trotz eines Höchststandes an Steuereinnahmen zurück und zahlt über 1 Milliarde Euro Schulden zurück. In Baden-Württemberg hat es die christlich-liberale Landesregierung geschafft, in den Jahren 2008, 2009 und 2011 schuldenfreie Haushalte vorzulegen. Im vergangenen Jahr verzeichnete Baden-Württemberg die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte des Landes, aber die grün-rote Landesregierung hat trotzdem zusätzliche Schulden in Höhe von 3,3 Milliarden Euro gemacht. Das ist wirklich eine Versündigung an der künftigen Generation. Das ist eine unverantwortliche Politik und hat mit Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit nichts zu tun. ({7}) Sie reden von Chancengerechtigkeit. Schauen wir uns einmal an, wie es damit in Baden-Württemberg aussieht: Die Landesvorsitzende der GEW - das ist auch nicht gerade eine Vorfeldorganisation der FDP - wirft der Landesregierung von Baden-Württemberg vor - Zitat -, ({8}) dass sie auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen spare und ohne klares Konzept bildungspolitisches Stückwerk produziere. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Heuchelei, sich hier hinzustellen und von Gerechtigkeit zu reden, aber gerechte Chancen für Kinder in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, zu verhindern. ({9}) Wir hingegen haben in dieser Bundesregierung gerade an Kinder, die es schwer haben, gedacht. Wir haben ein Paket auf den Weg gebracht, die Offensive „Frühe Chancen“, mit der wir gerade Kinder aus benachteiligten Milieus mit insgesamt 400 Millionen Euro fördern, damit Spracherwerb schon vor Eintritt in die Schule gelingen kann, damit dort die Chancen wirklich wahrgenommen werden können und sich Bildungserfolg einstellt. Diese letzten Jahre waren vier sehr gute Jahre für Deutschland. ({10}) Wir werden unsere Politik als christlich-liberale Regierung weiter fortsetzen. ({11}) Wir werben dafür, und wir werden am Wahltag - ich erinnere noch einmal an das, was Peter Weiß gesagt hat: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ - ein entsprechendes Wahlergebnis von den Wählern zugesprochen bekommen. Denn diese Jahre waren gut für Deutschland, und Deutschland hat die Fortsetzung dieser Koalition verdient. Vielen Dank. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege Dr. Zimmer. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass der Kollege Steinbrück bereits die Debatte verlassen hat, nehme ich ihm nicht übel. Sofern er zur Vermessung neuer Fettnäpfchen unterwegs ist, hat er unseren Segen. ({0}) Aber dass, wenn wir hier an zentraler Stelle über Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik diskutieren, vom zuständigen Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ der einbringenden Fraktion der SPD nur wieder eine ganz kleine illustre Schar da ist, finde ich bezeichnend - nach dem Motto: Den Quatsch, den der uns erzählt, brauchen wir uns nicht noch einmal im Plenum anzuhören. ({1}) Sie von den Sozialdemokraten haben den Entwurf eines Mindestlohngesetzes in die heutige Beratung eingebracht. Also lassen Sie uns über dieses Mindestlohngesetz sprechen. ({2}) In § 1 Ihres Entwurfes wird der Geltungsbereich beschrieben, und dort ist vorgesehen, dass das Gesetz nur für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten soll. Damit das deutlich wird: Für Teilzeitbeschäftigte soll der Mindestlohn, den Sie vorschlagen, nicht gelten. Ich kann überhaupt nicht erkennen, warum das der Fall sein soll, warum Sie teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so benachteiligen, zumal wir ja in der letzten Woche einen Gesetzentwurf von Ihnen beraten haben, der positiv zur Teilzeit steht. Eines müsste Ihnen doch klar sein: Im Niedriglohnbereich setzen Sie mit einer solchen Maßnahme geradezu Anreize, Vollzeitstellen in Teilzeitstellen umzuwandeln, weil für diese der Mindestlohn ja nicht gelten soll. Das ist nicht nur handwerklich schlecht gemacht, sondern Sie versündigen sich hier auch an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dann wird es richtig spannend, wenn man in Ihren Gesetzentwurf schaut. Peter Weiß hat das eine oder andere bereits dazu gesagt. Wenn sich die Mindestlohnkommission, die Sie einrichten wollen, nicht einigt, entscheidet das Ministerium. Ich kann mir Fälle vorstellen, in denen es sich lohnt, eine Entscheidung der Mindestlohnkommission zu sabotieren. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit des Missbrauchs ist da bereits angelegt. Nehmen wir einmal den wirklich unwahrscheinlichen Fall an, dass ein Vertreter der Linken das Arbeitsministerium führt. ({3}) Herr Ernst lächelt schon - es ist wirklich sehr unwahrscheinlich -, also nehmen wir einmal an, dass Herr Ernst Arbeitsminister ist. ({4}) Gibt es dann irgendeinen Grund, warum die gewerkschaftliche Seite in einer Mindestlohnkommission bei 9 Euro zustimmen sollte, wenn im Parteiprogramm der Linken 10 Euro steht? Dann würden die doch sagen: Prima, wir brauchen die Arbeit überhaupt nicht zu machen, das Ministerium soll gleich entscheiden. Wenn sich die Kommission einigt, unterbreitet sie dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Vorschlag. Wenn das Ministerium zustimmt, setzt es den Mindestlohn durch Rechtsverordnung um. So weit, so gut. Aber stimmt das Ministerium nicht zu, bestimmt am Ende das Ministerium den Mindestlohn. So steht es in Ihrem Entwurf. Nun würde ich, solange das Ministerium durch uns geführt würde, da keine Probleme sehen. ({5}) Aber Sie von der SPD haben ja gewiss im Hinterkopf, vielleicht selbst einmal wieder das Ministerium zu führen; so viel sportlichen Ehrgeiz traue ich Ihnen durchaus zu. Natürlich würde ein SPD-Arbeitsminister oder eine SPD-Arbeitsministerin nach gründlicher Rückkopplung mit den Parteigremien entscheiden. Dann würde also letztlich der SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in Deutschland entscheiden. ({6}) Damit ist klar, was mit dem Slogan „Das Wir entscheidet“ gemeint ist. ({7}) Ich meine allerdings: Den SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in Deutschland entscheiden zu lassen, ist in etwa so klug wie die Ernennung von Dieter Bohlen zum Generalinspekteur für alle deutschen Mädchenpensionate. ({8}) Meine Damen und Herren, was mich ärgert, ist Folgendes: Über den Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren, haben wir bereits vor einem Jahr diskutiert. Schon damals sind Sie auf den Unfug, den Sie damit anrichten würden, hingewiesen worden. Ich meine, einmal einen Fehler zu machen, ist menschlich. Es hätte Ihnen gut angestanden, noch einmal gründlich darüber nachzudenken. Aber Sie legen diesen Gesetzentwurf wortgleich noch einmal vor. Sie haben also nichts gelernt. Dass Sie mit einer gewissen Starrköpfigkeit auf der Durchführung Ihrer Fehler bestehen, das kann ich nur noch psychologisch erklären. Gerade diese Unbeirrbarkeit im Angesicht Ihrer Fehler ist es doch, die Zweifel daran aufkommen lässt, dass Sie regierungsfähig sind. ({9}) Die handwerklichen Fehler vertreten Sie mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit. Aber was die guten und richtungsweisenden Entscheidungen, die auch Sie einmal getroffen haben, angeht - ich denke da an die Reformen des Arbeitsmarktes und die Rente mit 67 -, suchen Sie andauernd nach einem Notausgang für Helden. So eiern Sie auch in der Arbeitsmarktpolitik herum: Mal sind Sie gegen Teilzeit, mal dafür. Mal sind Lohnkostenzuschüsse gut, mal sind sie schlecht. Vor einigen Jahren hat Gerhard Schröder die neue Mitte entdeckt, jetzt wird der Mittelstand belastet. Die Abschaffung der kalten Progression haben Sie verhindert, und heute melden die Zeitungen, Ihre Kindergeldpläne führten gerade für Familien der Mittelschicht zu deutlichen monatlichen Belastungen. ({10}) Konsistent, meine Damen und Herren, ist das alles nicht. Der Bürger hat ohnehin längst den Eindruck, dass der SPD-Slogan in Wahrheit heißt: Das Wir entscheidet, das Du bezahlt. - Aber wenigstens darin sind Sie sich treu geblieben. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Nächster Redner für die CDU/CSU: Kollege Max Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über verschiedene Vorlagen, zuvörderst aber natürlich über den Antrag der SPD mit dem etwas aufgeblasenen Titel „Deutschland 2020 - Gerecht und solidarisch“. Ich möchte dem Kollegen Kolb beipflichten bzw. seine Bemerkung etwas abschwächen. Kollege Kolb hat ja bereits dargelegt, dass in Ihrem Antrag nur heiße Luft ist. Ich möchte das abschwächen: ein laues Lüftchen; mehr ist da nicht drin. ({0}) Das, was hier niedergeschrieben worden ist, ist letztendlich ein Horrorprogramm für die Menschen in unserem Land. Es beginnt mit einer falschen Analyse. Wenn man eine falsche Analyse macht, kann man daraus natürlich auch keine richtigen Schlussfolgerungen ziehen; auch das muss dargelegt werden. In Ihrem Antrag wird ein Zerrbild von unserer Gesellschaft gezeichnet: als gäbe es in Deutschland nur noch Niedriglöhner und Niedrigstverdiener, kaum soziale Absicherung und vor allen Dingen keine Bildungsgerechtigkeit, keine Bildungschancen und keine Chancengerechtigkeit. Ich bin der Meinung, das ist letztendlich im Hinblick auf die vielen Institutionen, die wir alle in der Politik gemeinsam geschaffen haben, nicht würdig. Wir haben eine großartige Schulbildung. Vor allen Dingen in Bayern gibt es ein Schulsystem, das für die Kinder die Grundlagen schafft, um später eine gute berufliche Ausbildung zu erhalten und großartige Zukunftschancen zu haben. Dass dies in SPD-regierten Ländern nicht der Fall ist, sehen wir. Manche Kollegen haben bereits gesagt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Es ist eben eine Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg Lehrerstellen abgebaut werden. In Bayern und anderen unionsregierten Ländern werden - das ist zukunftsträchtig - Lehrerstellen geschaffen. In Bayern werden jedes Jahr 1 000 neue Lehrerstellen geschaffen, obwohl es weniger Kinder gibt. Damit schaffen wir mehr Chancengerechtigkeit und mehr Bildungsgerechtigkeit für die jungen Menschen in unserem Land, verehrte Damen und Herren. ({1}) Dies ist etwas, womit der Kanzlerkandidat der SPD nicht so viel am Hut hat. Darum hat er die meiste Zeit seiner Rede über Steuern und Steuergerechtigkeit gesprochen, vor allen Dingen über das Steuerabkommen mit der Schweiz. Natürlich wäre ein Steuerabkommen mit der Schweiz wesentlich erfolgreicher und ertragreicher gewesen, weil dann alle ihre Steuern bezahlt hätten. Ihnen geht es letztendlich ja nur darum, hier Symbolpolitik zu betreiben, weil Sie glauben, daraus im anstehenden Wahlkampf Honig saugen zu können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Herrn Zumwinkel. Wir können manche Namen austauschen, wenn Sie so wollen; aber ich glaube nicht, dass wir eine Debatte über Steuergerechtigkeit damit voranbringen. Dass auch der Kollege Steinbrück nachbessern musste - bei den AngaMax Straubinger ben zu seinen Reden -, ist ja bekannt. Die Wahrhaftigkeit beginnt meistens bei einem selbst. Da sollte man zuerst tätig werden. ({2}) Ich kann verstehen, warum der Kollege Steinbrück nicht auf das SPD-Papier eingegangen ist. Das liegt daran, dass er dieses Papier innerlich eigentlich gar nicht vertreten kann. Er hat in der Vergangenheit letztendlich alle diese Maßnahmen - sei es ein gesetzlicher Mindestlohn, seien es andere Maßnahmen - abgelehnt, aus fachlichen und sachlichen Überlegungen. Ich denke, er steht - auch wenn er das jetzt nicht mehr sagen darf - für die Rente mit 67. Unter demografischen Gesichtspunkten ist die Rente mit 67 aber richtig, und ich bin Franz Müntefering ausdrücklich dankbar, dass er diese Reform hier durchgesetzt hat. ({3}) Dass die Grundlagen dafür unter dem seinerzeitigen Bundesminister Franz Müntefering geschaffen worden sind, ist letztendlich im Sinne einer großartigen Generationenpolitik in der Rente. ({4}) Wir wollen daran weiterarbeiten, verehrte Damen und Herren. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Straubinger, ich habe eine Zwischenfrage aus der Fraktion der FDP.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön, Kollege Kurth.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Straubinger, wo Sie die Rede von Herrn Steinbrück analysieren: Hat Herr Steinbrück eigentlich auch Zugang gefunden zu der berühmten „Thüringer Friseurin“, von der ich als Thüringer mir hier ständig erzählen lassen muss? Hat irgendjemand von der Opposition heute, wie es sonst immer der Fall ist, von den Löhnen der „Thüringer Friseurin“ gesprochen? Hat irgendjemand von der Opposition gewürdigt, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber diese Woche für die „Thüringer Friseurin“ wie überhaupt für das gesamte Thüringer Handwerk einen Tarifvertrag mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro abgeschlossen haben? Hat irgendjemand von der Opposition zur Kenntnis genommen, dass hier eine Tariflösung gefunden wurde, ohne dass die gesetzliche Keule nötig geworden wäre? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Leider nein, Herr Kollege. ({0}) Aber das ist ja auch verständlich: Sie wollen ja nicht den Erfolg der Tarifparteien. Sie wollen grundsätzlich eine staatliche Lohnfestsetzung betreiben. ({1}) Deshalb haben Sie diesen Erfolg nicht gewürdigt. Wahrscheinlich geht es auch darum - wie es die Kollegin Göring-Eckardt getan hat -, in die eigenen Reihen hinein zu predigen. Liebe Kollegin Göring-Eckardt, predigen Sie an Ihre Kollegin Bärbel Höhn gerichtet, dass sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht länger für 4,60 Euro beschäftigt. ({2}) Die Opposition will einen Erfolg der Tarifparteien gar nicht herausstellen; doch das zeigt nur die Richtigkeit unserer Politik. ({3}) In den Anträgen geht es viel darum, dass Familienpolitik verbessert werden solle. An dieser Stelle kann ich nur sagen: Die Union, besonders die CSU, ist die Familienpartei, die sich dafür einsetzt, dass Familien in Deutschland gleiche Chancen bekommen. ({4}) Dazu gehören ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten: mit Kindertagesstätten, mit Krippenplätzen, aber auch mit dem Betreuungsgeld. ({5}) Es ist bemerkenswert, wenn im Antrag der SPD dargelegt wird, die Kommunen brauchten mehr finanzielle Unterstützung. In Bayern gibt es derzeit ein Kitaplatzangebot für 43 Prozent der Kinder. Zum 1. August dieses Jahres werden 50 Prozent erreicht werden. Doch die schöne Stadt München, eine der reichsten Städte in ganz Deutschland, rot-grün regiert - von Herrn Ude -, schafft es nicht einmal, genügend Kindergartenplätze bereitzustellen, auf die es bereits jetzt einen Rechtsanspruch gibt. Noch immer fehlen 5 000 Kindergartenplätze und ab Sommer zusätzlich 7 000 Kitaplätze. ({6}) Das zeigt sehr deutlich: Es ist wichtig, dass auch etwas umgesetzt wird. Wir sind in Bayern stolz auf unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die sich tatkräftig für die Schaffung von Kitaplätzen einsetzen. Leider Gottes geht das aber an der Landeshauptstadt München vorbei. Das zeigt auch sehr deutlich: Selbst wenn es ausreichende Finanzzusagen gibt - der Freistaat Bayern garantiert ja, dass jeder Kinderkrippenplatz gefördert wird -, ist Rot-Grün nicht in der Lage, das umzusetzen. Das zeigt sehr deutlich, dass Sie von SPD und Grünen beim Fordern immer großartig sind, aber beim Handeln versagen. Das wollen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland in den nächsten vier Jahren ersparen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir wiederum die Mehrheit erringen werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Max Straubinger war der letzte Redner in un- serer Aussprache, die ich deshalb jetzt schließe. Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/13226, 17/12857 und 17/13246 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So- ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Mehrheitswillen respektieren - Gesetzlicher Min- destlohn jetzt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/9613, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8026 abzu- lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktionen SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen. Tagesordnungspunkt 4 e. Wir kommen zur Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/13182, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12683 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio- nen, SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Gegen- probe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Be- schlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 f sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf: 45 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU - Drucksache 17/13063 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})- Rechtsausschuss - Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 17/13223 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({2})- Innenausschuss - Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sicherungslücke im Übergang von Arbeitslosengeld in eine Erwerbsminderungsrente schließen - Drucksache 17/13113 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Ausschuss für Gesundheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Versorgungsqualität und Therapiefreiheit in der Substitutionsbehandlung stärken - Drucksache 17/13230 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({4})- Rechtsausschuss e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ({5}) - Drucksache 17/8099 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6})- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Ausschuss für Gesundheit - Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung f) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung ({7}) - Drucksache 17/13064 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - Ausschuss für Tourismus ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013 - Drucksache 17/13195 Vizepräsident Eduard Oswald Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Neuorientierung im Umgang mit Gewalt und Organisierter Kriminalität in Mexiko und Zentralamerika - Sicherheitsabkommen unter dem Primat der Menschenrechte gestalten - Drucksache 17/13237 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({10})Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/13195 - Zusatzpunkt 3 a - soll federführend im Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 k auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 46 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die abschließende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages zwischen dem Bund, den neuen Ländern und Berlin ({11}) und zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung - Drucksache 17/12639 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({12}) - Drucksache 17/13256 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleJohannes KahrsOtto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({13}) Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13256, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12639 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Wir kommen nun - Tagesordnungspunkte 46 b bis 46 k - zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 46 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 572 zu Petitionen - Drucksache 17/13117 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 572 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 46 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 573 zu Petitionen - Drucksache 17/13118 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Vorsichtshalber frage ich: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 573 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 46 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 574 zu Petitionen - Drucksache 17/13119 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und sozialdemokratische Fraktion. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 574 ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 46 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 575 zu Petitionen - Drucksache 17/13120 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 575 ist angenommen. Vizepräsident Eduard Oswald Tagesordnungspunkt 46 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 576 zu Petitionen - Drucksache 17/13121 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? Linksfraktion. Sammelübersicht 576 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 46 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 577 zu Petitionen - Drucksache 17/13122 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 577 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 46 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 578 zu Petitionen - Drucksache 17/13123 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 578 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 46 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 579 zu Petitionen - Drucksache 17/13124 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 579 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 46 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 580 zu Petitionen - Drucksache 17/13125 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 580 ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 46 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 581 zu Petitionen - Drucksache 17/13126 - Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Ent- haltungen? - Niemand. Sammelübersicht 581 ist ange- nommen.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({24}) zu dem Elften Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset- zes - Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284, 17/13190 - Berichterstattung: - Abgeordneter Jörg van Essen Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei- ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim- men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/13190? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschluss- empfehlung ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 5 a sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf: 5 a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bun- destages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokratischen Partei Deutsch- lands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grund- gesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - Drucksache 17/13227 - ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen - Drucksache 17/13225 - ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE NPD verbieten - Drucksache 17/13231 - 1) Erklärungen nach § 31 GO Anlage 3 Vizepräsident Eduard Oswald ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsextremismus umfassend bekämpfen - Drucksache 17/13240 Über den Antrag der Fraktion der SPD sowie über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind alle damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön, Kollege Thomas Oppermann. ({25})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Seit anderthalb Jahren diskutieren wir über ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Vor vier Monaten hat nach sorgfältiger Vorbereitung durch die Innenminister von Bund und Ländern der Bundesrat entschieden, einen Verbotsantrag zu stellen. Deshalb ist es heute an der Zeit, dass auch der Bundestag eine Entscheidung trifft. ({0}) Wir wollen, dass auch der Bundestag einen Antrag stellt, damit die NPD verboten werden kann. Das Grundgesetz sieht in Art. 21 vor, dass Parteien, die darauf ausgerichtet sind, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, … verfassungswidrig“ sind. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben diese Bestimmung über das Parteienverbot in das Grundgesetz aufgenommen, weil sie sichern wollten, dass nie wieder die parlamentarische Demokratie in Deutschland durch Nationalsozialisten zerstört oder durch eine Gewaltherrschaft abgelöst werden kann. ({1}) Deshalb sollte die Demokratie des Grundgesetzes als eine wehrhafte Demokratie ausgestaltet sein. Ich zitiere dazu Carlo Schmid aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates: Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. ({2}) Mit anderen Worten: Gegen ihre Feinde dürfen sich Demokraten nicht neutral verhalten, meine Damen und Herren. ({3}) Deshalb bin ich einigermaßen froh, dass wir alle uns in einer Frage wenigstens einig sind: Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei. Diese Partei ist antidemokratisch, sie ist antisemitisch, sie ist ausländerfeindlich, sie ist in Teilen gewaltbereit. Die NPD steht in der Tradition der nationalsozialistischen Ideologie, und die NPD bekämpft unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Ein Kernelement dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die universelle Geltung der Grund- und Menschenrechte, ist das, was der SPD als ganz besonderer Angriffspunkt vor Augen steht. ({4}) Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre geht die NPD davon aus, dass es minderwertige Menschen in Deutschland gibt, Menschen, die wegen ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe aus Deutschland vertrieben werden sollen, die kein Recht haben, hier zu leben. Die NPD will diese Menschen aus Deutschland vertreiben. Da, wo sie sich stark fühlt, errichtet sie sogenannte national befreite Zonen und organisiert zusammen mit rechtsextremen neonazistischen Kameradschaften rassistische Gewaltakte gegen unschuldige Opfer. Ich muss Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich empfinde es als unerträglich, dass solche Parteiaktivitäten immer noch mit Steuergeldern finanziert werden. ({5}) Die Demokratie in Deutschland mag stark genug sein, eine verfassungsfeindliche NPD auszuhalten; die Opfer der NPD sind es nicht. ({6}) Zu der Aussage von Herrn Rösler, der heute nicht da ist, in diesem Zusammenhang, Dummheit könne man nicht verbieten, ({7}) kann ich nur feststellen: Es geht hier nicht darum, ein paar dumme Gedanken zu verbieten, sondern darum, eine Organisation, eine Partei zu zerschlagen, die darauf ausgerichtet ist und die dazu beiträgt, dass Menschen in Deutschland angegriffen werden. ({8}) Trotz allem habe ich Respekt für diejenigen, die heute unserem Antrag nicht folgen und dafür Argumente nennen. Ich kenne diese Argumente; ich teile sie nicht, aber ich respektiere sie. Aber ich halte es für nicht in Ordnung, dass monatelang versucht worden ist, dieser Entscheidung auszuweichen. ({9}) Jetzt werden wir auch noch dafür kritisiert, dass wir diese Debatte erzwungen haben. Jetzt sollen wir auch noch dafür verantwortlich gemacht werden, dass heute möglicherweise bei der Abstimmung über unseren Antrag ein uneinheitliches Abstimmungsbild entsteht, das für den Antrag des Bundesrates nicht vorteilhaft wäre. Meine Damen und Herren, was ist das für eine verquere Logik? ({10}) Wenn unser Antrag heute keine Mehrheit findet, dann liegt das doch nicht an denjenigen, die den Antrag gestellt haben, sondern an denjenigen, die den Antrag ablehnen. ({11}) Liebe Renate Künast, Sie haben gesagt, dies sei ein Showantrag. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Oppermann!

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, ich habe zu wenig Redezeit. - Ich muss Ihnen ganz ernsthaft sagen - ({0}) - Dann bitte sehr.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie möchten die Zwischenfrage von Herrn Montag zulassen?

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Oppermann, danke, dass Sie die Frage zulassen. Ich verlängere damit Ihre Redezeit; seien Sie also dankbar.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich noch rechtzeitig gemerkt. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut, das stimmt. - Zu meiner Frage. Sie haben, Herr Kollege Oppermann - jetzt komme ich zum Ernst der Sache zurück, was angemessen ist -, Ihren Antrag ausführlich begründet. Ich stimme jedem Satz von Ihnen zu: Die NPD ist eine rassistische, eine verfassungswidrige Partei. Das Problem, vor dem wir stehen, ist: Der Deutsche Bundestag hat nach der Verfassung nicht das Recht, Parteien zu verbieten. Wenn wir das Verbot aussprechen könnten, hätten wir eine andere Situation. Wir diskutieren ausschließlich über die Frage: Sollen wir einen entsprechenden Antrag an ein Gericht stellen oder nicht? Dabei müssen wir uns, ob wir wollen oder nicht, zu der Frage verhalten: Halten wir den Antrag für aussichtsreich oder für nicht aussichtsreich? Es braucht ja eine rationale, vernünftige Begründung, wenn man vor Gericht ein Risiko eingeht. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, was Sie eigentlich veranlasst, heute namentlich über Ihren Antrag abstimmen zu lassen, statt ihn in die Ausschüsse zu geben. Viele Kollegen - dazu gehöre auch ich - sind in der Sache ganz nahe bei Ihnen, können Ihnen aber nicht folgen, da Sie heute eine Stellungnahme von uns verlangen. Ich persönlich möchte gerne als Mitglied des Rechtsausschusses im Rechtsausschuss eine Sachdebatte auch mit Sachverständigen darüber führen können, welche Erfolgsaussichten - rechtlich und faktisch - ein solches Verbotsverfahren hätte. Da können wir Argumente austauschen. Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Der Bundesrat wird erst im Juni oder im Juli entscheiden. Warum verlangen Sie von uns heute eine Stellungnahme in Form einer namentlichen Abstimmung zu der Frage: „Welche Aussichten hat der SPD-Antrag beim Bundesverfassungsgericht?“, ohne dass wir Gelegenheit hatten, darüber in den Ausschüssen zu reden? ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Montag, was die Erfolgsaussichten dieses Verfahrens betrifft, gehen wir davon aus, dass die Innenminister von Bund und Ländern sie sehr sorgfältig geprüft haben. Wir setzen auf die Fakten und auf die Kraft der Argumente. Die Fakten besagen, dass die NPD in aggressiv-kämpferischer Weise Menschenrechtsverletzungen in Deutschland organisiert und betreibt. Es ist in der Tat nicht erwiesen, dass die NPD bei der Vorbereitung und Durchführung der schweren Terrorstraftaten durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ eine Rolle gespielt hat. Aber es ist doch bei allen Beteiligten völlig unstreitig, dass die NPD den geistigen Nährboden dafür geschaffen hat, dass solche schlimmen Taten in Deutschland geschehen konnten. ({0}) Wir haben im Januar einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem wir darum gebeten haben, dass der Innenausschuss eine Empfehlung für das Plenum erarbeitet. Das, finde ich, war ein seriöses Vorgehen. Das war kein Showantrag. Allerdings ist dieser Antrag komplett ignoriert worden. Es hat im Innenausschuss nicht die Arbeit stattgefunden, die wir wollten. ({1}) Wir wollten auch nicht so lange warten, bis das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auf Antrag des Bundesrates beginnt, sodass wir dann hinterherlaufen. Jetzt ist die Zeit, über diesen Antrag zu entscheiden. Deshalb haben wir ihn heute eingebracht. ({2}) Es mag unangenehm sein, jetzt Farbe bekennen und sich entscheiden zu müssen. Aber diese Unannehmlichkeit kann ich Ihnen nicht ersparen. Nachdem Ihre Kollegin, Frau Künast, in diesem Zusammenhang gesagt hat, das sei ein Showantrag, ({3}) muss ich Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Dieser Antrag ist vor dem Hintergrund des historischen, des politischen und des demokratischen Selbstverständnisses der Sozialdemokratischen Partei ({4}) für uns eine Angelegenheit von ganz großer Ernsthaftigkeit. Davon können Sie ausgehen. ({5}) Für sein Abstimmungsverhalten muss jeder selbst die Verantwortung tragen. Immer wieder wird behauptet, eine Partei dürfe nur verboten werden, wenn sie unmittelbar vor der Machtübernahme stehe. Das ist eindeutig unzutreffend; denn ein solches Kriterium hat weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte formuliert. Und die Lehre aus der Geschichte zeigt doch, dass man solchen Parteien frühzeitig entgegentreten muss. ({6}) Schließlich ist ein NPD-Verbot leider auch nicht deshalb überflüssig geworden, weil diese Partei durch Mitgliederschwund, Finanzdebakel und schlechte Wahlergebnisse schwächer geworden ist. Das ist doch nicht von selbst gekommen. Das ist doch ganz klar eine Folge dessen, dass wir mit der Verbotsdebatte den Druck auf diese Partei systematisch erhöht haben. ({7}) Der permanente Beobachtungs- und Fahndungsdruck seit Aufdeckung der NSU-Morde hat die rechtsextreme Szene in Deutschland erkennbar verunsichert. Diesen Druck, meine Damen und Herren, dürfen wir jetzt nicht zurücknehmen. Deshalb bitten wir Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Günter Krings. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die heutige Debatte halte ich es in der Tat für besonders wichtig, gleich zu Anfang sehr klar zu unterscheiden zwischen der Einigkeit über das Ziel der Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland und den offensichtlichen Meinungsunterschieden über die dazu richtigen und notwendigen Mittel. Meine Damen und Herren, einig sind wir uns im ganzen Hause auch darin, dass die NPD eine verabscheuungswürdige Partei ist, die nie in dieses Parlament einziehen darf und die auch aus allen Landtagen verschwinden sollte. ({0}) Die Aussagen führender Politiker dieser Partei gegen Ausländer sowie der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die daraus sprechen, widersprechen den Grundwerten unseres Landes massiv. Geradezu unerträglich wird es dann, wenn der Holocaust geleugnet oder relativiert werden soll. Wir treten einer solchen Verhöhnung der Opfer bei jeder Gelegenheit mit aller Entschiedenheit entgegen. ({1}) Ich habe aus diesen Gründen keine Zweifel, dass die NPD eine menschenfeindliche und demokratiefeindliche Partei ist. Ich stimme in großen Teilen Ihrer Rede, insbesondere dem Analyseteil, zu, Herr Oppermann. Diese Feststellung sagt aber noch nichts darüber aus, ob diese Partei auch aggressiv-kämpferisch im Sinne der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts agiert, und sagt vor allem nichts darüber aus, ob ein Verbotsverfahren gegen diese Partei politisch klug ist. Ich stimme dem renommierten Düsseldorfer Parteienrechtler Martin Morlok, den Sie sicherlich mindestens genauso schätzen wie ich, zu, wenn er sagt: „Ein Parteiverbot löst das Extremismusproblem nicht.“ Meine Damen und Herren, man kann eine Partei verbieten. Aber man kann weder eine rechtsextreme Gesinnung noch rechtsradikale Menschen per Hoheitsakt verbieten. Da braucht es eben mehr Engagement. ({2}) Dieses Engagement bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus und der NPD beschreiben und fordern wir als Koalitionsfraktionen mit unserem Antrag. Wir wollen den Rechtsextremismus vor allem politisch entschlossen bekämpfen. Unser Kampf gründet auf fünf Schwerpunktbereiche. Ich will nur zwei, drei Beispiele herausgreifen. Wir wollen mit der Fortführung bestehender und der Auflage neuer Programme das zivilgesellschaftliche Engagement fördern. Ich betone allerdings: Dabei muss der Kampf gegen den Rechtsextremismus aus der gesellschaftlichen Mitte und nicht von ihren politischen Rändern her aufgenommen werden. ({3}) Wir brauchen attraktive Programme zum Ausstieg aus der rechtsextremen Szene, sowohl staatliche wie private Programme wie das Projekt EXIT, das wir jetzt allein mit Bundesmitteln weiter fördern. Wichtig ist des Weiteren eine effektive Arbeit unserer Sicherheitsbehörden für erfolgreiche Prävention, aber eben auch für die notwendige konsequente Strafverfolgung. Hier braucht es vor allem eine gute und in Teilen noch bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei Polizei und Verfassungsschutz. Ich bedanke mich ausdrücklich bei unserem Innenminister Friedrich für viele Verbesserungen, die er angestoßen und erreicht hat. Aber es bleibt auch noch das eine oder andere zu tun. Für das Erreichte aber erst einmal herzlichen Dank. ({4}) Es ist jedenfalls gut, dass zur Bekämpfung des Rechtsextremismus im Bundeshaushalt - das reicht vom Bundeskriminalamt bis zur Bundeszentrale für politische Bildung - insgesamt dieses Jahr etwa 25 Millionen Euro mehr investiert werden. Meine Damen und Herren, das alles sind Maßnahmen und Programme, die natürlich weniger spektakulär als ein Verbotsantrag gegen die NPD sind. Aber sie sind eben auch viel erfolgversprechender im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Die Bundesregierung hat sich nach intensiver Prüfung gegen einen Antrag auf ein Parteiverbot entschieden. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Bundesregierung diese Entscheidung mindestens ebenso schwer gemacht hat wie der Bundesrat seine Entscheidung. Natürlich kann sich der Deutsche Bundestag grundsätzlich anders entscheiden. Es gibt keinen Automatismus, dass wir entweder dem Bundesrat oder der Bundesregierung folgen. Aber ich weise auch darauf hin: Der Deutsche Bundestag ist der einzige von drei im Grundgesetz vorgesehenen Antragstellern, der nicht über eigene nachrichtendienstliche Erkenntnisse verfügt und deshalb auf Informationen insbesondere aus dem Bereich der Bundesregierung angewiesen ist. Wenn sich der Bundestag anders entscheidet als die Bundesregierung, dann muss er dafür schon besonders gute Gründe und besondere eigene Erkenntnisse haben, die in eine andere Richtung weisen. Die FDP, meine Fraktion und auch große Teile der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen sehen diese besonderen abweichenden Erkenntnisse und Gründe nicht. Die SPD-Fraktion hat diese, mit Verlaub, in der Sache auch nicht vorgetragen. ({5}) Man kann natürlich, wie die SPD es heute tut, einen Verbotsantrag auch um seiner politischen Wirkung willen stellen. Aber auf eines sollten Sie achten: Sie sollten bei diesem Verbotsantrag nicht Opfer Ihrer eigenen Rhetorik werden. Man kann den Verbotsantrag aus politischen Gründen stellen. Entschieden wird über den Antrag aber nach streng juristischen Kriterien. Ich finde es schon ein wenig fahrlässig, wenn die SPD die hohen Hürden für ein Parteiverbot ganz aus ihrem Bewusstsein verdrängt. ({6}) Der Kollege Oppermann hat nämlich leider recht, als er in der letzten Debatte zu diesem Thema am 1. Februar 2013 gesagt hat: Die Rechtsprechung zu den Parteienverboten ist 60 Jahre alt. Ich bin sicher: Das Gericht wird dieses Verfahren nutzen, um zeitgemäße Verbotskriterien zu entwickeln. Herr Oppermann, genau das fürchte ich auch. Ich darf hierzu nochmals den Parteienrechtler Morlok zitieren: In den 1950er Jahren war die bundesrepublikanische Demokratie in einer ganz anderen Bedrohungssituation: Es gab noch Millionen ehemaliger NSDAP-Mitglieder … Fazit: Die Anforderungen an ein Parteienverbot werden heute eben nicht einfacher, sondern strenger zu bewerten sein. Selbst die Richter, die 2003 das damalige NPD-Verfahren gerne fortgeführt hätten, haben in einem Sondervotum klar zu erkennen gegeben, dass in einem solchen Verfahren dann natürlich auch die strengeren Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Anwendung kommen und leider für höhere Hürden sorgen. Das heißt insbesondere, dass die zu verbietende Partei eine hinreichend bedrohliche, unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Demokratie darstellen muss. Das ist einmal bejaht worden für eine Partei, die 25 Prozent der Stimmen bei den Wahlen erreicht hatte und 38 Prozent in Umfragen. Bei Wahlergebnissen von glücklicherweise unter 2 Prozent für die NPD sieht die Lage ganz anders aus. Offenbar glauben Sie von der SPD selbst nicht so recht daran, dass diese Mindestanforderungen für das Verbot erfüllbar sind; denn nur so kann ich Ihre Einlassung in der letzten Parlamentsdebatte, Herr Oppermann, verstehen. Wörtlich sagten Sie: Dass die NPD … nicht in der Lage ist, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, liegt auf der Hand. ({7}) Meine Damen und Herren, wer ernsthaft und effektiv die NPD und ihr unsägliches Gedankengut ausmerzen will, muss klug vorgehen und vor allem politische Mittel wählen. Es kommt ja nicht häufig vor, dass ich mich einer Formulierung des Kollegen Beck bediene, aber ich finde es sehr treffend, dass Sie, Herr Beck, gesagt haben, es gehe bei einem Verbotsantrag nicht um eine verfassungspolitische Mutprobe. Damit ist es eben nicht getan. Wir brauchen vielmehr Mut für den gesellschaftlichen und politischen Kampf gegen die NPD, hier im Bundestag vielleicht etwas weniger als in vielen Kommunen, gerade in den neuen Ländern, wo diese Partei ihr Unwesen treibt. Diesen Mut müssen wir aufbringen. Wir sollten daher nicht zu viel Energie auf Antragsverfahren in Karlsruhe verwenden, sondern uns umso intensiver gemeinsam an die politische Arbeit zur Verteidigung unserer Demokratie machen. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ulla Jelpke hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Krings, man muss sich ja fragen, was Ihre Kollegen im Bundesrat, die ja dem Antrag zugestimmt haben bzw. das Verbotsverfahren einbringen wollen, dazu sagen, dass Sie sie hier ganz offensichtlich für unqualifiziert und nicht durchblickend erklären. Das ist schon sehr bezeichnend, finde ich. ({0}) Meine Damen und Herren, wir sind uns offensichtlich einig, dass die NPD eine zutiefst verfassungswidrige Partei ist, die für demokratische Werte nur Verachtung übrig hat. Wir konnten in den Materialsammlungen zum Beispiel Folgendes lesen: Die NPD nennt sich selbst „völkisch-national“, sie gibt Parolen aus wie „Ja zu Deutschland! Ja zum Reich!“, sie will Menschenrechte nur jenen zugestehen, die die „richtigen“ biologischen Anlagen haben, und die NPD lässt keinen Zweifel daran, dass sie Verhältnisse wiederherstellen will, wie wir sie im Faschismus hatten. Es ist die Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten, dafür Sorge zu tragen, dass diese Partei oder so eine Partei in Deutschland keinen Platz hat und niemals Fuß fasst. ({1}) Wie streiten ja heute in der Tat über die Mittel der Wahl. Als Argument gegen ein Verbotsverfahren wird von den Regierungspolitikern und von den Grünen immer wieder vorgebracht, die NPD schwächele, sie sei nahezu pleite, ein Verbot sei ohnehin nicht ausreichend begründet usw. Das ist - mit Verlaub gesagt - eine banale Argumentation. Die Linke hat hier im Bundestag Dutzende von Anträgen eingebracht, um die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu befördern. Ein NPD-Parteiverbot war immer nur eines von mehreren Mitteln. Es gibt aber keinen Grund, auf dieses Mittel, also das Verbot, zu verzichten. ({2}) Denn, meine Damen und Herren, die NPD ist eben keine beliebige Partei. Sie ist vielmehr die einzige bundesweite und damit wichtigste rechtsextreme Kraft in Deutschland; ihre Bedeutung geht weit über ihre Wahlergebnisse hinaus. Ich will dafür einige Beispiele nennen. Die NPD fungiert als Rückgrat für militante Nazikameradschaften. Die versammeln sich beispielsweise in ihren Parteilokalen, nutzen Parteiinfrastruktur, können ihre Nazikonzerte auf Grundstücken der NPD machen. Wenn sie ihre rechten Aufmärsche anmelden, stehen sie unter dem besonderen Schutz des Parteienprivilegs. Die enge Verflechtung der NPD mit den gewalttätigen Kameradschaften zeigte sich erst im letzten Jahr wieder. In Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise der Innenminister drei Kameradschaften verboten. Was passierte? - Der NPD-Vorsitzende Holger Apfel reiste sofort ins Ruhrgebiet, um seine Solidarität mit diesen Nazischlägern zu bekunden. Man muss ganz klar sagen: Die Kameradschaften sind diejenigen, die Gewalt ausüben und Menschen terrorisieren, die anders denken, wie beispielsweise Migrantinnen und Migranten. Sie stehen mit ihren Knüppeln vor deren Haustüren und Ähnliches mehr. Im Kreis Unna wurde beispielsweise eine Hausdurchsuchung bei den Kameradschaften durchgeführt. Und was fand man? - NPD-Plakate, Materialien ohne Ende. Hier muss man ganz deutlich sagen, dass die Kameradschaften so organisiert sind, dass sie im Grunde genommen versuchen, über die NPD auch den Schutz des Parteienprivilegs in Anspruch zu nehmen. Dass die NPD dafür auch noch Steuergelder bekommt, ist wirklich ein Skandal. ({3}) Deswegen sage ich: Wir können das nicht hinnehmen. Ein weiteres Beispiel: In vielen Regionen Ostdeutschlands fordert die NPD ihre Mitglieder auf, die Zivilgesellschaft zu unterwandern. Sie gehen in die Freiwilligen Feuerwehren, in Sportvereine, in Musikvereine, in Schulbeiräte, um dort ihr braunes Gift zu verbreiten. Aus all diesen Gründen träfe ein Verbot der NPD nahezu die gesamten rechtsextremen Strukturen in Deutschland. Ohne die NPD wären die Kameradschaften nur halb so gut organisiert. ({4}) Angesichts der Gefahren, die von diesen Kameradschaften und Schlägertruppen ausgehen - nicht nur abstrakt für die Demokratie, sondern auch sehr konkret für Andersdenkende, Obdachlose und Migranten, die angegriffen werden -, dürfen wir nicht zögern, die NPD zu verbieten; denn damit würden wir auch die Kameradschaften treffen. ({5}) Nahezu jede Umfrage zeigt uns: In der deutschen Bevölkerung haben Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus leider hohe Zustimmungswerte; denn die sogenannte Mitte der Gesellschaft ist nicht immun gegen diesen Ungeist. Auch ein Thilo Sarrazin beispielsweise schwadronierte über den Zusammenhang von Erbanlagen und dem gesellschaftlichen Wert eines Menschen. Es ist völlig unverständlich, dass so ein Mensch noch in den Reihen der SPD verbleiben darf, ({6}) wo doch gerade die Vereinten Nationen seine Äußerungen als rassistisch verurteilt haben. ({7}) Das sind Brandstifter aus der Mitte dieser Gesellschaft. Ich sage Ihnen: Es ist unglaubwürdig, wenn man solche Leute in seinen Reihen lässt. Nicht zuletzt hat auch der Asylkompromiss vor 20 Jahren gezeigt, wie mit Menschenrechten und Menschenwürde umgegangen wurde - das war zu einer Zeit, als Asylbewerberheime in Deutschland brannten. Ich betone das, weil es eines klarmacht: Der Kampf gegen Rechtsextremismus hört nicht beim Kampf gegen die NPD auf. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, und deswegen müssen wir es auch aus der Mitte heraus bekämpfen. ({8}) Rechtsextremisten müssen geächtet werden. Um den Nazis das Wasser abzugraben, wäre die Unterstützung eines Verbotsantrags hier von immenser Bedeutung, meine Damen und Herren. ({9}) In der Tat, es bleiben noch einige Fragen offen. Die Linke hat das Material gesichtet und immer wieder klipp und klar gesagt, dass die Innenminister unbedingt eine verbindliche schriftliche Erklärung abgeben müssen, dass das Material nicht wieder V-Leute-verseucht ist, damit das Verbot nicht deswegen wieder scheitert. Zudem fordern wir die Bundesregierung auf, Informationen über die Verflechtungen von NPD und Kameradschaften, über ihre Gewaltbereitschaft bzw. ihre Gewalttaten zusammenzustellen und ebenfalls an die Gerichte zu geben, damit diese entsprechendes Material haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nicht zuletzt treibt uns die Sorge, dass das Verfahren gegen die NPD als Alibi missbraucht wird; denn man muss sagen: Es könnte damit auch sehr leicht abgelenkt werden von den enormen Skandalen, die wir im NSUVerfahren aufgedeckt haben, was die Sicherheitsbehörden und den Verfassungsschutz angeht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum letzten Satz. - Ich kann jetzt nur noch sagen, dass wir dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht zustimmen werden, weil er vor lauter Eitelkeit wirklich überhaupt nichts mehr zum NPD-Verbot sagt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke will dieses NPD-Verbotsverfahren. ({0}) Wir müssen endlich Nägel mit Köpfen machen. Ich sage zum Schluss nur noch: Auschwitz gedenken heißt NPD verbieten. Danke schön. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Stefan Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ich empfand Ihren letzten Satz, Frau Jelpke, offen gesagt, als etwas schlicht in der Argumentationsführung. Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen - das sollten wir uns hier nicht absprechen - machen sich die Entscheidung heute nicht leicht. ({0}) Vielleicht ist es sogar die wirksamste Form der Verteidigung der Demokratie, wenn wir in einer solchen Debatte, statt uns abzusprechen, dass wir in diesen Punkten auf demselben Fundament stehen, gerade die Gemeinsamkeit aller Demokraten in den Vordergrund stellen und betonen. ({1}) Wir sind nach reiflicher Abwägung aller Argumente der Auffassung: Der Bundestag sollte keinen eigenen NPD-Verbotsantrag stellen. Die Risiken sind hoch. Der Ausgang ist ungewiss. Auch das Problem des Rechtsextremismus wird durch ein NPD-Verbotsverfahren nicht gelöst. Aufgrund dieses Dreiklangs wollen wir keinen eigenen Verbotsantrag stellen. Die NPD - ich habe das selbst als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim letzten NPD-Verbotsverfahren erlebt ist eine zutiefst widerliche rechtsradikale Partei. Sie widerspricht all dem, was mir als Demokrat, aber auch als Christ wichtig ist. Sie spricht Menschen ihre Würde ab. Von daher sollten wir der NPD überall entschlossen entgegentreten. ({2}) Für mich als Liberaler ist das zuallererst die Aufgabe der Gesellschaft. Ein wirksames Präventionsprogramm gegen Rechtsextremismus ist, wenn wir in Vereinen, in Feuerwehren, in kulturellen Einrichtungen, im Freundesund Gesprächskreis, in unserem unmittelbaren Umfeld keinerlei Toleranz für Intoleranz zeigen, ({3}) sondern dem rechtsextremen Gedankengut überall dort, wo es auftritt, wirksam entgegentreten. ({4}) Heute steht eine politische Entscheidung an. Wir wollen und müssen politisch entscheiden, ob wir einen eigenen Antrag stellen. Herr Oppermann hat gesagt, wir hätten uns damit zu viel Zeit gelassen. Die Grünen werfen uns vor, wir würden überhastet handeln, was dieses Verbotsverfahren angeht. Ich finde schon - ich respektiere die Haltung der SPD -, es stünde den Grünen gut an, heute eine Entscheidung in der Sache zu treffen und ihre Haltung, sei es dafür oder dagegen, zum Ausdruck zu bringen. Bei der politischen Bewertung einer solchen Frage ist Enthaltung nicht das adäquate Mittel. ({5}) Wir Liberale singen gerne das seit dem Vormärz und den Zeiten der Französischen Revolution in Deutschland gesungene Lied: Die Gedanken sind frei. Wir hoffen darauf, dass es demokratische, gute, idealistische Gedanken sind, die frei sind. Wenn wir über diesen Satz nachdenken, müssen wir aber auch feststellen, dass staatliche Mittel gegenüber rechtsextremem Gedankengut, gegenüber der Überzeugung von Rechtsextremen leider relativ wirkungslos sind. Was nicht wirkungslos ist, sind die Mittel der Strafverfolgung. Darin sind wir uns alle einig. Dort, wo Rechtsextreme Straftaten begehen, wo sie den Boden des Strafgesetzbuches und die Werte unserer Gesellschaft verlassen, wo sie andere Menschen missachten, sie gegebenenfalls sogar verletzen oder töten, muss mit aller Härte dieses Rechtsstaates dem Rechtsextremismus entgegengetreten werden. Deswegen ist es wichtig, dass wir in solchen Fällen immer unsere Solidarität zeigen. Am Anfang habe ich gesagt, die Risiken sind hoch, die Erfolgschancen ungewiss und die zu erzielenden Erfolge relativ klein. Das sage ich auch in dem Wissen, dass wir im damaligen NPD-Verbotsverfahren dazu beigetragen haben, dass die NPD im Zusammenhang mit dem Scheitern durchaus neue Mitglieder gewonnen hat, weil wir sie zu Märtyrern gemacht haben. Wir sollten die Mitglieder dieser Partei nicht zu Märtyrern machen. Wir sollten ihnen dort entgegentreten, wo wir ihnen begegnen: jeder in seinem Alltag und gemeinsam als Demokraten. Ich glaube, damit erreichen wir mehr als mit einem NPD-Verbotsverfahren. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind uns im Deutschen Bundestag einig: Die NPD ist eine menschenverachtende, rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei, die auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgerichtet ist. Aus der Materialsammlung des Bundes und der Länder geht das zweifelsfrei hervor. Die NPD ist antisemitisch, rassistisch, islam- und menschenfeindlich. Sie lehnt das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland ab und will es beseitigen. Sie will ihre Rolle als Partei nutzen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - im NPD-Jargon heißt das: das System - zu überwinden. Alle Mitglieder unserer Fraktion würden es lieber heute als morgen sehen, dass es die NPD nicht mehr gibt, weil sie verboten ist oder weil sie politisch oder finanziell Bankrott anmelden muss. ({0}) Udo Voigt, der ehemalige Vorsitzende der NPD, sagte: „BRD heißt das System - morgen soll es untergehen!“ Die NPD lehnt die Werte des Grundgesetzes - Gleichheit und Freiheit - grundsätzlich ab. Karl Richter, ein NPD-Funktionär und Stadtrat aus München, formuliert ganz rassenbiologisch: Toleranz ist Manipulation des Natürlichen … Toleranz wird eingefordert für Fremde, Homosexuelle, Aidskranke … wo die Toleranz gegenüber Abweichendem, Lebens-Unrichtigem überhand nimmt auf Kosten der normalgebliebenen Mitglieder des Gemeinwesens, nimmt die Überlebensfähigkeit des Ganzen Schaden … weil der Patient … - die weiße Menschheit vor dem Exitus steht. ({1}) Volker Beck ({2}) Hier wird gegen Minderheiten gehetzt. Deshalb muss man sich der NPD mit allen demokratisch legitimen Mitteln überall entgegenstellen. ({3}) Es gibt Verbindungen der NPD zu verbotenen rechtsextremistischen Organisationen und neonazistischen Straf- und Gewalttätern. Es gibt eine perfide Kooperation mit den Freien Kameradschaften, den sogenannten Freien Kräften. Diese Freien Kräfte bieten dem rechtsextremen Spektrum Flexibilität, Mobilisierungsfähigkeit und Aktionsorientierung. Die NPD versucht währenddessen, den Schutz durch das Parteienprivileg für sich zu reklamieren. Karl Richter hat dazu gesagt, dass das zwei Herangehensweisen, zwei Seiten der gleichen Münze, zwei Scheiden der gleichen Klinge sind. Aber unter dem Strich zählt, dass der Hieb, der mit dieser Klinge geführt wird, auch sitzt. Was die NPD will, ist ganz klar. Deshalb ist sich unsere Fraktion einig: Wenn ein Verfahren zum Verbot der NPD große Chancen hätte, würden wir mit fliegenden Fahnen sofort alle gemeinsam Ja sagen. Es gibt allerdings noch einige Fragen. Ich finde es wirklich bedauerlich, Kollege Oppermann, dass wir diese Fragen nicht in einem ordentlichen Verfahren in den Ausschüssen, auch mithilfe von Sachverständigen, klären können. Das ist zum Beispiel die Frage nach den V-Leuten. Ich habe gestern zum zweiten Mal das Innenministerium gefragt, welche Innenminister denn das Testat, dass das Material V-Mann-frei ist, wieder zurückgezogen haben. Die Regierung antwortet einfach nicht ({4}) und verweist auf einen IMK-Beschluss. Hinzu kommt: 10 Prozent des Materials wurden entfernt, weil es quellenbelastet war. Was das für das Verfahren heißt, kann niemand hier im Hohen Hause aus eigenem Wissen als Bundestagsabgeordneter letztgültig beurteilen. ({5}) In meiner Fraktion gibt es viele, die darauf setzen, dass die offensichtliche Nähe der NPD zum Nationalsozialismus und zu den gewalttätigen Kameradschaften sowie ihre Entschlossenheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - die Grundsätze der Bundesrepublik Deutschland - abzuschaffen, ausreichen, um das Bundesverfassungsgericht und europäische Gerichte von der Möglichkeit eines Parteiverbots zu überzeugen. Es gibt andere, die fragen: Kann man mit diesem Material tatsächlich nachweisen, dass die NPD für den Bestand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland eine ernsthafte Gefährdung darstellt? ({6}) Das sind keine trivialen Überlegungen, sondern sie verdienen eine ernsthafte Erörterung. Deshalb sage ich: Wenn wir als Deutscher Bundestag - ein Verfassungsorgan, das weder der Bundesregierung noch dem Bundesrat zu folgen hat, sondern aus eigener Erkenntnis und Einschätzung sein Urteil zu fällen hat - einen Verbotsantrag stellen, bedarf das einer seriösen und sorgfältigen Herangehensweise. ({7}) Das sehe ich in dem heutigen Verfahren in der Tat nicht. Ich verstehe nicht den Sinn darin, dass man hier einen Antrag auf das Stellen eines Verbotsantrages stellt, von dem man - schon aufgrund der Koalitionsmehrheit weiß, dass er keine Mehrheit findet. ({8}) Ich muss Ihnen sagen: Ich möchte dem Bundesrat bei seinem Versuch, die NPD zu verbieten, keine Knüppel zwischen die Beine werfen. ({9}) Für mich macht es einen Unterschied, ob der Bundestag einfach nicht von seinem Recht auf das Stellen eines Antrags Gebrauch macht oder ob er hier gezwungen wird, den Antrag auf das Stellen eines Antrages mit Mehrheit abzulehnen. Das halte ich für keine kluge Entscheidung, für kein hilfreiches Signal im Hinblick auf das vom Bundesrat beantragte Verbotsverfahren, und es wird der Ernsthaftigkeit des Sachverhaltes nicht gerecht. ({10}) Wir sollten die Frage „Kann man die NPD verbieten oder nicht?“ - nicht die Frage „Will man sie verbieten?“ nicht parteipolitisch instrumentalisieren. ({11}) Mich erinnert das alles ein bisschen an 2003. Es wirkt wie ein Wettbewerb: Wer kommt bei der Meisterschaft gegen die NPD am höchsten aufs antifaschistische Treppchen? ({12}) Das ist aber nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen eine seriöse Diskussion und eine verantwortliche Entscheidung in der Sache. Ich habe von dir, Thomas, kein Argument dazu gehört, wie du die entsprechenden Hürden der Rechtsprechung überwinden willst. Aber das ist die Frage, auf die man vor Gericht antworten muss. ({13}) Wir werden uns bei der Abstimmung über die Anträge von SPD und Linken enthalten, weil wir nicht sehen, dass das entsprechend seriös diskutiert wurde. ({14}) Volker Beck ({15}) Kurz zu unserem Antrag. Wir stellen fest: Unabhängig vom Ausgang des NPD-Verbotsverfahrens, das es aufgrund des Antrags des Bundesrates auf jeden Fall geben wird, gibt es Aufgaben im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Das staatliche Versagen bei der Aufklärung der NSU-Morde darf nicht folgenlos bleiben. Die zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus darf man nicht länger in ihrer Arbeit behindern, und sie müssen auf eine dauerhafte finanzielle Grundlage gestellt werden. Denn der Kampf gegen den Rechtsextremismus wird nicht an einem Tag gewonnen. ({16}) Ich komme zum Schluss. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie beweihräuchern sich in Ihrem Antrag angesichts dessen, was Sie alles Tolles gemacht haben, unter anderem, dass Sie die Kürzungen, die Sie bereits beschlossen hatten, auf Druck der Opposition zurückgenommen haben. Aber Sie sagen kein Wort zu dem, was wir im Bundestag schon beschlossen haben: dass wir die Hürden beseitigen, dass wir von der kurzatmigen Projektförderung über nur drei Jahre wegkommen und die Extremismusklausel endlich zurücknehmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da würde sich zeigen, ob Sie es ernst meinen. ({0}) Ich erwarte von allen - ob Sie jetzt mit Ja, Nein oder Enthaltung stimmen -, dass wir uns am 1. Mai in Dortmund und Berlin sehen, wenn die NPD und Die Rechte auf die Straße gehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da ist jeder Demokrat auf der Straße gefordert. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Dr. HansPeter Uhl das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Bei der Frage, ob der Bundestag beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag stellen soll, sind wir alle in einer schwierigen Situation. Das ist, glaube ich, jedem in der Debatte deutlich geworden. Es gibt bestimmte Sprecher einer Fraktion, die es bei der Debatte besonders schwer haben; Sie haben es gerade in Gestalt von Herrn Beck gehört. Ich meine, wir alle miteinander - jeder Redner für sich - sollten zunächst einmal gemeinsam feststellen, dass das Gedankengut, das die Vertreter der NPD vortragen, materiell verfassungsfeindlich ist. Der Antisemitismus, den sie vortragen, ist für uns alle unerträglich. ({0}) Der Antisemitismus und Rassismus in seiner widerwärtigen Form, der Ausländerhass, sind das Gegenteil dessen, was wir alle mit unserer Politik verfolgen: eine Integration der Menschen, die zu uns kommen, und der Erhalt des sozialen Friedens. Mit diesem Gedankengut kann man niemals sozialen Frieden erreichen; er wird dadurch zerstört. Der primitive Führerkult, den NPD-Vertreter vortragen, ist das Gegenteil einer pluralen, freiheitlichen Demokratie. Da sind wir alle uns einig. Lassen Sie uns doch bitte immer wieder festhalten, dass es diese Einigkeit gibt: Es gibt keinen Dissens, wohin ich auch schaue, von links bis rechts. Das ist das große Verdienst aller hier vertretenen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sollten gemeinsam darauf stolz sein, dass es uns gelungen ist, dieses Gedankengut in unserer Demokratie zu ächten. 99 Prozent der Deutschen wollen mit diesem Gedankengut nichts zu tun haben. Darauf sollten wir stolz sein, und das müssen wir erhalten. ({1}) Jetzt sind wir beim Kern des Themas. Das Thema lautet: Kann oder darf der Staat eine Partei verbieten, die der Wähler bereits mit überwältigender Mehrheit ächtet, was er an jedem Wahlsonntag wieder unter Beweis stellt? 99 Prozent der Wähler ächten dieses Gedankengut. Kann der Staat diese Partei dennoch verbieten? ({2}) Der Blick ins Grundgesetz lehrt uns: Die Gedanken sind frei, die Gründung einer Partei ist frei, sie unterliegt keiner staatlichen Aufsicht, sofern nicht gegen Gesetze verstoßen wird. ({3}) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der tragende Gedanke des Rechtsstaates. Alles, was der Staat tut, muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Diesen Gedanken auf die NPD angewandt, kommt man zu folgenden Erkenntnissen: Wir haben leider Gottes etwa 23 000 Rechtsextreme in unserem Land, nur 5 000 davon sind in der NPD. ({4}) Die NPD ist glücklicherweise eine sterbende Partei. Selbst unter Rechtsextremen ist sie nicht attraktiv und nicht anerkannt. Darüber sind wir froh. Es ist auch unsere Leistung, unser Erfolg, dass das so ist. Das heißt, diese Partei ist für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne Bedeutung. Sie ist widerwärtig, sie ist unangenehm, sie muss bekämpft werden, aber für die politische Entwicklung in unserem Land ist sie ohne Bedeutung. Sie hat keinen Einfluss bei der Willensbildung des Volkes. Diese Erkenntnis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angewendet, wird es für das Gericht schwer sein, ein Verbot dieser Partei von Staats wegen zu begründen. Aber gerade weil es schwierig bis unmöglich ist, dass der Staat diese Partei verbietet, ist es umso mehr die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, das Gedankengut zu bekämpfen. Eine Partei nicht zu verbieten, heißt doch nicht, dass man das Gedankengut nicht bekämpft, sondern gerade deswegen muss es von uns allen bekämpft werden. Dem dient unser Antrag. Wenn Sie unseren Antrag lesen - er hat übrigens über lange Strecken verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was die Fraktion der Grünen jetzt noch nachgeschoben hat -, werden Sie feststellen, dass er dem Kampf der gesamten Gesellschaft gegen dieses Gedankengut dient; und das ist gut so. ({5}) Das heißt, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird sein, weiterhin, wo immer wir sind, Gedanken des Antisemitismus zu bekämpfen, Gedanken des Rassismus zu bekämpfen, Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen und den Führerkult zu ächten. Das ist die Aufgabe von uns allen. Wir haben uns ihr verschrieben, und wir sind ihr bisher mit großem Erfolg nachgekommen. Ich hoffe, dass es bei der Bundestagswahl im kommenden September wieder dazu kommt, dass nur null Komma irgendwas Prozent der deutschen Wähler einer Partei mit diesem Gedankengut ihre Stimme geben und 99 Prozent der Wähler dieses Gedankengut durch ihre Stimme ächten. Ein solches Votum der Wähler ist sehr viel edler: ganz frei, geheim, jeder für sich. Es ist sehr viel wertvoller als ein obrigkeitsstaatliches Verdikt von einem Gericht, beantragt von Verfassungsorganen. Der Wähler soll sagen: Wir wollen damit nichts zu tun haben; wir haben aus der Geschichte gelernt. - Der Wähler hat es bisher getan, er wird es auch weiter tun. Danke schön. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für den Bundesrat erteile ich jetzt dem Landesminister Boris Pistorius das Wort. ({0}) Boris Pistorius, Minister ({1}): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf vorwegschicken: Ich bin der SPD-Bundestagsfraktion sehr dankbar für die Möglichkeit, diese Debatte heute hier zu führen. Nach den Diskussionen der letzten Monate ist sie zum jetzigen Zeitpunkt notwendig. ({2}) Es stimmt: Die NPD hat in den letzten Jahren Mitglieder verloren. Es trifft zu: Die NPD befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten. Sie hat ihre Vorstandsmitarbeiter entlassen. Diese Entwicklung ist überaus erfreulich. Aber ist deswegen ein NPD-Verbot überflüssig? ({3}) Sollen wir darauf hoffen, dass sich das Problem NPD von alleine erledigt? Sollen wir bis dahin einfach die Hände in den Schoß legen? Wäre das etwa ein Zeichen demokratischer Geschlossenheit? ({4}) Die Antwort kann mit Blick auf die Opfer der NPDPropaganda in Deutschland nur heißen: Nein, wir dürfen nicht einfach nur abwarten. ({5}) Das von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Einleitung eines Verbotsverfahrens zusammengestellte Materialkonvolut, das übrigens zu drei Vierteln aus Materialien des Bundes besteht, belegt es eindeutig: Die NPD ist eine neonazistische, eine antisemitische und eine rassistische Partei. ({6}) Ich habe in den letzten Wochen und Monaten und auch heute viel über das Risiko eines solchen Antrags und die Ungewissheit des Ausgangs eines Verbotsverfahrens gehört. Aber ich frage Sie: Vor welchem Gericht in Deutschland gibt es hundertprozentige Gewissheit im Hinblick auf das, was ich mit meinem Antrag, meiner Klage bewegen will? ({7}) Ich hielte es für einen Ausdruck demokratischer Geschlossenheit und Entschlossenheit, diesen Antrag auch dann zu stellen, wenn man, wie im Regelfall, nicht hundertprozentig sicher sein kann, Erfolg damit zu haben. Wir alle kennen das Sprichwort über Gerichtsentscheidungen. Es ist schwer zu ertragen, wenn von der NPD als einer Dummheit gesprochen wird, die man nicht verbieten könne. Minister Boris Pistorius ({8}) ({9}) Noch schwerer ist es nachzuvollziehen, dass die Bundesregierung sich dieser Auffassung anschließt. Menschen mit Migrationshintergrund, Angehörige anderer Religionsgemeinschaften - insbesondere Juden und Muslime -, Wohnungslose, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle: Sie alle werden von der NPD systematisch diffamiert. Diesen Menschen muss es doch wie Hohn vorkommen, dass diese widerwärtige Propaganda der NPD zu einem großen Teil mit staatlichen Mitteln finanziert wird. ({10}) Allein im Jahre 2011 machten sie 42 Prozent der Gesamteinnahmen der NPD aus. Als Innenminister eines Flächenlandes, das rechtsextremen Tendenzen sehr kritisch und sehr aufmerksam begegnet, sage ich: Erstens verharmlost es die NPD, wenn man sie einfach nur als Dummheit bezeichnet. ({11}) Zweitens muss man gegen Dummheit angehen, ({12}) und zwar mit Aufklärung, mit Sensibilisierung, mit Aussteigerprogrammen und, ja, auch mit einem Parteiverbotsantrag. ({13}) Es stimmt ja: Dummheit kann man nicht verbieten. Wohl aber diese Partei. Wenn die Klügeren immer nur nachgeben, dann gewinnen am Ende die Dummen. ({14}) Die Demokraten im Bund und in den Ländern müssen geschlossen zusammenstehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Rechten auch nur einen Quadratmeter Boden in den Köpfen der Menschen dazugewinnen. Es steht außer Frage, dass die NPD eine verfassungsfeindliche Partei ist. Für mich steht auch außer Frage: Wir können und werden das Bundesverfassungsgericht davon überzeugen, dass die NPD in aggressiv-kämpferischer Art und Weise unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen will. ({15}) Wir brauchen für den Nachweis auch keine plakativen Aufrufe der NPD zu Gewalt oder lange Straftatenregister. Ein planvolles politisches Vorgehen wird ausreichend deutlich anhand einer Vielzahl von Materialien, die auch im Internet einsehbar sind. Auch wenn es mir schwerfällt, zitiere ich aus dem Internetauftritt der NPD: Ein Afrikaner, Asiate oder Orientale wird nie Deutscher werden können, weil die Verleihung gedruckten Papiers ({16}) ja nicht die biologischen Erbanlagen verändert, die für die Ausprägung körperlicher, geistiger und seelischer Merkmale von Einzelmenschen und Völkern verantwortlich sind. Welchen Beweises braucht es noch? ({17}) Ein Verbot der NPD ist nicht gleichbedeutend mit einem Sieg über den Rechtsextremismus. Diese Illusion hat niemand. Aber ein Verbot der NPD würde den Rechtsextremismus dort, wo er immer noch starke Strukturen hat - zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen -, ins Mark treffen. ({18}) Vor allem aber sendet eine gemeinsame Erklärung zu einem NPD-Verbotsverfahren ein starkes moralisches und politisches Signal aus. Deswegen, meine Damen und Herren von der CDU, von der CSU, von der FDP und auch von den Grünen, fordere ich Sie als niedersächsischer Innenminister und Vorsitzender der Innenministerkonferenz auf - ich bitte Sie herzlich -: Schließen Sie sich dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und dem Antrag des Bundesrates an. Wir schulden es den Opfern rechtsextremistischer Gewalt. Vielen Dank. ({19})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hartfrid Wolff das Wort. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Pistorius, wir schulden es den Opfern rechtsextremistischer Gewalt, dass wir wirkungsvoll gegen Rechtsextremismus vorgehen und hier keine Ablenkungsdebatten über das NPD-Verbotsverfahren führen. ({0}) Für die FDP besteht kein Zweifel: Die NPD ist eine rechtsextremistische Partei mit menschenverachtenden Inhalten. Natürlich gehört zur wehrhaften Demokratie auch das Parteiverbot. Man muss sich aber die Frage stellen, ob durch ein Verbot nicht einfach nur eine Hülle beseitigt wird, das Grundproblem aber bestehen bleibt. ({1}) Hartfrid Wolff ({2}) Gerade für die FDP hat ein wirkungsvolles Vorgehen gegen politischen Extremismus höchste Priorität. Auch die übelste Gesinnung kann man nicht einfach verbieten, und Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Jedenfalls ist ein NPD-Verbot kein Patentrezept, auch wenn die SPD das hier suggerieren möchte. Selbst wenn die rechtsextremistische Szene durch ein Verbot vorübergehend geschwächt würde, sind größere Anstrengungen notwendig, auch der Länder, Herr Pistorius, und zwar insbesondere im Polizeibereich, um den Druck auf diese Szene massiv zu erhöhen. Auch juristisch ist Vorsicht geboten. Das lehren allein schon das gescheiterte Verfahren 2003 und die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu anderen Parteiverbotsverfahren. Aber nicht nur juristisch gilt es, das Für und Wider abzuwägen. Wir haben vielfach die Erfahrung gemacht: Wenn eine rechtsextreme Organisation verboten wird, gründet sie sich unter anderem Namen neu. Wie oft soll das Spiel denn immer wieder neu beginnen? Verschafft ein Verbotsverfahren nicht unnötigerweise einer Partei Aufmerksamkeit, die angesichts ihrer Mitgliederentwicklung und ihrer Finanzen ohnehin am Boden liegt? Die Länder erwecken mit einem monatelang andauernden Verbotsverfahren den Eindruck besonderen Engagements. Tatsächlich haben die Länder aber über viele Jahre hinweg bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus versagt. Die NSU-Mordserie hat dies sehr deutlich gezeigt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Wolff, der Kollege Gysi hat eine Zwischenfrage an Sie. Möchten Sie sie zulassen?

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, offenbar wollen Sie auch mit Ihrem Antrag hier im Bundestag den Eindruck eines besonderen Engagements erwecken. Wir stehen aber vor anderen Herausforderungen; denn die Morde der Zwickauer Terrorzelle sind die schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland bisher erlebt hat. Das ist eine Krise in Bezug auf die Sicherheitsarchitektur und die -organe. ({0}) Es fehlt allerdings nach wie vor der Nachweis eines unmittelbaren Zusammenhangs mit der NPD als Partei. Generalbundesanwalt Range sprach davon - angesichts unserer Ermittlungen im Untersuchungsausschuss wissen wir, dass das sehr plausibel ist -, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gebe, dass der NSU quasi als verlängerter Arm der NPD angesehen werden könne. Das in diesem Zusammenhang permanent öffentlich vorgetragene Ansinnen der SPD zum NPD-Verbotsverfahren soll offenbar einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Doch mit einem NPD-Verbot wäre in Sachen NSU nichts gewonnen. Durch ein Verbotsverfahren gegen die NPD darf das öffentliche Interesse nicht von der Aufklärung der NSU-Verbrechen abgelenkt werden. ({1}) Die Diskussion über den dringenden Reformbedarf unserer Sicherheitsarchitektur darf nicht durch diese symbolhafte NPD-Verbotsdebatte verdeckt werden. Die Neuaufstellung der Behörden ist nötig. Hier ist das Bohren dicker Bretter gefragt - und eben keine Ablenkungsdebatte. Mit einem schlichten Verbot einer Partei ist es für uns nicht getan. Die FDP besteht nach wie vor auf der wirkungsvollen Bekämpfung von Rechtsextremismus und Extremismus insgesamt und einer lückenlosen Aufklärung der NSU-Mordserie. Die FDP wird sich weiterhin kompromisslos gegen extremistische Ideologien in unserer Gesellschaft, egal wo sie auftreten, einsetzen. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Wolff - dasselbe könnte ich zum Vertreter der Grünen sagen -, mir fallen zwei Dinge auf. Erstens. Sie tun immer so, als würden wir hier entscheiden, ob es ein Verfahren geben wird oder nicht, und dies juristisch abwägen. Es wird ein Verfahren geben, weil der Bundesrat dies entschieden hat. Es geht doch nur um die Frage, ob der Bundestag den Bundesrat unterstützt oder alleinelässt. Das ist die Frage, die wir hier zu beantworten haben. ({0}) Zweitens. Mich stört, dass Sie sagen, ein Verbot nutze in bestimmten Bereichen nichts. Dass das nicht ausreicht, wissen wir alle. Aber glauben Sie nicht, dass ein Verbot der NPD eine wichtige Hemmschwelle in unserer Gesellschaft setzt und zugleich dem Ausland signalisiert, dass wir in Deutschland das Überschreiten einer bestimmten Grenze bei Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit nicht zulassen? Wäre es nicht wichtig, dieses Signal zu setzen? ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Wolff zur Antwort bitte.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gysi, zunächst einmal ist die Frage, ob man hinter einem Antrag steht oder nicht, schon bedeuHartfrid Wolff ({0}) tend. Wenn ich daran denke, wie 2003 das NPD-Verbotsverfahren ausgegangen ist, kann ich Ihnen nur sagen: Es ist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Zeichen, dass der Deutsche Bundestag klar erklärt, dass er Rechtsextremismus politisch bekämpfen möchte ({1}) und von der juristischen Art und Weise, ihn zu bekämpfen, wie sie auch von Ihnen unterstützt wird, nicht wirklich überzeugt ist. ({2}) Sie sagen, dass es bei einem NPD-Verbotsverfahren darum geht, ein Zeichen zu setzen. Aber wenn diese Partei tatsächlich verboten werden würde, hätten wir doch nach kürzester Zeit eine andere Partei - solche Parteien gibt es schon in der Parteienlandschaft -, die dann in den Genuss von finanzieller Unterstützung durch Parteienfinanzierung und Ähnlichem käme, falls sie genügend Wähler gewinnt. Ich sage Ihnen ganz offen: Das beste Signal gegen die NPD haben die Wähler in Niedersachsen und auch bei der letzten Bundestagswahl gesetzt, indem sie die NPD nur sehr wenig unterstützt haben. Die NPD hatte bei diesen Wahlen keinen Erfolg. Um wirkungsvoll gegen Extremismus vorzugehen, muss es dieses Wahlverhalten auf allen Ebenen, auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene, geben. Die Programme, die die Bundesregierung vorgelegt hat, sind gute Schritte in die richtige Richtung. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Franz Josef Jung hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Franz Josef Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003781, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, alle Demokraten sollten sich einig sein, dass Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus in Deutschland keine Chance haben dürfen ({0}) und dass wir alles tun, um das sowohl politisch als auch gesellschaftlich zu bekämpfen. Die menschenverachtende Gesinnung von Rechtsextremisten steht in einem deutlichen Widerspruch zu den Werten unserer Verfassung. Insofern ist es eindeutig - wir haben das, denke ich, auch betont -: Die NPD verfolgt verfassungsfeindliche Ziele. Wer sich die Nazidiktatur zum Vorbild nimmt, steht in einem eindeutigen Widerspruch zu den Werten unserer Verfassung und hat unseren Widerstand verdient. ({1}) Deshalb sind, denke ich, sowohl Politik als auch Gesellschaft gefordert, alle Erscheinungsformen des Rechtsextremismus zu bekämpfen. Hierbei geht es uns um einen umfassenden und nicht um einen einseitigen Ansatz. In unserem Antrag haben wir die einzelnen Positionen dargestellt. Es geht um Bildung als Beitrag zur Sensibilisierung gegen Rechtsextremismus, um die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Engagements, zum Beispiel durch die Bundesprogramme „Zusammenhalt durch Teilhabe“ und „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“. Es geht aber auch um den Vereinsbereich. Im Bereich des Sports beispielsweise gibt es das Programm „Verein({2}) gegen Rechtsextremismus“. Außerdem müssen wir die Aussteigerprogramme unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben; immerhin sind in diesem Rahmen schon 100 Personen aus dem rechtsextremistischen Milieu ausgestiegen. Ich glaube, es ist ein wichtiger Punkt, auch in dieser Richtung alles Notwendige zu tun. Wir müssen die verschiedensten Facetten nutzen, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, und dies nicht nur mit einem einseitigen Verbotsantrag. ({3}) Dazu gehören auch die effektive Prävention und die strenge Repression durch staatliche Stellen: durch Polizei, Justiz, Bundeskriminalamt und die Verfassungsschutzbehörden. Ich will hervorheben: Dort, wo wir die Kompetenz haben, zu entscheiden, haben wir entschieden. So wurden in Deutschland beispielsweise zehn extremistische Vereine verboten, wir haben die Verbunddatei gegen Rechtsextremismus auf den Weg gebracht und die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden verbessert. Das alles sind Punkte, die aus unserer Sicht dazugehören. Kollege Gysi, wir haben in unserem Antrag ausdrücklich formuliert, dass wir es begrüßen, dass das von den Ländern in Gang gesetzte Verfahren von der Bundesregierung unterstützt wird. Aber wir haben Zweifel im Hinblick auf die angemessene Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes; das ist ein Aspekt, den man in dieser Debatte nicht verkennen darf. Die NPD nutzt ein solches Verfahren nämlich, um sich ein Stück weit zu profilieren; das haben wir an einigen Anträgen vonseiten der NPD gesehen. Ich glaube, das Kriterium, das wir an den SPD-Antrag anlegen müssen, ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines Parteienverbotes. Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt: Ein Parteienverbot ist nur dann möglich, wenn die Gefahr besteht, dass die Existenz der Demokratie durch die betreffende Partei unmittelbar gefährdet ist. - Wir haben angesichts eines Bundestagswahlergebnisses von 1,5 Prozent Zweifel, dass dieses Vorgehen gerechtfertigt ist. ({4}) Meine Damen und Herren, bundespolitisch steht diese Partei dort, wo sie hingehört, nämlich im Abseits. Das wollen wir auch bei den kommenden Wahlen erreichen. Deshalb wollen wir den politischen Kampf gegen den Rechtsextremismus nicht einseitig, sondern umfassend führen. Der beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Antrag auf Verbot dieser Partei ist lediglich ein Baustein im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Im Falle des Scheiterns kann er aber zu einer großen Baustelle werden. Wir haben ja gesehen: Als das Verbotsverfahren 2003 gescheitert ist, sind die Stimmanteile der NPD gestiegen; das muss in dieser Debatte mitberücksichtigt werden. Genau das wollen wir verhindern. Wir wollen diese Partei bekämpfen, ihr aber nicht die Chance geben, sich zusätzlich zu profilieren. ({5}) Meine Damen und Herren, ich denke, unser Antrag ist der weitergehende und effektivere Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags. Besten Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael Hartmann das Wort. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat: Jeder, der zu dem scharfen Schwert eines Parteienverbots greift, muss sich sehr genau überlegen: Ist das gerechtfertigt, und ist das maßvoll? Ist es das, was wir in einer entwickelten liberalen Demokratie tatsächlich wollen? Um darauf Antworten zu finden, will ich in aller Kürze ein paar Zitate verlesen. Im Grundsatzprogramm der NPD gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Integration ist Völkermord“. In diesem Kapitel wird gefordert, dass die deutsche Volkssubstanz zu erhalten ist. So lautet der Text. Nun zum gesprochenen Wort; bei der Gesamtabwägung geht es ja auch um die aggressiv-kämpferische Grundhaltung. Da sagt ein hoher Funktionär der NPD bei einer öffentlichen Veranstaltung in Gera in Richtung Gegendemonstranten: Wir sagen: Tod, Vernichtung diesem roten Mob. Nicht unser Volk darf sterben, sondern dieser volksfeindliche Pöbel. Dann gibt es eine weitere Veröffentlichung eines NPDKandidaten, der auf seiner Homepage die Frage stellt: Sind die „Dönermörder“ verfassungsgemäße Widerständler? Was brauchen Sie noch, um zu sagen: „Diese Partei muss verboten werden!“? ({0}) Wir leben in einem Land, das aufgebaut ist auf einem Nie-wieder zu nationalsozialistischer Tyrannei. Insofern ist es ein Gebot der Staatsräson, diese Partei durch das Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. ({1}) Der Bundesrat hat abgewogen - übrigens in engster Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium und mit den Sicherheitsbehörden des Bundes; man war also immer dabei - und ist zu dem Ergebnis gekommen: Jawohl, wir wollen es noch einmal wagen und ein Verfahren anstrengen. Entgegen dem, was zum Beispiel der Kollege Wolff vorhin in der Entgegnung auf die Kurzintervention sagte, ist es nicht wahr, dass das Bundesverfassungsgericht der NPD jemals attestiert hätte, dass sie verfassungsgemäß sei - das Verfahren wurde überhaupt nicht zugelassen. Das neue Verfahren ist gründlich und durchdacht vorbereitet. Mit dem Antrag der SPD wollen wir die Gelegenheit bieten, dass wenigstens dieses Verfassungsorgan den Bundesrat nicht im Regen stehen lässt, wie es die Bundesregierung - mehr aus koalitionärer Rücksichtnahme denn aus ernsthafter Abwägung - getan hat. ({2}) In diesem Sinne muss man sehr genau überlegen, wie man nun weiter argumentiert, auch seitens des Bundesinnenministers, der an dieser Debatte anscheinend gar nicht teilnimmt. Vor gut einem Jahr hat der Minister dankenswerterweise die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ verboten. Er hat eine Organisation verboten, keine Gesinnung. Sie haben damals völlig richtig gesagt: Hier zeigt die wehrhafte Demokratie ihre Zähne. Wir werden solche Organisationen nicht dulden. - Was bei einer Organisation mit 600 Mitgliedern recht ist, kann bei einer Partei wie der NPD mit 6 000 Mitgliedern nur recht und billig sein. ({3}) Natürlich ist es mit einem Parteiverbot nicht getan. Aber es ist ein Gebot unseres Selbstverständnisses, ein Verbot dieser Partei anzustreben. Hinzu kommen müssen Förderung und Unterstützung der Zivilgesellschaft. Es muss Schluss sein damit, dass diejenigen, die gegen rechts kämpfen, sich am Schluss mit einer Extremismusklausel herumschlagen müssen. ({4}) Es muss auch Schluss sein damit, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus vermischt wird mit der Bekämpfung des Linksextremismus und mit der Bekämpfung des Salafismus. Nein, Rechtsextreme sind ein besonderes Übel und müssen von unseren Sicherheitsbehörden mit eigenständigen Ansätzen verfolgt werden. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn das Demokratieverständnis durch diese Debatte tatsächlich gestärkt wird, ist immerhin etwas erreicht. Als letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Die SPD geht nicht taktisch mit dieser Frage um. Die SPD hat in der Zeit des Widerstands gegen die Hitlerei einen hohen Blutzoll geleistet. Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass die Rechten - auch als Partei - nie mehr in Deutschland Fuß fassen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Helmut Brandt. ({0})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den richtigen Umgang mit dem in Deutschland zweifellos vorhandenen Rechtsextremismus ist schwierig: Obwohl - darüber bin ich sehr froh - alle in diesem Hause die Notwendigkeit sehen, gegen diese Bestrebungen wirksam vorzugehen, besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Wahl der Mittel. Ausgangspunkt für unsere heutige Debatte ist unter anderem die schreckliche Erkenntnis, dass eine rechte Terrorzelle, die sich selbst den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ gab, Menschen mit ausländischen Wurzeln getötet hat, sowie der Beschluss des Bundesrates, beim Bundesverfassungsgericht ein erneutes Verbotsverfahren gegen die NPD einzuleiten. Seit der erste Verbotsantrag im Jahre 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte, haben sich alle - sowohl der Bund als auch die Länder - bemüht, die Ursachen für dieses Scheitern zu beseitigen, um so bei einem möglichen zweiten Anlauf aufgrund des V-LeuteProblems nicht ein neues Fiasko zu riskieren. Die Frage stellt sich mithin, ob wir heute einen Punkt erreicht haben, der ein neues Verfahren notwendig und erfolgversprechend macht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, der Kollege Ströbele möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen? ({0})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Ströbele.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn er sonst nicht reden darf. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil Sie jetzt auch zu dem Punkt Stellung nehmen, zu dem der Kollege Gysi, der im Augenblick nicht da ist, vorhin schon geredet hat. ({0}) Geben Sie mir recht, dass der Deutsche Bundestag in den Jahren 2001 bis 2003 - der Antrag war 2001 gestellt worden - schon einmal versucht hat, durch einen Verbotsantrag gegen die NPD ein Signal gegen die NPD zu setzen, dass dies aber total schiefgegangen ist, weil es eher ein Signal in die falsche Richtung gewesen ist und auch für die Bevölkerung im Inland ein falsches Signal war? Geben Sie mir weiter recht, dass der Deutsche Bundestag heute - das haben Sie ja bereits angesprochen - genauso wenig wie in dem früheren NPD-Verbotsverfahren in der Lage ist, die Validität des vorgelegten Materials zu überprüfen und die V-Mann-Freiheit zu garantieren, und dass es deshalb mit diesem Signal des Deutschen Bundestages diesmal wieder genauso schiefgehen könnte wie beim letzten Mal?

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ströbele, es ist selten der Fall, aber ich muss sagen: Ich kann Ihren Ausführungen im vollen Umfang zustimmen. Ich möchte aber hinzufügen - auch im Hinblick auf das, was Herr Gysi eben gesagt hat -: Es darf und kann bei dieser Frage keinen Automatismus geben, wonach der Bundestag, wenn eines der beiden Verfassungsorgane Bundesrat und Bundesregierung einen solchen Antrag stellt, diesem dann zwangsläufig auch folgen muss. Gerade das Scheitern 2002/2003 - da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht - zeigt doch - das haben auch meine Vorredner deutlich gemacht -, dass mit einem solchen Antrag, den wir als Abgeordnete nicht hundertprozentig auf Validität überprüfen können, das hohe Risiko eingegangen wird, dass damit das Gegenteil von dem bewirkt wird, was wir alle wollen. Deshalb werden wir ihn ablehnen. ({0}) Die Länder sind bei der Beratung zu der Überzeugung gelangt, dass die Voraussetzungen für ein solches Verfahren beim Bundesverfassungsgericht vorliegen. Ebenso wie die Bundesregierung werden auch wir die Länder bei ihrer Antragstellung nach besten Kräften unterstützen. Dennoch haben wir als Bundestag das Recht und auch die Pflicht, uns zu fragen, ob wir selbst ein solches Verbotsverfahren als erfolgversprechend einschätzen und ob wir diesem Verfahren beitreten wollen. Die Verfassungswidrigkeit der NPD ist zwischen allen Fraktionen unstreitig. Wir alle wissen jedoch mit Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass ein Antrag nur erfolgreich sein wird, wenn die Antragsteller nachweisen können, dass die NPD eine konkrete Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellt. Selbst angesichts der Verflechtungen zwischen der NPD und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen wird es schon im Hinblick auf die abnehmende Mitgliederzahl der NPD und auf ihren sonstigen Zustand augenscheinlich schwer werden, eine solche konkrete Gefahr nachzuweisen. Seit 2003 hat die NPD kontinuierlich an Mitgliedern und an Bedeutung verloren. Immer mehr rechtsextremistisch Gesinnte haben sich anderen Gruppierungen zugewandt - bis hin zu der neu gegründeten Partei Die Rechte. In meinen Augen zeigt das, dass rechtsextremistische Strömungen und Verbrechen mit einem Verbotsverfahren gegen die NPD nicht wirksam zu bekämpfen sind. Als Jurist teile ich die Zweifel all derer, darunter auch namhafter Verfassungsrechtler, die sich gegen einen Verbotsantrag ausgesprochen haben. Mehr noch fürchte ich sogar, dass wir mit dem angestrebten Verfahren dem rechten Spektrum mehr nutzen als schaden. Meinungsfreiheit ist in Deutschland zu Recht ein sehr hohes Gut. Eine Demokratie muss - das wissen wir alle falsche Lehren, gerade auch grobe Dummheiten aushalten können. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und die Gleichwertigkeit von Meinungen sind das Wesensmerkmal einer Demokratie. Aus gutem Grund stellt deshalb in einer wehrhaften Demokratie ein Parteiverbot die Ultima Ratio dar. Ich sage sehr deutlich

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme gleich zum Schluss -: Unser System muss sich permanent mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen. Auch deshalb ist der Antrag, den wir hier eingebracht haben, dazu dienlich, genau diesen Auftrag überall zu erfüllen. Letzter Gedanke. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Da gibt es sehr viele Städte, die mit dem Rechtsextremismus zu kämpfen haben. Überall dort, wo Bürgerinnen und Bürger sich dagegen aufgelehnt haben, ist dieser Rechtsextremismus zurückgegangen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diesen Menschen danke ich, und sie möchte ich weiter unterstützen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es liegen eine ganze Reihe Erklärungen nach § 31 un- serer Geschäftsordnung vor.1) Das Wort zu einer mündlichen Erklärung gebe ich jetzt der Kollegin Sevim Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme heute für den Antrag, ein NPD-Verbotsverfahren einzuleiten, weil auch ich es unerträglich finde, dass die NPD weiterhin über 300 000 Euro pro Quartal an Steuergeldern bekommt - Gelder, die unter anderem von Migrantinnen und Migranten gezahlt werden, von Menschen, gegen die diese menschenverachtende Partei Hetze und Propaganda betreibt, ({0}) Gelder, die für den Unterhalt der NPD-Schlägertruppen verwendet werden, deren Opfer vor allem Migrantinnen und Migranten sind. Ich stimme heute für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens, weil die NPD mit ihrer staatlichen Förderung auch den Boden für rassistische Gewalt an Migrantinnen und Migranten bereitet. ({1}) Letztes Jahr wurden 521 rechtsextreme und fremdenfeindliche Gewalttaten verübt, davon allein 121 in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Ich stimme für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens, weil Faschismus, Rassismus und Antisemitismus keine Meinung sind, sondern ein Verbrechen, ({2}) ein Verbrechen, dem nicht nur Millionen in der Zeit der Nazidiktatur zum Opfer gefallen sind, sondern das bis heute vielen Menschen, vielen Migrantinnen und Migranten das Leben gekostet hat. Deshalb stimme ich heute für den Antrag, die NPD zu verbieten, und stelle mich damit solidarisch an die Seite aller Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, die diese Forderung schon seit langem erheben. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13227 mit dem Titel „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundes- tages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststel- lung der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokrati- schen Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2 1) Anlagen 4 bis 9 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes“. ({0}) - Es handelt sich um einen Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13227. Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion der SPD über den Antrag namentlich ab. Ich weise darauf hin, dass im Anschluss noch eine weitere namentliche Ab- stimmung folgen wird. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ih- ren Platz einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen.1) Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/13225 mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen be- kämpfen“. Auch hierzu ist namentliche Abstimmung verlangt. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Sind Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre Stimmkarte noch nicht abgeben konnten? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte wiederum die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.2) Ich komme jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13231 mit dem Titel „NPD verbieten“. Ich frage: Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmung durch die Fraktion Die Linke und die Fraktion der SPD. Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Bünd- nis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13240 mit dem Titel „Rechtsextremismus umfassend bekämp- fen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag ebenfalls abge- lehnt, bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dagegen haben CDU/CSU, FDP und SPD gestimmt. Die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen hat für ihren Antrag ge- stimmt. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze - Drucksache 17/12638 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes - Drucksache 17/11369 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) - Drucksache 17/13258 - Berichterstattung:- Abgeordneter Thomas Bareiß b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({3}), Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({4}), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen - Drucksachen 17/12214, 17/12681, 17/12518, 17/13258 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, ein gemeinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({5})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Bundesbedarfsplangesetzes geben wir den Startschuss für das größte Infrastruktur- 1) Ergebnis Seite 29723 D 2) Ergebnis Seite 29726 C projekt seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir setzen damit den entscheidenden Baustein für das Gelingen unserer Energiewende; denn die Energiewende ist mehr als nur der Aufbau von Solarenergieanlagen und Windenergieanlagen, mehr als Energieeffizienz - diese ist uns sicherlich enorm wichtig - sowie Forschung und Entwicklung im Speicherbereich. Die Infrastruktur wird der entscheidende Baustein sein, der die Energiewende zum Gelingen bringt. Diesen bringen wir heute entscheidend voran. ({0}) Wir brauchen diesen Baustein deshalb, weil wir in den nächsten Jahren die Erzeugerkapazitäten komplett neu gestalten. Allein in den nächsten sieben Jahren werden in Schleswig-Holstein neue Windkraftanlagen mit einem Leistungsvermögen von 9 Gigawatt aufgebaut. Die Leistung der Offshorewindenergieanlagen wird sich von null auf 3 Gigawatt erhöhen. Wir werden eine Verdreifachung der Onshorewindleistung erleben. In Niedersachsen wird sich die Onshorewindleistung auf 14 Gigawatt verdoppeln. Dort werden wir offshore von null auf 8 Gigawatt zubauen. In den norddeutschen Ländern werden in den nächsten sieben Jahren neue Kapazitäten im Umfang von 27 Gigawatt auf dem Strommarkt entstehen. Das ist ein Fünftel der bisherigen Stromkapazitätsleistungen. Das heißt, hier wird in den nächsten Jahren eine enorme Integrationsleistung zu erbringen sein. Wir werden aber gleichzeitig in den starken Lastzentren im Süden unseres Landes 10 Gigawatt verlieren, die wir Stück für Stück durch Windenergie ersetzen müssen. Die Stromnetze werden also zukünftig im Infrastrukturbereich eine enorm wichtige Rolle spielen. In den letzten Jahren lag die Distanz zwischen Erzeuger und Verbraucher bei durchschnittlich 40 Kilometer. In den nächsten Jahren wird sich diese Distanz Stück für Stück erhöhen. Wir werden sicherlich in 10, 15 Jahren erleben, dass die Distanz zwischen Erzeuger und Verbraucher 200 oder sogar 300 Kilometer betragen wird. Das heißt, wenn wir nicht entsprechende Netze aufbauen, wird die Energiewende nicht gelingen. Deshalb ist ein Netzausbau dringend notwendig. Die Herausforderungen sind groß. Wir brauchen Änderungen und Beschleunigungen im Planungsrecht. Wir brauchen auch neue Technologien. Wir brauchen aber vor allen Dingen Akzeptanz für neue Leitungen und eine geschlossene Zustimmung zu unserem Projekt, zum Bundesbedarfsplangesetz. Deshalb bin ich etwas enttäuscht - das muss ich offen sagen -, dass sich die Grünen schon wieder ein Stück weit von unserem Ziel verabschieden. Im Entschließungsantrag der Grünen ist zu lesen: Es entsteht der Eindruck, viele der im Bundesbedarfsplangesetz vorgesehenen Leitungen dienten nicht der Energiewende, sondern allein dem Export von Strom aus Braunkohlekraftwerken … ({1}) Wenn Sie so argumentieren und vor Ort den Eindruck erwecken, wir brauchten neue Leitungen gar nicht, dann werden wir keine Akzeptanz vor Ort finden. Dann werden wir für alle Projekte ein Türchen offenhalten. So wird die Energiewende nicht gelingen. Deshalb fordere ich Sie auf, gemeinsam mit uns dem Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes zuzustimmen, die Bedarfe, die wir zusammen mit den Ländern definiert haben, zu akzeptieren, gemeinsam mit uns vor Ort für die Energiewende zu kämpfen und den Bau der Leitungen Stück für Stück zu ermöglichen. Das ist ein ganz wichtiger Baustein. Das sollten Sie akzeptieren. ({2}) Was machen wir? Wir werden in den nächsten Jahren über 2 800 Kilometer neue Stromtrassen in Deutschland bauen. Wir werden über 2 900 Kilometer Leitungen ertüchtigen und ausbauen. Wir werden insgesamt 36 Ausbauvorhaben in Deutschland vorantreiben. Wir haben dazu umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Die Übertragungsnetzbetreiber haben in den letzten Monaten einen Netzentwicklungsplan vorgelegt und haben diesen mit den Beteiligten vor Ort abgestimmt. Die Bundesnetzagentur hat den Bedarf geprüft. Die Bundesregierung hat nun den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vorgelegt, den wir heute in letzter Lesung verabschieden werden. Wir werden die 36 Ausbauvorhaben zügig vorantreiben. Dabei werden neue Technologien zum Einsatz kommen. Acht Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsnetze, sogenannte HGÜ-Leitungen, sind geplant, mit denen sich der Strom verlustarm und schnell vom Norden in den Süden transportieren lässt. Es sind zwei Erdverkabelungen vorgesehen; auch das ist eine neue Technologie, die dafür sorgen soll, dass wir vor Ort die nötige Akzeptanz finden. Eines der geplanten Vorhaben ist das Hochtemperaturseil, mit dem wir Strom verlustarm in den Süden transportieren können. Dadurch wird die Energiewende ein Technologieprojekt. Damit schaffen wir es auch, Produkte und Innovationen zu entwickeln, die letztendlich nicht nur in Deutschland die Energiewende voranbringen, sondern darüber hinaus auch in andere Länder verkauft werden können und hoffentlich zu Exportschlagern werden. Mit diesem Bundesbedarfsplan betreten wir planungsrechtliches Neuland. 15 länderübergreifende Projekte wurden definiert. Die Planungshoheit dafür haben wir der Bundesnetzagentur zugewiesen, um auch über Ländergrenzen hinweg voranzukommen. Ich sage hier auch ein klares Dankeschön an die Länder; Vertreter der Länder sind leider nicht im Saal. Sie haben ebenfalls dazu beigetragen, dass wir die Planung vereinfachen können, Dinge schneller vorangehen und wir nicht etwa Fehler machen, wie beispielsweise zwischen Schwerin und Hamburg, wo wir über ein Jahr lang keine Genehmigung für eine dringend notwendige Leitung bekommen haben. Wir wollen Verfahren beschleunigen. Wir verkürzen den Rechtsweg auf eine Instanz. Das heißt, es gibt nicht weniger Bürgerbeteiligung, sondern schnellere Entscheidungen und damit auch eine schnellere Lösung der Frage, ob wir beim Leitungsausbau vorankommen. Wenn wir alle diese Vorhaben voranbringen und an einem Strang ziehen, werden wir es schaffen, die Zeit für die Planung und Realisierung dieser Trassen von zehn auf vier Jahre zu reduzieren. Damit schaffen wir es, die Kapazitäten, die in den nächsten Jahren im Norden aufgebaut werden, in unser Stromnetz zu integrieren und die Leistungen, die im Süden in den Kernkraftwerken Philippsburg, Grafenrheinfeld, Gundremmingen, Neckarwestheim und Isar 2 wegfallen, Stück für Stück zu ersetzen. Wir sorgen dafür, dass auch der Süden weiterhin Strom aus Deutschland bekommt, der regenerativ und somit zukunftssicher ist. Dies wird nur dann gelingen, wenn alle mitmachen. Es wird kein Selbstläufer sein. Das sieht man bei dem EnLAG-Projekt, bei dem wir bestehende Trassen nicht so schnell voranbringen, wie es gewünscht wird. Allein die EnLAG-Projekte sind zwischenzeitlich vier bis fünf Jahre im Verzug. Das darf kein Beispiel für das Bundesbedarfsplangesetz sein. Wir haben - auch das ist mir zu Beginn der Debatte wichtig - bestehende Ängste und Sorgen ebenfalls aufgenommen. Wir haben im parlamentarischen Verfahren Veränderungen in das Gesetz bzw. in die Begründung mit aufgenommen. ({3}) Wir haben keine Flexibilisierung der Netzverknüpfungspunkte vorgenommen. Wir haben uns in Bezug auf die Nebenanlagen, die notwendig sind und die vor Ort für Furore sorgen, für eine weitestgehende Flexibilisierung ausgesprochen, um vor Ort Akzeptanz zu erreichen und die beste Lösung für die Menschen vor Ort zu finden. ({4}) Auch das war, glaube ich, notwendig und wird uns helfen, die Leitungen zu realisieren. Zusammenfassend: Wir haben die Anfangs- und Endpunkte definiert. Wir haben die Verfahren verkürzt und die Zahl der Instanzen reduziert. Wir haben neue Technologien eingebaut. Das heißt, wir werden in den nächsten Jahren den Leitungsausbau wesentlich beschleunigen und werden damit die Energiewende zu einem Gewinnerprojekt machen. Die Ideen, die von der Opposition in Bezug auf die Deutsche Netzgesellschaft kommen, sehen wir mit Interesse. Sie wissen, dass wir dazu ebenfalls schon Überlegungen angestellt haben. Ich glaube, dass diese Punkte zwar überlegenswert sind, uns aber nicht bei der Beschleunigung helfen werden. Insofern sind die von uns getroffenen Maßnahmen die richtigen, um uns voranzubringen. Das ist für uns der Einstieg in die Energiewende. Ich kann Sie nur auffordern, bei diesem Projekt mitzumachen und heute diesem Gesetz zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe Ihnen zwischendurch die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt, zunächst zum Antrag der Fraktion der SPD - es geht um den „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes“ auf Drucksache 17/13227 -: abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 211, mit Nein haben gestimmt 326. Es gab 40 Enthaltungen. Damit ist der Antrag abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 577; davon ja: 211 nein: 326 enthalten: 40 Ja SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({0}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({1}) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Gunkel Klaus Hagemann ({2}) Hubertus Heil ({3}) Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Petra Hinz ({4}) Dr. Eva Högl Christel Humme Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({5}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange ({6}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({7}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Aydan Özoğuz Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({8}) ({9}) Annette Sawade Axel Schäfer ({10}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({11}) Ulla Schmidt ({12}) Carsten Schneider ({13}) Swen Schulz ({14}) Ewald Schurer Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({15}) Dagmar Ziegler DIE LINKE Agnes Alpers Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Dr. Martina Bunge Sevim Dağdelen Heidrun Dittrich Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jutta Krellmann Caren Lay Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Thomas Lutze Dorothée Menzner Cornelia Möhring Niema Movassat Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Paul Schäfer ({16}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Sahra Wagenknecht Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Cornelia Behm Harald Ebner Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Susanne Kieckbusch Sylvia Kotting-Uhl Kerstin Müller ({17}) Friedrich Ostendorff Elisabeth Scharfenberg Dorothea Steiner Markus Tressel Daniela Wagner fraktionsloserAbgeordneter Nein CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Manfred Behrens ({18}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({19}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({20}) Dirk Fischer ({21}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({22}) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Monika Grütters Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({23}) Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({24}) Dr. Norbert Lammert Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Dr. Carsten Linnemann Dr. Jan-Marco Luczak Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({25}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({26}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({27}) Michaela Noll Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({28}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({29}) Anita Schäfer ({30}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({31}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({32}) Dr. Kristina Schröder ({33}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({34}) Detlef Seif Johannes Selle Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Dieter Stier Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({35}) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({36}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({37}) Peter Weiß ({38}) Sabine Weiss ({39}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({40}) Claudia Bögel Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({41}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({42}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({43}) Michael Link ({44}) Dr. Erwin Lotter Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Jan Mücke Petra Müller ({45}) Burkhardt Müller-Sönksen ({46}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({47}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Hagen Reinhold Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Serkan Tören ({48}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({49}) DIE LINKE Raju Sharma BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ute Koczy Monika Lazar Hans-Christian Ströbele Arfst Wagner ({50}) Enthalten CDU/CSU Günter Lach DIE LINKE Halina Wawzyniak BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({51}) Volker Beck ({52}) Birgitt Bender Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Priska Hinz ({53}) Bärbel Höhn Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Oliver Krischer Renate Künast Dr. Tobias Lindner Dr. Konstantin von Notz Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({54}) Krista Sager Manuel Sarrazin Ulrich Schneider Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Josef Philip Winkler Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Dann komme ich zum Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/ CSU und der FDP mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen“ auf Drucksache 17/13225: Hier wurden ebenfalls 577 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 318. Mit Nein haben gestimmt 259. Es gab keine Enthaltung. Dieser Antrag ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 577; davon ja: 318 nein: 259 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Manfred Behrens ({55}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({56}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({57}) Dirk Fischer ({58}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({59}) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Monika Grütters Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({60}) Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({61}) Dr. Norbert Lammert Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Dr. Carsten Linnemann Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({62}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({63}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({64}) Michaela Noll Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({65}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({66}) Anita Schäfer ({67}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({68}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({69}) Dr. Kristina Schröder ({70}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({71}) Detlef Seif Johannes Selle Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Dieter Stier Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({72}) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({73}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({74}) Peter Weiß ({75}) Sabine Weiss ({76}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({77}) Claudia Bögel Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther ({78}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({79}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({80}) Michael Link ({81}) Dr. Erwin Lotter Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Jan Mücke Petra Müller ({82}) Burkhardt Müller-Sönksen ({83}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({84}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Hagen Reinhold Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Serkan Tören ({85}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({86}) Nein SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({87}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({88}) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Gunkel Klaus Hagemann ({89}) Hubertus Heil ({90}) Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Petra Hinz ({91}) Dr. Eva Högl Christel Humme Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({92}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange ({93}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({94}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Aydan Özoğuz Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({95}) ({96}) Annette Sawade Axel Schäfer ({97}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({98}) Ulla Schmidt ({99}) Carsten Schneider ({100}) Swen Schulz ({101}) Ewald Schurer Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({102}) Dagmar Ziegler DIE LINKE Agnes Alpers Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Dr. Martina Bunge Sevim Dağdelen Heidrun Dittrich Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jutta Krellmann Caren Lay Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Michael Leutert Stefan Liebich Thomas Lutze Dorothée Menzner Cornelia Möhring Niema Movassat Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Paul Schäfer ({103}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({104}) Volker Beck ({105}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Priska Hinz ({106}) Ingrid Hönlinger Uwe Kekeritz Katja Keul Susanne Kieckbusch Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Stephan Kühn Renate Künast Monika Lazar Nicole Maisch Kerstin Müller ({107}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({108}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Arfst Wagner ({109}) Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler fraktionsloserAbgeordneter Jetzt kommen wir zu unserer Debatte zurück. Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({110})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zwei Jahre nach dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz haben wir jetzt ein Bundesbedarfsplangesetz vorliegen. Immerhin! Es war viel Arbeit, vor allen Dingen für die Übertragungsnetzbetreiber und die Bundesnetzagentur. Nach allem, was man über die Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“, in die wir ja eingebunden waren, und über Gespräche zum Beispiel mit Nichtregierungsorganisationen mitbekommen konnte, war das Verfahren insgesamt vergleichsweise transparent und die Beteiligung angemessen - jedenfalls in weiten Teilen des Verfahrens. Das ist gut so, und das kann man heute in der Tat auch loben. Auch die Länder haben sich in diese Verfahren konstruktiv eingebracht. Ich glaube, dass es zumindest eine Bemerkung verdient, dass das mittlerweile im Wesentlichen rot-grün regierte Länder sind. Hier ist also eine hohe Bereitschaft zur Kooperation selbst mit dieser Bundesregierung. Gerade ist gesagt worden, dies sei ein wichtiger Schritt zum Ausbau der Infrastruktur. Ja, in der Tat, es ist ein Schritt; aber wir müssen uns auch klarmachen, dass noch vieles fehlt. In diesem Falle beschränken wir uns auf die Übertragungsnetze, wohl wissend, dass wir erhebliche Bedarfe auch im Bereich der Verteilnetze haben, zum Beispiel wenn ich an den qualitativen Ausbau der Verteilnetze denke, den wir gerade auch im Hinblick auf die intelligenten Netze brauchen angesichts dessen, dass die Nachfrageseite flexibler werden soll. Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({0}) Wir werden das aus einem ganz einfachen Grund machen - nicht weil dieses Gesetz in allen Teilen perfekt wäre; es ist verbesserungsbedürftig; wir werden diesbezüglich Anträge vorlegen -: Es wäre für die Investoren, für die Übertragungsnetzbetreiber, für die finanzierenden Banken ein schlechtes Signal, wenn wir sie kurz vor einer Wahl im Zweifel lassen würden, ob denn die SPD nach der Bundestagswahl möglicherweise eine 180-GradWende in Sachen Netzausbau plant. Das planen wir nicht. Wir wollen, dass für den gesamten Sektor Planungssicherheit besteht, und deswegen senden wir das Signal: Ja, wir unterstützen dieses Gesetz prinzipiell und in den meisten Teilen. - Deswegen, wie gesagt, stimmen wir zu. ({1}) Im Übrigen unterscheiden wir uns dadurch ganz erheblich von der Regierungskoalition, ({2}) die zurzeit am Ruder ist. Denn Sie haben im Jahr 2000 genau das Gegenteil gemacht. ({3}) Sie haben, als Rot-Grün ein Atomausstiegsgesetz vorgelegt hat und darüber mit den Marktakteuren verhandelt hat, angekündigt: Wenn Sie einmal an die Regierung kommen, werden Sie das komplette Gegenteil tun. ({4}) Damit haben Sie in den gesamten Sektor Planungsunsicherheit gebracht und gerade beim Netzausbau, aber auch ansonsten im gesamten Energiesystemumbau Attentismus verursacht. Genau das machen wir nicht. ({5}) Die Anträge die wir gestellt haben, will ich kurz im Einzelnen begründen. Der erste Antrag - gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen - zielt darauf ab, dass wir eine Deutsche Netzgesellschaft einrichten wollen. Im Übrigen haben Sie das in Ihrem eigenen Koalitionsvertrag vor nur drei Jahren auch gesagt. Offensichtlich haben Sie sich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist sozusagen eine weitere 180-Grad-Wende nach der, die Sie zwischenzeitlich auch vorgenommen haben: erst die Verlängerung der Laufzeiten, anschließend das Sich-Einfügen in das Konzert derjenigen, ({6}) die den Atomausstieg wollen. 2009: Ja, wir wollen eine Deutsche Netzgesellschaft. 2013: Nein, wollen wir eigentlich lieber nicht. - Ihre Verbraucherschutzministerin Aigner hat vor wenigen Monaten gesagt, dass sie eine solche Deutsche Netzgesellschaft unterstützt. Sie hat auch den Zusammenhang erkannt, nämlich dass man auf diese Art und Weise das verhindern kann, was Sie vor wenigen Monaten verursacht haben, dass nämlich immer dann, wenn etwas schiefgeht, immer dann, wenn Regressforderungen kommen, ({7}) die Haftung verschoben wird: weg von den Marktakteuren und hin zu den Endkunden. Das genau wollen wir nicht. ({8}) Deswegen hat Frau Aigner recht. Wörtlich sagte sie: Die Wähler verstehen nicht, warum sie über höhere Strompreise für die Risiken der Energiewende haften sollen, während die Netzbetreiber eine hohe garantierte Rendite auf ihr Eigenkapital einstreichen. ({9}) Dem ist nichts hinzuzufügen. Das Zweite, was wir wollen, sind Bürgernetze. Wir wollen den Bürgern die Möglichkeit geben, sich an der Finanzierung der Netze zu beteiligen. Beteiligte haben kein Problem mehr mit der Akzeptanz von Energieinfrastrukturen. Deswegen ist das der beste Weg. Wir machen uns aber Sorgen bei dem, was zurzeit im Kapitalanlagegesetzbuch geplant ist. Dadurch werden Genossenschaften nicht mehr in der Lage sein, genau solche Infrastrukturen mitzufinanzieren. Wir begrüßen es daher, dass es mittlerweile einen Antrag der Fraktionen von Schwarz-Gelb gibt, dies jedenfalls bei der Ausgestaltung des Kapitalanlagegesetzbuchs zu verhindern. Wir werden das unterstützen. Drittens geht es um die Netzverknüpfungspunkte - Herr Bareiß hat das gerade angesprochen - und in der Tat nicht um die Positionierung der Verknüpfungspunkte, sondern um die der sogenannten Nebenanlagen. Dieser Begriff ist vielleicht etwas irreführend. Man stellt sich dabei etwas Kleineres, zum Beispiel ein Toilettenhäuschen, vor; es geht aber zum Teil um riesige Anlagen, große Konverter, Doppelkonverter möglicherweise. Das kann in der Nähe von Wohnbebauung schon etwas sein, was die Bürger auf die Palme bringt, was zum Widerstand gegen solche Infrastrukturen geradezu anreizt. Deswegen begrüßen wir, dass Sie aufgrund der Anhörung, die wir gemeinsam durchgeführt haben, jetzt sagen: Wir wollen genau diese Konflikte verhindern, und deswegen wollen wir mehr Flexibilität bei der Allokation dieser sogenannten Nebenanlagen. Nur, die Art und Weise, wie Sie das sicherstellen wollen, läuft ins Leere. Sie wollen das in die Begründung des Gesetzes schreiben. Die Fachjuristen sagen: Das wird nicht reichen; Sie müssen es ins Gesetz schreiben. Wenn man Ihnen abnehmen soll, dass die Absicht ehrlich ist, dann folgen Sie bitte unserem Petitum und schreiben Sie das ins Gesetz! ({10}) Das Vierte ist der Gesetzentwurf des Bundesrates, der darauf abzielt, dass wir das erreichen, was wir eigentlich schon vor Jahren wollten, unter anderem auch in der Großen Koalition, nämlich dass die 110-kV-Erdverkabelung zur Regel wird. Wir unterstützen auch diesen Gesetzentwurf. ({11}) Er ist im Bundesrat im Übrigen mit sehr großer Mehrheit verabschiedet worden, und auch Schwarz-Gelb war dabei nicht ganz unbeteiligt. Insofern: Vielleicht hören Sie noch einmal in Ihre Länder hinein und folgen uns auch bei diesem Vorhaben! Meine Damen und Herren, ich habe es gerade angedeutet: Das Bundesbedarfsplangesetz ist ein Schritt zum Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen aber auch erhebliche Fortschritte im Bereich der Verteilnetze, im Bereich der intelligenten Netze. Da geht es auch um intelligente Tarife, um eine flexible Nachfrage anreizen zu können. Es geht um mehr Flexibilisierung auch auf der industriellen Nachfrageseite. Da haben Sie einen ersten Schritt mit der Abschaltverordnung gemacht. Aber man kann da sehr viel kreativer sein und weitere Schritte un29730 ternehmen, um sozusagen eine Batteriefunktion, in Teilen jedenfalls, für die energieintensiven Industrien sicherzustellen. Wir brauchen mehr Speicherforschung, damit wir die Speicher wenigstens dann, wenn wir sie brauchen, zur Verfügung haben. Sie haben die Mittel in diesen Bereichen reduziert. Dann brauchen wir etwas, was noch ein bisschen komplizierter ist. Deswegen haben Sie sich mit dieser Frage, jedenfalls öffentlich, überhaupt noch nicht befasst. Sie kündigen immer etwas an, nämlich auf der einen Seite eine Reformierung des EEG, auch eine andere Vermarktung von erneuerbaren Energien, und auf der anderen Seite einen neuen Marktrahmen für die Erzeugung von Strom aus konventionellen Energieträgern. Wir hätten es begrüßt, wenn Sie sich mit dieser komplexen Materie, Herr Minister, befasst hätten und verhindert hätten, dass stattdessen Ihr Kollege aus dem Umweltministerium zur Ablenkung eine oberflächliche Debatte über die Strompreisbremse initiiert. Stellen Sie sich den eigentlichen Herausforderungen! Die sind komplex. Aber wir sind bereit, Ihnen dabei die entsprechende Hilfestellung zu geben. ({12}) Wir brauchen die Systemintegration der erneuerbaren Energien. Wir brauchen aber auch den Systemumbau, damit das System aufnahmefähiger für volatilen Strom wird. Wir brauchen einen Marktrahmen für beide Energien, für erneuerbare wie konventionelle, der gleichzeitig für Versorgungssicherheit, für das Erreichen der Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien, aber auch für Bezahlbarkeit sorgt. Das ist möglich. Man muss nur beginnen. Vielen Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung hat das Wort der Bundesminister Dr. Philipp Rösler. ({0})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wir alle wissen, leistungsfähige Netze sind entscheidend für die Versorgungssicherheit im Rahmen der Energieversorgung in Deutschland. Wir brauchen zur Netzstabilisierung bei einem zunehmenden Beitrag der erneuerbaren Energien zur Stromversorgung ein leistungsfähiges Netz im Bereich der Verteilnetze genauso wie im Bereich der Fernübertragung. Wir werden aber auch weiterhin in der Umstellungsphase neue Netze für die Energieerzeugung durch konventionelle Energieträger und die Integration der erneuerbaren Energien brauchen. Deswegen ist es gut, dass wir heute über das Bundesbedarfsplangesetz diskutieren und Sie es hoffentlich nach der zweiten und dritten Lesung auch beschließen. Damit kommen wir beim Netzausbau ein gutes Stück voran. Wir zeigen: Wir sind im Plan. Es ist ein wesentlicher Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der Energiewende in Deutschland. ({0}) Ich finde es gut, dass auch die Sozialdemokraten bereit sind, diesem Gesetz zuzustimmen. Ich glaube, bei den Grünen ist das nicht der Fall. Das bedauere ich sehr; denn sie könnten ein Versäumnis wiedergutmachen, das ihnen unterlaufen ist, als sie damals den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen haben. ({1}) Sie haben sich nämlich nur mit dem Ausstiegsbeschluss zufriedengegeben, aber in der weiteren Umsetzung nichts, aber auch gar nichts für einen beschleunigten Netzausbau in Deutschland getan. Das zeigt, dass Sie es mit dem Umbau der Energieversorgung in Deutschland nie ernst gemeint haben. ({2}) In kürzester Zeit sind wir gut vorangekommen. Es hat mit dem sogenannten Netzentwicklungsplan angefangen. Hier wurden die ersten Strukturen aufgezeigt. Es ging nicht nur um das grobe Aufzeigen, sondern es ging im ersten, frühen Stadium darum, mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über den konkreten Ausbaubedarf zu diskutieren. Dieses Beteiligungsverfahren ist beispielhaft für viele Infrastrukturmaßnahmen. Denn es hat sehr frühzeitig begonnen, und zwar schon auf der Ebene der Übertragungsnetzbetreiber, in der Folge auch bei der Bundesnetzagentur. Ich habe den Beitrag von Herrn Hempelmann so verstanden, dass mit dem Lob an die Übertragungsnetzbetreiber und an die Bundesnetzagentur vor allem die Beschäftigten gemeint waren; denn sie haben bei der Aufstellung des Netzentwicklungsplans in kürzester Zeit Enormes geleistet. Er ist die Grundlage für das Bundesbedarfsplangesetz. Wir alle sollten uns, denke ich, bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken. ({3}) Vor allem aber ging es darum, sich mit den Menschen über die künftigen Netzausbauvorhaben zu unterhalten und zu erklären, warum wir diese neuen Strukturen brauchen und warum wir nur in wenigen Fällen die finanziellen Möglichkeiten für Erdverkabelungen haben. Wer etwas anderes verspricht oder fordert, der schummelt. Dies wäre heute weder Stand der Technik, noch wäre es seriös zu finanzieren. Deswegen ist es richtig, dass man mit den betroffenen Menschen - es gab über 3 000 Eingaben - gesprochen hat. Man hat versucht, die Dinge auf den Weg zu bringen, indem man sie ihnen erklärt hat, um von vornherein Akzeptanz zu erreichen und Widerstände zu vermeiden. Es ist gelungen, den Zeitplan einzuhalten, um das Bundesbedarfsplangesetz auf den Weg zu bringen. Ich möchte mich bei Herrn Abgeordneten Bareiß bedanken, der darauf hingewiesen hat, dass das Bundeskabinett gestern die dazu passende Planfeststellungszuweisungsverordnung beschlossen hat. ({4}) Hinter diesem etwas komplexen Begriff verbirgt sich die Bereitschaft der Länder - ich möchte mich bei allen Ländern ausdrücklich dafür bedanken -, dem Bund die Zuständigkeit nicht nur für die Fachplanung, sondern auch für die konkrete Planfeststellung einzelner großer Trassenvorhaben zu übertragen. Bisher kam es beim Stromnetzausbau über Ländergrenzen hinweg zu erheblichen Verzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass die großen raumbedeutsamen Trassen, auch die grenzüberschreitenden Trassen, künftig in die Zuständigkeit der Bundesnetzagentur, also in die Zuständigkeit des Bundes, fallen. Das hat einen erheblichen Beschleunigungseffekt zur Folge. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit nur noch bei einem Gericht, nämlich beim Bundesverwaltungsgericht. Auf diese Weise kommen wir unserem gemeinsamen Ziel, den Netzausbau in Deutschland deutlich zu beschleunigen, näher. Wir haben bisher Planungs- und Bauzeiträume von zehn Jahren. ({5}) Mit diesem Gesetz und der dazu passenden Verordnung wird es gelingen, die Bauzeiträume von derzeit zehn Jahren auf vier Jahre zu reduzieren. Das ist das erklärte Ziel dieser Regierungskoalition. ({6}) Ich verstehe Ihre Einlassung so, dass Sie nicht nur diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden, sondern dass Sie vor Ort Widerstand gegen den notwendigen Netzausbau zum Ausstieg aus der Kernenergie leisten wollen. ({7}) Das ist Ihre „Glaubwürdigkeit“: Zwar fordern Sie den Ausstieg aus der Kernenergie. Aber wenn es soweit ist, kneifen Sie und zeigen Widerstand beim Netzausbau für Deutschland. ({8}) Eines ist klar; das haben die Diskussionen gezeigt: Nur gemeinsam - gemeinsam mit allen 16 Bundesländern, dem Bund und Europa - wird es gelingen, den Netzausbau in Deutschland voranzutreiben. Das ist jetzt in Form des Bundesbedarfsplangesetzes für die Übertragungsnetze gelungen. Das muss im Hinblick auf die Verteilnetze genauso gelingen. Das wird der nächste Schritt sein. ({9}) Lassen Sie uns Folgendes festhalten: Wir liegen aktuell im Zeitplan, so wie sich das für diese Regierungskoalition gehört. Das ist ein guter Tag für die Energiewende. Das ist ein guter Tag für den Netzausbau in Deutschland. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kollegen, ich konnte nicht absehen, dass der Herr Minister seine Redezeit nicht ausschöpft. Ich versuchte gerade, ihn auf Ihre Zwischenfrage oder Bemerkung aufmerksam zu machen. ({0}) - Wir debattieren aber jetzt nicht hier im Plenum darüber, wie sich das Präsidium verhält. Dafür haben wir Regeln. Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({1})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um den Netzausbau beim Strom. ({0}) Großkonzerne erwarten fette Profite, und die Stromkunden befürchten steigende Preise. Ständig tönt es von CDU, CSU, SPD und Grünen: Der Netzausbau ist alternativlos. Denn im Norden weht der Wind, und der Windstrom muss nach Süden. Dafür braucht es zusätzliche Leitungen. Dann klappt es aus deren Sicht mit der Energiewende. Wirklich? Bei der Stromeinspeisung in die Netze gibt es eine Reihenfolge: Zuerst dürfen die Erneuerbaren ran. Danach gilt: Je teurer ein Kraftwerk Strom produziert, desto eher wird es abgeschaltet. Im Norden und Osten gibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant: Moorburg, Jänschwalde, Profen und andere. Derzeit können diese Kohlekraftwerke Strom für 3 Cent je Kilowattstunde anbieten. Im Süden gibt es Strombedarf. ({1}) Dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke; zum Beispiel in Irsching. Dort kostet der Strom 5 Cent je Kilowattstunde. Aber: Netzausbau und Stromtransport quer durchs Land wären zu vermeiden. Wie sieht die Realität heute aus? Wir haben einen Engpass im Stromtransport zwischen Nord und Süd. Weht viel Wind im Norden, geht der Windstrom übers Netz. Für den Kohlestrom fehlt der Platz, und Irsching kann umweltfreundlichen Strom liefern. Klimafeindlicher Kohlestrom wird abgeschaltet. Wenn die neuen Stromtrassen von der Küste bis zu den Alpen reichen, ist Folgendes zu befürchten: Windkraftanlagen speisen weiterhin ihren Strom ins Netz ein; sie haben Vorrang. Für den Restbedarf an Strom brummen die Kohlekraftwerke. Das Kraftwerk Irsching wird abgeschaltet, es geht pleite. Dann fehlt aber nachts bei Windstille der Gasstrom. Deshalb bekommt Irsching Geld, damit es in Bereitschaft bleibt, und die Stromkunden zahlen doppelt. Irsching wird dann über Netzentgelte bezahlt. Von Netzentgelten sind Großkunden befreit. Sie profitieren damit vom Netzausbau. Alle anderen bezahlen. Fließt Strom von der Nordsee nach München, gibt es bei 700 Kilometern Weg 20 Prozent Übertragungsverluste. Auch das wird über Netzentgelte bezahlt. ({2}) Wer macht bei diesem Netzausbau Kasse? Finanzinvestoren. Sie erhalten 9 Prozent Rendite für jede Investition in Netze. Wo findet man so etwas heute noch, bei dieser garantierten Sicherheit? Natürlich machen auch die Baufirmen und die Kohlekraftwerke Kasse. Und wer zahlt? Handwerkerinnen und Handwerker, kleine und mittlere Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher. ({3}) Deshalb lehnt die Linke diesen Netzentwicklungsplan ab. ({4}) Der Bedarf, der diesem Netzausbauplan zugrunde liegt, wurde wie folgt ermittelt: Die maximal erzeugbare Menge an Strom aus Windenergie wird mit der maximal möglichen Einspeisung von Strom aus Photovoltaik, der kompletten Menge an Strom aus Biomasse und der kompletten Menge an Strom aus konventioneller Erzeugung addiert, sodass auch die letzte Kilowattstunde abtransportiert werden könnte. Diese Rechnung dient nur dem maximalen Netzausbau. In eine realistische Netzplanung müssen für die Linke folgende Punkte einfließen: Die künftige Stilllegung von Atom- und konventionellen Kraftwerken wird eingerechnet. Die Erzeugung von Strom aus Biomasse wird umgestellt, sodass sie nur erfolgt, wenn Wind und Sonne nicht genug Energie liefern. Stromsteuerungsmaßnahmen wie beispielsweise die Verknüpfung von Fernwärme- mit Stromnetzen müssen vorgenommen werden. Ein öffentlicher Hochspannungsnetzbetreiber ohne Interesse an Profit aus dem Leitungsbau ersetzt die jetzigen vier Profitgesellschaften. ({5}) Die Technologie, Strom über Gas zu speichern und zu transportieren, wird genutzt. Die Beteiligung großer Stromerzeuger an den Netzkosten ist umzusetzen. Die maximal mögliche Einspeisung von Strom aus Windenergieanlagen ist auf 80 Prozent der theoretisch möglichen Strommenge zu reduzieren. Dabei verliert man nur 0,4 Prozent der jährlichen Windenergiemenge, spart aber 20 Prozent Anschlussleistung. Bei Berücksichtigung dieser Punkte erhält man einen realistischen Bedarf für den Netzausbau. Aber der Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, gefährdet die Energiewende, weil Kohlekraftwerke gefördert werden, umweltfreundlicher Gasstrom verliert und regionale, verbrauchsnahe Stromerzeugung vor Ort unterbleibt. Die Bürgerinnen und Bürger haben sowohl in Meerbusch-Osterath als auch in Hessen und Thüringen mit ihrer Ablehnung der Ausbaupläne recht. Sie täten gut daran, die entsprechenden Initiativen ernst zu nehmen. Bürgerinitiativen erkannten als Erste die Gefahren der Asse. Bürgerinitiativen korrigierten über Volksbegehren Fehler, etwa bei Kitas in Thüringen oder bei der Wasserversorgung in Berlin. Bürgerinnen und Bürger werden notwendige Netzausbauten nur dann akzeptieren, wenn der entsprechende Bedarf transparent und nachvollziehbar ermittelt wird und die Belastungen gerecht verteilt werden. Anderenfalls wehren sie sich. Ohne einen nachvollziehbaren Bedarfsplan wird die Linke Netzausbauten ablehnen, sei es der Konverter in Meerbusch-Osterath oder die 380-kVLeitungen in Hessen, im Thüringer Wald oder in der Uckermark. Wir wollen die Energiewende - preiswert für die Menschen, mit Gewinnen für die Umwelt statt für Konzerne. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rösler, ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hören: Bei jeder Energiedebatte erzählen Sie uns hier, wir wären verantwortlich dafür, dass es mit dem Netzausbau nicht vorangeht, weil wir bis 2005, als hier Grüne Regierungsverantwortung getragen haben, nicht dafür Sorge getragen hätten. ({0}) Meine Damen und Herren, ich sagen Ihnen eines: Seit acht Jahren tragen Wirtschaftsminister von der Union und der FDP in der Bundesregierung die Verantwortung. In acht Jahren kann man alles bewegen, kann man alles voranbringen. Dass beim Netzausbau im Rahmen der EnLAG-Projekte heute nur 268 Kilometer von 2 000 Kilometern verwirklicht sind, das ist Ihre katastrophale Bilanz beim Netzausbau. ({1}) Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, zu schauen, was Sie denn in den Jahren 2000 bis 2005 hier zum Thema Netzausbau vorgelegt haben, wenn Sie doch damals angeblich schon so weit voraus waren. Es gibt nichts, keinen einzigen Antrag von Union und FDP zum Thema Netzausbau. Sie singen nur Lobeshymnen auf die Atomkraft, schwadronieren über Windindustriemonster und bekämpfen den Ausbau erneuerbarer Energien. Das war Ihre Energiepolitik in dieser Zeit. Darüber sollte man reden, wenn Sie schon auf die Vergangenheit verweisen. ({2}) Eines ist völlig klar: Gerade für eine Energiewende mit dezentralen Strukturen und einem Weg weg von Kohle und Atom braucht man Netzausbau und Netzoptimierung auf allen Spannungsebenen. Deshalb haben wir 2009 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem wir gefordert haben, dass man einen Bedarfsplan ausarbeitet und dass anhand des Energieszenarios ermittelt wird, wie das Netz weiterentwickelt werden muss. Aber Sie haben sich zwei Jahre lang nicht mit diesen Fragen beschäftigt. Wir haben von Ihnen nur ein Schwadronieren über Laufzeitverlängerungen gehört. Erst als Sie damit nicht weiterkamen, haben Sie sich dem Thema Energiewende gewidmet. ({3}) - Frau Homburger, das waren zwei verlorene Jahre, in denen wir hätten weiterkommen können. ({4}) Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, legen Sie einen Plan vor. Das führt zu der Erkenntnis: Wir sind erst am Anfang des Weges. ({5}) Es ist noch kein Kilometer Netz ausgebaut worden. Es gibt zunächst nur einen Plan. Die Arbeit fängt gerade erst an. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund zur Selbstbeweihräucherung, Herr Bareiß und Herr Rösler. ({6}) Das Bundesbedarfsplangesetz, das vom Grundsatz her richtig ist, ({7}) soll Legitimität und Akzeptanz für den Netzausbau schaffen. Der Bundesrat hat Ihnen dazu etwas ins Stammbuch geschrieben. Er hat Beschlüsse gefasst, durch die genau diese Akzeptanz erhöht werden soll; denn Sie haben in dem Gesetz eine Reihe von Maßnahmen verankert, die die Akzeptanz und damit das Kernelement des Gesetzes untergraben. Zum Beispiel das Thema Erdkabel. Sie beschränken den Erdkabelausbau auf zwei Pilotprojekte. Das ist aufgrund der Erfahrungen mit dem EnLAG-Projekt nicht verantwortbar, weil nicht zu vermitteln ist, warum manche Menschen Erdkabel bekommen und manche nicht. Damit untergraben Sie die Akzeptanz und provozieren den Widerstand der Menschen. ({8}) Zum schönen Thema Meerbusch-Osterath. Aus dem dortigen Planungsdesaster haben Sie überhaupt nichts gelernt. Es grenzt an Volksverdummung - ich kann Ihnen das nicht anders sagen -, ({9}) wenn Sie jetzt nicht den Beschluss des Bundesrates - den haben wir im Wirtschaftsausschuss zur Abstimmung gestellt - statt nur in die Gesetzesbegründung in den Gesetzestext aufnehmen, der vorsieht - das ist das, was Sie wollen; zumindest reden Sie davon -, dass es Alternativenprüfungen für Nebenanlagen geben soll. Auch das untergräbt die Akzeptanz des Themas Netzausbau. Als dritter Punkt ist die Verkürzung des Klageweges zu nennen. Sie glauben doch selbst nicht, dass die Reduzierung auf eine Instanz wirklich dazu führt, dass das Ganze schneller geht. Die eine Instanz ist dann überlasteter, die Verfahren dauern länger, und das genau ist die Erfahrung aus dem EnLAG-Projekt. Das ist eine Scheinverkürzung. Das führt nur dazu, dass sich die Menschen wieder übergangen fühlen und dass wir am Ende wieder Akzeptanz verlieren. Dazu darf es aus unserer Sicht nicht kommen. Sie machen hier einen Fehler. Nehmen Sie die Bürger ernst, und kommen Sie nicht mit Rechtswegverkürzungen, die die Akzeptanz am Ende wieder nur zerstören. ({10}) Wir haben gemeinsam mit den Kollegen der SPD einen Antrag vorgelegt, mit dem wir eigentlich Punkte aus dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umsetzen wollen, nämlich eine Deutsche Netz AG zu gründen. Wir haben dazu konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben vier Jahre lang überhaupt nichts getan. Sie haben sich von diesem Ziel verabschiedet. ({11}) Wir schlagen vor, dass wir die Probleme lösen, die wir beim Netzausbau mit einzelnen Übertragungsnetzbetreibern haben. Von Ihnen kommt an der Stelle gar nichts. ({12}) Sie sind einfach nur dagegen und kommen deshalb bei dem Thema überhaupt nicht weiter. ({13}) Wir brauchen den Netzausbau. Das Bundesbedarfsplangesetz verfolgt einen richtigen Ansatz, den wir ausdrücklich unterstützen, ich möchte das hier noch einmal betonen. Doch leider schaffen das diese Bundesregierung und diese Koalition trotz klarer Hinweise aus dem Bundesrat nicht. Sie bräuchten nur das aufzugreifen, was der Bundesrat beschlossen hat, um glaubwürdig zu werden und Akzeptanz zu erreichen. Aber am Ende wird die Glaubwürdigkeit wieder untergraben. Wenn Sie die Beschlüsse des Bundesrates aufgegriffen hätten, hätten wir diesem Gesetz gerne zugestimmt. ({14}) Aber so bleibt uns am Ende nur, uns zu enthalten. ({15}) Sie haben eine Chance verpasst.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie erweisen dem Netzausbau einen Bärendienst, und damit untergraben Sie die Akzeptanz der Energiewende und der Ziele, die Sie damit verfolgen. Am Ende können und wollen Sie die Energiewende nicht erfolgreich voranbringen. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Damit die Zuhörer auf den Tribünen die letzten beiden Reden verstehen können, muss man einmal generell erklären, was hier los ist: ({0}) Wir haben noch vier Sitzungswochen bis zur Bundestagswahl, und hier läuft nichts anderes als Wahlkampf. Ihre Schuldzuweisungen von vorhin, Herr Krischer, sind nichts anderes als platter, plumper Wahlkampf. Das wird dem Thema aus meiner Sicht deshalb nicht gerecht, weil ich der Auffassung bin, dass wir hier an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, nämlich an der Energiewende. ({1}) Man sollte sich klarmachen, dass diese Schuldzuweisungen und das Schlechtreden nicht nur bei einer Seite in der Politik hängenbleiben, sondern die Menschen da draußen allgemein irritieren. ({2}) Sie stellen jede Lösung, die angeboten wird, sofort infrage und können nicht auch einmal über den eigenen parteipolitischen Schatten springen. ({3}) Sie sind nicht in der Lage, zu sagen: Im Grundsatz ist das, was uns hier vorgelegt wird, ein gutes Gesetz, weil es zeigt, wie man den Netzausbau in Deutschland vorantreiben kann. ({4}) Ich hätte erwartet, dass Sie an dieser Stelle Folgendes würdigen: die Planung. ({5}) - Es ist ein Plan. Was Sie vorgetragen haben, war eher ein bisschen wie Die Sendung mit der Maus. ({6}) - Zumindest auf den Zwischenruf des Kollegen muss ich reagieren. - Das ist ein intensiv, auf Basis mehrerer Szenarien ausgearbeiteter Entwicklungsplan für die Netze, die wir brauchen. Ich hatte gehofft - das wäre richtungsweisend gewesen -, dass zumindest die Grünen sagen, dass wir diese Netze brauchen. ({7}) Denn ein System der Energieversorgung, bei dem, wie Sie es wollen, die Erneuerbaren im Zentrum stehen, wird immer Überkapazitäten haben müssen. Wenn man das weiß und die Energieversorgung in diese Richtung ausbaut, muss man doch auch einmal ganz klar formulieren, dass wir in größerem Umfang Netze bauen müssen. ({8}) - Ich sage gleich etwas zur Akzeptanz. Warten Sie es doch ab, Frau Höhn. Seien Sie nicht immer so nervös. Es hat doch keinen Sinn, Erneuerbare-Energien-Anlagen mangels Netzkapazitäten abzuschalten. Es müsste doch Ihr Anliegen sein, die Netze möglichst zügig auszubauen, weil es keinen Sinn hat, Anlagen auszuschalten und den theoretisch produzierten Strom zu vergüten, ihn aber nicht zur Verfügung zu haben. Deshalb muss man dieses Thema doch unterstützen. ({9}) Dieser Plan ist deshalb nicht trivial, weil er nicht statisch, sondern dynamisch sein muss. Denn es geht letztendlich darum, die derzeit ungesteuerte und vom Verbrauch unabhängige Stromproduktion bei den Erneuerbaren zu integrieren. Außerdem müssen wir mit technischen Innovationen rechnen, die heute noch nicht im Detail planbar sind. Dazu gibt es die angesprochenen Pilotprojekte. Herr Krischer, wenn Sie schon sagen, es gebe zu wenig Pilotprojekte, hätten Sie wenigstens dazusagen können, dass uns diese Pilotprojekte immerhin im Bereich Forschung und Entwicklung voranbringen können. Es sind deshalb Pilotprojekte, weil sie nicht Stand der Technik sind. Bei den Pilotprojekten kann man deshalb nicht sehr viel mehr fordern. ({10}) Dieses Thema ist deshalb dynamisch, weil wir noch nicht kalkulieren können, welche Rolle die Speicherung letztendlich spielt. Beim Netzausbau geht es natürlich zunächst einmal um die Frage der Akzeptanz. Ich habe gerade gesagt, dass die Parteien einen Beitrag zur Erhöhung der Akzeptanz leisten können, indem sie sagen, dass das alles notwendig ist. Ich glaube, dass wir die Akzeptanz auch dadurch erhöhen können, dass wir mehr Transparenz schaffen; das tun wir. Ich glaube, dass wir auch dadurch mehr Akzeptanz geschaffen haben, dass wir klar gesagt haben, dass die Bestandsertüchtigung oberste Priorität hat. Wenn der Netzausbau trotzdem nicht akzeptiert wird, dann ist die Rechtswegverkürzung eine Möglichkeit, um schnell Rechtssicherheit zu schaffen. Das ist nun einmal so. Es geht darum, schnell Rechtssicherheit zu schaffen, und nicht darum, irgendjemandem Rechte zu nehmen. Jetzt sage ich etwas, was Sie überraschen wird: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir über das Thema Erdverkabelung noch einmal diskutieren müssen, ({11}) und zwar bezogen auf die 110-Kilovolt-Leitungen. ({12}) - Erstens stehen in dem Antrag des Bundesrates noch mehr Dinge. Zweitens besitzt diese Koalition selbst genügend Weisheit, um im richtigen Moment die richtigen Dinge zu entscheiden. Wir müssen nicht darauf warten, dass uns der Bundesrat irgendetwas vorlegt. Das ist vollkommen unnötig. ({13}) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Bezug auf die 110-Kilovolt-Leitung eine Abwägungsentscheidung treffen müssen. Wir müssen uns die Kosten, die Akzeptanz und den Nutzen anschauen, aber auch genau prüfen, was das bezogen auf die Kilowattstunde kostet; denn letztendlich kommt es darauf an. Damit will ich nicht irgendjemandem in die Parade fahren. Ich meine nur, dass dies ein ganz wesentliches Thema ist, um die Akzeptanz zu erhöhen. Wir haben jetzt die Grundlage dafür geschaffen, dass die Planungen in unserem föderalen Staat etwas einfacher laufen können. Bei länderübergreifenden Vorhaben tritt eine Zentralisierung der Zuständigkeiten an die Stelle paralleler Raumordnungsverfahren. Auch das wird uns erheblich nutzen und die Realisierung der Maßnahmen erleichtern, die immerhin - ohne Erdverkabelung 10 Milliarden Euro kosten werden. Das ist ein stattlicher Betrag. Er ist aber zu stemmen. Dieser Betrag ist finanzierbar, und die Maßnahmen sind somit letztendlich auch umsetzbar. Damit die Leute sicher sind, dass die Energiewende funktioniert - das ist unser Anliegen -, muss man das immer wieder betonen. Wenn man immer alles infrage stellt, sogar das, was man selbst vorgeschlagen hat, wird das natürlich nichts, Herr Krischer. Nichtsdestotrotz müssen wir als Koalition unser Augenmerk stärker auf Themen jenseits des Netzausbaus richten. Es ist klar, dass das EEG Teil eines Markteinführungskonzeptes ist und nur dann Teil eines Marktdurchdringungskonzeptes werden kann, wenn man es fortentwickelt. Auch das muss man gemeinsam machen. Ich hoffe, dass wir diesbezüglich weniger Blockade als Unterstützung seitens des Bundesrates erfahren. Es kommt hierbei auch auf den Bundesrat an. Auch er muss ein Interesse daran haben, dieses Thema voranzubringen. ({14}) Letztlich wird es darauf ankommen - das ist entscheidend -, dass wir ein neues Marktdesign entwickeln. Hierzu hat die Koalition gute Vorarbeit geleistet. Letztendlich wird es darum gehen, die Fixkosten zu finanzieren, und zwar sowohl die Fixkosten, die im konventionellen Bereich entstehen, als auch die Fixkosten, die im Bereich der erneuerbaren Energien entstehen. ({15}) Dafür braucht man neben dem Markt für elektrische Arbeit einen Leistungsmarkt. Einen solchen Leistungsmarkt schnell einzuführen, ist genauso wichtig wie das Voranbringen des Netzausbaus. Das sage ich aber nur am Rande. Ich bin der Überzeugung, dass der heutige Tag einen Meilenstein in Sachen Netzausbau und damit einen Meilenstein in Sachen Energiewende darstellt. Ich hätte mir gewünscht, dass das aufseiten der Opposition nicht nur die SPD erkennt. Vielen herzlichen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Mir liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Ge- schäftsordnung des Kollegen Heveling vor. Die nehmen wir zu Protokoll.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12638 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Kollegen Heveling in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Kollegen Heveling angenommen. Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 6 a und kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13276. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13277. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13278. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mit dem gleichen Abstimmungsverhalten wie die beiden vorherigen abgelehnt. Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/11369 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 6 b. Wir setzen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/13258 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12214 mit dem Titel „Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland erhalten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Darf ich einen Hinweis Richtung Regierungsbank geben? Im Moment habe überwiegend ich das Wort. Wenn Sie mit den Dingen, die Sie zu besprechen haben, nicht ins Protokoll kommen wollen, wäre es sicherlich sinnvoll, die Lautstärke einzuschränken. ({0})1) Anlage 10 Vizepräsidentin Petra Pau Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 b. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa- che 17/12681 mit dem Titel „Den Netzausbau bürger- freundlich und zukunftssicher gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD- Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/12518 mit dem Titel „Ausbau der Übertra- gungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finan- zielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- haltung der SPD-Fraktion und der Linken angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lohndumping im Einzelhandel stoppen - Tarifverträge stärken, Entgelte und Arbeitsbedingungen verbessern - Drucksache 17/13104 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})- Finanzausschuss - Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung ({2}) - Drucksache 17/13106 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträgen - zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tarifsystem stabilisieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern - Drucksachen 17/8459, 17/8148, 17/4437, 17/10220 Berichterstattung:Abgeordnete Jutta Krellmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({5})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten von uns kennen sie doch, die netten, freundlichen und zuvorkommenden Frauen und Männer, die auch nach 20 Uhr ganz selbstverständlich gute Miene zum bösen Spiel machen, etwa wenn genervte und gestresste Abgeordnete auf dem Weg nach Hause vielleicht noch schnell einige Besorgungen erledigen wollen. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sich anfühlt, auch um 22 Uhr noch dort sitzen zu müssen, selbst am Samstag oder, je nach Bundesland, an vier bis acht Sonntagen im Jahr? Haben Sie sich schon einmal für die Arbeitsbedingungen dieser Kolleginnen und Kollegen interessiert? Was wissen Sie alle eigentlich über Niedriglöhne und das Lohndumping in dieser Branche, in der fast 3 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen, arbeiten? Wir, die Linke, haben uns das gefragt. Wir haben mit Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften gesprochen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifverträge. Nur falls es noch nicht jeder in diesem Saal weiß: Zu Beginn dieses Jahres haben die Arbeitgeber des Einzelhandels in fast allen Bundesländern die Manteltarifverträge gekündigt. Sie wissen: Die Manteltarifverträge regeln die wesentlichen Arbeitsbedingungen für diese Branche. Sie regeln auch die Eingruppierung und die Höhe der Zuschläge für besonders ungünstige Arbeitszeiten. Kurz gesagt: Sie regeln den Wert einer Arbeit, den wir alle schätzen sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Aber all das stellen die Arbeitgeber nun auf den Prüfstand. Diesen Generalangriff, wie ihn die Gewerkschaft Verdi zu Recht nennt, können und dürfen wir in diesem Haus nicht schweigend hinnehmen. ({1}) Schauen Sie sich die Lage der Beschäftigten im Handel an: Die Ladenöffnungszeiten wurden massiv ausgedehnt. Viele Verkäuferinnen arbeiten inzwischen rund um die Uhr. Es gibt immer mehr unsichere Jobs. Die Beschäftigten arbeiten teilweise auf Abruf. Wissen Sie eigentlich, was es heißt, auf Abruf zu arbeiten? Das heißt nichts anderes als weitgehenden Verzicht auf eigene Lebensgestaltung. Die Betroffenen können nicht einmal mehr einen Kinobesuch einplanen; denn der Arbeitgeber könnte sie ja zurückrufen. Wird so viel zusätzliche Flexibilität aufseiten der Beschäftigten überhaupt honoriert? Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil: Während den Beschäftigten immer mehr abverlangt wird, sind Niedriglöhne auf dem Vormarsch. Jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnbereich. Versuchen Sie gar nicht erst, Ihre Hände in Unschuld zu waschen, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Sie haben hier in diesem Hause die unsägliche Agenda 2010 beschlossen und eine Lohnspirale nach unten in Gang gesetzt, die aufgehalten werden muss. ({2}) - Doch, Herr Lehrieder, genau so sieht es in der Arbeitswelt draußen aus. ({3}) Die Agenda 2010 hat die Löhne massiv gedrückt; das kann man mit Zahlen belegen. Die Linke schlägt vor, bestehende Hürden für eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abzubauen. Wir wollen dafür sorgen, dass für alle Beschäftigten und Arbeitgeber einer Branche verlässliche Regeln geschaffen werden können. ({4}) Auch viele Arbeitgeber müssen nämlich davor geschützt werden, dass der Wettbewerb in der Arbeitswelt über die Löhne und über die Arbeitsbedingungen geführt wird. Die Damen und Herren FDP-Kollegen - der Herr Vogel telefoniert jetzt - wollen uns wieder glauben machen, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber würden das alles auch ohne Einflussnahme von außen mit großer Vernunft regeln. Ich frage Sie, Herr Vogel: Was ist vernünftig daran, dass die Arbeitgeber vor gut zehn Jahren ihre Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen aufgekündigt haben? Was ist vernünftig daran, wenn die Löhne im Handel so niedrig sind, dass der Staat jährlich 1,5 Milliarden Euro fürs Aufstocken zur Verfügung stellen muss? Das ist unzumutbar und das muss abgeschafft werden. ({5}) Wir schlagen vor, dass alle repräsentativen Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären sind, auch wenn sie bisher nicht für die Hälfte der Beschäftigten gelten. Den Arbeitgebern soll zudem das Vetorecht entzogen werden. Wir wollen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird, sodass nur die Tarifverträge wirksam werden, die über diesem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft in Deutschland gründen in der Tat darauf, dass wir ein hochentwickeltes System von Tarifverträgen haben, die Arbeitgeber und Gewerkschaften miteinander aushandeln und mit denen sie den Lohn und viele andere Dinge - die Arbeitszeit usw. - regeln und mitgestalten. Wir Bundestagsabgeordnete sollten tunlichst die Finger davon lassen, uns da einzumischen; denn - um es kurz zu sagen - Arbeitgeber und Gewerkschaften regeln das untereinander besser, als es der Bundestag regeln könnte. ({0}) Bei dem, was die Kollegin Zimmermann vorgetragen hat, muss man den Eindruck bekommen, dass sie gar nicht von Tarifautonomie spricht. ({1}) Sie hat davon geredet, dass wir - der Bundestag, die Politiker - uns einmischen sollten und per Gesetz - statt durch die Tarifpartner - ein Mindestlohn in Deutschland festgelegt werden sollte. Mit dem Antrag, der hier gestellt wird, ist offensichtlich nicht das gemeint, um was es angeblich geht - in Wahrheit ist staatliche Einmischung in die Lohnpolitik gefordert. ({2}) Staatliche Einmischung in die Lohnpolitik - das zeigen sämtliche Beispiele aus Europa - führen in der Regel zu schlechteren Ergebnissen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Tarifverträge, die im Rahmen der Tarifautonomie frei verhandelt wurden. Deshalb setPeter Weiß ({3}) zen wir uns für eine Stärkung der Tarifautonomie ein. In der Tat haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt, dass Flächentarifverträge infrage gestellt worden sind. Spätestens die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, 2009, 2010 hat aber gezeigt: Deutschland - die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die deutschen Betriebe - wäre nicht so schnell und so gut - besser als alle anderen Industrienationen Europas - aus dieser Krise herausgekommen, wenn es nicht die Tarifautonomie gäbe. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht Vereinbarungen über Kurzarbeit getroffen hätten und wenn wir als Staat die Kurzarbeit nicht massiv unterstützt hätten, wäre uns das nicht gelungen. Gerade die Krisenbewältigung zeigt: Die Tarifautonomie ist der beste Weg, um gute Lösungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu schaffen. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Jahr 2011 arbeiteten etwa 54 Prozent der westdeutschen und 37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben, die an einen Tarifvertrag gebunden sind.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung der Kollegin Zimmermann?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Kollege Weiß, dass Sie die Frage zulassen. Sie kennen ja sicherlich die Callcenterbranche. Darin arbeiten 500 000 Beschäftigte. Die Gewerkschaft Verdi will für diese schon lange einen Tarifvertrag aushandeln, aber auf der anderen Seite gibt es keinen Arbeitgeberverband. Ich frage Sie: Was machen wir mit diesen Kolleginnen und Kollegen dort - es sind immerhin 500 000 -, die unter Lohndumping leiden und schwere Arbeitsbedingungen haben? Sie erhalten teilweise Löhne von 5, 6, 7 Euro in der Stunde. Meine Frage an Sie: Wie können wir hier die Tarifautonomie walten lassen? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Zimmermann, ich habe mich mehrmals mit Betriebsräten in der Callcenterbranche unterhalten und habe große Sympathien dafür, dass wir zu einem Tarifvertrag für diese Branche kommen. Richtig ist: Dazu muss es auf der anderen Seite einen Verhandlungspartner geben. Ich gehe aber davon aus, dass die sehr konsequenten und, wie ich finde, inhaltlich auch gut vorgetragenen Argumente der Betriebsräte irgendwann zu diesem Erfolg führen werden. Solange es den Tarifvertrag noch nicht gibt, bräuchten wir für die Callcenter eigentlich eine Mindestlohnregelung. Sie wissen, dass von einer Arbeitnehmerorganisation ein solcher Antrag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt worden ist. Leider ist dieser Antrag im Hauptausschuss unter Leitung von Herrn von Dohnanyi abgelehnt worden. Ich habe den Eindruck, dass er vor allem deshalb abgelehnt wurde, weil er von der falschen Gewerkschaft gestellt worden ist, ({0}) was zeigt: Es wäre besser, man würde beim Thema Mindestlöhne nicht die Organisationsinteressen gegeneinander ausspielen, sondern wirklich in der Sache handeln. Ich hätte mich gefreut, wenn der Antrag auf eine Mindestlohnregelung für die Callcenterbranche im Hauptausschuss bewilligt und eine entsprechende Regelung in Kraft gesetzt worden wäre. ({1}) Ich habe gerade vorgetragen, wie viele Beschäftigte in einer Branche arbeiten, die einen Tarifvertrag hat. Hinzu kommen etwa 7 Prozent der westdeutschen und rund 12 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in einem Betrieb arbeiten, der einen Firmentarifvertrag hat. Das heißt zusammengerechnet: Für 39 Prozent der Beschäftigten im Westen und für 51 Prozent im Osten gibt es keinen Tarifvertrag. Das ist in der Tat ein Rückgang gegenüber früher. Allerdings kommt jetzt etwas anderes hinzu: Für rund 20 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und rund 25 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird im Betrieb ein Tarifvertrag angewandt, obwohl der Betrieb gar nicht tarifgebunden ist. ({2}) Hier haben die Zahlen zugenommen. Das zeigt doch, dass in Deutschland nach wie vor die Tarifverträge für die große Mehrheit der Arbeitgeber die Orientierungspunkte bei der Bezahlung sind. Man kann meines Erachtens in der Tat die Frage stellen, ob bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen dafür gegeben sind, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, ihn also auch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben zu erstrecken, die gar nicht tarifgebunden sind, auch die faktische Anwendung eines Tarifvertrags berücksichtigt werden könnte; denn es ist natürlich gut, wenn man in einem Betrieb arbeitet, der tarifgebunden ist, und es ist schön, wenn man in einem Betrieb arbeitet, der sich wenigstens an einen Tarifvertrag hält, obwohl er gar nicht tarifgebunden ist, da er keiner Arbeitgeberorganisation angehört, aber eigentlich könnte man die faktische Anwendung des Tarifs hier mitzählen. Natürlich wäre es wünschenswert, dass in mehr Bereichen Tarifverträge abgeschlossen und für allgemeinverbindlich erklärt werden. Peter Weiß ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist heute Morgen in der Debatte schon vorgetragen worden, aber ich will es hier wiederholen: Es ist schon ein bemerkenswerter Fortschritt, dass es die Arbeitgeber und Gewerkschaften in einem Bereich, der in fast jeder Bundestagsdebatte für besonders niedrige Löhne an den Pranger gestellt worden ist, dem Friseurhandwerk, geschafft haben, eine Verabredung für einen bundesweit gültigen Tarifvertrag zu finden, und dass sie angekündigt haben, dafür eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu beantragen. Glückwunsch an das Handwerk! Es wäre eine tolle Sache, wenn weitere Branchen es den Friseuren nachmachen würden. ({4}) Das gilt natürlich auch für den Einzelhandel. Frau Zimmermann hat hier verschwiegen, dass es jetzt über zwei Jahre intensive Gespräche und Bemühungen gegeben hat, auch im Einzelhandel zu einer Vereinbarung zumindest über einen Mindestlohn oder aber über einen Tarifvertrag zu kommen, für den die Allgemeinverbindlichkeit beantragt werden könnte. Es ist schade, dass das den Tarifpartnern bis zur Stunde nicht gelungen ist. Aber wir als Bundestagsabgeordnete können den Verhandlungspartnern diese Arbeit nicht abnehmen. Ich will deutlich sagen: Ich wünsche den Verantwortlichen im Einzelhandel, dass sie diese Gespräche wieder aufnehmen und versuchen, eine klare, eindeutige und gute tarifliche Vereinbarung zu finden; das wäre dringend notwendig. ({5}) Ich bin etwas verwundert darüber, dass die Linken auch noch das Thema Kontrolle ansprechen. Es ist ihnen entgangen, dass ausgerechnet CDU/CSU und FDP in ihrer jetzt bald vierjährigen Regierungszeit jedes Jahr die Zahl derjenigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle, die für die Aufdeckung von Schwarzarbeit und für die Kontrolle von Mindestlöhnen zuständig sind, um 100 Personen aufgestockt haben. ({6}) - Ja. Jedes Jahr ging diese Zahl um 100 nach oben. Entgangen ist ihnen auch, dass CDU/CSU und FDP die Anzahl der Kontrolleure der Bundesagentur für Arbeit um 30 Prozent aufgestockt haben. Damit haben wir deutlich gemacht: Wir sind daran interessiert, dass es in der deutschen Wirtschaft für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für Unternehmen gute vertragliche Regelungen gibt. ({7}) Wir sind auch bereit, sie zu kontrollieren. Insofern ist klar und deutlich: Wir sind diejenigen, die für Tarifautonomie stehen, die die Tarifautonomie stärken. Aber wir sollten bitte nicht per politischer Direktiven in die Tarifautonomie eingreifen. Das führt nur ins Verderben. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Josip Juratovic das Wort. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Peter Weiß, ich möchte Sie daran erinnern, dass auch Aufstockung eine Art von staatlicher Einmischung in Lohnpolitik ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es vergeht kein Tag, an dem wir nicht in der Presse von Menschen erfahren, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Unser Land ist stolz auf seine soziale Marktwirtschaft. Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt mit Niedriglöhnen, Befristungen, Leiharbeit und Werkverträgen zeigt jedoch, dass die soziale Marktwirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist. In unserem Wirtschaftssystem geht es zunehmend darum, den Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten auszutragen. Die Unternehmer konkurrieren immer mehr darum, den billigsten Preis anzubieten, sei es durch Niedriglöhne ohne Tarif oder durch schlechte Arbeitsbedingungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Billiglohnkonkurrenz ist schlecht für die Arbeitnehmer, und sie ist auch schlecht für unser Land; denn unsere Wirtschaft wird sich nicht zukunftsweisend weiterentwickeln, solange es einigen Unternehmern nur um Strategien geht, wie sie möglichst wenig Lohn zahlen. Wir brauchen dagegen einen Wettbewerb um die besten Ideen und Innovationen. Dafür braucht man gute und fair bezahlte Mitarbeiter. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Wettbewerb um Innovationen und nicht die Konkurrenz um Niedriglöhne zu fördern, ist ein funktionierendes Tarifvertragssystem notwendig. Tarifverträge sind ein elementarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Denn dadurch werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter einen Hut gebracht. So kann sich die faire und soziale Marktwirtschaft in unserem Land weiterentwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur möglich, wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen stimmen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört die Tarifautonomie. Leider gibt es jedoch immer mehr Unternehmen, in denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert. Immer mehr Unternehmer sind entweder gar nicht mehr in Arbeitgeberverbänden, oder sie haben eine OT-Mitgliedschaft, also eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. In manchen Branchen wiederum sind die Arbeitnehmervertreter und die Gewerkschaften inzwischen nicht mehr stark genug, um Tarifverhandlungen durchzusetzen und durchzuführen. Ein Blick nach Europa zeigt, dass die Tarifbindung in Deutschland deutlich niedriger ist als in den meisten anderen Ländern. Deshalb ist die SPD-Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mehr als berechtigt. ({2}) Aber es ist auch die Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für eine wirkliche Tarifautonomie mit Verhandlungen der Tarifpartner auf Augenhöhe zu schaffen. Wir müssen das Tarifvertragssystem stärken und zuallererst die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen erleichtern, wie wir Sozialdemokraten in unserem Antrag fordern. Wir dürfen die Tarifvertragsparteien nicht alleine lassen mit ihrer Tarifautonomie, sondern müssen sie gesetzlich und politisch unterstützen. Die Bundesregierung fällt beim Thema Tarifautonomie leider in ihre gewohnte Haltung: Sie lobt die Tarifpartner in Sonntagsreden. Politisch tut die Regierung aber überhaupt nichts, um die Tarifautonomie tatsächlich auch zu stärken. Mir ist es unverständlich, dass die CDU im Ausschuss für Arbeit und Soziales sagt, es müsse grundsätzlich auch Unternehmen ohne eine sogenannte Unterwerfung unter einen Tarifvertrag geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, faire Tarife sind die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfen nicht die Unternehmer in unserem Land politisch fördern, die sich von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet haben, sondern wir müssen die Unternehmer fördern, die faire tarifliche Löhne zahlen. ({3}) Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen sind auch im europäischen Kontext wichtig; denn nur allgemeinverbindliche Löhne sind nicht nur für die deutschen Arbeitnehmer bindend, sondern auch für Arbeitnehmer aus Europa, die bei uns arbeiten. So sorgen wir dafür, dass Menschen - vor allem solche aus Osteuropa - nicht bei uns ausgebeutet werden, und wir sorgen dafür, dass sich die Arbeitnehmer in unserem Land nicht vor Billigkonkurrenz fürchten müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Gesetze, die in unserem Land im Tarifvertragssystem gelten, insbesondere das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, auch wirksam sind. ({4}) Momentan kann dieses Gesetz gar nicht richtig angewandt werden, weil es extrem schwierig ist, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Bislang müssen 50 Prozent aller unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Personen bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sein, damit ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Dieses Kriterium wollen wir ersetzen. In Zukunft soll ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn er repräsentativ ist. ({5}) Es ist doch nicht sinnvoll, ein Gesetz zu haben, das kaum angewandt werden kann. Eine Umsetzung des Gesetzes muss möglich sein. Auch deshalb ist es dringend geboten, das Tarifvertragssystem zu reformieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und, da ich in diesem Bereich aktiv bin, Kolleginnen und Kollegen der Gewerkschaften und in den Betrieben: Die SPD setzt sich dafür ein, dass die Tarifautonomie mit fairen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wieder zur Regel in unserem Land wird. Ich bitte um eure Unterstützung und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat nun für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat einen Niedriglohnsektor, ja, und zwar als Ergebnis einer politischen Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung. ({0}) - Ja, das muss aber immer wieder gesagt werden. Verantwortung muss da abgeladen werden, wo Verantwortung auch besteht. ({1}) Die Kehrseite - ich mache das ja sehr fair und vollständig - dieses Niedriglohnsektors war, dass Rot-Grün gesagt hat: Wenn niedrige Löhne gezahlt werden, die nicht reichen, um den eigenen Bedarf zu decken, dann soll aufgestockt werden können. Beides gehört zusammen. Sie wollten dies damals so; heute bekennen Sie sich nicht mehr so richtig dazu. ({2}) Aber immerhin, es hat gewirkt. Als Sie diese Entscheidung getroffen hatten, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Heute haben wir 3 Millionen Arbeitslose, und jeder Mensch, der einen neuen Arbeitsplatz gewonnen hat, hat ein Stück Autonomie und auch die Möglichkeit gewonnen, eigene Chancen zu nutzen. Oft sind Niedriglöhne ja auch nur eine Durchgangssituation. ({3}) Auch das muss man sehen: Sie bieten die Möglichkeit, nach dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Deswegen stehen wir auch heute noch zu den Entscheidungen, die Sie damals getroffen haben, heute aber nicht mehr wahrhaben wollen. - Das ist das Erste. Das Zweite: Tarifautonomie wirkt und Tarifvertragspolitik funktioniert. Das haben wir bei den Friseuren in dieser Woche gesehen. Ich gebe zu, es war schwer erträglich, im Bereich der Friseure immer wieder auf Tarifverträge verwiesen zu werden, die aus dem Jahr 1998 stammten. Es ist wirklich gut und zu begrüßen, dass die Branche jetzt auch auf öffentlichen Druck reagiert hat und einen gestuften Tarifvertrag abgeschlossen hat, beginnend im August dieses Jahres mit 6,50 Euro im Osten und 7,50 Euro im Westen und einem anschließenden Steigerungsziel. Das zeigt: Die Branche hat die Signale verstanden. Es gibt überhaupt keinen Anlass für die Politik, in ein funktionierendes Tarifvertragsgeschehen einzugreifen. ({4}) Das Dritte, was ich ansprechen will, ist: Wir haben ein gut funktionierendes und auch ausgereiftes Instrumentarium im Bereich der Tarifvertragspolitik. - Sie schütteln den Kopf, Frau Müller-Gemmeke, aber es ist doch so. Als Sie regiert haben, haben Sie es auch nicht verändert. Wir haben bei Branchen mit einer sehr hohen Tarifbindung, also über 50 Prozent der Beschäftigten, nach dem Tarifvertragsgesetz die Möglichkeit, nicht nur untere Lohnlinien, sondern ganze Lohngitter für allgemeinverbindlich zu erklären. Wir haben mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz die Möglichkeit, jedenfalls nach Maßstab unseres Handelns, mit einer etwas abgesenkten Anforderung, nämlich bei Repräsentativität der Tarifverträge, eine Lohnuntergrenze einzuziehen. Wir haben auch die Möglichkeit, in praktisch nicht organisierten Bereichen mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einen von einer Kommission oder einem Fachausschuss ermittelten Lohn als Lohnuntergrenze zu benennen. Das muss man beobachten, das funktioniert bisher anscheinend noch nicht so gut. Das habe ich jedenfalls von Herrn von Dohnanyi gehört. Aber das zeigt insgesamt: Wir haben wirklich für alle Fälle die Möglichkeit, zu handeln. Ich bin nicht bereit - das sage ich hier sehr deutlich für meine Fraktion -, auf das Votum des Tarifausschusses zu verzichten. - Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Völlig überraschend möchte Ihnen die Kollegin Zimmermann eine Frage stellen oder eine Bemerkung machen. Sie lassen diese natürlich auch zu. - Bitte, Kollegin Zimmermann.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. - Ich schätze Sie sehr. Aber mich interessiert wirklich: Was wäre bei Ihnen die Lohnuntergrenze? Wo würde sie liegen? Ich habe es nicht gelesen und auch noch keine Meinungsäußerung von der FDP dahin gehend gehört, wo für die FDP die Lohnuntergrenze liegt.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich habe es verstanden.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie wissen, die Niedriglohnschwelle liegt bei 10,36 Euro. Das ist keine Zahl der Linken, sondern eine Zahl vom Statistischen Bundesamt. Mich interessiert wirklich, wie die FDP das sieht. Das finde ich jetzt richtig spannend.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst - so viel Zeit muss sein, Frau Kollegin Zimmermann - will ich mich bei Ihnen und auch überhaupt bei den Kollegen der Linken einmal ausdrücklich bedanken. Es funktioniert immer sehr gut: Meine Ausführungen führen dazu, dass es bei Ihnen Nachfragebedarf gibt, Herr Kollege Ernst, Herr Kollege Birkwald, wer auch immer. ({0}) Das finde ich sehr erfreulich, weil es zeigt, dass von der einen Seite des Plenarsaals zur anderen ein kommunikativer Draht besteht. Herzlichen Dank dafür! ({1}) Der zweite Punkt - Sie wollen mich natürlich aufs Glatteis führen; das werde ich nicht zulassen - ist: Wenn ich Ihnen eine Zahl nennen würde, würde ich genau in diesen Über- oder Unterbietungswettbewerb einsteigen, den wir gerade nicht wollen. Tarifautonomie heißt für uns: Der Staat hält sich raus. Deswegen nennen wir keinen Wert. Es ist auch nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz vorgesehen, dass nicht der Staat eine Lohnhöhe festsetzt, sondern ein Fachausschuss, der nach der Feststellung von sozialen Verwerfungen vom Hauptausschuss eingesetzt wird. Diese Zahl ist der Referenzwert. Er ist nicht politisch gesetzt, sondern wird der Politik von fachlich Betroffenen nahegelegt. Das ist eben etwas ganz anderes als das, was in dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Mindestlohns des Bundesrates vorgesehen ist. Der Kollege Zimmer hat heute Morgen zu Recht auf die Mechanismen hingewiesen: Wenn nämlich die Tarifpartner nicht handeln, dann soll der Staat selbst Zahlen nennen. Wenn innerhalb einer bestimmten Frist kein Vorschlag erarbeitet wurde, soll der Staat selbst einen Wert festsetzen. Das ist für uns Liberale absolut inakzeptabel. Wir wollen keine staatlich festgelegte Lohnhöhe, sondern wir wollen, dass die fachlich Betroffenen in den Branchen ihre Dinge regeln, weil sie selbst die beste und nächste Anschauung dessen haben, was in den Betrieben tatsächlich gezahlt werden kann. Vielen Dank für die Frage. ({2}) Es gibt ein Instrumentarium. Wir sind nicht bereit, auf die Mitwirkung des Tarifausschusses im Rahmen der AVE zu verzichten, weil der Tarifausschuss eben eine gesamtwirtschaftliche Perspektive herstellt. Die Erfahrung aus den letzten dreieinhalb Jahren zeigt: Es ist in jedem einzelnen Fall, teilweise mit erheblichen Geburtswehen - das gebe ich zu -, gelungen, ein entsprechendes Votum zu erzielen, mit dem das in der Regel von uns allen gewünschte Ziel erreicht werden kann. Daran halten wir fest. Es sollte zudem immer eine Kabinettsentscheidung geben und nicht allein das federführende Ressort die Möglichkeit haben, per AVE zu handeln. All das ist sinnvoll und richtig. Ich finde, wir haben ein gutes Instrumentarium. ({3}) Es ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dass wir auf unserem Nürnberger Parteitag am übernächsten Wochenende darüber nachdenken werden, an welchen Stellschrauben im Rahmen des bestehenden Systems noch nachjustiert werden muss. ({4}) In der nächsten Sitzungswoche können wir Ihnen wahrscheinlich schon sehr viel Konkreteres zu unserer Nachjustierung berichten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Arbeitswelt läuft so einiges schief. Heute geht es stellvertretend um den Einzelhandel. Verkäuferin ist ein Knochenjob, und das bei schlechter Bezahlung. 38 Prozent der fast 3 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten inzwischen im Niedriglohnbereich. Das sind zu viele. Bei dieser Entwicklung ist der Verweis von Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, auf die Tarifautonomie einfach zu wenig. ({0}) Früher hatten viel mehr Beschäftigte - gerade auch im Einzelhandel - sozialen Schutz durch allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Heute aber wechseln zu viele Arbeitgeber in Mitgliedschaften ohne Tarifbindung. Edeka und Rewe gliedern Filialen aus an selbstständige Kaufleute. Gleichzeitig gibt es immer mehr zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. In der Folge wird der Einzelhandel immer mehr zu einer Branche ohne Betriebsräte. Vor allem aber funktioniert das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nicht mehr, weil die Tarifbindung zu gering ist. Durch diese unterschiedlichen Formen der Tarifflucht wird der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! ({1}) Ich bin auch überzeugt, dass die Tarifbindung insgesamt weiter abnehmen wird. Unterstützung bei der Tarifflucht gibt es einmal mehr im Internet. So bietet beispielsweise die Haufe-Akademie ein Seminar an unter dem Titel „Wege aus der Tarifbindung“ - ich zitiere -: Praxisorientiert … lernen Sie, welche Möglichkeiten es gibt, Personalkosten zu sparen, flexibler zu werden … und den Einfluss von Gewerkschaften zu reduzieren. Praktische Handlungsempfehlungen … zeigen Ihnen, wie Sie die Lösung aus tariflichen Bindungen am besten umsetzen. Die FDP sollte ruhig einmal zuhören. - Dann wird noch die ganze Palette aufgeführt: OT-Mitgliedschaft, Wechsel des Arbeitgeberverbandes, Branchenwechsel, Umstrukturierung und Gestaltung der Arbeitsverträge. Es ist unsäglich. Das hat nichts mehr mit Sozialpartnerschaft zu tun. Hier geht der Anstand verloren. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie halten immer die Tarifautonomie hoch, wie wir gerade wieder gehört haben. Sie müssen sich aber langsam entscheiden, was Sie damit meinen und was Sie wollen. Wenn es Ihnen nur um die negative Koalitionsfreiheit geht, dann sagen Sie das endlich ehrlich. Dann wissen die Beschäftigten, was sie von Ihnen zu erwarten haben, nämlich gar nichts. Oder verstehen Sie unter Tarifautonomie, dass den Tarifvertragsparteien eine wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungskompetenz eingeräumt wird? Dann müssen Sie aber auch reagieren, wenn sich Arbeitgeber von dieser Verantwortung verabschieden. In der Konsequenz müssten Sie dann, wenn auch nicht in allen Details, so doch zumindest im Grundsatz die vorliegenden Vorlagen unterstützen. ({3}) Wir brauchen erstens einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, zweitens mehr branchenspezifische Mindestlöhne, und drittens muss die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtert werden; denn wenn die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert, dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt werden. ({4}) Wir Grüne bringen heute noch einen kleinen Entwurf eines Gesetzes ein, das unserer Meinung nach durchaus große Wirkung erzielen kann, und zwar gegen zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. Wenn ein Scheinwerkvertrag gerichtlich festgestellt wird, dann ist das verdeckte Leiharbeit - mit allen Konsequenzen: Ein Bußgeld wird verhängt, die Sozialversicherungsbeiträge werden nachgefordert, und die Beschäftigten haben automatisch ein Arbeitsverhältnis mit dem Werkvertragsbesteller. Eine Erlaubnis für Leiharbeit schützt die Betriebe aber vor diesen Rechtsfolgen. Diese Gesetzeslücke im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wollen wir schließen; denn manche Betriebe nutzen das schamlos aus. Sie vergeben ihre dubiosen Werkverträge nur an Fremdfirmen mit einer Erlaubnis für Leiharbeit. Damit können sich die Unternehmen absichern und die Rechtsfolgen von Scheinwerkverträgen abmildern. Wir fordern deshalb, dass die Erlaubnis nur für echte Leiharbeit gilt. Wer mit Scheinwerkverträgen Löhne absenkt und Tarifflucht begeht, der soll künftig immer auch die rechtlichen Konsequenzen tragen. Das hat abschreckende Wirkung, und vor allem ist das gerecht, Herr Kolb. ({5}) - Sie haben das, glaube ich, einfach nicht verstanden. Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, mit allen Anträgen, die heute vorliegen, soll die Sozialpartnerschaft zum Schutz der Beschäftigten gestärkt werden. Aber auch die tariftreuen Betriebe brauchen diesen Schutz, damit sie von Schmutzkonkurrenz nicht vom Markt gedrängt werden. Reden Sie also nicht nur von Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie, sondern handeln Sie endlich! Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktionen, studiert man die von Ihnen eingebrachten und heute zur Debatte stehenden Anträge, so könnte man auf die Idee kommen, dass es um die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Lage in Deutschland wirklich schlecht bestellt ist. ({0}) Aber ich kann Sie beruhigen: Dem ist bei weitem nicht so. Im Gegenteil: Betrachtet man die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren, dann sieht man, dass die Lage eigentlich kaum besser sein könnte. Im vergangenen Jahr waren mit nahezu 42 Millionen Beschäftigten so viele Menschen in Deutschland in Beschäftigung wie nie zuvor. ({1}) Auch die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen ist mit 2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gefallen. 29,8 Millionen Personen, um die Zahl zu liefern, Frau Müller-Gemmeke, waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Darauf wollen Sie doch hinaus. Ich kenne Ihre Fragen nach mehrjähriger Tätigkeit im Ausschuss. ({2}) In ihrer aktuellen Frühjahrsprognose geht die Bundesregierung für das laufende Jahr weiterhin von einem Anstieg der Beschäftigung um 200 000 sowie einem Rückgang der Arbeitslosigkeit auf deutlich unter 3 Millionen Personen aus. Im europäischen Vergleich steht Deutschland, insbesondere was die geringe Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstand am besten da. ({3}) Die Vermittlung in Arbeit verläuft zügiger, und die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist gesunken. Das müssen auch Sie, Frau Kollegin Zimmermann, bei aller Kritik zur Kenntnis nehmen. Wir werden im gesamten europäischen Ausland um unseren soliden und äußerst robusten Arbeitsmarkt beneidet. Das sind die Erträge erfolgreicher christlich-liberaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. ({4}) - Ich komme gleich dazu, lieber Toni Schaaf. Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, entnehme ich eine ausgesprochen pessimistische Sicht auf die Tarifbindung in Deutschland, die ich in keiner Weise nachvollziehen kann. Auch die Sachverständigen haben sich im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 6. Februar 2012 mit Ihrer Sicht der Dinge sichtlich schwergetan. Zusätzlich zur unmittelbaren Bindung der Unternehmen an Flächen- und Branchentarifverträge ist die Zahl der Hausund Firmentarifverträge deutlich gestiegen. Hinzu kommt, dass sich ein erheblicher Teil der nicht tarifgebundenen Unternehmen an bestehende Flächen- und Branchentarifverträge anlehnt. ({5}) Darauf wurde von Herrn Kollegen Kolb zutreffenderweise bereits hingewiesen. Legt man diese Fakten zugrunde, kommt man entgegen Ihrer Ansicht zu dem Ergebnis, dass die Tarifbindung in Deutschland im europäischen Vergleich im oberen Bereich liegt. Laut dem Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung werden die Arbeitsbedingungen von 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse immer noch durch Tarifverträge bestimmt. Diese Zahlen belegen, dass Tarifverträge trotz Ihrer Schwarzmalerei das wichtigste Element zur Aushandlung und Festsetzung von Arbeitsentgelten, Arbeitsbedingungen und weiteren beschäftigungsrelevanten Fragen sind. Mit einem Sammelsurium von Forderungen, angefangen bei einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der in jedem Ihrer Anträge steht, über eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bis hin zu einer Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tariflöhnen, versuchen Sie, einem angeblichen Missstand entgegenzutreten. Das Aushandeln von Löhnen muss grundsätzlich Aufgabe der Sozialpartner sein. - Ich freue mich, dass Kollege Klaus Ernst wieder unter uns ist, der natürlich als alter Gewerkschafter hier von mir abermals hören muss, dass es die christlich-liberale Koalition ist, die der Tarifautonomie das Wort redet und die Rolle der Gewerkschaften würdigt und hochschätzt, anders als früher Ihre Genossen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Lassen Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Schaaf zu? ({0}) Bitte, Sie haben das Wort.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie lehnen den gesetzlichen Mindestlohn ja immer ab mit dem Hinweis darauf, ein gesetzlicher Mindestlohn sei eine Einmischung in die Tarifautonomie. Wir bzw. unsere Vorgänger haben in diesem Haus eine Menge Gesetze beschlossen, die sich zum Beispiel damit befassen, wie viel Urlaub mindestens gewährt werden muss, wie hoch die Arbeitszeit in der Woche höchstens sein darf. Wir haben die Betriebsverfassung. Sind das alles Einmischungen in die Tarifautonomie, oder sind das Mindeststandards, die wir in der sozialen Marktwirtschaft für richtig halten? ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie sind Arbeitnehmerschützer, genau wie ich. ({0}) Wir haben die Interessen der Arbeitnehmer im Fokus. Gerade vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die Regelungen im Bundesurlaubsgesetz und in den Arbeitszeitverordnungen betreffend die Urlaubsdauer und die maximalen Wochenarbeitszeiten, quasi als Mindestlevel zum Schutz der Arbeitnehmer. ({1}) Allein der Umstand, dass wir bereits mehrere Grenzen eingezogen haben, heißt aber doch nicht, dass wir weitere Grenzen einziehen müssen, die nicht zwingend erforderlich sind. Hier müssen wir eine weitere Einengung der Verhandlungspositionen der Tarifvertragsparteien gerade nicht vornehmen. Die branchenspezifische Lohnhöhe können sie doch viel besser selbst aushandeln. Dass die minimale Urlaubsdauer als Arbeitsschutzrecht vom Bundesgesetzgeber geregelt ist, ist richtig und auch zutreffend. Das heißt aber nicht, dass das für alle Branchen einheitlich gemacht werden muss. Frau Kollegin Zimmermann hat ja den netten Kollegen Kolb suggestiv gefragt: Wo würden Sie denn hier die Lohnuntergrenze sehen? - Das ist doch etwas, was von Branche zu Branche von den Tarifvertragsparteien viel besser ausgehandelt werden kann. Wir sehen es doch: Hier sind es 8,50 Euro, dort 10 Euro. Vielleicht kommen wir auch irgendwann einmal zu 9 Euro oder 11,50 Euro. ({2}) Wir würden uns hier vor der Bundestagswahl in einem Überbietungswettbewerb befinden, wer die besseren Politiker sind, wer mehr Mindestlohn fordert - unabhängig davon, dass wir den Verlust von Arbeitsplätzen dann gar nicht selber ausbaden müssten. Lassen Sie uns den Tarifvertragsparteien etwas Vertrauen entgegenbringen und ihnen die Aushandlung der Lohnhöhen in den einzelnen Branchen zugestehen! Das können die besser als wir. Lieber Toni Schaaf, du weißt so gut wie ich, dass wir die Tarifvertragsparteien ihr Geschäft machen lassen sollten. Frau Präsidentin, da ist noch eine Wortmeldung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich habe das gesehen, Kollege Lehrieder. Der Kollege Ernst hat sich ebenfalls zu einer Frage oder Bemerkung gemeldet. Ich entnehme Ihrem Hinweis, dass Sie diese auch zulassen.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Lehrieder, es geht mir um das Problem, das eben angesprochen wurde. Ihre Argumentation scheint mir nicht sehr schlüssig zu sein. Urlaubsdauer ist ja etwas anderes als die Frage der Arbeitszeit. Wir haben bezogen auf die Urlaubsdauer eine Mindestregelung im Gesetz - 24 Werktage -; trotzdem haben die Tarifvertragsparteien die Freiheit, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren, zum Beispiel 30 Tage in der Metall- und Elektroindustrie. Inwiefern, glauben Sie, hat die Festlegung einer Mindesturlaubsdauer die Gewerkschaften behindert, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren? Das ist eine ganz konkrete Frage. Zweitens. Wir haben ein Arbeitszeitgesetz. In diesem Arbeitszeitgesetz haben wir Höchstarbeitszeiten vereinbart. Trotzdem haben sich die Gewerkschaften mit den Arbeitgeberverbänden - wahrscheinlich zu Ihrer großen Freude, weil das in die Tarifautonomie fällt - in verschiedenen Branchen auf die 35-Stunden-Woche geeinigt. Glauben Sie, dass die festgelegte Mindestarbeitszeit die Gewerkschaften behindert hat, als sie die 35-Stunden-Woche durchgesetzt haben? Oder war es nicht so, dass sie auf Basis bestehender Gesetze eine Verbesserung durchsetzen konnten? Wenn Sie mir in diesen Fragen recht geben, Kollege Lehrieder, ist es dann nicht so, dass selbstverständlich die Gewerkschaften einen besseren Lohn als den Mindestlohn vereinbaren können, und zwar in den Bereichen, in denen sie selbst dazu nicht mehr in der Lage sind, eine Basis, einen Mindestlohn zu verhandeln, auf den sie aufsetzen können? Nur so können sie das in Anspruch nehmen, was Sie hier propagieren, nämlich eine Tarifautonomie, die über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bessere Bedingungen bei Lohn, Urlaub usw. gewährt. Ist es nicht sinnvoll, diesen Mindestlohn ({0}) zur Geltung der künftigen Tarifautonomie geradezu zwingend einzuführen? ({1})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein. Ich begründe das sehr gern. - Lieber Kollege Ernst, bei den angesprochenen Regelungen zur Wochenarbeitszeit - wir diskutieren auf der Brüsseler Ebene derzeit über 48 Stunden; diese Arbeitszeitobergrenze soll uns von der Brüsseler Ebene vorgegeben werden - handelt es sich schlicht um Arbeitnehmerschutzrechte. Gesundheit, Wohlbefinden, Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers sind von staatlicher Seite zu schützen. ({0}) Das ist etwas anderes, ein Aliud im Verhältnis zur Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es nicht um Arbeitnehmerschutz. Beispiel: Urlaubszeit. Jede Mitbürgerin und jeder Mitbürger braucht bei einer Vollzeitbeschäftigung eine entsprechende Urlaubszeit, um sich wieder zu erholen und die körperliche Fitness zu erhalten. Das ist logisch. Das ist ein Arbeitnehmerschutzrecht. Das ist anders zu betrachten als die Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es darum: Wie ist die Produktivität in der Branche, an dem Arbeitsplatz, möglicherweise in der Region? Das ist durchaus differenziert zu betrachten. Da kann es keine Einheitlichkeit geben. Zu Ihrer Frage: Können die Gewerkschaften aus den 10 Euro nicht 11 Euro oder 12 Euro machen? Es besteht das Risiko, lieber Klaus Ernst, dass tarifvertraglich vereinbarte höhere Löhne, etwa von 11 Euro oder 12 Euro, auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden. Sie geben den Mitbürgerinnen und Mitbürgern unter Umständen Steine statt Brot. Sie dürfen nicht glauben, dass die Gewerkschaften auf die 10 Euro noch 1 Euro oder 2 Euro drauflegen müssen. Es kann genauso passieren, dass bestehende tarifvertraglich vereinbarte Löhne in Höhe von 11 Euro auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden. Von daher: Ihr Optimismus in Ehren - ich glaube Ihnen das liebend gern; ich traue den Gewerkschaften wahrscheinlich mehr zu als Sie -, aber das wird nicht funktionieren, lieber Klaus Ernst. Die Arbeitszeitregelung auf der einen Seite und die Lohnhöhe auf der anderen Seite, das ist unterschiedlich zu betrachten. Die Arbeitszeit und die Lohnhöhe können in Tarifverträgen zugunsten des Arbeitnehmers verbessert werden - da bin ich bei Ihnen -; aber der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, der körperlichen Integrität des Arbeitnehmers ist ein bisschen anders zu sehen als die Lohnhöhe. Da bitte ich um Verständnis. Das wissen Sie als Gewerkschafter aber besser als ich. Dass dies funktionieren kann, lieber Klaus Ernst - Sie kommen aus Schweinfurt -, wissen Sie. Anfang der Woche ist über dem Dom von Würzburg weißer Rauch aufgestiegen. Man hat sich geeinigt. Die sogenannte Würzburger Einigung der Friseure - unter dem Namen mittlerweile weltbekannt - zeigt, dass die Tarifvertragsparteien hier tatsächlich eine Lösung erreichen können, die eine Verdopplung von manchen Löhnen zur Folge haben wird - zugegebenermaßen: erst in eineinhalb Jahren. Aber immerhin gibt es ein Ansteigen der Löhne im Friseurgewerbe. ({1}) - Fragen Sie mich halt was, Frau Kollegin! Schreien Sie nicht einfach dazwischen! - Ein Anstieg der Lohnhöhe im Friseurgewerbe von 3,80 Euro oder 4,20 Euro auf zukünftig 8,50 Euro wäre, glaube ich, ein Supererfolg. Das zeigt, was vernünftige Gewerkschaften in vernünftigen Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite erreichen können - auch mit Erstreckung auf noch nicht tarifgebundene Unternehmen. Das Spannende bei den Friseuren ist im Übrigen, wie das funktionieren wird, wie die sich freiwillig bereit erklären, diese 8,50 Euro zu bezahlen. ({2}) - Ja, aber die Christlich-Liberalen haben es erreicht, lieber Herr Kollege. ({3}) Meine Damen und Herren, der richtige Weg der Lohnfindung - ich habe bereits darauf hingewiesen sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Für den Fall, dass eine zu geringe Tarifbindung auf Arbeitgeber- oder auf Arbeitnehmerseite das nicht ermöglicht, hat Kollege Kolb auf das MiArbG hingewiesen. Das funktioniert noch nicht. Wir werden genau hinschauen müssen, wie wir es über das MiArbG möglicherweise erreichen, die Konditionen in den Branchen, in denen die Tarifbindung recht schwach ist, zu verbessern. Ich würde es begrüßen, wenn man im Einzelhandel ähnlich wie bei den Friseuren mit vernünftigen Tarifvertragsparteien zu einer vergleichbaren positiven Lösung im Interesse der Arbeitnehmer, aber auch im Interesse der Branche kommen könnte. Lassen Sie uns in diesem Sinne daran arbeiten! Die vorgelegten Anträge sind in dieser Hinsicht nicht zielführend. Deshalb werden wir sie - da bitte ich um Nachsicht - samt und sonders ablehnen. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Barthel das Wort. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte ist schon eigenartig. Hier wird zum Beispiel argumentiert, bei der Arbeitszeit müsse es einen Schutz geben - das ist auch richtig -, aber es dürfe keinen gesetzlichen Schutz gegen Armut geben. Armut ist bekanntlich so gesund, und deswegen braucht man keinen gesetzlichen Mindestlohn. ({0}) Dann wird hier allen Ernstes argumentiert, ein Mindestlohn von 8,50 Euro würde dazu führen, dass Löhne auf diesen Mindestlohn gedrückt werden. Wir erleben im Moment, dass durch den fehlenden Mindestlohn Löhne gegen null gedrückt werden. Es ist also geradezu zwingend notwendig, dass wir hier eine Grenze ziehen. ({1}) Herr Kollege Weiß, Herr Kollege Lehrieder und die Kollegen der FDP, ich finde es interessant, dass bei Ihnen die Tarifautonomie immer hochlebt, wenn es um den gesetzlichen Mindestlohn oder gesetzliche Neuregelungen in diesem Bereich geht. Wir sehen doch an den genannten Beispielen, wie die Tarifautonomie durch den gesetzlichen Rahmen beeinflusst wird. Man könnte jetzt ausführen, wie der Druck auf die Arbeitsbedingungen und die Tarifverträge in den letzten Jahren entstanden ist, und zwar auch durch gesetzliche Veränderungen. Das beste Argument haben Sie doch selber geliefert, als Sie die Friseure nannten. Wie kommen die Friseure darauf, zu sagen, dass es in anderthalb oder zwei Jahren einen Mindestlohn von 8,50 Euro gibt? Genau das ist zufällig die Forderung der SPD, der Grünen und zum Teil der Linken. ({2}) Hier sieht man doch, wie Debatten über gesetzliche Regelungen auch Tarifverträge beeinflussen. Ich wollte aber noch etwas anderes sagen, was in einer solchen Debatte immer untergeht. Wir alle wissen, dass es noch anständige Arbeitgeber mit anständiger Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen gibt. ({3}) Die haben es aber immer schwerer, weil es immer mehr Betriebe und Branchen gibt, die die Möglichkeiten der prekären Beschäftigung und der Lohndrückerei nutzen, zum Beispiel über befristete Verträge, Minijobs, Tarifflucht und Outsourcing. Deswegen habe ich vor einigen Wochen gesagt: Amazon ist fast überall. Bei manchen ist der Steuervermeidungstrieb stärker ausgeprägt als der Sexualtrieb. ({4}) Bei manchen ist der Lohn- und Sozialdumpingtrieb stärker ausgeprägt als der Trieb zum Überleben. Der Einzelhandel ist ein Beispiel dafür. Insofern hat die Linke recht, wenn sie dieses Thema anspricht. Man muss auch noch einiges zum Einzelhandel sagen, um die Situation zu beschreiben. Im Einzelhandel haben wir das Problem: immer mehr Fläche, immer längere Ladenöffnungszeiten, stagnierender privater Konsum aufgrund stagnierender Kaufkraft wegen niedriger Löhne, ein brutaler Preiskampf und immer weniger Beschäftigte. Dies kann doch bezogen auf die Arbeitsbedingungen nicht gut gehen. Was passiert also? Man zimmert sich schnell einen Arbeitgeberverband, sucht sich dann eine sogenannte christliche Gewerkschaft, genannt DHV - ich glaube, das heißt Deutscher Handlangerverband -, ({5}) und schon hat man Leiharbeitslöhne, die um 47 bzw. 44 Prozent unter dem Verdi-Tarif liegen. Gleichzeitig bastelt man sich Dienst- und Werkverträge, um auch noch den Mindestlohn in der Leiharbeit zu unterbieten. Das alles geschieht unter der Überschrift „Tarifautonomie“. Oder man macht es wie Edeka und Rewe: Man gründet immer mehr Filialen mit sogenannter Privatisierung aus. Dann hat man neben dem Tarifvertrag auch noch den Betriebsrat vom Hals. Was ist das für ein Erfin29748 dungsreichtum! Ich wünschte mir, das Gehirnschmalz würde darauf verwendet, etwas für die Kunden zu tun oder es den Frauen zu ermöglichen, Erwerbsarbeit und Familie zu vereinbaren, statt sich solchen Humbug auszudenken. ({6}) Wir brauchen andere gesetzliche Regelungen, damit so etwas nicht Schule macht. Wir brauchen Regelungen, wie sie in den heute vorliegenden Vorschlägen zur Arbeitnehmerüberlassung, Arbeitnehmerentsendung und Allgemeinverbindlichkeit zu finden sind. Zur Allgemeinverbindlichkeit, zum Thema des Antrags der SPD, muss man noch einmal deutlich machen: Wir wollen keine Mindestlohnarbeitswelt, sondern wir wollen allgemeinverbindliche Tarifverträge, die Leistungen und Erfahrungen honorieren, die Qualifikation und gute Arbeit honorieren und die Aufstieg ermöglichen. Wir wollen ein Gitter schaffen. Dieses Gitter kann man nicht schaffen, indem sich nicht tarifgebundene Unternehmen an bestehende Tarifverträge anlehnen; denn diese Unternehmen - wir alle wissen das - werden sich nur die Rosinen herauspicken, also einen Tarifvertrag à la carte machen. Das kann nicht sein. Wir brauchen eine Verbindlichkeit der Tarifverträge. Ein Tarifvertrag ist geltendes Recht und muss im Zweifelsfall auch durchgesetzt werden können. ({7}) Dann wird ein Schuh daraus; dann wird Missbrauch unterbunden, und dann wird es höhere Löhne und Einkommen geben. Das führt dann dazu, dass die Menschen, Mann und Frau, wieder Geld haben, um im Einzelhandel gute Preise für gute Ware zu bezahlen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel das Wort. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der zweiten sozialpolitischen Debatte des heutigen Tages reden wir wieder einmal über das Thema Mindestlöhne. ({0}) - Nein, Frau Kollegin, wir haben Ihre Anträge sehr wohl gelesen. Der Antrag der SPD beschäftigt sich aber eben nicht nur mit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, sondern sieht auch wieder den einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn vor. ({1}) Ich will es Ihnen noch einmal erklären. Wir können leider in ganz Europa sehen - Guntram Schneider hat heute Morgen das beste Beispiel dafür gegeben -, dass ein Einheitsmindestlohn, der am Ende im Deutschen Bundestag festgelegt wird, den Einstiegschancen schadet. Das sehen wir in Frankreich und anderen Ländern. ({2}) Ihr Sozialminister aus NRW hat sich heute Morgen hier hingestellt und gesagt: Wir wollen eine unabhängige Kommission; aber es müssen mindestens 8,50 Euro sein, da fangen wir politisch an. ({3}) Das macht doch deutlich, wo Sie hinwollen. Sie wollen politische Lohnfindung und lassen sich hier im Deutschen Bundestag von Klaus Ernst treiben. Das ist aber falsch. Wir wollen Tarifautonomie und Lohnfindung durch die Tarifpartner. Das ist der bessere Weg. ({4}) Es ist richtig, dass wir diesen Weg weitergehen, dass wir sagen: In den Branchen, in denen es Probleme gibt, kann es Lohnuntergrenzen geben, wenn sich die Tarifpartner darauf verständigen. Der Mindestlohn im Friseurhandwerk ist dafür das beste Beispiel. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Vogel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gern sogar, aber eine Frage. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sofern ich dann in Addition meiner Redezeit kurz reagieren darf, gern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Uhr ist längst angehalten.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Vogel, glauben Sie wirklich, dass die, die hier für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten, die staatliche Festsetzung aller Löhne befürworten? ({0}) Wenn Sie behaupten, wir wären für die staatliche Festsetzung der Löhne, dann würde ich Sie bitten, dafür einen Beleg vorzulegen. Es geht nicht um die Festsetzung staatlicher Löhne. Ich glaube, dass wir mit unserer Position die Tarifautonomie bei weitem mehr verteidigen als Sie. Natürlich sind wir dafür, dass im Spiel der Kräfte, in der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden - was allerdings starke Gewerkschaften voraussetzt, wenn dies Erfolg haben soll -, Tariflöhne entstehen. Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Sicherung durch eine Untergrenze. Man muss doch nicht, wenn man für einen gesetzlichen Mindestlohn ist, für festgesetzte Löhne sein. Ich weiß nicht, woher Sie diese Position haben. Ich kann nur für alle, die ich kenne, die für einen gesetzlichen Mindestlohn sind, sagen: Wir sind für die Tarifautonomie, aber auch für Lohnuntergrenzen. Das ist etwas anderes. ({1})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Ernst, erstens sehen wir zum Beispiel in Frankreich, dass der Mindestlohn sehr wohl Einfluss auf das Tarifgeflecht hat. ({0}) - Aber keinen positiven Einfluss, Herr Ernst. ({1}) Zweitens. Wir reden hier über Untergrenzen. Die Frage ist: Wer legt die Untergrenzen fest? Sie wollen ja den politischen Einheitsmindestlohn ({2}) und leiten auch schon den politischen Überbietungswettbewerb ein. Man kann schon erkennen, wie die Kollegen von SPD und Grünen mit Ihren Forderungen auf das, was Sie von der Linkspartei als Zahlen vorgeben, reagieren. Die Frage der Lohnuntergrenze ist hochrelevant, weil sie die Einstiegschancen von Menschen tangiert. Deshalb sagen wir, wenn es um Lohnuntergrenzen geht: politischer Einheitsmindestlohn, nein - tarifliche Lohnuntergrenzen, Branche für Branche differenziert, ja. Die Friseure sind doch das beste Beispiel dafür, dass reale Probleme mit diesem Ansatz gelöst werden können. Das ist der bessere Weg - Kollege Kolb hat das schon gesagt -; deshalb werden wir ihn weiter verfolgen. ({3}) In Ihren Anträgen kommt als Konglomerat so viel zusammen - leider auch viel Unsinn -, dass wir ihnen nicht zustimmen können; sie bringen uns in dieser Frage nicht weiter. Ich will zum Abschluss meiner Rede - ich habe ja nur drei Minuten - noch auf einen Punkt eingehen, den der Kollege Barthel angesprochen hat. Herr Kollege Barthel, Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass wir auf den einzelnen Arbeitgeber schauen müssen. Das tun wir ja auch. Wir reden viel darüber: Sind tarifliche Lohnuntergrenzen nicht deshalb richtig, weil es natürlich einzelne schwarze Schafe gibt? Wenn unanständig niedrige Löhne gezahlt werden, dann ist das die richtige Antwort. Deswegen hat diese Koalition die Festlegung mehrerer tariflicher Lohnuntergrenzen möglich gemacht. Sie haben so schön gesagt: Wir wollen den anständigen Arbeitgeber, und wir müssen darauf achten, dass Amazon nicht überall ist. - Das ist ein Anspruch, dem wahrscheinlich alle hier zustimmen können. Die Frage aber ist, lieber Kollege Barthel: Sollte man nicht persönlich mit bestem Beispiel vorangehen? Ich fand es verblüffend oder zumindest bemerkenswert, was wir in den letzten Tagen lesen konnten, das war ganz interessant. Uns alle erreichte wahrscheinlich - so hoffe ich - aus dem hohen Norden die Nachricht, dass Verdi für die Beschäftigten der SPD in SchleswigHolstein Arbeitskampfmaßnahmen angekündigt hat. ({4}) Lassen Sie mich zum Abschluss einige bemerkenswerte Sätze des Verhandlungsführers von Verdi zitieren. ({5}) „Wer alles gibt, hat mehr verdient!“: ({6}) Mit diesem Slogan wirbt die SPD in Schleswig-Holstein für gute Arbeit und gerechte Löhne. Der Verdi-Verhandlungsführer stellt fest: Im eigenen Hause jedoch herrschen andere Gesetzmäßigkeiten. Das will man sich nicht mehr gefallen lassen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir alle wollen anständige Arbeitgeber und keine schwarzen Schafe. Aber wenn man dafür glaubwürdig politisch eintreten will, sollte man selber mit gutem Beispiel vorangehen, auch die SPD in Schleswig-Holstein. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine durchaus lohnenswerte und auch notwendige Debatte, die wir mit Blick auf die Bundestagswahl miteinander führen. Es geht um grundsätzliche Fragen, die sich uns Wirtschafts- und Sozialpolitikern in diesem Land stellen. Um den Versuch zu unternehmen, neben den vielen Argumenten, die bereits genannt worden sind, die Debatte, die wir miteinander betreiben wollen, ein wenig fortzusetzen: Herr Kollege Schaaf, Sie haben natürlich völlig recht, wenn Sie sagen, dass es unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist, für die eine oder andere gesetzliche Schutzfunktion zu sorgen. Das machen wir mit dem Bundesurlaubsgesetz. Das stellt auch niemand in Frage. Sie wissen aber genauso gut wie ich und wie wir alle, dass es einen maßgeblichen Unterschied zwischen den Urlaubsregelungen und den Entgeltregelungen gibt, die alljährlich oder auch in einem längeren Zeitraum neu zu treffen sind. Da gibt es eine ganz andere Dynamik. Die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes stehen fest. Es wird sicherlich das eine oder andere Mal eine Anpassung vorgenommen; der eine oder andere Tarifvertrag wird auf den neuesten Stand gebracht, es gibt die eine oder andere Besserstellung; denn wir müssen ja auch auf den demografischen Wandel und die längere Lebensarbeitszeit Rücksicht nehmen. Bei den Entgeltbedingungen gibt es ständig den Bedarf, anzupassen: an die Produktivität, an die Inflation oder an die spezifische Situation einer Branche oder - wenn es ein Haustarifvertrag ist - innerhalb eines Unternehmens. Das heißt, hier muss - vielleicht nicht alljährlich, aber jedenfalls periodisch - in kurzen zeitlichen Abständen immer wieder überprüft werden: Wie groß ist der Kuchen, der zu verteilen ist? In welchem Umfang verteilen wir ihn auf welche Beschäftigtengruppen? Das findet in Deutschland in einer produktiven und auf eine ganz tolle Art und Weise funktionierenden sozialpolitischen Auseinandersetzung statt, für die uns viele bewundern. ({0}) - Doch, das stellen Sie in Frage, wenn Sie den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden entscheidende Möglichkeiten der Gestaltung nehmen wollen, indem Sie per Gesetz regeln. ({1}) Ich will Ihnen etwas sagen: Schon der Begriff „Tarifautonomie“ beinhaltet Selbstbestimmung. Wenn Sie die einschränken wollen, dann sagen Sie das auch offen. Dann reden Sie aber in der nächsten Woche am 1. Mai nicht mehr von Tarifautonomie, sondern dann sagen Sie - die Linken schreibt das in ihren Antrag -: Wir wollen ein gesetzliches System schaffen. ({2}) Wir stehen ohne Wenn und Aber dahinter, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diese Dinge alleine regeln können. ({3}) Damit ist Deutschland gut gefahren, damit sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut gefahren, und dabei sollte es bleiben. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Müller-Gemmeke?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe mich die ganze Zeit zurückgehalten, aber jetzt muss ich doch noch zwei Fragen stellen. Erstens - aber das nur am Rande -: Sie haben schon zur Kenntnis genommen, dass wir, die Opposition, eine Kommission aus Vertretern von Arbeitgeberverbänden, der Arbeitnehmerseite und der Wissenschaft wollen, die einen gesetzlichen Mindestlohn festsetzen und dann auch die Anpassungen nach oben vornehmen soll? Meine zweite Frage geht in eine andere Richtung: Sie reden die ganze Zeit davon, dass wir Löhne und Lohngrenzen festsetzen wollen. Uns liegen jetzt aber Anträge vor, bei denen es um etwas anderes geht. Wir haben Gesetze wie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder das Tarifvertragsgesetz, die klare Rahmenbedingungen dazu enthalten, wie entweder Mindestlöhne oder Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden können, sodass alle unter diesen guten Bedingungen arbeiten können. Die entsprechenden Rahmenbedingungen verändern sich. Es gibt Tarifflucht, und wir haben eine niedrigere Tarifbindung. Es geht jetzt darum, die genannten Gesetze und damit die Rahmenbedingungen an die Realität anzupassen, sodass die Tarifparteien überhaupt wieder Mindestlöhne und Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären lassen können. Es geht um eine Stärkung der Tarifpartner. Wir wollen gar nichts festlegen, sondern wir wollen die Tarifpartner stärken, und zwar mit dem Ziel, dass nicht die Arbeitgeber Erfolg haben, die Tarifflucht begehen, sondern die tariftreuen Betriebe und die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die sich wirklich noch um einheitlich gute Arbeitsbedingungen kümmern. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank für die Anregung. Ich will gerne noch einmal etwas dazu sagen. Indem Sie beginnen, einen gesetzlichen Mindestlohn festzulegen - und das wollen Sie ja offenbar, ({0}) das soll wohl nicht infrage gestellt werden, auch wenn die Grünen vor ihrem Bundesparteitag hier noch so manche Springprozession aufführen; wir warten einmal ab, was sie letzten Endes beschließen -, bekommen Sie automatisch folgenden Effekt, den auch der Kollege Vogel schon angesprochen hat: In dem Moment, in dem Sie ein Minimalniveau festlegen, wird das Auswirkungen auf das gesamte Tarifgefüge darüber haben. Außerdem wird es, wenn wir uns auf eine solche Geschichte erst einmal einlassen, selbstverständlich eine politische Debatte in Form eines Überbietungswettbewerbes geben. ({1}) Den erleben wir bei Ihnen jetzt schon. Die Grünen waren vor wenigen Wochen noch bei 7,50 Euro. Mittlerweile haben sie erkannt, dass die Sozialdemokraten bei 8,50 Euro sind, sie also aufholen müssen. Sie erhöhen ihre Forderung jetzt auch auf 8,50 Euro. Wenn Sie die Sache konsequent durchdenken, müssten Sie irgendwann die Argumentation der Linkspartei übernehmen, ({2}) die sagt: Frühestens ab einem Lohn von 10,00 Euro pro Stunde ist man nicht mehr auf staatliche Ergänzungsleistungen angewiesen. Wenn Sie ganz konsequent sind, werden Sie wahrscheinlich früher oder später diese Position übernehmen. ({3}) - Ich will das schon vor den Wahlen verdeutlichen, bei denen alle wissen sollen, worum es geht. Sie werden sich sehr schnell diesem Überbietungswettbewerb anschließen. Der Kollege Barthel hat das selber sehr deutlich gemacht, indem er in seiner Rede auf unternehmerische Gestaltungen bei Edeka und anderswo eingegangen ist und gesagt hat, er könne beurteilen, ob das Humbug ist oder nicht. ({4}) Das ist nicht unsere Aufgabe, Herr Kollege Barthel und Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Unsere Aufgabe ist es, soziale Rahmenbedingungen zu schaffen, die Armut verhindern. ({5}) In Deutschland haben wir soziale Rahmenbedingungen, nach denen sich viele Menschen auf der ganzen Erde alle zehn Finger lecken. ({6}) Dabei bleibt es auch; die stellen wir nicht infrage. Außerdem wollen Sie einige Regelungen aufgrund der von Ihnen behaupteten Tarifflucht und der aus Ihrer Sicht nicht mehr so starken Wirkung des Tarifvertragssystems ausweiten. Anknüpfend an das, was Peter Weiß schon gesagt hat, will ich Ihnen dazu zwei Dinge sagen: Erstens ist es überhaupt nicht nachgewiesen, dass die faktische Wirkung von Tarifverträgen in Deutschland nachgelassen hat. Das völlig unabhängige IAB, auf das Sie sich immer beziehen, hat festgestellt, dass für 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse nach wie vor die entsprechenden Tarifverträge maßgeblich sind. Dazu sage ich Ihnen: Das ist gut so. Das sollte man nicht infrage stellen. Hören Sie auf, das Tarifvertragssystem in Deutschland schlechtzureden! ({7}) Zweitens. Natürlich gibt es immer mal wieder schwarze Schafe. Natürlich gibt es Formen von Tarifflucht und rechtsmissbräuchliche Gründungen von Arbeitgeberverbänden - das haben wir alles erlebt -; aber wir haben auch eine Reaktion darauf erlebt - das Rechtssystem hat reagiert -: Das Bundesarbeitsgericht hat solche Vereinigungen zum Teil für rechtsunwirksam erklärt. ({8}) Das hatte zur Folge, dass entsprechende Nachzahlungen an die Sozialkassen usw. vorzunehmen waren. ({9}) Das heißt, Sie werden nie ausschließen können, dass der eine oder der andere eine Regelung missbraucht; aber wir haben funktionierende Mechanismen, bis hin zum Bundesarbeitsgericht. Das ist kein Grund, das System insgesamt zu diskreditieren. ({10}) Damit sind wir bei den Kernfragen: Was wollen wir im Bereich des Niedriglohnsektors machen, und was ist der tatsächliche Grund dafür, dass sich der eine oder die andere dort befindet? Denn das ist in der Tat nicht unbedingt wünschenswert. Wir müssen feststellen: Es verlas29752 sen mehr Menschen den Niedriglohnsektor, als Sie immer behaupten. ({11}) Das IAB hat festgestellt, dass etwa ein Viertel nach einem Jahr den Niedriglohnsektor, den Sektor des SGB-IIBezugs verlässt. ({12}) Das heißt, Wirtschaftswachstum und Stabilität des Arbeitsmarktes wirken sich auch auf Menschen in diesem Sektor aus, und das ist gut so. Das wollen wir so fortsetzen. ({13}) Frau Müller-Gemmeke, weil Sie das abschließend noch einmal angesprochen haben, möchte ich Ihnen vorhalten, was Ihr Parteikollege, Herr Boris Palmer, kürzlich gesagt hat - das sollten Sie sich bei der Formulierung weiterer Anträge vielleicht noch einmal vor Augen führen; ich zitiere wörtlich -: In der Summe machen wir damit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig, auf die wir früher zu Recht stolz gewesen sind. ({14}) Hört! Hört! ({15}) Er sagte abschließend - dem kann ich mich auch nur anschließen -: Ein Minijob oder eine Beschäftigung als Leiharbeiter bedeuten mehr Teilhabe an der Gesellschaft als gar kein Job. ({16}) Mit unseren Worten: Sozial ist, was Arbeit schafft. Wir haben für viel Arbeit in Deutschland gesorgt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/13104 und 17/13106 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 7 c. Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/10220. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8459 mit dem Titel „Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen - Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträ- gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/8148 mit dem Titel „Tarifsystem stabilisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4437 mit dem Titel „Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifi- sche Mindestlöhne erleichtern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts - Drucksache 17/11468 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 17/13272 - Berichterstattung:- Abgeordnete Peter Götz- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela Wagner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Baugesetzbuch wirklich novellieren - Drucksachen 17/10846, 17/13272 Berichterstattung:Abgeordnete Peter GötzHans-Joachim Hacker Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU Vizepräsidentin Petra Pau und der FDP sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Götz für die Unionsfraktion. ({2})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die heutige Beratung freue ich mich ganz besonders. Die geplante Fortentwicklung des Bau- und Planungsrechts hat einen längeren Entwicklungsprozess hinter sich. Als Grundlage für die Beratungen wurden mit sieben Gemeinden Planspiele durchgeführt. Dies ist eine Praxis, die sich in der Vergangenheit, die sich seit Jahrzehnten beim Städtebaurecht bewährt hat. In den letzten Wochen und Monaten gab es Zeitpunkte und Wegstrecken, bei denen Zweifel am möglichen Abschluss dieses Projekts aufkamen. Nun soll es aber gelingen. Es wäre ein toller Erfolg für viele, die daran intensiv gearbeitet haben. Ein gemeinsamer Änderungsantrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zu einem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nicht alltäglich und deshalb besonders erwähnenswert. Beim Baugesetzbuch ist mir persönlich und vielen meiner Kollegen daran gelegen, notwendige Änderungen auf eine breite politische Basis zu stellen. Denn diese Rechtsmaterie, über die wir heute abschließend beraten, ist die wesentliche Grundlage für die kommunale Planungshoheit in Deutschland. ({0}) In den Rathäusern arbeiten viele Tausend Menschen mit dem Baugesetzbuch. Es ist eines der wichtigsten Gesetze, das fast alle ehrenamtlichen Gemeinde- oder Stadträte studieren, wenn sie in ihren kommunalen Gremien über Bauvorhaben befinden. Für Investoren ist es ebenfalls von großer Bedeutung. Die beste Grundlage für eine gute Zukunft von Städten und Gemeinden ist eine nachhaltige Stadtentwicklung. Wir wollen dafür noch bessere Voraussetzungen schaffen und der Innenentwicklung künftig verstärkt den Vorrang vor der Zersiedelung des Umlandes geben. Innenstädte und Ortszentren sollen wieder Kernbereich der Stadtentwicklung werden. Sie bieten den Menschen Heimat. Urbanität, Attraktivität und Kultur stärken die Identifikation. Um die Flächeninanspruchnahme im Außenbereich zu reduzieren und eine Zersiedelung des Umlands zu vermeiden, soll die Bebauung von Wiesen, Äckern oder Waldflächen künftig stichhaltig begründet werden. Mit diesem Gesetz sollen neben der Stärkung der Innenentwicklung kommunale Selbstverwaltung in Deutschland und kommunale Planungshoheit weiter gefestigt und ausgebaut werden. Ich denke, dies ist in vielfältiger Form gut gelungen. So können Kommunen wieder rechtssicher Erschließungsverträge mit eigenen Unternehmen abschließen. Ein Investitionsstau in Millionenhöhe wird damit aufgelöst. Kindertagesstätten sind künftig in angemessener Größe in reinen Wohngebieten generell zulässig. Die Anzahl von Spielhallen und Vergnügungsstätten kann auch im nicht beplanten Innenbereich besser als bisher gesteuert werden. Ferner wird - ich nenne zusätzlich nur eines von vielen Beispielen - die Ausübung des gesetzlichen Vorkaufsrechts der Gemeinde gegenüber Dritten vereinfacht. Dies beschleunigt auch Investitionen in den Städten und Gemeinden. Für den schwierigen Komplex der Schrottimmobilien haben wir für die Kommunen eine bessere verfassungskonforme Regelung gefunden. Verwahrloste Gebäude können jetzt leichter rückgebaut werden. Dabei bekommen die Kommunen auch die Möglichkeit, Eigentümer in begrenztem und vertretbarem Umfang finanziell am Abriss zu beteiligen. Für viele Städte mit problematischen Gebieten kann diese Neuregelung das hilfreiche Instrument sein, mit dem eine nachhaltige Aufwertung ganzer Straßenzüge und Quartiere stattfinden kann. Das ist auch für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Für die Aktivitäten einer klimagerechten Stadterneuerung werden ebenfalls unterstützende Änderungen vorgenommen. In einem Entschließungsantrag haben wir die Anregungen aus dem Lebensmitteleinzelhandel aufgegriffen, die Fragen einer qualifizierten Nahversorgung im Zusammenhang mit der ohnehin anstehenden Diskussion über eine grundsätzliche Neuordnung der Gebietstypologie der Baunutzungsverordnung zu untersuchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen sehr breiten Raum in der öffentlichen und auch internen Diskussion nahm die bestehende Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich ein. Die vorgenommenen Änderungen im Planungsrecht, bei der gewerblichen Tierhaltung, werden zu einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und zu mehr Rechtssicherheit führen. Ab einer bestimmten Größenordnung entscheidet künftig der Gemeinderat einer Kommune darüber, ob und wo die Ansiedlung einer großen Tierhaltungsanlage möglich ist. Uns war es wichtig, bei diesem sensiblen Thema eine einvernehmliche Lösung zu entwickeln, die unserer heimischen Landwirtschaft den notwendigen Raum für eine Weiterentwicklung lässt. Wir haben es geschafft, über Fraktionsgrenzen hinweg in vielen Einzelfragen gute Kompromisse zu finden. Dieser wichtige Gesetzentwurf ertrinkt somit nicht im parteipolitischen Kleinkrieg. Mein Dank geht - bei allen politischen Unterschieden an den Kollegen Hans-Joachim Hacker für das in einer wahrlich nicht einfachen Gemengelage kollegiale und konstruktive Miteinander. ({1}) In diesen Dank schließe ich selbstverständlich die vielen Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ein, die sich aus unterschiedlichen Bereichen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens engagiert und eingebracht haben. Ich bedanke mich aber auch bei den Kolleginnen der anderen Fraktionen: bei Petra Müller, bei Bettina Herlitzius und bei Heidrun Bluhm. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass wir heute mit einem überzeugenden Votum des federführenden Ausschusses die Annahme des Gesetzentwurfes mit den vereinbarten Veränderungen empfehlen. Ein besonderes Dankeschön sage ich abschließend Minister Peter Ramsauer und dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak Ferlemann für die konstruktive Begleitung dieses parlamentarischen Verfahrens. ({2}) Ich bitte Sie, diesen Dank an die Mitarbeiter Ihres Ministeriums weiterzuleiten. Ich weiß sehr wohl: Wir haben es Ihnen in den letzten Monaten nicht immer leicht gemacht. ({3}) Meine Damen und Herren, ein wichtiges innenpolitisches Gesetzgebungsverfahren findet heute einen guten und erfolgreichen Abschluss. Ich empfehle deshalb uneingeschränkte Zustimmung. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege HansJoachim Hacker das Wort. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Damen und Herren auf der Zuschauertribüne! Liebe Kommunalpolitiker in Deutschland! Das ist heute ein guter Tag. Die heutige zweite und dritte Lesung der Baurechtsnovelle könnte die Überschrift tragen: „Ende gut, alles gut“. Die lange Geschichte der Novelle des Bauplanungsrechts, die uns die ganze 17. Legislaturperiode begleitet hat, geht heute dem Ende entgegen. Herr Götz, ich stimme Ihnen völlig zu: Wir haben eine gute Tradition fortgesetzt, nämlich die, dass anzustreben ist, Änderungen im Bauplanungsrecht fraktionsübergreifend zu beschließen, wie es in der Vergangenheit immer dann der Fall war, wenn es vernünftige Kompromisse gab. Nur dann ist das möglich. Ich denke, wir haben in vielen Punkten gute Kompromisse gefunden. Auf einzelne Beispiele komme ich noch zu sprechen. Hinter uns liegen 16 Monate eines zähen, harten Ringens. Daher möchte ich als Vertreter der Opposition noch ein paar kritische Anmerkungen machen - das ist in diesem Prozess wohl auch berechtigt -, die aber vielleicht eher als ein Appell an die Bundesregierung zu verstehen sind. Man hätte die SPD und die Opposition insgesamt bei diesen Themen eher einbinden können. Einen Streit hätten wir uns ersparen können, Herr Müller: In der Frage, wie weit wir an § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB herangehen, gab es im Hause Aigner eine Blockadehaltung und unnötige Verzögerungen. Man hatte den Eindruck, dass da andere Interessen als die Interessen der Allgemeinheit im Blick waren. Wie sonst kam es, dass ein Referentenentwurf, der schon in der Öffentlichkeit war - er lag bei uns in den Fraktionen und bei den Verbänden auf dem Tisch -, innerhalb weniger Stunden wieder einkassiert worden ist? Sie schmunzeln, Herr Müller: Sie wissen, wer da im Hintergrund gewirkt hat. Das wissen wir alle. Zum Glück kommen wir heute auf einem guten Weg weiter. Ich will unterstreichen, was Kollege Götz gesagt hat: Die sachliche Grundlage für den Gesetzentwurf - deswegen ist ein Großteil des Gesetzentwurfs unstreitig gewesen - ist in den sogenannten Berliner Gesprächen zum Städtebaurecht und in der Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände zu sehen. Das war eine gute Grundlage, das war der richtige Weg - ein Weg, der sich in den letzten Jahren bewährt hat. Bei der nächsten Novelle - die sicherlich irgendwann kommen wird - sollte man diese Praxis wieder betreiben. Ich will aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion die Punkte ansprechen, die uns in den Beratungen ganz wichtig waren: Die Regelung zur Intensivtierhaltung war in dem Entwurf aus unserer Sicht nicht ausreichend. Auch bei der Regelung zu den Schrottimmobilien bestand dringender Handlungsbedarf; über diese Thematik waren wir mit den kommunalen Spitzenverbänden und mit den Ländern intensiv im Gespräch. Auch im Hinblick auf Kinderbetreuungseinrichtungen waren Regelungen erforderlich. Zu Beginn dieser Legislaturperiode, Anfang 2010, habe ich einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Der Titel lautete: „Kinderlärm - Kein Grund zur Klage“. Die Koalitionsfraktionen haben diesen Antrag damals erwartungsgemäß abgelehnt. Nachdem wir eine immissionsschutzrechtliche Regelung schon vor zwei Jahren getroffen haben, werden wir hierzu heute auch eine baurechtliche Regelung treffen. Das hätten wir schon ein bisschen früher machen können. ({0}) Aber so ist das Spiel hier im Parlament: Das ist ein Denkprozess. Auch in diesem Punkt sind wir nun auf einem guten Weg. Es gibt noch ein paar kleine Kritikpunkte, auf die ich aber heute im Sinne der Sache nicht weiter eingehen möchte. Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch einige Punkte ganz konkret anzusprechen. Das, was wir heute beraten und wo ich empfehle, dass dem Änderungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDP alle zustimmen - der Appell richtet sich vor allen Dingen an Bündnis 90/Die Grünen und an die Linke -, ist das Ergebnis intensiver Verhandlungen. Ganz herzlichen Dank, Peter Götz, für Ihr konstruktives Mitwirken! Die Zusammenarbeit mit den anderen Kolleginnen und Kollegen war auch sehr vertrauensvoll. Ganz herzlichen Dank! ({1}) Herr Ramsauer, Sie haben die SPD in dieser Legislaturperiode oft enttäuscht; aber hier haben Sie Stehvermögen bewiesen gegen Frau Aigner. Das war gut so. Nehmen Sie das Lob ruhig an! Sie sehen, der Staatssekretär beglückwünscht Sie auch. Sie haben sich gegen Frau Aigner und gegen die Agrarlobby durchgesetzt; das war richtig so. Ihren Mitarbeitern - Ihren Mitarbeiterinnen natürlich auch -, die uns begleitet haben, gilt ebenso ein herzliches Dankeschön. Das war ein kollegiales Verfahren, Herr Ferlemann. Wenn uns das in anderen Verfahren auch so begleiten würde, wäre das ein gutes Aushängeschild für den Parlamentarismus in Deutschland. ({2}) Die Problematik des § 35 Abs. 1 Nr. 4 - Anlagen zur gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich war tatsächlich der Knackpunkt; das weiß jeder, der direkt oder indirekt damit zu tun hatte. Der Entwurf war aus unserer Sicht, wie gesagt, eingangs nicht ausreichend. Aber der Widerstand von Frau Aigner - wo man nicht wusste, ob sie sich auf die Seite des Verbraucherschutzes oder auf die Seite der Lobbyverbände schlägt ist überwunden worden. Im Außenbereich begrenzen nun bereits die unteren Schwellwerte des UVP-Gesetzes den weiteren Zubau von Großställen; sie sind Grundlage für die Entprivilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 4, für die Durchführung einer UVP-Prüfung - da kann man auch Beispiele nennen -: Bei Mastgeflügel ist jetzt statt bei 85 000 Stellplätzen bei 30 000 Schluss, bei Puten - um noch einmal ins Geflügelleben einzusteigen - statt bei 60 000 jetzt bei 15 000. So war das auch ursprünglich vorgesehen. Wohlgemerkt, meine sehr verehrten Damen und Herren: Bis heute, nach bisherigem Recht, gab es überhaupt keine Begrenzung. Wir haben auch für die Kumulierung eine Regelung gefunden, indem wir eine Anpassung an das Umweltverträglichkeitsgesetz vorgenommen haben. Wir haben damit eine rundum abgestimmte Regelung gefunden, und es bestehen auch keine Brüche in der Bundesgesetzgebung. ({3}) Es ist richtig, Peter Götz: Die Entscheidungsbefugnis bezüglich der entsprechenden Anlagen wird jetzt dorthin delegiert, wo sie hingehört, nämlich vor Ort. Die Kommunalpolitiker bekommen jetzt die Entscheidungsbefugnis, die ihnen zusteht. Auch deswegen ist das eine gute Lösung. Eine gute Lösung haben wir auch bei den sogenannten Schrottimmobilien gefunden. Im Regierungsentwurf war lediglich eine Ausdehnung auf die Gebiete ohne Bebauungsplan und keine Kostentragungsregelung vorgesehen. Es gab hier in der Expertenanhörung - es war gut, dass wir eine solche durchgeführt haben - unterschiedliche verfassungsrechtliche Bewertungen dazu, wie wir die Kostenproblematik in den Griff bekommen können. Am Ende wird jeder einen noch besseren Vorschlag haben. Ich glaube aber, wir haben eine verfassungssichere Lösung gefunden, einen guten Kompromiss: Die Kommunen können die Eigentümer bis zur Höhe der durch die Beseitigung der Immobilie erfolgten Wertsteigerung heranziehen. Das muss ein Grundstückseigentümer gegen sich gelten lassen, der eine Immobilie verfallen lässt. Das ist ein guter, verfassungsrechtlich sicherer Kompromiss. Die städtebaulichen Verträge über Erschließungsmaßnahmen waren ein ganz wichtiger Punkt für die Fraktionen - ich nenne hier einmal meine eigene, die SPD -, die ein starkes Herz für Kommunen haben. Viele SPDPolitiker sind in den Kommunen ehrenamtlich oder in Funktionen tätig. ({4}) Gerade eine Regelung zu diesem Punkt ist von den Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden dringend erwartet worden. Wir alle standen hier unter einem moralischen Druck, eine Lösung zu finden. Eine entsprechende Klarstellung ist uns gelungen. Die kommunalen Spitzenverbände, die Kommunen selber und die Politiker haben dringend darauf gewartet. Jetzt können auch Kommunen städtebauliche Verträge über Erschließungsleistungen mit juristischen Personen abschließen. Das ist eine wichtige Klarstellung, die in der Vergangenheit durch die Rechtsprechung ein Stück weit ausgehöhlt worden ist und unsicher war. ({5}) Auch das ist ein gutes Ergebnis. Ich hatte gesagt, die Summe der erreichten Kompromisse lässt es zu, dass heute alle Fraktionen ihre Zustimmung geben. Ein gutes Verhandlungsergebnis liegt auf dem Tisch. Deswegen richte ich meinen Appell noch einmal insbesondere an Sie, Frau Herlitzius. Sie haben auch Vorschläge gemacht und Forderungen gestellt, die im Änderungsantrag ihren Widerhall finden. Ich denke hier insbesondere an das Problem der gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich auf Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch. Wenn Sie, wie auch die Linken, dem Änderungsantrag zustimmen und damit wichtige Punkte einer Regelung zuführen, dann können Sie in der Konsequenz dem Gesetzentwurf doch nicht die Zustimmung versagen. ({6}) Gleichwohl wird es keine Gegenstimmen zum Gesetzentwurf geben. Auch das Medientheater, das von einigen Kollegen in den letzten Tagen über Agrarzeitungen schon veranstaltet worden ist - vor allen Dingen von Kollegen, die am Diskussionsprozess gar nicht beteiligt waren -, muss uns nicht irritieren. Es gehört eben auch zum politischen Geschäft, Peter, dass man sich mit Lorbeeren schmückt, die man selber nicht einmal gepflückt hat. ({7}) Es handelt sich insgesamt um eine gute Regelung. Der Kompromiss kann sowohl in den Kommunen als auch bei den Vertretern des Verbraucher- und Tierschutzes, aber auch - das sage ich nicht zuletzt, sondern da gehört es zuallererst hin - vor den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes gut vertreten werden. Ich finde, dass die parlamentarischen Beratungen und die Ergebnisse, die wir hier heute vorgelegt haben, gute Beispiele für die parlamentarische Arbeit im Deutschen Bundestag sind: gegen engstirniges Denken, wo immer es aufgetreten ist, auch gegen die Interessen von Lobbyisten, die sich einmischen und versuchen, Parlamentarier zu vereinnahmen. Wenn dies die parlamentarische Arbeit in diesem Hause stärker prägen würde, ohne damit politische Unterschiede zu verkleistern, dann würden wir für unsere Arbeit noch ein Stück mehr Akzeptanz in der Gesellschaft finden. An die Bundesregierung richtet sich der Appell, Herr Ramsauer, die Opposition ernst zu nehmen, uns immer frühzeitig einzubinden und uns auf Fragen, die wir haben, ordentliche Antworten zu geben. ({8}) Diese Antworten sind manchmal kritikwürdig; das könnte ich Ihnen seitenweise belegen. Hier geht es um das Bauplanungsrecht. Wir haben gute Gründe, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Für meine Fraktion sage ich: Wir sind ein Stück weit stolz auf das Erreichte, weil wir für bestimmte gesellschaftliche Gruppen und für Kommunen ein gutes Ergebnis erzielt haben. Noch einmal ganz herzlichen Dank all jenen, die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben. Dir, Peter Götz, ganz herzlichen Dank für deine Mitwirkung. Du hast es in deiner eigenen Fraktion und mit der Landesgruppe der CSU nicht einfach gehabt. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dafür meine Anerkennung und alles Gute! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Petra Müller hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Verabschiedung der zweiten Novelle des Baugesetzbuchs gehen wir einen großen und bedeutenden Schritt hin zu einem modernen, nachhaltigen und zukunftsorientierten Stadtbaurecht. Ich glaube, das ist die wichtige Botschaft des Tages. Ich will mit dieser Rede aber nicht gleich schon enden, nachdem die Kollegen uns das bereits so ausführlich erklärt haben. Was ganz wichtig war - das möchte ich auch noch einmal betonen -: Wir sind diesen Schritt gemeinsam gegangen. Wir haben Kompromisse geschlossen und Lösungen gefunden, und das nicht nur in diesem Hohen Hause, in den Ausschüssen, sondern auch in Gesprächen mit den Fachverbänden - auch das sei noch einmal erwähnt -, mit der Wohnungswirtschaft, mit den Kommunalverbänden, mit den Ländern. Wir haben Planspiele in den Kommunen durchgeführt. Wir haben uns fraktionsübergreifend verständigt. Der Dank der FDP-Bundestagsfraktion geht daher erst einmal an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hohen Hause, an den Minister Dr. Peter Ramsauer, an die Staatssekretäre, an die Vertreter der Länder, an die Verbandsvertreter und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BMVBS. Sie mussten für uns teilweise über das Wochenende neue Entwürfe erstellen. Nichtsdestotrotz: Wir haben 16 Monate gebraucht. Vielen Dank Ihnen allen! ({0}) Ich denke, wir alle können mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sehr zufrieden sein. Er stärkt die kommunale Selbstverwaltung für die Städte und Gemeinden. Er schafft Rechtssicherheit in vielen Fragen - ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt - und, das freut die FDP besonders, gibt ein wichtiges Signal an Investoren. In der Kürze der Zeit möchte ich einige Punkte herausgreifen, die uns besonders wichtig sind, aber zuvor nicht vergessen, die Inhalte, die dieses Gesetz ausmachen, und die damit verbundenen Ziele aufzugreifen: die Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich, die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen - auch ein ganz wichtiger Punkt in diesem Gesetz -, die Regelungen zur besseren Steuerung der Ansiedlung von Vergnügungsstätten durch die Kommunen - dazu gab es auch einmal einen Antrag der Grünen, nicht wahr? -, die Erweiterung der Vorkaufsrechte der Gemeinden zugunsten Dritter. Erlauben Sie mir, zu zwei Punkten zu kommen, die ich näher erklären möchte. Es gibt zum einen die Regelung für die sogenannten Schrottimmobilien in § 179 Baugesetzbuch. Die Änderung dieser Vorschrift kommt vielen Händlern, Kaufleuten und Besitzern von Immobilien in Innenstädten zugute. Denn diese Schrottimmobilien verpesten ihr Umfeld. Sie entwerten dieses Umfeld. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, über den wir nachher abstimmen, regelt das Rückbaugebot auch außerhalb eines Bebauungsplanes. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Er regelt Petra Müller ({1}) aber noch etwas: Er regelt die finanzielle Beteiligung der Immobilienbesitzer. Denn wenn sie beim Rückbau einer Schrottimmobilie einen Gewinn machen, dann werden sie von den Kommunen künftig mit zur Kasse gebeten. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch im Hinblick auf die Eigenständigkeit der Städte und Gemeinden. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Lösung, die ich Ihnen gerade vorgestellt habe, ausdrücklich, weil sie im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates verfassungstreu und gerecht ist. ({2}) Aber diese Regelung gibt den Kommunen noch mehr: Sie gibt ihnen Handlungsfähigkeit, sie entlastet sie finanziell, wie ich eben ausgeführt habe, und sie sichert sie rechtlich ab. Das Ergebnis wird wachsende Attraktivität von Städten und Gemeinden sein. Das ist doch genau das, was wir alle wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Punkt: Mit der Änderung der Erhaltungssatzung in § 172 BauGB stellen wir uns, die FDP-Bundestagsfraktion und auch die christlich-liberale Koalition, an die Seite der Wohnungswirtschaft und der Immobilienbesitzer. Hier geht es um die Erhaltung und die Sanierung von Immobilien. Regelungswut und moralische Entrüstung erreichten ja in den letzten Monaten Höchststände; ich nenne die Stichworte „Luxussanierung“ und „Genehmigungsverbote“ und das Beispiel des Pankower Bürgermeisters, der eine Milieuschutzsatzung erlassen hat. Was hat er damit erreicht? ({3}) - Das mag sein. - Er hat unter anderem erreicht, dass nicht energetisch saniert werden kann. Genau um diesen Punkt haben wir uns gekümmert. Es wurde ein Genehmigungsanspruch geschaffen, der dem Vermieter erlaubt, bauliche Maßnahmen zu ergreifen, die dem Mindestmaß der EnEV entsprechen. ({4}) Damit wird einem sinnlosen Handeln einiger Bürgermeister nicht nur im Berliner Bereich der Riegel vorgeschoben. Ich glaube, auch dies ist eine ganz wichtige Botschaft dieser Gesetzesnovelle. ({5}) Mit der im BauGB getroffenen Regelung haben wir einem wichtigen Anliegen, der Stärkung der Innenstädte, Rechnung getragen. Ziel der schwarz-gelben Koalition war es auch, die Neuinanspruchnahme von Flächen einzudämmen. Flächenverbrauch auf der grünen Wiese wird jetzt weitestgehend vermieden. Auch dies ist ein wichtiger Punkt, der in diesem Gesetz gelungen ist. ({6}) Ich habe eben schon darauf hingewiesen: 16 Monate Verhandlungen. Das macht deutlich, dass wir es uns nicht leicht gemacht haben. Es macht aber auch deutlich, welch hohen Stellenwert dieses Baugesetzbuch fraktionsübergreifend hat. Es ist eine gute Tradition - Peter Götz und Kollege Hacker haben es eben gesagt -, dass insbesondere solche Regelungen für Städte und Gemeinden im Konsens getroffen werden, weil sie von großer Wichtigkeit sind. Ich hoffe, dass diese Tradition bei der nächsten Baugesetzbuchnovelle, die natürlich erst in zehn Jahren kommen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch weiterhin in diesem Haus Bestand haben wird. Ich danke allen Beteiligten und bedanke mich auch für Ihre Aufmerksamkeit. - Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Baugesetzbuch ist die gesetzliche Grundlage für alles, was in Deutschland geplant und gebaut wird. Es ist nicht nur die Fibel für den planenden und bauenden Berufsstand sowie die Genehmigungsbehörden der Kommunen, nein, was wir hier alles zu regeln haben, hat auch Auswirkungen auf das Leben der Menschen, also auch auf die Nutzer des Gebauten, sowie auf die Umwelt. Konkret untersetzt wird das Baugesetzbuch durch länderspezifische Landesbauordnungen, um den regionalen Besonderheiten an dieser Stelle auch gerecht zu werden. Somit ist nicht nur der Bund, sondern sind auch die einzelnen Bundesländer in besonderer Planungsverantwortung für ihre Regionen. Die allgemeingültigen Standards aber für das Bauen werden durch das Baugesetzbuch für alle vorgegeben. Diese Standards sind von Zeit zu Zeit zu überprüfen, sie sind den sich entwickelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Das wollen wir mit der heute hier zu verabschiedenden Novelle erreichen. Dabei dürfen wir nicht nur den Wünschen derer nachgeben, die bauen wollen, sondern müssen auch immer eine Güterabwägung hinsichtlich der Umwelt und derjenigen vornehmen, die mit dem Gebauten täglich leben sollen und die auch ertragen müssen, was gebaut ist. Vor allem aber müssen wir die gesamtgesellschaftlichen Ziele im Auge haben, auf die wir uns alle gemeinsam mehrheitlich verständigt haben. Aus dieser Betrachtung heraus sagt auch die Linke: Ja, wir haben mit den vorliegenden Änderungen des Baugesetzbuchs den notwendigen Änderungsbedarf erfasst. Herr Götz hat gestern im Ausschuss gesagt, Qualität gehe vor Geschwindigkeit. Er hat damit gemeint, dass wir etwas länger gebraucht haben, um zu diesem gemeinsamen Kompromiss zu kommen. Auch von mir deshalb an dieser Stelle ein Lob für das Bemühen, die Opposition auf den Weg zu dieser Novelle, zu diesem Entwurf, mitzunehmen. Umfangreicher kann ich wegen der Redezeit meinen Dank nicht ausfallen lassen. ({0}) Ja, wir haben bei vielen Fragen einen Konsens gefunden, so zum Beispiel beim Vorrang der Innenentwicklung vor der Bebauung des Außenbereichs. Wir haben den Kommunen einen Umgang mit sogenannten Schrottimmobilien ermöglicht, ihnen die baurechtliche Planungskompetenz erleichtert und vor allem strittige Paragrafen so konkretisiert, dass sie jetzt nicht mehr vor Gericht ausgeurteilt werden müssen. Auch die längst überfällige Klärung zum Bau und zu dem Betrieb von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten ist hier schon angesprochen worden. Auch dieser Punkt ist in der Vorlage aufgegriffen worden; das loben wir. Was aber eine wirklich revolutionäre Leistung dieser Novelle des Baugesetzbuches für uns ist, ist, dass wir explizit die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen in einer ganz neuen Qualität festgeschrieben haben. Das ist etwas Neues. Das ist sicherlich für uns alle ein wichtiger Moment. ({1}) Selbst auf die vieldiskutierte Frage nach Ausmaß und Größe industrieller Tierhaltung wird mit dieser Novelle eine Antwort in die richtige Richtung gewiesen, wenn auch die Massentierhaltung in Deutschland damit noch nicht vom Tisch ist. Diesem Vorschlag hat sogar der Landwirtschaftsausschuss zugestimmt. Noch einmal zu Herrn Götz. Er hat sich bei allen Fraktionen für den gefundenen Konsens bedankt. Dazu sage ich: Bitte schön, Herr Götz, das ist gern geschehen. Ich sage aber auch: Wir haben zu vielen Fragen einen Konsens gefunden, weil sich alle bewegt haben. Leider ist Ihnen das in einer für uns sehr wichtigen und wesentlichen Frage nicht gelungen. Deshalb können wir uns bei der heutigen Abstimmung über die Novelle leider nur der Stimme enthalten. ({2}) Mit unserem Antrag „Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln“ haben wir seinerzeit beantragt, die von Deutschland unterzeichnete UN-Konvention zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen auch im Baugesetzbuch sicherzustellen. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt; das sind wir allerdings gewohnt. Aber Sie hätten jetzt bei der vorliegenden Novelle die Gelegenheit gehabt, diese selbstverpflichtende Konvention aufzunehmen. Mit dem Hinweis, dass das in den Landesbauordnungen geregelt werden kann, haben Sie unsere Bitte abgetan. Damit entziehen Sie sich leider der Verwirklichung des Grundrechts auf Barrierefreiheit auf Bundesebene und überlassen das dem Ermessen der Länder. Sie entziehen sich der Verpflichtung, die Rechte und Belange älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung in angemessener Weise zu sichern, und bleiben ihnen damit gleichberechtigte Teilhabe deutschlandweit schuldig. Sie entziehen sich der Pflicht, bei Bau- und Infrastrukturvorhaben deren Barrierefreiheit oder Barrierearmut sicherzustellen, und schließen somit einen wachsenden Teil unserer Menschen aus. Diese Menschen teilhaben zu lassen, ist jedoch grundlegende Aufgabe eines Sozialstaates. Das haben Sie verpasst - leider. ({3}) Aber bei der nächsten Novelle - Frau Müller, da widerspreche ich Ihnen; sie wird nicht zehn Jahre dauern werden wir dieses Ziel weiter verfolgen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister Dr. Peter Ramsauer. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich könnte beinahe sagen: Das ist für mich heute eine wirkliche Wohlfühldebatte, ({0}) wie sie selten vorkommt. Ich kann mich kaum an eine solche Debatte in meinen 23 Jahren im Deutschen Bundestag erinnern. Dazu gehört auch die Feststellung, lieber Herr Kollege Hacker - das ist quasi eine Selbstverpflichtung für uns -, dass wir seitens der Bundesregierung natürlich alle Ihre Fragen immer vollumfänglich beantworten werden, ({1}) sofern Ihre Fragen zur Beantwortung geeignet sind. ({2}) Meine Damen und Herren, es geht uns im Kern bei diesem Gesetz, wie es der Titel des Gesetzes auch besagt, um die Stärkung der Innenentwicklung unserer Städte und Gemeinden. In Anbetracht der kommunalen Entwicklung in ganz Deutschland - das kann ich aus jahrelanger Erfahrung in der Kommunalpolitik sagen - sowie dessen, was sich in den letzten zehn Jahren im Außenbereich getan hat, müssen wir alles dafür tun, dass sich unsere Ortskerne strukturell so entwickeln, dass auch das soziale Herz, das kulturelle Herz eines Ortes im innerörtlichen Bereich weiter schlagen kann, sich hier also das wirkliche Leben eines Ortes abspielen kann; denn das soziale und kulturelle Leben sowie Geschäftigkeit und Lebendigkeit eines Ortes kann man nicht an Autobahnausfahrten oder auf die grüne Wiese verlagern. Das ist ein wichtiges Kernanliegen. ({3}) Der Kollege Franz-Josef Holzenkamp wird gleich noch die Punkte im Detail beleuchten, die die Landwirtschaft betreffen. Nur so viel: Wir haben auch zwei wichtige Anliegen der Landwirtschaft aufgegriffen. So sind wir der in immer stärkerem Maße erhobenen Forderung des Deutschen Bauernverbandes nachgekommen, den zusätzlichen Flächenverbrauch außerhalb der Orte, also die vielen Hektar, die täglich in unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen werden, zu reduzieren, indem wir den Kommunen mehr Möglichkeiten der baulichen Gestaltung der Innenstädte - ich nenne als Stichworte „Schrottimmobilien“ und „Verdichtung“ - gegeben haben. Als ich als 24-Jähriger zum ersten Mal in den Stadtrat meiner Heimatstadt gewählt wurde, habe ich mir schon damals gedacht, welch fürchterliche Hürden und Hindernisse beim flexiblen Bauen im Außenbereich das Baurecht für die insbesondere für landwirtschaftliche Familien existenzielle Entwicklung bereithält. Ich war immer überzeugt: Wenn wir den Strukturwandel in der Landwirtschaft zulassen und ihn den landwirtschaftlichen Familien - so weit gehe ich mit meiner Aussage - zumuten, dann müssen wir diesen Familien aber auch im landeskulturellen Interesse die baurechtlichen Möglichkeiten geben, ihre landwirtschaftlichen Anwesen ordentlich zu erhalten und ihre familiären Existenzen zu sichern. ({4}) Das bedeutet oft, eine Umnutzung zur Existenzerhaltung zu ermöglichen. Genau diesen Weg gehen wir. In Zukunft werden wir es erleichtern, landwirtschaftliche Anwesen anders zu nutzen, wenn in etwa die Kubatur und das Äußere eines Gehöfts erhalten bleiben; denn landwirtschaftliche Anwesen prägen das Gesicht unseres Landes und sind identitätsstiftendes Merkmal unserer deutschen Kulturlandschaften in all ihren Ausprägungen. ({5}) Nachdem der Kollege Peter Götz zu erkennen gegeben hat, dass er dem nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören wird, dir, lieber Peter Götz, von mir persönlich und auch im Namen der Bundesregierung ein herzliches Dankeschön oder - wie wir im Süden sagen - „Vergelt’s Gott“ für deine großartige Arbeit. ({6}) Ich kann mich gut erinnern: Als wir vor 23 Jahren gemeinsam in den Deutschen Bundestag einzogen, warst du schon das kommunalpolitische und baurechtliche Herz und Gewissen unserer Fraktion. Dass wir heute in zweiter und dritter Lesung dieses schwierige Werk über alle Fraktionsgrenzen hinweg abschließen können, ist neben dem Verdienst der bereits Genannten vor allen Dingen dein großartiges Verdienst. Dafür herzlichen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt Bettina Herlitzius für Bündnis 90/ Die Grünen.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie kennen mich auch schon ein paar Jahre. Insofern erwarten Sie, glaube ich, jetzt von mir nicht, dass ich in diesen schwarz-rot-gelben Honeymoon einstimme. ({0}) Ich muss leider noch einmal ein Jahr zurückblicken. Vor gut einem Jahr haben Sie uns einen Gesetzentwurf zum Baugesetzbuch vorgelegt, der wirklich grottenschlecht war. ({1}) Wir haben damals lange darüber debattiert. Seitdem ist sehr viel Zeit vergangen. Je näher wir aber der Bundestagswahl kommen, desto mehr wird Ihnen klar, dass Sie mit einem solch schlechten Gesetzentwurf nicht an die Öffentlichkeit gehen können. Auf unser Drängen und unsere guten Anträge hin haben Sie in einigen Punkten nachgebessert. ({2}) Jetzt gibt es endlich eine Klarstellung zur Zulässigkeit von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten. ({3}) Auch sollen nun die Besitzer an den Kosten für den Abriss von Schrottimmobilien beteiligt werden. Das war vor einem halben Jahr für die FDP noch undenkbar. ({4}) Zur Massentierhaltung hatte der Kabinettsentwurf eine reine Augenwischerei vorgesehen. Mit dem aktuellen Änderungsantrag wird nun erstmals ein wirkungsvoller Ansatz gewählt. Doch der Durchbruch ist das noch lange nicht. ({5}) Den Durchbruch würden Sie erreichen, wenn Sie unserem entsprechenden Entschließungsantrag zustimmen würden. Darin wird deutlich, was wichtig ist und worauf es ankommt. Unter dem falschen Deckmantel der bäuerlichen Landwirtschaft bleiben weiterhin zahlreiche Riesenställe in Mecklenburg und in Brandenburg privi29760 legiert. Die Haltung von 85 000 Hähnchen in einem Stall ist nach wie vor möglich. Unter bäuerlicher Landwirtschaft verstehen wir Grüne etwas anderes, Herr Minister. ({6}) Wir haben heute schon viel Lob über das Verfahren gehört. Sie sind stolz auf die Beteiligung der Kommunen im Planspiel und die umfangreiche Verbändeanhörung. Doch echte Beteiligung sieht anders aus, Herr Götz, Frau Müller. ({7}) Beteiligen ist nicht nur einladen. Zum Beteiligen gehört auch das Zuhören. Haben Sie die Proteste der Verbände gegen den Ersatzneubau im Außenbereich wahrgenommen? ({8}) Alles das, was der Herr Minister gerade als identitätsstiftende Baukultur bezeichnet hat, haben die Verbände abgelehnt. ({9}) Vom Bundesrat über den Naturschutzbund bis hin zum Bauernverband - selten waren sich Experten bei einem Thema im Baugesetzbuch so einig: Der Ersatzneubau im Außenbereich, den Sie vorschlagen, fördert die Zersiedlung; der Ersatzneubau im Außenbereich gefährdet erhaltenswerte Bausubstanz, die identitätsstiftende Baukultur kann zerstört werden; und der Ersatzneubau im Außenbereich ist ein Privatwunsch des Ministers, ein Geschenk an seinen Wahlkreis. ({10}) Eine solche privat motivierte Gesetzesänderung habe ich hier in diesem Hause noch nicht erlebt. ({11}) So etwas hat in der Baugesetzbuchnovelle nichts zu suchen. Das sind politische Geschenke, die uns alle in Verruf bringen. Die Neuregelung zum Ersatzneubau gehört ersatzlos gestrichen. ({12}) Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir dem Gesetz nicht zustimmen. Es bleiben zu viele Punkte offen. Mit der Novelle wird eine große Chance vertan. Die Gemeinden brauchen dringend Instrumente zur qualitativen Innenentwicklung. Dazu müssen Mietobergrenzen - ich erinnere an die Debatte hier in Berlin - für Sanierungs- und Milieuschutzgebiete wieder zugelassen werden. Damit können Bewohner vor Verdrängung aus ihrem Stadtviertel geschützt werden. Das ist ein richtiger, ein wichtiger Baustein für eine attraktive Städte- und Gemeindepolitik. In der letzten Baugesetzbuchnovelle haben Sie ursprünglich ein bemerkenswertes Instrument vorgeschlagen: Sanierungsgebiete für den Klimaschutz. Das ist ein so grünes Instrument, grüner geht es gar nicht. Damit könnte man die neuen Instrumente der Bundesförderung und die bewährten Instrumente der Städtebauförderung gemeinsam für einen sinnvollen Klimaschutz in den Kommunen verwenden. Dieser Ansatz war sehr innovativ, aber Sie haben ihn buchstäblich in letzter Minute auf Drängen der Lobbyisten wieder zurückgezogen. ({13}) Wer macht bei Ihnen eigentlich die Politik? Haus & Grund? ({14}) Dabei brauchen die Kommunen bei der energetischen Neuausrichtung unserer Städte und Gemeinden dringend unsere Unterstützung. Aber Sie lassen sie im Städtebaurecht im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen. Ein weiteres Thema, das Sie in Ihrem Koalitionsvertrag groß angekündigt haben, ist die Baunutzungsverordnung. Aber daraus ist nichts geworden. Papier ist geduldig, auch das Papier von Koalitionsverträgen. Das, was Sie uns vorlegen, ist Stückwerk. Sie fordern eine Studie zum Einzelhandel. Dabei wird das der Thematik nicht gerecht. Damit beruhigen Sie höchstens die Einzelhandelslobby. Doch die Debatte zur Baunutzungsverordnung darf nicht auf diesen Teilaspekt reduziert werden. Wir brauchen eine zeitgemäße Baunutzungsverordnung, die nicht mehr auf den Leitbildern der 60er-Jahre beruht. ({15}) Insgesamt sind wir von der Novelle enttäuscht. Bei der Innenentwicklung der Städte und beim Schutz der kleinen Städte und Gemeinden vor Agrarfabriken gibt es noch viel zu tun. Auch wenn Sie mit Ihrem Änderungsantrag

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- einen Satz noch? -, den wir unterstützen, einiges korrigiert haben, so haben Sie mit dieser Novelle - wie bei vielen anderen Novellen, die Sie in letzter Zeit vorgelegt haben - eine Chance einfach verstreichen lassen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nachhaltige grüne Stadtpolitik sieht anders aus. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Franz-Josef Holzenkamp. ({0})

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch für mich ist die heutige Debatte ein absolut freudiger Anlass. Es geht richtig friedlich und sachlich zu. Das ist nicht unbedingt Tagesgeschäft. Ich freue mich insbesondere deshalb, weil es gelungen ist - trotz Vorwahlkampfzeit, wenn man das so sagen darf -, die gute Tradition, eine Novellierung im großen Konsens durchzuführen - die wir gerade beim Baugesetz immer gepflegt haben -, fortzusetzen. Das ist gut für unser Land, das ist gut für die Planungssicherheit vor Ort, sorgt für mehr Gestaltungsfreiheit für unsere Kommunen und letztlich auch für mehr Investitionssicherheit für unsere Wirtschaft. Auch von mir ein herzliches Dankeschön an alle Beteiligten, an alle Berichterstatter, an alle, die da mitgewirkt haben - insbesondere an das Ministerium, an Bundesminister Peter Ramsauer, aber auch an Enak Ferlemann als Staatssekretär. Herr Bundesminister, Sie sind heute ja fast schon seliggesprochen worden, ({0}) aber in diesem Fall haben Sie es auch wirklich verdient, oder? ({1}) Das meine ich jedenfalls. Die Landwirtschaft ist von dieser Novelle in besonderem Maße betroffen. Deshalb möchte ich auf ein paar Punkte eingehen. Zunächst einmal möchte ich kurz etwas zum Thema Flächenverbrauch sagen. Peter Ramsauer hat das angesprochen: Wir verbrauchen in Deutschland immer noch 80 bis 90 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche pro Tag. Unser Ziel ist es, den Flächenverbrauch zu reduzieren. ({2}) Um dies hinzubekommen, bedarf es vieler Stellschrauben. Eine Stellschraube nutzen wir mit dem Baugesetzbuch, weil wir die Kommunen verpflichten, genauer zu prüfen, ob zunächst nicht Flächen innerhalb der Kommune - Stichwort „Innenentwicklung“ - bebaut werden können, bevor man in den Außenbereich geht. Des Weiteren müssen die Kommunen künftig die agrarstrukturellen Belange bei den Kompensationsmaßnahmen stärker berücksichtigen. Zusammenfassend kann man also sagen: Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Das ist der richtige Weg, vor allen Dingen angesichts der demografischen Entwicklung in unserem Land. ({3}) Damit ist das Flächenproblem natürlich noch nicht komplett gelöst - das ist richtig -, aber es ist ein guter Schritt nach vorn. Ein Hinweis ist mir noch wichtig, weil ich manchmal darauf angesprochen werde oder es mir vorgehalten wird: Dies ist nicht gegen den Naturschutz gerichtet, sondern wir wollen den Naturschutz qualitativ verbessern. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten - insbesondere mit Geldersatzleistungen. Ich will auch noch einmal das Thema Umnutzungen unterstreichen. Peter Ramsauer hat auch das angesprochen, und ich bin dem Minister sehr dankbar dafür, dass er sich hier eingesetzt und engagiert hat. Wir können bei dem stattfindenden Strukturwandel im ländlichen Raum mehr machen. Das bedeutet mehr Erhalt von Gebäudesubstanz und mehr Vielfalt im ländlichen Raum. Das ist gut für den Erhalt unserer Dörfer. ({4}) Bei den Biogasanlagen haben wir mehr Flexibilisierung ermöglicht. Künftig kann, und zwar ohne Überschreitung der zulässigen Jahresmenge, der Strom dann produziert werden, wenn er tatsächlich gebraucht wird. Das ist wieder ein kleiner Schritt in Richtung mehr Effizienz, und deshalb ist es ein guter Schritt. Meine Damen und Herren, ich will auch auf das Thema Privilegierung eingehen. Um es vorwegzunehmen: Ich denke, es ist gelungen, einen vernünftigen Kompromiss zu finden. Einerseits haben die Kommunen mehr Steuerungsmöglichkeit. Sie können künftig einfacher entscheiden, ob größere Ställe zu den örtlichen Strukturen passen oder nicht. Andererseits geht es darum - das ist uns im Sinne der Landwirtschaft ein besonderes Anliegen -, dass man kleine, flächenarme Betriebe schützt. Jetzt komme ich zu Ihrem Entschließungsantrag. Ich finde, Sie müssen neu überlegen; da sollten Sie noch einmal tiefer einsteigen. Voraussetzung für eine Privilegierung soll sein - das schlagen Sie beispielsweise vor -: 50 Prozent des Futters muss selbst angebaut worden sein. Das klingt wunderbar. Aber ein Landwirt kann das Futter dann beispielsweise nicht mehr vom Nachbarn kaufen; er muss es selbst anbauen. ({5}) Was bedeutet dieser Zwang gerade für kleinere, flächenärmere Betriebe? Sie verlieren ihren Schutz, ihre Privilegierung. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht zu Ende gedacht. Wenn man das weiterspinnt, führt das zum Schluss zurück zum Großgrundbesitzertum. Ich denke, wir alle wollen eine solche Entwicklung in unserem Land nicht. ({6}) Was passiert, wenn dem kleineren Landwirt eine Pachtfläche gekündigt wird? Der Pachtanteil in Deutschland beträgt bis zu 70 Prozent; es ist also ein sehr hoher Pachtanteil. Wenn Pachtflächen gekündigt werden, verliert der Landwirt seine Privilegierung, und dann fällt er auch als kleinerer Landwirt automatisch in die Gewerblichkeit. Da wollen wir einen Schutz erreichen. Deshalb haben wir diesen Kompromiss gemacht. Das war eine lange Diskussion. Wir wollen den Strukturwandel nicht zusätzlich anfeuern. Sie haben die Megaställe insbesondere in Ostdeutschland angeführt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch heute gibt es da schon Steuerungsmöglichkeiten. Ich kenne das aus meiner Region, wo schon seit über zehn Jahren gesteuert wird. Wenn man will, dann geht das, meine Damen und Herren. Wir haben ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Kompromiss“ heißt „Es bewegen sich alle“. Es haben sich alle bewegt. Vielen Dank dafür! Ich bitte um breite Zustimmung. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/13272, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11468 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen will, der möge das mit dem Handzeichen deklarieren. - Die Gegenstim- men? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzent- wurf in zweiter Beratung angenommen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen; alle übrigen haben zugestimmt. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu- stimmen will, möge sich bitte erheben. - Die Gegenstim- men? - Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Ent- schließungsanträge. Zunächst Abstimmung über den Entschließungsan- trag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/13281. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch CDU/ CSU, FDP und Linke angenommen. Gegenstimmen gab es keine. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13282. Wer stimmt für die- sen Entschließungsantrag? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linke haben zugestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/13272 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10846 mit dem Titel „Baugesetzbuch wirklich novellieren“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions- fraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke gestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthal- ten. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c so- wie Zusatzpunkt 8 auf: 9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Brugger, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine bewaffneten Drohnen für die Bundes- wehr - Internationale Rüstungskontrolle von bewaffneten unbemannten Systemen voran- bringen - Drucksache 17/13235 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Beschaffung unbemannter Systeme überprüfen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt - zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({4}) Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme - Drucksachen 17/9414, 17/6904, 17/11083 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Reinhard BrandlDr. Hans-Peter BartelsRainer ErdelPaul Schäfer ({5})- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({7}), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr - Drucksachen 17/12437, 17/12725 Berichterstattung:Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({8})Rainer ArnoldRainer ErdelPaul Schäfer ({9})Agnes Brugger ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampfdrohnen - Drucksache 17/13192 Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuss hat gemeinsam ein Gutachten zu „Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme“ initiiert. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass wesentliche ethische, menschen- und völkerrechtliche Fragen in Bezug auf den Einsatz bewaffneter unbemannter Systeme zu prüfen und zu diskutieren sind. Diese Schlussfolgerungen haben wir in unserem ersten Antrag vom April 2012 aufgegriffen. In den Ausschussberatungen haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sehr deutlich gemacht, dass Sie diese Prüfung nicht wollen. Das halten wir für falsch. ({0}) Ein Aspekt, der bisher in der Diskussion um bewaffnete Drohnen zu kurz kommt, ist die absehbare technologische Entwicklung. Viele Experten halten eine zunehmende Automatisierung dieser Systeme für zwangsläufig. Die Debatte aus den Militärkreisen in den USA weist auch genau in diese Richtung. Deshalb müssen wir in weiser Voraussicht dafür sorgen, dass die Entscheidung über den Einsatz militärischer Gewalt beim Menschen verbleibt und nicht auf ein autonom agierendes System übertragen wird. Wir müssen uns auf internationaler Ebene für die Ächtung autonomer bewaffneter Systeme einsetzen. ({1}) Auch im Hinblick auf diese erschreckende Vorstellung, dass bald Programme und nicht Menschen über den Einsatz von Waffengewalt entscheiden, wäre ein deutscher Einstieg in die bewaffnete Drohnentechnologie alles andere als unproblematisch. Aber auch die jetzt verfügbaren bewaffneten Drohnen sind nicht einfach eine Variante eines bereits bestehenden Systems. Bewaffnete Drohnen stellen eine technologische Entwicklung dar, die den Einsatz militärischer Gewalt und die Kriegsführung ganz erheblich verändert. Das hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die politischen Entscheidungen über ihren Einsatz. Mit der Ansicht, es würde keine Rolle spielen, ob wir über die Entsendung von Soldaten oder von Maschinen abstimmen, macht man es sich zu leicht. Dort, wo bewaffnete Drohnen heute mehrheitlich eingesetzt werden, nämlich für die sogenannten gezielten Tötungen durch die USA, erleben wir doch gerade eine Aushöhlung des Völker- und Menschenrechts. ({2}) In einer Untersuchung dieser höchstumstrittenen Praxis kommt der UN-Sonderberichterstatter Alston zu dem Ergebnis, dass zwischen der Technologie und der Entscheidung über die gezielten Tötungen ein Zusammenhang besteht. Die Möglichkeit des risikoärmeren Tötens verleite politische Entscheider, die rechtlichen Regelungen über den Einsatz militärischer Gewalt zu weit auszulegen. Mit anderen Worten: Die Verfügbarkeit bewaffneter Drohnen befördert das Risiko, dass die Hemmschwelle zum Einsatz von militärischer Gewalt sinkt. Das sollte und darf man nicht einfach ignorieren. ({3}) Die Behauptung, das könne uns mit unserer Tradition der demokratischen Kontrolle nicht passieren, ist leichtgläubig. Oder wollen Sie behaupten, politische Kontrolle sei den USA fremd? Natürlich wäre die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr auch ein Signal für andere Staaten. Wir müssen doch nicht erst in die Geschichtsbücher schauen, um uns klarzumachen: Wenn man sich nicht rechtzeitig um Regelungen und Begrenzungen für eine neue Waffentechnologie bemüht, son29764 dern dieser blind hinterherrennt, dann feuert man den gleichen Beschaffungsdrang auch bei anderen an. Die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, die Gefahr einer neuen Aufrüstungsspirale, ist deshalb nicht kleinzureden, sondern ernst zu nehmen. ({4}) Mit diesen und weiteren Fragen haben wir Grüne uns sehr intensiv auseinandergesetzt. Ein Mitglied der Unionsfraktion ließ dagegen Ende März verlauten, dass aus den eigenen Reihen niemand mehr auf eine Entscheidung vor den Wahlen drängen werde. Dieser anonyme Abgeordnete ließ sich bei tagesschau.de mit den Worten zitieren: „Das würde uns“ - also der Union - „im Wahlkampf auf die Füße fallen“; das Thema sei wegen der völkerrechtlichen Diskussion emotional zu stark besetzt. Wenig später erschien die Ankündigung de Maizières in den Medien, dass eine Entscheidung erst nach der Bundestagswahl fallen werde. Meine Damen und Herren, das ist doch nichts anderes als ein durchsichtiges Wahlkampfmanöver. ({5}) Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Drohneneinsatzes, nicht zuletzt durch die USA, mit den Risiken einer neuen Aufrüstungsdynamik, mit dem Risiko der Automatisierung und der sinkenden Hemmschwelle bei der Entscheidung über den Einsatz von militärischer Gewalt lässt für uns Grüne nur einen Schluss zu. Mit unserem zweiten Antrag fordern wir deshalb, auf die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr zu verzichten. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist nicht demokratisch, was Sie hier auf der Besuchertribüne tun. Setzen Sie sich bitte hin, und folgen Sie einfach der Diskussion.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich bitte Sie, die Besuchertribüne zu verlassen.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie bereits vor einigen Wochen diskutieren wir auch heute das Thema „Kampfdrohnen für die Bundeswehr“. Anlass ist übrigens nicht eine konkrete Beschaffungsanfrage der Bundeswehr, sondern sind zwei Anträge, einer von der SPD und einer von den Grünen. In beiden Anträgen finden Sie die Forderung, dass eine gesellschaftliche Debatte zum Thema Kampfdrohnen geführt werden muss. Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Wie immer radeln Sie der Regierung hinterher; denn diese Debatte läuft bereits. Es war der Verteidigungsminister de Maizière, der schon vor Monaten diese Debatte eröffnet hat. Damals wurde er übrigens auch von Ihnen kritisiert. Weil inzwischen auch Sie die Debatte wollen, sollten Sie ihm heute danken, dass er diese in Gang gebracht hat. Der Unterschied zwischen den Anträgen ist, dass die SPD auf der einen Seite tatsächlich ein Für und ein Wider diskutieren möchte, während die Grünen auf der anderen Seite eine Debatte führen wollen, in der nur die Gründe für ein Nein diskutiert werden sollen. ({0}) Das sieht man an der Überschrift „Keine bewaffneten Drohnen für die Bundeswehr“. Das sieht man im Text an der Formulierung, dass es „eine breite Debatte über die damit verbundenen Risiken geben“ muss. Typisch für die Grünen! ({1}) Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Chancen und die Möglichkeiten zu beleuchten. Durch ein Auflisten von vermeintlichen Gefahren, von zum Teil konstruierten oder nichtexistenten Risiken versuchen Sie, den Teufel an die Regierungswand zu malen. „Hauptsache verhindern“ ist auch bei dieser Debatte einmal mehr Ihr Motto. ({2}) Natürlich gibt es wie bei jedem Waffensystem Nachteile. Die wollen wir auch nicht unter den Teppich kehren. ({3}) Unter bestimmten Umständen Gewalt gegen andere einsetzen zu müssen, muss immer völkerrechtlich legitimiert und ethisch abgewogen sein. ({4}) Ich fordere Sie nur auf, Herr Ströbele, diese Debatte sachlich zu führen. Es geht nicht darum, ob wir in Zukunft an völkerrechtswidrigen Einsätzen teilnehmen oder nicht. Um Völkerrecht zu brechen, brauchen Sie keine Drohne. Jedes Waffensystem kann völkerrechtswidrig eingesetzt werden. ({5}) Es geht auch nicht um einen Einsatz von vollautomatisierten Systemen, die völlig autonom agieren, bei denen die Software die Entscheidung trifft, wann oder wo geschossen wird. Unterlassen Sie diese Täuschungsversuche! Lassen Sie uns sachlich über dieses Thema diskutieren. ({6}) - Ja, ich beginne damit. - Ein Argument ist Ihr Vorwurf, mit einer Beschaffung von Kampfdrohnen würde Deutschland eine Rüstungsspirale lostreten. ({7}) Da muss ich Ihnen ehrlich sagen: Das ist ein bisschen naiv; ({8}) denn die weltweite Entwicklung und Produktion läuft bereits. Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, ob wir diese Technologie in Europa selbst beherrschen oder ob wir uns im Zweifel von anderen abhängig machen wollen. ({9}) Ein anderer Vorwurf von Ihnen: Kampfdrohnen sorgen dafür, dass die Hemmschwelle zum Einsatz militärischer Gewalt bei unseren Soldaten sinkt. - Schon heute steht der Soldat meistens nicht mehr Face to Face seinem Gegner gegenüber. Schon heute ist meistens ein Bildschirm dazwischen. Ich sehe nicht, dass dies dazu geführt hat, dass unsere Soldaten verantwortungslos handeln. Im Gegenteil: Unsere Soldaten machen in den Einsätzen einen sehr verantwortungsbewussten Job. Daran wird eine Drohne nichts ändern. Hören Sie auf, unsere Soldaten in ein so schlechtes Licht zu stellen! Das haben sie wirklich nicht verdient. ({10}) Ihr nächster Vorwurf lautet - auch meine Vorrednerin hat ihn ins Feld geführt -, ({11}) dass die Zurückhaltung bei politischen Entscheidungen über Militäreinsätze durch den Einsatz von Drohnen aufgeweicht werden könnte, sprich: Wir könnten im Bundestag leichtfertiger über Mandate entscheiden, weil es Drohnen gibt. Ich muss ehrlich sagen: Es scheint fast so, als wollten Sie sich durch ein Beschaffungsverbot in Bezug auf Drohnen vor sich selbst schützen, weil dann kein Soldat mehr da wäre, hinter dem man sich verstecken kann. Natürlich ist die Gefährdung der eigenen Truppe ein wichtiger Faktor, aber genauso wichtig sind die Faktoren Völkerrecht, Verhältnismäßigkeit, Ethik und andere. Ich habe großes Vertrauen in die Mehrheit dieses Hauses, dass wir auch in Zukunft Auslandseinsätze wohlüberlegt beschließen oder auch nicht beschließen werden. Lassen Sie mich abschließend festhalten. Erstens. Auch wenn es nicht um eine eilige Entscheidung geht: Ich stehe grundsätzlich einer Beschaffung bewaffneter Kampfdrohnen als zusätzliche Fähigkeit für unsere Bundeswehr positiv gegenüber; ({12}) denn sie schützen unsere Soldaten im Einsatz, sie senken das Risiko für unsere Piloten, und sie ermöglichen in vielen Situationen einen schnelleren, flexibleren und präziseren Einsatz. Zweitens. Es war richtig, dass der Minister das Thema vor Monaten zur Diskussion gestellt hat und dass wir diese Debatten führen. Drittens. Diese Diskussion hat im Übrigen inzwischen dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerung für eine Beschaffung und einen Einsatz im Notfall ist. Das zeigt eine aktuelle forsa-Studie, die Sie unter anderem auf Spiegel Online nachlesen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion gebe ich jetzt dem Kollegen Dr. Hans-Peter Bartels das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich stelle fest: Sie haben aufgrund massiven öffentlichen Drucks, auch von uns Sozialdemokraten, hier in der letzten Plenardebatte, entschieden, jetzt nicht über eine Beschaffung von Kampfdrohnen zu entscheiden. Sie stellen das zurück. Wir begrüßen das ausdrücklich. Wir hatten Sie vor Schnellschüssen gewarnt. Ihr Koalitionspartner hat kluge Fragen gestellt, die es zu beantworten gilt. Selbst Ihre eigene Unionsfraktion hat nachvollziehbar keine Neigung, ein paar Wochen vor der Bundestagswahl eine umstrittene Eilentscheidung über die Beschaffung dieser oder jener ausländischen Waffe zu treffen. Es gibt überhaupt keinen Zeitdruck, eine Debatte über bewaffnungsfähige, unbemannte Luftfahrzeuge zu führen. ({0}) Es gibt keinen Zeitdruck, weil es keine Fähigkeitslücke gibt: nicht in der NATO, nicht in der EU und nicht in der Bundeswehr. Es gibt keinen Zeitdruck; lassen Sie sich das auch nicht von der Industrie einreden - nicht schon wieder über den Tisch ziehen lassen! Wir haben Zeit für eine vernünftige Debatte, eine Debatte über ethische Fragen: Sind Kampfdrohnen ethisch neutral? Sind sie wirklich vergleichbar mit Pfeil und Bo29766 gen, wie der Minister gespottet hat? Wie blockiert man international den technischen Trend hin zu autonomen Systemen, bei denen kein Mensch mehr entscheidet? ({1}) Wie verhindern wir gegebenenfalls eine völkerrechtswidrige Praxis? ({2}) Und wie bekommen wir dieses Thema auf die Tagesordnung der Rüstungskontrolldiplomatie? Darüber müssen wir reden, bevor hier Beschaffungsvorlagen geschrieben werden. ({3}) Das Motto „Dabei sein ist alles“ ist hier als olympische Weisheit nicht zu gebrauchen. Wir sind auch gespannt auf die Antworten der Regierung auf unsere Große Anfrage zu Kampfdrohnen, die seit einem halben Jahr im Verteidigungsministerium liegt. Eine Frage will ich heute näher betrachten: Was können eigentlich bewaffnete Drohnen, was herkömmliche Waffensysteme nicht können? Keine Sorge, meine Antwort lautet nicht: nichts. Es gibt etwas, was moderne Kampfdrohnen wie Predator, Reaper und auch Heron TP besser können als andere Waffen: ({4}) Mit diesen Apparaten kann man zielgenau einzelne Personen töten, ohne dafür eigenes Personal in die Nähe der Zielperson bringen zu müssen. Sie können das zu einem beliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort tun, in einem beliebigen Land, in einem scheinbar rechtsfreien Raum. In einer gewissen Weise ähnelt diese Einsatzart des Waffensystems dem Einsatz von Sondereinsatzkommandos der Polizei oder militärischen Spezialkommandos bzw. den Geschichten, die man manchmal von Geheimdiensten hört, mit dem Unterschied, dass Polizisten, KSK-Soldaten oder Geheimagenten niemanden, den sie gefunden haben, gleich einfach töten dürfen. Sie versuchen vielmehr, den mutmaßlichen Übeltäter gefangen zu nehmen. Das kann man mit einer bewaffneten Drohne natürlich nicht. Man kann nur beobachten und gegebenenfalls zielgenau töten - in der US-Terminologie Targeted Killing genannt. Aber auch in den USA gelten diese Missionen inzwischen als umstritten. Es darf nämlich nicht darum gehen, wie es auf den Kaffeebechern im Andenkenshop von Guantánamo steht, den Bösen Böses zu tun. Es geht darum, das Böse zu stoppen. Dafür dürfen wir die Prinzipien unserer freiheitlichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht aufgeben, auch nicht teilweise. Wir leben nicht im permanenten Notstand. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen uns das Gesetz des Handelns nicht von Terroristen diktieren lassen. Das CIA-Kampfdrohnenszenario kommt für uns in Deutschland nicht infrage. ({6}) Wenn das aber der wichtigste Anwendungsfall ist, für den bewaffnete Drohnen in der Realität heute überwiegend gebraucht werden, dann brauchen wir sie nicht dafür nicht. ({7}) Da wir uns in der Ablehnung der gezielten Tötung mittels Kampfdrohnen hier im Hause vermutlich parteiübergreifend vollständig einig sind, bleibt die Frage, für welchen Anwendungsfall die Bundesregierung dann glaubt bewaffnete Drohnen anschaffen zu sollen. Minister de Maizière erwähnte die Möglichkeit des Schutzes von NATO-Patrouillen mit deutscher Beteiligung in Afghanistan. ({8}) Eine Drohne kann den Konvoi lange begleiten, das Umfeld laufend aufklären und, wenn feindliche Kräfte aus dem Hinterhalt schießen, diese aus der Luft sofort wirksam bekämpfen. Das hört sich erst einmal plausibel an. Die Amerikaner haben Dutzende von Kampfdrohnen in Afghanistan, auch im Norden, stationiert. NATO-Konvois sind permanent auf den gefährlichen Straßen dort unterwegs. Ich habe die Bundesregierung gefragt, wie oft es denn vorkommt, dass US-Drohnen eingreifen, wenn deutsche Kräfte beteiligt sind. Die Antwort, die ich bekam, lautet: In den zwölf Jahren der deutschen Präsenz in Afghanistan ist das genau zweimal vorgekommen. Im Übrigen gelten für jedes Wirken aus der Luft im NATO-Rahmen die NATO-Einsatzregeln, die wir ja im Kunduz-Untersuchungsausschuss besonders intensiv kennengelernt haben. Das sind aus guten Gründen für Drohnen die gleichen restriktiven Regeln wie für Jagdbomber oder Kampfhubschrauber, die in Afghanistan zu dem gleichen Zweck - Aufklärung und Wirken aus der Luft - auch eingesetzt werden. ({9}) Ich will nicht für alle Zeit ausschließen, dass es sinnvolle Einsatzaufgaben für diese neuen Waffensysteme geben mag. ({10}) Die beiden eben von mir beschriebenen Anwendungsbereiche jedenfalls drängen uns nicht zu einer eiligen Beschaffung. ({11}) Völlig unbestritten ist dagegen, dass wir unbemannte Aufklärungssysteme dringend brauchen. Heron 1 in AfDr. Hans-Peter Bartels ghanistan ist sehr nützlich. Eine Verlängerung des Mietvertrages werden wir unterstützen. Eine echte Fähigkeitslücke ist bei der signalerfassenden Aufklärung, SIGINT, dringend zu schließen. Seit Jahren sind die Bréguet-Atlantique-Flugzeuge außer Dienst gestellt. Der Euro-Hawk sollte mit etwas Zeitverzug die Lücke füllen. Jetzt hören wir von der Bundesregierung, dass er vielleicht niemals für die Luftwaffe fliegen wird. Das erste Exemplar steht seit zwei Jahren in Manching und bereitet Kummer. Bis zum Ende dieses Haushaltsjahres wird uns das Euro-Hawk-Abenteuer 688 Millionen Euro gekostet haben. Es gibt keine Zulassung, keine Dokumentation, keine Zertifizierung und keinen Flugbetrieb. Außerdem stellt man in den USA möglicherweise die Produktion des zugrunde liegenden Global Hawk ein. Dieses Programm, Herr Minister, ist ein Desaster. Über eine halbe Milliarde Euro für nichts! Wieso hat bis heute niemand die Reißleine gezogen? Herr Minister, ich sage Ihnen: Die Zukunft dieses Drohnenprojekts ist möglicherweise doch noch einmal ein bemanntes Flugzeug. Schönen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Elke Hoff das Wort. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass unsere Kollegen von der Opposition darauf bestehen, dass wir eine Debatte über die Einführung eines neuen technologischen Systems bei der Bundeswehr führen. Nur, ich habe Ihr Debattenverhalten beobachtet: Als der Kollege Hahn von unserem Koalitionspartner seine Argumente vorgetragen hat - ganz unstreitig gehört zu einer Debatte das Vortragen kontroverser Argumente -, haben einige Kollegen von Ihnen weder die Geduld noch die Höflichkeit besessen, ihm genau zuzuhören, sondern sie haben das, was der Kollege Hahn hier vorgetragen hat, in Bausch und Bogen abgelehnt und als nicht relevant bezeichnet. Wenn Sie hier im Hause über dieses Thema debattieren wollen, dann gehört eine gewisse Form der Debattenkultur dazu. ({0}) - Verehrte Frau Kollegin, ich habe hinreichend Redezeit, um noch das vorzutragen, was ich hier heute zu diesem Thema sagen möchte. Im Übrigen führen wir diese Debatte in diesem Hause nicht zum ersten Mal. Wir be- schäftigen uns schon seit einiger Zeit mit dieser wichti- gen Thematik. Erster Punkt. Ich denke, völlig unbestritten ist, dass der Einsatz von unbemannter Technologie in dem zurzeit längsten und gefährlichsten Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten eine notwendige Fähigkeit ist, um den Schutz unser Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen. Zweiter Punkt. Sie versuchen seit geraumer Zeit - das adressiere ich insbesondere an einige Kollegen von der Fraktion der Grünen -, die Situation in Amerika völlig undifferenziert eins zu eins auf die Bundesrepublik Deutschland zu übertragen. Aber das wird Ihnen nicht gelingen, weil die Bundesregierung a) so etwas nicht darf und b) dieses Thema nicht ansteht. Hören Sie auf, die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen, indem Sie hier sagen, dass wir an der Schwelle zum Targeted Killing stehen. Sie wissen, dass die Verfassung das verbietet, dass das Gesetz das verbietet und auch der politische Wille dieses Hauses. ({1}) Jetzt komme ich zu einem in diesem Zusammenhang ganz wichtigen Punkt: Die Entscheidung über die Beschaffung - das gilt für alle Beschaffungsvorschläge des Bundesministeriums der Verteidigung - fällt nicht der Minister, sondern das Parlament und die dafür zuständigen Ausschüsse. ({2}) In diesem Rahmen werden alle notwendigen Debatten geführt. Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen - das haben wir oft genug wiederholt -: Wir brauchen eine saubere sicherheitspolitische Begründung. Wir wollen wissen, was man mit diesem System in Bezug auf die Fähigkeit „Close Air Support“, also Luftnahunterstützung, tun kann, was man mit bereits vorhandenen Systemen nicht tun kann. Das sind Dinge, die die Bundesregierung im Vorfeld einer Entscheidung selbstverständlich darlegen muss. ({3}) - Herr Kollege Ströbele, hören Sie doch einfach einmal zu! Sie können sich zu Wort melden und eine Frage stellen. Dann kann man über alles diskutieren. Eigentlich geht es hier um Folgendes - diesbezüglich sind wir vielleicht viel näher zusammen, als diese Diskussion den Eindruck erweckt -: Selbstverständlich werden wir uns auf internationaler Ebene darum bemühen müssen, dass es klare Normen und Regeln für den Einsatz von unbemannter Technologie in Kampfzonen gibt. Ich betone: in Kampfzonen. Hier haben wir zurzeit ein erhebliches Defizit, weil die Definition nicht klar ist: Wer ist in asymmetrischen Szenarien Kombattant? Wer ist Angreifer? Wer ist als legitimes Ziel im Sinne des Völkerrechts zu identifizieren? Dazu höre ich von Ihnen keine Vorschläge. Ich sehe auch nicht, dass Sie versuchen, der Öffentlichkeit auch die andere Seite der Medaille näherzubringen. Sie sagen zwar, dass Zivilisten umgebracht werden und dass das schrecklich ist. Aber ich höre von Ihnen nie, dass al29768 Qaida, Taliban, Tahrik-i-Taliban und wie sie alle heißen genau das Gleiche tun und unschuldige Menschen töten. ({4}) Jetzt kommen wir zu dem Punkt, um den es geht: Was ist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft? Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es, dafür zu sorgen - das betrifft auch die Bundesrepublik Deutschland -, dass klar definiert wird, wer Gegner ist; auch unsere Soldatinnen und Soldaten müssen das wissen. Denn auch sie brauchen Klarheit über die Dinge, die von ihnen in asymmetrischen Konflikten erwartet werden. Hier gibt es Defizite.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Hoff?

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Nouripour würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne, Kollege Omid Nouripour. Aber ich würde den Gedanken gerne erst zu Ende führen. Wenn wir uns dieses Themas gemeinsam annehmen - ich glaube, dass die Bundesregierung hier noch mehr Druck machen kann, als das in der Vergangenheit der Fall war -, dann haben wir auch die Möglichkeit, uns auf internationaler Ebene auf Standards zu einigen. Aber eines ist klar - ich sage es noch einmal -: Jetzt steht keine Beschaffungsentscheidung für ein bewaffnetes unbemanntes System an. Es gibt keine Anfrage an wen auch immer hinsichtlich der Beschaffung eines bewaffneten unbemannten Systems. ({0}) Wenn eine Entscheidung hier ansteht, wird die Bundesregierung erklären müssen, was sie mit diesem System tun will. Last, but not least wird dieses Parlament dann darüber entscheiden. - Jetzt möchte ich die Zwischenfrage des Kollegen Nouripour zulassen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Nouripour, bitte schön.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. - Verehrte Kollegin, Sie haben am Anfang angemahnt, dass wir eine sachliche Debatte führen sollen. Ich teile diese Auffassung. Aber Sie haben hier etwas wider besseres Wissen gesagt. Davon gehe ich jedenfalls aus. Es gab hier viele Debatten zum Thema Afghanistan, und im Ausschuss haben wir Woche für Woche auch über die Zahl der zivilen Opfer geredet, die natürlich in der Mehrzahl von Aufständischen verursacht werden; darüber sprechen wir hier im Plenum, und darüber sprechen wir im Ausschuss. 90 Prozent derjenigen, die in Afghanistan getötet werden, werden von den Aufständischen getötet. Deshalb ist dieser Einsatz ja auch damals von diesem Hohen Hause beschlossen worden. Natürlich ist es sinnvoll, dass wir eine ganz andere Anspruchshaltung gegenüber unseren eigenen Truppen haben. Wir müssen natürlich versuchen, die Zahl ziviler Opfer so weit wie möglich zu reduzieren bzw. dafür zu sorgen, dass es keine gibt. Finden Sie, dass es ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte ist, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir nur über diese 10 Prozent der zivilen Opfer reden würden, die nicht von Aufständischen getötet werden?

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Nouripour, wenn Sie sich an meine Ausführungen erinnern, wissen Sie, dass ich von einigen Kollegen Ihrer Fraktion gesprochen habe. Ich nehme Sie ausdrücklich aus. ({0}) - Der junge Mann, der vor Ihnen sitzt - Kollege Ströbele. Wir haben oft erlebt, dass unseren Streitkräften permanent unterstellt wird, dass sie sozusagen in einem illegitimen Kampf Zivilisten töten. ({1}) Das entspricht weder der Wahrheit noch wird dadurch anerkannt, welchen Anteil die Taliban, al-Qaida und andere Kämpfer an dieser Situation haben. Ich wünsche mir wirklich sehr, an dieser Stelle auch einmal einen Vorschlag von Ihrer Seite vorgelegt zu bekommen, der aufzeigt, wie man mit dem Problem von asymmetrischer Kriegsführung umgeht. Man kann über alles diskutieren. Aktuell wird mit dem Finger immer nur auf die regulären Streitkräfte gezeigt. Dies habe ich in dieser Debatte häufig genug erlebt. Das ist meine Meinung. Sie haben eine andere Meinung. ({2}) Ich glaube, ich habe Ihre Frage damit beantwortet.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Hoff, Sie hätten die Gelegenheit, Ihre Redezeit weiter zu verlängern, indem Sie die Frage von Frau Zapf zulassen. Möchten Sie das?

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit Rücksicht auf die anderen Kollegen, auch auf die Kollegen, die hier noch zu anderen Tagesordnungspunkten einen Redebeitrag vortragen möchten, möchte ich die letzten Sekunden meiner Redezeit für ein paar abschließende Sätze nutzen. ({0}) Kollege Nouripour, ich höre gerne, dass Sie zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen wollen. Dies ist auch dringend geboten. Denn wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten erklären, warum wir das, was von dem Minister vorgeschlagen worden ist, nämlich ein solches System ausschließlich zum Schutz der eigenen Soldaten zu beschaffen, ({1}) jetzt nicht tun. Aber hören Sie doch auf, uns eine Debatte über die Anwendung dieser Technologie aufzuzwingen, die in Deutschland de jure ausgeschlossen ist. Wenn Sie das tun, dann kann man über alles reden. Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank. - Liebe Kollegin Hoff, ich hätte Ihnen ja gerne eine Zwischenfrage gestellt. Jetzt frage ich im Rahmen einer Kurzintervention, ob eine Debatte, die hier im Deutschen Bundestag schon oft geführt worden ist, in einer solch merkwürdigen Konstellation stattfinden muss. ({0}) Sie müssten genauso wie die CDU/CSU und alle anderen Fraktionen wissen, dass wir schon zwei Expertenanhörungen zu dem Thema im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ durchgeführt haben und dass es eine Große Anfrage der SPD zu diesem Thema gibt, die leider noch nicht beantwortet wurde. Es gab im Unterausschuss die Verabredung, dass wir, wenn diese Anfrage beantwortet ist - dies ist uns jetzt für Mai signalisiert -, eine öffentliche Veranstaltung durchführen, bei der wir transparent über das Für und Gegen solcher Anschaffungen diskutieren. Ich habe im Moment das Gefühl, dass der völkerrechtliche Aspekt, obwohl er immer wieder betont wird, nicht klar ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist überhaupt nicht klar - das hat der Kollege Bartels gerade erwähnt -, welche Szenarien notwendig sind, um solches Gerät anzuschaffen. Frau Kollegin Hoff, eine Antwort auf die Frage, ob man einer asymmetrischen Bedrohung ausgerechnet mit unbemannten bewaffneten Drohnen beikommt, würde ich gerne auch einmal von Experten hören. Ich möchte darauf hinweisen, dass sich in Großbritannien gerade verschiedene Initiativen bilden, die sich insbesondere für die völkerrechtliche Ächtung automatisierter Drohnen einsetzen. Auch diese Unterscheidung ist wichtig. Darüber sollten wir hier im Deutschen Bundestag tiefgehend diskutieren. Ich fordere alle auf, die Anhörung noch in dieser Legislaturperiode durchzuführen. Danke sehr. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bevor sich Frau Hoff entscheidet, ob und wie sie antwortet, gebe ich zu einer zweiten Kurzintervention dem Kollegen Ströbele das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie dem Gedanken der Anschaffung von Killerdrohnen - ich nenne sie ganz bewusst so, weil das auch die Amerikaner tun - das Wort reden, mit der Begründung, es gebe eine asymmetrische Kriegsführung und wir müssten mit den Aufständischen gleichziehen. Ich sage Ihnen: Sie haben recht. Damit stellen wir uns auf eine Stufe mit denen, die die alliierten Soldaten in Afghanistan mit Bombenanschlägen und aus Hinterhalten bekämpfen. ({0}) Dann sollten wir darüber auch nicht mehr die Nase rümpfen und von gemeinen, hinterhältigen Anschlägen reden. Denn worin besteht der Unterschied zwischen einem hinterhältigen Anschlag mit einem irgendwo auf der Straße deponierten Sprengkörper und einer lautlos operierenden Drohne? Die Folgen für die Menschen sind identisch. ({1}) Nur dann, wenn man keine Killerdrohnen verwendet, kann man verhindern, dass sie zu solchen Zwecken gebraucht oder missbraucht werden, wie es die USA fast täglich - nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, im Jemen und in Somalia - tun. Deutschland darf das auf gar keinen Fall tun. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Hoff, bitte.

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Frau Präsidentin. - Herr Ströbele, Sie sind Jurist und wissen, dass es im Kriegsvölkerrecht den Begriff des legitimen Ziels gibt. ({0}) - Jetzt bin ich dran, Herr Kollege; ich habe Ihnen doch auch zugehört. ({1}) In dem Moment, in dem erkennbar ein Angriff stattfin- det, wissen wir also, dass auch unsere Soldatinnen und Soldaten darauf reagieren dürfen. Den Begriff „Killerdrohne“ habe ich übrigens nicht verwendet. Zudem kann ich mich nicht daran erinnern, mich in dem Zusammenhang, den Sie skizziert haben, für den Einsatz einer solchen Technologie ausgespro- chen zu haben. Vielmehr habe ich gesagt: Wenn der Bundesminister der Verteidigung einen Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in einem ganz besonderen Einsatzsegment durch die neue Technologie für notwen- dig hält, nämlich bei der Luftnahunterstützung - „Close Air Support“ ist der gängige Begriff -, dann muss er die Gründe darlegen. Wir müssen uns dann die Frage stellen: Können wir unsere Ziele auch durch Verwendung anderer Systeme erreichen? Wenn diese Frage verneint werden muss, sehe ich, was dieses Szenario - und nur dieses Szenario - angeht, keinen Grund, warum nicht auf dieses System zurückgegriffen werden sollte. Das heißt aber auch, dass im Rahmen der sicherheitspolitischen Begründung, die das Plenum des Deutschen Bundestages schon mehrfach gefordert hat, auch deutlich gemacht werden muss, wo- für diese Waffensysteme nicht eingesetzt werden sollen. Auch für uns Parlamentarier, für die politischen Ent- scheider, muss vollkommen klar sein, um was es geht. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bundesminister der Verteidigung a) dies tun wird und b) selbstverständlich jederzeit in der Lage ist, dies zu begründen. Frau Kollegin Zapf, eine Anhörung ist sicherlich sinnvoll; aber das sind Sachen, die entscheiden wir nicht hier. Sie sagten, Sie wollen, dass im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung darüber diskutiert wird. Deswegen möchte ich die Bemerkung machen: Viel mehr Öffentlichkeit als im Deutschen Bundestag kann man eigentlich nicht herstellen. Die Debatte, die in diesem Moment stattfindet, findet in der Öffentlichkeit statt. Das ist gut so, das ist richtig so, das war explizit auch von der Bundesregierung so gewollt. Fragen, die aus Ihrer Sicht möglicherweise unbeantwortet geblieben sind, können selbstverständlich in einer solchen Anhörung zur Sprache kommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die Diskussion an irgendeiner Stelle verhindert würde; diesen Vorwurf kann ich jetzt nicht nachvollziehen. Noch einmal - ich wiederhole das an dieser Stelle explizit -: Mir sind wichtig: eine sicherheitspolitische Begründung, eine klare Beschreibung der Fähigkeiten und des Wofür, eine klare Beschreibung, warum man das Ziel mit anderen Systemen nicht erreichen kann, und eine klare Beschreibung dessen, was mit dem System eben nicht gemacht werden soll. Ich glaube, dass wir unter Beachtung dieser vier Punkte durchaus auch im Sinne des Schutzes unserer Soldaten dann, wenn es notwendig ist, darüber entscheiden können. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Jan van Aken das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Welcome to the drone zone! Frau Hoff, Sie haben den Einsatz von Kampfdrohnen in Ihrer Rede eben gerechtfertigt mit dem Argument: Wenn die uns umbringen, wie soll man dann anders reagieren? ({0}) Das ist das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ein Mord für einen Mord. Dafür sollten Sie sich schämen! ({1}) Hier sind sehr viele gute Argumente gegen Kampfdrohnen genannt worden, zum Beispiel dass damit natürlich ein neues Wettrüsten ausgelöst wird. Es ist schon peinlich, Herr Hahn, wenn Sie sagen: „Wieso Wettrüsten? Das beschaffen doch eh schon alle.“ ({2}) Sie haben das Prinzip einer Rüstungskontrolle nicht verstanden. Rüstungskontrolle funktioniert nicht so, dass sich alle eine bestimmte Waffe anschaffen und danach in Abrüstungsverhandlungen eintreten. Rüstungskontrolle funktioniert so, dass - um von vornherein zu verhindern, dass ein Wettrüsten entsteht - diese Waffe gar nicht erst angeschafft wird. ({3}) Ein zweites Argument: Es besteht die drängende Gefahr, dass die Entwicklung direkt weitergeht hin zu vollautonomen Kampfdrohnen bzw. Kampfrobotern; dass Maschinen ganz allein über Leben und Tod entscheiden. ({4}) Ich finde, das ist eine grauenvolle Vorstellung. Das allein reicht als Ablehnungsgrund. Drittens. Eine Verletzung des Völkerrechts durch den Einsatz von Kampfdrohnen findet heute schon jeden Tag statt: durch die USA. Auch deswegen lehnen wir diese Kampfdrohnen ab. Viertens - das ist für mich ein ganz entscheidender Grund - droht durch diese Kampfdrohnen eine Enthemmung und eine Entgrenzung des Krieges. ({5}) Der Einsatz von Kampfdrohnen führt unweigerlich zu einer Ausweitung von Kriegen und zu einer Enthemmung bei der Anwendung von Gewalt. Bei Herrn de Maizière hört sich das immer einfach an: Wenn ich ein Kampfflugzeug mit Pilot losschicke, riskiere ich sein Leben. Wenn ich das gleiche Flugzeug ohne Pilot losschicke, schütze ich damit deutsche Soldaten. ({6}) Das hört sich zwar ganz simpel an; aber das ist komplett falsch, und Sie wissen, dass es falsch ist und dass es mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat. ({7}) Kampfdrohnen werden doch nicht da eingesetzt, wo bewaffnete Kampfflugzeuge eingesetzt werden, sondern sie werden doch für ganz andere Einsätze eingesetzt, ({8}) für Einsätze, die mit bewaffneten Flugzeugen nie geflogen würden, weil sie zu riskant sind. Es ist doch ganz eindeutig - Sie müssen das nur einmal an sich heranlassen -: Wer Maschinen für sich kämpfen lässt, entscheidet schneller, andere Menschen zu töten. Wer Maschinen für sich kämpfen lässt, entscheidet schneller, Gewalt anzuwenden: weil er das aus sicherer Entfernung tun kann. ({9}) Das ist die Realität; da können Sie den Kopf schütteln, so viel Sie wollen. Das findet heute schon jeden Tag statt. Wir brauchen nur nach Amerika zu schauen. Was ist dort in den letzten Jahren passiert? Mit der Einführung der Kampfdrohnen hat sich der amerikanische Krieg völlig entgrenzt. Tausende von Menschen sind mit diesen Kampfdrohnen umgebracht worden, und zwar nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, auch im Jemen, auch in Somalia. All diese Einsätze wären niemals mit bewaffneten Kampfflugzeugen geflogen worden. Das wäre für die Piloten viel zu riskant gewesen, und natürlich schickt man kein bewaffnetes Kampfflugzeug nach Somalia, nach Pakistan oder in den Jemen. Mit diesen Ländern befinden sich die USA nicht im Krieg. Diese Länder würden nicht hinnehmen, wenn eine bewaffnete Flotte vor ihrer Küste auftauchte. Diese tödlichen Angriffe sind nur mit Kampfdrohnen möglich, und das wissen Sie. Das ist für uns ein sehr guter Grund, diese Drohnen abzulehnen. ({10}) Herr de Maizière hat gesagt, dass er die Entscheidung im Prinzip schon getroffen hat. Er hat sie jetzt vertagt. Ich finde die Entscheidung falsch; aber seine Aussage ist wenigstens ehrlich. Was mich richtig wütend macht, ist das Herumgeeiere seitens der SPD. Sagen Sie endlich einmal konkret, was Sie wollen und was Sie nicht wollen! Alle guten Argumente sind hier genannt worden. Sie haben sie selbst vorgetragen, aber Sie sagen nicht, dass Sie gegen eine Einführung von Kampfdrohnen sind. Sie wollen sich bis zur Bundestagswahl einfach jedes Hintertürchen offenhalten und hinterher die Dinger dann doch anschaffen. Das finde ich wirklich unehrlich. ({11}) Das wirklich einzig Konkrete, das ich von den Sozialdemokraten in den letzten Wochen über Drohnen gehört habe, hat Herr Arnold von der SPD vor einigen Wochen hier zu Protokoll gegeben, nämlich: wenn schon Kampfdrohnen, dann bitte deutsche oder europäische Kampfdrohnen. Bloß nicht in Amerika kaufen! - Auch Sie, Herr Bartels, haben heute wieder gesagt: Bloß keine ausländischen Drohnen anschaffen! Glauben Sie denn, für Menschen, die an einer Hochzeitsfeier in Pakistan teilnehmen, macht es einen Unterschied, ob sie von einer deutschen oder von einer amerikanischen Drohne getötet werden? Ich finde Sie an dieser Stelle wirklich unsäglich. ({12}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte, keine Kampfflugzeuge, keine Kampfdrohnen, gar nichts. Danke schön. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Bernd Siebert für die CDU/CSU das Wort. ({0})

Bernd Siebert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Die heutige Debatte ist die Fortsetzung der Diskussionen der letzten Monate. Im Januar haben wir unsere Argumente bereits ausführlich und, ich denke, zum Teil auch erschöpfend ausgetauscht. Ich muss am Ende dieser Debatte allerdings feststellen: Neue Argumente habe ich von der Opposition heute nicht zur Kenntnis nehmen können. Der Verteidigungsminister hat die Debatte vor einigen Monaten angestoßen und mittlerweile entschieden, in dieser Legislaturperiode keinen Beschaffungsbeschluss für bewaffnete Drohnen mehr herbeizuführen. Ich kann nach der heutigen Diskussion nur denjenigen zustimmen, die auf die Frage, warum denn diese Debatte jetzt geführt wird, antworten: In den Reihen der Opposition glaubt man, dass hier ein Wahlkampfthema gefunden werden kann. - Ich denke aber, Sie täuschen sich. Die Menschen sind weit klüger, als Teile der Opposition mitunter glauben. ({0}) - Ich habe von Teilen der Opposition gesprochen. - Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass nur 27 Prozent der Befragten bewaffnete Drohnen ablehnen. Über 70 Prozent stehen dieser Technologie eher positiv und offen gegenüber. Interessant ist, dass die Stimmen der Vernunft, die bei den Sozialdemokraten und den Grünen bei dieser Thematik in der Vergangenheit meiner Ansicht nach durchaus zu hören waren, mittlerweile verstummt sind. Seltsam, denn die Aussagen von geschätzten Kollegen wie Rainer Arnold, der noch im Juli vorigen Jahres erklärt hat, dass „an der Anschaffung von bewaffneten Drohnen kein Weg“ vorbeiführe, oder von Herrn Nouripour, der ebenfalls im Juli vorigen Jahres erklärt hat, es gebe eine „sehr, sehr schmale graue Zone, in der gezielte Tötungen erlaubt sein können, wenn für eine größere Gruppe von Menschen unmittelbar Gefahr bevorsteht“, ({1}) lassen den Schluss zu, dass die Meinungen zu Drohnen unserer nicht ganz unähnlich sind. ({2}) - Ich habe das Zitat aus der Frankfurter Rundschau vom 30. Juli 2012 vollständig hier, Herr Nouripour. Ich habe nicht gelesen, dass Sie sich von diesen Aussagen damals distanziert haben. ({3}) Ich habe den Eindruck, dass es noch immer den einen oder anderen in der Opposition gibt, die differenziert über diese Fragen nachdenken. Ich sage ganz offen: Das hat mich eben etwas überrascht. Kollege Hans-Peter Bartels hat das Thema an einigen Stellen ja durchaus differenziert betrachtet. Deswegen denke ich, dass wir, nachdem der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen ist, auch über diese Frage wieder konstruktiv in den Dialog eintreten und dazu beitragen können, dass vernünftige Lösungen für die Bundeswehr und für die Verbesserung der Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz gefunden werden können. All das, was Verteidigungsminister de Maizière und meine Kollegen von den Koalitionsfraktionen bereits im Januar gesagt haben, besitzt auch heute noch Gültigkeit: Drohnen, ob groß oder klein, werden längst eingesetzt auch bei der Bundeswehr. Ihr Einsatz ist günstiger, sicherer und flexibler als die Nutzung bemannter Maschinen. Sie können wesentlich länger über einem Einsatzgebiet in der Luft bleiben als ein bemanntes Flugzeug. Die deutschen Regularien, die für den Waffeneinsatz bemannter Systeme gelten, gelten selbstverständlich auch für Drohnen. Völkerrechtlich bedenkliche Szenarien wie in Nordpakistan oder im Jemen wären für deutsche Streitkräfte meiner Ansicht nach undenkbar. Die Verantwortung für die Nutzung unbemannter Systeme obliegt einem Menschen. Das Gleiche gilt für die Kontrolle des Fluggerätes, wie bei anderen Systemen übrigens auch. Es gibt bei uns keinen „Roboterkrieg“ und keine Automatismen. ({4}) Dies heißt, mittelfristig wird auch die Bundeswehr diese neuartigen Fähigkeiten ausbauen. Das gebietet die Vernunft; denn es ist umständlich, fehleranfällig und teuer, eine unbewaffnete Drohne zunächst aufklären zu lassen und dann ein bemanntes Flugzeug oder ein anderes Waffensystem herbeizuholen, um ein Ziel bekämpfen zu lassen. Diese derzeit in Afghanistan mögliche Option kann deshalb nur eine Übergangslösung sein, die im Übrigen durch eine Entscheidung der Bundesregierung bis zum Jahr 2015 gesichert worden ist. Ich selbst sage daher ganz klar, dass eine übereilte Beschaffungsentscheidung zum heutigen Zeitpunkt auch aus dem oben genannten Grund noch nicht notwendig ist. ({5}) Dafür gibt es viele Gründe. Bei einer technologisch so wichtigen Weichenstellung für die Zukunft geht Sorgfalt eindeutig vor Eile. Auch die Diskussion, die wir hier heute führen, muss fortgesetzt werden. Auch das wurde bereits mehrfach gesagt. Abschließend möchte ich noch einmal meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass wir uns im Herbst wieder auf eine vernünftige Art und Weise über dieses Thema unterhalten können. Umso wichtiger ist es, dass wir uns heute keine Beschränkungen in Form von Anträgen auferlegen. Daher sind die vorliegenden Anträge von uns abzulehnen. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass unbemannte, unbewaffnete Drohnen nützlich sein können, ist doch unbestritten. Ich habe in dieser Diskussion eines gehört: Es wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass die Opposition Kritik anbringt, ohne dass dazu eigentlich ein Anlass besteht. Erster Punkt. Ich weise darauf hin: Die Friedensforschungsinstitute werden über dieses Thema der bewaffneten Kampfdrohnen eine öffentliche Diskussion in Gang setzen, die ich für richtig halte. Die Gefahr, dass sich solche Waffensysteme sozusagen automatisieren, ist vorhanden, und zwar international. Daher können wir doch nicht so tun, als hätten wir damit nichts zu tun. Zu Recht hat Harald Müller in einer Diskussion mit Herrn de Maizière vor wenigen Tagen die Frage gestellt: Was passiert eigentlich, wenn die amerikanische Seite „Das sind Bündnisverpflichtungen“ sagt? - Die Automatisierung ist eine echte Gefahr, und deshalb muss man rechtzeitig vor ihr warnen. Zweiter Punkt. Auch die Proliferation kommt in Gang. Es gibt Länder, die Millionen und Milliarden aufbringen können, um solche Systeme aufzubauen. Was heißt das, wenn es weltweit Praxis wird, dass entsprechende Aktionen gegen andere Länder durchgeführt werden? Beispielsweise könnte davon die Zivilbevölkerung in unserem Land betroffen sein. Dritter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage schon einmal vorbeugend: Auch ich halte die Entwicklung solcher bewaffneten Systeme auf europäischer Ebene für falsch. Sie kosten Milliarden Euro. Wichtiger wäre ein Signal der internationalen Abrüstung und der Ächtung dieser Systeme sowohl durch Deutschland als auch durch die Europäische Union. ({0}) Europa hat den Friedensnobelpreis nicht dafür erhalten, dass es neue Waffensysteme exportiert, sondern dafür, dass es soziale und ökologische Entwicklungen in die Welt exportiert, um zu helfen. Daran sollten wir uns orientieren. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Siebert, möchten Sie entgegnen? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13235 mit dem Titel „Keine bewaffneten Drohnen für die Bun- deswehr - Internationale Rüstungskontrolle von bewaff- neten unbemannten Systemen voranbringen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Zugestimmt haben dem Antrag Bünd- nis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der SPD- Fraktion. Gegen den Antrag hat die Koalition gestimmt. Der überwiegende Teil der SPD-Fraktion hat sich genau wie die Fraktion Die Linke enthalten. Der Antrag ist da- mit abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 17/11083. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/9414 mit dem Titel „Die Beschaffung unbe- mannter Systeme überprüfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen waren SPD und Grüne. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäfts- ordnung auf Drucksache 17/6904 zu „Stand und Per- spektiven der militärischen Nutzung unbemannter Sys- teme“ zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Das ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi- gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12725, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12437 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal- ten. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13192 mit dem Ti- tel „Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampf- drohnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Dieser Antrag wurde abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende SPD-Fraktion. Dagegen waren CDU/CSU, FDP und Linke, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes - Drucksache 17/12678 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 17/13279 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/13280 - Berichterstattung:- Abgeordnete Norbert Barthle- Rolf Schwanitz- Dr. Florian Toncar- Roland Claus- Sven-Christian Kindler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt - Drucksachen 17/11041, 17/13279 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Das Wort gebe ich der Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir nach der ersten Lesung und nach einer sehr konstruktiven Zusammenarbeit mit fast allen Fraktionen hier im Deutschen Bundestag heute die Änderungen zum Conterganstiftungsgesetz mit einer großen Mehrheit verabschieden werden, weil wir alle - deswegen noch einmal ganz herzlichen Dank besonders an die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD - erkannt haben, ({0}) dass die Ergebnisse der Studie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg eine unmittelbare und vor allem deutliche Verbesserung der Situation der contergangeschädigten Menschen erforderlich machen. Ich freue mich wirklich sehr, dass wir nicht nur ab heute, sondern rückwirkend zum 1. Januar 2013 die Conterganrenten um jährlich 90 Millionen Euro erhöhen werden. Wir wollen uns im Namen der Koalition ganz herzlich bei den Betroffenen bedanken, die in den letzten Wochen und Monaten ein wirklich konstruktiver Partner waren. Wir wollen gerade wegen der Gespräche mit den Betroffenen eine noch wesentlich größere Einzelfallgerechtigkeit gewähren können. Deswegen haben wir auf Wunsch der Betroffenen in der Rententabelle, die als Anlage zu den Richtlinien veröffentlicht wird, zusätzliche Schadensstufen eingeführt. Wir haben für diejenigen, die wirklich mit schwersten Behinderungen leben müssen, die prozentual höchste Anhebung der Renten vorgesehen. Das heißt, künftig soll mit einem Betrag von monatlich 6 912 Euro dafür gesorgt werden, den Schwerstgeschädigten ein Stück Unabhängigkeit zurückzugeben, und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, ohne Antragstellung selbst zu entscheiden, welche Leistungen sie brauchen und was ihrer momentanen Situation am allerbesten entspricht, beispielsweise der behindertengerechte Umbau des Autos und der Wohnung oder Hilfen im Alltag. Wir werden zusätzlich 30 Millionen Euro für die Deckung spezifischer Bedarfe in den Haushalt einstellen, zum Beispiel für Rehabilitationsleistungen, für Heilmittel, für Hilfsmittel und - das ist ganz besonders wichtig; das habe ich auch in meiner Rede in der ersten Lesung angesprochen - für zahnärztliche und kieferchirurgische Behandlungen. Das ist ein wichtiger Schritt. Das sollten wir positiv herausstellen. Ich verstehe nicht, Herr Kollege Seifert, warum Sie die ganze Zeit so destruktiv an die Sache herangehen, wenn sich sogar Betroffene freuen und sich bedanken. ({1}) Das wird weder unserer Arbeit noch dem Anliegen der Betroffenen gerecht. Das finde ich sehr schade. Das von uns gewählte Antrags- und Bewilligungsverfahren ist sehr gut und vor allem - das ist für mich das Entscheidende - sehr bürokratiearm. Wenn die vom Arzt verordnete Leistung bei den Kassen beantragt wird und die Erstattung der Leistung abgelehnt wird, dann leiten diese den Antrag direkt an die Conterganstiftung weiter. Dann entscheidet die Conterganstiftung auf Grundlage der Richtlinien des BMFSFJ über den Antrag. Wir haben über die finanziellen Maßnahmen hinaus Verbesserungen aufgenommen: zum Beispiel dass unterhaltspflichtige Angehörige von Conterganopfern, die Sozialhilfe beziehen, vom Träger der Sozialhilfe nicht in Anspruch genommen werden können; denn Eltern, Kinder und Ehepartner von contergangeschädigten Menschen sind durch die mit der Behinderung verbundenen Anforderungen ohnehin schon belastet. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme, um Sicherheit für die Angehörigen zu schaffen, die neben der finanziellen Belastung seit vielen Jahrzehnten eine ganz große physische und psychische Belastung zu schultern haben. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Änderung konsequent, die wir im Rahmen eines Änderungsantrages vorgenommen haben, nämlich dass das Einkommen und das Vermögen einerseits der Betroffenen selbst und andererseits das ihrer Ehepartner bei der Gewährung der anderen Leistungen des SGB XII, die unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängen, wie beispielsweise Hilfen zur Gesundheit, Hilfen zur Pflege, Eingliederungshilfe, vollkommen außer Betracht gelassen werden. Natürlich ist uns bewusst, dass mit den Neuregelungen nicht allen und nicht jedem einzelnen Wunsch entsprochen wird, weil er nicht zu erfüllen war. Das ist selbstverständlich, weil kein Gesetz der Welt jedem Einzelfall wirklich zu 100 Prozent gerecht werden kann. ({2}) Aber ich bin wirklich zuversichtlich, dass diese Neuregelungen den Menschen mit Conterganschäden helfen werden, im Alltag selbstständiger und eigenbestimmter zu werden und den Alltag besser zu bewältigen. Deswegen noch einmal vielen herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen für die nicht einfache und auch emotionale Arbeit der letzten Wochen und Monate. Noch einmal ein ganz großes Dankeschön nicht nur an die Geschädigten, sondern vor allem auch an deren Angehörige für den langen Weg, den sie gemeinsam gegangen sind. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute am Ende der Debatte den Entwurf eines Drittes Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes mit großer Mehrheit, wie ich denke, hier im Parlament verabschieden. Man muss sich natürlich fragen: Was war der Grund für dieses Gesetz? Diese Frage muss man immer dann stellen, wenn etwas schon lange zurückliegt; denn dann vergisst man: Warum müssen wir handeln? In den 50er-Jahren gab es ein Medikament, das allgemein unter dem Namen „Contergan“ bekannt war. Frauen, die es in der Schwangerschaft eingenommen haben, haben schwer geschädigte Kinder zur Welt gebracht. Etwas über 10 000 Kinder waren es. Von diesen etwas über 10 000 leben heute noch etwa 2 700 Personen, etwa 2 450 in Deutschland und etwa 250 im Ausland. Damals gab es noch nicht das, was wir heute unter dem Stichwort „Arzneimittelhaftung“ kennen. Man hat eine Lösung gesucht und gefunden. Sie war nicht einfach, weder für die Eltern noch, wie ich denke, für die Politik, die überhaupt nicht abschätzen konnte, was auf sie zukam. Die Firma Grünenthal, die damals das Medikament auf den Markt gebracht hat, hat 100 Millionen D-Mark in einen Fonds eingezahlt und Entschädigung geleistet. Dann wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ gegründet. Deshalb werden die Angelegenheiten der contergangeschädigten Menschen im Familienausschuss und nicht im Ausschuss für Arbeit und Soziales behandelt, in dem wir uns üblicherweise mit Angelegenheiten von Menschen mit Behinderung befassen. Wir sind seither dafür zuständig; denn seit der Gründung der Stiftung ist die Bundesrepublik Deutschland in die Rechtsnachfolge der Firma getreten. Das darf man nicht vergessen; sonst weiß man nicht, warum wir heute solche Gesetze machen. In all den Jahren hat die genannte Stiftung den betroffenen Menschen Entschädigungszahlungen geleistet. Heute verabschieden wir hoffentlich mehrheitlich das Dritte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes. ({0}) - Es ist sehr schön, wenn Sie mitstimmen, Herr Seifert. ({1}) - Wunderbar. Bislang haben wir ein erstes und ein zweites Änderungsgesetz verabschiedet. Schon beim zweiten haben wir gedacht, dass wir ganz viel geregelt haben. Aber wir müssen es erneut revidieren. Es war zwar der richtige Weg, aber wir sind nicht weit genug gegangen. Wir haben 2008 die Renten der Betroffenen von 545 Euro auf 1 090 Euro verdoppelt. Wir haben noch etwas anderes geregelt - das weiß kaum jemand -: Diese Zahlungen dürfen auf keine anderen Leistungen, auf sogenannte Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, angerechnet werden. - Das war ein Riesenschritt. Wir haben des Weiteren eine Regelung zur automatischen Anpassung dieser Renten verabschiedet. Damals betrug die durchschnittliche Rente etwa 982 Euro. Ein weiterer Punkt, über den wir sehr lange debattiert haben, war die Ausschlussfrist. Nach Ablauf dieser Frist konnte kein Betroffener mehr seine Ansprüche geltend machen. Diese Ausschlussfrist haben wir aufgehoben. Diese Änderung war im Hinblick auf die damals noch gar nicht abzuschätzenden gesundheitlichen Folgen, zum Beispiel für Gefäße und Nerven, wichtig. So konnten auch diese berücksichtigt werden. Wir hatten damals zudem jährliche Sonderzahlungen über 25 Jahre verabredet. Derzeit werden Sonderzahlungen in Höhe von durchschnittlich 2 200 Euro ausgezahlt. Wir haben damals aber noch mehr getan. Wir haben in einem Antrag festgehalten: Da wir überhaupt nicht wissen, wie sich die betroffenen Menschen entwickeln werden, wollen wir, dass dazu eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben wird. Damals haben die Betroffenen gesagt: Wir wollen nicht vermessen werden. Das haben wir gut verstanden. Aber eine solche Untersuchung war notwendig; denn erst mit dem Untersuchungsbericht ist uns in aller Deutlichkeit klar geworden, dass es sich bei den gravierenden Veränderungen, die bei den betroffenen Menschen im Laufe der Jahre eingetreten sind, nicht um Einzelfälle handelt. Diese Menschen haben große Bedarfe, um am Leben teilzuhaben und es zu gestalten. Der Zwischenbericht, der im Sommer letzten Jahres vorgestellt und zu Weihnachten eingebracht wurde und zu dem eine Anhörung mit über 200 Betroffenen im Februar dieses Jahres durchgeführt wurde, führt nun zur Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes. Frau Bär hat schon die wesentlichen Punkte genannt. Ich nenne zur Verdeutlichung noch einmal die alten Rentenwerte: Von etwa 1 100 Euro gibt es nun eine Steigerung auf bis zu 7 000 Euro monatlich. Diesen Höchstbetrag erhalten 119 Betroffene. Die drei- und vierfach Betroffenen werden am meisten bekommen. Aber alle werden mehr bekommen. Nur die prozentuale Steigerung fällt unterschiedlich hoch aus. Das alles bringen wir nun auf den Weg. Sollte sich aber herausstellen, dass wir erneut nachjustieren müssen, wird sich der nächste Bundestag sicherlich wieder auf den Weg machen, erneut aus den Erfahrungen und dem Leben der Betroffenen lernen und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen. Wir haben lange auch darüber diskutiert, wie wir das abdecken können, was die gesetzlichen Sozialversicherungen nicht bezahlen, weil sie sich weigern. Deshalb wurde dieser Fonds in Höhe von 30 Millionen Euro jährlich eingerichtet. Diese 30 Millionen Euro sollen - Frau Bär hat es gesagt - möglichst bürokratiearm in Anspruch Marlene Rupprecht ({2}) genommen werden können. Aber Sie wissen ja - so sagt man das bei uns -: Das Teufele steckt im Detail. Um zu verhindern, dass sich einige Sozialversicherungszweige, die zahlen müssten, weigern und die Anspruchsberechtigten gleich an den Fonds verweisen, muss dem Bundestag nach zwei Jahren berichtet werden, ob es einen Verschiebebahnhof gibt oder nicht, damit wir feststellen können, ob das Geld wirklich den Menschen zugutekommt oder ob sich einige der Lasten entledigen, die sie eigentlich tragen müssten. Was man gar nicht so sieht - das ist, denke ich, neben der Rentenerhöhung das Wichtigste -, ist, dass jetzt jemand zum Beispiel eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmen kann, ohne dass er wie andere Menschen, die diese in Anspruch nehmen, mit seinem Einkommen, seinem Vermögen oder dem Einkommen oder Vermögen seiner Angehörigen herangezogen wird. Das ist ein enormer Paradigmenwechsel, der zeigt, dass der Bundestag seine Verantwortung, die er gegenüber den Menschen hat, die durch Contergan geschädigt sind, ernst nimmt. Was ich aber auch gelernt habe - jetzt war ich 17 Jahre für dieses Thema zuständig -: Wir werden nie aufhören, zu lernen, und wir werden nie aufhören, zu begreifen, dass wir eine Verantwortung haben und im Notfall nachjustieren müssen. Wenn die 30 Millionen Euro nicht reichen, dann - das sage ich Ihnen - wird der Bundestag darüber noch einmal nachdenken müssen. Das ist das Leben. Ich wünsche mir, dass heute alle gemeinsam den Gesetzentwurf verabschieden und damit das Signal setzen, dass rückwirkend ab 1. Januar alle Betroffenen mehr Geld bekommen. Das ist das Wichtigste. Die Betroffenen stoßen hier im Parlament immer auf offene Ohren, und zwar bei allen Fraktionen. Vielen Dank an die Kollegen dafür, dass es geklappt hat. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion.

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es steht außer Frage, dass es die Contergangeschädigten und deren Eltern waren, die von Anfang an für Gleichstellung und Teilhabe eingetreten sind. Der Weg beim Kampf dieser Eltern für die Rechte ihres Kindes war steinig. Es war der Kampf gegen den ärztlichen Rat, gegen eine behindertenfeindliche Gesellschaft und gegen Grünenthal. Den damaligen gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung und Behinderten infrage zu stellen, begründete den Weg, der zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung führen soll. Diese Teilhabe kostet Geld. Die Rente aus der Conterganstiftung wird den heutigen Bedürfnissen der Betroffenen nicht mehr gerecht. Die finanziellen Belastungen durch die Folgen der Conterganschädigung nehmen immer weiter zu, da die körperlichen Einschränkungen immer größer werden. Mit der Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes wollen wir sicherstellen, dass sich die Lebenssituation der Contergangeschädigten nun endlich ganz entscheidend verbessert. Ich darf ganz ehrlich sagen: Ich freue mich sehr, dass wir bei diesem bewegenden Thema wieder eine sehr breite Mehrheit im Bundestag erreichen können, über die Parteigrenzen hinweg. Ich möchte mich hier ganz ausdrücklich bei den Betroffenen, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen für die konstruktiven Gespräche bedanken. Es ist im Sinne der Geschädigten, dass wir geschlossen und schnell handeln. Vor fast genau vier Jahren, am 22. Januar 2009, hat der Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP zugestimmt, der eine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung der Conterganopfer zum Ziel hatte. Ich zitiere: Die Lebensleistung der Contergangeschädigten verlangt uns größten Respekt ab. Sie haben sich in bewundernswerter Weise ihren Platz in Familie und Beruf erkämpft, ihre Selbständigkeit mit großem eigenen Engagement und Selbstbewusstsein erstritten. Doch jetzt stoßen sie an schmerzliche Grenzen. Den Antragstellern war damals bewusst, dass wir genauere Fakten benötigen, um gegenüber dem Steuerzahler eine Lösung zu rechtfertigen, die über den Beschluss von 2008 deutlich hinausgeht. Es ging damals um die Verdopplung der sogenannten Conterganrenten. Bereits diese Verdopplung war angesichts der eigentlich geplanten Erhöhung um circa 5 Prozent ein enormer Schritt. Frau Rupprecht, Sie nicken. Ich war leider nicht dabei, aber ich weiß es aus Erzählungen. Trotzdem war den Fachpolitikern bewusst, dass dieser Schritt nicht ausreichen würde, da sich der Gesundheitszustand der Betroffenen verschlechterte. In diesem gemeinsamen Antrag haben die Fraktionen von Union, SPD und FDP den Auftrag an das Familienministerium formuliert, eine Studie durchzuführen. Ziel war es, den Gesundheitszustand der circa 2 700 Conterganopfer zu untersuchen, die in den Geltungsbereich des Conterganstiftungsgesetzes fallen. Die drei Fraktionen wollten in einer umfassenden, lebensbegleitenden und auf Teilhabe angelegten Längsschnittstudie ein genaues Bild über die Lebenssituation Contergangeschädigter zeichnen, und zwar unter Einbeziehung von Folge- und Spätschäden, mit dem Ziel, geeignete Handlungsempfehlungen für weitere angemessene Hilfe darzustellen. Fraktionsübergreifend hatten wir das Ziel, ein weiteres Gesetz zu verabschieden, um die Spätfolgen der Conterganschädigung abzumildern. Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend. Die Spätfolgen der Conterganopfer sind gravierender, als Mediziner vorausgesagt hatten. Überlastete Gelenke, schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- und Unterstützungsbedarf erheblich. Die Situation stellt sich weit dramatischer dar, als es auch den Fachpolitikern bewusst war. Inzwischen leiden 85 Prozent der Conterganopfer an chronischen Schmerzen. Die Hälfte von ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele haben Depressionen. Damit wird auch die unabhängige Lebensperspektive derjenigen Menschen mit Conterganschäden gefährdet, die trotz aller Widrigkeiten eine stabile Lebenssituation für sich erkämpft haben. Ich finde es bei aller Schwere des Conterganskandals erfreulich, dass wir heute wieder darüber diskutieren, die Leistungen - sprich: die finanziellen Zuwendungen - an die Opfer zu verbessern. Es ist gut, dass wir die Zustimmung aller Fraktionen hierzu haben. Dies war mir immer ein persönliches Anliegen. Bei allem verständlichen Frust, den die Betroffenen im Hinblick auf die Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Contergan haben, halte ich das seit dem letzten Jahr gemeinsam Erreichte für enorm: Für die Schwerstbetroffenen hat sich seit 2008 die monatliche Rente fast verdreizehnfacht. Hinzu kommen Einmalzahlungen, die auf andere Sozialleistungen nicht angerechnet werden, und eine bessere medizinische Versorgung. Dabei ist sich die FDP immer bewusst, dass alle finanziellen Leistungen den Schaden für die Gesundheit und die schwere seelische Belastung der Betroffenen nicht ausgleichen können. Die Koalition - wir alle wollen, dass Contergangeschädigte eine gute Lebensperspektive haben. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das muss das Ziel sein. Wir stehen zu unserer Verantwortung. 6 912 Euro Höchstrente statt bislang 1 152 Euro lindern zumindest in finanzieller Hinsicht das entstandene Leid. Dieser Rentenanspruch wird rückwirkend zum 1. Januar 2013 ausgezahlt. Zusätzlich werden anrechnungsfrei andere notwendige Sozialleistungen gewährt. Im Bereich von Zahnersatz und Reha bekommen die Geschädigten die notwendigen Therapien über den Leistungskatalog der Krankenkassen hinaus. Trotz der schwierigen Bemühungen, einen strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen, ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen, für die Conterganopfer die eindrucksvolle Summe von 120 Millionen Euro jährlich dauerhaft zu verankern. Dafür möchte ich auch einmal Danke sagen. Die Koalition hat vier Jahre lang erfolgreiche und gute Politik für Deutschland gemacht. Auch für die Contergangeschädigten können wir heute dieses wirklich deutliche Zeichen der Hoffnung und Zuversicht und der Übernahme der Verantwortung setzen. Auch ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank allen, die wir zusammengearbeitet haben, und ich freue mich wirklich über das Ergebnis. Ich bedauere, dass die Fraktion Die Linke da leider nicht mitmachen konnte. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Ilja Seifert hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu sagen, dass wir „leider nicht mitgemacht“ hätten, ist wirklich eine Frechheit. Obwohl Sie uns die ganze Zeit aus allen Verhandlungen zu diesem Gesetz systematisch ausgegrenzt haben, wird die Linke selbstverständlich zustimmen, weil es die Lebensbedingungen für viele Conterganopfer und ihre Angehörigen verbessert. ({0}) Das ist in erster Linie ein großer Erfolg des jahrzehntelangen und sehr engagierten Kampfes der Contergangeschädigten selbst und ihrer Familien. Und ich meine, auch die Unterstützung der Linken trug dazu bei. Dies begann mit einer Kleinen Anfrage im Juni 2006 und zieht sich bis zu unserem Antrag durch, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht. Wir feiern heute einen Erfolg! Ja. Auch ich. Und zwar an der Seite der Betroffenen. ({1}) Dennoch ist Kritik angesagt, und sie muss auch einmal ausgesprochen werden. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FünfParteien-Koalition, hatten - genau wie ich - in den letzten Wochen eine Vielzahl von Gesprächen sowie schriftlichen Kontakten mit den Conterganopfern. Sie lasen die Studie und die Handlungsempfehlungen der Uni Heidelberg. Sie erlebten die Anhörung am 1. Februar mit mehr als 200 Teilnehmern. Sie haben die Sachverständigen im nichtöffentlichen Fachgespräch am 15. April angehört. Es gab sehr einleuchtende, sehr vernünftige, kluge Vorschläge. Die Linke legte bereits im Oktober 2012 ihren Antrag vor. Dieser entstand in sehr intensivem Dialog mit den Betroffenen. Es gibt Stellungnahmen und Vorschläge von verschiedenen Conterganverbänden sowie von der Anwaltskanzlei Menschen & Rechte. Und trotzdem: Sie schusterten - vergleichbar mit dem Gesetzgebungsverfahren vor der Bundestagswahl 2009 - in unnötigem Eiltempo einen Gesetzentwurf hin, der viele Fragen offen und viele Probleme ungelöst lässt. Meinen Sie wirklich, dass eine Entschuldigung seitens des Bundestages, der Bundesregierung, der Justiz und des Landes NRW für ihren Anteil an dem fortwährenden Conterganskandal nicht nötig wäre? Meinen Sie wirklich, dass es richtig ist, wenn die Schadensverursacher - die Firma Grünenthal und die milliardenschwere Familie Wirtz - nicht angemessen an den Kosten beteiligt werden? Meinen Sie wirklich, dass die Conterganrente, vor allem bei wirklich Schwerstgeschädigten mit hohem As29778 sistenzbedarf, reicht, um diese aus der Armutsfalle des SGB XII herauszuholen? Meinen Sie wirklich, dass man trotz der Ergebnisse aus der Studie der Uni Heidelberg die Spät- und Folgeschäden weiterhin unberücksichtigt lassen kann? Meinen Sie wirklich, trotz der Deckelung des Fonds für besondere Bedarfe ein praktikables Verfahren hinzubekommen? Meinen Sie wirklich, dass die im Fachgespräch vorgelegte - nicht erklärbare - Rententabelle gerechter sei als ein einheitlicher Wert je Schadenspunkt? Meinen Sie wirklich, dass man ohne strukturelle Änderungen in der Stiftung den Rechtsfrieden herstellen kann? Meinen Sie etwa, die berechtigten Ansprüche und Forderungen der Conterganopfer mit weniger als zehn Schadenspunkten, der von Ausschlussfristen Betroffenen sowie der im Ausland lebenden Opfer mit den Gesetzesänderungen wirklich befriedigend berücksichtigt zu haben? Nein, Sie meinen das nicht wirklich. Das, was Sie hier tun, ist vorsätzliche Unterlassung! ({2}) Ja, auch ich teile die Freude auf die zu erwartende Rentenerhöhung. Aber sie wird für rund 20 Prozent der Opfer nicht reichen, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben oberhalb des Existenzminimums zu ermöglichen. Das betrifft vor allem diejenigen mit hohem Bedarf an Assistenz und Pflege. Es erfolgt eben kein vollständiger Schadensausgleich. Eine Reihe von Fragen wird über Richtlinien geklärt. Hier ist der Bundestag leider nicht beteiligt. Ich verhehle nicht, dass ich der Exekutive gegenüber sehr skeptisch bin. Aber ich bin sicher: Was wir heute hier beschließen, darf kein Schlussgesetz sein. Der kommende Bundestag wird sich sehr bald nach seiner Konstituierung - nicht erst nach zwei Jahren - erneut mit der Problematik befassen müssen und befriedigende Lösungen für all die von mir genannten und noch etliche weitere Fragen finden müssen. Im Zeichen der UN-Behindertenrechtskonvention wird die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen dazu führen, dass die Regelungen für die Conterganopfer aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Einkommens- und vermögensunabhängig. Diskriminierungsfrei. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt dem Kollegen Markus Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Seifert, ich bin seit gut zehn Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich muss sagen: Die meisten Gesetze haben es so an sich, dass nicht alle Wünsche und Probleme, die damit verbunden sind, auf einen Schlag damit gelöst werden, sonst müsste man sie nicht auch noch manchmal ändern. ({0}) Selbstverständlich ist auch uns bewusst, dass noch eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten ist. Ich werde auf die Details gleich noch näher eingehen. Natürlich muss man sehen, wie das Gesetz umgesetzt wird. Aber das kann doch kein Grund sein, nicht noch in dieser Legislaturperiode wirklich einen Durchbruch zu schaffen und die Situation der Betroffenen ganz erheblich zu verbessern. ({1}) Wir können wirklich froh sein, dass an dieser Stelle Einigkeit in diesem Hause herrscht. Die Beharrlichkeit, die viele Kolleginnen und Kollegen an den Tag gelegt haben, hat sich gelohnt. Ich nenne hier insbesondere Frau Rupprecht. Vor vier Jahren, als die Entschädigungszahlungen, gemeinhin auch als Conterganrente bekannt, verdoppelt worden sind, haben eine ganze Reihe von Abgeordneten gesagt: Das ist toll und reicht jetzt. Diejenigen, die sich mit dem Thema intensiv beschäftigt hatten, wussten schon damals, dass die Zahlungen nicht ausreichen würden. Damals zeichneten sich schon längst die Folgeschäden ab bzw. waren schon vorhanden. Der Prozess der sogenannten Dekompensation hatte eingesetzt. Aufgrund der besonderen Leistungen mit den verbleibenden Gliedmaßen, dem Mund, mit anderen Hilfsmitteln, die die Geschädigten vollbracht hatten, hatte der Verschleiß auch vor vier Jahren schon längst eingesetzt. Die Studie der Universität Heidelberg fand dann Eingang in einen Entschließungsantrag. Deren Ergebnisse, so die Hoffnung vor vier Jahren, würden dazu beitragen, die Situation in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit ungeschminkt zu sehen, und das würde zu einer Anpassung der Entschädigungszahlungen führen. Das ist bis heute ein gutes Stück weit gelungen. ({2}) Der Änderungsantrag - deswegen stimmt auch meine Fraktion für den Gesetzentwurf, auch wenn sie nicht auf dem ursprünglichen Gesetzentwurf stand - enthält wesentliche Punkte. Hier sind vor allen Dingen die Nichtanrechnung von Leistungen der Behindertenhilfe und der Hilfe zur Pflege sowie Einkommen und Vermögen zu nennen. Ich betone ausdrücklich, auch mit Blick auf Herrn Seifert, dass wir auch Veränderungen bei der Conterganstiftung selbst vorgenommen haben. ({3}) Die Sitzungen der Stiftung sind öffentlich. Die Nichtöffentlichkeit muss ausdrücklich erklärt werden. Weitergehende Änderungen, die etwa die Mehrheitsverhältnisse betreffen, werden selbstverständlich auch in der kommenden Legislaturperiode weiter geprüft. Aber solange öffentliche Mittel in diese Stiftung fließen, wird es kein Finanzminister, egal welcher Partei, zulassen, dass zum Beispiel der Bund nicht auch die Mehrheit hat. Solche Rechtsverhältnisse muss man berücksichtigen. Auch die Deckung spezifischer Bedarfe wird hoffentlich funktionieren. Dabei muss man natürlich darauf achten, dass nicht die vorgelagerten Sozialleistungsträger, insbesondere die Krankenkassen, rundweg alles ablehnen und dass die Stiftung die Widerspruchsverfahren für die Betroffenen in die Hand nehmen muss. Diesen Bereich müssen wir uns sehr genau ansehen. Der Umgang mit den Folgeschäden, die in dem Gesetzentwurf nicht enthalten sind, verdient in der kommenden Legislaturperiode eine genauere Betrachtung. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Firma Grünenthal sich das ebenfalls noch einmal ansieht und klarer die Verantwortung für das übernimmt, was auf ihr geschäftliches Verhalten zurückgeht. ({4}) Es ist nicht nur der Bund, der gefragt sein wird. Aus dem Bundeshaushalt werden künftig jährlich 155 Millionen Euro gezahlt. Wir werden also in einigen Jahren bei den Kosten für die Folgeschäden die Milliardengrenze überschreiten. Hinzu kommen die Ausgaben der Sozialversicherungsträger. Die Firma Grünenthal hat 1972 114 Millionen D-Mark bezahlt, 2009 noch einmal 50 Millionen Euro. Wenn man sich die Verhältnisse ansieht, ist das geradezu lächerlich. Ich weiß, dass man das rechtlich - es gibt Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes - jetzt natürlich nicht mehr revidieren kann. Aber die moralische Verantwortung der Firma Grünenthal ist unzweifelhaft. Ich bin schon etwas irritiert, wenn ich sehe, dass die Firma Grünenthal in den vergangenen drei Jahren für 100 Millionen Euro an ihrem Standort in der Nähe der Uni Aachen den Grünenthal-Campus gebaut und gefördert, aber für die Geschädigten keine finanzielle Verantwortung übernommen hat. Uns bleibt hier im Deutschen Bundestag leider nur der immer wieder neue Appell. Damit, dass wir in diesem Hause gemeinsam Verantwortung übernommen haben, können wir erst einmal einigermaßen zufrieden sein. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hubert Hüppe. ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Jahrzehnte fühlten sich contergangeschädigte Menschen verraten und verkauft. Sie fühlten sich von der Firma Grünenthal ausgetrickst, und sie fühlten sich auch von diesem Staat im Stich gelassen. Aus der Öffentlichkeit kennen wir Menschen mit Conterganschädigungen. Wir kennen Künstler, Paralympics-Gewinnerinnen und -Gewinner, die ihren Sport inzwischen aber längst nicht mehr ausüben können und Schmerzen haben. Aber es gibt auch ganz viele Menschen, die wir nie gesehen haben. Es sind Menschen - durch die Studie haben wir gelernt, dass es im Alter immer schlimmer wird -, die jeden Tag, zu jeder Stunde Schmerzen haben und die sich nur mit Schmerzmitteln am Leben erhalten können. Es sind Menschen, die organische Schäden haben, die ohne Assistenz nicht aus dem Haus kommen. Was viele auch nicht wussten: Es gibt zum Beispiel auch Menschen, die aufgrund des Contergans gehörlos sind und die einen besonderen Assistenzbedarf haben. Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Arme und wären gehörlos: Sie könnten noch nicht einmal Gebärdensprache. Diese Menschen waren immer misstrauisch. Sie waren übrigens auch misstrauisch, als 2009 die Studie in Auftrag gegeben wurde, weil sie gedacht haben, dass die Politik wieder auf Zeit spielt und hinterher doch nichts dabei herauskommt. Es gab sogar einige, die zum Boykott aufgerufen haben; auch das ist die Wahrheit. Dann kam diese Studie, die zeigte, wie dramatisch die Schäden sind, und dass sie zum Teil noch schlimmer sind, als selbst die Fachleute geglaubt haben. Als wir mit den Betroffenen gesprochen haben - das haben ja alle Parteien bzw. Fraktionen getan -, zeigte sich, dass es drei Punkte gab, die sie sich gewünscht haben und die ihnen wichtig waren. Das Erste war, dass die Renten bzw. die Entschädigungsleistungen erhöht werden, damit man, ohne jemals einen Antrag stellen zu müssen, selbst bestimmen kann, was man mit diesem Geld macht. Das Zweite war, dass die Sonderbedarfe schnell eingeführt werden. Das Dritte war - Kollege Seifert, es ist kein Problem, sondern es war richtig -, dass diese Leistungen schnell kommen, weil diese Menschen sagen: Wir haben nicht mehr viel Zeit, uns läuft die Lebenszeit weg. ({0}) Deswegen war es richtig, dass, drei Wochen nachdem dieses Gutachten vorgelegt worden ist, die Koalitionsparteien sofort gesagt haben: Wir stellen über einen Haushalt nachträglich - das bitte ich auch einmal anzuerkennen - ab dem 1. Januar 2013 zusätzlich 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Das heißt, hier hat man wirklich einmal für die Betroffenen gesorgt, und alle Parteien haben mitgemacht. Das ist auch gut so. Es gehört sich, das hier noch einmal zu betonen. ({1}) Sicherlich sind nicht alle Forderungen erfüllt worden. Ich habe mit den betroffenen Menschen gesprochen. Alle erhalten von uns ein Schreiben, jeder hat seinen Ansprechpartner, oft sind es dieselben. Die Betroffenen schreiben, dass sie trotz aller Kritik erst einmal dankbar sind, dass endlich etwas geschehen und auch nachhaltig geschehen ist. ({2}) Ich weiß noch, dass mich jemand anrief und sagte: Ich muss protestieren! 120 Millionen für die restliche Lebenszeit, das ist viel zu wenig. - Da habe ich gesagt: Nicht für die restliche Lebenszeit, sondern für jedes Jahr! - Das war zu Beginn der Diskussion. Da kamen natürlich viele Dinge zusammen. Aber ich denke, dass die Entschädigungsleistung eine wirklich gute Sache ist; da sie nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, umso mehr. Noch einmal: Die Betroffenen sind dankbar. Ich bin dankbar, dass alle Beteiligten dafür gesorgt haben, dass wir zügig handeln konnten. Es ist auch ein Beitrag zur Verbesserung der Glaubwürdigkeit der Politik, ({3}) dass wir die Empfehlungen der Studie umgesetzt haben und nicht noch weiter diskutiert haben, vielleicht sogar bis in die nächste Legislaturperiode. Der Gesetzentwurf ist vor allen Dingen ein Fortschritt für die Menschen, die die Hilfe dringend benötigen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Thomas Jarzombek von der CDU/ CSU-Fraktion.

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bevor ich im Jahr 2009 in den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, war mir natürlich bekannt, dass es Contergangeschädigte gibt, aber mit den Einzelheiten dieser Schicksale war ich bis dahin nicht vertraut. Seit ich im Familienausschuss für meine Fraktion Berichterstatter zu diesem Thema bin, habe ich von den Schicksalen vieler Betroffener erfahren. Angesichts der Schilderungen muss ich sagen: Ich bin wirklich betroffen. Es sind unvorstellbare Schicksale aus der Sicht von jemandem, der selber so etwas nicht erlebt hat. Ich kann nur sagen: Ich habe wirklich großen Respekt vor denjenigen, die gelernt haben, mit diesen Schädigungen umzugehen, die trotzdem ihr Leben gestaltet haben. Diesen Respekt zolle ich ihnen heute. ({0}) Ich habe bereits in der Anhörung gesagt - ich möchte das heute wiederholen -: Als ob das Schicksal, das durch dieses Medikament verursacht wurde, nicht schon schlimm genug wäre, so sind den Opfern, den Betroffenen, im Laufe der Jahrzehnte verdammt viele Steine in den Weg gelegt worden. Manche Art und Weise im Umgang war unwürdig. Ich finde, wir haben die Pflicht, uns bei allen Betroffenen dafür zu entschuldigen. ({1}) An dieser Stelle möchte ich meinen Dank und meine Anerkennung auch denjenigen Kollegen aussprechen, die in der letzten Legislaturperiode mit dem Zweiten Conterganstiftungsänderungsgesetz viel Gutes auf den Weg gebracht haben. Ich finde es großartig, dass wir es hinbekommen haben, das heute mit dem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz fortzuführen, dass wir den Geschädigten, den Opfern, unkompliziert und ohne lange Antragsverfahren helfen; und das in einer Haushaltssituation, in der es in Anbetracht der Schuldenbremse so gut wie unmöglich ist - das weiß ich aus meinen anderen Themenbereichen -, auch nur kleine Summen für neue Projekte zu erhalten. Wir stellen nun jedes Jahr 120 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Wir tun hier einen großen Schritt, um für ein weiterhin selbstbestimmtes bzw. verbessertes Leben der Geschädigten zu sorgen, und darauf kommt es an. Ich kann dem Kollegen Kurth nur zustimmen: Wenn sich unser Staat eine Entschädigungszahlung von zusätzlich 120 Millionen Euro pro Jahr leistet - ausdrücklich keine Sozialleistung; das ist mir wichtig; das wurde übrigens durch die vorgenommenen Änderungen gewährleistet -, die nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet wird, dann fände ich es nur angemessen, wenn auch die Firma Grünenthal ihren Beitrag zur Entschädigung leisten würde. ({2}) Man kann auch einen großen Dank an diejenigen richten, die in der Stiftung viel Gutes getan haben, auch wenn es manchmal sicher schwierige Situationen gewesen sind. Ich bedanke mich an dieser Stelle und wünsche mir - auch das im Hinblick auf Änderungen, die wir im Beratungsverfahren erreicht haben und in die ich große Hoffnungen setze -, dass öfter öffentlich getagt wird. Am Ende bin ich stolz, an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet zu haben. Selten hat man ein so sicheres Gefühl, genau das Richtige zu tun. Wenn man sich das Schicksal der Betroffenen anschaut, kommen wir hier wohl allesamt zu der Überzeugung, heute genau das Richtige zu tun. Darauf bin ich stolz, und ich danke allen, die das ermöglicht haben. Ich hoffe, dass die Betroffenen damit wieder ein bisschen mehr Mut für ihr Leben fassen können. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13279, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 17/12678 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/13279 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11041 mit dem Titel „Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen 1814 ({1}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({2}) vom 2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom 7. Oktober 2008, 1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1851 ({5}) vom 16. Dezember 2008, 1897 ({6}) vom 30. November 2009, 1950 ({7}) vom 23. November 2010, 2020 ({8}) vom 22. November 2011, 2077 ({9}) vom 21. November 2012 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union ({10}) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/ GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/ 766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 - Drucksache 17/13111 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({11})RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dieser Aussprache nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen dem Redner folgen können. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, das Wort. ({12})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr geehrte Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Atalanta ist eine erfolgreiche Mission. Seit Beginn des Einsatzes konnte sichergestellt werden, dass über 150 im Auftrag des Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffstransporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichten. Insgesamt konnte 1 Million Tonnen Nahrungsmittel und Hilfsgüter nach Somalia gebracht werden. Das ist der eigentliche Grund, warum wir diese Mission begonnen haben. Wir wollen den Menschen helfen. Es ist auch einen Dank wert, dass die Frauen und Männer der Bundeswehr so erfolgreich gearbeitet haben. ({0}) Als wir hier vor einem Jahr über Atalanta debattierten, waren sieben Schiffe und über 200 Geiseln in den Händen von Piraten. Heute sind es noch zwei Schiffe und 60 Geiseln. Die letzte Entführung eines Schiffes liegt fast ein Jahr zurück. Auch die Zahl der versuchten Kaperungen ist eindeutig rückläufig. Das heißt nicht, dass alles gut ist. Wenn sich die Dinge gut entwickeln, dann sollte man aber einfach einmal einen Augenblick innehalten und die Geschehnisse Revue passieren lassen. Dabei stellt man fest, dass die Bedenken, die im letzten Jahr bezüglich der Anpassung des Atalanta-Mandates geäußert worden sind, von der Realität augenscheinlich nicht bestätigt worden sind. Mit anderen Worten: Ich bitte die Opposition, die dem Mandant damals nicht zugestimmt hat, weil sie Zweifel an der Ausweitung des Mandats hatte, diesem Mandat heute ihre Unterstützung zu gewähren. Die Bedenken, die Sie geäußert haben, waren augenscheinlich nicht zutreffend. ({1}) Das ist eigentlich ein guter Anlass, wieder zu einer gemeinsamen Haltung des Deutschen Bundestages zurückzukehren. Das Engagement der Europäischen Union mit deutscher Unterstützung war erfolgreich. Die Mandatserweiterung, nach der die Europäische Union bzw. unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt auch Waffen und Ausrüstung der Piraten am Strand zerstören dürfen, war beim letzten Mal Gegenstand einer großen Kontroverse. Heute sehen wir: Das war eine wirksame Mandatserweiterung. Ich meine, das wäre ein guter Anlass, die Verweigerung der Zustimmung vom letzten Jahr dieses Mal nicht zu wiederholen. ({2}) Natürlich ist der militärische Einsatz am Horn von Afrika in einen politischen Gesamteinsatz für Somalia eingebettet. Bei der Verfolgung der Hintermänner der Piraterie und der Aufdeckung ihrer Finanzen können wir Fortschritte verzeichnen. Auf Betreiben der Bundesregierung erhält dieses Thema auf internationaler Ebene nun deutlich mehr Aufmerksamkeit. Wir haben neue Strukturen geschaffen und die Zusammenarbeit der Polizeibehörden verbessert. Das erhöht den Druck auf die Hintermänner der Piraten. Es darf auf keinen Fall vergessen werden, dass es nicht ausreicht, die Piraten zu bekämpfen, indem man sie von ihren unrechtmäßigen Handlungen abhält. Es ist auch wichtig, die Hintermänner bei der Ausübung ihres blutigen Handwerks zu stören. Auch diesbezüglich ist durch die politische Arbeit einiges vorangekommen. Die Sicherheitslage in und um Mogadischu und in Teilen Süd- und Zentralsomalias hat sich deutlich verbessert. AMISOM, also die Mission der Afrikanischen Union in Somalia, hat bei der Verdrängung Al-SchababMilizen gute Erfolge erzielt. Die jüngsten Anschläge haben aber auch gezeigt, dass die Lage immer noch fragil ist. Das heißt, es ist richtig und geboten, dass wir mit unserem Engagement zum Beispiel die Schifffahrtsrouten weiter schützen, dass wir als Handelsnation die Seefahrtswege verteidigen, dass wir unsere Staatsbürger, aber auch die Bürger unserer Partner weiter schützen. Beim Aufbau der staatlichen Strukturen in Somalia gibt es ebenfalls Fortschritte. Seit September hat Somalia mit Hassan Sheikh Mohamud einen neuen Präsidenten und seit November eine vom Parlament bestätigte Regierung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat bereits am 18. September letzten Jahres einstimmig das Ende der Übergangsphase anerkannt. In vier Jahren soll es dann zu allgemeinen Wahlen kommen. Ich darf Ihnen mitteilen, dass Deutschland seit kurzem wieder durch eine Botschafterin bei der somalischen Regierung akkreditiert und Deutschland damit wieder vor Ort vertreten ist. Damit konnten wir eine mehr als 20-jährige Phase ohne förmliche Vertretung beenden. Auch das ist Ausdruck der Normalisierung der Lage in Somalia. Abermals will ich aber hinzufügen, dass die Lage unverändert fragil ist. Es ist also nicht alles gut in Somalia. Es bleibt noch viel zu tun, bevor wir von einer stabilen Staatlichkeit in Somalia sprechen können. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen den eingeschlagenen Weg entschlossen fortsetzen: durch politische Unterstützung, durch Entwicklungszusammenarbeit - übrigens auch durch humanitäre Hilfe, wo sie weiterhin nötig ist - und nicht zuletzt durch unsere Beteiligung an der EU-geführten Operation Atalanta. Die völkerrechtlichen Grundlagen dieses Einsatzes bilden weiterhin die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die Beschlüsse des Rates der Europäischen Union sowie die Zustimmung der somalischen Regierung. Für die Bundesregierung beantragen der Bundesverteidigungsminister und ich hier die Verlängerung des Mandats ohne inhaltliche Veränderung. Was wir im letzten Jahr beschlossen haben, hatte Hand und Fuß. Es war erfolgreich. Wir sollten es in diesem Jahr fortsetzen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Karin Evers-Meyer. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion ist für eine Fortsetzung der EU-geführten multinationalen Operation Atalanta auf See. Ich wiederhole das noch einmal: auf See. Die Operation ist erfolgreich. Die Bundeswehr hat im Rahmen von Atalanta mitgeholfen, die Piraten vor der somalischen Küste zurückzudrängen. Seit Mai 2012 hat es dort keine Schiffsentführungen mehr gegeben, immerhin in einem Seegebiet, das größer als der ganze europäische Kontinent ist. Die professionelle Einsatzplanung und das konsequente Vorgehen der beteiligten Truppen haben bewirkt, dass sich das Geschäftsmodell Piraterie nicht mehr lohnt. Die Bundeswehr hat ihren Anteil an diesem Erfolg, einen großen Anteil. Als SPD-Fraktion hätten wir daher heute gern für eine Verlängerung des Mandats gestimmt. Leider macht die Bundesregierung uns diese Zustimmung erneut unmöglich. ({0}) Wieder verbindet sie in ihrem Antrag die Mandatsverlängerung mit einer Ausweitung des Einsatzes auf die Küstengewässer und das Staatsgebiet von Somalia einschließlich des Luftraums. Dem stimmen wir auch heute nicht zu. Der Auftrag von Atalanta ist der Schutz der Schiffe, die im Rahmen des UN-Welternährungsprogramms mit Hilfsgütern für Somalia unterwegs sind. Die Erfolgsquote von Atalanta liegt bei 100 Prozent. Wir bezweifeln allerdings nach wie vor den militärischen Nutzen der Mandatserweiterung. ({1}) Mit dieser Einschätzung sind wir nicht allein. Im vergangenen Jahr wurden nur ein einziges Mal tatsächlich Ziele an der somalischen Küste angegriffen. ({2}) Über dieses eine Mal hinaus haben die Militärs vor Ort offensichtlich keine Notwendigkeit für weitere Einsätze an der Küste gesehen. Atalanta und die Bundeswehr sind erfolgreich, ohne dass der Operationskorridor auf Küstengewässer hätte ausgedehnt werden müssen. ({3}) Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines erweiterten Mandats für die Bundeswehr haben daher nicht zuletzt auch Fachleute aus den Reihen der Bundeswehr selbst. ({4}) Noch etwas, verehrte Kolleginnen und Kollegen - seien Sie sich dessen bitte bewusst -: Jede Erweiterung des Mandats erhöht auch die Risiken für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Wollen Sie die Bundeswehr an Somalias Stränden dem Risiko aussetzen, in unübersichtliche Gefechtssituationen zu geraten, obwohl sie dafür gar nicht ausgerüstet ist? ({5}) Wollen Sie das Risiko eingehen, dass Unbeteiligte von der Bundeswehr in Kampfhandlungen verwickelt werden? ({6}) Es ist auch unsere Aufgabe, die Truppe und Zivilisten vor unnötigen Risiken zu schützen. Genau das tun wir als SPD-Fraktion. Wir sind unverändert gegen diese Mandatserweiterung. Wir brauchen sie nicht, um erfolgreich zu sein. Deswegen werden wir unsere Soldatinnen und Soldaten keinem zusätzlichen Risiko aussetzen. Wir unterstützen ausdrücklich das deutsche Engagement am Horn von Afrika, wir unterstützen die Operation Atalanta, aber der Ausweitung des Mandats auf die Strandgebiete und küstennahe Gewässer haben wir nicht zugestimmt, und wir werden dies auch heute nicht tun. ({7}) Wir brauchen die Mandatsverlängerung - die brauchen wir wirklich -, aber wir brauchen keine Mandatserweiterung. Sehr geehrte Damen und Herren aus den Regierungsfraktionen, ich werde Sie trotz guter Argumente heute sicherlich nicht von Ihrer Überzeugung abbringen, dass die Bundeswehr auch an der somalischen Küste aktiv werden muss. Wenn aber schon das nicht geht, dann erlauben Sie mir die Frage: Warum stimmen wir über die Mandatserweiterung nicht getrennt von der Mandatsverlängerung ab? Wir haben Ihnen mehr als einmal vorgeschlagen, dies getrennt zu behandeln: eine Abstimmung über die Ausweitung des deutschen Einsatzes am Horn von Afrika, ({8}) eine Abstimmung über die Verlängerung des Mandats für Atalanta. ({9}) Sie haben das ohne Angabe von Gründen abgelehnt. ({10}) - Das tun wir; das habe ich ja eben gesagt. - Stattdessen legt uns die Bundesregierung heute einen Antrag vor, der die Verlängerung des Mandates inklusive der von uns schon beim letzten Mal abgelehnten Ausweitung vorsieht. Kolleginnen und Kollegen, damit haben Sie keine Größe bewiesen. ({11}) Ihre Spielchen gehen doch zulasten der Soldatinnen und Soldaten. Diese haben ein Recht darauf, dass sich aus den Ergebnissen der Abstimmungen des Bundestages über die Einsätze der Bundeswehr ein differenziertes Bild ergibt. ({12}) Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir hier im Hause größtmöglichen Rückhalt für ihre Einsätze organisieren. ({13}) Mit zwei getrennten Anträgen wären Sie diesen Erwartungen gerecht geworden. ({14}) Aber das wollten Sie nicht. Das Ergebnis lautet: Mit der Verquickung von Mandatsverlängerung und -erweiterung haben Sie die berechtigten Erwartungen der Soldatinnen und Soldaten in Sachen Atalanta enttäuscht. ({15}) Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben auch viele Mitglieder dieses Hauses vor den Kopf gestoßen. Denn Sie wissen: Jede Entscheidung über einen Einsatz der Bundeswehr ist für viele Kolleginnen und Kollegen eine schwerwiegende Gewissensentscheidung. ({16}) Meine Fraktion und ich hätten uns gewünscht, dass Sie den Kolleginnen und Kollegen den gebotenen Respekt zollen ({17}) und ihnen die Möglichkeit geben, das Gute und Richtige vom Unnötigen zu trennen. Einsatzverlängerung und -ausweitung sind zwei Paar Schuhe und nicht zwei Seiten derselben Medaille. ({18}) Lassen Sie mich nach der Feststellung dieses Ergebnisses noch etwas zur Situation in Somalia sagen. Wir sind uns darin einig, dass es in der Region weiter darum gehen muss, Ursachen zu bekämpfen. Symptome zu behandeln, reicht auf Dauer nicht aus. Die wesentlichen Impulse, durch die die bewaffneten Kämpfer auf See gestoppt werden können, müssen aus Somalia selbst kommen, und da gibt es noch ganz viel zu tun. Seit 1991 versinkt Somalia im Strudel aus Gewalt und Chaos. Nicht nur Piraten bereiten Sorge, sondern auch Islamisten der Terrorgruppe al-Schabab, die mit al-Qaida kooperieren. Vornehmlich sind es bisher Soldaten aus Uganda und Kenia, die sich den Al-Schabab-Milizen entgegenstellen, sie zurückdrängen und aus den Städten vertreiben. Eine dauerhafte Stabilisierung der Lage kann nur die somalische Regierung in Mogadischu selbst herbeiführen. Wir können allerdings helfen: bei der Herstellung einer verlässlichen Gerichtsbarkeit, der Errichtung rechtsstaatlicher Strukturen und der Eindämmung der Korruption. ({19}) Es gibt vieles, bei dem wir mithelfen können, um den Piraten und den Al-Schabab-Milizen das Wasser abzugraben. Es gibt genug Möglichkeiten, Atalanta durch durchdachte Maßnahmen an Land zu flankieren. Die Ausbildung somalischer Rekruten im Rahmen der European Union Training Mission in Uganda ist ein gutes Beispiel dafür. Hier zeigt die Bundeswehr ihre Leistungsfähigkeit, unter zum Teil schwierigsten Bedingungen. Seit April 2010 haben Soldaten der EU, auch der Bundeswehr, etwa 3 000 somalische Soldaten ausgebildet. Sie sollen helfen, Somalia von innen zu stabilisieren. Diesen Weg wollen wir als SPD-Fraktion weitergehen. Dafür haben Sie unsere Unterstützung. Wir fordern Sie auf, hier endlich entschlossener zu Werke zu gehen, anstatt die Glaubwürdigkeit eines guten und richtigen Mandates durch eine nach wie vor fragwürdige Erweiterung aufs Spiel zu setzen. Vielen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister Dr. Thomas de Maizière. ({0})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen und Monaten viel über die Rolle der Europäischen Union im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik diskutiert. Wir stehen mitten in der Vorbereitung eines Gipfels, auf dem wir uns im Dezember dieses Jahres erstmalig mit der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschäftigen werden. Wir können in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam mehr machen; wie viel mehr, darüber diskutieren wir. Wir sollten mehr tun. Deswegen fange ich meine Rede in dieser Debatte über die EU-geführte Operation Atalanta so an. Somalia ist, jedenfalls seit einiger Zeit, ein gutes Beispiel dafür, dass der Mehrwert der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht darin besteht, dass man nur auf die Soldaten, das Zivile, die Polizei oder das Ökonomische blickt, sondern darin, dass man im Rahmen eines vernetzten Ansatzes wirkt. Ich sage das deswegen, weil ich - gerade als Verteidigungsminister - zu denen gehört habe, die kritisiert haben, dass die ganze Last dessen, was in Somalia zu leisten war, auf den Soldaten lag, die Piraten bekämpft haben, und der Kampf gegen die Hintermänner, das Wirken am Strand - dazu komme ich gleich -, die Stabilisierung der Regierung, all das vernachlässigt worden war. Seit einiger Zeit ist vieles besser geworden. Darüber freuen wir uns, und deswegen geht es in Somalia - der Außenminister hat das vorgetragen - auch voran. Das Mandat, über das wir heute diskutieren - Atalanta -, ist ein EU-Mandat. Für die gleichen Gewässer gibt es aber auch ein NATO-Mandat, in diesen Gewässern agieren auch andere Staaten - ich weiß nicht, ob das bekannt ist; ich nenne einmal einige dieser Staaten - die Vereinigten Arabischen Emirate, China, Thailand, sogar der Iran, Indien, Malaysia, Russland, Saudi-Arabien, Singapur und Japan. Sie alle versuchen teils mit eigenen, unabhängig operierenden Schiffen Piraten zu bekämpfen und sind erfolgreich dabei. Interessanterweise wird das alles von einer Stelle aus koordiniert. Ich erwähne das nicht nur deswegen, weil es eine gute Zusammenarbeit zwischen EU und NATO gibt, die einen leise fragen lassen kann, ob die Mandate nicht auf Dauer - in welcher Weise auch immer - zu einem Mandat zusammengelegt werden könnten, ich erwähne das auch deswegen, weil wir es schaffen, mit einzelnen Staaten, die sich einem gemeinsamen Anliegen verbunden fühlen, so zusammenzuarbeiten, dass ein gutes Ganzes dabei herauskommt. Die Dinge sind nicht nur durch den Einsatz der Soldaten besser geworden, sondern auch durch eine Verbesserung der Ausrüstung der Schiffe und durch - natürlich haben wir darüber diskutiert, und das ist durchaus zu problematisieren - die Entsendung privater Escort Teams, die Schutz bieten sollen. Wir haben in der letzten Woche ein entsprechendes Gesetz für deutsche Zertifizierungen verabschiedet. Das alles sind Beiträge, die die Situation verbessert haben, und die zeigen: So ein Einsatz geht nur gemeinsam. Die nötige Gemeinsamkeit hatten wir auch in diesem Parlament. Liebe SPD, als ich Frau Evers-Meyer gehört habe, musste ich an einen alten Spruch von Konrad Adenauer denken: Geht es nicht eine Nummer kleiner? Sie haben behauptet, wir würden das Leben der Soldaten gefährden, wenn es um das Wirken am Strand geht, und wir sollten Sie in Ihrer Gewissensnot nicht überfordern mit all dem. Ich will Ihnen einmal sagen: Wir reden über einen Wunsch der Soldaten. Es war ein einstimmiger Beschluss aller EU-Staaten - egal wer dort regiert hat -, den Einsatz so durchzuführen. Wir haben von Anfang an gesagt: Das ist keine große qualitative Veränderung, sondern nicht mehr und nicht weniger als eine nützliche kleine zusätzliche Option. Sie haben da eine riesige Eskalationsgefahr gesehen und haben danach gefragt, ob man Zivilpersonen wie Fischer überhaupt von Piraten unterscheiden könne. Es hat einen Vorfall gegeben; Sie haben zu Recht darauf hingewiesen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 2012 führte ein solcher Einsatz von Hubschraubern auf dem Land zur Zerstörung mehrerer Piratenskiffs und mehrerer Außenbordmotoren. Es gab keine zivilen Verletzten, aber der Einsatz hatte eine ziemlich abschreckende Wirkung. Wir wissen ja ganz genau, wo sich die Infrastruktur der Piraten befindet, und wir haben beim letzten Mal im Ausschuss die Bilder alle gezeigt. Wir können Ihnen jetzt auch Bilder zeigen: Es gibt diese Infrastruktur nicht mehr am Strand; daher muss man sie auch nicht mehr bekämpfen. Deswegen sollten wir aber dieses Mandat - so wie es ist - fortsetzen. ({0}) Denn wir haben gezeigt, dass unsere Soldaten mit solchen Optionen maßvoll, vernünftig, deeskalierend und im Ergebnis effektiv umgehen. Deswegen wiederhole ich: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner? Ich verstehe, dass Sie Schwierigkeiten damit haben, so kurz vor der Bundestagswahl aus einer Ablehnung eine Zustimmung zu machen. Das kann ich politisch verstehen. In der Sache ist es jedoch nicht richtig. Bitte machen Sie Ihre Kritik eine Nummer kleiner; das ist auch eine Ermunterung an den nächsten Redner von den Grünen, der vielleicht Ähnliches vortragen wollte. Ich bitte Sie also für die Bundesregierung - gemeinsam mit meinem Kollegen Westerwelle - um die Verlängerung dieses Mandats. Wir sind uns einig: Das kann nur in einem gemeinsamen, vernetzten Ansatz funktionieren. Wir alle sollten unsere Soldaten in der ganzen Breite des Mandats unterstützen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor beinahe genau 20 Jahren, am 21. April 1993, befahl der damalige Verteidigungsminister Rühe von der CDU den Bundeswehreinsatz im Rahmen der Mission UNOSOM II. Ich erinnere mich noch, dass ich damals bei einer Protestaktion vor dem Kanzleramt in Bonn eine Salami zerschnibbelt habe. ({0}) Damit wollte ich darauf hinweisen, dass dieser Einsatz Bestandteil einer Salamitaktik ist, um die deutsche Öffentlichkeit daran zu gewöhnen, dass deutsche Soldaten wieder in Kriege ziehen. ({1}) Diese damalige Salamitaktik ist leider aufgegangen, und auch Sie, Herr Minister, praktizieren sie weiter; denn durch die schrittweise Ausweitung ({2}) wollen Sie sozusagen immer weitere Kreise für diese Militäreinsätze ziehen. Heute wird die Bundeswehr in aller Welt eingesetzt, als ob das selbstverständlich wäre. Die Kollegin EversMeyer hat eine vorsichtige Anfrage zu einem ganz konkreten Mandat gestellt und ist hier mit der geballten Macht der Ministerreden abgestraft worden. Das kann doch wohl so nicht sein! ({3}) Wir müssen heute wieder über die Verlängerung des Atalanta-Militäreinsatzes sprechen, und zwar auch deshalb, weil alle Bundesregierungen seit 1990 immer wieder auf militärische Lösungen für die Probleme dieser Welt gesetzt haben. Wir müssen uns aber 20 Jahre später fragen: Welches dieser Probleme ist wirklich gelöst worden? ({4}) Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ich als Geschäftsführerin einer Friedensorganisation gearbeitet. Dabei habe ich gelernt: Wenn ich staatliche Mittel für Friedensprojekte haben möchte, dann muss ich sehr überzeugende Anträge stellen und vor allem begründen, dass die Projekte innovativ und nachhaltig sind. Das Ganze muss man evaluieren, um die Wirksamkeit zu belegen. Sonst gibt es kein Geld. Großzügig sind Sie immer nur dann, wenn es um Militäreinsätze geht. Die Bundesregierung lässt sich diesen Einsatz von 340 Soldaten jedes Jahr mehr als 100 Millionen Euro kosten. Das ist mehr als dreimal so viel, wie Sie für alle 300 Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes, die in 40 Ländern der Welt für Frieden und Versöhnung arbeiten, insgesamt ausgeben. ({5}) Ihre militärfixierte Politik verschleudert aber nicht nur Geld. Das Schlimme ist: Sie kostet auch Menschenleben. - Das ist wirklich ein Skandal. ({6}) Innovation und Nachhaltigkeit: Wo sind sie in diesem Konzept? Sie greifen immer wieder zum gleichen untauglichen Mittel, und wenn dieses Mittel keinen Erfolg bringt, dann erhöhen Sie einfach die Dosis oder definieren die Ziele so um, dass es nach Erfolg aussieht. Ich habe im Antrag der Bundesregierung einen ganz richtigen Satz gelesen. Er lautet: Die nachhaltige Lösung des Piraterieproblems liegt … in der nur langfristig zu erreichenden Stabilisierung der Verhältnisse an Land. ({7}) Ich muss Sie wirklich fragen: Wie nachhaltig ist das, was wir hier tun? Wie nachhaltig ist es, wenn Sie diesen Einsatz Mal um Mal verlängern? Wir alle wissen nämlich: Es müsste eigentlich eine politische Lösung geben, die nicht nur auf eine Bürgerkriegspartei setzt, sondern alle Konfliktparteien, die lokalen Autoritäten und die Zivilgesellschaft auch in politische Prozesse einbindet. ({8}) Tun Sie doch ein einziges Mal das, was Sie von jeder kleinen Entwicklungsorganisation verlangen: Evaluieren Sie diesen Einsatz! Ich habe hier nur davon gehört, dass alles erfolgreich ist. Natürlich ist die Zahl der Piratenangriffe zurückgegangen, aber auf die Frage, was die konkreten Ursachen dafür sind, haben ja selbst die Minister zugegeben, dass sie sich nicht sicher sind, woher das kommt. ({9}) Ist das wirklich eine Folge von Atalanta, oder hat das vielleicht mit der veränderten Situation an Land oder mit dem veränderten Umgang der Reedereien mit den Risiken zu tun? Das müsste man doch durch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einmal ordentlich evaluieren, bevor man diesen Einsatz hier wieder verlängert. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, Sie haben sich letztes Jahr mit teilweise guten Argumenten gegen die Ausweitung des Mandates auf das Festland gewandt. Ich hoffe, das haben Sie noch nicht vergessen. Die Linke war jedenfalls von Anfang an gegen diesen Militäreinsatz, ({11}) und so wird es auch bleiben. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion hat dem Atalanta-Einsatz bis zum letzten Jahr immer zugestimmt. Im Auftrag der UNO werden die Schiffe des Welternährungsprogramms zur Versorgung der Bevölkerung gegen Piraten geschützt, und der freie Zugang zur hohen See für die zivile Schifffahrt in der Region wird gesichert. Das ist richtig. Das unterstützen wir ausdrücklich. Aber letztes Jahr hat die Bundesregierung gravierende Änderungen am Mandat vorgenommen. ({0}) Es war und ist hoch riskant, das Mandat auf Luft-BodenOperationen über dem Land auszuweiten, und zwar 2 Kilometer tief ins Landesinnere auf 3 000 Kilometer Küstenlänge. ({1}) Das sei unbedingt notwendig, um die Piraterie erfolgreich zu bekämpfen, wurde gesagt. Da habe ich gedacht, Herr Minister: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner? Wir alle wissen: Gerade bei Angriffen aus der Luft drohen zivile Opfer. Das ist eine bittere Lehre der vergangenen Jahre. Das muss nicht, aber könnte die Gewaltspirale weiter antreiben und eine politische Lösung des Somalia-Konflikts erschweren. ({2}) Solche Einsätze gehen natürlich einher mit zusätzlichen Risiken für die Soldaten. Das Argument „Es ist bisher nicht passiert, es hat nur einen Einsatz gegeben, und es wird auch weiter nichts passieren“ überzeugt uns in doppelter Hinsicht leider nicht. ({3}) Dass es elf Monate keine entsprechenden Operationen gab, heißt ja nicht, dass es sie in den nächsten Monaten nicht geben wird oder nicht geben muss. ({4}) Und umgekehrt: Die Tatsache, dass es kaum entsprechende Operationen gab, entkräftet ja Ihr Argument, die Mandatsveränderung sei für eine erfolgreiche Bekämpfung der Piraterie unbedingt erforderlich gewesen. Das ist ja dann offenkundig nicht so. ({5}) Deswegen werde ich meiner Fraktion empfehlen, sich bei der Abstimmung über die Verlängerung dieses Mandats wie letztes Jahr zu enthalten. ({6}) In den vergangenen Monaten haben wir eine zunehmende Stabilisierung in Somalia erlebt. Die Piraterie ist weiter zurückgegangen. Die Al-Schabab-Milizen wurden durch den Einsatz der Afrikanischen Union und insbesondere durch Kenia zurückgedrängt. Der politische Prozess macht Fortschritte, wenn auch sehr kleine. Doch es bleibt unklar, welche weiteren Schritte die Bundesregierung unternehmen will. Wir haben im letzten Jahr einen Evaluierungsbericht zum bisherigen Einsatz gefordert. Ein solcher Bericht liegt wieder nicht vor. Dabei wäre das notwendig, um zu sehen, welche Fortschritte oder auch Rückschritte es gibt. Damit meine ich insbesondere den zivilen Bereich. Wir brauchen eine intensive zivile Aufbauarbeit. Wir brauchen einen Versöhnungsprozess, der lokale Führungseliten aus allen Landesteilen und die Zivilgesellschaft umfasst. Dazu gehört auch, die neue Regierung unter Scheich Mahmud viel gezielter beim Wiederaufbau zu unterstützen. Die Weltbank macht es, der Internationale Währungsfonds auch, die Bundesregierung aber leider nicht. Deswegen fordern wir von Ihnen: Füllen Sie endlich Ihr eigenes Somalia-Konzept mit Leben, damit die Menschen dort die Friedensdividende mehr spüren. Danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Herr Schmidt ans Rednerpult getreten ist, habe ich zunächst einmal die Hoffnung gehabt, dass er den eigenen Argumentationen im Ausschuss und an anderer Stelle, etwa dort, wo sich die Grünen öffentlich zu diesem Thema äußern, folgt und dann zu dem Schluss kommt, diesem Mandat zustimmen zu können. All das, was Sie als Konditionalität hier genannt haben, ist genau das, worüber vorhin beide Minister gesprochen haben. Nichts anderes hat die Bundesregierung hier getan, als die Fortschritte im Rahmen dieser Mission zu beleuchten. Ich wiederhole, worum wir gemeinsam mit unserer Regierung bei jeder Mandatsverlängerung bitten: Wir erklären, dass wir davon überzeugt sind, dass eine rein militärische Lösung nie von Dauer sein kann. Vielmehr sind wir davon überzeugt, dass militärische Komponenten Teil einer Lösung sind. Auch deshalb widerspreche ich der Linkspartei, die hier sehr engagiert eine Totalablehnung vorgetragen hat. Gerade das Beispiel Atalanta zeigt doch, wie hoch die Akzeptanz innerhalb der deutschen Bevölkerung ist, wenn eine Mission nachhaltig erfolgreich ist ({0}) und wenn sie in einen größeren politischen Rahmen eingebettet ist, wie ihn Herr Schmidt von uns hier so engagiert eingefordert hat. Es ist doch in der Tat so, dass wir - nicht nur, was den bemerkenswerten Einsatz der Soldatinnen und Soldaten angeht, sondern auch, was die Entwicklungshelfer und das diplomatische Korps angeht alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um Somalia in dieser schwierigen Phase zu unterstützen. Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie, Herr Schmidt - Sie haben am Ende gar keine Meinung geäußert; denn Enthaltung ist gar keine Meinung -: Geben Sie bitte im Verlauf der Ausschussberatungen Ihrem Herzen noch einmal einen Ruck und folgen Sie unserer Argumentation. Wir sind ja auch gerne bereit, noch weiter mit Ihnen zu diskutieren und dies auch öffentlich zu tun; das machen wir ja bei vielen Gelegenheiten. Aber Ihre Enthaltung an dieser Stelle kann ich nicht nachvollziehen. Da empfinde ich es fast schon als konsequenter, was die Fraktion die Linke macht, die sich hier wie bei allen Mandaten verantwortungslos zeigt und sich dabei in ideologischen Widersprüchen verheddert. Was ich allerdings am wenigsten verstehe, Frau Evers-Meyer, ist Folgendes: Sie hatten ja hier sehr groß vorgetragen, dass Sie von uns die Trennung der Mandate einfordern. ({1}) Es ist zu offensichtlich - Minister de Maizière hat es ja auch angesprochen -, dass Ihr jetziges Verhalten mit dem Wahltermin zusammenhängt; ({2}) denn Sie verabschieden sich hier aus einem Mandat, das wir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben ({3}) und das aus Ihren eigenen Reihen - leider sehe ich Herrn Kollegen Bartels gerade nicht - ja sogar gelobt wird. Kollege Bartels lobt nicht das Mandat der Vergangenheit, vielmehr fand ich als aufmerksamer Leser der Kieler Nachrichten vom 16. Januar dieses Jahres Folgendes - ich lese Ihnen das vor; ich kann Ihnen das nicht ersparen -: Für besonders erfolgreich hält Bartels auch die laufenden Marine-Missionen. Der Anti-PiratenEinsatz „Atalanta“ vor der somalischen Küste sei zu Beginn belächelt worden. Doch nach und nach sei es gelungen, den Piraten das Kaper-Geschäft deutlich zu erschweren: durch gesicherte Korridore für Handelsschiffe und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen der Reeder. In der Folge sind die Angriffe drastisch zurückgegangen. 2012 konnten die Piraten nur noch fünf Schiffe in ihre Gewalt bringen - nach 25 im Vorjahr. Wenn das Ihre Expertise dazu ist, dann verstehe ich nicht, warum die SPD hier dem Mandat nicht zustimmen will; ({4}) denn Herr Bartels hat recht mit dem, was er gesagt hat, und er spricht hier deutlich von dem aktuellen Mandat und von nichts anderem. ({5}) - Ich lasse die Zwischenfrage von Herrn Arnold natürlich gern zu; darauf freue ich mich. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja, bitte schön.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie unsere Kollegen immer so gerne zitieren. Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass all das, was Sie vorgelesen haben, ausschließlich mit der Aufgabe der Bundeswehr auf See zu tun hat? All das, was Sie vorgelesen haben, hat die Bundeswehr auf See erledigt.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, stimmt ja gar nicht!

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zweitens. Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass der entscheidende Faktor für den Erfolg der Mission neben dem großen Engagement der Streitkräfte - das ist wirklich wichtig - die Sicherheitsmaßnahmen der Reeder an Bord sind? Ist Ihnen bekannt, dass kein einziges Schiff mehr gekapert wurde, auf dem bewaffnete Sicherheitskräfte waren? Deshalb müssen wir auch darüber reden. Ich stelle eine dritte Frage, Herr Kollege. Man kann ja darüber reden, was an Land Sinn macht oder nicht. Aber wenn wir etwas mandatieren, dann muss es doch Sinn machen. ({0}) Ist Ihnen bekannt, dass es in der ganzen Zeit nur ein erkanntes sogenanntes Piratencamp am Strand gab? Ist es Ihnen ein Mandat wert, drei kleine Boote und eine Handvoll Außenborder zu zerstören? ({1}) Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass überhaupt kein Piratengerödel am Strand liegt, weder vorher noch nachher, das bekämpft werden konnte und bekämpft werden kann, sondern dass die Piraten vor und nach Ihrer Mandatserweiterung immer alles aus den Dörfern herangeschleppt und sofort auf die größeren Schiffe hinausgebracht haben? Das heißt, Herr Kollege: Müssen wir etwas mandatieren, was so marginal ist? Ich glaube, dazu sind unsere Mandate zu ernsthaft. Darum geht es uns im Kern, ({2}) um genau das, was Ihr Minister gesagt hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Arnold!

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fertig. - Das ist also genau das, was Ihr Minister gesagt hat: eine Nummer kleiner bei Ihrer Erweiterung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bleiben Sie bitte stehen, Herr Arnold?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Adenauer-Zitat muss Sie sehr getroffen haben, Frau Evers-Meyer, nicht wahr? Aber Adenauer kann man immer gut zitieren. Wir präsentieren Ihnen bei einer der nächsten Debatten noch ein paar Zitate. Ich habe Ihnen dazu nur Folgendes zu sagen, Herr Arnold: Wir glauben und sind der festen Überzeugung - ansonsten hätten wir es ja hier gar nicht so eingebracht -, dass beide Komponenten zusammengehören. Wir sind davon überzeugt - Sie können das gerne anders sehen -, dass die Erweiterung des Mandats dazu beigetragen hat, dass sich die Piraten um ihrer eigenen Sicherheit willen defensiver verhalten. Wir würden es bedauern - das fänden wir nicht gut -, wenn die Zahl der Zwischenfälle gestiegen wäre. Wir sagen: Die Wirksamkeit eines Mandats macht sich auch daran fest - das haben wir übrigens auch bei anderen Missionen schon diskutiert -, dass die Zahl der Zwischenfälle sinkt. Dies darf unter militärischen Gesichtspunkten nicht außer Acht gelassen werden. ({0}) Wie gesagt, ich habe Herrn Bartels deshalb zitiert, weil er sich auf das Mandat als Ganzes bezieht und hier keine Differenzierung macht. Das gibt das Zitat eindeutig her, und auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wir werben dafür - damit beantworte ich Ihre Frage ganz klar -, im Rahmen dieses Mandats die Piraten an diesem Küstenstreifen auch logistisch zu bekämpfen. Ein Detail: Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir die Erweiterung des Mandats in unserer eigenen Fraktion kritisch begleitet haben. Ich habe damals an einer Unterrichtung teilgenommen, die inhaltlich nicht dem entspricht, was Sie in Ihrer Frage 2 oder 3 an mich behauptet haben. Vielleicht haben wir an unterschiedlichen Unterrichtungen teilgenommen. Aber ich habe das anders in Erinnerung und widerspreche Ihnen deshalb in diesem Punkt. Ich bin der Meinung, dass wir das politische Engagement für Somalia bzw. für ganz Afrika - das soll mein abschließender Punkt sein - fortsetzen sollten. Wenn hier im Plenum nur schlaglichtartig über einzelne Mandate oder einzelne Aktivitäten in Afrika diskutiert wird, dann ist das bedauerlich. Dass ausgerechnet heute Abend so viele Kolleginnen und Kollegen da sind, finde ich eine erfreuliche Tatsache. ({1}) Sie zeigt aber auch, dass wir unser Engagement in Afrika auch dann, wenn es um nichtmilitärische Maßnahmen geht, genauso eifrig angehen müssen. Ich bin deshalb der Meinung, dass die Afrika-Politik insgesamt einen größeren Stellenwert verdient hat. Unser Kollege Hartwig Fischer, der sich auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren sehr viel Ruhm erarbeitet hat, macht immer wieder deutlich, dass wir uns dann, wenn wir in Afrika nachhaltig erfolgreich sein wollen, dauerhaft verpflichten müssen. Deshalb ist ein militärischer Beitrag, der zeitlich begrenzt ist und der mit einem dauerhaften Engagement im Idealfall wenig zu tun hat, nur eine Komponente. Ich bin Minister Westerwelle außerordentlich dankbar, dass er in die Debatte die politische Dimension eingebracht hat, um so unser großes außenpolitisches Engagement für Somalia zu begleiten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören Bartol, Michael Groß, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Konsens für eine moderne Infrastruktur - Die Bundesverkehrswege solide finanzieren - Drucksache 17/13191 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPDFraktion. ({1})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Infrastruktur verfällt. Die Industriebosse in Deutschland haben Angst davor, den großen Standortvorteil, den wir hatten, zu verspielen. Ich glaube, das ist nach vier Jahren kein gutes Zeugnis für die schwarz-gelbe Regierung, ausgestellt von einer Gruppe, die eher Ihnen zugerechnet wird. In dem Bericht der Kommission „Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ wird ebenso die Sorge um den Wirtschaftsstandort Deutschland zum Ausdruck gebracht. Es ist genau diese Daehre-Kommission, die einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von jährlich 7,2 Milliarden Euro für die Straße, die Schiene und die Wasserstraßen sieht. Auch das ist nach vier Jahren kein gutes Fazit für die Regierung. Es geht aber nicht nur um Arbeitsplätze, Güterverkehre und Logistik, sondern auch um die Lebensqualität in Deutschland, bezahlbare Mobilität, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Die Akzeptanz von Infrastrukturvorhaben wird letztendlich vom Nutzen und von der Belastung der Menschen in diesem Land abhängen. Der Schutz vor Verkehrslärm beispielsweise ist enorm relevant, wenn es darum geht, ob wir die Infrastruktur wie das Straßen- und das Schienennetz weiter ausbauen können. Sie haben aber weder beim Klimaschutz noch beim Verkehrslärm noch bei der Barrierefreiheit etwas erreicht. Wir sehen hier eher Rückschritte statt Fortschritte. ({0}) Sie werden mir recht geben, dass NRW eine große Verkehrsdrehscheibe in Deutschland ist. ({1}) Aus gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen brauchen wir gerade in Nordrhein-Westfalen eine funktions- und leistungsfähige Infrastruktur aus Straßen und Brücken; sonst sind Auswirkungen auf die gesamte Bundesrepublik und die angrenzenden Länder zu spüren. NRW darf nicht zum Nadelöhr der Bundesrepublik werden. Sonst muss demnächst bei den Prognosen ein Elefant durch das Nadelöhr. Das gilt es zu verhindern. Von den 8,6 Milliarden Euro im Investitionsrahmenplan der Bundesregierung für den Neu- und Ausbau von Schienenwegen soll NRW bis 2015 sage und schreibe 2 Prozent erhalten. Das sind circa 170 Millionen Euro. So wenig wie noch nie! Das wird dem Bedarf nicht gerecht. Von den bundesweit rund 7 Milliarden Euro Bundesregionalisierungsmitteln erhält NRW etwa 16 Prozent. Das ist viel zu wenig. Die SPD-Fraktion hat seit drei Jahren Dialoge geführt und einen Infrastrukturkonsens erarbeitet. Die Ergebnisse dieses Konsenses sind in unserem Antrag zusammengefasst, der Ihnen heute vorliegt. Wir wollen wesentlich mehr Geld in die Infrastruktur stecken, und zwar zusätzlich circa 2 Milliarden Euro jährlich. Wir brauchen ein Programm zur Sanierung der Bundesautobahnen mit dem Schwerpunkt Autobahnbrücken. Wir fordern ein nationales Verkehrswegeprogramm mit einer klaren Priorisierung und der Beseitigung von Engpässen, Knoten und Staus. ({2}) Die Finanzierung muss überjährig für fünf Jahre fixiert werden, um Planungssicherheit herzustellen. Außerdem brauchen wir eine verkehrsträgerübergreifende Netzplanung. Wir brauchen einen verkehrsträgerübergreifenden Finanzierungskreislauf und dürfen die Kommunen nicht alleinlassen. ({3}) Es gibt Städte, die im nächsten Jahr nur zwei Straßen sanieren können, obwohl sie 21 sanieren müssten. Die Bürger müssen in ihren Autos mit 10 Kilometern pro Stunde über die Straßen fahren, weil Sie die Kommunen alleinlassen, sie nicht unterstützen. Sie sorgen letztendlich dafür, dass die Menschen keine Lebensqualität mehr in den Städten haben. Herzlichen Dank. Glück auf! ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Reinhold Sendker von der CDU/CSU-Fraktion.

Reinhold Sendker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004153, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende SPD-Antrag proklamiert nicht wirklich viel Neues. In der Forderungsliste befinden sich Positionen, die schon vorher bekannt waren. Etliches ist durch die Koalition längst auf den Weg gebracht worden. ({0}) Im Blickpunkt des Antrags Ihrer Fraktion, Herr Kollege Groß, steht die Forderung nach zusätzlich 2 Milliarden Euro für die Verkehrsinfrastruktur. ({1}) Ja, wir benötigen dringend mehr Mittel für den Erhalt sowie für den Aus- und Neubau der Verkehrsanlagen. 2012 und 2013 haben die Koalitionsfraktionen mit den Investitionsbeschleunigungsprogrammen I und II fast 2 Milliarden Euro zusätzlich erreichen können. Ich füge dem hinzu: Vor dem Hintergrund und den Ansprüchen einer erfolgreichen Haushaltskonsolidierung ist dies ein klarer Erfolg der Koalition und des Ministers, der dafür sehr erfolgreich gestritten hat. ({2}) Sie sprechen den Substanzerhalt an und fordern Priorität für den Erhalt vor Aus- und Neubau mit Blick auf Brückenbauwerke und insbesondere mit Blick auf Autobahnbrücken. In dieser Legislaturperiode hat die christlich-liberale Koalition dem Erhalt in der Infrastrukturfinanzierung ganz klar Vorrang eingeräumt. ({3}) Der Löwenanteil der Haushaltsmittel - hören Sie gut zu! - wird mittlerweile für die Erhaltungsinvestitionen verwandt; ({4}) bei den Bundesfernstraßen sind es in 2013 2,5 Milliarden Euro. Darunter ist aktuell bei Brücken und Tunneln ein Bedarf von 830 Millionen Euro angezeigt, in den nächsten Jahren von 1 Milliarde Euro. Allein diese Zahlen unterstreichen: Die Grunderneuerungen sind unausweichlich; Erhalt hat Priorität vor Neubau. Da sind wir uns einig, und da werden wir auch Kurs halten. ({5}) Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, LuFV, hat unser Minister gestern im Verkehrsausschuss im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Brücken, Tunneln und Bahnhöfen klar Stellung bezogen. Auch die Instandsetzung von Schleusen steht längst auf der Agenda. ({6}) Allein die Finanzmittel, die im Investitionsbeschleunigungsprogramm II für die Bundeswasserstraßen vorReinhold Sendker gesehen sind, fließen zu 54 Prozent - das sollten Sie festhalten - in dringende Erhaltungsmaßnahmen, zu 16 Prozent in die Verstärkung laufender Ausbau- und Neubaumaßnahmen und zu 30 Prozent in wichtige Neubeginne. Aber gerade die Erhaltungsinvestitionen - das lassen Sie mich hier bemerken ({7}) setzen Bestandsaufnahme und teils zeitaufwendige technische Untersuchungen voraus. Insofern sind zeitliche Verzögerungen nicht unbedingt kritikwürdig. Kritikfähig hingegen ist, dass in früheren Wahlperioden - lassen Sie uns auch davon einmal sprechen ({8}) unter den SPD-Verkehrsministern eindeutig zu wenig im Bereich der Instandhaltung investiert worden ist. Hier liegen die Versäumnisse. ({9}) Die SPD fordert in ihrem Antrag ferner, die infrastrukturellen Voraussetzungen für den Deutschland-Takt auf der Schiene zu schaffen. Auch dieser Ansatz befindet sich bereits in der gutachterlichen Prüfung, wenngleich er nach dem Schweizer Modell wohl kaum in Deutschland umsetzbar ist. Die Kapazität des Schienennetzes für den Güterverkehr wollen Sie bis 2030 verdoppeln. Einerseits, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, fordern Sie Vorrang für die Erhaltungsinvestitionen und viel Geld, was aber den Spielraum für die Neu- und Ausbauinvestitionen weiter deutlich verringert, andererseits wollen Sie hier verdoppeln. Wie Sie das machen wollen, bleibt wohl Ihr Geheimnis. Ich stelle fest: Wirklich seriös ist das nicht. ({10}) Wenn Sie schließlich das Instrument des Finanzierungskreislaufs ansprechen, dann verweise ich auch bei diesem Punkt darauf, dass wir es längst geschaffen haben. Besonders der Finanzierungskreislauf Straße hat zu Recht viel Lob erfahren. Im Gegensatz zu dem von Ihnen geforderten verkehrsträgerübergreifenden Finanzierungskreislauf leisten die Kreisläufe Schiene und Straße mehr Transparenz und verdeutlichen vor allem den Bedarf des einzelnen Verkehrsträgers. Transparenz in der Mittelverwendung und Transparenz beim Mittelbedarf das ist zielführend, und dieser Weg ist richtig. ({11}) In Ihrem Antrag geben Sie an, auch die Erschließung der Fläche nicht zu vernachlässigen. Das beantragen Sie hier in Berlin. Lassen Sie mich, Herr Kollege Groß, einmal vom Landtag von Nordrhein-Westfalen reden. Dort, wo Sie regieren, erhalten wichtige Umgehungsstraßenprojekte in ländlicher Region keine Planungspriorisierung. Das passt nun gar nicht zusammen; da sind Sie schlicht unglaubwürdig. Ich darf feststellen, dass auch in dieser Beziehung der Antrag nicht gelungen ist. ({12}) Also: alles in allem wenig Neues im Antrag der SPD. Er gibt uns aber Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die Koalition in der Schaffung moderner Infrastruktur in dieser Wahlperiode ({13}) auf gutem Wege ist. Wir werden in Deutschland - lassen Sie mich das abschließend feststellen ({14}) als starkem Logistikstandort, als Transitland und als Wachstumslokomotive in Europa dank der christlich-liberalen Koalition vor allem bei den Güterverkehren noch enorme Zuwächse zu verkraften haben. Dazu müssen wir das Verkehrsnetz insgesamt ertüchtigen. Diese Herausforderung - eine große Herausforderung - ist auch in der nächsten Wahlperiode bei der christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine Leidig das Wort. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der SPD, wir Linke haben zu Beginn und nicht zum Ende dieser Wahlperiode bereits einen umfassenden Antrag eingebracht und die grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik verlangt, und zwar für Klima- und Umweltschutz, für Barrierefreiheit, für soziale Gerechtigkeit und für neue Arbeitsplätze. Es gibt tatsächlich einige Parallelen zu dem, was die SPD-Kollegen hier fordern. Vor allem der Ausbau der Schiene und das Ziel, die Bahn in der Fläche so zu entwickeln, dass Deutschland-Takt funktioniert, gehören dazu. ({0}) Dies gilt auch für den Vorschlag, die Lkw-Maut auszuweiten. Wir haben vor zwei Jahren beantragt, dass sie auf das gesamte Straßennetz ausgedehnt und in der Höhe angehoben wird, wie in der Schweiz. Also: Einverstanden! Sie wollen den Schutz vor Verkehrslärm deutlich verbessern. Das wollen wir auch. Deshalb hatten wir im November letzten Jahres in einem Antrag gefordert, dass alle Menschen gleichermaßen vor Verkehrslärm geschützt werden müssen - egal ob sie an Straßen, an Güterzugtrassen oder unterhalb der Einflugschneisen von Flughäfen wohnen. Das soll nicht nur gelten, wenn Strecken neu gebaut werden. Es geht um die Gesundheit und das Wohlbefinden von Hunderttausenden, die schon heute unter Verkehrslärm leiden. Wir verlangen, dass in zehn Jahren an allen bestehenden Strecken Lärmschutz verwirklicht ist und die lautesten Abschnitte in den nächsten fünf Jahren saniert werden. ({1}) Die SPD hat übrigens mit den Koalitionsfraktionen gegen diesen Antrag gestimmt. Das finde ich sehr schade. Aber das ist nicht der einzige Punkt, den ich hier kritisch anmerken will. Klar, was Sie hier vorstellen, ist mit Abstand sinnvoller als die Verkehrspolitik aus dem Hause Ramsauer. Aber das ist auch nicht schwer. ({2}) Es gibt allerdings berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Immerhin - darauf wurde gerade verwiesen hat die SPD elf Jahre lang die Verkehrsminister gestellt. ({3}) Die A-Modelle, also die Privatisierung von Autobahnen, sind zum Beispiel auf Ihrem Mist gewachsen. Sie fordern in Ihrem Antrag den Vorrang für die Schiene. Fehlanzeige! 2001 hat Ihr Verkehrsminister Bodewig stolz verkündet, dass die Bundesregierung die Ausgaben für den Straßenbau auf Rekordniveau erhöht hat. Das war übrigens unmittelbar nach dem Klimagipfel. In der mittelfristigen Finanzplanung der zweiten Schröder-Regierung sind die Straßenbaumittel gegenüber 2003 auf 4,9 Milliarden Euro erhöht, die Investitionen in die Schiene dagegen um 10 Prozent auf 4 Milliarden Euro gekürzt worden. Das ist wirklich skandalös. In einem Kabinettsbeschluss vom August 2000 hat sich die damalige Regierung aus SPD und Grünen übrigens für einen massiven Ausbau der deutschen Flughäfen ausgesprochen, um eine Verdopplung des Flugverkehrs bis 2015 zu ermöglichen. Tatsächlich ist diese hoch subventionierte und umweltschädlichste Verkehrsart seither um über 50 Prozent gewachsen. Dazu schreiben Sie kein einziges Wort. Aber wir brauchen eine Wende auch in der Flugverkehrspolitik. Rund ein Viertel aller Flüge könnte relativ zügig auf die Bahn verlagert werden. Genau das fordern wir mit unserem Konzept, dazu ein ausreichendes Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr mindestens und die Deckelung der Zahl der Flugbewegungen. Außerdem müssen endlich die direkten und indirekten Subventionen abgeschafft werden. Dann wäre auch mehr Geld da, zum Beispiel für ordentliche Fahrradwege. Auch dazu, werte Kollegen von der SPD, schreiben Sie kein Wort. Wer mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß unterwegs ist, kommt in Ihrem Verkehrsinvestitionskonzept gar nicht vor. Dabei werden die meisten aller Wege nicht motorisiert zurückgelegt. Wie der Teufel das Weihwasser scheuen Sie den Begriff der Verkehrsvermeidung. Damit sind Sie ganz beim Bundesverband der Deutschen Industrie. Der will nämlich mehr öffentliche Mittel für Lärmschutz - das hat der Kollege Sendker gerade ausgeführt -, damit die Akzeptanz für noch mehr Lkws und noch mehr Flugzeuge steigt. Aber auf keinen Fall soll darüber geredet werden, wie man Wohlstand mit weniger Güterverkehr organisieren kann. Genau das aber ist unser Ansatz. ({4}) Verkehr ist keine Leistung, auf die man stolz sein sollte; Verkehr ist Aufwand, den man möglichst gering halten sollte, und vor allem ist er eine zunehmend unverantwortliche Last für Menschen und Natur. Davon ist in Ihrem Antrag leider nichts zu erkennen. Ich sage Ihnen: Hier ist die Linke weiter. Wir wollen Mobilität für alle mit weniger Verkehr. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Oliver Luksic das Wort. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobilität ist Ausdruck von Lebensqualität und wichtiger Baustein für Wirtschaftswachstum. Ja, trotz vielfältiger Bemühungen haben wir in der Tat Bedarf, hier noch ein Stück mehr zu tun. Kollege Groß, Sie haben ein Zerrbild der Realität dargestellt, beispielsweise in den Ländern, in denen Sie mit den Grünen regieren, etwa in Rheinland-Pfalz. Was passiert denn da bei der Infrastruktur? Die A 1 - der Kollege Schnieder hat mehrfach darauf hingewiesen - soll nicht ausgebaut werden. ({0}) Die SPD hat ein bisschen Asphaltallergie. Insofern: Halten Sie sich mit Ihrer Kritik da mal ein bisschen zurück! ({1}) Wir haben in der Tat mehr Bedarf. Deswegen werden wir in der nächsten Wahlperiode mit dieser Koalition zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssen. Wir brauchen geschlossene Finanzierungskreisläufe für Straße und Schiene. Bei der Schiene - Kollege Groß hat es angesprochen haben wir die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, die wir in dieser Woche diskutiert haben. Es ist so, dass nicht alle Gelder, die vorgesehen sind, von der Bahn auch verbaut werden. Insofern gibt es hier ein Stück weit Nachholbedarf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Luksic, nachdem Sie Rheinland-Pfalz erwähnt haben und Ihrem CDU-Generalsekretär in Rheinland-Pfalz offenbar auf den Leim gegangen sind, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Koalition in Rheinland-Pfalz klar politisch beschlossen hat, dass der Lückenschluss der A 1 zum Bundesverkehrswegeplan angemeldet wird? ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Herzog, ich glaube, die Kollegen der Grünen in Rheinland-Pfalz sehen das massiv anders. ({0}) Alle Verlautbarungen dort besagen doch, dass das für die Landesregierung keine Priorität hat. So ist es auch in zahlreichen anderen Bundesländern: in Baden-Württemberg das Gleiche, in NRW auch. ({1}) Dort, wo Sie mit den Grünen zusammen regieren - der Kollege Kühn wird es Ihnen nachher noch einmal sagen -, wollen Sie die Infrastruktur nicht ausbauen. Deswegen ist das, was die CDU in Rheinland-Pfalz gesagt hat, absolut richtig. ({2}) - Die Aufregung zeigt, dass da offenbar ein wunder Punkt getroffen wurde. ({3}) Zum Thema Schiene. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass die Bahn nicht alle vorhandenen Mittel ausgenutzt hat! Deswegen ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung jetzt vorschlägt, 500 Millionen Euro zusätzlich für Bahnhöfe und Brücken auszugeben. ({4}) Es ist ein gutes Programm, das wir jetzt auf den Weg bringen. ({5}) Wir sehen es anders als Sie, was das Thema der zusätzlichen Belastung angeht. Sie wollen in Ihrem Antrag unter die 12-Tonnen-Grenze gehen. Sie wollen die Ausdehnung der Maut auf Landes- und Kommunalstraßen. Unsere Befürchtung ist, dass das, was Sie vorschlagen, insbesondere das Handwerk und den Mittelstand trifft. ({6}) Deswegen sind wir dagegen, da bis auf 3,5 Tonnen herunterzugehen. Das ist der falsche Ansatz. Die Daehre-Kommission hat die Daten vorgelegt; das ist gut und richtig. Das ist eine wichtige Handreichung für die Kollegen in Bund und Land. Wir, die Verkehrspolitiker aller Fraktionen, sind uns völlig einig, dass wir stärker dafür werben müssen, dass die Infrastruktur als Standortfaktor wahrgenommen wird. ({7}) Die Bodewig-Kommission wird hier mit Sicherheit weiter in die richtige Richtung arbeiten. ({8}) Entscheidend ist die Planungssicherheit. Herr Groß, Sie sagen, dass wir mehr Geld für die Infrastruktur brauchen; das teilen wir. Kollege Sendker hat aber absolut zu Recht darauf hingewiesen, dass in der mittelfristigen Planung von Herrn Steinbrück die Mittel für die Verkehrsinvestitionen noch niedriger waren. ({9}) 9,4 Milliarden Euro waren damals vorgesehen. ({10}) Die Große Koalition hat auch ungefähr in dem Rahmen geplant. ({11}) Wir haben das Ganze jetzt auf 10 Milliarden Euro erhöht, zusätzlich 1 Milliarde Euro und 750 Millionen Euro in diesem Jahr sozusagen auf den Tisch gelegt. Klar ist: Immer dann, wenn Sie in der Verantwortung waren, haben Sie durch Steuererhöhungen belastet, aber die Verkehrsinvestitionen zurückgefahren. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({12}) Sie planen in der Tat eine Reihe von Steuererhöhungen. Ob davon etwas bei der Infrastruktur ankommt, da haben wir wirklich große Fragezeichen zu setzen. ({13}) Völlig klar ist, Kollege Kahrs, dass das, was Sie uns vorschlagen, wirklich wenig Substanz hat. ({14}) Sie haben während Ihrer eigenen Verantwortung weniger Geld ausgegeben. Insofern sind Sie da leider wenig glaubwürdig. Ich erinnere beispielsweise an die Mautlüge. Insofern hat die SPD während ihrer Verantwortung den Stau, den sie jetzt beklagt, mit verursacht. Es ist festzuhalten, dass diese Koalition in dieser Legislatur einiges vorangebracht hat: lärmabhängige Trassenpreise, Schienenbonus, Eisenbahnregulierungsgesetz, VZR-Reform, NABEG, Reform der WSV, ({15}) BF17, Liberalisierung des Fernbusverkehrs, Planungsvereinfachung. Das ist wirklich eine beachtliche Bilanz, die wir vorlegen können. Der Investitionshaushalt ist gestiegen. Wir haben zusammen mit dem Bundesverkehrsministerium zusätzliche Gelder erstritten, trotz der Sparbeschlüsse. ({16}) Wir haben auf der einen Seite konsolidiert, und auf der anderen Seite wurden die Investitionen angehoben. Wir können sagen, dass wir in Deutschland vier gute Jahre in der Verkehrspolitik hatten und weitere vier gute Jahre haben werden. Vielen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Stephan Kühn das Wort. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Industrieland sind wir auf hochwertige Verkehrsnetze angewiesen. Angesichts knapper Staatsfinanzen müssen wir aber klug investieren und die Infrastruktur klug anpassen und ausbauen. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir heute hier zusammensitzen. Allerdings stelle ich fest, dass hier fast nur Verkehrspolitiker sind und wenige Haushaltspolitiker; die sollten aber eigentlich auch an der Debatte beteiligt sein. Der Abschlussbericht der Daehre-Kommission zeigt die Baustellen in der Infrastrukturpolitik, die wir in der nächsten Legislaturperiode anpacken müssen. Auch die Erhaltungsbedarfsprognose für das Bundesfernstraßennetz offenbart einen stark ansteigenden Bedarf für den Erhalt in Höhe von jährlich 3,7 Milliarden Euro. Derzeit werden jährlich nur 2,5 Milliarden Euro für den Erhalt aufgebracht. Die Ursache für den Nachholbedarf ist die sträfliche Vernachlässigung des Substanzerhalts durch eine auf Neubau fixierte Politik der Spatenstiche gerade dieser Bundesregierung. Das sogenannte Infrastrukturbeschleunigungsprogramm von Verkehrsminister Peter Ramsauer, die sogenannte Zusatzdreiviertelmilliarde im Haushalt, ist genau das: ein Spatenstichprogramm. Der Straßenneubau geht zulasten des Substanzerhalts. Bereits jetzt fehlen für die laufenden Projekte über 2 Milliarden Euro. Sie beginnen neue Projekte, obwohl Ihnen das Geld fehlt und die Finanzierung der Projekte nicht gesichert ist. „Erhalt vor Neubau“ bleibt oft ein Lippenbekenntnis. Jedes Jahr findet eine Zweckentfremdung von Bundesmitteln statt, die eigentlich für den Erhalt vorgesehen sind, aber in Neubauprojekte gesteckt werden, gerade vor Wahlen. Das führt zum Substanzverzehr. Nach der Grundkonzeption für den nächsten Bundesverkehrswegeplan soll Investitionen in den Erhalt der Infrastruktur Vorrang vor Neu- und Ausbau eingeräumt werden. Ohne eine längst überfällige verkehrspolitische Neuausrichtung der Infrastrukturpolitik bleibt der Ruf nach neuen Finanzierungsinstrumenten wirkungslos. Zuerst brauchen wir eine verbindliche Prioritätensetzung über Verkehrsprojekte, dann können wir über mehr Geld reden, nicht andersherum. ({0}) Es schadet auch der Glaubwürdigkeit von Politik, wenn die Länder immer längere Wunschlisten mit neuen Vorhaben einreichen, obwohl jedem klar sein müsste, dass die Kluft zwischen verfügbaren Mitteln und Projektwünschen unüberbrückbar ist. Ich nenne eine Zahl: Das Restvolumen des sogenannten vordringlichen Bedarfs bei der Straße im Bundesverkehrswegeplan beträgt 42 Milliarden Euro. Das heißt, der aktuelle Bundesverkehrswegeplan ist hoffnungslos überzeichnet. ({1}) Es besteht keine Chance, all diese Projekte zu realisieren. Das gehört zur Ehrlichkeit. ({2}) Wir brauchen eine Reform der Bundesverkehrswegeplanung, damit der verkehrsträgerübergreifende Ausbau des Kernnetzes, also die Engpassbeseitigung auf den Hauptachsen des Autobahn- und Schienennetzes, endlich im Vordergrund steht. Nach so viel Übereinstimmung mit dem Antrag der SPD zum Abschluss ein kritischer Hinweis zu Ihrer Forderung, die Erschließung der Fläche nicht zu vernachlässigen. Wir haben in dieser Woche die Ergebnisse einer von der grünen Bundestagsfraktion beauftragten Studie zu den regionalwirtschaftlichen Effekten von Straßenbau erhalten. Ergebnis: Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen neuen Autobahnen und überdurchschnittlicher regionalwirtschaftlicher Entwicklung. Durch den Bau weiterer Autobahnen lassen sich weder Erreichbarkeitsdefizite mindern noch die daraus resultierenden Wachstumsschwächen beseitigen. - Als Instrument zur Förderung der regionalen Wirtschaft taugt Autobahnbau also leider nicht. ({3}) Trotzdem sollen weitere 1 000 Kilometer Asphaltschneisen durch die Republik gezogen werden. Milliardenteure Autobahnprojekte wie die Nordverlängerung der A 14, die Westverlängerung der A 20 oder die A 39 müssen bei der Aufstellung des neuen Bundesverkehrswegeplans infrage gestellt werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Karl Holmeier das Wort. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem uns heute vorliegenden Antrag stellt die SPDFraktion ihren Ministern für die elf Jahre von 1998 bis 2009, in denen sie das Ministerium geführt haben, ein miserables Zeugnis aus. ({0}) Im Antrag werden die Defizite in der Verkehrsinfrastruktur unseres Landes, die die SPD-Verkehrsminister verursacht haben, zutreffend beschrieben. Ich darf der Vollständigkeit halber ergänzen, dass wir dies schon zu Beginn der Legislaturperiode erkannt haben. So heißt es in unserem Koalitionsvertrag: Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblieben. Die Schlussfolgerung der SPD ist insofern nicht ganz korrekt. Es war ihre Politik, die die heutigen Engpässe verursacht hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsminister Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und Tiefensee. Sie haben es über elf Jahre hinweg versäumt, sich um den Erhalt der Bundesstraßen, der Autobahnen und zahlreicher Brücken zu kümmern. ({1}) Die Straßen und Brücken sind doch nicht in den letzten drei Jahren so schlecht geworden. Die Versäumnisse haben schon viel früher begonnen. ({2}) Der CSU-Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer muss nun die Suppe auslöffeln, die ihm die SPD eingebrockt hat. ({3}) Doch anstatt sich in Demut zu üben, schieben Sie die Schuld auf die jetzige Bundesregierung. So geht es nicht. ({4}) Lassen Sie mich das korrekt darstellen: Die SPD war es, die über Jahre hinweg zu wenig Geld in den Verkehrshaushalt gesteckt hat. Wir hingegen haben im Jahr 2012 1 Milliarde Euro erkämpft und 2013 750 Millionen Euro. ({5}) Die SPD war es, die die Einführung der Lkw-Maut verstolpert hat. Ihr Minister hat uns eine Verurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Münster beschert. ({6}) Wir müssen das nun mit einem Maut-Änderungs-Gesetz ausbügeln. Ihr Minister Stolpe hat uns ein Schiedsverfahren beschert, weil er dilettantisch verhandelt und keine klaren vertraglichen Regelungen für den Fall der verspäteten Mauteinführung getroffen hat. Er hat sich von Toll Collect über den Tisch ziehen lassen. Das müssen wir heute ausbügeln. ({7}) Die SPD war es, die nach der Einführung der Maut die Mittel im allgemeinen Haushalt abgesenkt hat. Wir hingegen haben mit dem neuen Finanzierungskreislauf Straße einen historisch wichtigen Schritt für mehr Unabhängigkeit vom Verkehrsetat getan. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. Wilms?

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie handhaben ja hier mit allen möglichen Zahlen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass wir als Ergebnis der Daehre-Kommission zwar ein Vermögen in Form der Infrastruktur in Höhe von 1,1 Billionen Euro haben, aber auch einen täglichen Vermögensverzehr von 13 Millionen Euro durch unterlassene Instandhaltung? Wir beschäftigen uns nämlich nur mit Kosmetik. Ich hätte von Ihnen gerne einmal gehört, wie Ihr Verkehrsminister damit umgeht. Er macht nämlich nur Spatenstiche und kümmert sich nicht um die Substanz. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben den Etat im Jahr 2012 um 1 Milliarde Euro und 2013 um über 700 Millionen Euro aufgestockt, und ein großer Teil dessen wurde für Unterhalt und Sanierung verwendet. Aber das, was Sie sagen, reicht ja in die Zeit der SPD zurück. Nicht die letzten drei Jahre sind am Zustand der Straßen schuld. ({0}) Die SPD war es, die in den elf Jahren, in denen sie an der Regierung war, den Bestand sträflich vernachlässigt hat und sich stattdessen lieber auf dem internationalen Parkett gesonnt und Verträge für grenzüberschreitende Projekte mit teuren Verpflichtungen unterschrieben hat. Wir hingegen legen einen klaren Schwerpunkt auf die Sanierung des Bestandes der Straßen und sehen dabei einen erheblichen Nachholbedarf in Westdeutschland. Ich könnte meine Auflistung beliebig fortführen. Wer hat denn eigentlich den Verkehrswegeplan 2003 konzipiert mit all den falschen Prioritäten, den unzähligen Projekte, die überhaupt nicht realisiert werden können? Andere wichtige Projekten wurden nicht aufgenommen. Ich könnte Bahnlinien usw. aufzählen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, muss ich noch einmal klarstellen: Schuld an der aktuellen Misere ({1}) ist nicht die christlich-liberale Bundesregierung, schuld ist die SPD. ({2}) Jetzt wollen Sie uns gute Ratschläge geben. Vielen Dank, auf die können wir verzichten. Wir von der christlich-liberalen Koalition sind auf einem guten, auf einem sehr guten Weg. ({3}) Wir werden es auch nach dem September 2013 sein. Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir die Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf Plus“ schaffen, durch die gewährleistet wird, dass besonders dringliche Projekte ganz vorne angestellt werden. ({4}) Wir werden in der nächsten Legislaturperiode die Einführung einer Pkw-Maut auf Autobahnen und ausgewählten Bundesstraßen angehen, um den Finanzierungskreislauf Straße zu stärken. ({5}) - Jawohl. Als ich hingegen den Vorschlag der SPD zum Thema Maut gelesen habe, wäre ich fast vom Stuhl gefallen. Sie sollten über dieses Thema mit Ihren Mittelstandspolitikern sprechen. Heute Vormittag haben diese erklärt, sie wollen den Mittelstand in Deutschland stärken. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen das gründlich misslingen wird, wenn Sie auf allen Bundes-, Landesund Kommunalstraßen eine Lkw-Maut einführen. Die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe werden Ihnen dann aufs Dach steigen. ({6}) Was Sie heute vorschlagen, ist ein Existenzvernichtungsprogramm. Ungeachtet der negativen Auswirkungen wird Ihnen jeder, der etwas von diesem Thema versteht, erklären, dass sich der technische Aufwand und vor allen Dingen der Kontrollaufwand im Zuge der Mauterhebung auf allen Straßen nicht im Ansatz rechnet. Meine Ausführungen zeigen, dass unser Land alles andere braucht als ein SPD-geführtes Verkehrsministerium und die Ratschläge der SPD. ({7}) Daher kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass wir den vorliegenden Antrag der SPD ablehnen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Johannes Kahrs.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! An dieser Stelle würde man normalerweise sagen: Sehr geehrter Herr Minister; aber er ist ja nicht da. Wenn wir über den Haushalt diskutieren, dann ist er mit seinen fünf Staatssekretären immer anwesend. Daran merkt man, welchen Stellenwert man Fachpolitikern in diesem Hause beimisst. Statt fünf Staatssekretären und einem Minister sitzt immerhin der Kollege Scheuer hier, den ich sehr schätze. ({0}) Bei einem Minister und fünf Staatssekretären ist das allerdings ein bisschen ärmlich. Wenn Sie die heutige Debatte verfolgt haben, werden Sie festgestellt haben, dass CDU/CSU und FDP behaupten: Wir brauchen mehr Geld, sie hätten mehr Geld herangeschafft. ({1}) Als Haushälter kann ich nur sagen: Manchmal dient der Wahrheitsfindung ein Blick in den Haushalt; denn dann würden Sie merken, dass der Eckwertebeschluss zu Ihrem Haushalt - das sollten Sie sich als Fachpolitiker einmal näher betrachten - jährlich um 1 Milliarde Euro abgesenkt worden ist. In den nächsten vier Jahren werden Sie jedes Jahr 1 Milliarde Euro weniger bekommen. ({2}) Das steht in dem Eckwertebeschluss. Lesen Sie das einmal nach. All das, was Sie hier erzählt haben, ist in der Sache falsch. Ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern, dass Sie noch keinen Blick in den Haushalt geworfen haben. ({3}) Angesichts der Tatsache, dass alle von Ihnen getroffenen Feststellungen auf der Sachebene falsch sind, sollten Sie nachlesen, was in unserem Antrag steht. Wir fordern, dass der Verkehrsetat um 2 Milliarden Euro erhöht werden soll, und das gegenfinanziert. Das sagen wir nicht deswegen, weil die Straßen in einem guten Zustand sind, sondern weil wir alle wissen, in welchem beklagenswerten Zustand die Straßen, die Verkehrswege und - auch darauf muss man hinweisen - die Kanäle, zum Beispiel der Nord-Ostsee-Kanal, in Deutschland sind. Wir hatten das Geld zur Verfügung gestellt, wir haben für die Planungsreife gesorgt. Sie haben nichts gemacht, außer das Geld aus diesem Bereich abzuziehen. ({4}) In der Sache wissen wir, dass Sie versagt haben. Hätte es die Wahl in Schleswig-Holstein nicht gegeben und hätte das Parlament keinen Druck ausgeübt, dann hätten Sie kein Geld für den Nord-Ostsee-Kanal zur Verfügung gestellt. Allein dem Druck der Opposition, unserem Druck, ist es zu verdanken, dass wir jetzt ein Gesamtkonzept hinbekommen. ({5}) Ihr Minister ändert alle zwei Wochen seine Meinung. Ihr Minister hat im Hinblick auf die Sanierung von einer Perlenkette geredet: eine Maßnahme nach der anderen. ({6}) - Es ist ja schön, dass Sie hier herumbrüllen. Trotzdem haben Sie Ihren Haushalt pro Jahr um 1 Milliarde Euro abgesenkt. Wenn man feststellt, wie Sie bei der Verkehrspolitik versagt haben, dann fragt man sich natürlich, warum Sie hier so laut herumhupen. ({7}) Ich glaube, dass liegt daran, dass Sie das Versagen der - wie Sie immer so schön sagen - christlich-liberalen Koalition in den letzten dreieinhalb Jahren hier verbergen wollen. Wir wissen doch, dass wir für die Bundesfernstraßen 800 Millionen Euro mehr brauchen. Für die Brücken brauchen wir 1 Milliarde Euro. Für die Schienenwege brauchen wir 1 Milliarde Euro. Und bei den Bundeswasserstraßen brauchen wir sogar 1,5 Milliarden Euro. ({8}) Was Sie dem Industriestandort Deutschland bieten, ist, dass Sie pro Jahr 1 Milliarde Euro aus dem Etat streichen, und sich dann hier hinstellen und herumhupen. Das ist doch peinlich. Das kann doch gar nicht wahr sein. CDU/CSU haben mit ihrer Politik in diesem Lande versagt. Dass Ihr Minister heute nicht hier ist, kann ich gut nachvollziehen. Ich würde mich an seiner Stelle bei der Leistungsbilanz, die ich hier vorlege, auch schämen. ({9}) Weil das so ist, sitzt auf der Regierungsbank nur der arme Kollege Scheuer. Mit ihm kann man es ja machen. Er muss es stellvertretend für all die anderen aushalten. ({10}) - Er ist ein feiner Kerl, aber in der Sache wissen wir, dass die Regierung nichts gerissen hat. Wenn man über Haushaltsklarheit und -wahrheit redet, dann muss man diese Blackbox Verkehrsetat vielleicht einmal aufbrechen. Vielleicht müsste jede neue Maßnahme über 25 Millionen Euro durch den Fachausschuss und den Haushaltsausschuss gehen und einzeln beschlossen werden, damit nicht die Mitarbeiter im Ministerium, in den Landesministerien entscheiden, was gebaut wird, sondern eine parlamentarische Kontrolle stattfindet. Dann müsste jedes große Projekt individuell im Haushalt abgebildet werden. Dann könnte man jährlich den Baufortschritt nachvollziehen. Dann kämen nur noch Großprojekte in den Haushalt, die durchfinanziert sind. Dann hätte man nicht dieses Elend, das Sie in den letzten drei Jahren verbockt haben. Von der SPD lernen heißt: Alles wird besser. ({11}) Senken Sie den Etat nicht um 1 Milliarde Euro pro Jahr ab, sondern lesen Sie unseren Antrag. Lesen bildet, und Denken hilft. Glück auf! ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das war angesichts der späten Stunde eine muntere Debatte. Vielen Dank. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13191 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften - Drucksache 17/13082 29798 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 17/13259 Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingLothar Binding ({1})Dr. Barbara Höll - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/13268 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthlePetra Merkel ({3})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({5})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz, dessen wesentliche Maßnahmen wir bereits vor knapp sechs Monaten in diesem Haus beschlossen haben und das dann an der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat gescheitert ist. Deshalb wende ich mich heute ganz besonders an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün. Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen wirklich ernst mit dem Schließen sogenannter Steuerschlupflöcher ist. Es besteht in diesem Haus in weiten Teilen Einigkeit, dass es bei der Erbschaftsteuer im Hinblick auf die sogenannten Cash-GmbHs einen Missbrauchstatbestand gibt. Es gibt deshalb auch eine Vorlage des BFH an das Bundesverfassungsgericht. Heute können wir eine Regelung beschließen, die jenen Missbrauch und jene Gestaltungsmöglichkeit ganz massiv einschränkt. Nur zur Steuerverkürzung gegründete bzw. konstruierte Unternehmen können auf Basis unseres Vorschlags, den wir heute beschließen, nicht mehr als Vehikel zur Vermögensverschiebung genutzt werden. Es gibt auch einen Vorschlag des Bundesrats, den Sie favorisieren; aber dieser Vorschlag ist hochgradig gefährlich. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Verwaltungsvermögenstest wäre für die Unternehmen ein Anreiz, jegliche Liquidität im Unternehmen zu vermeiden. Das wäre eine dahin gehende Steuerung, dass man Liquidität aus dem Unternehmen heraushält. Was das für den betrieblichen Alltag bedeutet, was das gerade in Zeiten der Krise bedeutet, ist klar: Verlust von Arbeitsplätzen und Gefährdung des ganzen Unternehmens. Unser Vorschlag, den wir heute hier vorlegen, ist erheblich besser. Er ist vor allem praxistauglich. Die verfassungsrechtlich gebotene Zielgenauigkeit der Vergünstigungsregelungen wird mit unserem Vorschlag deutlich erhöht. Indem wir die Zielgenauigkeit deutlich erhöhen, schaffen wir auch die Missbrauchs- und Gestaltungsanfälligkeit ab. Wenn es Ihnen also ernst ist mit Ihrem Anliegen, Steuergestaltungsmodelle zu verhindern, dann stimmen Sie heute zu. ({0}) Sie können heute auch beweisen, ob es Ihnen mit dem Anliegen, den Mittelstand von Bürokratie zu entlasten, wirklich ernst ist. Sie werden erklären müssen, warum Sie sich hier gegen die Verkürzung der Fristen zur Aufbewahrung von Unterlagen bei Mittelständlern wenden, ({1}) obwohl das einer Entlastung beim Bürokratieaufwand in Höhe von über 2 Milliarden Euro entspricht. Sie wenden sich dagegen, ({2}) und das, obwohl Ihr Kanzlerkandidat, Peer Steinbrück - ich muss es noch einmal sagen, auch wenn ich weiß, dass das wehtut -, erst vor wenigen Wochen auf einer Mittelstandstagung gesagt hat, dass man den Mittelstand von unnötigen kostenträchtigen Regelungen befreien muss. ({3}) Er hat dabei explizit die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen angesprochen. ({4}) Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen ernst ist mit dem Wunsch, dass man rechtliche Betreuer und Leistungen von Bühnenregisseuren und Choreografen von der Umsatzsteuer befreit. ({5}) Wenn Sie wie wir den besonderen Gewerbesteuerzerlegungsmaßstab bei Photovoltaikanlagen tatsächlich wollen, dann stimmen Sie heute zu. Sie werden den Menschen erklären müssen, warum Sie diesen Gesetzentwurf aufhalten. Sie werden ihnen erklären müssen, warum Sie dadurch die längere Geltungsdauer bei Freibeträgen im Lohnsteuerabzugsverfahren verhindern, obwohl das nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern gerade auch für die Steuerverwaltungen in den Ländern eine Vereinfachung bedeuten würde. Sie werden erklären müssen, warum Sie das nicht möchten. Eine Frage, die ich Ihnen hier letzte Woche schon einmal gestellt habe, muss ich wiederholen: ({6}) Glauben Sie, dass zum Beispiel die zivilen Freiwilligendienstleistenden Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün die von uns gewollte Steuerbefreiung ihres Taschengeldes aufhält, dass Rot-Grün das im Bundesrat weiterhin blockiert? Ich glaube nicht, dass sie dafür Verständnis haben. Nehmen Sie die im Bundesrat aufgehaltenen Steuerbefreiungsvorschriften für die freiwillig Wehrdienstleistenden und die Reservisten. Wir wollen sie entlasten. Wir wollen sie steuerlich gerecht behandeln. Hier liegt der Gesetzentwurf. Stimmen Sie zu! ({7}) Die Opposition und damit auch die rot-grün regierten Bundesländer müssen sich jetzt ihrer Verantwortung stellen. Sie müssen ihre Blockadehaltung aufgeben, und sie müssen aufhören, für dieses Land wichtige Maßnahmen immer nur mit Blick auf die Bundestagswahl im Bundesrat zu blockieren und zu verhindern. ({8}) Sie von der Opposition waren es, die im Vermittlungsverfahren, das die meisten der heutigen Punkte enthielt, den Stock in das laufende Rad gesteckt haben. ({9}) Damit haben Sie für den Crash dieses Gesetzentwurfs gesorgt. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass dieser Gesetzentwurf nicht noch einmal im Bundesrat scheitert. Stimmen Sie zu, und sorgen Sie dafür, dass die Blockade im Bundesrat endlich aufhört. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gutting, ich weiß nicht so recht, ob mir bei Ihrer Rede die Tränen kommen sollten oder welchen Effekt Sie hier produzieren wollten. ({0}) - Ja, Sie hätten schon beim Jahressteuergesetz im Vermittlungsausschuss zusammen mit dem Bundesrat zustimmen können. ({1}) Alle Maßnahmen, über die wir heute reden, waren dabei: die Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer, Bühnenbildner, Regisseure und Choreografen, die Steuerbefreiung des Taschengeldes beim zivilen Freiwilligendienst, ({2}) die Steuerbefreiung für Reservisten und Wehrdienstleistende. All diese Personengruppen hätten Sie schon vor sechs Monaten beglücken können. ({3}) Sie haben von einem Stock zwischen den Speichen gesprochen. Was war das denn? Sie hätten auch noch die Lebenspartnerschaften beglücken können. Sie hätten das ganze Land mit einem Schlag glücklich machen können. Das ging aus irgendwelchen ideologischen Gründen nicht. Jetzt werfen Sie uns vor, dass wir Ihr Gesetz verhindern. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen, den Sie hier einbringen, ist lediglich eine Krücke. Was bedeutet das im Ergebnis? ({4}) - Unser Kanzlerkandidat hat das bei einer Konferenz angedeutet. ({5}) Unser Kanzlerkandidat hat aber nicht angedeutet, dass wir 2,5 Milliarden Euro übrig haben, um diese als Beglückung über die Welt zu schütten. So viel würde dieses Gesetz kosten. Dieses Geld haben wir nicht. ({6}) Es kommt noch etwas dazu. Welche Konsequenzen hat es, wenn wir die Aufbewahrungsfristen nur verkürzen, so wie Sie das möchten? ({7}) Sie springen nur ein kleines Stück. Sie wollen Bürokratieabbau, verzichten aber auf Steuereinnahmen, weil Sie die Maßnahmen, die wir bräuchten, nicht vollziehen. Sie wollen nicht mehr Steuerbeamte einstellen. Sie wollen nicht mehr Betriebsprüfer einstellen. ({8}) - Moment, diese Forderung erheben Sie nicht gleichzeitig mit diesem Gesetzentwurf. Das müssten Sie aber ehrlicherweise tun. - Sie produzieren hier Steuerausfälle, die nicht zu verantworten sind. Deswegen können wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({9}) Jetzt schieben Sie da unseren Kanzlerkandidaten vor nach dem Motto: Der hat das mal angesprochen. - Wenn Sie all das umsetzen würden, was er angesprochen hat, wären wir in dieser Republik schon ein Stück weiter. ({10}) Noch einmal. Ich finde das, was Sie hier tun, sehr scheinheilig. ({11}) Sie hätten all die Maßnahmen, die Sie angesprochen haben und die wir bis auf die Verkürzung auch für sinnvoll halten, ({12}) schon vor einem halben Jahr umsetzen können. Das haben Sie nicht getan, obwohl Sie im Koalitionsvertrag auch Lösungen für die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften angekündigt haben. ({13}) Sie haben im Vermittlungsausschuss die ganze Sache platzen lassen. Deswegen sitzen wir hier heute Abend noch einmal. Für uns ist das kein Problem; denn wir sind Arbeit am Abend gewohnt. ({14}) Aber Sie blockieren hier heute Abend den ganzen Apparat. Sie bekommen von uns natürlich keine Zustimmung. Sie glauben, Sie könnten uns hier vorführen, aber jeder, der das verfolgt hat, sieht, wie durchsichtig das ganze Verfahren ist. Ich finde es schade, dass wir uns allen das hier zumuten. Ich möchte Sie noch einmal ermutigen: Gehen Sie mit vernünftigen Zielsetzungen in den Vermittlungsausschuss, dann bekommen Sie auch vernünftige Ergebnisse. ({15}) Der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ohne mehr Steuerbeamte, ohne mehr Betriebsprüfer und ohne angepasstes Verhalten können wir nicht zustimmen. ({16}) Ich möchte die Debatte hier nicht unnötig verlängern. Ich denke, ich habe alles dazu gesagt. Ich finde es schade, dass Sie so uneinsichtig sind; auch ein Tenor in Richtung Mitleid wird Ihnen nicht helfen. ({17}) Wir können leider nicht zustimmen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie in den letzten vier Wochen eine gute Politik gemacht hätten. Leider haben Sie das nicht geschafft. Das ist eine Sache mehr, die wir machen müssen. Wir werden es im September angehen. Einige von Ihnen werden wir dann ja wiedersehen, alle wahrscheinlich nicht. Ich wünsche uns allen einen schönen Sommer. Danke schön. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD! Liebe Frau Arndt-Brauer, wir legen heute den Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen vor und beziehen uns damit ausdrücklich auch auf die Aussage Ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. ({0}) Es ist erstaunlich, wie viel Beinfreiheit Sie Ihrem Kanzlerkandidaten zugestehen, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, er habe das nur angedeutet. ({1}) - Sie können unserem Gesetzentwurf heute zustimmen. Ich möchte nur kurz darauf hinweisen: Ihrem Kanzlerkandidaten scheint die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ja nicht so wahnsinnig wichtig zu sein; ({2}) denn er nimmt an dieser Debatte noch nicht einmal teil. ({3}) Insofern muss man feststellen: Vielleicht haben Sie gar nicht so unrecht, dass Ihr Kanzlerkandidat wolkige Andeutungen macht. Aber wenn es wirklich zum Schwur kommt, dann ist er ganz schnell weg. Er macht also keine vernünftige Politik für den Mittelstand in Deutschland und keine vernünftige Steuerpolitik. Aber das kennen wir ja schon aus seiner Amtszeit als Finanzminister. Insofern sind wir auch nicht besonders überrascht. ({4}) Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, um ein weiteres Thema aufzugreifen: ({5}) Eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen führt in den Unternehmen, insbesondere in den mittelständischen Unternehmen, zu einer Einsparung von Bürokratiekosten im Milliardenbereich. ({6}) Das kostet keinen einzigen Euro Steuergeld. Es sind wirklich überflüssige Bürokratiekosten, die wir damit einsparen. ({7}) Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist, die Bundesregierung aufzufordern, mehr Finanzbeamte und mehr Betriebsprüfer einzustellen. Darf ich Sie von der SPD einmal fragen: Was machen Sie denn in den Bundesländern, in denen Sie dafür verantwortlich sind, dass mehr Finanzbeamte eingestellt werden? ({8}) Dazu höre ich von Ihnen nämlich gar nichts. ({9}) In Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in BadenWürttemberg höre ich dazu gar nichts von Ihnen. ({10}) Insofern: Kommen Sie doch bitte nicht mit diesem Argument! Führen Sie nicht das, was in der Verantwortung der Bundesländer liegt, hier auf Bundesebene als Argument gegen diesen Gesetzentwurf an! Sie sagen natürlich zu Recht, dass wir uns mit den Themen, um die es in unserem Gesetzentwurf geht, schon einmal befasst haben, nicht nur mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen, sondern zum Beispiel auch mit der Umsatzsteuerbefreiung für Bühnenregisseure und der Steuerfreiheit des Taschengeldes für die Jugendfreiwilligendienste. Übrigens, dadurch würden 80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende entlastet und unterstützt werden. ({11}) 80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende, das ist, denke ich, eine beachtliche Zahl. Die jungen Menschen, die diesen Dienst leisten, müssen wir unterstützen. ({12}) Deswegen sollten Sie diesem Gesetzentwurf hier im Bundestag zustimmen. Aber Sie haben natürlich vollkommen recht: Diese Themen wurden, wie gesagt, schon im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss behandelt. ({13}) Aus dem Vermittlungsausschuss kam ein Vorschlag zur Erbschaftsteuer. Dabei geht es um die sogenannten Cash-GmbHs. ({14}) Mit dem Vorschlag, den der Vermittlungsausschuss gemacht hat - man muss Vorschläge ja auch einmal in Ruhe bewerten -, hätte man deutlich über das Ziel hinausgeschossen. ({15}) Das wäre wirklich ein Angriff auf die Finanz- und Kapitalausstattung insbesondere von Familienunternehmen gewesen. ({16}) Deswegen haben wir die Regelung zu den Cash-GmbHs eindeutiger, detaillierter, treffsicherer gemacht, und zwar wirklich nur im Hinblick auf missbräuchliche Gestaltungen. ({17}) Dass Sie an Themen wie der Kapitalausstattung, dem Betriebsvermögen und der Bedeutung der Finanzausstattung insbesondere für mittelständische Unternehmen überhaupt kein Interesse haben, sieht man daran, dass Sie planen, eine Vermögensteuer einzuführen, die zwingend dazu führen würde, dass die Betriebsvermögen und damit auch die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen reduziert würden. ({18}) Sie haben die Bedeutung von Eigenkapital in Unternehmen offenbar noch immer nicht verstanden. ({19}) Wenn Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gesagt hat, dass eine Vermögensteuer Betriebsvermögen auf jeden Fall nicht treffen würde - oder hat er das nur angedeutet? -, ({20}) muss man deutlich darauf hinweisen: Er kann das nicht verhindern, Sie können das auch in Ihrer vollen Pracht und Schönheit als SPD-Fraktion ({21}) nicht verhindern: weil eine Unterscheidung zwischen Privatvermögen einerseits und Betriebsvermögen andererseits nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich ist. ({22}) Dementsprechend muss man deutlich sagen: Die Steuerpolitik, die Sie vorschlagen und die Sie über Ihre Blockademehrheit im Bundesrat vertreten, ist ein Frontalangriff auf die mittelständischen Unternehmen in Deutschland. ({23}) Wir haben in den letzten vier Jahren genau den umgekehrten Kurs eingeschlagen: Wir haben dafür gesorgt, dass insbesondere die mittelständischen Unternehmen gut arbeiten können, dass es genügend Arbeitsplätze gibt. Das waren vier gute Jahre für Deutschland, ({24}) und das werden wir fortsetzen. ({25})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Axel Troost. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meinen fast acht Jahren Bundestag habe ich in diesem Parlament einiges an Mätzchen und Spielchen erlebt. ({0}) Die Abläufe im Zusammenhang mit dem Jahressteuergesetz 2013 bekommen in einer Liste der Absurditäten auf jeden Fall einen Spitzenplatz: Der Bundestag hat gegen die Opposition ein Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetz ging an den Bundesrat. Im Vermittlungsausschuss war im Prinzip Konsens hergestellt; doch dann ist alles an einem Punkt gescheitert. Anstatt dass man versuchte, wenigstens die restlichen Punkte vernünftig abzuarbeiten, wurde ein neuer Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag wurde vom Bundestag verabschiedet, ging wieder an den Bundesrat und lag wieder im Vermittlungsausschuss. Jetzt sollen in einem dritten Anlauf noch einmal Veränderungen vorgenommen werden. ({1}) Meine Redezeit ist leider begrenzt; aber ich will noch einmal auf die geplante Verkürzung der Aufbewahrungszeiten eingehen. Zurzeit müssen Unternehmen Unterlagen zehn Jahre aufbewahren. Jetzt wird vorgeschlagen, diese Frist auf fünf Jahre zu verkürzen. ({2}) - Es sind je nachdem zehn Jahre oder acht Jahre; es geht ja um unterschiedliche Unterlagen. ({3}) Für die Unternehmen ist eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen natürlich angenehm. Ich habe selbst ein Unternehmen und weiß, was für Aktenberge man da aufbewahren muss. Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf geschätzt, dass die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für den Staat Kosten von 1 Milliarde Euro verursacht. Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie kommt diese Milliarde zustande? Die Antwort war: Ursächlich ist, dass die Auswertung von Steuerunterlagen für Betriebsprüfungen und Steuerfahndung zeitlich nur eingeschränkt möglich ist. ({4}) Zu deutsch: Wenn die Aufbewahrungsfristen verkürzt werden, sind die Steuerprüfer nicht mehr in der Lage, so zu prüfen, wie sie das eigentlich machen müssten, und dadurch entstehen Steuerausfälle von - geschätzt; es sind möglicherweise viel mehr - 1 Milliarde Euro. Das ist doch absurd. Haben Sie denn aus dem Fall Hoeneß und aus anderen Fällen überhaupt nichts gelernt? ({5}) Sie marschieren genau in diese Richtung weiter. Jetzt sagen Sie: Da müssen die Länder ran, das ist doch deren Problem. Nehmen wir einmal das Land Bayern. In Bayern wird ein mittelgroßes Unternehmen im Durchschnitt nur alle 20 Jahre geprüft, ein Kleinunternehmen sogar nur alle 40 Jahre. ({6}) - Alles ordentliche Steuerzahler, und es gibt keinerlei Rückstände. Aber warum sollen dann die Aufbewahrungsfristen verkürzt werden mit dem Argument, dass die Unternehmen entlastet werden sollen? Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Es geht nicht nur um die Einnahmen, ({7}) es geht in dieser Republik auch um Steuergerechtigkeit. ({8}) Was Sie hier machen, hat damit überhaupt nichts zu tun, sondern ist das genaue Gegenteil. ({9}) Das Gleiche gilt für die Cash-GmbH im Bereich der Erbschaftsteuer. Sie haben sich sozusagen durchgesetzt damit, dass bei der Vererbung von Betriebsvermögen ein Sonderweg gewählt werden kann. ({10}) Jetzt ist aber klar: Der wird, wie immer, bis zum Gehtnichtmehr missbraucht. Sie haben jetzt einen Kompromiss aufgelegt, der aber kein wirklicher Kompromiss ist, weil er das Ganze nur eingeschränkt verändert. Der ursprüngliche Vorschlag vom Bundesrat und vom Vermittlungsausschuss hätte wesentlich mehr Ergebnisse gebracht. Insofern ist auch dieser Weg für uns nicht akzeptabel. Wegen dieses ganzen Kuddelmuddels werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wohl wissend, dass darin zum Beispiel Regelungen für Bühnenregisseure und andere enthalten sind, denen wir gerne helfen würden. ({11}) Wir können aber nicht zustimmen, wenn das mit solchen Kröten verbunden ist. Insofern wird das Gesetz noch einmal in den Vermittlungsausschuss gehen, und wir werden dann mit RotRot-Grün und nach Diskussionen mit Ihnen hoffentlich zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Danke schön. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs hatte ich eigentlich denselben Eindruck wie heute Morgen, als der Herr Minister Rösler hier gesprochen und sich mit dem Thema Energiewende beschäftigt hat. ({0}) Er hat gesagt: Wir sind in der Regierung, aber Sie von der Opposition tragen die Verantwortung dafür, dass wir das nicht hinkriegen. ({1}) Der Satz, Herr Volk, beinhaltet zwei richtige Aussagen. Es ist erstens in der Tat richtig: Schwarz-Gelb stellt die Regierung. ({2}) Die zweite richtige Aussage ist: Sie kriegen das nicht hin. - Genau das trifft auch auf den vorgelegten Gesetzentwurf zu. ({3}) Das ist doch kein Gesetzentwurf; das sind Bruchstücke eines Jahressteuergesetzes. Wir hatten doch einen fertigen Gesetzentwurf. Den haben Sie gekippt. Jetzt haben wir ein paar Einzelregelungen. ({4}) Herr Gutting, als Berichterstatter haben Sie das ja in bemerkenswerter Offenheit geschrieben. Sie haben geschrieben - ich darf das zitieren -: Allen sei aber klar, dass dann sicherlich noch an der einen oder anderen Stelle nachgebessert werden müsse. Und das legen Sie uns heute hier vor, einen Gesetzentwurf, zu dem Sie selber sagen: „Da muss man nachbessern“? Das ist doch unmöglich. Das können Sie uns hier doch nicht vorlegen. Dabei gibt es ein fertiges Vermittlungsergebnis. Dem könnten wir sofort zustimmen. Wir haben den Antrag gestellt. Sie haben ihn abgelehnt, nicht wir. ({5}) Das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik - Sie haben das sehr schön beschrieben - ist ein Flickenteppich, genauso wie Ihr Gesetzentwurf. Sie sagen das ja selber. Er hat Mängel; das räumen Sie selber ein. ({6}) Oder, schlicht und einfach: Sie machen Steuerpolitik, indem Sie gar nichts tun. Gucken Sie sich doch einmal die Umsatzsteuerreform an! Da haben Sie versagt. Sie haben sie einfach zurückgezogen. Ich kann nur sagen: Erbärmlich. ({7}) Ich will Ihnen ein paar Beispiele aus dem vorliegenden Gesetzentwurf nennen: Erstes Beispiel: Cash-GmbH. Das, was Sie hier vorlegen - das ist schon angesprochen worden -, durchlöchert das Vermittlungsergebnis. Sie nehmen nach unserer Auffassung im Prinzip billigend in Kauf, dass das Bundesverfassungsgericht das wieder kippen wird, und das Gemeine ist: Sie legen etwas vor, was die Länder am Ende ausbaden müssen; denn ihnen steht die Erbschaftsteuer zu. Deshalb wird das wieder im Vermittlungsausschuss landen. ({8}) Zweites Beispiel: RETT-Blocker. Wo ist hier die Regelung? Das ist ein Steuersparmodell für die Konzerne. Das wollten wir beenden; das war ein Vermittlungsergebnis. Wo ist die Regelung geblieben? Das ist einfach nicht akzeptabel und geht wieder zulasten der Länder. ({9}) Drittes Beispiel: Aufbewahrungsfristen. Wir Grüne sind auch sehr für Bürokratieabbau, aber ({10}) nicht zulasten des Staates. Sie schreiben hier - ich zitiere wieder aus der Beschlussempfehlung -, dass man zu dem Ergebnis kommen könne, dass erhebliche Steuerausfälle entstehen würden. Das wird darin dann auch noch vorgerechnet und beziffert: 1,05 Milliarden Euro pro Jahr. Und das legen Sie uns hier vor! ({11}) Sie machen in diesem Fall den zweiten Schritt vor dem ersten. Das ist wirklich toll. ({12}) Der erste Schritt wäre doch, dass die Finanzämter so ausgestattet werden, dass sie wirklich Betriebsprüfungen durchführen können. ({13}) Sie gehen davon aus - Herr Volk hat das sehr schön gesagt -, dass alle steuerehrlich sind. Ja, dann schaffen Sie doch die Aufbewahrungsfristen gleich ganz ab, wenn Sie der Auffassung sind: Wir brauchen die nicht, ({14}) wir machen sowieso keine Betriebsprüfungen, wir haben keine Leute, die das regelmäßig prüfen können, sondern sie prüfen nur alle 20 bis 40 Jahre. ({15}) - Sie kommen doch aus Bayern, Herr Volk. Ihre Partei regiert dort doch noch mit. ({16}) Wenn ich mich richtig erinnere, gehört die FDP dort der Regierung an. Dann tun Sie doch endlich etwas! ({17}) - Nein, Sie tun es nicht. Meine Damen und Herren, das ist eine Regierung, die manchmal offensichtlich ins Stolpern gerät; sie macht den zweiten Schritt vor dem ersten. Das kann nicht funktionieren. ({18}) Greifen Sie auf das Vermittlungsergebnis zurück! ({19}) Wenn Sie uns hier das Vermittlungsergebnis vorlegen, dann stimmen wir sofort zu. Dann brauchen wir keine Zeit mehr zu verschwenden, Zeit, die im Übrigen weder die Bürger noch die Unternehmen haben. Dann wäre auch die Verunsicherung der Finanzbeamtinnen und -beamten beendet, und dann hätten wir ein gutes Ergebnis. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf in diesem Haus seit über zehn Jahren Kulturpolitik machen. Bislang war es in der Kulturpolitik so, dass es einen breiten Konsens in allen Fraktionen gab, dass wir Kultur nicht nur als etwas sehen, was uns besonders lieb ist, sondern auch als etwas, was uns besonders teuer ist. Wir waren uns immer einig, dass wir gemeinsam für unsere kulturellen Schätze kämpfen. Wir haben den Rohstoff Geist. ({0}) Wir sind diejenigen, die immer, auch parteiübergreifend, versucht haben, zu guten Lösungen zu kommen, das ehrenamtliche, aber eben auch das oft sehr gering bezahlte Engagement zu unterstützen. Das macht unsere gesellschaftliche Identität in Deutschland aus. Wir konnten gerade für den Haushalt des Kulturbereichs - das war in unserem Haushalt nicht immer üblich - in den letzten Jahren bei unseren Haushaltspolitikern immer wieder einen Aufwuchs durchsetzen. ({1}) Das macht deutlich, dass es dieser Bundesregierung ganz besonders wichtig ist, die Kultur zu fördern. Insofern wundert es mich schon - deswegen darf ich für meine Fraktion heute hier sprechen -, dass die SPD nun versucht, ganz billig auf Kosten von Kulturschaffenden Wahlkampf zu machen. ({2}) - Hören Sie mir zu! Schreien Sie nicht herein! Sie verstehen es hoffentlich dann, wenn ich es Ihnen jetzt erkläre. ({3}) Sie machen Wahlkampf auf Kosten von Theaterregisseuren in unserem Land, und Sie machen Wahlkampf auf Kosten derjenigen, die sich im FSJ Kultur engagieren. ({4}) Alle Obleute aller Fraktionen im Ausschuss für Kultur und Medien waren sich nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs einig, ({5}) dass das geltende Recht im Ergebnis nicht entgegen dem Willen des Gesetzgebers ausgelegt werden sollte. Deshalb - jetzt hören Sie gut zu; dann können Sie etwas lernen - sollte die Umsatzbesteuerung für Theaterregisseure gesetzlich geregelt werden. Um hier zu einer klaren Regelung zu kommen, sollten sowohl die Steuerbefreiung für Theaterregisseure als auch die Steuerbefreiung für das Taschengeld - das Taschengeld! - im Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur in das Jahressteuergesetz 2013 aufgenommen werden. ({6}) Mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat haben Sie dafür gesorgt - das ist schofel, und deswegen muss man das hier auch ansprechen -, dass das Jahressteuergesetz nicht umgesetzt werden konnte. Das war ein Tritt in den Hintern für alle Theaterregisseure in unserem Land und für alle, die sich im FSJ Kultur befinden. ({7}) Sie wussten ganz genau, dass das ein wichtiger Erfolg für alle Kulturschaffenden in unserem Land war. Gerade für Mitglieder Ihrer Fraktion ist es immer besonders chic, sich wie Buddies bzw. Spezis neben Künstler zu stellen und wichtigtuerisch Fotos zu machen. ({8}) Ihr Altkanzler Schröder war Meister darin, immer so zu tun, als ob er mit Künstlern auf Du und Du ist, ließ sie immer Wahlkampf für sich machen. Das ist ein uralter Trick der SPD - und jetzt fallen Sie den Künstlern so in den Rücken. Das ist wirklich eine absolute Unverschämtheit. ({9}) Nicht genug damit, dass Sie die bisherige Regelung gekippt haben und allen Theaterregisseuren den besagten Tritt in den Hintern gegeben haben: Jetzt besitzen Sie auch noch die Unverfrorenheit, von der Bundesregierung - ich zitiere - eine „Klarstellung der Umsatzbesteuerung freier Regisseure“ zu fordern, obwohl Sie diejenigen waren, die diese Klarstellung verhindert haben. ({10}) Folglich sind Sie dafür verantwortlich, dass die Frage der Umsatzsteuerbefreiung für Theaterregisseure noch immer nicht geklärt ist und Kulturschaffende immer noch um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen. ({11}) Da muss ich einmal ganz ehrlich sagen: Entweder haben die Kulturpolitiker in Ihrer Partei keine Lobby und können sich in Ihrer eigenen Partei auch nicht durchsetzen, wenn es darum geht, Regisseure und vor allem Menschen im FSJ besserzustellen. Oder Sie haben ein sehr kurzes und noch kürzeres Kurzzeitgedächtnis, weil Sie von Steuererhöhungen für Reiche reden, aber Steuerfreiheit für Taschengelder verhindert haben. Das ist wirklich ein starkes Stück, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Da wir aber als christlich-liberale Koalition weiterhin an sachorientierter Politik interessiert sind, gehen wir heute einen ganz neuen Weg, um Theaterregisseure und Menschen im FSJ zu entlasten. Deswegen haben wir unser Vorhaben erneut in den Bundestag eingebracht, diesmal im Rahmen des Gesetzes für die Verkürzung von Aufbewahrungsfristen. ({13}) Deswegen heißt es im Gesetzentwurf schlicht und einfach: Zu den weiteren entlastenden Maßnahmen gehören z. B. die Umsatzsteuerbefreiungen für rechtliche Betreuer, Bühnenregisseure und -choreographen sowie die Steuerbefreiung des Taschengeldes bei zivilen Freiwilligendiensten. Lassen Sie uns also gemeinsam für die Kulturschaffenden und die im Kulturbereich Engagierten heute einmal ein Zeichen setzen, indem wir gemeinsam für den Gesetzentwurf stimmen. Sollten Sie das nicht tun, weiß ich genau, was auf den Bühnen dieser Welt los sein wird. ({14}) Dann wird nämlich jedem klar, das Sie hier auch nur Theater machen. Schade! ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13259, den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13082 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Lesung angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand - Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit dem Königreich Dänemark verhandeln - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten - Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau einer Festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen - Drucksachen 17/11365, 17/8912, 17/9407, 17/13154 Berichterstattung:Abgeordneter Gero Storjohann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die feste Fehmarnbelt-Querung ist wieder einmal Gegenstand einer hochspannenden Debatte; darüber freuen wir uns alle. Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der im Wesentlichen darauf abzielt, eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs im Umfeld der zukünftigen Baustelle auf See zu veranlassen. Die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass viele Forderungen der SPD sich bereits in der Umsetzung befinden und die Seesicherheit bei den Bauarbeiten gewährleistet ist. Die Betonung liegt auf: Bauarbeiten. Ich freue mich, dass die SPD weiterhin zu diesem Projekt steht. ({0}) - Herr Hacker, Sie kennen doch die Vorgeschichte. Es war nicht einfach, Minister Tiefensee überhaupt dazu zu bewegen, diese Nummer mitzumachen, ({1}) die für uns im Norden sehr wichtig ist. ({2}) Ich komme zu den beiden Anträgen der Linken und der Grünen und möchte betonen, dass es im Bundestag eine breite Mehrheit für die Realisierung des Projektes „feste Fehmarnbelt-Querung“ gibt. Das hat bereits die Debatte zu den Anträgen gezeigt. Ich halte es auch nicht für hilfreich, diese Ausstiegsforderung immer wieder zu erheben. Deutschland und Dänemark wollen die feste Fehmarnbelt-Querung realisieren, und die Bundesrepublik Deutschland wird sich auch an die eingegangene Verpflichtung halten, die deutsche Hinterlandanbindung zeitgerecht fertigzustellen. ({3}) Die Hinweise von Linken und Grünen auf Art. 22 des 2008 abgeschlossenen Staatsvertrages über eine feste Fehmarnbelt-Querung laufen ins Leere. Es ist auf dänischer Seite kein Wille erkennbar, nicht einmal ansatzweise, auf dieses Bauvorhaben zu verzichten. Nur bei übereinstimmender Willenserklärung auf dänischer und deutscher Seite wäre über einen Ausstieg zu verhandeln; das ist unter angesehenen Juristen völlig unstreitig. Was mir bei Ihrer Betrachtungsweise fehlt, ist der Ertrag, der Mehrwert dieser Baumaßnahme. Das meine ich sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. ({4}) Es geht beim Bau des Absenktunnels um ein großes europäisches Projekt, das wir von der Union ausdrücklich begrüßen. Mit der Fehmarnbelt-Querung schaffen wir eine feste Direktverbindung zwischen Skandinavien und Kontinentaleuropa, ({5}) und zwar als Straßen- und Schienenverbindung. Die Zukunft wird von der Elektromobilität bestimmt sein. Eine neue Schienenverbindung zwischen Dänemark und Deutschland ist somit nur zu begrüßen. Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens. ({6}) Der 17,6 Kilometer lange Absenktunnel durch den Fehmarnbelt wird Nordeuropa und Zentraleuropa enger zusammenwachsen lassen. Das ist auch ein großer Wunsch unserer Nachbarn aus Schweden und aus Dänemark. ({7}) Die Linken und die Grünen stellen sich gegen dieses Projekt, ein Projekt mit europäischen Dimensionen. Sie präsentieren uns Anträge, in denen sie uns auffordern, aus dem Staatsvertrag quasi auszusteigen. ({8}) Aber wie weit sind wir denn jetzt schon? ({9}) Die Beratungen haben Folgendes ergeben: Die technischen Planungen sind praktisch abgeschlossen. ({10}) Die Umweltuntersuchungen sind abgeschlossen. 2015 ist mit dem Baubeginn beim Tunnel zu rechnen. Für die CDU/CSU-Fraktion bestätige ich Ihnen gerne: Wir stehen uneingeschränkt zu diesem Projekt. ({11}) Deshalb können Sie sich schon ausmalen, was mit Ihren Anträgen passieren wird. Wir wollen dieses Projekt. Wir wollen die 4 000 Arbeitsplätze, mit denen bei diesem Projekt Jahr für Jahr zu rechnen ist, generieren. ({12}) 500 dieser Arbeitsplätze werden auf deutscher Seite in der Region von Puttgarden entstehen. ({13}) Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für die Menschen im Großraum Hamburg und Ostholstein. Die Dänen haben ihre Tunnelprojekte in Krisenzeiten konzipiert und waren nachher, als die Wirtschaft boomte, rechtzeitig mit den Projekten fertig. Das war genau die richtige Entscheidung für das dänische Staatswesen. Das ist ein Vorbild, wie man Geld sinnvoll einsetzen kann. ({14}) Linke und Grüne wollen jetzigen und zukünftigen Generationen diese großartigen Chancen verwehren. Sie verweigern sich der Zukunftsgestaltung. Das machen wir nicht mit. Wir sind inzwischen so weit, dass wir über die konkrete Ausgestaltung der Hinterlandanbindung auch auf deutscher Seite des Tunnels sprechen. Wir nehmen die Anregungen der Menschen vor Ort auf. Deshalb wird aktuell über den Bau einer sogenannten 2 + 1-Trasse im Schienenverkehr diskutiert. Sie könnte festgeschrieben werden, sobald ein entsprechendes Raumordnungsverfahren abgeschlossen wird. 2 + 1 bedeutet: Der Nahverkehr würde weiter über die Bäderorte an der Ostsee verlaufen. Zwei neue Trassen würden parallel zur A 1 für den Fern- und Güterverkehr gebaut werden. ({15}) Diese neue Trasse muss natürlich noch im Bundesverkehrswegeplan berücksichtigt werden und muss dazu von Schleswig-Holstein angemeldet werden. Das ist aber schon angegangen worden. Insofern können wir sehr zuversichtlich sein, dass die Landesregierung das mitmacht. Ein wesentlicher Kritikpunkt ist der Schienenlärm durch die Zunahme des Güter- und Fernverkehrs. Hier haben wir uns in der Koalition und auch parteiübergreifend geeinigt, den Schienenbonus ab 2015 abzuschaffen. ({16}) So. Das ist ein gutes Signal für Schleswig-Holstein, auch, Ingo Gädechens, für Ostholstein. Es muss jetzt ein bisschen neu geplant werden. Aber das macht, wie ich glaube, die Sache ein bisschen einfacher. Meine Damen und Herren, das, was die Grünen und die Linken hier vorgelegt haben, ist ein Armutszeugnis. Wir werden der Beschlussempfehlung des Ausschusses unsere Zustimmung geben und damit die Anträge versenken. Danke schön. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen herzlichen, schönen Abend zu später Stunde! Die späte Stunde ist wohl auch der Grund dafür, Herr Kollege Storjohann, dass Sie sich mit dem SPD-Antrag überhaupt nicht auseinandergesetzt haben. ({0}) Der SPD-Antrag geht nämlich auf ganz wichtige Fragen ein, über die wir bereits in Verbindung mit der Ratifizierung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark vom 3. September 2008 hier in diesem Hause am 18. Juni 2009 diskutiert haben. Ich will in Erinnerung rufen: Herr Storjohann, damals waren Abgeordnete der CDU aus Mecklenburg-Vorpommern dabei, die gegen den Staatsvertrag gestimmt haben. Nicht, dass Sie versuchen, hier ein falsches Bild zu malen. So verlief die damalige Abstimmung. ({1}) Heute sind wir einen Schritt weiter. Die SPD hat mit ihrem Verkehrsminister Tiefensee den Vertrag vom Ergebnis her gut ausverhandelt. Ob man für das Projekt ist oder nicht, darüber kann man lange diskutieren; diese Debatten führen wir auch. Aber der Vertrag ist hinsichtlich der finanziellen Belastung für Deutschland vorteilhaft. Deshalb hat am Ende der Deutsche Bundestag diesen Vertrag ratifiziert. Wir waren uns aber schon vor der Debatte am 18. Juni einig, dass die Planungsphase mit gründlichen Untersuchungen verbunden werden muss. Ich nenne als Beispiele nur Fragen der Schiffssicherheit, Fragen nach Auswirkungen auf Flora und Fauna - in dem infrage stehenden Bereich der Ostsee gibt es Schweinswale ({2}) sowie die Fragen nach Auswirkungen auf Wirtschaft und Tourismus. All diese Fragen werden im Moment von der Planungsgesellschaft Femern A/S untersucht. Damit wird im Grunde genommen ein Auftrag erfüllt, den der Deutsche Bundestag mit der Ratifizierung des Vertrags verbunden hatte. Genau hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, setzt der SPD-Antrag an. Wir wollen, dass der Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sichergestellt wird. Dazu hat die SPD-Bundestagsfraktion einen ganzen Katalog vorgelegt, der den Inhalt der damaligen Debatte sinngemäß aufgreift. In diesem Zusammenhang soll sich die Bundesregierung für verschiedene Maßnahmen der IMO, der EU, der Ostseeanrainer und der zuständigen Bundesländer einsetzen. Am Ende geht es der SPD-Bundestagsfraktion darum, mit diesem Antrag die Akzeptanz des Staatsvertrags in der Region zu erhöhen. Wir möchten, dass Unsicherheiten, die in einigen Teilen der Bevölkerung noch vorhanden sind, ausgeräumt werden. Wir möchten Fragen der Sicherheit im Bereich der Baustelle nicht nur stellen, sondern auch von der Bundesregierung ganz klare Antworten darauf haben. ({3}) Ich finde, das liegt nicht nur im legitimen Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Ostholstein. Vielmehr kommen wir damit auch einer Verantwortung nach, die wir als Bundestagsabgeordnete, insbesondere als Verkehrspolitiker, tragen. ({4}) Die Planungsfirma Femern A/S hat im Januar dieses Jahres berichtet, dass sie selber einen Vertrag mit den Organisationen RINA und SINTEF geschlossen hat, der die Beurteilung der Sicherheit der Eisenbahnverbindung zum Gegenstand hat und die Konformität mit EU-Vorschriften prüfen soll. Ich finde, das ist genau der richtige Weg, den auch die Bundesregierung gehen muss. Die Bundesregierung hat Verantwortung dafür, dass die Sicherheitsbelange geprüft und dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Prüfungsprozess mitgenommen werden. Die Menschen in Schleswig-Holstein dürfen nicht den Eindruck gewinnen, dass in Berlin Politik über ihre Köpfe hinweg gemacht wird. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, SchleswigHolstein hat zu Beginn des Jahres 2013 das Raumordnungsverfahren eingeleitet. Hier werden die notwendigen Untersuchungen vor Ort angestellt. Herr Ferlemann, noch ein Appell an Sie: Herr Storjohann hat ja die rückwärtigen Bahnverbindungen angesprochen. Es ist ja jetzt nicht mehr klar, was aus der Sundbrücke werden soll. Die Frage, die ich Ihnen dazu gestellt habe, hat zwar Ihr Haus beantwortet. Aber auch Fragestellungen wie Auslastung der Sundbrücke und Sanierungsmaßnahmen müssen in die weiteren Untersuchungen einbezogen werden. Diese werden wir in den nächsten Jahren noch zu behandeln haben. Kollege Storjohann, vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, dass Sie sich der Beschäftigung mit einer Thematik widersetzen, über die wir hier bereits 2009 diskutiert haben. Dass man sich damit beschäftigt, dass umfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden, und zwar auch im Sicherheitsbereich, war jedenfalls für die zustimmenden Fraktionen essenziell für ihr Abstimmungsverhalten. Das erinnert mich ein wenig daran, dass Sie bestimmte Verkehrssicherheitsfragen nicht ernst nehmen. Das hier ist in etwa vergleichbar mit den Sicherheitsfragen betreffend die Kabinenluft in Flugzeugen, Herr Staffeldt. Dafür sind Sie als Freizeitpilot ja Spezialist. Sie gehen mit diesem Thema, mit dem sich ja unser Antrag beschäftigt, ähnlich oberflächlich um wie mit dem Thema der -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hacker, ich habe den Antrag der SPD sehr genau gelesen.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist schön.

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er stammt vom November. Wenn man ihn liest, könnte man meinen, die SPD glaube immer noch, dass die feste Fehmarnbelt-Querung in Form einer Brücke ausgeführt werden soll; nur dann spielt das große Thema der Schiffskollisionen und der Schiffssicherheit im Fehmarnbelt eine Rolle. Nun soll es aber ein Tunnel werden. Gleichwohl ist uns die Schiffssicherheit in der Ostsee genauso wichtig wie in der Deutschen Bucht oder in der Nordsee. An dieser Stelle möchte ich gerne einhaken, weil Sie gerade den Staatssekretär Ferlemann erwähnt und behauptet haben, dass die Regierung die Schiffssicherheit nicht ernst nehme. Ist Ihnen bekannt, dass so wie auf Helgoland bereits ein Radar installiert wurde, um die Deutsche Bucht zu überwachen, die Regierung mittlerweile veranlasst hat, dass auch ein Radar auf Fehmarn installiert wird, um nicht nur den Fehmarnbelt, sondern auch die Kadetrinne zu überwachen und damit eine erhöhte Schiffssicherheit zu gewährleisten? Das alles geschah im Vorgriff auf die beginnenden Bautätigkeiten. Deshalb ist Ihr Antrag, Kollege Hacker, eigentlich obsolet, aber vielleicht wissen Sie nicht, was ich eben erwähnt habe.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Gädechens, diese Maßnahme der Bundesregierung ist nur zu unterstützen. Ich habe die Bundesregierung doch nicht dafür kritisiert, dass sie die Verkehrsund Bausicherheit nicht gewährleisten würde. Dieser Antrag richtet sich doch zuerst einmal an die Fraktionen im Deutschen Bundestag, die gemeinsam die Bundesregierung auffordern sollen, etwas zu unternehmen. ({0}) Das ist doch die Zielrichtung. Wenn Sie der Auffassung sind, die Bundesregierung sei schon auf einem guten Weg, dann stimmen Sie doch unserem Antrag zu. Wir können die Bundesregierung anregen, noch mehr Verkehrssicherheit zu schaffen, und zwar im Bereich der Baustelle, nicht im Bereich der Brücke. Da haben Sie völlig recht. Über die Brücke diskutiert heute keiner. ({1}) Wir sprechen über die Baustelle für den Absenktunnel. ({2}) Da gibt es genug zu tun. Sie, Herr Gädechens, haben die Chance, in einer halben Stunde unserem Antrag zuzustimmen. Für Ihre Frage bedanke ich mich. Ich hoffe, Sie haben ein bisschen was mitgenommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt komme ich aber doch zu den beiden Anträgen vom Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Darauf ist an dieser Stelle schon mehrfach eingegangen worden. Sie, Herr Storjohann, haben mit Ihrem Einwand ausdrücklich recht. Das will ich Ihnen attestieren. Sie haben hier Art. 22 zitiert. Jeder, der sich mit der Evaluierung des Vertrages und dem Ausstieg aus dem Vertrag beschäftigt, sollte einen Blick in den Vertragstext werfen. In Art. 22 steht ganz klar: Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Vertragsstaaten geändert, ergänzt oder aufgehoben werden. ({3}) Das ist unbestritten. Dann verpflichten sich die Vertragspartner im Weiteren, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um das Projekt gemäß den Annahmen zu verwirklichen. ({4}) Mir ist nicht bekannt, dass bei unserem Vertragspartner, der Regierung des Königreichs Dänemark, oder im dänischen Parlament Überlegungen angestellt werden, diesen Vertrag zu ändern oder aufzuheben. Die dänische Seite tut alles, um den Gegenstand des Vertrages, nämlich die Herstellung einer festen Fehmarnbelt-Querung, umzusetzen. Demzufolge sage ich: Das ständige Wiederholen, dass eine Ausstiegsmöglichkeit und Nachverhandlungsmöglichkeit gemäß Art. 22 bestehe, führt nicht zum Ziel. Das streut den Menschen in Ostholstein Sand in die Augen, weckt bei den Bürgerinnen und Bürgern dort, die den Vertrag nicht gelesen haben - es muss nicht jeder Bürger jeden Vertrag lesen, den wir hier im Deutschen Bundestag verabschieden -, möglicherweise Hoffnung. Es gibt diese Möglichkeit im Moment nicht. Was wir zu tun haben, ist, die Verpflichtungen aus dem Vertrag für die nächsten Jahre zu prüfen. Hierbei geht es zum Beispiel darum, die rückwärtigen Anbindungen zu ertüchtigen. Genau dort setzt das an, was ich angesprochen habe: Die Bundesregierung hat noch eine Bringschuld. Ich bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb darum, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zu unterstützen - es gibt gute Gründe dafür; das hat ja auch die Frage von Herr Gädechens jetzt noch einmal deutlich gemacht -, weil wir genau das aufgreifen und umsetzen, was ein wesentlicher Begleitbestandteil der Ratifizierung des Vertrages war. Zu den beiden Anträgen vom Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wilms?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, herzlichen Dank.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wenn Sie schon auf Art. 22 des Vertrages Bezug nehmen, dann sollten Sie sich diesen Artikel vielleicht einmal genau anschauen. Da steht nämlich durchaus noch etwas mehr drin.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich zitiere einmal: Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags bekannt ist, werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern. Dies gilt unter anderem für wesentliche Kostensteigerungen im Zusammenhang mit dem Projekt. Insofern wundert es mich, wie Sie zu Ihrer Aussage kommen. Wie können Sie sich das erklären? Also, in dem Vertrag ist - gerade über den Art. 22 - eine eindeutige Möglichkeit vorgesehen, zumindest in Verhandlungen über einen Ausstieg einzusteigen.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Wilms, Sie suggerieren erneut, dass es hier Verhandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten gibt. Die dänische Seite hat eindeutig die Kostenlast für die Errichtung des Bauwerkes übernommen. Wenn sich dort Kostenentwicklungen ergeben, die für die dänische Seite nicht Verhandlungsgegenstand sind, dann wird Dänemark mit uns keine Verhandlungen aufnehmen, weil Dänemark dann in eigener Verantwortung eine Kostenentwicklung bewertet und darüber entscheidet. Wir sind jetzt genau an dem Punkt, dass in Dänemark - in der Regierung und im Parlament - nicht von einer Fraktion und nicht von einem Regierungsmitglied überhaupt eine Diskussion zu Nachverhandlungen geführt wird. Wir erwecken hier mit diesen beiden Anträgen offenbar den Eindruck, als stünde es kurz vor Nachverhandlungen. Es gibt diese Grundlage nicht. ({0}) Ich bleibe noch einmal dabei - unter Hinweis auf Art. 22 Abs. 1 -: Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Vertragsstaaten geändert, ergänzt oder aufgehoben werden. Dafür gibt es im Moment, soweit ich das beurteilen kann, keine Grundlage. Im Gegenteil, ({1}) die bauvorbereitenden Maßnahmen, die Planungsmaßnahmen, laufen auf Hochtouren. Einiges befindet sich im Zeitverzug - darüber haben wir hier vor einem Jahr schon einmal diskutiert -; das ist offenkundig. ({2}) Es gibt auch hinsichtlich der Kosten keine Grundlage für Nachverhandlungen. Deswegen, liebe Frau Wilms, haben Sie die Chance, Ihren Antrag zurückzuziehen. Wir können ihm jedenfalls nicht zustimmen, genauso wenig wie dem Antrag der Linken. An die Koalition der Appell: Sie können aus gutem Grund zustimmen, auch wenn Herr Storjohann das an dieser Stelle noch nicht erklärt hat. Sie haben jetzt noch die Chance, das nachzuschieben oder das nachher im Abstimmungsverhalten deutlich zu machen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was wir gerade hier erlebt haben, war ein wenig das Abbild dessen, wie es in Schleswig-Holstein in Kiel im Moment zugeht. Dort sagt die Landesregierung: Ja, das Projekt ist gut. - Ich zitiere beispielsweise den Ministerpräsidenten Torsten Albig: Ich bin überzeugt, die Feste FehmarnbeltQuerung bietet neue Perspektiven und große Entwicklungschancen, besonders für Lübeck und Ostholstein. ({0}) Die Grünen hingegen, die grüne Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein, versuchen nach wie vor, dieses Projekt zu torpedieren. Das ist doch interessant. Darauf sollte man an der einen oder anderen Stelle immer wieder hinweisen. Die streiten sich immer noch, obwohl sie eigentlich zu dem Projekt stehen müssten. Die SPD vertritt da klar die Position - wie wir auch -: Die Fehmarnbelt-Querung muss kommen, soll kommen, wird kommen. Die Grünen sind wie immer, wie auch der heute vorliegende Antrag ausweist, der Meinung: Das soll alles tatsächlich - aktualisiert mit Daten, Informationen, zusätzlichen Prozessen - zu einem Ausstieg führen. So kann man den Antrag der Grünen, der recht voluminös ist, zusammenfassen. Er sagt im Endeffekt aber nur eines: Alle unsere Ziele machen deutlich, dass wir nicht aussteigen wollen; es soll alles so bleiben, wie es ist. Ähnlich ist es mit dem Antrag der Linken, der einige Punkte anspricht. Da soll das Dialogforum gestärkt werden, da soll der Staatsvertrag neu verhandelt werden. Aber am Ende soll als Ergebnis der Ausstieg stehen, und der Güterverkehr soll nach wie vor über die JütlandRoute rollen. ({1}) Der einzige vielleicht halbwegs konstruktive Hinweis bei den Linken ist, dass die Bauarbeiten außerhalb der Saison stattfinden sollen. Der Antrag der SPD, dem ich mich jetzt ein wenig intensiver widmen werde - da haben Sie Glück, Herr Hacker; ich habe das genauso gelesen wie mein Kollege Kammer, der gleich noch an der Reihe sein wird -, ist eigentlich ein Sammelsurium von „Wünsch dir was“, nach der Devise „Jeder darf schreiben, was ihm dazu einfällt“. Er glänzt - das muss ich als jemand, der sich mit Schifffahrt, Häfen und insbesondere Schiffssicherheit ein bisschen auskennt, ganz klar und eindeutig sagen - durch völlige Ahnungslosigkeit. Das ist so. Da redet der Blinde von der Farbe. ({2}) - Ich bin auch Seemann; da haben Sie Pech gehabt. Ich kann beides. ({3}) - Nein, ich bin nicht alles, aber ich bin gelernter Seemann, Herr Hacker. Im Gegensatz zu Ihnen und zur SPD weiß ich, dass AIS zum Beispiel längst Standard ist. Da gibt es eine Vorschrift. Gemäß SOLAS - Safety of Life at Sea - sind alle Schiffe ab einer Größenordnung von 500 Bruttoregistertonnen heutzutage ohnehin verpflichtet, diese AIS, diese Automatic Identification Systems, an Bord zu haben. ({4}) Wenn Sie so etwas noch fordern, kann ich nur sagen tut mir leid -: Da besteht völlige Unkenntnis. Sie haben keine Ahnung von dem, was Sie da schreiben. Auch die Überwachung, die Sicherheit auf den 19 Kilometern zwischen Puttgarden und Rodbyhavn gibt es schon längst. Es wurden eben schon die Radarketten angesprochen. Wir haben in dem Fall sogar noch eine schwierigere Situation, weil wir eine Staatsgrenze dazwischen haben. Aber das funktioniert seit Jahren und Jahrzehnten glücklicherweise sehr gut, sowohl auf deutscher als auch auf dänischer Seite. ({5}) Denn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dort ist gewährleistet. In Ihrem Antrag finde ich, dass insbesondere die Bauphase unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Geltung zusätzlicher Sicherheitskriterien erfolgen soll. Da fallen Ihnen solch geniale Ideen ein wie: Jedes Schiff soll von einem Escort-Schlepper begleitet werden. Hallo?! Wissen Sie, was das bedeutet? Ob man da über 66 000 oder 35 000 Schiffsbewegungen redet: Wenn Sie jedem Schiff, das durch den Bereich fährt, einen Escort-Schlepper zur Seite stellen wollen, brauchen Sie da keine Schifffahrt mehr. Die Bergungsschlepper gibt es schon jetzt, ({6}) und die werden während der Bauphase - da bin ich sicher - auch garantiert da sein. Es gibt da Verantwortliche. Zum Beispiel die deutsch-dänische maritime Koordinierungsgruppe kümmert sich schon jetzt darum, Herr Hacker. Die Bergungsschlepper werden also da sein. Die werden Stand-by sein, wie sich das gehört, wie das ganz normal ist. Insofern sind Ihre Forderungen - so kann ich nur sagen - völlig absurd. Sie gehen ja noch weiter. Sie schreiben, dass die Havariekommission mit mehr Personal ausgestattet werden soll, dass die Berufsfeuerwehren an Land speziell für den Fall ausgebildet werden sollen, dass auf der Baustelle einmal etwas passiert. Herr Hacker, grundsätzlich ist es erst einmal die Verantwortung des bauenden Unternehmens, für Sicherheit zu sorgen, und nicht unsere Verantwortung als Staat, zumal wir nur bis zur Hälfte der Strecke zuständig sind. Nicht wir als Staat haben dort einen Sicherheits- und Rettungsapparat aufzubauen, den wir an anderer Stelle auch nicht haben. Wir haben jetzt eine ähnliche Diskussion bei den Offshoreanlagen in der Nordsee und in der Ostsee. Da wird auch immer verlangt, der Staat müsse alles machen. Es ist aber die originäre Aufgabe der Unternehmen, sich darum zu kümmern, dass es funktioniert und dass entsprechende Rettungsketten vorhanden sind. Ich gehe auch fest davon aus, dass es funktioniert, dass es so gemacht wird wie an anderer Stelle auch. ({7}) Dann haben Sie noch darauf hingewiesen, Herr Hacker, dass angeblich der Vertrag mit Dänemark von Tiefensee so gut verhandelt worden sei. Ich habe durchaus auch andere Meinungen dazu gehört. Man kann auch in den Anträgen lesen, dass es dazu eine unterschiedliche Wahrnehmung gibt. Sei es drum! Ich bin sicher, dass Ihr Antrag so überflüssig ist wie ein Kropf, weil wir die notwendigen Sicherungssysteme längst haben. Ich habe das an einigen Beispielen beleuchtet. Ich bin sicher, dass die Fehmarnbelt-Querung kommt. Ich bin genauso sicher, dass wir unseren Part leisten, dass wir die Hinterlandanbindungen, die natürlich notwendig sind, zeitgerecht, elektrifiziert, zweigleisig, idealerweise, wie vom Kollegen Storjohann schon dargestellt wurde, parallel zur Autobahn realisieren, um die Belastung der Bürgerinnen und Bürger durch Schienenlärm zu reduzieren. Ich bin froh und dankbar, dass wir es in dieser Koalition geschafft haben - das wurde schon gesagt -, den Schienenbonus abzuschaffen. Das heißt, solche Neubauprojekte müssen im Endeffekt leise sein. Insofern ist alles auf dem richtigen Weg. Weil alles auf dem richtigen Weg ist und weil die beiden Ausstiegsvarianten der Grünen und der Linken für uns keine Alternative darstellen, werden wir Ihre Anträge ablehnen. Ich bin froh, dass wir in den vier Jahren hier Gutes für Deutschland leisten konnten; wir werden das auch weiterhin so machen. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Arbeitnehmer und auch Unternehmer in Ostholstein bangen um ihre berufliche Existenz. Sie leben nämlich davon, dass über 1 Million Touristen die landschaftliche Schönheit und das gute Klima an SchleswigHolsteins Ostseeküste schätzen. ({0}) Kommt die Feste Fehmarnbelt-Querung, droht ihnen Tag und Nacht der Lärm von 80 Güterzügen, und zwar jeden Tag und jede Nacht, entlang der Ostseeküste über die Insel Fehmarn und durch die Tourismusregionen hinauf nach Dänemark. Und diese Lärmbelästigung kostet auch noch unendlich viel Geld. Über 10 Milliarden Euro für ein Tunnelprojekt mit Hinterlandanbindung, das den Lärm überhaupt erst nach Ostholstein bringen soll. Wir wollen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Ostholstein mit guten touristischen Angeboten und einer guten Verkehrsinfrastruktur. Das geht nicht mit einem Milliardenprojekt, das diesen Teil des Landes zu einer reinen Transitstrecke für Gütertransporte zwischen Schweden und Kontinentaleuropa macht. ({1}) Fast 2 Milliarden Euro kostet allein Deutschland der Bau der Hinterlandanbindung. Bei diesen Riesenbeträgen könnte man denken, in der Region gäbe es keine Verkehrswege. Das stimmt aber nicht. Die Fährverbindung als schwimmende Brücke zwischen Lolland und Fehmarn bringt schon heute viele Güter und viele Menschen sicher und schnell über den Belt, egal ob mit dem Auto, dem Lkw, dem Personenzug oder dem Güterzug transportiert wird. ({2}) Die Verkehrspolitik der Mammutprojekte vernichtet das Geld, das wir für Instandhaltung, Lärmschutz und gute Eisenbahnverbindungen zu den Ostseebädern brauchen. Darum fordern wir den Ausstieg aus dem Projekt, bevor Fakten geschaffen werden. ({3}) Das fordern auch viele Betroffene vor Ort. ({4}) Bereits vor 15 Jahren gab es große Zweifel, ob die Fehmarnbelt-Querung überhaupt sinnvoll ist. Die Bürgerinnen und Bürger hatten gute Argumente, um die PlaHerbert Behrens nungen schon damals zu stoppen. Da ist zum Beispiel das Nutzen-Kosten-Verhältnis. Das bedeutet, jeder investierte Euro muss mindestens das wieder hereinbringen, was investiert worden ist. Aber von vielen anderen Großprojekten wissen wir, dass schöngerechnet wird, dass zweifelhafte Annahmen von Planern dafür sorgen, dass diese Bauprojekte überhaupt durchgedrückt werden können. So ist es auch bei der Fehmarnbelt-Querung. Die Bürgerinitiativen sind beharrlich geblieben. Der Bund und das Land Schleswig-Holstein sahen sich gezwungen, das Dialogforum einzurichten. Aber sie wollten die Bürgerinnen und Bürger damit eigentlich dazu bringen, endlich einzulenken. Das ist nicht gelungen. Ihr Verständnis von Bürgerbeteiligung ist, dass Bürgerinnen und Bürger ihren Widerstand aufgeben sollen. Dieses Konzept von nachgelagerter Bürgerbeteiligung ist eindeutig gescheitert. Die Bundesregierung steckt natürlich in der Klemme. Sie hat ein Projekt der letzten Bundesregierung geerbt. Aber heute haben wir die Große Koalition wieder auferstehen sehen. Beteiligt waren alle, die dafür sprechen. Heute behaupten Sie immer wieder, der Staatsvertrag sei nicht veränderbar. Auch das stimmt nicht. Es gibt eine Verständigungsklausel in dem Vertrag, die schon angesprochen wurde, nach der die Vertragspartner Deutschland und Dänemark bei gravierenden Veränderungen neu verhandeln können. Es gibt sogar einen gemeinsamen Ausschuss, der regelmäßig tagt und in dem solche Fragen verhandelt werden können. Da muss nichts aufgekündigt werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass Sie sehenden Auges Milliarden Euro versenken und zusätzlich auch noch die Wirtschaftskraft Schleswig-Holsteins nachhaltig schwächen. Schluss damit! ({5}) Nach gravierenden Planungsänderungen - von der Brücke zum Tunnel -, der Halbierung der Verkehrsprognosen, einer gravierenden Kostenexplosion, tausendfachen Einwendungen, großen Bürgerprotesten ist die Zeit reif, den Sinn oder den Unsinn dieses Projektes festzustellen. Eine ergebnisoffene Neubewertung des Projektes muss her. Noch ließe sich das Projekt stoppen. Noch sind keine Baufahrzeuge angerollt. Die Linke fordert Neuverhandlungen, nicht gegen den Staatsvertrag, sondern mit den Mitteln, die dieser Staatsvertrag bietet. Sollten Sie heute dazu nicht den Mut aufbringen - das ist zu erwarten -, muss die neue Bundesregierung ran. Diejenigen, die sich schon heute als Regierungsalternative anbieten, sollten wissen: Die Bürger sind beharrlich. Aber auch die Linke wird den Auftrag, Verkehrspolitik für die Bürger und mit den Bürgern zu machen, in die neue Fraktion mitnehmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zu dieser späten Stunde: Schön, dass noch Besucher anwesend sind. Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist eine erstaunliche Debatte. Manche lernen aus Fehlern, manche nicht. Zu Letzteren gehören leider ({0}) diese Bundesregierung und scheinbar auch einige aus der Fraktion der SPD. Seit Jahren diskutieren wir über die Risiken von Großprojekten. ({1}) Wir streiten über Stuttgart 21. Wir erleben im ganzen Land, dass Bürger mehr Mitsprache verlangen. Die Menschen wollen umfassend eingebunden werden, wenn die Politik ihr Lebensumfeld umgestalten will. ({2}) - Herr Hacker, genau das ist entscheidend. Das tun wir so nicht. ({3}) Große Verkehrsprojekte greifen oft massiv in das Leben der Menschen vor Ort ein. Deswegen müssen wir die Menschen beteiligen und es ihnen erklären. Aber das reicht nicht. Es muss auch echte Möglichkeiten zur Änderung der Pläne geben, ({4}) sonst fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen. Pseudobeteiligung ist schlimmer als gar keine Beteiligung; denn da weiß man von Anfang an, dass man nichts ändern kann. ({5}) So etwas möchte ja scheinbar eine große Koalition hier in diesem Hause. Durch den Staatsvertrag hat man all die Erfahrungen mit Großprojekten in den letzten Jahren offensichtlich wieder komplett vergessen. Der Vertrag wurde geschlossen, das Projekt festgelegt. Erst dann wurden die Bürgerinnen und Bürger als Alibi beteiligt. Deswegen ist unsere Forderung eine tatsächliche Abwägung des Nutzens und der Risiken. Wir brauchen endlich einmal einen wirklich ergebnisoffenen Dialog. Ergebnisoffen bedeutet auch die Möglichkeit, aus dem Projekt auszusteigen. ({6}) Nur wenn wir diese Möglichkeit schaffen und in den Prozess ernsthaft einbeziehen, können wir auch die Menschen vor Ort endlich einbinden. Andernfalls können wir es bleiben lassen. ({7}) Denn, werter Herr Storjohann, das ist unser Weg: mit den Menschen, für die Menschen und nicht nur für die hauptamtlichen Politikerinnen und Politiker. ({8}) Wir dürfen aber nicht nur über einzelne Projekte diskutieren. Das haben wir viel zu lange getan. Die Zukunft der Mobilität muss im Gesamtzusammenhang gedacht werden. Wir müssen erst festlegen, was wir mit unserer Mobilität wirklich erreichen wollen. Wir müssen uns Ziele setzen, was unser Verkehrsnetz zukünftig leisten muss und wie wir das so günstig und umweltschonend wie möglich schaffen. Erst dann dürfen wir uns um die einzelnen Projekte und deren Verbindung kümmern. Derzeit machen wir es genau umgekehrt. In der nächsten Legislatur läuft der jetzige, völlig überholte Bundesverkehrswegeplan aus. Diesen müssen wir endlich zu einem Bundesmobilitätsplan weiterentwickeln, ({9}) und zwar mit klaren Zielen und eindeutigen Prioritäten. Wenn wir dazu ein Grundkonzept haben, können wir auch wieder darüber reden, auf welchen Wegen wir zukünftig nach Dänemark kommen. ({10}) Die Bundesregierung hat das leider überhaupt nicht verstanden. Stattdessen wurstelt sie weiter herum und benutzt die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mit der Deutschen Bahn, um Gelder für die Hinterlandanbindung der Fehmarnbelt-Querung zu parken. Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es gibt kein vernünftiges Gesamtkonzept für unseren Verkehr. Es gibt auch keine klaren Vorgaben für die Deutsche Bahn, wie sie das Netz mit Steuergeldern erhalten soll. Stattdessen werden ein unfertiges Verkehrsprojekt, Fehmarnbelt-Querung genannt, und eine halbgare Vereinbarung mit der Bahn zusammengeworfen. Es geht zu wie auf dem Jahrmarkt. Das versteht kein Mensch mehr. ({11}) Dieser Regierung fehlt eine Grundrichtung. Sie können nicht einfach alles so zusammenwerfen, wie es gerade auf Ihrem Schreibtisch landet. Die Leute in unserem Land wollen endlich einmal wissen, ob die Regierung weiß, wo sie hinwill. Aber das ist von dieser Bundesregierung ganz offensichtlich nicht mehr zu erwarten. Abgewirtschaftet hat sie. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kollege Gero Storjohann hat vor knapp einem Jahr und auch heute wieder zu den Anträgen der Linken und der Grünen ausführlich Stellung genommen. Insofern, Herr Kollege Hacker, werde ich mich im Wesentlichen mit Ihrem Antrag beschäftigen, weil er ja doch einige interessante Perspektiven aufweist. Herr Behrens, vorab noch einige Worte. Sie sprechen von einer nachhaltigen Entwicklung, die in SchleswigHolstein einsetzen muss, und von der Wirtschaftskraft, die dahinterstehen muss. Ich habe Ihren Antrag von vor zwei Jahren bezüglich der Weser-Vertiefung gelesen. Wirtschaftskraft besteht bei Ihnen offenbar darin, dass Sie Container mit Kajaks befördern wollen. Das ist das Verständnis der Linken von Wirtschaftspolitik. ({0}) Ihnen, Frau Dr. Wilms, muss ich eines sagen. Sie haben hier ja vehement für Bürgerbeteiligung geworben und dafür, dass wir das einfordern müssen, dass wir mit den Bürgern etwas machen. ({1}) Das finde ich prima. Aber wenn die Ergebnisse nicht so sind, wie Sie das erwartet haben, Beispiel Stuttgart 21, dann zählt für Sie der Bürgerentscheid auf einmal nicht mehr. Da müssten Sie dann konsequent sein. ({2}) Nun zum Antrag der SPD-Fraktion, der zwei gute Ansätze enthält. Erstens haben Sie erkannt, dass diese Bundesregierung auch nach dem Wahltag an der Entwicklung weiterarbeiten wird. Sie haben richtig erkannt, dass diese Bundesregierung weitermachen wird. ({3}) Zweitens enthält Ihr Antrag ausnahmsweise einmal einen wahren Satz, nämlich dass die Feste FehmarnbeltQuerung eine große Herausforderung darstellt. Das haben Sie richtig erkannt. ({4}) Ich möchte in diesem Zusammenhang lobend erwähnen, dass die Sozialdemokraten sehr verlässlich sind. Man kann sich darauf verlassen, dass sie auf Veränderungen reagieren, und zwar mit Angstmacherei. Sie wollen Angst schüren, Angst verbreiten. Genau so ist das hier. ({5}) Der Staatsvertrag über den Bau der Fehmarnbelt-Querung wurde am 3. September 2008 unter Mitwirkung eines sozialdemokratischen Ministers geschlossen, der - das habe ich hier noch stehen - wie kaum einer für Pleiten, Pech und Pannen steht; aber das verkneife ich mir jetzt einmal. Er hat den Vertrag damals geschlossen. Da konnte einem schon angst und bange werden. ({6}) - Sie hatten den schwachen Minister zu verantworten. ({7}) Gott sei Dank tragen jetzt Bundeskanzlerin Merkel und Peter Ramsauer die Verantwortung für dieses Projekt, sodass Ihre Angst, meine Damen und Herren von der Opposition, völlig unbegründet ist. Die FehmarnbeltQuerung ist nicht der BER; das muss man deutlich sagen. Diese Bundesregierung wird alles dafür tun, die Beeinträchtigungen für den Schiffsverkehr so gering wie möglich zu halten. ({8}) Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion werden sie dabei unterstützen. ({9}) Diese Bundesregierung wird alles tun, um Gefahr für Leib und Leben der Menschen und für die Natur abzuwenden. Die Regierungskoalition wird dabei helfen. Wir brauchen keine Nachhilfe von den Sozialdemokraten. ({10}) Das können wir auch so. Wir können es sogar besser. Muss man Angst vor der Fehmarnbelt-Querung haben? Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Ja, wenn man ein roter Berufspessimist ist. ({11}) Für normal denkende Menschen sieht die Sache ganz anders aus. Diese Menschen sehen die Chance, die dieses Projekt mit sich bringt. Bei der Planung des Tunnels zwischen Lolland und Fehmarn ist nichts von Dilettantismus, Gigantonomie oder möglichen Luxustrends zu verspüren. Das ist übrigens keine Einschätzung der CDU-Pressestelle, sondern dem Hamburger Abendblatt vom 20. April dieses Jahres entnommen. Die Zeitung hat recht: Hier geht es nicht um Prunk und Prestige, sondern um dringend benötigte Infrastruktur, Herr Behrens: Infrastruktur gegen Stau und Stillstand, Infrastruktur für Handel und Wandel in Europa, Infrastruktur für den Fortschritt. Uns ist auch klar, Herr Behrens und Frau Wilms, dass es den Fortschritt nur mit den Anwohnern geben darf, nicht gegen sie. Es ist nachvollziehbar, dass sich die Menschen auf Fehmarn Gedanken über die Auswirkungen der Fehmarnbelt-Querung auf ihre Insel, ihr Umfeld und ihre berufliche Existenz machen. Das sind berechtigte Fragen. Das verstehen wir. Diesen Fragen haben wir uns gestellt und werden wir uns auch weiterhin stellen. ({12}) Ich glaube, dass gewisse Bedenken ausgeräumt sind. Die guten Gespräche im Dialogforum Feste Fehmarnbeltquerung haben sicherlich einen Teil dazu beigetragen. Ein sachlicher Dialog kann einiges bewegen. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer wird sich für eine zweite Bahntrasse an der Autobahn A 1 abseits der Ferienorte einsetzen, damit die schweren Güterzüge nicht durch die Zentren der Ortschaften auf der Insel rollen müssen. Die neue Trasse nimmt den Güterverkehr auf, die alte Trasse bleibt zum Wohle der Anwohner und Touristen erhalten. Das ist ein vernünftiger Kompromiss. Das ist die Politik der Union. Das ist Verantwortung für die Menschen. So müssen die großen Herausforderungen dieses Jahrhundertprojekts gemeistert werden: mit den Menschen für die Menschen. Seien Sie mit uns optimistisch: Wir werden das gemeinsam hinbekommen. Ihre Anträge werden wir selbstverständlich ablehnen. Danke. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/13154. Der Aus- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11365 mit dem Titel „Schutz vor Schiffs- unfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstel- len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak- tionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/8912 mit dem Titel „Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand - Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms dem Königreich Dänemark verhandeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü- nen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9407 mit dem Titel „Chancen und Risiken ergebnisoffen be- werten - Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau einer Festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken und Grünen ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 zur Änderung der Richtlinie 98/78/EG, 2002/87/EG, 2006/48/EG und 2009/138/EG hinsichtlich der zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen eines Finanzkonglomerats - Drucksachen 17/12602, 17/12997 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 17/13245 - Berichterstattung:- Abgeordnete Ralph Brinkhaus- Manfred Zöllmer- b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente ({1}) - Drucksache 17/12295 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 17/13131 - Berichterstattung:- Abgeordnete Patricia Lips- Dr. Carsten Sieling- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack, Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren - Drucksachen 17/8182, 17/13131 Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Carsten SielingBjörn Sänger Zum Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({4})

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in der aktuellen Debatte unter den Stichworten „Honoraranlageberatung“ sowie „Finanzkonglomerate“ und im weiteren Sinne dann auch hinsichtlich der Besteuerung von Erlöspools in der deutschen Seeschifffahrt gleich mehrere Maßnahmen. Lassen Sie mich zu zwei Punkten Stellung nehmen. Mit dem Gesetz zur Anlageberatung schaffen wir Rahmenbedingungen und stärken damit die Finanzberatung auf Honorarbasis. Zu oft war im Zuge der Finanzkrise zu beobachten, dass Menschen in diesem Land einen Schaden davongetragen haben, weil sie unzureichend - im schlimmsten Falle sogar falsch - beraten wurden, wenn das Provisionsinteresse des Beraters stärker war als das eigentliche Anliegen des Kunden. Aus den genannten Gründen haben wir die provisionsgestützte Beratung bereits reguliert, unter anderem im Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz sowie im Finanzanlagenvermittlergesetz. Nun wollen wir zusätzlich die Honorarberatung aus ihrem Nischendasein herauslösen, um den Kunden eine transparentere Wahlfreiheit als bisher zu geben. Hierfür gehen wir heute einen ersten Schritt. Es ist ein erster Schritt, weil wir uns, erstens, auf den auch für die Krise maßgeblichen Finanzbereich konzentrieren. Der Versicherungsbereich bleibt in der Tat ausgeklammert. Das hat neben den erforderlichen sehr umfangreichen Vorarbeiten auch einen anderen sehr guten Grund: Denn, zweitens, wir nehmen bei diesem Gesetz erneut parallele Verhandlungen auf europäischer Ebene zu einem vergleichbaren Thema vorweg. Bis zum Ende dieser Verhandlungen dauert es uns nicht zum ersten Mal zu lange. Deshalb lösen wir einen Bereich heraus, bei dem bestimmte Inhalte absehbar sind, um wenigstens an einer sehr wichtigen Stelle bereits den sprichwörtlichen Fuß in die Tür zu bekommen. Wir schaffen damit eine gute Grundlage. Diese Regulierung ist uns wichtig. Wir wollen damit ein weiteres Signal setzen. ({0}) Absehbar ist bereits, dass es am Ende keine komplette Abschaffung der provisionsgestützten Beratung geben kann. Sie ist und bleibt Bestandteil des Angebots. Beide Varianten, die honorar- und die provisionsgestützte Beratung, haben Vor- und Nachteile. Keines der Modelle ist frei von Interessenskonflikten. Viele Menschen haben einen guten Kontakt zu ihren Vermittlern und Beratern, oft über viele Jahre hinweg. Sie vertrauen ihnen, zumeist auch zu Recht. Es ist deshalb nicht an uns, eine ganze Branche unter Generalverdacht zu stellen. Unser Ziel ist es auch nicht, die Kunden zu bevormunden. Der Berater auf Honorarbasis soll jedoch in der Wahrnehmung der Verbraucher gestärkt werden. Der Verbraucher soll erkennen, dass es mehr als eine Form der Anlageberatung gibt. Was sind die wichtigsten Eckpunkte? Die Honoraranlageberatung wird zu einem Berufsbild mit geschütztem Begriff. Nur wer bestimmte Kriterien erfüllt, darf sich künftig entsprechend bezeichnen. Das Regulierungsniveau inklusive der Qualifizierung wird darüber hinaus angepasst. Das reicht von der Registrierung über die Aufsicht und die Wohlverhaltenspflichten bis hin zur Sachkunde und vielem anderen mehr. Im Gegensatz zur Opposition wollen wir aber nicht, dass dabei einseitig sogenannte Nettofinanzprodukte in die Beratung einfließen. Das würde bedeuten, dass der Berater rundweg gar keine Produkte einbeziehen dürfte, die über einen Emittenten eigentlich mit einer Provisionsvergütung versehen sind. Die Nettoprodukte sollen natürlich in erster Linie empfohlen werden. Auch von uns wird dieser Weg verfolgt. Nur wenn das empfohlene Finanzinstrument nicht provisionsfrei erhältlich ist, darf dieser Weg eingeschlagen werden. Doch auch dann gelten Regeln: Fällt eine Provision an, darf diese nicht beim Berater verbleiben. Er hat also keinen Vorteil davon. Er muss die Provision unverzüglich an den Kunden weiterleiten. Es gilt: Am Ende darf ein Produkt dem Kunden auf keinen Fall zum Schaden gereichen, aber auch nicht zu einem Mehraufwand führen. Für uns gilt aber auch: Nicht das Verfahren und nicht Prinzipienreiterei, die zum Ausschluss von Dingen führen könnten, die für den Kunden vielleicht sogar von Vorteil wären, dürfen am Ende im Mittelpunkt stehen, sondern das beste Produkt für den Kunden. ({1}) Ich möchte etwas zitieren: Eine Honorarberaterin bzw. ein Honorarberater muss aus dem gesamten Bereich von Finanz- und Versicherungsinstrumenten optimale individuelle Lösungen für seine Kundinnen und Kunden bereitstellen können. Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dies ist ein Zitat aus Ihrem Antrag. Ich hätte es nicht besser formulieren können. ({2}) Abschließend sage ich: Der vorliegende Gesetzentwurf steht in einer Reihe mit den Gesetzen aus den letzten Jahren, mit denen diese Koalition nicht nur die Finanzbranche stärker reguliert hat, sondern vor allem auch für den Verbraucher ein hohes Maß an Sicherheit und Transparenz schaffen konnte. Er bildet eine Basis für weitere Schritte. Damit können wir in einem wichtigen Bereich kurzfristig für mehr Sicherheit und Transparenz sorgen. Lassen Sie mich in einem weiteren Teil meiner Ausführungen ein anderes Thema ansprechen. Es geht um die sogenannten Schiffserlöspools im Bereich der deutschen Seeschifffahrt. Diese Pools sind ein Instrument zur gemeinsamen flexiblen Vermarktung der in einem Pool vereinten Schiffe, also im Prinzip eine gute Sache. Die Frage, inwieweit eine Versicherungsteuer für diese zur Anwendung kommen soll, ist kürzlich aufgeworfen worden. Das führt zur Verunsicherung. Wir wollen heute klarstellen, dass für diese Pools weder rückwirkend noch bis Ende 2015 eine Pflicht zur Zahlung einer Versicherungsteuer entsteht. Damit wird Planungssicherheit gegeben. In der Folge soll es zu einer umfassenden Neuregelung der Versicherungsteuerpflicht kommen. Letztendlich ergibt sich diese Maßnahme aus den Lehren, die wir aus der Finanzkrise seit 2008 gezogen haben. Gerade auf den Schifffahrtsmärkten gab und gibt es langanhaltende Verwerfungen. Wir wollen unsere maritime Wirtschaft damit unterstützen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Carsten Sieling hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf mit dem wunderschönen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente“ ist leider ein weiterer Beleg dafür, dass Sie zwar schöne Überschriften formulieren, der Inhalt aber selten hält, was die Überschrift verspricht. Weil wir hier schon mehrfach darüber diskutiert haben und die Zeit schon fortgeschritten ist, möchte ich direkt sagen, dass es so leider nicht gelingen wird, eine vernünftige und nachvollziehbare Alternative zu einer standardisierten provisionsbezogenen Beratung und zu einem provisionsbezogenen Vertrieb für die Menschen zu schaffen. Ich glaube, man hat bei meiner Vorrednerin sehr deutlich gemerkt, wie kompliziert und verworren das Konstrukt ist, das produziert worden ist. Dies hat ja viel mit Konflikten in Ihren Reihen zu tun. ({0}) Bundesverbraucherministerin Aigner, die Sie ja jetzt wieder zurück nach Bayern schicken, weil Sie dort eine Reihe von Ersatzpersonal brauchen - auch gerade nach dem heutigen Tag -, ({1}) hat einen umfangreichen Vorschlag gemacht, der in vielerlei Hinsicht vernünftige Elemente beinhaltet hat. Das ist dann leider vom Bundesfinanzminister mit tätiger Hilfe der FDP zersägt worden. ({2}) - Ich bedanke mich für diese Frage. Sie zeigt, man konnte mir bislang gut folgen. ({3}) Ich will Ihnen meine Kritik kurz erläutern. Erstens. Sie ermöglichen eben nicht eine durchgreifende und umfassende Beratung. Die Menschen brauchen Sicherheit, sie brauchen ein breit strukturiertes Angebot zu unterschiedlichen Produkten. ({4}) Darum ist es falsch, dass Sie kein umfängliches Berufsbild für Honorarberater vorsehen und auch keine produktübergreifenden Anlageberatungen ermöglichen. Zweitens. Sie trennen nicht deutlich zwischen den Vertriebskosten und den Produktkosten. Das ist der entscheidende Punkt. Die verpflichtende Ausweisung von Nettotarifen wäre ein wichtiges Element. Sie sehen nur vor - das ist der dritte Kritikpunkt -, denen, die etwas verkaufen, die Möglichkeit zu geben, die Provision an die Kunden weiterzuleiten. Damit geben Sie ein völlig falsches Signal und irritieren an einer wichtigen Stelle. ({5}) Letztlich schaffen Sie es nicht, die Aufsicht in diesem Bereich endlich einmal zu ordnen. Ich finde nach wie vor, dass es ein Skandal ist, dass die Industrie- und Handelskammern und die Gewerbeaufsichtsämter, die in der Gastronomie die Bedingungen kontrollieren, sich um diesen schwierigen Bereich kümmern müssen. Wir haben von Beginn an gesagt, dass das alles von der BaFin kontrolliert werden soll, aber Sie sehen dies wieder nicht vor. Im Ergebnis wird der Beratungssektor weiterhin eine Subkultur bilden. Das ist schade. Das ist wirklich ein Verlust für die Sicherheit und für die Perspektiven. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab und haben einen eigenen Antrag vorgelegt. Wir bitten um Zustimmung für diesen Antrag. Ich darf, weil dies eine Debatte ist, in der verschiedene Punkte thematisiert werden, auch das Thema der Schiffspools und der Versicherungsteuer ansprechen. Frau Kollegin Lips, eines will ich ausdrücklich sagen. Sie haben hier so schön formuliert: Und dann kam da plötzlich irgendwoher der Vorschlag, diese Dinge einer Versicherungsteuer zu unterwerfen. - Nennen Sie doch bitte Ross und Reiter. Dieser Vorschlag ist von Bundesfinanzminister Schäuble gemacht worden, er hat weder Hand noch Fuß und ist von Grund auf falsch und auch nicht sachgemäß. ({6}) Das hat die Anhörung im Finanzausschuss sehr deutlich gezeigt. Sie haben jetzt versucht, zu reparieren. Ich hatte bis vorgestern noch geglaubt, dass Sie richtig reparieren und einsichtig geworden sind. Aber nein, Sie trauen sich nicht. Sie machen eine befristete Regelung bis Ende 2015. ({7}) Damit schaffen Sie nur eine vorübergehende Rechtssicherheit. Ich habe heute eine Presseerklärung dazu gelesen, in der es hieß: „Das Damoklesschwert … ist an die Seite gelegt worden.“ Richtig, es wird bis Ende 2015 an die Seite gelegt, aber es liegt noch da, um dann wieder aufgehängt zu werden. Meine Damen und Herren, entweder sind diese Pools versicherungsteuerpflichtig oder nicht. Ein bisschen schwanger geht nicht. Sie legen hier einen solchen Unsinn vor. Gut, es gibt einen positiven Aspekt dabei: Wir haben nach dem 22. September, wenn wir regieren, die Aufgabe, daraus etwas Konsistentes zu machen und dafür zu sorgen, dass die Versicherungsteuer an der Stelle wirklich der Vergangenheit angehören wird. Angesichts dieser späten Stunde habe ich etwas Redezeit eingespart. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zuge der Finanzkrise gab es bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern, bei den Anlegerinnen und Anlegern eine große Verunsicherung. Sie wussten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Misstrauen ist entstanden. Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hat reagiert. Rückblickend kann man mit Fug und Recht feststellen: Es waren vier gute Jahre für Deutschland im Bereich des Anlegerschutzes. ({0}) Wir haben Sicherheit und Vertrauen geschaffen, ({1}) indem wir beispielsweise das Anlegerschutzgesetz verabschiedet haben. Wir haben die Beratungsprotokolle eingeführt. Wir haben die Produktinformationsblätter eingeführt, die wir zukünftig reformieren werden; wir wollen versuchen, sie zu vereinheitlichen. Wir haben ungedeckte Leerverkäufe verboten und die Kreditverbriefungen geregelt. Wir haben eine Initiative zu den Eigenkapitalquoten im Zuge des Basel-III-Prozesses gestartet. Wir haben den Hochfrequenzhandel und den Derivatehandel reguliert. ({2}) Jüngst haben wir uns im Ausschuss mit dem AIFMUmsetzungsgesetz beschäftigt und den grauen Kapitalmarkt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Insgesamt kann man wirklich mit Fug und Recht feststellen: Bislang waren es vier gute Jahre für Deutschland. Wir machen sie aber noch besser, ({3}) und zwar durch das Honoraranlageberatungsgesetz, das wir vorgelegt haben. ({4}) Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren, schaffen wir Wahlfreiheit. Auf die Wahlfreiheit kommt es uns nämlich an. Die Kundinnen und Kunden, die Anlegerinnen und Anleger sollen die Wahl haben, zu entscheiden, wie sie sich in ihren privaten Geldangelegenheiten beraten lassen. ({5}) Das ist eben der Unterschied zwischen uns und Ihnen: Bei uns entscheidet der Kunde, bei Ihnen entscheidet das Wir. Wir sind der Meinung, es ist besser, wenn der Kunde entscheidet. ({6}) Aus diesem Grund haben wir das Berufsbild des Honoraranlageberaters geschaffen. Wir haben klar festgelegt, welche Voraussetzungen er erfüllen muss, was er machen darf und was er nicht machen darf. Vermutlich wird es auch bei der Honorarberatung schwarze Schafe geben. Davor ist man allerdings nie gefeit; auch die provisionsgestützte Beratung hat Vor- und Nachteile. Aber jetzt kann der Kunde selbst entscheiden, ({7}) und ein Markt kann sich entwickeln. In der Tat ist die Honorarberatung, Kollege Sieling, noch nicht ganz so umfassend geregelt, wie wir es uns wünschen würden. Allerdings muss man berücksichtigen: Im Rahmen der MiFID ist eine europäische Regulierung zu erwarten. In etwa zwei Jahren wird es so weit sein, dass sie auch bei uns landet. ({8}) Damit wir dieses Gesetz dann nicht werden ändern müssen, sondern weiterhin Rechtssicherheit haben, haben wir aus dieser europäischen Regulierungsrichtlinie das herausgegriffen, was man schon jetzt umsetzen kann. Dabei geht es im Wesentlichen um Wertpapiere, bedauerlicherweise nicht um Versicherungen. Weil es noch keinen vernünftigen Markt für sogenannte Nettoprodukte gibt, also für Produkte, die keinen Provisionsanteil enthalten, haben wir die Vorschrift eingeführt, dass der Berater, wenn das für den Kunden beste Produkte eine Provision beinhaltet, diese Provision an den Kunden weiterleiten muss. Insofern haben wir einen Ordnungsrahmen geschaffen, der für mehr Wettbewerb zwischen den Beratungsformen und für mehr Wettbewerb zwischen den Beratern führen wird. Anbieter, die sagen: „Ich möchte meinen Kunden zukünftig Honorarberatung anbieten“, können dies tun, ohne in zwei Jahren möglicherweise mit einer weiteren Gesetzesänderung rechnen zu müssen. Ich finde, in Anbetracht sich ständig ändernder Rahmenbedingungen ist das eine gute Lösung. Ich fasse zusammen: Der Kunde entscheidet, und wir haben Wettbewerb geschaffen. Es waren in der Tat vier gute Jahre für Deutschland. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Harald Koch für die Linke. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verbraucherinnen und Verbrauchern entsteht jedes Jahr durch falsche Anlageberatung und schlechte Finanzinstrumente ein Schaden von über 50 Milliarden Euro. ({0}) - Stellen Sie die Frage; dann sage ich Ihnen das. ({1}) Mit dem Honoraranlageberatungsgesetz will die Bundesregierung die Beratung auf Honorarbasis stärken, um wenigstens ein klein wenig für bessere Finanzberatung zu sorgen. Doch das gelingt ihr leider nicht. Das liegt zum einen daran, dass sie zwei entscheidende Gründe für massenhafte Falschberatung im Finanzbereich völlig ignoriert: die provisionsgestützte Beratung und Vermittlung sowie den Vertriebs- bzw. Verkaufsdruck, der oft auf Vermittlern und Beratern lastet. Zum anderen liegt es daran, dass sie, um die manipulative Finanzlobby nicht zu vergrätzen, nicht den Blick über den Tellerrand wagt. Aus diesem Grund lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab. Wir haben aber zugleich einen Entschließungsantrag eingebracht, den ich Ihnen allen dringend zur Lektüre empfehlen möchte. Es reicht nicht aus, wenn man sich, wie es die SPD und die Grünen mit ihren Anträgen tun, stur auf die Honorarberatung stürzt. Ihre Forderungen zur Stärkung der Honorarberatung teilen wir aber weitestgehend. Wir wollen unter anderem, dass der Begriff „Berater“ unter Bezeichnungsschutz gestellt wird. Es müssen natürlich auch Nettotarife für alle Finanzmarktinstrumente eingeführt werden. Eine bundeseinheitliche Aufsicht für alle Honoraranlageberater hat durch die BaFin zu erfolgen. Die Vergütung der Beratenden muss zum Schutz einkommensschwacher Menschen besser geregelt werden. Honorarberatung darf auch nicht zum Privileg der Reichen werden. Schließlich sollte die Beratung finanzinstrumenteübergreifend erfolgen und zum Beispiel Versicherungen mit einschließen. ({2}) Deswegen habe ich Ihre Aussage, Frau Lips, wohlwollend zur Kenntnis genommen. Doch nun muss der Blick weiter reichen als von der Tapete bis zur Wand: Wir brauchen eine wirklich unabhängige und flächendeckende verbrauchergerechte Finanz- und Anlageberatung auf einer viel breiteren Basis. Daher müssen neben der Honorarberatung vor allem die Beratungsangebote der Verbraucherzentralen und der Schuldnerberatungsstellen gestärkt werden, aber auch die öffentliche Rechtsberatung zum Anlegerschutzrecht. Die Verbraucherzentralen müssen personell, strukturell, rechtlich und finanziell in die Lage versetzt werden, ihr Beratungsangebot und ihre Marktwächterfunktion ausbauen zu können. Im Gegensatz zu SPD und Grünen will die Linke das System der provisionsgestützten Finanzberatung und -vermittlung überwinden. ({3}) An dieser Stelle merkt man ganz deutlich, dass auch SPD und Grüne das Problem der Falschberatung nicht ernst genug nehmen ({4}) und der Finanzlobby nicht an den Karren fahren wollen. ({5}) Solange es eine provisionsgestützte Finanzberatung gibt, hat die Honorarberatung wenige Chancen. Produktbezogene Verkaufsvorgaben der Kredit- und Finanzinstitute, der Versicherungen und Finanzvertriebe sind ebenso gesetzlich zu verbieten. Schließlich brauchen wir neben einer Verbraucherschutzbehörde für Finanzmärkte einen Finanz-TÜV, der allen Finanzmarktakteuren, -instrumenten und -praktiken nur bei Unbedenklichkeit eine Zulassung erteilt. ({6}) Ohne Zulassung kein Geschäft, nur so vermeidet man etliche weitere Verlustgeschäfte für die Bürgerinnen und Bürger, die sich in der Folge auch in steigender Altersarmut bemerkbar machen. Alles in allem getraut sich nur die Linke, das Goldene Kalb der Provision zu schlachten. Die Finanzberatung muss endlich von den Bedürfnissen, Lebensumständen und Anlagezielen der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgehen, und zwar nur davon. Es bestehen also noch große Probleme im finanziellen Verbraucherschutz. Eine deutliche Stärkung der Verbraucherinteressen und -rechte ist dringend notwendig. Nur die Linke ist hier Anwältin der Bürgerinnen und Bürger. Die Zahlen, Herr Brinkhaus, habe ich von Professor Dr. Andreas Oehler von der Universität Bamberg, nachzulesen im Handelsblatt vom 27. Dezember 2012. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ziel des Gesetzentwurfes, die Honorarberatung in Deutschland zu fördern und zu regulieren - Frau Lips hat dieses Ziel schön vorgetragen -, unterstützen wir aus vollem Herzen. ({0}) Leider wird dieses Ziel mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht erreicht. Anstelle eines umfassenden, an den Kundenbedürfnissen orientierten Berufsbildes zur Honorarberatung, das alle Finanzprodukte einschließt - Sie haben da aus dem Entschließungsantrag der Linken zitiert -, produzieren Sie weiteres Chaos auf dem Markt. Mit Begriffen wie „Honoraranlagenberater“ und „Honorarfinanzanlagenberater“, die mitnichten über alle für die Verbraucher relevanten Produkte beraten können, schaffen Sie bei den Verbrauchern Verwirrung. Stellen Sie sich die Situation vor: Sie gehen zu einem Honorarfinanzanlagenberater. Der darf Sie aber nicht dahin gehend beraten, dass Sie zum Beispiel erst einmal eine private Haftpflichtversicherung oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen sollten, bevor Sie sich Gedanken über Aktien, Sparpläne und geschlossene Fonds machen. Wir finden: Das hat nichts mit umfassender Finanzberatung zu tun. ({1}) Ich denke, es ist keine Kaffeesatzleserei, wenn ich prognostiziere, dass nur ein kleiner Kundenkreis bereit sein wird, für eine derart eingeschränkte Form der Beratung überhaupt Honorare zu zahlen. Die Bundesregierung und die Fraktionen von Union und FDP vergeben die Chance auf einen Paradigmenwechsel im Markt für Finanzberatung in Deutschland. Wenn Sie einen wirklichen Paradigmenwechsel, einen echten Wettbewerb zwischen Honorar und Provision, gewollt hätten, dann wären Sie mutige Schritte gegangen, zum Beispiel mit der Pflicht zur Einführung von Nettotarifen und der steuerlichen Gleichstellung von Provision und Honorar. ({2}) Frau Lips, Sie haben gesagt, die Durchleitung von Provisionen sei eine Alternative zu den Nettotarifen. Mitnichten! Die Provisionsdurchleitung kann nur ein Modell für einen Übergang sein. Danach brauchen wir die Pflicht zur Einführung von Nettotarifen, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich verständliche Alternativen am Markt haben, die sie ohne ein Ökonomiestudium miteinander vergleichen können. Das Instrument der Provisionsdurchleitung wurde in der Anhörung hart kritisiert. Damit öffnen Sie neuen Fehlanreizen Tür und Tor. Sie erlauben damit eine vermeintliche Schnäppchenjagd für die Verbraucherinnen und Verbraucher und verlagern Fehlanreize vonseiten der Anbieter und Vermittler zu den Verbrauchern. Hier kann man sich nur fragen: Halten Sie das wirklich für sinnvoll? Meine Damen und Herren, die Kritik aus dem Bundesrat, aus der Anhörung und vonseiten der Opposition haben Sie mit wenigen Ausnahmen ignoriert. ({3}) Von Ilse Aigners großen Ankündigungen, die sie 2011 in Form eines durchaus brauchbaren Eckpunktepapiers vorgelegt hat, ist nur wenig übrig geblieben. ({4}) Herausgekommen ist dieser Gesetzentwurf, den man, denke ich, mit Fug und Recht als Entwurf eines Honorarberatungsverhinderungsgesetzes bezeichnen kann, und so etwas lehnen wir ab. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ralph Brinkhaus für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Maisch, ich glaube, das, was Frau Aigner in ihr Eckpunktepapier geschrieben hat, ist schon zu großen Teilen umgesetzt worden. ({0}) Man muss auch einfach einmal eines sagen: Das, was davon in dieser Legislaturperiode umzusetzen war, ist auch umgesetzt worden. Wir müssen hier einfach auch einmal realistisch bleiben. ({1}) Die Honoraranlageberatung ist von dieser Bundesregierung und von dieser Regierungskoalition das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzlich verankert worden. ({2}) Das Honoraranlageberatungsgesetz steht als ein Element in einer ganz langen Reihe von vielen Verbraucherschutzmaßnahmen, die diese Bundesregierung auf den Weg gebracht hat. ({3}) Diese Bundesregierung hat so viel für den Verbraucherschutz im Bereich der Finanzen getan wie keine Bundesregierung zuvor. Auch das gehört zur Wahrheit. ({4}) Um Ihnen das nur noch einmal in Erinnerung zu rufen, nenne ich: das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, die Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie, die Verbesserungen der Aufsichtsstrukturen, das AIFM-Umsetzungsgesetz, das gestern durch den Ausschuss gegangen ist, die Deckelung der Provisionen bei der privaten Krankenversicherung und bei der Lebensversicherung, unsere Mitwirkung an MiFID II - daran wirken wir noch immer mit - und Maßnahmen in Bezug auf die Geldautomaten und Verjährungsfristen. ({5}) Ich glaube, wenn Sie in der Zeit, in der Sie Verantwortung getragen haben, so viel vorzuweisen gehabt hätten, dann könnten Sie stolz sein. Das haben Sie aber nicht. ({6}) Kommen wir zum zweiten Gesetzentwurf, den wir heute hier verabschieden werden. Es geht dort um Finanzkonglomerate. Dazu hat sich noch keiner geäußert. Ich glaube, der Kollege Zöllmer wird sich dieser Aufgabe gleich annehmen. Ich mache es einmal ganz kurz und bündig: Was ist ein Finanzkonglomerat? Das ist ein Konzern, in dem - ganz grob vereinfachend gesagt - sowohl ein Versicherungsunternehmen als auch eine Bank ist. Das bedeutet, dass es da durchaus Probleme geben kann, weil Banken und Versicherungen getrennt beaufsichtigt werden. Deswegen ist es notwendig, dass die gemeinsame Aufsicht koordiniert wird. Deswegen ist es notwendig, dass man bei Organisation und Eigenmitteln besondere Anforderungen beachtet. Das Ganze war im deutschen Recht bisher in einigen Gesetzen geregelt, aber noch nicht europarechtskonform. Das wird jetzt nachgeholt. Wir werden europäische Vorgaben umsetzen, und wir werden aus verschiedenen Gesetzen ein neues Gesetz machen: ein Finanzkonglomerate-Aufsichtsgesetz, in dem verschiedene Paragrafen vereint sind. Wir werden auch diesen Bereich vernünftig überwachen lassen. Ich glaube, das ist im Wesentlichen unstrittig. Wir haben darauf verzichtet, in größerem Umfang etwas hinzuzufügen. Dementsprechend war es in den Ausschussberatungen eigentlich einhellige Meinung, dass dieses Gesetz ein gutes Gesetz ist. Ich bedanke mich bei den Koberichterstattern für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. „Was machen eigentlich zwei Gesetze wie das Honoraranlageberatungsgesetz, also ein Gesetz zum Verbraucherschutz, und ein Gesetz zu Finanzkonglomeraten in ein und derselben Debatte?“, könnte man sich fragen. Die erste Antwort darauf ist: Wir verabschieden so unglaublich viele Gesetze im Bereich der Finanzmarktregulierung und des finanziellen Verbraucherschutzes, dass wir von unseren Parlamentarischen Geschäftsführern immer weniger Debattenzeiten für Themen dieser Art bekommen. Dementsprechend müssen wir diese beiden Gesetzentwürfe an dieser Stelle zusammen beraten. Die zweite Antwort darauf ist: Zwischen diesen beiden Bereichen gibt es doch eine Verbindung. Wir haben gerade sehr viel über den finanziellen Verbraucherschutz gesprochen, über Transparenz, über Informationen, über Beratungen, über Vertrieb, über Provisionen und ähnliche Dinge. Aber eigentlich ist es so, dass der beste finanzielle Verbraucherschutz stabile Finanzmärkte sind. Genau das hat diese Bundesregierung mit auf den Weg gebracht, und zwar durch über 25 Initiativen, Gesetzgebungsverfahren, Umsetzungen von europäischen Normen. Das haben wir eigentlich richtig gut gemacht. ({7}) Wir haben dabei ein System gehabt: Wir haben dafür gesorgt, dass bei Finanzinstituten, Banken und Versicherungen weniger Fehler gemacht werden. Wir haben Fehlanreize bei den Vergütungsstrukturen beseitigt. Wir haben den Unsinn, der bezüglich Ratingagenturen gemacht worden ist, abgestellt. Wir haben Verbriefungen und Großkredite reguliert. Wir haben in einem zweiten Schritt dafür gesorgt, dass die Fehlertragfähigkeit dieser Institute größer wird. Das heißt, wir haben Eigenkapital- und Liquiditätsregeln geschaffen. Bestimmte Sachverhalte, bestimmte Geschäfte, wie Leerverkäufe, haben wir aus dem Gesetz herausgenommen. Wir haben in einem dritten Schritt die Aufsicht gestärkt und haben erst einmal Transparenz geschaffen. Bestimmte Informationen sind für die Aufsicht das erste Mal überhaupt sichtbar. Wir haben europäische Aufsichtsstrukturen verändert, wir haben deutsche Aufsichtsstrukturen verändert, und - was ganz wichtig ist wir haben ganz viele Bereiche, die nie reguliert waren, das erste Mal überhaupt in die Aufsicht hineingenommen: den grauen Kapitalmarkt, Hedgefonds. Das ist etwas, wofür diese Bundesregierung verantwortlich ist. Diese Punkte werden deswegen ein wesentlicher Bestandteil in der Bilanz dieser Bundesregierung und dieser Koalition nach vier Jahren Regierungszeit sein. Wir haben darüber hinaus Neues auf den Weg gebracht, nämlich ein Restrukturierungsregime für Banken. Das ist erstmals in Europa geschehen. Es ist sehr schade, dass es ein solches Restrukturierungsregime noch nicht auf europäischer, sondern nur auf deutscher Ebene gibt. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode daran arbeiten, dass sich das ändert. Der letzte Punkt, den wir im Bereich „sichere Finanzmärkte“ umgesetzt haben: Wir waren die Ersten, die dafür gesorgt haben, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, sich auch an den Kosten beteiligen. ({8}) Wir haben die Bankenabgabe auf den Weg gebracht. Es war diese Bundesregierung, die es geschafft hat, das Instrument der Finanztransaktionsteuer in den europäischen Verhandlungsprozess einzubringen. ({9}) Ich schließe meinen Redebeitrag zu dieser nächtlichen Zeit. Man kann eines sagen: Wir haben eine ziemlich gute Bilanz im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes. Wir haben eine super Bilanz im Bereich der Finanzmarktregulierung. Das Ganze werden wir in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen, und darauf freuen wir uns schon. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in dieser Debatte ist Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Brinkhaus, hat die merkwürdige Zusammenlegung der Beratung dieser beiden Gesetzentwürfe vielleicht etwas damit zu tun, dass Sie verschleiern wollen, dass Sie etwa im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes und der Honorarberatung inhaltlich gar nichts vorzuweisen haben? Kann das nicht der Grund sein? Ich glaube, das ist er. ({0}) - Nein, ich habe jetzt noch eine Minute und 36 Sekunden Redezeit. ({1}) Eine Erkenntnis der Finanzkrise war, dass die Aufsicht über Finanzinstitute verbessert werden muss. Der Kollege Brinkhaus hat eben definiert, worum es bei diesen Finanzkonglomeraten geht. Wir halten es für richtig, dass deren Beaufsichtigung in Deutschland verbessert wird. Wir haben zwar nur relativ wenige solcher Unternehmen hier in Deutschland; aber trotzdem können sie im Fall einer Krise systemische Wirkungen entfalten. Sie setzen dabei die europäische Finanzkonglomeraterichtlinie um. Es ist im Wesentlichen eine Eins-zueins-Umsetzung europäischer Vorgaben. Ich darf daran erinnern: Sie loben sich hier immer für Gesetzentwürfe, die im Wesentlichen nur Umsetzungen europäischer Vorgaben sind. ({2}) Das muss man, glaube ich, auch einmal sagen. Sie haben auf der Ebene der Finanzkonglomerate nur einen Stresstest neu eingeführt. Das halten wir in diesem Zusammenhang für richtig. ({3}) In einem Fachgespräch ist deutlich geworden, dass dieser Gesetzentwurf auch von den Experten insgesamt begrüßt wird. Es gab Fragen, wie Bundesbank und BaFin bei der Aufsicht eigentlich zusammenarbeiten sollen, und es gab den Wunsch der Versicherungen, deutlich zu machen, dass es hier schlanke Strukturen geben solle und es nicht sinnvoll sei, dass zweimal berichtet wird. Wir hoffen, dass das insgesamt dann auch umgesetzt wird. Doppelte Berichtswege sollten hier vermieden werden. Wir müssen hier etwas mit weniger Bürokratie schaffen. Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 zur Änderung verschiedener EG-Richtlinien hinsichtlich der zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen eines Finanzkonglomerats. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13245, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/12602 und 17/12997 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13131, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12295 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dieser Empfehlung folgen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13247. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13248. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen des Hauses abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13249. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Grünen und SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/13131 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8182 mit dem Titel „Verbraucherschutz stärken - Honorarberatung etablieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz bei Steinkohleimporten - Drucksachen 17/10845, 17/12228 Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. Lämmel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil für die FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute fand in Karlsruhe die Hauptversammlung der Energie Baden-Württemberg AG statt; die von RWE fand vor einer Woche in Essen statt. Beide Veranstaltungen haben eines gemein: Sowohl in Karlsruhe als auch in Essen wurde ein kunterbuntes Schauspiel vorgeführt, und zwar von Aktivisten, denen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit Ihrem Antrag hier und heute das Wort reden. Ein paar Kollegen von der SPD machen munter mit. ({0}) Dazu bedarf es einer Erklärung. Umwelt-NGOs fahren den Häuptling eines indigenen Volkes aus dem Norden Kolumbiens, wo Steinkohle abgebaut wird, von Hauptversammlung zu Hauptversammlung der großen Energieversorger in Deutschland. Dabei inszenieren sie dessen Auftritt zur Verfolgung ihrer eigenen Zwecke wie eine Zirkusvorführung mit Trommeln und Federn. Ich finde das aus zwei Gründen unter aller Kritik: Erstens haben wir die Zeiten, in denen es solche plakativen Vorführungen aus einer anderen Welt gegeben hat, hinter uns gelassen - Gott sei Dank! Zweitens ziehen diese Organisationen mit solchen Kampagnen im Ausland das Ansehen deutscher Unternehmen durch den Dreck, und damit auch das von Deutschland. ({1}) Auch wenn Sie in Ihrem Antrag etwas anderes behaupten: Der Handel mit fungiblen Commodities - dazu zählt die Steinkohle - wird über organisierte Warenterminbörsen abgewickelt. Das bedeutet: Einzelnen Rechnungsposten einen Fußabdruck oder Footprint anzuheften, ist schlichtweg unmöglich. Aber das ist auch gar nicht nötig. Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Finanzierung rohstofffördernder Unternehmen berichten. Die deutschen EVU beziehen ihre Kohle von weltweit aktiven Unternehmen aus der Rohstoffförderung. Diese Unternehmen sind schon durch ihre Eigentümerstrukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten Standards einzuhalten. Lassen Sie mich das erklären: Kapitalsammelstellen, wie zum Beispiel das California Public Employees’ Retirement System, auch als Calpers bekannt, aber auch andere bekennen sich zu strengen sozialen und ökologischen Selbstverpflichtungen. ({2}) Gemäß dieser Selbstverpflichtungen entscheiden sie über Veräußerung oder Akquise von Beteiligungen an Unternehmen in Milliardenhöhe. Es ist nicht schwierig, nachzuvollziehen, dass Auftritte wie der heutige oder der der vergangenen Woche auch für deutsche Unternehmen nicht unbedingt hilfreich sind; denn auch hier achten Investoren mehr und mehr auf ethisch-ökologische Anlagekriterien. Was hilft es zum Beispiel unserem gemeinsamen Projekt, der Energiewende, wenn wir in der ohnehin schon stark belasteten Energiebranche auch noch die Anleger verschrecken? ({3}) Damit machen wir es ihnen doch noch schwerer, in dringend benötigte Gaskraftwerke - hören Sie zu, Herr Kollege Krischer - oder den Zubau erneuerbarer Energien zu investieren. Das wollen Sie doch. Nachhaltigkeit kann und darf für diese Unternehmen schon aufgrund ihrer Eigentümerstrukturen nicht nur eine Worthülse im CSR-Bericht sein. Also müssen viele Aktiengesellschaften nachhaltig wirtschaften, soziale und ökologische Standards einhalten, allein schon deshalb, um ihre Kapitalgeber bei der Stange zu halten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Vielleicht ist das aber auch gerade das Ziel dieser NGOs oder Ihres Antrages. Ich sehe zusätzlich einen betriebswirtschaftlichen Punkt, weshalb diese Unternehmen soziale und ökologische Standards einhalten. Sie führen nämlich zu Nachhaltigkeit und damit über sozialen Frieden und wachsenden Wohlstand in den Förderregionen zu Produktivität und Verlässlichkeit. Diese Produktivität und Verlässlichkeit liegen doch im Interesse aller. Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben zur Flankierung dieser Handelsaktivitäten gemacht. Es gibt weltweit Initiativen und Abkommen, die der Verbesserung der Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstandards dienen. Wir sind in vielen Fällen aktiv eingebunden. Wir unterstützen die Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie politisch und finanziell. Wir sind derzeit Mitglied im internationalen Aufsichtsgremium. Zahlreiche Staaten haben die formulierKlaus Breil ten Standards anerkannt, ebenso eine Reihe von Unternehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWE und die KfW dazu - eigeninitiativ und ohne Zwang. Das im Antrag genannte Lieferland Kolumbien ist Mitglied der International Labour Organization, und es hat die ILO-Konvention 169 ratifiziert. Die Überwachung obliegt alleine der ILO. Damit sind die im Antrag erhobenen Forderungen entweder unnötig oder bereits erfüllt. Wir unterstützen die betreffenden Länder mit unserer Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Gerade erst haben wir hier über ein Rohstoffabkommen mit Peru und Kolumbien debattiert. Auch damit wirken wir auf die Anerkennung und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards hin. Alles, was darüber hinausgeht, widerspricht jedenfalls meinem Verständnis von der nationalen Souveränität einzelner Staaten. Aber diese Bedenken blenden Sie einfach aus. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPDFraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zuerst einmal ein Kompliment, Klaus Breil: Sie haben gerade in Ihrer Rede einen sehr langen englischen Begriff verwendet und haben ihn fehlerfrei vorgetragen. Das war ganz hervorragend. ({0}) Ich fange deshalb auch mit zwei englischen Begriffen an. Liebe Freunde von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrem Antrag, in dem es letztlich um Transparenz im Rohstoffsektor geht, sind Sie nicht First Movers, sondern Late Followers; denn die SPD hat bereits im Januar 2013 zwei Anträge zu diesem Thema eingebracht: erstens den Antrag „Transparenz in den Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien“ und zweitens den Antrag „Transparenz für soziale und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Arbeits- und Umweltbedingungen europäisch einführen“. Im ersten Antrag zur Transparenz der Zahlungsflüsse im Rohstoffbereich geht es vor allem um die Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft in solchen rohstoffreichen Ländern, die Gewinne aus dem Bergbau in erster Linie in die Taschen korrupter Eliten lenken und dadurch eine Wohlstandsentwicklung bei den zumeist völlig verarmten Bevölkerungen gar nicht erst zulassen. Außerdem soll durch Zertifizierung von Minen sichergestellt werden, dass Rohstoffe aus Konfliktregionen nicht auf die Weltmärkte gelangen und auf diese Weise zur weiteren Finanzierung bewaffneter regionaler Konflikte beitragen. Im zweiten Antrag zur Transparenz von Arbeits- und Umweltbedingungen finden sich ähnliche Ansätze wie im heute zu diskutierenden Antrag der Grünen. Allerdings beschränkt sich unser Antrag nicht auf einen einzigen Rohstoff, die Steinkohle, sondern adressiert den gesamten Bereich der energetischen und nicht energetischen Rohstoffe. Das ist uns wichtig, Herr Krischer, weil erst gar nicht der Eindruck entstehen soll, es gehe uns in Wahrheit nicht um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Minensektor oder die Umweltbedingungen bei der Förderung, sondern um die Diskriminierung eines bestimmten Rohstoffes. ({1}) Wir fordern in unserem Antrag, die Unternehmen gemäß der OECD-Leitsätze zu verpflichten, vollständige Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit entlang der gesamten Lieferkette abzugeben. Wir verlangen außerdem, dass die Informationen durch unabhängige Prüfgesellschaften geprüft und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Aspekte öffentlich verfügbar gemacht werden. Wir fordern des Weiteren ein europäisches bzw. möglichst internationales Akkreditierungs- und Zertifizierungssystem sowie die gesetzliche Verankerung eines Indikatorensystems für die verpflichtende Unternehmensberichterstattung. Dieses Indikatorensystem soll sich an den OECD-Leitlinien, den ILO-Kernarbeitsnormen, der ILO-Erklärung für grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit sowie an der Global Reporting Initiative - auch das ist englisch - und der ISO 26 000 orientieren. ({2}) Der Antrag der Grünen berücksichtigt in Punkt 13 lediglich die ILO-Konvention 169 über indigene Völker, nicht aber die ILO-Konventionen 176 und 182 zum Arbeitsschutz in Bergwerken und zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Das ist uns, ehrlich gesagt, zu wenig. ({3}) Unsere Anträge sind also in jeder Hinsicht umfassender, weshalb wir uns bei dem Antrag der geschätzten Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen heute leider enthalten müssen. ({4}) Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dass die Kohle, die Braunkohle und die Steinkohle, im deutschen Energiemix im Moment eine ganz entscheidende Rolle spielt; denn ansonsten, liebe Freunde von der grünen Partei, könnten Sie heute diese Debatte gar nicht führen, weil wir keine Grundlast hätten. Denn die Sonne scheint nicht, auch ist es draußen windstill. ({0}) Ohne den Strom aus Kohlekraftwerken und Atomkraftwerken könnten Sie heute diese Debatte überhaupt nicht führen. ({1}) Ich danke Ihnen für Ihren Antrag ganz herzlich. Schon auf der ersten Seite kann man eine wichtige Erkenntnis lesen. Das ist interessant. Da steht der Satz, dass „Deutschland noch für eine längere Zeit weiterhin Steinkohle importieren“ wird. ({2}) Sehr gut! Sie haben gelernt, dass wir in Deutschland einen guten Energiemix aus verschiedenen Energieträgern brauchen. Es hat sich offensichtlich nun auch bei Ihnen festgesetzt, dass die Steinkohle wie auch die Braunkohle im Energiemix in Deutschland eine sehr wichtige Rolle spielen. Das werde ich mir für andere Debatten merken. Wir werden ja gelegentlich wieder darauf zurückkommen. Dann hört es aber auf, was Erkenntnisse in Ihrem Antrag betrifft. Gefordert wird, wie oft in Ihren Anträgen, die Einführung einer Reihe zusätzlicher Berichtspflichten für deutsche Unternehmen. Sie richten die weitere Forderung an die Bundesregierung, dass sie sich auf EUEbene für noch mehr Bürokratie engagieren soll. Aber Sie wissen auch ganz genau, dass die deutsche Wirtschaft nicht mehr Bürokratie braucht, sondern mehr Zeit, um unternehmerisch tätig zu sein. Für uns als christlich-liberale Koalition ist der Bürokratieabbau Politikziel. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode das Ziel gesetzt, 25 Prozent Bürokratie abzubauen. Wir stehen kurz davor. ({3}) Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, bei dem es wieder um mehr Bürokratie geht. Außerdem muss man auch deutlich sagen: Nicht jedes Problem auf der Welt kann mit deutschen Gesetzen und deutschen Verordnungen gelöst werden. Das wissen auch Sie eigentlich ganz genau; denn bei den Förderländern, die Sie in Ihrem Antrag aufgeführt haben, handelt es sich um souveräne Staaten. ({4}) Wir sind keine Kolonialmacht, die ihre Verordnungen diesen Ländern aufzwingen kann, um dort für Ordnung zu sorgen. ({5}) So etwas würden Sie sich vielleicht wünschen, aber das geht eben nicht, Herr Krischer. Bei den aufgezählten Forderungen geht aus meiner Sicht jedes Maß verloren. Die Privatautonomie und die Organisationshoheit privater Unternehmen haben in Ihrem Gedankengut keinerlei Bedeutung. Ich will auf all Ihre Forderungen gar nicht eingehen; mein Kollege Breil hat dazu schon einiges gesagt. Auf eine Unklarheit Ihres Antrages muss man aber schon hinweisen: Sie wollen die Verpflichtung von Unternehmen einführen, „innerhalb ihrer Einflusssphäre“ auf Standards zu achten, die sie nicht unmittelbar beeinflussen können. Das ist doch sehr fraglich. Das müssen Sie mir einmal erklären. Wie wollen Sie das denn definieren? Wie soll das abgegrenzt werden? ({6}) Das ist im Prinzip außerhalb der internationalen Standards, die schon existieren. Sie werden uns sicherlich sagen, was Sie damit meinen. Denn Sie wissen ja auch genau, dass es beim internationalen Rohstoffabbau eine Unzahl von NGOs gibt. Die Medien werfen einen sehr genauen Blick auf die Abbaubedingungen vor Ort nicht bloß bei der Kohle, sondern auch bei anderen Rohstoffen. ({7}) Insofern ist Öffentlichkeit in großem Umfang hergestellt. Ich verweise hierzu auch auf den Artikel zum Kohleabbau in Kolumbien vom 18. April 2013 in einer großen Wochenzeitung. Sie versäumen, in Ihrem Antrag zumindest einmal zu erwähnen, was die christlich-liberale Koalition in diesem Bereich schon geleistet hat. ({8}) Deshalb will ich Ihnen das gern noch einmal kurz sagen. ({9}) Die Bundesregierung setzt sich bereits im Rahmen der G-8- und auch der G-20-Verhandlungen für eine breite internationale Unterstützung der EITI-Initiative ein - das hat ja selbst Kollege Hempelmann schon erAndreas G. Lämmel wähnt -, und wir ermuntern Unternehmen ganz intensiv, sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen. ({10}) Diese Schwerpunkte sind schon in der Rohstoffstrategie der Bundesregierung von 2010 festgelegt. Hätten Sie einmal einen Blick hineingeworfen, hätten Sie uns diese Debatte heute ersparen können. Dann hätten Sie eine Menge Energie gespart und wären auch eher zu Hause gewesen. Ich will nicht noch einmal auf das Thema Rohstoffpartnerschaften eingehen. Denn genau diese Rohstoffpartnerschaften erfüllen ja das, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Hier geht Deutschland also ganz neue Wege, und es ist, so glaube ich, international auch sehr anerkannt, dass diese Rohstoffpartnerschaften in den Beziehungen zwischen einzelnen Staaten ein völlig neues Niveau herstellen. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe - auch das ist nicht unbekannt - führt bereits ein Pilotprojekt im Rahmen der G 8 zur Zertifizierung von Handelsketten - in diesem Fall für mineralische Rohstoffe - durch. Aber Kollege Hempelmann hat ja schon darauf hingewiesen, welche schmale Spur Ihr Antrag fährt. Es geht eben nur um die Kohle. Das ist ja sozusagen Ihr Hauptangriffspunkt. Ich will damit schließen, dass an Ihrem Antrag auch interessant ist, dass Sie indirekt beschreiben, dass das deutsche Bergrecht und die deutschen Gesetzlichkeiten für die Rohstoffgewinnung eigentlich hervorragend sind, dass sie das Vorbild sein sollen für die Rohstoffgewinnung in der Welt. ({11}) Dafür bedanken wir uns natürlich sehr; denn Sie haben ja schon in mehreren Anträgen versucht, gegen das aktuelle Bergrecht und für ein modernes Bergrecht zu argumentieren. Jetzt wollen Sie das in die Welt tragen. Also, Sie müssen sich einmal für irgendeine Variante entscheiden. ({12}) Sie merken, Ihr Antrag ist voller Widersprüche, ist sehr schmalspurig, und deswegen können wir ihm heute leider auch nicht zustimmen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind immer noch mitten im fossil-atomaren Zeitalter gefangen. ({0}) Obwohl wir in Deutschland aus der Atomkraft und aus der Steinkohleförderung ausgestiegen sind, werden immer noch 20 Prozent des deutschen Stroms aus Steinkohle gewonnen. Die Tendenz ist steigend, und Planungen für den Bau neuer Steinkohlekraftwerke werden vorangetrieben. ({1}) Zwei Studien haben uns in der letzten Zeit gezeigt, warum eine echte Energiewende mit den großen Energiekonzernen nicht zu machen ist. Das Schwarzbuch Kohlepolitik von Greenpeace hat die Verfilzung von Politik und Kohlewirtschaft aufgedeckt, die den sozialökologischen Umbau blockiert. ({2}) - Dass Sie das ärgert, glaube ich. Das beste Beispiel dafür ist die STEAG. Für die sechs NRW-Stadtwerke war die Übernahme durch die STEAG ein einträgliches Geschäft. Sie werden dieses Jahr mit einer Gewinnausschüttung von 25 Millionen Euro rechnen können. Aber mit der öffentlich-rechtlichen Kontrolle waren auch Hoffnungen auf einen sozial-ökologischen Umbau verbunden. Die wurden bisher enttäuscht. Statt ausreichend in die Erzeugung erneuerbarer Energien zu investieren, setzt die STEAG auf fragwürdige Geschäfte im Ausland. Vorschläge der Linken vor Ort, über einen Beirat aus Kommunalvertretern, Gewerkschaften und Umweltverbänden mehr Transparenz und mehr Druck für einen Umbau zu erreichen, werden blockiert. Dabei wäre der Ausstieg aus der Kohleverstromung, wie ihn die Linke fordert, auch wirtschaftlich geboten. ({3}) Denn Kohlekraftwerke lassen sich nicht mehr rentabel betreiben. Selbst für das hochmoderne Kraftwerk Lünen - Herr Kollege, hören Sie zu! -, das diesen Herbst ans Netz gehen soll, lässt sich das nachweisen. Um aber an der Kohleverstromung festhalten zu können, steigt nun der Druck der Lobby auf die FDP - oder die FDP ist selbst die Lobby, wie wir gehört haben -, die Energiewende zu blockieren. Die Konzerne setzen derweil auf den Import von Billigkohle. Das ist Gegenstand der zweiten Studie: Die beiden NGOs FIAN und urgewald haben recherchiert, woher RWE und andere die Steinkohle für deutsche Kraftwerke beziehen, und haben in ihrer Studie „Bitter Coal“ Erschreckendes festgestellt: In Kolumbien soll für einen neuen Tagebau der Ranchería-Fluss umgeleitet werden, die Lebensader für die dort lebenden Indigenen und für die Landwirtschaft in dieser Region. In den USA werden in den Appalachen die Bergspitzen weggesprengt. Im russischen Kusbass hat die Kohleförderung Luft, Böden und Trinkwasser enorm belastet. Im trockenen Südafrika bedroht der hohe Wasserverbrauch der Kohleminen die Trinkwasserversorgung. Der RWE-Lieferant Drummond aus den USA steht in Verdacht, für die Ermordung von zwei kolumbianischen Gewerkschaftern verantwortlich zu sein. Der Antrag der Grünen will in einem ersten Schritt Transparenz bei Handelswegen, Zahlungen, Krediten und den sozialen und ökologischen Standards in den Lieferbeziehungen erreichen. Das ist gut so, aber es ist nicht ausreichend. ({4}) Es geht dabei auch darum, dass über multilaterale und bilaterale Verträge Spielräume wieder eingeschränkt werden. Das wollen wir alle nicht. Deshalb müssen künftig Menschenrechte, Sozialstandards und Umweltschutz Vorrang bei allen Handels- und Rohstoffabkommen bekommen. ({5}) Wenn wir aber mit der umweltzerstörenden und sozial verheerenden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss machen wollen, müssen wir in den Industrieländern beginnen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas, Kohle und Metallen zu entkoppeln. ({6}) An einem Kohleausstieg, der absoluten Senkung des Rohstoffverbrauchs und einer fairen Welthandelsordnung kommen wir deshalb nicht vorbei. Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Und nun hat Oliver Krischer für die Grünen das Wort.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass wir diese Debatte heute hier führen, wenn auch zu später Stunde, und darf ganz herzlich Gäste aus Kolumbien auf der Tribüne begrüßen; Herr Breil hat eben schon auf Kolumbien hingewiesen. Ich muss schon sagen, dass Sie, Herr Breil und Herr Lämmel, mit Ihren Beiträgen hier ein Bild abgegeben haben, ({0}) das irgendwo zwischen Kabarett und Sarkasmus anzusiedeln ist. ({1}) Wenn Sie sich mit der Situation vor Ort auseinandersetzen würden - ich möchte am Beispiel Kolumbien deutlich machen, was die Menschen dort erleben, die vom Kohlebergbau betroffen sind -, dann würden Sie, glaube ich, hier anders sprechen. ({2}) Kolumbien ist für Deutschland inzwischen zum wichtigsten Lieferland für Steinkohle geworden. Dort betragen die Förderkosten unter 20 Euro die Tonne. Das geben die Unternehmen jedenfalls hinter vorgehaltener Hand zu. Der Weltmarktpreis liegt bei 80 bis 100 Euro die Tonne. Selbst wenn man Förderzins und Transportkosten abzieht, ist das ein absolutes Riesengeschäft. Wenn Sie nach Nordkolumbien kommen und sich die Gegend angucken, in der die Kohle abgebaut wird, werden Sie feststellen: Das ist das Armenhaus des Landes. Bei den Menschen, die dort in der Region leben, kommt überhaupt nichts an. Dass Rohstoffsegen in Wahrheit ein Fluch ist, das können Sie dort besichtigen. ({3}) Die Menschen, die das Pech haben, dass sie gerade auf der Kohle leben, die von internationalen Konzernen wie Cerrejón, Glencore, Xstrata, Prodeco und anderen - Drummond, ein amerikanischer Konzern, ist eben schon erwähnt worden - abgebaut werden soll, trifft es ganz besonders hart. Sie müssen erleben, dass sie von ihrem Land vertrieben werden, dass sie vielfach nicht entschädigt werden, weil es in Kolumbien oft keinen Nachweis gibt, dass man Land besitzt. Wenn sie vielleicht doch entschädigt werden, bekommen sie ein Haus, aber ihre Existenzgrundlage ist weg. Das Ganze endet in den Slums von Städten. Das ist das Ergebnis der Politik des Rohstoffabbaus ohne Rücksicht auf Verluste. Das kann uns an dieser Stelle nicht egal sein. ({4}) Ich will hier gar nicht über die Naturzerstörung reden. Ich will nicht über die Umweltverschmutzung reden. Ich will nicht über den Wasserverbrauch reden. Das Allerschlimmste, das man zur Kenntnis nehmen muss, ist, dass die Verantwortlichen vor Ort, die Unternehmen und die Regierungsstellen, das alles gar nicht abstreiten. Die sagen: Wir haben ein Riesenproblem. Das findet alles so statt, wie ich es eben beschrieben habe. - Es gibt dort eine organisierte Verantwortungslosigkeit. Einer schiebt die Verantwortung auf den anderen. Am Ende gucken alle weg, und das alles nur, um den Gewinn zu maximieren auf Kosten von ein paar Tausend betroffenen Menschen, denen man mit einem verschwindend geringen Betrag zu einer vernünftige Existenz verhelfen könnte. Dass Sie dies nicht ernst nehmen und hier nicht einmal darüber reden wollen, finde ich beschämend. ({5}) Wir haben den Antrag eingebracht, damit endlich etwas passiert - Herr Kollege Hempelmann, es ist richtig, dass man das alles viel umfassender machen kann; insoweit haben wir Ihrem Antrag zugestimmt -: Man kann im Kohlebergbau die Verbindung vom Abbau, also dem Bagger, bis zum Kessel, in dem die Kohle verbrannt wird, herstellen. Damit ist auch klar, wer die Verantwortung trägt, nämlich dass Unternehmen wie RWE, Eon, STEAG, EnBW und andere, die die Kohle beziehen, Verantwortung für das tragen, was dort passiert. Dort muss sich etwas ändern. ({6}) Wir sind der festen Überzeugung - die Europäische Kommission ist mit ihrem Richtlinienentwurf schon viel weiter; er wird leider von der Bundesregierung blockiert -, dass nur durch diese Transparenz, dass die Menschen sehen, woher die Kohle kommt, die im Kraftwerk vor Ort verbrannt wird, erreicht werden kann, dass sich hier tatsächlich etwas ändert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Ich glaube und gebe auch die Hoffnung nicht auf - auch wenn Sie heute den Antrag wieder ablehnen -, dass wir erreichen, dass die Unternehmen in diesem Land die Verantwortung dafür übernehmen werden, was dort passiert. Dies kann uns nicht egal sein. Es zerstört die Existenzgrundlage von vielen Menschen, die an den Rohstoffen überhaupt nicht partizipieren. Das müssen wir ändern. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Transparenz bei Steinkohleimporten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12228, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10845 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes - Drucksache 17/12012 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) - Drucksache 17/13219 Berichterstattung:Abgeordnete Johannes SelleAngelika Krüger-LeißnerDr. Claudia WintersteinKathrin Senger-SchäferClaudia Roth ({1}) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13219, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12012 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika andererseits - Drucksache 17/12355 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2}) - Drucksache 17/13176 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerKlaus BarthelHans-Werner EhrenbergWolfgang GehrckeKerstin Müller ({3}) 1) Anlage 13 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion das Wort. ({4})

Hans Werner Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004227, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute zu später Stunde über das Assoziationsabkommen der Europäischen Gemeinschaft mit Zentralamerika, ein Abkommen, das seinesgleichen sucht. Wir reden heute nicht über irgendeinen bilateralen Vertrag oder eine x-beliebige Freihandelszone. Wir reden über ein Assoziationsabkommen, wie es umfassender nicht sein könnte. Ich meine damit wirklich alle Aspekte. Gestatten Sie mir, Ihnen diese Bedeutung ein wenig zu veranschaulichen. Es geht hier nämlich nicht vorrangig um den wirtschaftlichen Aspekt und um bestimmte Zollquotenregelungen, wie das von meinen Kollegen von der Opposition und von einigen wenigen deutschen Hilfswerken behauptet wird. ({0}) Jene haben das Abkommen einfach nicht verstanden. Nochmals: Es geht bei dem Assoziationsabkommen vor allem um die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union in den Bereichen Demokratie, Stärkung der Zivilgesellschaft, Umweltschutz, Achtung der Menschenrechte, Schaffung von nachhaltigem Wohlstand, Integration und Frieden. Was ist daran eigentlich auszusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition? Welche Geisteshaltung steckt dahinter, dass Sie dieses Abkommen im Ausschuss rundweg abgelehnt haben? Dass hierbei auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Herabsetzung von Handelsbarrieren nicht ausgeklammert werden dürfen, versteht sich von selbst. Wirtschaftliche Freiheit und der bessere Zugang zu einem breiten Warenangebot und freien Märkten schaffen Wohlstand und Arbeitsplätze. Das sind Dinge, die die Länder Lateinamerikas dringend benötigen. Ich finde es geradezu lächerlich, wenn bestimmte Hilfswerke und meine Kollegen von der Opposition in diesem Zusammenhang behaupten, durch dieses Abkommen würden Arbeitsplätze in Zentralamerika zerstört. ({1}) Ich habe sehr ausführlich mit allen Botschaftern der zentralamerikanischen Länder in Berlin über den Inhalt und die Auswirkungen dieses Abkommens gesprochen. Ich habe vor kurzem Guatemala und Nicaragua besucht und dort mit Regierungsvertretern diskutiert. Stellen Sie sich vor: Die Rückmeldungen waren von allen Seiten positiv. ({2}) Dass die Europäische Union mit Zentralamerika ein solch umfassendes Abkommen nicht nur auf Augenhöhe, fair und ohne Druck verhandelt hat, sondern in vielen Punkten sogar in Vorleistung geht, ist für alle Zentralamerikaner hochattraktiv. Es ist nicht nur immer wieder zur Sprache gekommen, dass die EU als Vorbild für Zentralamerika in Sachen Integration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie betrachtet wird, sondern man ist vor allem stolz darauf, dass es ein Abkommen zwischen zwei Regionen ist; denn das existiert in dieser Form bis dato nur einmal auf der Welt. Darauf sind die Zentralamerikaner stolz. Man spricht sogar von einem Modellcharakter dieses Abkommens für andere Regionen. ({3}) Die Attraktivität des Abkommens ist de facto so hoch, dass auch die Regierung von Panama die EU gebeten hat, ihm beitreten zu dürfen. Nun hatte ich vor meinem Besuch in Nicaragua vermutet, dass speziell die linksorientierte sandinistische Regierung von Daniel Ortega das Abkommen ablehnen würde, wie es ja auch von den Linken und anderen abgelehnt wird. Weit gefehlt. Man versicherte mir nicht nur, dass man Vorteile im Abkommen erkennen könne, sondern auch, dass man es sogar als erstes Land ratifiziert habe. Auch wenn ich mich wahrlich nicht als Freund sandinistischer Politik bezeichnen möchte, frage ich mich, warum meine Kollegen von den Linken eine andere Position als Ortega vertreten. Sie sollten sich einmal vor Ort mit Ihren Freunden genauer darüber informieren; das hilft. ({4}) Wir verpflichten die Länder Zentralamerikas durch dieses umfangreiche Vertragswerk vor allem dazu, einen gemeinsamen Wertekonsens zu achten und ihn in Zusammenarbeit mit uns weiterzuentwickeln. Deshalb verdient Zentralamerika auch in Zukunft unsere Partnerschaft auf Augenhöhe. Jetzt gilt es, von unserer Seite Druck aufzubauen, damit auch alle anderen EUMitgliedstaaten das Abkommen zügig ratifizieren. Hier sehe ich die Bundesregierung auf europäischer Ebene in der Pflicht. Lassen wir die Länder Zentralamerikas, die die Ratifizierung dieses Abkommens von europäischer Seite dringend wünschen und benötigen, jetzt nicht im Stich. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Ehrenberg, in Ehren: ({0}) Was Sie eben über das Abkommen gesagt haben, hat sich unheimlich schön angehört: Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat usw. ({1}) Sie haben gesagt, es wäre ein umfassendes Abkommen, aber das können Sie nur Menschen erzählen, die dieses Abkommen nicht gelesen haben. ({2}) Deswegen will ich vor allen Dingen darauf eingehen, was in diesem Abkommen wirklich steht. Zunächst einmal wollen wir festhalten, was Assoziierung im eigentlichen Wortsinn bedeutet, nämlich Zusammenschluss, Vereinigung. Assoziierung meint etwas im umfassenden Sinn. Im Handlexikon der Europäischen Union von Bergmann, aus dem ich hoffentlich mit Zustimmung des Präsidenten zitieren darf, steht dazu: Die Assoziierungsabkommen haben völkerrechtsverbindliche Wirkung, beruhen auf einem System wechselseitiger Rechte und Pflichten und sehen gemeinsame paritätisch besetzte Ausführungsorgane vor. … Assoziationsräte, -ausschüsse und Parlamentarische Assoziationsausschüsse. Assoziierungsabkommen sind also damit eine besondere Form mit politischen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Dimensionen. Wir müssen uns aber fragen: Genügt dieses Abkommen den hehren Ansprüchen, die an das Abkommen gestellt werden? Um das herauszufinden, müssen wir uns erst einmal die Situation in den Partnerländern anschauen. Ich glaube, dazu wird noch einiges gesagt werden. Die zentralamerikanischen Länder haben Diktaturen und Bürgerkriege erlebt, sie sind enorm gewaltintensiv, sie haben hohe Mordraten zu verzeichnen, und als Demokratien sind sie sehr labil. Honduras, zum Beispiel, hat vor nicht allzu langer Zeit einen Putsch hinter sich gebracht. Das haben Sie von der FDP zwar richtig gefunden, aber mit Demokratie hatte das wenig zu tun. ({3}) Minimalste Menschenrechtsstandards werden in vielen dieser Länder überhaupt nicht erfüllt. Man darf nicht nur mit Regierungen reden, sondern man muss sich selbst ein Bild von der Lage des Landes machen. ({4}) Es ist allgemein bekannt, dass Honduras nach Kolumbien die höchste Mordrate an Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern hat, es ist eine Hochburg von Drogenhandel, Menschenhandel und Geldwäsche. Das alles kann man überall nachlesen, aber auch an Ort und Stelle beobachten. Das Abkommen selber verrät alles. Ja, es ist ein sehr detailliertes Freihandels- und Marktöffnungsabkommen, aber die Erwähnung von Menschenrechten, Demokratie usw. - Herr Ehrenberg hat das eben beschworen ist reine Dekoration. Das fängt beim Volumen an. Ein Fünftel dieses Abkommens beschäftigt sich mit den hehren Zielen der Einhaltung der Menschenrechte und der Förderung der Demokratie, auch mit Arbeitsrecht, vier Fünftel beschäftigen sich mit dem Freihandel und der Wirtschaft. Schauen wir uns die Sprache an. Sie ist verräterisch, wenn es darum geht, zu klären, wie belastbar die Ankündigungen, für mehr Demokratie zu sorgen, sind. Da heißt es so schön - wer solche Abkommen kennt, der kennt auch die Sprache -, dass man für die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführung eintreten will, dass man die Grundsätze der Demokratie, der Menschenrechte und der Grundfreiheiten achten will, dass man zusagt, bei der Armutsbekämpfung zusammenzuarbeiten, dass es ein Bewusstsein gibt der Notwendigkeit eines umfassenden Dialogs über Migration, dass es Ziele gibt wie die privilegierte politische Partnerschaft. Und - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - es geht zumindest um die - ich zitiere wörtlich -: … Aufrechterhaltung und vorzugsweise Weiterentwicklung des Niveaus der guten Regierungsführung und der Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen, dass durch die wirksame Anwendung der internationalen Übereinkünfte erreicht wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens für die Vertragsparteien gelten … Das bedeutet zunächst: Künftige Abkommen werden nicht eingehalten. Das heißt auch: Wir verpflichten uns, etwas einzuhalten, wozu wir ohnehin schon verpflichtet sind. Das ist ja sensationell. Dann geht es weiter mit dem institutionellen Rahmen. Der Assoziationsrat empfiehlt und braucht Konsens. Der Assoziationsausschuss unterstützt, gibt sich eine Geschäftsordnung und beschließt. Dann gibt es noch einen Unterausschuss, der sich auch eine Geschäftsordnung gibt und beschließt. Der Parlamentarische Assoziationsausschuss erarbeitet Empfehlungen. Das kann man alles nachlesen - alles, bloß nichts Verbindliches: keine Kontrolle, keine Umsetzung, keine Sanktionen. Und das bei der Situation in diesen Ländern. Das geht so bis zu dem Passus im Hinblick auf die „Achtung der wesentlichen Grundsätze und Rechte am Arbeitsplatz, die in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation festgelegt sind“. Dann war da noch etwas, was man bei der Debatte dieser Tage hervorheben muss - ich zitiere wörtlich -: … erkennen die Vertragsparteien die gemeinsamen und international vereinbarten Grundsätze der guten Regierungsführung im Steuerbereich an und bekennen sich zu ihnen. Sensationell - bei dem, was wir über die Steueroase Panama gehört haben! Zum Glück für alle Adams und Evas im Steuerparadies Panama sucht man im Abkommen vergebens nach einer Umsetzung oder gar Kontrolle dieses Bekenntnisses. So geht es im ersten Fünftel bis auf Seite 25 weiter. Man könnte sagen: So ist das nun einmal in internationalen Verträgen - da bekommt man nichts Verbindlicheres hin, wenn die Bedingungen so unterschiedlich sind. Aber dann - auf den restlichen rund 70 Seiten kommt es: Da geht es um Wirtschaft und Handel, und da ändern sich Inhalt und Sprache dieses Abkommens plötzlich. Das muss man sich einmal durchlesen. Plötzlich ist die Rede von Rechten und von Pflichten. Zum Beispiel ist die Rede von der „Schaffung eines wirksamen, fairen und berechenbaren Streitbeilegungsmechanismus“. Einen solchen gibt es im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie nicht. Anders als bei den Menschenrechten gibt es klare Definitionen, zum Beispiel dazu, was unter „Tage“ zu verstehen ist. Es wird nicht aufgeführt, was unter Demokratie und Menschenrechten zu verstehen ist, aber was unter „Tage“ zu verstehen ist, nämlich Werktage. Es wird bis ins letzte Detail beschrieben, was unter „Person“ oder unter „Maßnahme“ zu verstehen ist. Da geht es um Rechtssicherheit, um Maßnahmen und Verwaltungsverfahren. Plötzlich lauten die Verben nicht mehr „sollen“ und „streben wir an“, sondern „muss“, „wir verpflichten uns“ usw. Da wird es dann plötzlich verbindlich. Da werden branchenweite Marktzugänge und Niederlassungsfreiheit, Liberalisierung im elektronischen Geschäftsverkehr, bei Dienstleistungen, bei verpflichtenden Überprüfungen zum Investitionsschutz, bei Kurierdiensten, Post, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, im öffentlichen Beschaffungswesen, Urheberrecht usw. bis ins letzte Detail geregelt. Dann kommen zum Schluss noch einmal die Gremien zum Tragen. Die haben bei allen Handelsfragen - bei allen Handelsfragen! - umfassende Kompetenzen, Kontrollrechte und Sanktionsmöglichkeiten. Also: Wir gestalten intensiv die Wirtschaft. Regelungen zum Alltagsleben, zur Umwelt der Menschen bleiben im Handelsteil. Da soll die Welt am europäischen Wesen genesen. Aber bei den Menschenrechten, der Arbeit, der Umwelt und den Steuern, da sind wir unheimlich flexibel, tolerant und geduldig. Deswegen genügt ein solches Abkommen, das sich auch noch Assoziationsabkommen nennt, unseren Ansprüchen nicht. Das hat einfach etwas damit zu tun, dass wir Politik für die Menschen und nicht für die Märkte machen wollen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Egon Jüttner für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem in den 1980er-Jahren begründeten Dialog von San José haben sich die Beziehungen zwischen den Ländern der Europäischen Union und den Ländern Zentralamerikas stetig intensiviert. Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Guadalajara bekräftigten beide Regionen ihren Entschluss, diesen Prozess weiter voranzutreiben und die Beziehungen weiter auszubauen. Die Verhandlungen zu dem jetzt vorliegenden Abkommen begannen unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im Oktober 2007. Mit dem Assoziationsabkommen stellen die beiden Regionen ihre langjährigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen auf eine neue und intensivere Grundlage. Durch den Handelsteil des Abkommens werden neue Geschäftsmöglichkeiten geschaffen, die zusätzliche Arbeitsplätze in Zentralamerika und in der Europäischen Union nach sich ziehen. Der Zugang für Produkte aus Zentralamerika zum europäischen Markt wird deutlich verbessert. Europa bietet den zentralamerikanischen Staaten einen Absatzmarkt mit rund 500 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Natürlich spielen hier auch andere Faktoren wie die Wettbewerbsfähigkeit der Preise sowie die Qualität der Produkte eine Rolle. Dennoch stellt das Handelsabkommen einen wichtigen Schritt für die Exportausweitung der zentralamerikanischen Länder auf den europäischen Markt dar. ({0}) Die Rate der Exporte aus der Europäischen Union in die zentralamerikanischen Staaten ist mit rund 0,2 Prozent bislang sehr niedrig. Auf der anderen Seite gehen rund 12,3 Prozent der zentralamerikanischen Exporte in die Europäische Union, wobei zwei Drittel davon aus Costa Rica kommen. Die zentralamerikanischen Staaten kommen durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Erhöhung der Importquoten in den Genuss weitreichender neuer Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Markt. In Studien, die für die EU-Kommission durchgeführt wurden, wird der positive wirtschaftliche Effekt für Zentralamerika auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt. Insbesondere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Ausfuhrerzeugnissen wirken sich die Senkung der Einfuhrzölle und die Erhöhung der Importquoten aus, beispielsweise bei Bananen, Zucker, Rindfleisch, Fisch und Rum. Darüber hinaus gewährt die Europäische Union mit dem Inkrafttreten des Abkommens volle Zollfreiheit für gewerbliche Erzeugnisse zentralamerikanischen Ursprungs. Umgekehrt werden auch die europäischen Exporteure, die gewerbliche Erzeugnisse und Fischereierzeugnisse nach Zentralamerika ausführen, vollständig von der Pflicht zur Entrichtung von Zöllen befreit. Europäischen Investoren bietet das Abkommen auf dem zentralamerikanischen Markt ein stabiles Wirtschafts- und Investitionsumfeld. So werden für Investoren Anreize geschaffen, vermehrt in den zentralamerikanischen Ländern zu investieren. Weiter verpflichten sich die Vertragspartner mit dem Abkommen, im Rahmen ihrer Handelsvereinbarungen Nachhaltigkeits- und Umweltschutzstandards einzuhalten. Damit wird deutlich, dass dieses Assoziationsabkommen weit über ein herkömmliches Freihandelsabkommen hinausgeht. Zentrales Anliegen der Europäischen Union ist dabei auch die Stabilisierung und Demokratisierung Zentralamerikas. So bilden die Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einen wichtigen Teil des Abkommens. Weiter thematisiert das Abkommen die Zusammenarbeit auf konkreten Gebieten, so etwa beim Kampf gegen Terrorismus, Drogen, Geldwäsche und organisierte Kriminalität. ({1}) Gegner des Assoziationsabkommens kritisieren die ihrer Meinung nach einseitige Akzentuierung der Handelspolitik in dem Abkommen. Tatsächlich dürfen Menschenrechte und wirtschaftliche Interessen sich nicht ausschließen und kein Hindernis für den Aufbau sozialer Wirtschafts- und demokratischer Gesellschaftsstrukturen in den mittelamerikanischen Staaten sein. Die EU muss und wird alles daransetzen, etwa die Beachtung der Rechte der indigenen Bevölkerung einzufordern. ({2}) Sie wird ihre Möglichkeiten nutzen, etwa im Bereich großer Bergbauprojekte oder bei der Abholzung, auf die zentralamerikanischen Staaten so einzuwirken, dass eine Verschärfung bestehender Konflikte, die die Gegner des Abkommens befürchten, vermieden wird. ({3}) - Davon gehe ich aus. ({4}) Viele politische Akteure in den Staaten Zentralamerikas, nicht nur Mitglieder der jeweiligen Regierungen erhoffen sich von diesem Abkommen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation aller Bevölkerungsschichten in ihren Ländern. Wir befürworten deshalb das Abkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika, und wir sind überzeugt davon, dass es sich für beide Partner positiv auswirken wird. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren zwar heute zu sehr später Stunde über dieses Assoziationsabkommen, aber das ist noch lange kein Grund, daraus eine Märchenstunde zu machen, wie die Bundesregierung es hier betrieben hat. ({0}) Wir haben darauf bestanden, hier über dieses zu schließende Assoziationsabkommen zu debattieren, weil wir die Möglichkeit haben, mit darüber zu entscheiden. Das ist nicht bei vielen Entscheidungen der EU möglich. Dieses Recht müssen wir nutzen. Vor allem haben wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine große Verantwortung, weil wir hier auch über die Zukunft von Millionen von Menschen in Zentralamerika entscheiden. ({1}) Ähnlich wie bei dem Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru, über das wir hier auch sehr kontrovers diskutiert haben, gibt es viele Vorbehalte. Denn Freihandel schafft Vorteile für die Industriestaaten, für wirtschaftlich starke Staaten, aber nicht für die Länder des Südens. Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab. ({2}) Es wurde bereits erwähnt, dass es in Zentralamerika Staaten wie Honduras und Guatemala gibt, die zu den gefährlichsten der Welt zählen, in denen es die höchsten Mordraten und massive Menschenrechtsverletzungen bei Landkonflikten gibt. Vor allem in Honduras - auch das wurde schon erwähnt - hat die Zahl der Menschenrechtsverletzungen seit dem Putsch 2009 massiv zugenommen. In diesem Zusammenhang muss ich einen Satz in Richtung FDP sagen: Der Kollege Breil hat vorhin in der Debatte zu den Steinkohlenimporten das Festlegen sozialer und ökologischer Standards als Einmischung in innere Angelegenheiten bezeichnet. Die FDP und die Friedrich-Naumann-Stiftung haben aber kein Problem damit, einen Putsch in Honduras zu unterstützen. Ich frage mich: Was ist denn eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Länder? ({3}) Da gibt es einen sehr großen Unterschied. Sie pervertieren wirklich die Ansprüche an die wirtschaftliche Zusammenarbeit. ({4}) Ich muss dazu sagen: Wir haben ja bereits Erfahrungen mit Freihandel. Zentralamerika hat bereits mit den USA ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, CAFTA. Dort konnten wir die Folgen solch eines Freihandelsabkommens sehr genau sehen: Es gibt billige US-Importe im Nahrungsmittelbereich, die regionalen Märkte sind zusammengebrochen, die eigene landwirtschaftliche Produktion auch. Jetzt sind diese Länder abhängig von Nahrungsmittelimporten. Bei steigenden Preisen führt das zu mehr Hunger und zu mehr Armut. Dies ist eine Gefahr für die Ernährungssicherheit. Das können wir als Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker nicht verantworten. ({5}) Was war die Antwort aus dem Wirtschaftsministerium, als wir im Ausschuss darüber diskutiert haben? Die Bevölkerung kann zukünftig nicht nur US-Waren kaufen, sondern auch EU-Waren und EU-Nahrungsmittel. ({6}) Was ist denn das für eine zynische Logik? Das ist doch keine Problemlösung, sondern verschärft diese Problemlage. Wir müssen die eigene Produktion in diesen Ländern stärken, damit sie zu einer Ernährungssouveränität kommen. ({7}) Das stellt Ihre Argumentation wirklich auf den Kopf. Wir lehnen es ab, dass in diesem Abkommen Privatisierungen im Wassersektor und im Gesundheitswesen vorgesehen sind, dass die lokale Produktion von Generika erschwert wird und dass die Einführung von Patenten auf Saatgut Bäuerinnen und Bauern dazu zwingen wird, ihr Saatgut bei europäischen Konzernen teuer einzukaufen. All das können Folgen dieses Freihandelsabkommens sein. Deshalb lehnen wir es ab. Es gibt noch einen weiteren sehr gewichtigen Grund. Es ist völlig verantwortungslos, dass in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union in diesem Abkommen die weitere Liberalisierung von Finanzdienstleistungen festgeschrieben wird. Das trägt die Krise nach Lateinamerika. ({8}) Deswegen stimmen wir gegen dieses Abkommen. Ich richte meinen Appell an Rot-Grün. Es hängt jetzt wirklich davon ab, wie im Bundesrat entschieden wird. Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen, dass ich es gut fand, dass die Grünen aus Rheinland-Pfalz gegen das Abkommen mit Kolumbien und Peru gestimmt haben,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- aber die SPD hat dies leider nicht getan. Deswegen lautet mein Appell: Rot-Rot-Grün muss im Bundesrat beide Abkommen verhindern. Danke. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion der Grünen. ({0})

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Partnerländern sind bisher meist unter hoher Geheimhaltungsstufe ausgehandelt worden. Parlamentariern, kritischen Journalisten und NGOs wurden kaum Einblicke gewährt, wohl aber den Wirtschaftsverbänden und den Vertretern großer Unternehmen. Um kaum eine andere Abteilung der Europäischen Kommission scharten und scharen sich mehr Lobbyisten als um die DG Trade, um die Generaldirektion Handel. Aber inzwischen haben das Europäische Parlament und - das ist neu - auch die nationalen Parlamente mehr Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen. Sie sind zwar noch unzureichend, aber immerhin: Handelspolitik kann nicht mehr in der Dunkelkammer gemacht werden, und das ist auch gut so. ({0}) Das hat sich auch schon im Deutschen Bundestag ausgewirkt. Handelsabkommen werden nicht einfach nur nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern es wird endlich auch in unseren Ausschüssen über sie diskutiert, sie werden auf den Prüfstand gestellt, in Anhörungen durchleuchtet, kritisch hinterfragt und - wenn auch, wie jetzt, zu später Stunde - im Plenum öffentlich debattiert. Da hat sich wirklich schon etwas verändert. Das sieht man auch daran, dass das Freihandelsabkommen der EU mit Peru und Kolumbien hier im Bundestag kürzlich von der Opposition geschlossen abgelehnt wurde. Spannend wird sein, was im Bundesrat geschieht. Denn dieses Abkommen kann nur dann ratifiziert werden und in Kraft treten, wenn auch der Bundesrat zustimmt. Dort haben SPD, Grüne und Linke die Mehrheit. Wir warten also gespannt darauf, was am 3. Mai dieses Jahres geschieht. Es kann sein, dass dieses Abkommen die erforderliche Zustimmung nicht bekommt. Was dann geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen. Nach unserer Meinung - sie wird gestützt durch ein neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages und durch Studien von Wirtschaftswissenschaftlern und Völkerkundlern - tritt dann nicht, wie hier behauptet, der Handelsteil des Abkommens in Kraft und nur die anderen Teile nicht, sondern nach dieser Rechtsauffassung muss dann das gesamte Abkommen nachverhandelt werden. Das wäre ein starkes Signal in Richtung der DG Trade der EU-Kommission: kein Weiter-so in der Handelspolitik, kein Festhalten am Liberalisierungsdogma um jeden Preis, sondern stärkere Beachtung von Sozial- und Umweltstandards und von Menschenrechtskriterien! ({1}) Heute geht es um ein Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika, das genauso umstritten ist wie das Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Auch im Hinblick auf dieses Abkommen ist zu befürchten, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft in den Partnerländern unter die Räder kommt und von hochsubventioniertem Milchpulver und anderen Molkereiprodukten aus europäischer Überschussproduktion überschwemmt wird. Es ist auch zu befürchten, dass Wirtschaftssektoren stimuliert werden, in denen es schon jetzt zu massiven Umweltschäden, zu Zwangsvertreibungen von Indigenen und Kleinbauern und zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Debatte über die kolumbianische Steinkohle, die gerade ausgetragen wurde, haben wir alle ja noch im Ohr. Das gleiche Problem besteht auch in Zentralamerika. Bestimmte Wirtschaftssektoren, gerade der exzessive Anbau von Palmöl und Bergbauaktivitäten, würden durch dieses Abkommen enorm stimuliert werden. Das würde zu Gewinnen für einige wenige führen, hätte aber fatale Folgen gerade für arme Bevölkerungsgruppen. Sogar die von der EU-Kommission selbst in Auftrag gegebene Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung kommt zu dem Ergebnis, dass durch das Abkommen der Druck auf das Land erhöht wird und dadurch auch Landkonflikte - Stichwort „Land-Grabbing“ - weiter verschärft werden. Es waren nicht nur einige wenige, sondern mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen, darunter auch das evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ und das katholische Hilfswerk „Misereor“, die dringend an uns appelliert haben, dieses Abkommen in dieser Form nicht zu unterzeichnen. Auch der katholische Bischof von Guatemala, Bischof Ramazzini - viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag kennen ihn -, hat uns bei mehreren Podiumsveranstaltungen eindringlich gebeten, dieses Abkommen genau zu prüfen und es in dieser Form nicht zu unterzeichnen. Wir könnten ein klares Signal setzen

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, Sie möchten bitte zum Schluss kommen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- pardon -, zuerst wir im Bundestag, dann der Bundesrat. Müsste dieses Abkommen nachverhandelt werden, könnte es im Sinne einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft verbessert werden, und zwar dahin gehend, dass genau diese Flankierungen gestärkt werden. Lassen Sie uns dafür gemeinsam eintreten! Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf - ({0}) - Entschuldigung, es ist schon spät. - Bitte, Herr Kollege Holmeier. ({1})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist wieder einmal einer der seltenen Tage, an denen wir im Deutschen Bundestag ein Stück Geschichte schreiben dürfen. Mit der Zustimmung zu dem vorliegenden Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika schließen wir einen Prozess erfolgreich ab, der als Friedensprozess schon im Jahr 1984 begonnen hat - unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. ({0}) Dieses Abkommen steht ganz in der Tradition der europäischen Idee, auf der Grundlage wirtschaftlicher Zusammenarbeit für Frieden und Stabilität zu sorgen. Es bildet die Grundlage für eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration zwischen der Europäischen Union und Zentralamerika. Das Abkommen ist aber auch noch aus einem anderen Grund historisch: Es ist das erste biregionale Assoziierungsabkommen, das die Europäische Union seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon unterzeichnet hat. Umso bedauerlicher finde ich es, dass sich die Opposition im Deutschen Bundestag nicht zu einer Zustimmung zu diesem Abkommen durchringen konnte. Wenn man sich dieses Abkommen einmal in seiner gesamten Breite anschaut, wird schnell klar, dass es ei29836 nem übergeordneten Ziel folgt: Es geht nicht darum, aus rein wirtschaftlichem Eigennutz ein Abkommen mit Schwellenländern zu schließen, die ohne Zweifel vielerorts durch hohe Armut, soziale Ausgrenzung sowie soziale und ökologische Instabilitäten geprägt sind. Es geht vielmehr darum, die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Zentralamerika durch eine enge Zusammenarbeit und wirtschaftliche Verzahnung positiv zu beeinflussen und zu begleiten. Wer dieses Abkommen auf seine wirtschaftliche Dimension reduziert, hat schlicht nicht verstanden, worum es eigentlich geht. ({1}) Dieses Assoziierungsabkommen ist weit mehr als nur ein Handelsabkommen: Es bildet die Grundlage für eine privilegierte Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer Werte und Zielvorstellungen. ({2}) Der Handelsteil ist der letzte von drei Grundpfeilern des Abkommens. Ihm gehen die Abschnitte „Politischer Dialog“ und „Zusammenarbeit“ voraus. Hierin wird klargestellt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte sowie der bürgerlichen und politischen Rechte das Fundament des Assoziierungsabkommens mit Zentralamerika bilden. Diesen Grundprinzipien wird eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da sie das Kernstück des gemeinsamen europäischen und zentralamerikanischen Wertesystems darstellen. Als weitere Ziele werden ausdrücklich genannt: Armutsreduzierung, Bekämpfung von Ungleichheit, nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klimaschutz. Auch die Abrüstung und Nichtverbreitung von konventionellen, chemischen und biologischen Waffen finden sich als Zielvorgabe in diesem Abkommen, ({3}) ebenso wie der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus, gegen Drogen, Geldwäsche, Korruption und organisierte Kriminalität. Das zeigt, wie umfassend dieses Assoziierungsabkommen tatsächlich ist. Angetrieben vom Interesse an einem gegenseitigen Handel und einem weitreichenden Zugang zum europäischen Markt, fördert das Abkommen eine politische, soziale und gesellschaftliche Integration. Dieser vielversprechende Entwicklungsprozess ist nicht nur im Interesse einiger weniger Unternehmen oder politischer und wirtschaftlicher Eliten. Nein, er ist im Interesse der Menschen in Zentralamerika und in Europa. Ich kann Sie daher nur um Ihre Zustimmung zu diesem Abkommen bitten. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika andererseits. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 17/13176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12355 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zusammenbruch des Emissionshandels abwenden - Überschüssige Zertifikate aus dem Markt nehmen - Drucksache 17/13193 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Europäische Parlament hat den BackloadingVorschlag der Kommission erst einmal abgelehnt. Doch noch sind wir nicht am Ende der Debatte. Das Erreichen einer Preissteigerung durch Herausnehmen der Zertifikate ist noch nicht endgültig gescheitert. Diese Preissteigerung ist aber nötig, damit der Emissionshandel seine Funktion erfüllen kann. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich gemeinsam mit dem Europäischen Rat und der Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Dieses Ergebnis kann dann dem Plenum erneut vorgelegt werden. Aber auch der Positionierung des Rates kommt entscheidende Bedeutung zu. Ich unterstütze daher ausdrücklich die eindringlichen Bemühungen von Bundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Denn die Bundesregierung muss hier ein klares Signal setzen. Ich fordere die Bundesregierung auf, eindeutig Stellung für ein fest umrissenes Backloading und eine Erhöhung des Reduktionsziels innerhalb der EU auf 30 Prozent bis 2020 zu beziehen. Andreas Jung ({0}) Denn gelingt es nicht, das ETS zu stabilisieren, dann gehen der Europäischen Union für den Klimaschutz die kommenden Jahre bis 2020 verloren. Von dem zu erwartenden Zertifikatepreis für diese Handelsperiode werden sicherlich kaum klimapolitische Impulse ausgehen. Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in der letzten Woche ist ein herber Rückschlag für die internationalen Bemühungen um ambitionierte Klimaschutzziele. Es geht darum, mit dem Emissionshandel das Herzstück der europäischen Klimapolitik zu stabilisieren. Der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zertifikaten wird in absehbarer Zeit nicht zu einem signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise führen. Wir sprechen beim Backloading über eine temporäre Reduzierung des immensen Zertifikateüberschusses. Das vorgeschlagene Backloading beendet diesen Überschuss an Zertifikaten nicht, sondern begrenzt ihn lediglich. Nach wie vor hätte es für die Industrie ausreichend Zertifikate am Markt gegeben, um auch bei steigender Produktion nach der Wirtschaftskrise ohne Härten in den Klimaschutz investieren zu können. Vielmehr hätte es diese Investitionen möglich gemacht. Allerdings - und das ist das Entscheidende bei dieser Diskussion - hätte das Herausnehmen von 900 Millionen Zertifikaten das Signal gegeben, dass es der EU ernst ist mit der Umsetzung ihrer klimapolitischen Ziele. Dabei kann das Backloading selbst nur ein erster Schritt sein. Mindestens genauso wichtig wird es sein, sich über eine langfristige Strukturreform des Emissionshandels klar zu werden. Die marktorientierte Ausrichtung des Emissionshandels halte ich weiterhin für richtig. Allerdings sollte alles dafür getan werden, die Geburtsfehler und Kinderkrankheiten des Systems wie beispielsweise eine zu großzügige Zertifikatsaustattung am Anfang oder die Bereitstellung von zu vielen Zertifikaten aus ökologisch fragwürdigen Klimaschutzprojekten zu beheben bzw. zu heilen. Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese beiden Eingriffe. Nur durch die klar definierte Herausnahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraum und eine daran anschließende grundlegende Reformierung der nächsten Handelsperiode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerelement als Kernelement der europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten. Daher muss es neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaftliches Instrument auch darum gehen, die Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen, um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken. Die Bundesregierung muss sich geschlossen dafür einsetzen, dass die Europäische Union ihre Ziele bis 2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbst gesteckten Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse gegeben. Darauf gilt es aufzubauen. Auch die EU muss diesen Schritt gehen. Insgesamt haben wir in der Europäischen Union schon jetzt zu einem Großteil unsere Reduktionsziele für 2020 erreicht und würden in unseren Anstrengungen in den nächten Jahren unnötig nachlassen, wenn wir hier nicht nachbessern. Bundesumweltminister Altmaier setzt sich innerhalb der EU zusammen mit einigen seiner Kolleginnen und Kollegen stark für diese Position ein, und ich unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Die Bundesregierung ist nun am Zug, sich hier klar zu positionieren und den Klimaschutz in Europa voranzubringen.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Letzte Woche hat das Europaparlament die Reform des Emissionshandels abgelehnt. Dies war ein Schock und ein schwarzer Tag für den Klimaschutz. Die kirchliche Hilfsorganisation Brot für die Welt sprach richtigerweise von einem „Votum der Unvernunft“. Hauptverantwortlich waren in der Mehrheit konservative und liberale Abgeordnete aus ganz Europa. Eine ganz entscheidende Verantwortung trägt aber auch die deutsche konservative Partei und deren Parteivorsitzende Angela Merkel. Die jahre- und monatelange regierungsinterne Lähmung hat fatale Signale in Richtung Brüssel ausgesendet. Die Bundesregierung hatte keine einheitliche Position; Wirtschaftsminister Rösler und Teile der Koalitionsfraktionen haben offensiv daran gearbeitet, die Reform des Emissionshandels zu verhindern. Bis heute hat die Bundesregierung keine Meinung, obwohl die Bundeskanzlerin erklärt hat, dass sie nach der Abstimmung im Europaparlament für eine einheitliche Position sorgen wird. Nach diesem Rückschlag im Europaparlament muss die Bundesregierung ihre destruktive Rolle aufgeben und retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächsten Wochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Entscheidung geben wird, werden wir bis zum Jahr 2020 keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Der Emissionshandel würde keinen Anreiz zum Klimaschutz geben und wäre als politisches Instrument praktisch tot. Besonders absurd ist diese Situation, da andere Staaten wie Australien oder China in Emissionshandelssysteme einsteigen wollen. Und die EU, die Pionierin des Emissionshandels mit dem derzeit größten Emissionshandelssystem der Welt, lässt ihr mühsam aufgebautes System sehenden Auges kollabieren und sorgt so bei all denen für Auftrieb, die schon immer gegen marktwirtschaftliche Instrumente waren. Wir werden nun Debatten über ordnungsrechtliche Lösungen bekommen, wie wir in der Debatte zum Antrag der Linken für ein Kohleausstiegsgesetz gesehen haben. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Regelungen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systems entstehen. Großbritannien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis für CO2 eingeführt; die Niederlande und Spanien haben eine Steuer auf Kohle; Italien debattiert über eine Steuer. Ich habe den Eindruck, dass viele Industrievertreter und konservative AbgeZu Protokoll gegebene Reden ordnete nicht verstanden haben, was sie angerichtet haben, und dass wir genau das Gegenteil des „level playing field“ erhalten werden, von dem die Industrie immer redet. Die Mehrheit der Europaabgeordneten wollte aber die Reform des Emissionshandels nicht endgültig scheitern lassen. Mit großer Mehrheit haben die Abgeordneten dafür gestimmt, die Backloading-Entscheidung wieder in die Ausschüsse zurückzuüberweisen. Nun hat der Umweltausschuss des Europaparlaments maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich mit Rat und Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Noch ist unklar, wie solch ein zustimmungsfähiger Kompromiss aussehen kann. Das Ergebnis könnte dann wieder dem Plenum vorgelegt werden. Dies ist auch der Hintergrund, warum wir unseren neuen Antrag zum Backloading in den Bundestag eingebracht haben. Wir wollen eine Abstimmung, aus der klar hervorgeht, wie sich die schwarz-gelbe Koalition zum Backloading verhält. Die Haltung Deutschlands ist entscheidend, wenn es darum geht, im Rat eine Mehrheit zu organisieren. Die irische Ratspräsidentschaft ist auf eine aktive Rolle Deutschlands angewiesen. Hierzu muss sich die Kanzlerin endlich gegen den Wirtschaftsminister durchsetzen. Über die Zukunft des Emissionshandels wird jedoch nicht nur in der Backloading-Debatte entschieden, sondern auch in einer weiteren Debatte, nämlich der aktuellen Diskussion, welche Ziele im Klimaschutz sich die EU für die Zeit nach 2020 geben wird. Wenn wir ein Klimaziel für das Jahr 2030 wählen, das zu dem abnehmenden berechenbaren Reduktionspfad zum 2050-Ziel passen soll, so muss dieses Ziel mindestens 40 Prozent Minderung bedeuten. Dies hätte mit dem bestehenden 2020-Ziel zur Folge, dass die Industrie bis 2020 sehr wenig machen muss, nach 2020 aber plötzlich ihre Anstrengungen vervielfachen müsste. Solch ein Bruch kann nicht im Interesse der Planbarkeit von Investitionen sein. Deshalb müssen wir zeitnah, unabhängig von einer noch ausstehenden abschließenden Entscheidung des Europäischen Parlamentes und des Europäischen Rates zum Backloading, einen Diskurs in den europäischen Institutionen über eine ambitioniert ausgestaltete Handelsperiode nach 2020 führen. Es muss eine Lösung angestrebt werden, um über eine ehrgeizige Absenkung des Caps umfängliche Innnovationen und Investitionen und damit Effizienzsteigerungen in den vom Emissionshandel betroffenen Unternehmen anzustoßen bzw. zu unterstützen. Die Ausgestaltung muss so sein, dass diese Investitionen in die Emissionssenkung auch schon in der laufenden Handelsperiode ausgelöst werden. Wichtig ist eine zeitige Einigung, sodass auch die gewünschten Investitionsziele möglichst bald eintreten können. Ohne einen funktionierenden Emissionshandel mit anspruchsvollen Emissionsobergrenzen würden die nicht dem Emissionshandel unterliegenden Sektoren Verkehr, Haushalte und Gebäude vor Herausforderungen gestellt, die kaum zu bestehen sind. Auf diesen Zusammenhang haben wir in unserem Antrag explizit hingewiesen. Nach diesem „Votum der Unvernunft“ wachen nun hoffentlich einige konservative und liberale Abgeordnete aus ihrem Koma auf und zeigen sich konstruktiv, um noch in letzter Minute eine Lösung zu erreichen. Viel Zeit haben sie nicht mehr. Die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen können schon einmal vormachen, wie es geht, und diesem Antrag zustimmen.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die SPD fordert in ihrem erfreulich übersichtlichen Antrag, dass die Bundesregierung die Position der EU-Kommission unterstützt, zur Stabilisierung des CO2-Preises das sogenannte Backloading anzuwenden, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handelsperiode zurückzuhalten. Aber schon im ersten Absatz der Antragsbegründung klingen Sie nicht mehr so überzeugt von Ihrem Vorhaben und räumen „instrumentelle Vorbehalte“ ein. Diese Vorbehalte sind in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Denn Sinn und Zweck des Emissionshandels ist nicht ein Mindestpreis für CO2-Emissionen, sondern die Einhaltung des Cap, das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen ausstoßen. Schraubt man willkürlich an der Zertifikatmenge, um einen bestimmten Preis anzupeilen, führt man das System ad absurdum. Zudem basiert das Vertrauen der Wirtschaftsakteure in das System auf stabilen Rahmenbedingungen. Eine willkürliche Änderung dieser Rahmenbedingungen würde das Emissionshandelssystem mehr gefährden als der aktuell sehr niedrige Preis. Ich gebe zu, dass dieser Preis unerfreuliche Seiten hat: Er führt zu einem niedrigeren Anreiz, in neue CO2-arme und nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU nach 2020 das Emissions-Cap absenkt, um auf dem Klimaschutzpfad bis 2050 voranzukommen. Daneben brechen die Einnahmen des Energie- und Klimafonds ein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung der Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelle Jahr konnte dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der Einnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kompensiert werden. Somit können Programme für internationalen Klimaschutz, die Gebäudesanierung und die Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden. Auch das neu eingeführte Speicherförderprogramm für die Photovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die Finanzierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr somit eine gangbare Lösung gefunden. Die Bundesregierung hat in der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen, dass sie eine AnheZu Protokoll gegebene Reden bung des Klimaziels für 2020 auf 30 Prozent befürwortet, wenn Deutschland sein nationales 40-Prozent-Ziel nicht erhöhen muss und alle EU-Staaten einen angemessenen Beitrag leisten. Diesen Ansatz sollte man nach dem Scheitern der Backloading-Pläne im Europäischen Parlament jetzt noch einmal forcieren. Denn dies ist ein systematischerer Ansatz als das doch recht willkürliche Backloading.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Man mag zum EU-Emissionshandel, ETS, stehen, wie man will. Fakt ist, dass von der ersten zur dritten Handelsperiode etliche Kardinalfehler behoben wurden, die das System zutiefst diskreditiert hatten. So werden seit diesem Jahr zumindest an die Energiewirtschaft die geldwerten CO2-Emissionsrechte nicht mehr verschenkt, sondern versteigert. Das Problem der leistungslosen Extragewinne wäre also hier vom Tisch. Zudem wurde die Nutzung neuer missbrauchsanfälliger CDM-Zertifikate für die dritte Handelsperiode extrem eingeschränkt. Leider sind durch die in der Vergangenheit von der einschlägigen Lobby aufgebrochenen Lücken im ETS - zu denen auch eine Überzuteilung an die Industrie gehört - jede Menge überschüssiger Zertifikate aufgelaufen. So macht allein der Zufluss von CDMGutschriften aus zweifelhaften Klimaschutzprojekten im globalen Süden etwa 1,6 Milliarden der 2 Milliarden Überschüsse aus, ist also Hauptursache für die Krise des Handelssystems. Von diesen 1,6 Milliarden sind auch noch die Hälfte faul. Die CDM-Gutschriften lassen nicht nur die Preise in den Keller stürzen - aktuell kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 ja nur so viel wie ein Brot beim Bäcker statt der ursprünglich erwarteten 30 Euro -, sie führen auch zu einem zusätzlichen Klimagasausstoß. Die Wirtschaftskrise tat ein Übriges für die derzeitige Zertifikateschwemme. Würde man nun diese ungenutzten, aber leider übertragbaren Emissionsrechte endgültig stilllegen und würde man zudem den linearen Minderungspfad entsprechend den veränderten Rahmenbedingungen verschärfen, so könnte sich dieses marode Cap-andTrade-System erstmalig zu einem tatsächlichen Klimaschutzinstrument wandeln. Genau dies hat zumindest die EU-Kommission mit ihrem Backloading-Vorschlag im Blick. Das zeitweise „Zurücklegen“ von Zertifikaten über 900 Millionen Tonnen CO2, anstatt sie zu versteigern, würde den Zertifikatepreis zwar zunächst nur wenig anheben. Denn die Märkte antizipieren ja, dass die Menge 2019 und 2020 doch noch in den Markt geht, die 2013 bis 2015 bei den Auktionen aufgespart wird. Das Backloading würde aber den Weg für eine grundlegende Reform des Emissionshandels freimachen, weil es Zeit schindet. Und die braucht man, da Strukturreformen vor 2015 sicher nicht wirksam werden. Diese zwei bis drei Jahre hätten die Mitgliedstaaten tatsächlich Zeit; denn das Backloading soll ja genau verhindern, dass ein großer Teil der überschüssigen Zertifikate in diesem Zeitraum marktwirksam wird. Sie könnten mit den dann hoffentlich erfolgten Strukturreformen schließlich endgültig stillgelegt werden - und mit ihnen auch die restlichen Überschüsse. In diesem Zug könnten nach einem weiteren Vorschlag der Kommission der genannte Minderungsfaktor verdoppelt und jegliche Anrechnungen von Auslandsgutschriften untersagt werden. Dieser Fahrplan stand letzte Woche in Straßburg im Raum, als es um die Backloading-Abstimmung ging. Und genau deshalb gab es eine beispiellose Lobby-Arbeit von Industrie und Energiewirtschaft gegen den Vorschlag. Die FDP und der Wirtschaftsflügel der Union waren ihre parlamentarische Speerspitze. Sie hatten erkannt, dass hier der Schlüssel zum ({0})Raum eines wirksamen Emissionshandels ins Schloss geführt wurde. Darum war um jeden Preis zu verhindern, dass die Parlamentarier ihn umdrehten. Christdemokraten und Liberale haben sich im EUParlament leider knapp gegen den Klimaschutz durchgesetzt. Parallel hat sich in Berlin die Kanzlerin dem Druck der FDP ergeben. Die Bundesregierung war auf EU-Ebene entsprechend handlungsunfähig. Beide Blockaden drohen das jahrelang aufgebaute und schrittweise verbesserte EU-Emissionshandelssystem komplett und endgültig zu zerschießen. Die Parteien ziehen einer gemeinsamen europäischen Klimaschutzpolitik lieber eine kleinkarierte Klientelpolitik für Teile der Wirtschaft vor. Sie wird wohl zur Nationalisierung und weiteren Schwächung des Klimaschutzes in Europa führen. Die Linke hat als Alternative ein nationales Kohleverstromungsausstiegsgesetz vorgeschlagen, sofern der EU-Emissionshandel scheitert. Das können Sie auf unserem Antrag auf Drucksache 17/12064 lesen, der ebenfalls heute im Plenum abgestimmt wird. Aus unserer Sicht ist das ETS nicht nur bereits tot; es hat, was seine ökologische Wirkung betrifft, nie wirklich gelebt. Gleichzeitig haben Energiekonzerne damit Milliarden verdient - eine Schande auf der ganzen Linie. Die SPD versucht nun mit ihrem Antrag, die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Sie soll in der zweiten Verhandlungsrunde darauf hinwirken, dass das Backloading in der EU doch noch Anwendung findet. In der Begründung will die Fraktion allerdings grundlegende Reformen erst nach 2020. Das ist natürlich kompletter Unsinn, denn diese müssen spätestens Mitte dieses Jahrzehnts greifen. Zudem sehen wir die ausufernden Kompensationszahlungen für die Industrie skeptisch, die die SPD feiert. Dennoch werden wir diesem Antrag zustimmen. Zum einen sind die genannten Fehler nur Teil der für die Beschlussfassung unwichtigen Begründung. Zum anderen halten wir bei der Frage des Backloadings in diesen Wochen eine gemeinsame Stimme aller Parteien für dringend erforderlich. Zu Protokoll gegebene Reden Allerdings sehen wir bei der derzeitigen Konstellation wenig Chancen auf einen Backloading-Erfolg und noch weniger für eine grundlegende ETS-Reform. Deshalb wird die Linke die Greenpeace-Idee eines Kohleausstiegsgesetzes weiter vorantreiben, egal was in Brüssel geschieht. Denn was ist einfacher, als nach einem Abschaltplan planmäßig aus der Kohle auszusteigen? Und zwar so, dass spätestens 2040 der letzte Meiler vom Netz ist! Ich hoffe, irgendwann unterstützen uns in dieser Frage auch Sozialdemokraten und Grüne, die diesen Schritt bislang entweder ablehnen oder sich zu unserem Antrag im Ausschuss enthalten haben.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die europäische Klimaschutzpolitik steckt in der wohl tiefsten Krise ihrer Geschichte. Konservative und Liberale haben im Europäischen Parlament die dringend erforderliche Reparatur des europäischen Emissionshandels gestoppt. Nicht einmal den Minischritt eines Backloading, einer kurzfristigen Verknappung von Emissionsberechtigungen, wollten die Parteifreunde der Regierungsfraktionen mitgehen. Damit bleibt das zentrale Instrument der EU-Klimapolitik auf absehbare Zeit ohne Wirkung. Der Preis für Verschmutzungsrechte ist auf rund 3 Euro je Tonne CO2 eingebrochen - das ist viel zu wenig, um Anreize für Investitionen in saubere Technologien zu setzen. Die Folgen dieses Politikversagens sind dramatisch: Die Braunkohle boomt, während hocheffiziente Gaskraftwerke stillstehen. Die deutschen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch die EEG-Umlage steigt, weil Wind- und Sonnenstrom mehr Unterstützung brauchen, um mit der künstlich verbilligten Kohle konkurrieren zu können. Dem Energie- und Klimafonds der Bundesregierung fehlen Milliarden, die für die Finanzierung der Energiewende und den internationalen Klimaschutz eingeplant waren. Für den Niedergang des Emissionshandels trägt Bundeskanzlerin Merkel maßgebliche Verantwortung. Bundeswirtschaftsminister Rösler hat die Emissionshandels-Reform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn gewähren lassen. Sie hat mit stillschweigender Billigung hingenommen, dass die Abgeordneten ihrer Partei dem europäischen Klimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hat sie gerührt, die ehemalige „Klima-Kanzlerin“. Ihr Umweltminister Altmaier hat wenigsten noch Appelle nach Brüssel geschickt und vor einem massiven Rückschlag für den Klimaschutz gewarnt. Doch die große Mehrheit seiner Parteifreunde hat nicht auf ihn gehört. Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zu einer Richtungsentscheidung über die Zukunft des Klimaschutzes. Wir Grünen treten ein für die überfällige Anhebung des EU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020. Wir wollen eine deutliche Verknappung der Verschmutzungsrechte, um das Überangebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem Markt zu nehmen. Und wir wollen eine grundlegende Reform des Emissionshandels, die auch die Einschränkung der Zufuhr billiger und ökologisch fraglicher Zertifikate aus China und Indien einschließt. Die Schwächung des europäischen Klimaschutzes macht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebene notwendig. Deshalb setzen wir uns für ein nationales Klimaschutzgesetz ein, ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele verbindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle der Klimaschutzmaßnahmen etabliert und bei Abweichungen vom Zielpfad ein Gegensteuern der Politik erzwingt. Es ist Zeit, dass Deutschland wieder Vorreiter wird und Antreiber beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen dafür bereit.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters - Drucksache 17/12163 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/13269 Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Gesetzentwurf will dem leiblichen, nicht rechtlichen Vater die Möglichkeit einräumen, mit seinem Kind, das einen rechtlichen Vater hat und in einer intakten Familie lebt, Kontakt aufzunehmen und sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Derzeit hat er diese Möglichkeit nicht. Bei dem Gesetzentwurf geht es im Kern um das Verhältnis von leiblicher und rechtlich-sozialer Elternschaft. Dabei geht es um unterschiedliche Vorstellungen von Elternschaft, Familie und Wohl des Kindes. In unserem Recht sind Eltern diejenigen, die das Elternrecht haben. Die, die das Kind gezeugt haben, Vater und Mutter des Kindes, haben in Bezug auf das Kind keine Rechte und keine Verpflichtungen, wenn das Kind einen rechtlichen Vater und eine rechtliche Mutter hat und in einer sozialen rechtlichen Familie lebt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die natürlichen Eltern des Kindes Vater und Mutter sind. In unserer Rechtsordnung hat die rechtliche Elternschaft den Vorrang vor der natürlichen Elternschaft. Dies ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Im Urteil vom 19. Februar 2013 zur Sukzessivadoption missachtet das Gericht die natürliche Elternschaft von Vater und Mutter und geht dabei soweit, dass es auch eine eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als rechtliche Eltern anerkennt. Dies entspricht jedoch nicht Art. 6 GG. Unsere Verfassung versteht unter Eltern Vater und Mutter und nicht Mama und Mama oder Papa und Papa. Der Versuch des Verfassungsgerichtes, den Begriff „Eltern“, wie er in Art. 6 aufgeführt wird, umzudeuten, sodass darunter auch ein gleichgeschlechtliches Paar zu verstehen ist, verstößt gegen die Verfassung. Wer das nicht will, muss die Verfassung ändern. Dazu aber fehlt dem Verfassungsgericht die Kompetenz. Der vorliegende Gesetzentwurf will diese Entwicklung, dass die natürliche Elternschaft keine Bedeutung mehr hat, wenigstens zum Teil korrigieren. Er will das natürliche Recht des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters gegenüber seinem Kind und gegenüber den rechtlichen Eltern stärken. Dabei bleibt jedoch der Grundsatz, dass der leibliche, aber nicht rechtliche Vater nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes nicht Träger des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist, erhalten. Deshalb hat er auch nicht „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ nach Art. 6 Abs. 2 GG, für die Pflege und Erziehung der Kinder zu sorgen. Der nur leibliche Vater hat also nicht die lebenslange Verantwortung für das Kind. Diese verbleibt bei den rechtlichen Eltern. Die Folge ist, dass das Kind keinen Unterhaltsanspruch gegenüber dem nur leiblichen Vater hat, was umgekehrt natürlich auch für den leiblichen Vater gegenüber seinem Kind Geltung hat. Der Grundsatz des § 1601 BGB, dass Verwandte in gerader Linie einander zu Unterhalt verpflichtet sind, gilt nicht im Verhältnis des nur leiblichen Vaters gegenüber seinem Kind, da dieser gemäß § 1592 BGB nicht Vater des Kindes ist. Das Kind hat auch keinen Erbanspruch gegenüber dem leiblichen Vater, wenn es einen rechtlichen Vater hat, also kein uneheliches Kind im Sinne des Art. 6 Abs. 5 GG ist. Wird das Kind, das von der verheirateten Mutter außerhalb der Ehe mit einem fremden Mann gezeugt wurde, in eine bestehende Ehe hineingeboren, erhält es automatisch den Ehemann seiner Mutter zum rechtlichen Vater ({0}). Lebt das Kind in einer sozial-familiären Beziehung mit seinem rechtlichen Vater, kann der leibliche Vater die Vaterschaft nicht anfechten und nicht selbst rechtlicher Vater des Kindes werden. Der leibliche Vater hat also unter diesen Voraussetzungen derzeit hinsichtlich des Kindes keinen Rechtsanspruch. Er hat kein Recht zur Kontaktaufnahme und auch kein Auskunftsrecht. Er ist ein Fremder. Diese Situation des leiblichen Vaters kritisiert der EGMR in mehreren Urteilen. Nach Auffassung des Gerichtes hat auch der nicht rechtliche Vater das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Verletzung sieht der Gerichtshof darin, dass dem leiblichen Vater die Auskunft über das Kind und der Umgang mit ihm versagt wird, ohne dass das Familienrecht die Frage erlaubt, ob es denn im Sinne des Kindeswohles ist, dem leiblichen Vater das Auskunfts- und Umgangsrecht zu verweigern. Es kann ja im Interesse des Kindes sein, dass sein leiblicher Vater ein Auskunftsrecht und auch ein Umgangsrecht mit ihm hat. Die Frage nach dem Kindeswohl bleibt insoweit außen vor. Dies kritisiert der EGMR. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll in der Neureglung des § 1698 a BGB dieser Mangel behoben werden. Dem nur leiblichen Vater soll jetzt ein Umgangs- und Auskunftsrecht unter bestimmten Voraussetzungen eingeräumt werden. Dabei achtet der Gesetzentwurf darauf, dass der Schutz der gelebten sozialen Familie mit Mutter und rechtlichem Vater und eventuell weiteren Geschwistern erhalten bleibt. Der biologische Vater soll keine Chance haben, diese Einheit zu zerstören. Es ist jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob nicht durch die Verweigerung von Auskunft und Umgang das Wohl des Kindes geschädigt bzw. nicht gefördert wird. Der Entwurf macht also vor allem das Wohl des fraglichen Kindes zum Maßstab, ob dem nur leiblichen Vater Auskunft und Umgang gestattet wird. Das Kind bedarf des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu entwickeln, wie das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen ausgeführt hat. Für diesen Schutz haben vor allem die Eltern zu sorgen, mit denen zusammen das Kind eine rechtlich-soziale Einheit bildet. Das ist zum Wohl des Kindes. Wird diese schützende Familieneinheit durch das Auskunfts- und Umgangsverlangen des leiblichen Vaters ernsthaft gestört, kann das Verlangen des nur leiblichen Vaters durch das Gericht zurückgewiesen werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um den Schutz der Familie an sich, sondern um das Wohl des Kindes, das den Schutz der Familie für die eigene Entwicklung dringend nötig hat. Zu den Interessen des Kindes gehört aber auch das Wissen um seine Abstammung. Es widerspricht daher in der Regel nicht dem Wohl des Kindes, wenn es Kontakt mit seinem leiblichen Vater hat. Dem leiblichen Vater steht aber dieses Recht des Umgangs und der Auskunft über das Kind nur zu, wenn er durch sein Verhalten gezeigt hat, dass er ein ernsthaftes Interesse an seinem Kind hat. Neugier allein genügt nicht, und schon gar nicht können ihm solche Rechte zugestanden werden, wenn es ihm gar nicht um das Kind, sondern um den Kontakt mit dessen Mutter oder gar darum geht, Unfrieden in die Familie des Kindes zu bringen. Zu Protokoll gegebene Reden Außerdem hat der biologische Vater diese Rechte nur, solange die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes besteht. Fehlt eine solche Vaterschaft, ist der biologische Vater auf die Feststellung seiner Vaterschaft zu verweisen. Der Gesetzentwurf sieht in § 167 a FamFG vor, dass der biologische Vater nur dann Anspruch auf Auskunft und Umgang hat, wenn er eidesstattlich versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Dabei kann es auch zu einer Inzidentprüfung der biologischen Vaterschaft kommen ({1}). Eine solche Situation kann dann doch noch zu einer starken Belastung der sozial-rechtlichen Familie führen. Deswegen erscheint der Vorschlag des Bundesrates, der sich auf eine Empfehlung des 19. Deutschen Familiengerichtstages 2011 beruft, sachgerechter. Danach sollte die biologische Vaterschaft in einem isolierten Vorverfahren nach § 1598 a BGB geklärt werden. Die Überlegung ist, dass durch die Inzidentprüfung das Umgangs- und Auskunftsverfahren überfrachtet wird. Ein außergerichtlicher Vaterschaftstest gemäß § 1598 a BGB würde, wenn er für den mutmaßlichen leiblichen Vater negativ ausfällt, erst gar nicht zu dem Auskunftsund Umgangsverfahren führen. Die Inzidentprüfung setzt im Gegensatz dazu voraus, dass ein Verfahren auf Auskunft und Umgang bereits eingeleitet wird. Die Bundesregierung und der Rechtsausschuss haben jedoch an der inzidenten Prüfung festgehalten. Die Gesetzespraxis wird es erweisen, ob nicht doch eine Vorabprüfung gemäß § 1598 a BGB der Situation gerechter wird. Dann kann ja immer noch durch eine Novellierung ein solcher Mangel, wenn er sich wirklich herausstellen sollte, behoben werden. Wichtig ist vor allem, dass die Situation der Kinder in solchen rein rechtlichen Ehen wissenschaftlich näher untersucht wird, um herauszufinden, welche Folgen es für das Kindeswohl hat, wenn der leibliche Vater seine Ansprüche geltend macht.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters. Lassen Sie mich Ihnen zunächst einen Überblick über die bislang geltende Rechtslage geben, bevor ich einige Aspekte aus den Beratungen skizzieren und die wesentlichen Punkte der Neuregelung zusammenfassen werde. Der leibliche Vaters eines Kindes, der mit der Mutter des Kindes nicht verheiratet ist und auch nicht die Vaterschaft anerkannt hat, konnte bisher ein Umgangsrecht nur unter zwei Voraussetzungen durchsetzen: Er musste eine enge Bezugsperson des Kindes sein, für dieses tatsächlich Verantwortung tragen oder getragen haben - also mit ihm in einer sozial-familiären Beziehung stehen. Zusätzlich musste der Umgang dem Kindeswohl dienen. Konnte der leibliche Vater zu seinem Kind keine Beziehung aufbauen, war ihm der Kontakt zu ihm bisher verwehrt. Die Gründe, warum keine Beziehung zu dem Kind bestand, waren dabei unerheblich. Selbst dann, wenn der leibliche Vater zum Beispiel bereit war, für das Kind Verantwortung zu übernehmen, dies aber aufgrund der Weigerung der rechtlichen Eltern nicht möglich war, gab es für ihn kein Umgangsrecht. Außerdem hatte der leibliche Vater bisher auch ohne Rücksicht darauf, ob der Umgang dem Wohl des Kindes dient, keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Ein leiblicher, nicht rechtlicher Vater hatte darüber hinaus bislang auch nicht das Recht, Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes zu erlangen. Nach § 1686 Satz 1 BGB kann jeder Elternteil vom anderen bei berechtigtem Interesse Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes verlangen, soweit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Diesen Auskunftsanspruch haben jedoch nur die Eltern im rechtlichen Sinne. Der leibliche Vater kann diesen Weg nicht gehen. Ein weiterer Punkt ist das Recht auf Anfechtung der Vaterschaft. Dies hatte der leibliche Vater bislang nur dann, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Außerdem konnte der leibliche Vater nicht gegen den Willen der rechtlichen Eltern die Einwilligung in eine genetische Untersuchung verlangen, um Gewissheit über seine vermutete Vaterschaft zu erlangen ({0}). Auf diese Aspekte werde ich später noch einmal eingehen. Der Überblick über die bestehende Rechtslage zeigt, dass das Erscheinen eines - mutmaßlichen leiblichen Vaters erhebliche Interessenkonflikte hervorrufen kann. Das geltende Recht räumt in diesem Spannungsverhältnis dem Schutz der bestehenden sozialen Familie absoluten Vorrang vor der ungewollten Einmischung des mutmaßlichen leiblichen Vaters ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in drei Entscheidungen zwischen 2010 und 2012 festgestellt, dass es mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar ist, den leiblichen - biologischen - Vater, der keine Bezugsperson für das Kind ist, von einem Umgang mit seinem Kind und dem Recht auf Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse auszuschließen. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert das Recht auf Achtung des Privat- und des Familienlebens. Die Verweigerung des Rechts auf Anfechtung der Vaterschaft bei Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind sowie der Ausschluss des - mutmaßlichen - leiblichen Vaters aus dem Kreis der Klärungsberechtigen nach § 1598 a BGB ist im Gegensatz dazu aber mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbaren. So haben nur die rechtlichen Eltern und das Kind einen Anspruch darauf, auf diesem Weg die leibliche AbZu Protokoll gegebene Reden stammung durch eine genetische Untersuchung zu klären. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des jetzigen Gesetzentwurfes, nach den Vorgaben des Gerichts ein Umgangs- und Auskunftsrecht für leibliche, nicht rechtliche Väter einzuführen. Dabei muss allerdings ein bestmöglicher Schutz der sozialen Familie erhalten bleiben. Eine noch weiter gehende Stärkung der Rechtsposition des leiblichen Vaters ist nach unserer Auffassung abzulehnen. Diese Position haben so auch die Experten in den Ausschussberatungen bestätigt. Eine im Rahmen dieser Beratungen auch diskutierte Forderung nach einem uneingeschränkten Anfechtungsrecht des leiblichen Vaters ist auf erhebliche fachliche Bedenken gestoßen. Das Argument, die sozialen Kontakte zwischen Kind und bisherigem rechtlichem Vater würden durch eine Anfechtung der Vaterschaft nicht zerstört, Letzterer bleibe vielmehr weiterhin Bezugsperson für das Kind, ist nicht überzeugend. Durch die Anfechtung und Feststellung seiner Vaterschaft erhielte der biologische Vater die Stellung des rechtlichen Vaters und damit auch die Möglichkeit, das Sorgerecht zu beantragen. Außerdem hätte er dann in jedem Fall auch ein Umgangsrecht. Unterhalts- und Erbansprüche bestünden dann nicht mehr zwischen dem Kind und seinem sozialen Vater, sondern zwischen ihm und seinem biologischen, nun auch rechtlichen Vater. Der bisherige rechtliche Vater könnte nur noch als enge Bezugsperson einen Umgang mit dem Kind pflegen. Wenn in der sozialen Familie noch weitere Kinder mit ihren Eltern zusammenleben, wäre dies - vor allem mit Blick auf das Kindeswohl eine erhebliche Belastung. Ein unbeschränktes Anfechtungsrecht würde außerdem auf einen Paradigmenwechsel im Abstammungsrecht und auf eine völlige Neubewertung des Spannungsverhältnisses zwischen rechtlicher, sozialer und biologischer Elternschaft hinauslaufen. Dieser Paradigmenwechsel wäre so nicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu begründen und wurde auch von der Mehrzahl der befragten Sachverständigen abgelehnt. Der Bundesrat hatte im Vorfeld der Beratungen um Prüfung gebeten, ob dem mutmaßlichen Vater nicht statt der im Gesetzentwurf vorgesehenen sogenannten inzidenten Prüfung der biologischen Vaterschaft unter einschränkenden Voraussetzungen auch ein Recht auf Klärung der Abstammung nach § 1598 a BGB eingeräumt werden sollte. Eine „inzidente Prüfung“ bedeutet hier eine ausschließliche Prüfung im Rahmen des gerichtlichen Umgangs- und Auskunftsverfahrens. Der Bundesrat hatte befürchtet, dass dann gerichtliche Umgangs- bzw. Auskunftsverfahren auch in Fällen angestrengt werden müssten, in denen noch gar nicht feststeht, ob der Antragsteller tatsächlich der Erzeuger des Kindes ist. Diese Belastung für alle Beteiligten könne vermieden werden, wenn dem mutmaßlichen biologischen Vater stattdessen gegenüber Mutter und Kind ein Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Untersuchung zur Klärung der leiblichen Abstammung eingeräumt würde. Eine solche Aufnahme des leiblichen Vaters in die Regelungen des § 1598 a BGB wäre nach unserer Auffassung nicht mit dem Ziel eines bestmöglichen Schutzes für die soziale Familie zu vereinbaren. Wenn leibliche Väter neben dem Recht auf Umgang und Auskunft auch ein Recht auf Klärung der Abstammung erhalten würden, würden nicht nur diejenigen leiblichen Väter ein gerichtliches Verfahren anstrengen, die Umgang oder Auskunft erhalten wollen, sondern auch diejenigen, denen es nur um die Klärung der Abstammung geht. Der Kreis der potenziellen Antragsteller wäre deutlich erweitert, ohne dass daran die vom Bundesrat vorgeschlagenen einschränkenden Voraussetzungen etwas ändern könnten. Die Hürden für die Nutzung dieses Klärungsanspruchs wären niedriger als die Hürden zur Geltendmachung der Rechte nach § 1686 BGB-E. Außerdem steht - anders als beim Umgangsverfahren - beim Klärungsverfahren nach § 1598 a BGB nicht das Kindeswohl, sondern das Klärungsinteresse des Vaters im Zentrum. Die rechtsfolgenlose Klärungsmöglichkeit nach § 1598 a BGB steht aus gutem Grund neben der Mutter nur dem zweifelnden rechtlichen Vater offen. Dieser hat so die Möglichkeit, zunächst die biologische Herkunft des Kindes durch ein privates Abstammungsgutachten zu klären. Dann kann er im nächsten Schritt entscheiden, ob er daraus rechtliche Konsequenzen ziehen will. Der an seiner Vaterschaft zweifelnde Vater ist damit nicht gezwungen, seine Vaterschaft direkt durch ein Anfechtungsverfahren zu klären. Der mutmaßliche leibliche Vater hat kein vergleichbares schutzwürdiges Interesse an Klärung der Abstammung, da ihn mit dem Kind kein rechtliches Band verbindet. An die Klärung der Abstammung wären folglich auch keinerlei rechtliche Konsequenzen geknüpft. Sie würden allein das Klärungsinteresse des Vaters befriedigen. Bei Einführung des § 1598 a BGB wurde der leibliche Vater daher bewusst nicht in den Kreis der Klärungsberechtigten aufgenommen. Er sollte nicht allein mit seinem - rechtsfolgenlosen - Interesse an der Klärung der Abstammung Unfrieden in die soziale Familie hineintragen können. Der heute von uns hier abschließend beratene Gesetzentwurf stärkt die Rechte des biologischen Vaters also in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll es für das Umgangsrecht künftig nicht mehr darauf ankommen, ob bereits eine enge Beziehung zwischen dem Kind und seinem leiblichen Vater besteht, sondern vielmehr darauf, ob dieser ein ernsthaftes Interesse an seinem Kind gezeigt hat und ob der Umgang dem Kindeswohl dient. Durch diese im Rahmen der Ausschussberatungen präzisierte Formulierung soll den Gerichten ermöglicht werden, im Einzelfall entsprechend des Kindeswohls zu entscheiden. Zum anderen wird dem leiblichen Vater die Möglichkeit eingeräumt, Auskunft über die persönlichen Zu Protokoll gegebene Reden Verhältnisse und die Entwicklung seines Kindes zu erhalten. Voraussetzung ist auch hier, dass er ein ernsthaftes Interesse an seinem Kind gezeigt hat und dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Aktuell steht der Auskunftsanspruch nach § 1686 BGB nur den Eltern im rechtlichen Sinne zu. Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung soll - auch um die Sonderstellung des biologischen Vaters zu zeigen - durch die Einführung eines neuen § 1686 a in das Bürgerliche Gesetzbuch, gestützt von entsprechenden flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen in § 167 a FamFG, erfolgen. Danach muss der Antragsteller an Eides statt versichern, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Hier wird künftig das Umgangs- und Auskunftsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters geregelt sein. Von dieser Vorschrift sollen aber nur die Fälle erfasst werden, in denen das Kind bereits einen rechtlichen Vater hat. Weiterhin wird das Umgangs- und Auskunftsrecht des vermeintlichen biologischen Vaters an die Bedingung geknüpft, dass der Antragsteller auch wirklich der biologische Vater ist. Dies bedeutet zugleich, dass er die Möglichkeit haben muss, seine biologische Vaterschaft klären zu lassen, ohne dass die Mutter dies vereiteln kann. Der Gesetzentwurf sieht daher die inzidente Klärung der Vaterschaft im Rahmen des Umgangs- und Auskunftsverfahrens vor. Die Vor- und Nachteile dieser Lösung habe ich ja bereits ausführlich erläutert. Zum Schluss noch eine Anmerkung: Das Bundesjustizministerium bereitet derzeit eine Evaluation auch des Umgangsrechts vor. Es soll vor allem untersucht werden, welche Auswirkungen die Durchsetzung von Umgangsregelungen auf das Eltern-Kind-Verhältnis hat. Daneben soll auch das FamFG evaluiert werden, in dessen Buch 2 das Familienverfahrensrecht - und somit also auch das Verfahren in Umgangssachen 2009 neu geregelt wurde. Im Rahmen dieses Vorhabens kann dann auch untersucht werden, ob sich die Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters in der Praxis bewährt. Abschließend können wir sicherlich sagen, dass wir mit dem Gesetzentwurf einen guten Weg gefunden haben, der der übergeordneten Bedeutung des Kindeswohls gerecht wird. Darüber hinaus setzt er das berechtigte Interesse des leiblichen Vaters an einem Umgangs- und Auskunftsrecht in einen angemessenen Ausgleich mit den Interessen der sozialen Familie an einem ungestörten Familienleben.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Oft heißt es: Familie kann man sich nicht aussuchen. Andererseits heißt es auch: Blut ist dicker als Wasser. Wie man es dreht oder wendet, Familie ist eines der wichtigsten, aber auch eines der kompliziertesten Dinge in unserem Leben. Familien gibt es mittlerweile in jeder erdenklichen Form und Konstellation. Um diesen Lebenswirklichkeiten gerecht zu werden, müssen wir auch unser Familienrecht immer wieder anpassen und weiterentwickeln. Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, etwas über ihre Familie und Herkunft zu erfahren. Ob adoptierte Kinder, die sich auf den Weg machen, das Land ihrer Geburt zu besuchen, ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen und mehr über ihre Wurzeln zu erfahren; oder Eltern, die versuchen, zu ihrem bis dahin unbekannten Kind Kontakt aufzunehmen und an seinem Leben teilzuhaben. Letzteres hat unser Familienrecht bisher für einen bestimmten Personenkreis, den der leiblichen, aber nicht rechtlichen Väter, nur sehr eingeschränkt vorgesehen. Zum Schutz der sozialen Familie und des Kindeswohls haben diese Väter nach derzeitigem Recht keinerlei Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten oder ein Umgangs- oder Auskunftsrecht einzufordern, wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiären Beziehung zu dem Kind steht. Es ist richtig, dass die soziale Familie unter einem besonderen Schutz steht. Aber es ist falsch, dass der biologische Vater in dieser Konstellation keinerlei Möglichkeit hat, zu seinem leiblichen Kind eine Verbindung aufzubauen. Wir werden dies heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern und damit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, EGMR, umsetzen. Nach Meinung des EGMR hat der biologische Vater durch sein in Art. 8 der Menschenrechtskonvention geschütztes Recht auf die Achtung seines Privat- und Familienlebens unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Recht auf Umgang mit seinem leiblichen, aber nicht rechtlichen Kind. Wir werden daher die Möglichkeit eines Auskunfts- und eines Umgangsrechts für diese Gruppe der Väter schaffen und damit ihre Rechte stärken. Einvernehmlich haben wir jedoch sinnvolle Hürden eingebaut, um die soziale Familie so weit wie möglich zu schützen. Das Bekanntwerden eines leiblichen Vaters stellt in den meisten Fällen eine enorme Belastung für die Familie und im Zweifelsfall auch für das Kind dar. Wir haben uns deshalb gegen eine Erweiterung der Regelungen zur Anfechtung der Vaterschaft entschieden. Auch wird das Erreichen eines Umgangsoder Auskunftsrechts über den neuen § 1686 a BGB möglich sein, wenn bestehende Anfechtungsrechte noch nicht ausgeschöpft wurden. Bei den Umgangs- und Auskunftsrechten wird es zudem einen kleinen, aber sehr wichtigen Unterschied geben: Ein Recht auf Umgang soll dem leiblichen Vater nur eingeräumt werden, wenn dies dem Kindeswohl dient. Denn das Kind ist hiervon direkt betroffen, und damit muss sein Wohl im Mittelpunkt stehen. Dagegen kann der Vater Auskunftsrechte bereits erhalten, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. In jedem Fall muss der Vater ein „ernsthaftes Interesse“ an dem Kind gezeigt haben. Wir haben hier den Begriff des „nachhaltigen Interesses“ ausgetauscht und damit eine praxistauglichere Lösung gefunden. Zu Protokoll gegebene Reden

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die unterschiedlichen Ausgestaltungen von Familienkonstellationen sind in unserer Gesellschaft sehr facettenreich. Es ist keine Besonderheit mehr, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam ein Kind zeugen, ohne dass beide heiraten oder der Mann die Vaterschaft für das Kind anerkennt. Das hat zur Folge, dass der Mann nicht der rechtliche Vater des Kindes ist, sondern nur der leibliche Vater. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Frau zum Zeitpunkt der Geburt mit einem anderen Mann verheiratet ist ({0}). Will der leibliche Vater sein Kind aber sehen und mit ihm Umgang haben, kann er dies nach den Voraussetzungen des § 1685 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 BGB beantragen. Damit ihm der Umgang gewährt werden kann, muss der leibliche Vater eine enge Bezugsperson für das Kind sein und tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen haben; der Vater muss eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind haben. Zudem muss der Umgang des leiblichen Vaters mit dem Kind dem Kindeswohl dienen. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, kann ein Umgang nicht gewährt werden. Die erforderliche sozial-familiäre Beziehung kann aber nur entstehen, wenn der Vater regelmäßig Kontakt zu seinem Kind hat. Es gibt jedoch Konstellationen, in denen die rechtlichen Eltern dem leiblichen Vater jeglichen Umgang mit seinem Kind verwehren. In solchen Fällen hat der leibliche Vater nach bisherigem Recht keine Chance auf Umgang mit seinem Kind. Darüber hinaus hat ein leiblicher, nicht rechtlicher Vater derzeit auch keinen Anspruch auf Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes. § 1686 BGB gewährt jedem Elternteil einen entsprechenden Anspruch gegenüber dem anderen Elternteil, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Allerdings gilt dies nur für Eltern im rechtlichen Sinne. Folglich steht einem leiblichen Vater eines Kindes, der weder mit der Mutter des Kindes verheiratet ist noch die Vaterschaft über das Kind anerkannt hat, der Anspruch aus § 1686 BGB nicht zu. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, hat darin einen Verstoß gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK, erkannt. Der vorliegende Gesetzentwurf soll diesen Missstand beheben. Nachdem die Bunderegierung ihren Gesetzentwurf am 31. Januar 2013 in den Deutschen Bundestag eingebracht hat, hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 27. Februar 2013 ein erweitertes Berichterstattergespräch mit sechs externen Experten geführt. Darin wurden verschiedene Ansätze beraten, wie der Rechtsprechung des EGMR Folge geleistet werden kann. Ein Vorschlag ging zum Beispiel dahin, dem leiblichen Vater ohne einschränkende Voraussetzungen die Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft zu ermöglichen. Ziel dieses Vorschlages ist, dass die leibliche Vaterschaft sich gegenüber der rechtlich-sozialen Vaterschaft immer durchsetzen kann. Eine weitere Anregung sah vor, den leiblichen Vater, der Umgang mit seinem Kind begehrt, auf den Weg der Anfechtung der bestehenden Vaterschaft zu verweisen, anstatt ihm, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, unter engen Voraussetzungen ein Umgangsrecht und einen Auskunftsanspruch einzuräumen. Dies hätte den Vorteil, dass dem leiblichen Vater nicht Rechte wie Umgang und Auskunft eingeräumt würden, ohne dass ihm gleichzeitig auch Pflichten entstehen. Darüber hinaus wurde die Frage erörtert, den leiblichen Vater in die Liste der Antragsberechtigten im Sinne des § 1598 a BGB - Einwilligung in eine Untersuchung zur Klärung der Abstammung - aufzunehmen. Nach intensiven Diskussionen haben wir uns in großer Übereinstimmung der Berichterstatter aller Fraktionen dafür entschieden, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf nur an einer Stelle sprachlich zu überarbeiten, ansonsten aber unverändert zu verabschieden. Die drei im erweiterten Berichterstattergespräch beratenen Vorschläge wurden im Ergebnis verworfen. Dafür sprechen folgende Gründe: Das Auftauchen des leiblichen Vaters in einer bis dahin intakten sozialen Familie birgt eine enorme Sprengkraft. Insbesondere das Leben des betroffenen Kindes kann dadurch in große Unordnung gestürzt werden. Das kann aber nicht gewollt sein. Wir wollen, dass die bislang bestehende soziale Familie so wenig wie möglich beeinträchtigt wird. Steht dem leiblichen Vater nach dem neuen Recht ein Anspruch auf Umgang und Auskunft zu, soll die bestehende soziale Familie selber entscheiden können, ob der leibliche Vater diese Rechte frei von Pflichten erhalten soll. So kann zum Beispiel der rechtliche Vater, der überraschend erfährt, dass er gar nicht der leibliche Vater ist, wenn er nicht mehr für das Kind verantwortlich sein will, seine Vaterschaft anfechten. Diese Entscheidung muss aber der sozialen Familie vorbehalten bleiben und darf nicht in die Hände des leiblichen Vaters gelegt werden. Daher muss man die nach der Rechtsprechung des EGMR erforderlichen Änderungen mit dem nötigen Augenmaß und viel Fingerspitzengefühl vornehmen. Der nun vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diese Voraussetzungen. In § 1686 a BGB neu werden die Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters geregelt. Voraussetzungen für den Umgang des leiblichen Vaters mit seinem Kind und den Auskunftsanspruch des leiblichen Vaters über die persönlichen Verhältnisse seines Kindes sind, dass die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes besteht und dass der leibliche Vater ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt hat. Zusätzlich muss der leibliche Vater beim Auskunftsanspruch ein berechtigtes Interesse an der Auskunft haben. Darüber hinaus muss der Umgang des leiblichen Vaters mit seinem Zu Protokoll gegebene Reden Kind dem Kindeswohl dienen. Der Auskunftsanspruch darf dem Kindeswohl nicht widersprechen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren gemeinsam mit der Union darauf hingewirkt, dass das Tatbestandsmerkmal „nachhaltiges“ Interesse aus § 1686 a Abs. 1 BGB neu in „ernsthaftes“ Interesse geändert wird. Diese Formulierung wird dem familienrechtlichen Kontext besser gerecht und wird auch von den Familiengerichten besser ausgelegt werden können. Der Gesetzentwurf nimmt die erforderlichen Änderungen mit dem nötigen Augenmaß vor, ohne die bestehende rechtliche Familie durch die neuen Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters über Gebühr zu belasten. Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzentwurf gemeinsam mit meiner Fraktion zu unterstützen.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bislang stand einem leiblichen Vater, der nicht mit der Kindesmutter verheiratet war oder die Vaterschaft nicht anerkannt hatte, ein Umgangsrecht mit seinem Kind nur dann zu, wenn er eine enge Bezugsperson ist, für das Kind Verantwortung trägt oder getragen hat und der Umgang dem Kindeswohl dient. Auch wenn der Vater sich um sein Kind kümmern wollte, konnte er dies bei Weigerung der rechtlichen Eltern nicht tun. Allen Vätern, die aus welchen Gründen auch immer eine solche sozial-familiäre Beziehung nicht aufbauen konnten, blieb der Kontakt zum Kind verwehrt. Das Umgangsrecht wurde kategorisch ausgeschlossen, ohne Rücksicht darauf, ob der leibliche Vater eine Chance zur Verantwortung für das Kind hatte, und ohne Prüfung etwaiger Auswirkungen auf das Kind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2010 in dem geltenden Recht in Deutschland eine Verletzung des Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Insbesondere stellte der EGMR darüber hinaus fest, dass es jeweils einer Einzelfallentscheidung bedarf, ob der Umgang mit dem biologischen Vater dem Kindeswohl dienen würde. Die Frage, die sich uns als Gesetzgeber aufdrängte, war, wie die soziale Familie bestmöglich zu schützen ist. Von daher waren auch die Überlegungen, das Umgangsrecht von einer Vaterschaftsanfechtung abhängig zu machen, abzulehnen, da dies darauf hinausgelaufen wäre, dass der biologische Vater ein Umgangsrecht nur erlangen kann, wenn er dazu den rechtlichen Vater aus dessen Rolle verdrängt. Dies dürfte im Regelfall aber kaum dem Kindeswohl entsprechen. Von daher ist der Verzicht auf eine vorherige Anfechtungsverpflichtung des leiblichen Vaters sehr zu begrüßen. Da jedoch auch der EGMR das Kindeswohl in das Zentrum der Entscheidung gestellt hat, soll dies auch höchste Priorität für eine entsprechende Umsetzung im deutschen Recht sein. Im Interesse des Kindeswohls waren deshalb die Hürden für ein solches Umgangsrecht hoch anzusetzen. So muss der leibliche Vater zunächst an Eides statt versichern, der Kindesmutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, um missbräuchliche Behauptungen auszuschließen. Des Weiteren muss er ein ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt haben, und der Umgang muss dem Kindeswohl dienen. Dabei sollte es als selbstverständlich gelten, dass im Falle des Erleidens von Gewalt der Kindesmutter durch den leiblichen Vater wegen der damit einhergehenden seelischen Beeinträchtigung der Mutter auch ein Umgang dem Kindeswohl nicht dienen kann. Nun gibt es nach wie vor eine Meinung - auch in meiner Fraktion -, welche ein Umgangsrecht des leiblichen Vaters in Abhängigkeit zu seiner Bereitschaft, Unterhalt zu zahlen, setzen möchte, dies vor dem Hintergrund der Möglichkeit, dass bei Feststellung der leiblichen Vaterschaft eine Vaterschaftsanfechtung des rechtlichen Vaters droht. Allerdings birgt dieser Lösungsansatz gleichzeitig die Gefahr, dass der finanziell besser gestellte leibliche Vater gegenüber dem finanziell schlechter gestellten Vater privilegiert würde. Nach dem Gesetzentwurf ist ein entsprechender Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller an Eides statt versichert, der Mutter des Kindes in der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. So werden damit biologische Väter qua Samenspende ausgeschlossen, ohne dass dabei plausibel dargelegt würde, weshalb die in Rede stehenden Begehren von vornherein nur von Männern erhoben werden können sollen, die behaupten, mit der Mutter „natürlich“ verkehrt zu haben. Aber dies dürfte sich im Ergebnis jedenfalls gegenwärtig nur als theoretisches Problem darstellen mangels Kenntnissen der entsprechenden Personendaten der Beteiligten. Trotz einzelner Kritikpunkte ist der Gesetzentwurf in der Fassung des Änderungsantrags im Ergebnis zu befürworten, weil er das nach der Rechtsprechung des EGMR bestehende Recht des biologischen Vaters auf Umgang mit Nachkommen in einer insgesamt überzeugenden Weise schützt. Richtig ist insbesondere, dass das „nachhaltige“ Interesse als Voraussetzung für ein Umgangsrecht des biologischen Vaters im Änderungsantrag durch ein „ernsthaftes“ Interesse ersetzt wird. Ein grundsätzlicher Ausschluss des Umgangs wird vermieden; unter gewissen Voraussetzungen wird dem leiblichen Vater ein solcher Umgang ermöglicht, wobei gleichzeitig die soziale Familie weitestgehend geschützt wird.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In dieser Legislaturperiode hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in meh- reren Entscheidungen festgestellt, dass das deutsche Familienrecht nicht der Europäischen Menschen- rechtskonvention entspricht. Auch heute debattieren wir wieder über einen Gesetzentwurf, der die Recht- sprechung des Gerichtshofs umsetzt. Das ist eine ge- Zu Protokoll gegebene Reden sellschaftlich notwendige Fortentwicklung unseres Familienrechts. Wir alle wissen: Es gibt Familienkonstellationen, in denen der leibliche Vater eines Kindes nicht identisch ist mit dessen rechtlichem Vater. Die bisherige deut- sche Rechtslage sieht vor, dass der leibliche Vater, der keine enge Bezugsperson für sein Kind ist, kategorisch und ohne Prüfung des Kindeswohls vom Umgang mit seinem Kind ausgeschlossen ist. Dies gilt auch dann, wenn ihm der Umstand, dass er bisher keine Bezie- hung zu seinem Kind aufbauen konnte, nicht zuzurech- nen war. Beispielhaft sind die Fälle, in denen die so- ziale Familie, in der das Kind lebt, jeglichen Kontakt zwischen leiblichem Vater und Kind blockiert. Dieser Vater ist machtlos und rechtlos. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden: Das deutsche Recht muss eine Rege- lung finden, die leiblichen Vätern ermöglicht, eine Be- ziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Voraussetzung ist, dass es dem Kindeswohl entspricht. Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren, setzt diese Rechtsprechung um: Wenn es dem Kindes- wohl dient, steht dem Vater zukünftig ein Umgangs- recht zu. Wenn es dem Kindeswohl nicht widerspricht, hat er ein Recht auf Auskunft über die persönlichen Verhältnisse seines Kindes. Der leibliche Vater hat jetzt die Möglichkeit, Informationen über sein Kind zu erhalten und eine Beziehung zu seinem Kind herzustel- len. Sachgerecht ist aus unserer Sicht auch, dass der Gesetzentwurf eine abgestufte Kindeswohlprüfung vorsieht, orientiert an der Frage, ob der Vater Aus- kunfts- oder Umgangsrechte geltend macht. Und auch für das Kind ist es wichtig, dass klar geregelte Kon- taktmöglichkeiten für den Vater bestehen. Ermöglicht dies doch dem Kind, Informationen über seine Her- kunft, seine familiären Wurzeln, zu erhalten und im besten Fall eine Beziehung zu seinem leiblichen Vater aufzubauen. Und auch das Interesse der sozialen Fa- milie, Störungen des Kindesinteresses durch Außenste- hende zu vermeiden, wird berücksichtigt. Wir Grünen begrüßen, dass wir heute fraktions- übergreifend das Familienrecht weiter modernisieren. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Allerdings hätten wir uns noch mehr Modernisie- rung gewünscht. Der Gesetzentwurf aus der Regie- rungskoalition regelt die Fälle, die der konkreten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde lagen: Dies waren typische „Seitensprung-Fälle“. Die Regelung, über die wir heute debattieren, hilft Vätern weiter, die der Mutter ihres Kindes „beigewohnt“ haben. Vor kurzem hat das „Samenspende-Urteil“ des Oberlandesgerichts Hamm für Aufsehen gesorgt. Das Gericht hat festgestellt, dass ein Kind, das mithilfe ei- ner Samenspende gezeugt worden ist, das Recht hat, vom behandelnden Arzt Auskunft über die Identität des Samenspenders zu verlangen. Dieses Urteil ist mittler- weile rechtskräftig. Nun sind wir als Gesetzgeber aufgefordert, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dazu gehört die Klärung der Rechtsstellung des Samenspen- ders. Er ist es, der in diesem Fall der leibliche Vater ist. Leider blendet der heute beratene Gesetzentwurf den Komplex „Samenspende“ komplett aus. Ebenso ist die Situation des weiblichen homosexuellen Paares, dessen Kind naturgemäß auch einen männlichen leib- lichen Elternteil hat, weiter ungeklärt. Alle diese Fälle haben eines gemeinsam: Sie zeigen, dass Kinder mehr als nur zwei Elternteile haben können. In allen diesen Fällen, seien es Patchworkfamilien mit verschiedengeschlechtlichen Eltern oder Regenbogen- familien, brauchen wir klare Regeln, die die Rechte und Pflichten aller Elternteile normieren. Wir Grünen hätten uns gewünscht, dass Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Anlass nehmen, das Familien- recht insgesamt zu novellieren und konsequent weiter- zudenken. Einen wichtigen Ansatz hierfür haben Sie schon in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. Sie er- möglichen erstmals, dass zusätzlich zum rechtlichen Vater ein zweiter Vater gerichtlich festgestellt wird. Dieser zweite Vater ist der leibliche Vater. Ihr Gesetz- entwurf erkennt also an, dass Mehrelternkonstellatio- nen nicht nur im sozialen, sondern auch im rechtlichen Sinne möglich sind. Das ist ein Paradigmenwechsel, der bedeutend ist. Er ist aber auch dringend notwendig. Es wird höchste Zeit, dass wir hier im Parlament das Verhältnis von genetischer, sozialer und rechtlicher Elternschaft grundlegend neu klären. Denn alle Kinder haben die gleichen Rechte, unabhängig davon, in welcher Fami- lienkonstellation sie aufwachsen und welchen Lebens- entwurf ihre Eltern gewählt haben. Ich freue mich, dass weitere Bewegung in das über- kommene Familienrecht kommt. Nach der Reform des Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Paare und der Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters ist es nun Zeit für eine umfassende Modernisierung des Familienrechts. Wir Grünen wer- den uns weiterhin dafür einsetzen, das Familienrecht konsequent weiterzuentwickeln und an die gesell- schaftlichen Realitäten anzupassen. In der nächsten Legislaturperiode werden neue politische Mehrheiten uns das erleichtern.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zur Abstimmung liegen mehrere Erklärungen gemäß § 31 der Geschäftsordnung vor.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 17/13269, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12163 in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der 1) Anlagen 11 und 12 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, der sollte sich erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Franz Thönnes, Dr. Rolf Mützenich, Christoph Strässer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Viola von CramonTaubadel, Volker Beck ({1}), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umfassende Modernisierung und Respektierung der Menschenrechte in Aserbaidschan unabdingbar machen - Drucksachen 17/12467, 17/13177 Berichterstattung:Abgeordnete Joachim HörsterFranz ThönnesMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller ({2}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden auch hier zu Protokoll genommen.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aserbaidschan ist für Deutschland und die EU eine wichtige Brücke nach Zentralasien. Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan sind gut. Beide Länder unterhalten seit über 20 Jahren diplomatische Beziehungen und sprechen alle bilateralen Fragen offen an. Bundesaußenminister Westerwelle hat dies durch seinen Besuch in Baku im März 2012 gewürdigt und dabei auch das deutsche Interesse unterstrichen, die Beziehungen zwischen beiden Ländern in ihrer vollen Bandbreite auszubauen. Für Deutschland ist Aserbaidschan der wichtigste Wirtschaftspartner im Kaukasus und von strategischer Bedeutung für eine von Russland unabhängige Versorgung. Aserbaidschan seinerseits sieht in Deutschland einen seiner wichtigsten Partner in Westeuropa. All dies zeigt die Intensität der Beziehungen. Auch die entwicklungspolitische und kulturelle Zusammenarbeit ist hervorzuheben, ebenso eine ganze Reihe von Maßnahmen der finanziellen und technischen Zusammenarbeit. Aserbaidschan unternimmt seit Jahren Bemühungen, sich schrittweise westlichen Demokratie- und Rechtsstaatsstandards anzunähern. 2001 ist es dem Europarat beigetreten und hat sich durch seine Mitgliedschaft auch zur Achtung und Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte verpflichtet. 2009 wurde Aserbaidschan Gründungsmitglied der Östlichen Partnerschaft im Rahmen der Nachbarschaftspolitik der EU und führt seit 2010 Verhandlungen mit der EU über ein Assoziierungsabkommen. Auch dabei spielt die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten eine zentrale Rolle. Aserbaidschan hat Fortschritte beim Aufbau eines modernen demokratischen Rechtsstaates gemacht. Dies bestätigt auch der Europarat. An dieser Entwicklung hat die Unterstützung durch Deutschland und die EU erheblichen Anteil. Deutschland begleitet im Rahmen der Östlichen Partnerschaft und der Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen die aserbaidschanischen Reformbemühungen. Gleichzeitig erwarten wir weitere deutliche Verbesserungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, insbesondere bei der Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte sowie der Unabhängigkeit der Justiz, Demokratisierung und Medienfreiheit. Unbestreitbar ist, dass hier noch erheblicher Verbesserungsbedarf besteht. Dies wiederum ist dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik zu Aserbaidschan zu entnehmen. Wir müssen beständig und mit Nachdruck darauf hinwirken, dass der bisher unbefriedigende Zustand in diesem Bereich so schnell wie möglich behoben wird. Freilich kann nicht erwartet werden, dass ein Land wie Aserbaidschan mit einer völlig anderen Geschichte und Kultur in kurzer Zeit westlichen Maßstäben hinsichtlich politischer und rechtsstaatlicher Standards entsprechen kann. Bei der Frage der weiteren positiven Entwicklung Aserbaidschans spielt natürlich der Berg-KarabachKonflikt eine wichtige Rolle. Tatsache ist, dass Armenien Teile des Territoriums von Aserbaidschan militärisch besetzt hält und die aserbaidschanische Bevölkerung nicht nur aus Berg-Karabach, sondern auch aus den benachbarten Gebieten rund um Berg-Karabach vertrieben hat. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat dies in mehreren Resolutionen verurteilt und den Rückzug der armenischen Besatzungstruppen gefordert. Dies ist bis heute nicht erfolgt. Wer vom Selbstbestimmungsrecht der Menschen in Berg-Karabach spricht, der muss auch vom Selbstbestimmungsrecht der vertriebenen Aserbaidschaner sprechen. Eine friedliche Lösung dieses Konflikts, die für die Stabilität und Prosperität der Region notwendig ist, erfordert die Bereitschaft beider Seiten zu ernsthaften und entschlossenen Schritten. Dies hat Bundesaußenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Baku und Erivan Mitte März 2012 deutlich gemacht. Die Arbeit der Minsk-Gruppe der OSZE und die Bemühungen der EU leisten einen wichtigen Beitrag zu einer friedlichen Lösung. Im Hinblick auf die im Oktober dieses Jahres anstehenden Präsidentschaftswahlen wäre es des Weiteren wünschenswert, dass die angekündigte Reform des Wahlrechts vorher noch umgesetzt wird. Abschließend möchte ich feststellen: Uns muss daran gelegen sein, Aserbaidschan auf seinem Weg der Öffnung nach Westen, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Partnerschaft mit der EU weiter zu unterstützen. Der vorliegende Antrag dient diesen Zielen nicht und wird deshalb von uns abgelehnt.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass ich viele der Anliegen in dem vorliegenden Antrag teile. Der Antrag nimmt Bezug auf den Bericht zu politischen Gefangenen in Aserbaidschan, über den die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Januar entschieden hat. Auch wenn der Bericht dort insgesamt nicht die erforderliche Zustimmung erhalten hat, möchte ich doch hervorheben, dass er eine nahezu geschlossene Unterstützung sowohl von den Vertretern der antragstellenden Fraktionen der SPD und der Grünen wie auch von den Vertretern der deutschen Koalitionsparteien in der Parlamentarischen Versammlung erfahren hat. Nicht nur einzelne Mitglieder der deutschen Delegation, auch Deutschland als Ganzes ist in diesem Zusammenhang Objekt scharfer und persönlicher Angriffe von Vertretern Aserbaidschans geworden. Für uns sollte dies umso mehr Anlass sein, hinsichtlich der Wahrung der Grundprinzipien des Europarates Einigkeit zu demonstrieren. In diesem Zusammenhang ist auch die Durchführung von Wahlen von Bedeutung, gerade auch im Blick auf die Präsidentschaftswahl, die im Oktober in Aserbaidschan stattfinden wird. Nach den letzten Parlamentswahlen vom November 2010 hat die OSZE-Wahlberichterstattermission auf eine Reihe erheblicher Probleme verwiesen, die infrage stellen, ob es sich dabei um eine wirklich kompetitive Wahl handelte. Einer der wesentlichen Kritikpunkte betrifft das weitgehende Fehlen freier Medien. Wir sollten allerdings auch nicht außer Acht lassen, dass der Wahlprozess selbst friedlich und ordentlich verlief, unter Beteiligung aller politischen Parteien des Landes. Als einen weiteren Punkt möchte ich das Erfordernis einer Bewältigung des Berg-Karabach-Konflikts hervorheben. Dieser Konflikt hemmt die Entwicklung sowohl Aserbaidschans wie Armeniens. Es kommt noch immer regelmäßig zu Opfern an der Kontaktlinie. Flüchtlinge, die nicht zurückkehren können, werden vieler Lebenschancen beraubt. Und nicht zuletzt können wir auch eine - nicht selten aggressive - Vertiefung der gegenseitigen Feindbilder beobachten. Der Fall Ramil Safarov ist dafür ein besonders bestürzendes Beispiel. Dabei sind die Verhandlungen über eine Konfliktlösung in der Minsk-Gruppe weit fortgeschritten. Die Madrider Prinzipien zeichnen deren Grundzüge vor. Ich sehe dazu keine Alternative. Es kommt jetzt darauf an, deren Umsetzung endlich zu konkretisieren. Wir sollten uns aber auch nicht ausschließlich auf problematische Entwicklungen beschränken. Aserbaidschan bleibt für Deutschland ein wichtiger Partner. Das betrifft nicht nur die Bedeutung Aserbaidschans für die Energieversorgung der EU, sondern auch die Rolle Aserbaidschans in einem schwierigen geopolitischen Umfeld. Und so wenig, wie wir Abstriche an den Grundprinzipien des Europarates machen sollten, so wenig sollten wir die schwierige innen- und außenpolitischen Ausgangslage außer Acht lassen, die die Entwicklung Aserbaidschans in den vergangenen 20 Jahren bestimmt hat. Bei allen Problemen ist diese Entwicklung auch nicht ohne Erfolge geblieben. Von vielen meiner Gesprächspartner in verantwortlichen Positionen in Aserbaidschan habe ich den Eindruck, dass es weder an Problembewusstsein fehlt noch an der Absicht, die Modernisierung Aserbaidschans in wirtschaftlicher, aber auch politischer und nicht zuletzt rechtsstaatlicher Hinsicht voranzubringen. Das ist der Punkt, wo mir der vorliegende Antrag zu einseitig in der Tonlage ist. Kritik ohne Engagement, Kritik ohne Angebot birgt immer nur die Gefahr, eine selbsterfüllende Prophezeiung zu werden. Denn wo wir keine Perspektive zur Zusammenarbeit eröffnen, können wir auch nicht erwarten, dass unsere kritischen Argumente positive Resonanz finden. Im Gegenteil: Wer als Gegner wahrgenommen wird, dessen Kritik wird zwangsläufig auch nur als eine Form von Angriff wahrgenommen. In dieser Hinsicht fehlt es mir an Ausgewogenheit. Bei einer Reihe anderer Punkte hätte ich mir Gespräche über einen gemeinsamen interfraktionellen Antrag vorstellen können. Dafür hätte es mehr zeitlichen Vorlauf und eine rechtzeitige Ansprache gebraucht. So spät in der Legislaturperiode ist das jetzt nicht mehr möglich gewesen.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Grundlage unserer heutigen Debatte ist die Entwicklung in Aserbaidschan und der dazu eingebrachte gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Aserbaidschan vollzieht seit seiner Unabhängigkeit eine betont westlich orientierte Außenpolitik und hat enge und vielfältige Beziehungen zur Europäischen Union. Seit 2009 verläuft der Großteil dieser Zusammenarbeit im Rahmen der Östlichen Partnerschaft. Diese Form der europäischen Nachbarschaftspolitik zielt auf eine weitreichende Annäherung zwischen den Partnerländern und unterstützt dort umfassende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen. Seit dem Jahr 2010 wird über ein Assoziierungsabkommen mit dem Ziel einer vertieften partnerschaftliZu Protokoll gegebene Reden chen Kooperation verhandelt. Innerhalb der EU ist Deutschland einer der wichtigsten Partner für Aserbaidschan. Für die Weiterentwicklung und Vertiefung der Beziehungen und die weitere Stabilität Aserbaidchans ist aus unserer Sicht aber eine Intensivierung der Aktivitäten für eine umfassende Modernisierung erforderlich. Dies gilt insbesondere im politischen und gesellschaftlichen Bereich. Am 16. Oktober 2013 finden die Präsidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber Ilham Alijew, der schon die Wahlen von 2003 und 2008 gewonnen hatte, tritt zum dritten Mal an. Dies ist nach zweimaliger Wahl für ihn nur möglich, weil durch ein Referendum 2009 die Amtsbegrenzung des Präsidenten aufgehoben wurde. Im internationalen Beobachterkreis geht man davon aus, dass er auch diesmal wiedergewählt wird. Das Präsidentenamt in Aserbaidschan ist geprägt von weitreichenden Vollmachten. So ernennt und entlässt das Staatsoberhaupt den Ministerpräsidenten und die Minister, die allein ihm verantwortlich sind. Dem Parlament gegenüber muss er sich nicht rechtfertigen, ja er kann es sogar auflösen. Und er kann Rechtsverordnungen erlassen, hat das Vorschlagsrecht für die Ernennung aller Richter und setzt die Verwaltungschefs der 66 Provinzen ein. Die Nationalversammlung wird als ein faktisch machtloses Einkammerparlament mit 125 Abgeordneten, die nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt werden, eingeschätzt. Hier hat die Regierungspartei Neues Aserbaidschan, YAP, mit 72 Sitzen die Mehrheit. Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre sowie die stattgefundenen Wahlen zeigen auch vor dem Hintergrund von Wahlbeobachtungsmissionen, dass es de facto in diesen beiden Jahrzehnten keine freien und unabhängigen Wahlen gegeben hat. Wir sehen es sehr kritisch, dass weder in den Bereichen Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit in der zurückliegenden Zeit wirklich nennenswerte Fortschritte erfolgt sind oder dass nachhaltige Schritte in diese Richtung erkennbar gewesen wären. Leider sehen wir mit Sorge zunehmend einen autoritären Kurs der aserbaidschanischen Regierung mit systematischer Unterdrückung der Opposition. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 und auch bei der Parlamentswahl 2010 gab es schwerwiegende Verstöße gegen die internationalen Standards. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, kritisierte erhebliche Unregelmäßigkeiten und Manipulationen vor, während und nach den Wahlgängen. Dies gilt insbesondere für die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Behinderung der unabhängigen Berichterstattung und die Benachteiligung von oppositionellen Kandidatinnen und Kandidaten. Die von Präsident Alijew 2009 durchgesetzte Möglichkeit zur unbegrenzten Verlängerung seiner Amtszeit ist als schwerer Rückschlag für die Demokratisierung Aserbaidschans zu werten. Die internationale Gemeinschaft ist also aufgerufen, sich vor den anstehenden Wahlen frühzeitig darum zu bemühen, dass demokratische Verfahren strikt eingehalten und durch die OSZE überwacht werden. Leider verstärken sich nämlich auch die Anzeichen dafür, dass der Status der OSZE herabgestuft werden soll, um ihr das Mandat zur Wahlbeobachtung im Oktober zu entziehen. Aserbaidschan benötigt für eine umfassende Modernisierung eine selbstbewusste und vielfältige Zivilgesellschaft. Doch auch hier müssen wir feststellen, dass sich die Menschenrechtslage in den letzten Jahren weiter verschlechtert hat. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt, und regierungskritische Kundgebungen werden nicht genehmigt. Proteste werden häufig gewaltsam aufgelöst, die Teilnehmer verhaftet und in verkürzten Verfahren zu längeren Haftstrafen verurteilt. Immer häufiger trifft es vor allem Jugend- und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Mit großer Sorge sehen wir auch Berichte aus dem Land, die uns über Misshandlungen und Folter von Inhaftierten, leider auch mit Todesfolge, informieren. Nichtregierungsorganisationen, NGOs, und oppositionelle Parteien haben große Schwierigkeiten bei ihrer Registrierung, was zu faktischer Arbeitsunfähigkeit führt. Seit dem 1. März 2013 müssen nach dem sogenannten Grant-Gesetz inländische NGOs jede Förderung über 200 Manat - das entspricht circa 200 Euro bei den staatlichen Finanzbehörden anzeigen. Und sie dürfen nur von registrierten Organisationen Gelder empfangen. Da aber die meisten internationalen Akteure nach wie vor nicht registriert sind, ist eine effektive zivilgesellschaftliche Aktivität nahezu unmöglich. Im weltweiten Vergleich in der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen steht Aserbaidschan auf Platz 162 von 179. Fernseh- und Radiosender werden vom Staat umfassend kontrolliert. Behörden behindern Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Arbeit. Häufig werden sie mit willkürlichen Verhaftungen und Misshandlungen bedroht, massiv bedrängt; ihre Ausrüstung wird beschlagnahmt oder gar zerstört. Ebenso kommt es zu Verurteilungen in unter Vorwänden begründeten, politisch motivierten Prozessen. Entscheidend für die politische und langfristige wirtschaftliche Modernisierung Aserbaidschans ist die Unabhängigkeit des Justizwesens, sowohl bei der Auswahl der Richter als auch bei der Urteilsfindung. Für ein souveränes, berechenbares und transparentes Rechtssystem sind umfassende rechtsstaatliche Reformen dringend erforderlich. Die notwendige ökonomische Modernisierung sowie eine breitere Aufstellung seiner Wirtschaft kann Aserbaidschan aus eigener Kraft alleine nicht leisten. Unterstützung ist hier geboten; denn wir sind über verschiedenste Kooperationen verbunden. Zu Protokoll gegebene Reden Für die EU gehört das Land zu den bedeutendsten Lieferanten und wichtigsten Transitländern fossiler Rohstoffe, und ihre Mitgliedstaaten sind seine wichtigsten Handelspartner und Abnehmer von Exportgütern. Immer noch setzt Aserbaidschan jedoch einseitig auf Abschöpfung von Gewinnen aus dem Rohstoffexport statt auf Nachhaltigkeit. Viele Industrieanlagen sind marode; die Infrastruktur ist veraltet; ganze Industriezweige liegen brach. Die mangelnde Bekämpfung von struktureller Korruption und Klüngelwirtschaft behindern die wettbewerbsorientierte Weiterentwicklung der Wirtschaft und die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich. Auch in der Bevölkerung ist eine zunehmende Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage zu spüren. Das Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem in Aserbaidschan bedarf dringend einer grundlegenden Reform. Hier herrscht ebenfalls Korruption statt sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Von den Einnahmen aus den Rohstoffexporten profitiert vor allem ein kleiner Kreis autokratischer Eliten. Die Bevölkerung hat so gut wie nichts davon. Die wachsenden privaten Bildungsangebote kann kaum jemand bezahlen, und die Qualität der öffentlichen Bildung sinkt. Die Gesundheitsversorgung ist für den Großteil der Bevölkerung mangelhaft. Schließlich ist der andauernde Konflikt mit Armenien um Berg-Karabach eine große Belastung für jegliche Modernisierungsbemühungen. Das manifestiert sich durch die massive Aufrüstung und die laufende Kriegsrhetorik der Konfliktparteien. Aus unserer Sicht gilt hier: Nur die Erarbeitung einer langfristigen Friedenslösung, die Aserbaidschan und den Menschen in der Region Berg-Karabach gerecht wird, kann den Konflikt lösen. Der jahrelange Stillstand der Verhandlungen gibt jedoch zu Befürchtungen Anlass, dass die Bereitschaft zur Konfliktlösung auf beiden Seiten eher unzureichend hierfür ist. Der derzeitige politische Kurs der aserbaidschanischen Regierung steht leider dem Ausbau der Zusammenarbeit mit der EU im Weg. Denn auch nach dem 2001 erfolgten Beitritt Aserbaidschans zum Europarat bleiben Zweifel an der Respektierung und Umsetzung der Werte, die in der dortigen Satzung festgeschrieben sind. Das Land muss sich, wie alle anderen auch, messen lassen an der Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten sowie der Einhaltung von demokratischen und rechtsstaatlichen Standards. Eine weitere Annäherung an die europäische Wertegemeinschaft kann es daher nur mit eingehenden politischen Reformen und der aktiven Bereitschaft zum gesellschaftlichen Wandel im Land geben. Im bilateralen wie europäischen Dialog müssen wir dies deutlich entschiedener einfordern. Und die Kräfte in Aserbaidschan, die sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten bekennen, verdienen unsere Unterstützung durch die stärkere Förderung des grenzüberschreitenden Austauschs. Wir haben in unserem gemeinsamen Antrag 18 konkrete Forderungen an die Bundesregierung formuliert, die zu einer umfassenden Modernisierung und Respektierung der Menschenrechte in Aserbaidschan beitragen sollen. Darunter sind unter anderem: das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten der EU bei Maßnahmen zur Behebung rechtsstaatlicher Defizite sowie Schritte zur Demokratisierung und Stärkung der Zivilgesellschaft. Dazu gehört auch das gemeinsame Drängen, dass die aserbaidschanische Regierung bereits ausgehandelte Teile des Assoziierungsabkommens mit der EU einhält bzw. umsetzt. Gemeinsam müssen wir Aserbaidschan auf seine mit der Mitgliedschaft im Europarat und in der OSZE übernommenen Verpflichtungen hinweisen; das gilt auch für die Durchführung einer Langzeit-Wahlbeobachtungsmission bei den bevorstehenden Wahlen. Neben einer bilateralen und internationalen Kooperation zur Förderung der Pressefreiheit müssen wir uns auf höchster politischer Ebene für die sofortige Freilassung und Rehabilitierung inhaftierter Medienvertreterinnen und -vertreter und aller politischen Gefangenen einsetzen. Und wir sollten unsere Besorgnis über die zunehmende Inhaftierung von Jugend- und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie über die Misshandlung durch Staatsbedienstete noch deutlicher ausdrücken. Des Weiteren sollte Aserbaidschan mehr Mittel in die öffentliche Bildung investieren, die Korruption hier ernsthaft und gezielt bekämpfen und die Qualität insgesamt für alle steigern. Studierende, die wegen ihres Eintretens für europäische Werte zwangsexmatrikuliert wurden, sollten innerhalb der EU Studienmöglichkeiten und Stipendien erhalten. Zur Förderung intensiverer Kontakte der aserbaidschanischen Bevölkerung mit EU-Bürgern plädieren wir auf europäischer Ebene für eine Lockerung der Visabestimmungen, um insbesondere den zivilgesellschaftlichen Austausch und die Begegnungen mit den Demokratien Europas zu fördern. Natürlich bleiben Sicherheitsinteressen dabei beachtet. Schon jetzt sollten jedoch bei der Visavergabe von den deutschen Auslandsvertretungen vorhandene Spielräume des geltenden EU-Rechts offensiv genutzt werden. Den wirtschaftlichen Fortschritt wollen wir durch die Förderung von Alternativen zum Export fossiler Rohstoffe, den Ausbau erneuerbarer Energien und die Erhöhung der Energieeffizienz unterstützen, mit Kooperationsprojekten sowie Wissens- und Technologietransfer. Auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit muss entschiedener auf Fortschritte im Bereich der Menschenrechte, bei der Demokratisierung sowie der Rechtsstaatlichkeit gedrängt werden. Zu Protokoll gegebene Reden All dies würde Aserbaidschan und die Europäische Union näher zusammenbringen und der friedlichen, demokratischen Entwicklung zum Vorteil der Menschen im südöstlichen Teil unseres Kontinents dienen.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im letzten Jahr haben wir das 20. Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan begangen. Deutschland hat sich stets als konstruktiver Partner Aserbaidschans verstanden, der auch problematische Entwicklungen offen anspricht. Der Antrag befasst sich sowohl mit der außenpolitischen Rolle Aserbaidschans im Südkaukasus als auch mit den innen- und menschenrechtspolitischen Problemen Aserbaidschans. Sicherlich greift der Antrag manchen wichtigen Kritikpunkt auf. Allerdings unterschlägt er auch sämtliche Anstrengungen der Bundesregierung, zu Menschenrechten, Pressefreiheit und auch wirtschaftlicher Modernisierung in Aserbaidschan beizutragen. Das ist nicht akzeptabel. Ich beginne zunächst mit der Außenpolitik. Was Deutschlands Rolle beim Berg-Karabach-Konflikt anbelangt, so fordert die Bundesregierung gemeinsam mit den EU-Partnern sowie den Staaten der MinskGruppe beide Konfliktparteien zur Mäßigung und zur Aufnahme eines substanziellen Dialogs auf. Die entscheidenden Impulse müssen aber von innen heraus kommen und können nicht von außen erzwungen werden. Dass eine Lösung dieses Konflikts für die Stabilität der Region des Südkaukasus von zentraler Bedeutung ist, darüber besteht innerhalb des Deutschen Bundestages wohl kein Dissens. Nur: Der Ball liegt hier bei den Armeniern und Aserbaidschanern. Nun zum bilateralen Verhältnis zwischen Deutschland und Aserbaidschan: In der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und Deutschland liegen die Schwerpunkte in den Bereichen nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft außerhalb des Öl- und Gassektors, Schutz der Biodiversität, erneuerbare Energien sowie Kommunalentwicklung und Rechtsstaatlichkeit. Deutschland ist für Aserbaidschan beispielsweise im Bereich der erneuerbaren Energien ein wichtiger Partner. So wurde 2010 der erste Windpark in Aserbaidschan unter Beteiligung von deutschen Unternehmen fertiggestellt; weitere Projekte sind geplant. Die von SPD und Grünen im Antrag formulierte Aufforderung, solche Projekte zu fördern, ist somit überholt. Schließlich zur innenpolitischen Situation Aserbaidschans: Die EU führt mit Aserbaidschan einen Menschenrechtsdialog im Rahmen des Unterausschusses Menschenrechte des Europäischen Parlaments, und seit seiner Aufnahme in den Europarat 2001 unterliegt Aserbaidschan einem Sondermonitoring durch das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Dass die Regierung Aserbaidschans einen Besuch des Sonderberichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, dem Bundestagsabgeordneten Christoph Strässer, bisher verhindert hat, ist nicht akzeptabel. Auch die gegen die deutsche Delegation durch den Vorsitzenden der aserbaidschanischen Delegation beim Europarat, Elkhan Suleymanov, vorgebrachten Unterstellungen, unter anderem Erpressung und Bedrohung, sind inakzeptabel. Die Regierung in Baku muss wissen, dass sie durch Verweigerung eines Dialogs Zweifel an ihrer Menschenrechtspolitik nicht ausräumen kann. Aserbaidschan hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Jetzt muss es sie auch einhalten. Auch in bilateralen Gesprächen wird die Menschenrechtslage durch Mitglieder der Bundesregierung kontinuierlich angesprochen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, hat sich zu Recht mehrfach für die Freilassung von inhaftierten Demonstranten eingesetzt. Bei seinem Besuch im vergangenen Jahr hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, sich auch mit Menschenrechtsorganisationen getroffen und bei den entsprechenden Gesprächen die Menschenrechtslage sowie die Pressefreiheit in Aserbaidschan thematisiert, ebenso wie viele Mitglieder des Deutschen Bundestages. Die Begnadigung politischer Gefangener im Jahr 2012 wurde andererseits nicht nur in Deutschland als ein Signal der aserbaidschanischen Regierung für den Willen zu mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und zum Schutz der Menschenrechte gewertet. Wir haben in diesem Parlament mehr als einmal deutlich gemacht, dass Aserbaidschan noch einen weiten Weg zu gehen hat und weitere Reformen notwendig sind. Gerade im letzten Jahr ist diese Diskussion auch öffentlich intensiv geführt worden. Gleichzeitig hat die Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse daran, über Kontakte das Bewusstsein für diese Fragen zu stärken und in Gesprächen immer wieder auf Veränderungen zu drängen. Die Beziehungen zu Aserbaidschan sind vielfältig und vom Interesse geprägt, die Situation in der Region zu befrieden, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen und zu einer guten, tragfähigen und dauerhaften Zusammenarbeit zu kommen. Mit der einseitigen Beschäftigung des Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Aserbaidschan wird man den Anforderungen deutscher Außenpolitik nicht gerecht. Denn es bleibt festzuhalten, dass auch andere Länder in der Region, wie beispielsweise Armenien, noch weiteren Entwicklungsbedarf in Fragen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten haben.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Bundestag hat sich in den zurückliegenden Jahren bereits intensiv mit der Situation der Menschenrechte in Aserbaidschan beschäftigt. Auch Die Linke hat in dieser Wahlperiode einen eigenen Antrag eingebracht, der sich ganzheitlich und kritisch mit der Menschenrechtslage in allen drei Südkaukasus-Republiken auseinandersetzt. Die Situation in Armenien und GeZu Protokoll gegebene Reden orgien ist nämlich aus unserer Sicht keineswegs zufriedenstellender als in Aserbaidschan. SPD und Grüne haben seinerzeit unseren Antrag abgelehnt und beschränken sich in ihrem aktuellen gemeinsamen Antrag auf Aserbaidschan. Darin offenbaren sich nicht nur unterschiedliche politische Herangehensweisen, regionalspezifisch versus länderspezifisch, bei diesem Thema. Der rot-grüne Antrag blickt vor allem hochgradig selektiv auf die komplexe Situation in Aserbaidschan, indem er ausschließlich Defizite thematisiert. Dadurch entsteht praktisch der Eindruck, als herrsche dort eine der finstersten Diktaturen der Welt, der irgendwie zu Leibe gerückt werden müsse. Ein kritischer Menschenrechtsdialog kann so jedenfalls nicht geführt werden, hierfür müsste eine differenzierte Gesamtbilanz der Situation gezogen werden. Die gesellschaftlichen Realitäten werden zudem an zahlreichen Stellen fehlerhaft beschrieben. Das liegt unter anderem daran, dass dem Antrag eine zu dünne Informationsbasis zugrunde liegt. Rot-Grün akzeptiert beim Thema Aserbaidschan bekanntlich nur das, was der eigenen Weltsicht entspricht. Der Antrag ist somit ideologisch gefärbt. SPD und Grüne schenken nur denjenigen Informationsquellen Glauben, die sie in ihrer eigenen Meinung bestätigen. Dabei handelt es sich meist um einzelne Dissidentinnen und Dissidenten, die im Ausland leben oder Vorträge halten. Natürlich müssen auch radikal-kritische Stimmen bei der Informationsgewinnung Berücksichtigung finden, dies allein reicht allerdings nicht aus. Um sich einen objektiven Eindruck von der komplexen Lage in Aserbaidschan zu verschaffen, muss mit möglichst vielen unterschiedlichen Kräften kommuniziert werden: sowohl mit Vertreterinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und der konstruktiv-kritischen Opposition, aber auch mit der amtierenden Regierung und regimekonformen Gruppen. Das ist von grundsätzlicher Bedeutung, nicht nur im Fall Aserbaidschans. Es ist für Fortschritte bei Menschenrechten und Demokratie unerlässlich, insbesondere auch mit denjenigen politischen Entscheidungsträgern zu reden, die die Situation real beeinflussen können, eben weil sie an der Macht sind. Das Alijew-Regime ist jedenfalls kein monolithischer Block, der nur aus Betonköpfen besteht. Anstelle die Türen für Gespräche zuzuknallen, wie dies Rot-Grün macht, müsste mit Aserbaidschan ein offener und kritischer Dialog gesucht werden. Menschenrechte haben eine zivile Logik und können nur durch innergesellschaftliche Konsensbildungsprozesse durchgesetzt werden. Deshalb spricht sich Die Linke auch stets gegen Sanktionen und für Dialog aus. Menschenrechte können nicht von außen aufgepfropft und schon gar nicht mit militärischen Mitteln im Rahmen sogenannter humanitärer Interventionen erzwungen werden. Und dass sich ausgerechnet SPD und Grüne als Anwältinnen bzw. Anwälte der Menschenrechte in Aserbaidschan profilieren wollen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wer in seiner gemeinsamen Regierungszeit im eigenen Land mit der Agenda 2010 einen systematischen Raubbau vor allem an den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten der Schwachen in der Gesellschaft getrieben hat, der sollte sich besser zurückhalten, andere Länder zu belehren. Rot-Grün ist menschenrechtspolitisch genauso unglaubwürdig wie die amtierende Bundesregierung. Es spricht Bände, wenn Rot-Grün allen Ernstes die Ansicht vertritt, dass für eine weitere Annäherung Aserbaidschans an die Europäische Union zunächst Bedingungen diktiert werden könnten. Woher nehmen SPD und Grüne eigentlich die Gewissheit, dass eine Annäherung an die EU für Aserbaidschan überhaupt Priorität habe? Das Land ist ja nicht nur seit 2011 auch offiziell Mitglied der Bewegung blockfreier Staaten, sondern verfolgt vor dem Hintergrund seiner gewachsenen ökonomischen Stärke bereits seit geraumer Zeit eine selbstbewusste, ausbalancierte Außenpolitik. Und angesichts ihres missratenen Krisenmanagements dürfte die EU erheblich an Attraktivität für andere Länder eingebüßt haben. Worin soll für Aserbaidschan der Anreiz liegen, sich der EU weiter anzunähern? Eine Beitrittsperspektive ist nicht vorgesehen, und mit Blick auf die Versorgungssicherheit mit Erdöl und Erdgas ist die EU jedenfalls Bittstellerin bei Aserbaidschan und nicht umgekehrt. Hinter dieser unrealistischen Konditionierung der europäisch-aserbaidschanischen Beziehungen steckt allerdings die altbekannte politische Vorstellung, dass sich andere Länder der EU möglichst bedingungslos unterordnen und haargenau das europäische Demokratiemodell bei sich einführen sollten. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die wilhelminisch-imperiale Maxime von „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ - nur in einer zeitgemäß mit Menschenrechten garnierten, eurozentrischen Version. Das sind des Kaisers neue Kleider, die imperiale Politik ist allerdings die alte geblieben. Rot-Grün verkennt ebenfalls, dass Demokratisierungsprozesse in der Regel längere Zeiträume beanspruchen. Die postsowjetischen Transformationsländer sind erst seit etwas mehr als 20 Jahren unabhängig. Auch die heutigen westeuropäischen Demokratien haben für die Etablierung von demokratischen und menschenrechtlichen Standards wesentlich längere Zeit benötigt. Demokratieentwicklung ist zudem kein geradliniger Prozess. Es kann mitunter auch Rückschläge geben, wie dies aktuell am Beispiel des EU-Mitglieds Ungarn beobachtet werden kann. Deshalb müssen bei der Gesamtbeurteilung der Menschenrechtssituation in Transformationsgesellschaften Erfolge wie Misserfolge gleichermaßen Berücksichtigung finden und auf überprüfbaren Fakten basieren. Die Beschreibung der wirtschaftlichen und sozialen Lage, wonach in Aserbaidschan außerhalb des Ölsektors praktisch ganze Produktionszweige brach lägen, hat mit der Realität nichts zu tun. Das Gegenteil ist richtig: Die Volkswirtschaft entwickelt sich sehr dynamisch, gerade auch außerhalb des Energiesektors. Laut Angaben der Weltbank konnte dadurch der Anteil derjenigen, die unter 1,25 Dollar pro Tag zur VerfüZu Protokoll gegebene Reden gung haben, bis zum Jahr 2008 auf 4 Prozent gedrückt werden. Auch der sogenannte Gini-Koeffizient, der die soziale Ungleichheitsverteilung misst, weist einen rückläufigen Trend auf. Die aktuellen Werte dürften vermutlich noch deutlich besser sein, da die Weltbank ihre Daten seit 2008 nicht aktualisiert hat und in den zurückliegenden drei Jahren die staatliche Sozialpolitik nochmals massiv ausgeweitet wurde. Die Armut ist deutlich zurückgegangen, und die Masseneinkommen haben zugelegt. Obzwar durchaus weitere Umverteilungsspielräume existieren, hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen spürbar verbessert. Anlass zu berechtigter Kritik an Aserbaidschan bietet hingegen die Situation bei bestimmten bürgerlichen und politischen Menschenrechten, insbesondere die Einschränkungen bei der Versammlungs- und Pressefreiheit, die noch nicht ausreichenden demokratischen Standards bei politischen Wahlen und die Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz. Korruption ist ebenfalls weit verbreitet. In diesen Bereichen sind zweifellos Verbesserungen vonnöten. Bezeichnenderweise fehlen im rot-grünen Antrag aber Aussagen zum bürgerlichen Recht auf Religionsfreiheit. Aserbaidschan ist eines der wenigen traditionell mehrheitlich muslimisch geprägten Länder, in denen der Bau von neuen Kirchen und Synagogen ermöglicht wird. Die säkulare Identität der aserbaidschanischen Gesellschaft und das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen konnten trotz des schwierigen geopolitischen Umfelds und der anhaltenden militärischen Besatzung von Teilen des aserbaidschanischen Staatsgebiets durch Armenien aufrechterhalten werden. Das ist keineswegs selbstverständlich und sollte daher mit Nachdruck gewürdigt werden. Insgesamt bestehen zwischen dem rot-grünen Antrag und unserem eigenen Antrag gravierende Unterschiede in der inhaltlichen Bewertung und strategischen Ausrichtung. Die rot-grüne Holzhammermethode wird auch in diesem Fall versagen. Deshalb kann Die Linke diesen Antrag nur ablehnen.

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit dem vorliegenden Grünen-Antrag möchten wir die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan stärker von dringend notwendigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen abhängig machen. Wir freuen uns, dass sich die SPD diesem Anliegen angeschlossen hat. Wir sind überzeugt davon, dass die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der EU und Aserbaidschan in beiderseitigem Interesse ist. Entscheidend hierfür wird die ernsthafte Bereitschaft Aserbaidschans zur Demokratisierung des Landes und zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit sein. Die systematische Unterdrückung von Grund- und Menschenrechten durch die aserbaidschanische Führung muss ein Ende haben. Aserbaidschan ist aufgrund seiner Einnahmen aus der Ölförderung kein armes Land. Es ist wirtschaftlich interessant für Europa. Davon zeugt auch die Eröffnung einer deutschen Außenhandelskammer in Baku im November 2012. Die AHK Aserbaidschan vertritt über 130 deutsche und aserbaidschanische Mitgliedsunternehmen im jeweiligen anderen Land. Sie sollte die Diversifizierung der aserbaidschanischen Wirtschaft vorantreiben, die bislang nahezu vollständig vom Rohstoffexport abhängig ist. Kooperationsprojekte zum Beispiel im Bereich erneuerbarer Energien und Energieeffizienz sind denkbar und wünschenswert. Leider beschränkt sich die regierende Elite darauf, die Gewinne aus den Rohstoffexporten abzuschöpfen, während andere Wirtschaftszweige brachliegen oder zunehmend verfallen. Korruption ist systemimmanent und nimmt erschreckende Dimensionen an. Ein erheblicher Mangel an Rechtssicherheit steht bislang umfangreicheren ausländischen Investitionen entgegen. Wir wissen, dass der ungelöste Konflikt um BergKarabach ein Hemmschuh ist bei der Entwicklung Aserbaidschans. Wir bedauern den Stillstand in den Verhandlungen der OSZE-Minsk-Gruppe und fordern hier ein entschlosseneres Engagement Deutschlands und der EU. Jedoch müssen alle Konfliktparteien ehrliche Kompromissbereitschaft zeigen, statt sich weiterhin in der Reproduktion nationalistischer Feindbilder zu überbieten. Am stärksten steht einem modernen und fortschrittlichen Aserbaidschan jedoch der Umgang mit Grundund Menschenrechten entgegen. Hier hat sich die Lage im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Daher begrüßen wir, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates am 23. Januar 2013 mit großer Mehrheit eine Resolution angenommen hat, die die Mängel im Bereich der Demokratie, des Rechtswesens und der Korruptionsbekämpfung aufzeigt. Die Situation der politischen Gefangenen, Misshandlungen und Folter, die Einschränkung von Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit werden ebenso kritisiert wie Defizite bei der Gewissens- und Religionsfreiheit. Aserbaidschan hat sich - mit seiner Mitgliedschaft im Europarat - selbst verpflichtet, europäische Standards einzuhalten und derartige Defizite zu beseitigen. Bisher aber konnten leider keine Fortschritte in diesen Bereichen festgestellt werden - im Gegenteil. Wir beobachten das Austrocknen der Oppositionszeitung „Azadliq“. Des Weiteren beklagt das Institut für die Freiheit und Sicherheit von Reportern, IRFS, in Baku die Ergänzungen am Art. 58 der aserbaidschanischen Verfassung, der das Recht auf Gründung von Nichtregierungsorganisationen regelt. Dadurch sind NGOs in ihrer Existenz bedroht. Am 10. April 2013 wurde die Free Thought University, AFU, in Baku ohne Angabe von Gründen durch die Staatsanwaltschaft geschlossen. Vorlesungen und Seminare zu Demokratie und Geschichte wurden hier seit 2009 durchgeführt. Wir verurteilen die Schließung Zu Protokoll gegebene Reden dieser Einrichtung in aller Schärfe! Denn gerade der öffentliche Bildungssektor muss gestärkt, vor allem nichttechnische Studiengänge von der Regierung gefördert werden. Die Korruption im Bildungssektor muss bekämpft werden, um die Teilhabemöglichkeiten derjenigen zu erhöhen, die studieren möchten, horrende Bestechungsgelder aber nicht zahlen wollen oder können. Nachdem die aserbaidschanische Regierung durch massives Lobbying das Zustandekommen einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung, PV, des Europarates zu politischen Gefangenen in Aserbaidschan verhindert hat, befinden sich weiterhin zahlreiche Personen aufgrund ihrer politischen Überzeugung in Haft. Und es werden wieder mehr. So wurden am 4. Februar 2013 der aserbaidschanische Oppositionsführer Ilqar Mammadow von der REALBewegung und Tofiq Yaqublu von Musavat verhaftet. Amnesty International und Human Rights Watch haben diese Verhaftungen verurteilt; Thorbjorn Jagland, der Generalsekretär des Europarates, hat Kontakt zu den Anwälten der Inhaftierten aufgenommen. Wir verfolgen die politische Entwicklung in Aserbaidschan mit größter Aufmerksamkeit und zeigen uns solidarisch mit unterdrückten Demokratieaktivisten und -aktivistinnen. Wir müssen deshalb Projekte wie Meydan TV unterstützen, einen unabhängigen Sender, den der bekannte aserbaidschanische Blogger und Dissident Emin Milli und andere aserbaidschanische Aktivisten und Aktivistinnen in Berlin ins Leben gerufen haben. Der Sender soll zunächst über Internet, später über Satellit nach Aserbaidschan senden und einen „Raum für demokratische Meinungsbildung“ bieten, „denn ein freies Fernsehen ist die größte Gefahr für eine Diktatur“, so Emin Milli. Am 12. Februar 2013 wurden zwei Aktivisten, die für das Election Monitoring and Democracy Studies Center, EMDS, eine Schulung zur zivilgesellschaftlichen Wahlbeobachtung durchführten, polizeilich bedroht. Das EMDS ist Mitglied der Initiative EPDE, Europäische Plattform für Demokratische Wahlen. Die Präsidentschaftswahlen in Aserbaidschan sollen am 16. Oktober 2013 stattfinden. Da es seit 20 Jahren in diesem Land keine freien Wahlen gegeben hat, ist eine umfassende und langfristige Wahlbeobachtung extrem wichtig. Die internationale Gemeinschaft sollte sich frühzeitig darum bemühen, dass demokratische Verfahren strikt eingehalten und durch die OSZE, insbesondere im Rahmen einer Langzeit-Wahlbeobachtungsmission, überwacht werden. Bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates haben wir - mit Ausnahme der Linken - fraktionsübergreifend feststellen müssen, dass es in Aserbaidschan im Bereich der Menschenrechte seit Dezember 2011 keine Verbesserung gegeben hat. Zwar wurden im Januar 2013 einige Gefangene amnestiert, aber das ist keine systemische oder strukturelle Verbesserung. Wir befürchten, dass sich die Situation in Aserbaidschan bis zu den Wahlen im Oktober 2013 weiter verschlechtern und der Druck auf kritische Stimmen noch zunehmen wird. Daher werbe ich überfraktionell dafür, die Bundesregierung aufzufordern, eine entschlossenere Haltung gegenüber dem autoritären Kurs der aserbaidschanischen Regierung einzunehmen. Dabei sollte sie sich für ein abgestimmtes Agieren der Europäischen Union im Umgang mit Aserbaidschan starkmachen. Deutlich werden muss: Einen weiteren Ausbau der Zusammenarbeit kann es nur geben, wenn Grund- und Menschenrechte gewahrt sowie eine ernsthafte Bereitschaft zu tiefgreifenden Reformen erkennbar wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13177, den Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Drucksache 17/12013 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/13270 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert GeisAnsgar HevelingBurkhard LischkaStephan ThomaeHalina WawzyniakJerzy Montag Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Umsetzung einer EU-Richtlinie in deutsches Recht wird oft als komplizierter und bürokratischer Vorgang dargestellt. Aus „Brüssel“ kommen die Vorlagen und Vorschriften, an denen sich „Berlin“ abarbeiten muss. In manchen Fällen mag das auch durchaus der Fall sein. Doch der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Beispiel dafür, dass die Umsetzung einer EURichtlinie nicht zwangsläufig ein komplizierter oder unbequemer Vorgang sein muss. In diesem Fall schaffen wir damit eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung von Künstlern und Kreativen, die gleichzeitig für eine Harmonisierung der rechtlichen Bedingungen von Urhebern innerhalb der Europäischen Union sorgt. Wir werden mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes die Richtlinie endgültig umsetzen und somit die Verlängerung der Schutzdauer von Rechten ausübender Künstler und Tonträgerhersteller von 50 auf 70 Jahre beschließen. Mit der Gesetzesänderung erreichen wir vor allem drei Ziele. Zunächst setzen wir die Richtlinie 2011/77/EU über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte um. Sie nimmt die Anpassung einer im Jahr 2006 vorgelegten Richtlinie vor. Bei der Harmonisierung der Schutzdauer von Musikkompositionen mit Text knüpft die Richtlinie dabei an eine vergleichbare Bestimmung zu Filmwerken- und audiovisuellen Werken in der Schutzdauerrichtlinie an. Die vorliegende Gesetzesänderung, die wir heute abschließend beraten, ist damit im Wesentlichen technischer Natur. So schaffen wir auf EU-einheitlicher Ebene ein angemessenes Schutzniveau für Künstler, das in deutschem Recht bisher nicht besteht. Dies ist eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung von Künstlern sowie zur Weiterentwicklung des deutschen Urheberrechts. Bisher erloschen die Rechte 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung beziehungsweise der ersten öffentlichen Wiedergabe. Mit der neuen Regelung erlöschen die Rechte an den Aufzeichnungen auf einem Tonträger nach nunmehr 70 Jahren. Außerdem erhalten die Künstler durch diese Gesetzesänderung eine bessere Teilhabe an den Einnahmen, die durch ihre ausschließlichen Rechte erzielt wurden. So wollen wir gewährleisten, dass der ausübende Künstler an den Einnahmen beteiligt wird, die der Tonträgerhersteller aus der durch die Verlängerung der Schutzdauer weiterhin möglichen Verwertung von Tonträgern erzielt. Schließlich beseitigen wir durch die Umsetzung der EU-Richtlinie Harmonisierungslücken, die zwischen den Mitgliedstaaten bei der Schutzdauer von Urheberrechten bestanden haben. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen des Gesetzentwurfs gab es noch Änderungsbedarf mit Blick auf die Rechte von Künstlergruppen. Für Orchester etwa war offen, ob und wie sie von einem Kündigungsrecht, das für einzelne Urheber besteht, Gebrauch machen können. Daher haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP einen gemeinsamen Änderungsantrag vorgelegt, um auch solchen Künstlergruppen die Kündigungsmöglichkeit einzuräumen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Somit haben nun nicht nur einzelne Künstler, sondern auch Gruppen von Künstlern einfacher die Möglichkeit, einen Vertrag mit einem Werkmittler zu kündigen, wenn Werke nicht zum Verkauf angeboten werden. Zudem wird in dem Gesetzentwurf durch die darin vorgesehene Übergangsregelung in § 137 m des Urheberrechtsgesetzes sichergestellt, dass der Zuwachs, der bei Musikkompositionen mit Text durch den wiederauflebenden Schutz von einer bereits gemeinfreien Komponente entstehen kann, dem jeweiligen Urheber zusteht. Das vorgesehene Wiederaufleben der Rechte beim Urheber kann auch dazu führen, dass zugleich die vertraglich vereinbarte Übertragung der Rechte wieder auflebt, soweit dies im Vertrag zwischen dem Urheber und seinem Vertragspartner, etwa dem Werkmittler, vorgesehen war. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir nicht nur eine EU-Richtlinie erfolgreich in deutsches Recht um, sondern erwirken eine sinnvolle Ergänzung bestehender verwandter Schutzrechte im Urheberrecht. Somit erhöhen wir das Schutzniveau für Künstler und Kulturschaffende in Deutschland und leisten damit einen Beitrag zur Stärkung der Urheber und Kreativen.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der vorliegende Regierungsentwurf harmonisiert die Schutzfristen für die Rechte ausübender Künstlerinnen und Künstler und Tonträgerhersteller an Musikaufnahmen und verlängert diese - basierend auf der Richtline 2011/77/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte - auf 70 Jahre. Gleichzeitig wird die Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text auf 70 Jahre festgelegt. Bisher erloschen die Rechte an Aufzeichnungen und Darbietungen ausübender Künstlerinnen und Künstler 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Dieser Schutz verlängert sich jetzt um weitere 20 Jahre. An den Zusatzeinnahmen, die die Plattenfirmen in dieser Zeit erzielen, sollen die Künstlerinnen und Künstler partizipieren, indem sie zu einem Fünftel daran beteiligt werden. Diese Teilhabe gilt für alle Tonträger ab dem 50. Jahr der Verwertung bis zum Ende der Schutzdauer von 70 Jahren. Darüber hinaus haben ausübende Künstler zukünftig das Recht, den Übertragungsvertrag mit der Plattenfirma zu kündigen, wenn diese es unterlässt, eine Aufzeichnung, die ohne die Verlängerung der Schutzdauer gemeinfrei wäre, zu verwerten. Gegen Regelungen, die Urhebern und Künstlern zu ihren Lebzeiten fortlaufende Einnahmen aus der Verwertung ihrer Werke sichern, ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Eben diesen Effekt wird der vorliegende Entwurf jedoch nicht erzielen. Die Annahme, dass eine große Anzahl ausübender Künstlerinnen und Künstler von der Schutzfristverlängerung durch zusätzliche Einnahmen profitieren wird, trügt - darauf haben viele Urheberrechtsexperten bereits frühzeitig hingewiesen. In Wirklichkeit können nur sehr wenige Werke 50 Jahre nach Erscheinen überhaupt noch kommerziell verwertet werden; die Masse wirft schon nach einem Jahr keine nennenswerten Einnahmen mehr ab. Wir wissen daher, dass das Gesetz im Wesentlichen nur den Zu Protokoll gegebene Reden großen Plattenlabels, beispielsweise den Inhabern der Rechte an den Liedern der Beatles, zusätzliche Einnahmen bescheren wird. Damit verpufft das oft genannte Argument, die Schutzfristverlängerung diene insbesondere der sozialen Absicherung der Künstlerinnen und Künstler im Alter. Wir begrüßen allerdings ausdrücklich, dass es gelungen ist, für das Kündigungsrecht in Fällen gemeinsamer Darbietung mehrerer Künstler - zum Beispiel Orchester-, Chor- oder Bandeinspielungen - eine Lösung zu finden, die die Ausübung des Kündigungsrechts durch einen gewählten Vertreter oder Leiter der Gruppe ermöglicht und damit in der Praxis handhabbarer macht.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 17/12013 setzt die Richtlinie 2011/77/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte in deutsches Recht um. Die öffentliche Wahrnehmung des Urheberrechts hat sich in den vergangenen 15 Jahren drastisch verändert. Fristete es noch Ende der 90er-Jahre ein Mauerblümchendasein, das lediglich von einigen Experten wahrgenommen wurde, ist es spätestens mit der Debatte um ACTA und den daraus resultierenden Protesten in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Frage, ob die bestehenden urheberrechtlichen Schutzfristen angemessen sind, wird dabei immer wieder erörtert. Kritiker wünschen sich kürzere Schutzfristen und somit ein früheres Gemeinfreiwerden der Inhalte. Vor diesem Hintergrund begrüße ich sehr, dass die EU mit der Richtlinie 2011/77/EU ein klares Zeichen für den Schutz geistigen Eigentums setzt. Die Richtlinie sieht eine Harmonisierung der Schutzdauer für Musikkomposition mit Text sowie eine Verlängerung der Schutzdauer von Rechten ausübender Künstler und Tonträgerhersteller von 50 auf 70 Jahre vor. Hierbei muss man berücksichtigen, dass Urheber und Rechteverwerter eine Symbiose eingehen. Viele Urheber sind auf professionelle Unterstützung bei der Verwertung ihrer Werke durch Werkvermittler angewiesen, da sie selber oftmals gar nicht in der Lage sind, eine aufwendige Selbstvermarktung vorzunehmen. Die Verlängerung der Schutzfristen für Werkvermittler wirkt sich mittelbar auch positiv für die Urheber aus. Sie müssen an den Einnahmen, die von den Werkvermittlern im Rahmen der verlängerten Schutzfrist erzielt werden, anteilig beteiligt werden. Da das deutsche Urheberrecht entsprechende Regelungen bislang nicht enthalten hat, muss es angepasst werden. Dies wird durch den vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung erreicht. Die FDP-Bundestagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren gemeinsam mit der Unionsfraktion lediglich eine inhaltliche Änderung vorgenommen. In § 80 Abs. 2 UrhG wird die Angabe „§§ 77 und 78“ durch die Wörter „§§ 77, 78 und 79 Abs. 3“ ersetzt. Dies hat folgenden Hintergrund. Die Richtlinie räumt ausübenden Künstlern ein Kündigungsrecht gegenüber dem Tonträgerhersteller ein, wenn dieser es unterlässt, 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Werkes Kopien des Tonträgers in ausreichender Menge zum Verkauf anzubieten oder öffentlich zugänglich zu machen. § 80 UrhG regelt die Rechte mehrerer gemeinsam ausübender Künstler. Die Norm findet in der Praxis insbesondere Anwendung auf Orchester oder ähnliche große Musikgruppen. Mit der Ergänzung in § 80 Abs. 2 UrhG wird geregelt, dass eine Gruppe ausübender Künstler ihr neues Kündigungsrecht aus § 79 Abs. 3 UrhG-neu nur gemeinsam, vertreten durch ihren Vertreter, Vorstand, oder Leiter, ausüben kann. Damit stellen wir sicher, dass die Norm praktikabel bleibt. Die Zusammensetzung eines Orchesters kann sich innerhalb von 50 Jahren erheblich verändern. Müsste man zur Ausübung eines Kündigungsrechts die Einwilligung jedes betroffenen Mitglieds einholen, könnte dies in der Praxis zu unlösbaren Problemen führen. Es bestünde die Gefahr, den ausübenden Künstlern Steine statt Brot zu geben, weil zum Beispiel einzelne Mitglieder des Orchesters, das einen Tonträger eingespielt hat, nicht mehr auffindbar sind. Dieses Problem wird mit der von den Koalitionsfraktionen vorgenommenen Änderung gelöst. Die Richtlinie 2011/77/EU und damit auch die Umsetzung in deutsches Recht verfolgen mit der Verlängerung der Schutzdauer das Ziel, den Genuss der Früchte eines Werkes auch noch den Kindern und Kindeskindern des Urhebers zukommen zu lassen. Ich halte dies für richtig. Anders als bei gegenständlichen Vermögenswerten wie zum Beispiel Immobilien kann ein Urheber ohne gesetzliche Schutzfristen nichts an seine Nachkommen weitergeben. Wir wollen aber gerade Anreize setzen, damit Menschen Zeit und Kraft in die Entwicklung und die Umsetzung von Ideen und kreativen Leistungen stecken. Nur so können wir die kulturelle Vielfalt in Deutschland und Europa erhalten. Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf gemeinsam mit meiner Fraktion zu unterstützen.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bekomme immer einen Schweißausbruch, wenn ich auf der Tagesordnung dieses Hauses das Wort „Urheberrecht“ entdecke, weil ich dann weiß: Jetzt kommt wieder ein Versuch, die Rechte der Medienindustrie zu stärken, entweder zulasten der Urheberinnen und Urheber oder zulasten der Rezipientinnen und Rezipienten. So auch diesmal. Sie wollen die Fristen der Leistungsschutzrechte von ausübenden Künstlern und Tonträgerherstellern verlängern. Ausübende Künstler, also die Interpreten der Lieder, sollen nicht hinnehmen müssen, dass noch zu ihren Lebzeiten ihre Aufnahmen gemeinfrei werden, sodass sie nichts mehr daran verdienen. So argumentieren die Befürworter dieses Gesetzentwurfs. Zu Protokoll gegebene Reden Sie kennen wahrscheinlich den Song „Twist and Shout“, der durch die Beatles bekannt wurde. Dieser Song wurde ursprünglich von Phil Medley und Bert Russell für die Gruppe Top Notes geschrieben, also nicht von John Lennon und Paul McCartney. Die Beatles besitzen an diesem Song keine Urheberrechte, aber sie sind damit reich geworden. Warum? Nun, weil sie den Song nachgespielt haben und als Interpreten Leistungsschutzrechte an der Aufnahme besitzen. Ebenso wie ihre Plattenfirma, nämlich als sogenannter Tonträgerhersteller. Die Aufnahme der Beatles wurde erstmals am 2. März 1964 in den USA veröffentlicht. Sie wäre nach dem alten Recht nur noch bis zum 31. Dezember 2015 geschützt gewesen, jedenfalls in Europa; denn in den USA beträgt die Schutzfrist ohnehin 95 Jahre. Mit der Verlängerung der Leistungsschutzrechte von 50 auf 70 Jahre wird sie nunmehr auch in Europa bis 2035 geschützt sein. Cui bono? Die meisten ausübenden Künstler verdienen an ihren Leistungsschutzrechten ziemlich wenig. Universal, Sony und Warner Music streichen bis zu 72 Prozent der Einnahmen aus verwandten Schutzrechten ein. Das erfolgreichste Fünftel der Künstler erhält weitere 24 Prozent. Die verbleibenden 4 Prozent kommen bei 80 Prozent der ausübenden Künstler an. Diese Zahlen können Sie einer Studie entnehmen, die unter Federführung des Centre for Intellectual Property Policy & Management an der Bournemouth University entstanden ist. Die Rechte an den Beatles-Songs liegen heute zum großen Teil bei Sony/ATV, einem Joint Venture von Sony mit dem Jackson Estate, der das Erbe von Michael Jackson verwaltet. Anscheinend gilt das auch für „Twist and Shout“, obwohl ich Ihnen das nicht mit Sicherheit sagen kann, da ich die Verträge natürlich nicht kenne. Aber etwas anderes kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: dass weder Sony noch die Beatles am Hungertuche nagen. Die Rechte an BeatlesAufnahmen werden heute etwa auf das 500 000-Fache der ursprünglichen Wertsumme geschätzt. Wenn Sie Kreative schützen wollen, indem Sie das Schutzniveau immer weiter hinaufsetzen, dann sind Sie auf dem Holzweg. Schutzfristen zu verlängern oder den Schutzumfang zu erweitern, ihn auf immer kleinere Elemente auszudehnen, auf einzelne Wörter oder Soundschnipsel - all das bringt nichts außer gesellschaftlichen Kollateralschäden. Sorgen Sie stattdessen lieber dafür, dass von dem Geld, das mit Urheber- und Leistungsschutzrechten verdient wird, mehr dort ankommt, wo es dringend benötigt wird! Nämlich nicht bei den großen Stars und Unternehmen, sondern bei den vielen unbekannten Urhebern und Künstlern, die von ihrer Arbeit tatsächlich kaum leben können. Stärken Sie nicht die Major Labels, stärken Sie die Rechte der Kreativen im Urhebervertragsrecht!

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Geschichte des Urheberrechts ist auch eine Geschichte fortwährender Schutzfristverlängerungen. Die Reformen des Urheberrechts der letzten Jahrzehnte haben gleich mehrfach zu einer Verlängerung der Schutzfristen geführt. So betrug die Regelschutzfrist urheberrechtlich geschützter Werke Anfang des letzten Jahrhunderts noch 30 Jahre - heute sollen mit diesem Gesetzentwurf sogar die Schutzfristen der tonträgerherstellenden Leistungsschutzberechtigten auf nunmehr 70 Jahre angehoben werden. Argumentiert wird bei der wiederholten Verlängerung der Schutzfristen von Urhebern und Leistungsschutzberechtigten häufig mit der gesteigerten Lebenserwartung, bei Schutzfristverlängerungen post mortem mit dem Urheberpersönlichkeitsrecht oder mit der Vergleichbarkeit zum Sacheigentum, bei der heute anstehenden Verlängerung mit einer angeblich nötigen Harmonisierung. Schutzfristen haben zwar einerseits für die Mitglieder der Familie des Urhebers die Funktion einer sozialen Absicherung und bilden oft den Hauptinhalt des Erbes, das grundsätzlich unter gesetzlichem Schutz steht; andererseits schwindet nach dem Tod der personale Bezug zwischen dem Urheber und seinem Werk, weshalb besonders Fristverlängerungen post mortem problematisch sind. Tatsächlich hat die Verlängerung der Schutzfrist für Leistungsschutzberechtigte, die wir heute diskutieren, deutlich weniger mit der Stärkung der im Musikbereich tätigen Künstlerinnen und Künstler zu tun, als die Koalition den Anschein zu wecken versucht. Vielmehr ist sie das Ergebnis konsequenter Lobbyarbeit der Major Labels auf nationaler, supra- und internationaler Ebene. Sie mündete in der Richtlinie 2011/77/EU vom 27. September 2011, welche die Schutzdauerrichtlinie 2006/116/EG ändert und von den Mitgliedstaaten eine entsprechende Anpassung nationalen Urheberrechts fordert. So werden mit dem heute vorliegenden Umsetzungsgesetz auch und insbesondere die Schutzfristen für leistungsschutzberechtigte Tonträgerhersteller von 50 auf 70 Jahre ab Erstveröffentlichung verlängert. Hier zeigt sich mehr als deutlich, dass der Vergleich mit dem Sacheigentum oder dem Urheberpersönlichkeitsrecht hinkt - geht doch die Richtlinie auf Initiativen derjenigen zurück, die die Pressrechte an Tonträgern von Beatles-Liedern halten und daraus noch einige Jahre mehr Gewinn erzielen möchten. Wir müssen bedenken, dass alle Schutzfristverlängerungen der Gemeinfreiheit neue Grenzen setzen, obwohl die Gemeinfreiheit in Wissensgesellschaften von integraler Bedeutung ist. Schließlich wird die Durchsetzung der Urheberrechte in der Zeit einer fortschreitenden Digitalisierung und Globalisierung immer schwieriger und kollidiert mit datenschutzrechtlichen sowie bürgerrechtlichen Vorgaben. Auch geistige Werke der Literatur und der Musik gehören, mit gleichem Anspruch auf Achtung, zum geistigen Erbe von Kultur- und Sprachgemeinschaften, ohne dass einzelne Zu Protokoll gegebene Reden Rechteinhaber dies reglementieren oder lizensieren dürften. Die Welt der Kultur sähe arm aus, wenn Werke von Goethe oder Mozart nicht der Allgemeinheit gehören würden, wenn sie nicht gemeinfrei wären. Wir Grünen werden uns daher auch weiterhin auf europäischer und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass es zu einer Kehrtwende im Bereich der Schutzfristen kommt, um bei gleichzeitiger Stärkung der Urheberinnen und Urheber gegenüber den Verwertern mehr Raum für Kreativität und Gemeinsinn zu schaffen und zu verhindern, dass Gesetze lediglich zugunsten der großen Plattenfirmen gemacht werden. Immerhin wird den Urhebern als Ausgleich für die Schutzfristverlängerung eine Beteiligung an den Erlösen und ein Kündigungsrecht zugestanden, wenn der Tonträgerhersteller es unterlässt, Kopien des Tonträgers in ausreichender Menge zum Verkauf anzubieten. Meine Bedenken bezüglich der Ausgestaltung des Kündigungsrechts von Künstlergemeinschaften, welche ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs geäußert habe, wurden aufgenommen und sind in einen Änderungsantrag der Regierungskoalitionen eingeflossen. So ist sichergestellt, dass das Kündigungsrecht beispielsweise von Orchestermitgliedern 50 Jahre nach der Aufnahme nicht faktisch leerläuft. Wenn wir heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung diskutieren, so dürfen wir nicht lediglich als Urheberrechtler, sondern müssen auch als Europäer diskutieren. Die EU-Richtlinie, die diesem Gesetzentwurf zugrunde liegt, lässt keinerlei Umsetzungsspielraum zu. Sie fordert klar und ohne Interpretationsmöglichkeit, die Zahl 50 durch die Zahl 70 auszutauschen. Europarechtlich ist dies ein gewollter und aus den europäischen Verträgen resultierender Vorgang der fortschreitenden Vereinheitlichung in der Europäischen Union. So müssen wir als Europäer auch zur Kenntnis nehmen, dass sich der Umsetzungsauftrag dieser Richtlinie eben nicht lediglich an die Bundesregierung oder nur an die sie tragende Koalition, sondern an das gesamte Parlament richtet. Dieser europäischen Verantwortung können und wollen wir Grüne uns nicht entziehen. Deshalb werden wir als Europäer heute diesem Gesetz zustimmen, auch wenn wir uns als Urheberrechtler deutlich gegen Schutzfristverlängerungen aussprechen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13270, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12013 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der Grünen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden - Drucksachen 17/585, 17/12908 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelGabriele FograscherDr. Stefan RuppertUlla JelpkeWolfgang Wieland Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Manfred Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass der Tag der Befreiung ein gesetzlicher Feiertag werden muss. Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht wurde der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet. In den Folgejahren wurden zuerst Besatzungszonen gebildet, und wenig später, nämlich im Jahr 1949, entstanden zwei deutsche Staaten. Mit der Bildung der zwei Staaten ging die Etablierung unterschiedlicher Lebensformen sowie persönlicher Entwicklungen und Erfahrungen einher. Für den Zeitraum der Teilung Deutschlands war ein gemeinsamer Feier- oder Gedenktag praktisch unmöglich. Unbestritten ist der 8. Mai in zahlreichen Ländern Europas ein Gedenktag. Dabei wird in erster Linie an die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit einhergehend an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa erinnert. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird Jahr für Jahr an den 8. Mai erinnert. Zweifelsfrei ist dies ein Tag der Mahnung, dass Antisemitismus und Rassismus keinen Platz in unserer Gesellschaft haben dürfen. In der Bundesrepublik Deutschland war der 8. Mai 1945 seit der Staatsgründung 1949 zu keinem Zeitpunkt ein Feiertag. In der ehemaligen DDR wurde der Manfred Behrens ({0}) 8. Mai bis 1966 und einmalig im Jahre 1985 als Feiertag begangen. Mit dem vorliegenden Antrag verfolgt die Fraktion Die Linke das Ziel, den früheren Gedenktag in der ehemaligen DDR wieder einzuführen. Aber dies ist unter mehreren Aspekten nicht plausibel und politisch damit nicht zu vertreten. Denn der 8. Mai 1945 war für viele Deutsche auf dem Gebiet der späteren DDR nur bedingt ein Tag der Freiheit. Denn die Gefängnisse, welche bis 1945 mit Opfern des Nationalsozialismus belegt waren, wurden später mit Kritikern des DDRRegimes gefüllt. Von daher ist es eine berechtigte Frage, ob der 8. Mai für alle Deutschen als Tag der Befreiung zählen kann. Die CDU/CSU-Bundesfraktion hat in der Beschlussempfehlung und im Bericht des Innenausschusses gegen den Antrag der Fraktion Die Linke gestimmt. Die CDU/CSU sieht keine Notwendigkeit für einen neuen und damit weiteren gesetzlichen Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere vor der historischen Teilung der deutschen Staaten und der Tatsache, dass die Bewohner der ehemaligen DDR erst ab 1989 die Chance erhielten, eine Demokratie aufzubauen, erscheint der Antrag nicht schlüssig. Final bleibt damit festzuhalten, dass die CDU/CSUBundesfraktion den Antrag der Fraktion Die Linke auf Bundestagsdrucksache 17/585 ablehnt.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der 8. Mai 1945 war der Tag, der die nationalsozialistische Schreckensherrschaft beendet hat, ein Tag, der eine Wende für Deutschland bedeutete. Leider führte das Ende der Zeit der Nationalsozialisten und das Ende des Zweiten Weltkrieges auch dazu, dass Deutschland geteilt wurde. Diese Trennung konnte zum Glück mit der Wiedervereinigung beendet werden. Ganz Deutschland ist heute ein angesehenes, souveränes, demokratisches und rechtsstaatliches Land. Es wird respektiert in der ganzen Welt. Der 8. Mai hat für Deutschland zwei Bedeutungen: Zum einen ist der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung von einer menschenverachtenden Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten; zum anderen ist der 8. Mai 1949 der Tag, an dem der Parlamentarische Rat unser Grundgesetz, unsere demokratische, auf den Menschenrechten basierende Verfassung, beschlossen hat. Seit 1996 ist der 27. Januar gesetzlicher Gedenktag. Es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus; denn 1945 wurde an diesem Tag das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Seit 2005 ist dieser Tag auch Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Der Deutsche Bundestag erinnert jährlich in einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus; rund um dieses Datum finden zahlreiche Veranstaltungen statt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Und nun wollen Sie von der Linksfraktion, dass der 8. Mai auch ein gesetzlicher Gedenktag wird. Doch ich meine, wir brauchen keinen weiteren Gedenktag; wir brauchen ein lebendiges Gedenken, und das nicht nur an einem Tag mit besonderer historischer Bedeutung, sondern an jedem Tag. Sie schreiben in der Begründung Ihres Antrags, dass es in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr gäbe und deshalb ein solcher Gedenktag für die gesellschaftspoltische Diskussion wichtig sei. Das sehen wir anders. Zeitzeugen spielen immer noch eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der nationalsozialistischen Vergangenheit unseres Landes. Doch brauchen wir keinen weiteren Gedenktag, sondern zusätzliche und neue Formen, um junge Menschen über diese dunkelste Zeit der deutschen Vergangenheit zu informieren und über die Gefahren des Nationalsozialismus und Rechtsextremismus aufzuklären. Richard von Weizsäcker hat in seiner beeindruckenden Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag angemahnt, die Erinnerung wachzuhalten: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Das müssen und werden wir mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Wolfgang Thierse erklärte als damaliger Bundestagspräsident zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945: „Die Bewahrung der Erinnerung und das Gedenken an die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg - sie verpflichten uns zur Verteidigung der Demokratie heute und zu aktiver Friedenspolitik heute.“ Leider gibt es immer noch Menschen in unserem Land, die die Verbrechen der Vergangenheit leugnen, die NS-Schreckensherrschaft glorifizieren, menschenverachtende Ideologien vertreten und für sie kämpfen, sich von rechtsextremem Gedankengut anstecken lassen. Das wissen wir nicht erst seit dem Aufdecken der NSU-Morde. Seit 1990 gab es nach Recherchen von „Mut gegen rechte Gewalt“ und der Amadeu-AntonioStiftung 183 Morde mit rechtsextremem und rassistischem Hintergrund; eine höhere Dunkelziffer ist zu befürchten. Die Zahl der rechtsextremen Straftaten ist in 2012 um 4 Prozent auf 17 600 Fälle gestiegen. Unsere Aufgabe als Politik, Staat und Gesellschaft ist es, die Erinnerung wachzuhalten. Das ist aber nur das eine. Wir müssen auch aktiv gegen rechtsextremes, rassistisches, antisemitisches und fremdenfeindliches Gedankengut vorgehen. Wir müssen die Menschen ermutigen, für unsere Demokratie einzustehen, für sie zu kämpfen. Ohne gesellschaftliches Engagement werden wir nichts erreichen können. Und wir als Politikerinnen und Politiker, wir müssen die Hürden für Engagement gegen Rechts und gegen die Verherrlichung der NS-Zeit senken. Zu Protokoll gegebene Reden Die seit 2001 von den jeweiligen Bundesregierungen durchgeführten Modellprojekte gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben schon einiges erreicht. Doch mit befristeten Modellprojekten allein kommen wir nicht weiter. Wir brauchen eine langfristige Förderung von erfolgreichen Projekten, die Streichung der Extremismusklausel und die Möglichkeit, auch ohne Kofinanzierung durch Länder und Kommunen Projekte zu finanzieren. Wir müssen das Bewusstsein und die Sensibilität hinsichtlich des Rechtsextremismus und seiner Gefahren für Vertreter aller Bereiche des öffentlichen Lebens stärken. Die Erinnerung, die Aufklärung und das aktive Handeln können ein Wiedererstarken des Rechtsextremismus verhindern. Ein gesetzlicher Gedenktag ist zu wenig. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab. Schließen möchte ich mit Worten von Richard von Weizsäcker: „Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.“

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die erste Debatte im Mai 2010 zum heute abschließend zu beratenden Antrag der Linksfraktion demonstrierte eindrücklich, wie vielschichtig der 8. Mai 1945 in der deutschen Erinnerungskultur diskutiert wird und auch betrachtet werden sollte. Abgeordnete berichteten zum Teil sehr persönliche Erinnerungen und Eindrücke. Dr. Lukrezia Jochimsen von der Linksfraktion schilderte beeindruckend, wie sie das Kriegsende an diesem Tag als neunjähriges Kind in einem Tagebucheintrag als „schweren Tag für alle Deutschen“ bezeichnet hatte. Sie beschrieb ihre Überraschung später in der Rückschau, dass Ängste vor Rache oder Vergeltung, die vielleicht aus diesem Tagebucheintrag gesprochen hatten, für sie unbegründet blieben. Sie sagte: „Fast ungläubig stellten wir von nun an von Jahr zu Jahr an jedem 8. Mai fest, wie gut mit uns umgegangen wurde, wie schonend, wie auf die Zukunft setzend.“ Sie erlebte des Kriegsende in Westdeutschland, in Frankfurt am Main. Joachim Selle von der CDU/CSU-Fraktion beschrieb aus eigener Erfahrung, mit welch verzerrter Wahrnehmung dieser Tag in der DDR begangen wurde. In der DDR wurde am 8. Mai, dem dort sogenannten Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus, nicht der Beitrag aller Alliierten zur Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewürdigt. Es wurde nicht berücksichtigt, dass Stalin zwar entscheidend zum militärischen Sieg über den Nationalsozialismus beigetragen hatte, wie der Historiker Hubertus Knabe feststellt, diesen Sieg aber zur Errichtung einer neuen Diktatur nutzte, die viele Millionen Opfer forderte. Dieser Teil der Geschichte wurde in der DDR ausgespart. Stattdessen erging sich die SED-Einheitspartei in Glorifizierungen der Sowjetunion und der Roten Armee und nutzte den antifaschistischen Gründungsmythos zur Befestigung ihrer Diktatur. Für 16 Millionen Ostdeutsche kam der demokratische Wiederaufbau erst ab 1989. Richard von Weizsäcker definierte in seiner bemerkenswerten Rede vor dem Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ für alle Deutschen, für West- wie für Ostdeutschland und darüber hinaus. Er stellte auch fest, dass wir im Ende des Krieges nicht die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen dürfen, sondern sie in seinem Anfang sehen müssen. Daran gibt es keinen Zweifel. Dennoch müssen wir den Tag der Befreiung in seiner Bedeutung für West- und Ostdeutschland vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Geschichte der beiden Teile Deutschlands differenziert betrachten. Vor diesem Hintergrund ist der 8. Mai nicht als gesetzlicher, staatlich verordneter Gedenktag geeignet. Das ändert nichts an der wichtigen Bedeutung dieses Tages. Seit der ersten Beratung des Antrags der Linksfraktion im Plenum vor etwa zwei Jahren hat sich unsere Haltung nicht geändert: Wir Liberale halten die staatliche Verordnung eines Gedenktages am 8. Mai nicht für den richtigen Weg, mit diesem geschichtsträchtigen Datum umzugehen. Eine lebendige und aktive Erinnerungspolitik aus der Mitte der Gesellschaft, wie sie in vielen gesellschaftlichen Initiativen in jedem Jahr und nicht nur am 8. Mai zum Ausdruck kommt, ist uns wichtiger. In unserer Gesellschaft möchten wir die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und mit dem schweren Erbe fördern, das der Nationalsozialismus uns hinterlassen hat. Dieser Verantwortung müssen wir uns täglich neu stellen, ob im Widerstand gegen den Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft oder bei der bedingungslosen Aufklärung der grauenhaften Gewalttaten durch die NSU-Terrorzelle, an der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages im NSU-Untersuchungsausschuss gemeinsam arbeiten.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bundeskanzlerin Merkel ist in vielen europäischen Ländern, die unter dem deutschen Spardiktat leiden, zu einer Hassfigur geworden. Die bittere Medizin, die die Kanzlerin den Krisenländern verabreicht, hat die Lage in fast allen Ländern dramatisch verschlechtert. Den reichen Gläubigern, die in der Regel in Deutschland leben, wird geholfen, die Schuldner werden ihrem Schicksal überlassen. Zum Beispiel bekam Portugal 28 Milliarden Euro im vergangenen Jahr an „Hilfsgeldern“. Davon flossen 0,8 Milliarden Euro in den portugiesischen Staatshaushalt, und 27,2 Milliarden Euro flossen an die Gläubiger. Zu Protokoll gegebene Reden Mit großer Härte und Hochmut wird eine zerstörerische Politik von der Bundesregierung halsstarrig fortgesetzt. Auf Demonstrationen in Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern und Italien wird gegen die desaströse Kürzungspolitik demonstriert. Auf Plakaten wird das Gesicht von Frau Merkel mit Hitler-Bärtchen verunstaltet. Darüber kann man sich empören, man muss aber auch darüber nachdenken. Wir machen uns große Sorgen, dass die Bundesregierung den guten Ruf unseres Landes vollständig verspielt und Deutschland in Europa und darüber hinaus isoliert. Wir brauchen einen Bruch mit dieser Politik. Die Kanzlerin darf nicht länger die selbstherrliche Oberlehrerin geben. Doch die grundsätzliche Änderung der Politik allein reicht noch nicht aus, um den angeschlagenen Ruf Deutschlands wiederherzustellen. Es bedarf einer deutschen Geste der Dankbarkeit gegenüber unseren europäischen Nachbarn. Jetzt wäre es an der Zeit, ein deutliches Zeichen zu setzen. Wenn Deutschland zeigen würde, dass es die weltweite Hilfe zur restlosen Zerschlagung des schlimmsten Terrorregimes in der Geschichte der Menschheit, des Faschismus, als eine Befreiung begreift, dann würde das auch als ein Akt der Demut verstanden werden. Die Linke hatte 2010 den Vorschlag gemacht, dem Beispiel der SPD-Linke-Regierung in MecklenburgVorpommern zu folgen und den Tag der Befreiung zu einem gesetzlichen Gedenktag zu machen. Unser Vorschlag wurde im Innenausschuss des Bundestages von allen anderen Parteien abgelehnt. Bemerkenswert ist, dass die Vertreter von SPD und Grünen im Kulturausschuss sich der Stimme enthalten haben. Das ändert leider auch nichts an dem Ergebnis. Die Bundesregierung will keinen gesetzlichen Gedenktag zum Tag der Befreiung. Für sie ist das Ende des 2. Weltkrieges immer noch nur eine Niederlage. Wir könnten am Tag der Befreiung unsere Dankbarkeit gegenüber Menschen und Völkern äußern, die uns damals befreit haben. Die Bundesregierung vermittelt den Eindruck, als ob Deutschland aus eigener Kraft den Wohlstand erreicht hätte. Ohne die Befreiung vom Faschismus könnten wir heute nicht unsere Freiheit genießen. Ohne die Hilfe nach dem 2. Weltkrieg hätten wir jetzt nicht den Wohlstand für zumindest zwei Drittel der Gesellschaft. Es ist ja nicht nur das Verhältnis Deutschlands zu den EU-Ländern zerrüttet, auch das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland ist auf einem Tiefpunkt. Die Sowjetunion hat ohne Frage den größten Beitrag zur Zerschlagung des Faschismus geleistet. Diese Leistung wurde von der Bundesregierung nie anerkannt. Mit dem Tag der Befreiung als gesetzlichem Gedenktag könnten wir einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland einleiten. Doch das ist von der Bundesregierung nicht gewollt. Wir als Die Linke werden am 8. Mai 2013, wie jedes Jahr, mit vielen Menschen den Tag der Befreiung feiern. Wir werden der Menschen gedenken, die ihr Leben gegeben haben, damit wir heute in Freiheit leben können.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dieser Antrag, in all seiner Kürze, ist ein ganz klassisches Produkt aus der Geschichtswerkstatt der Linkspartei: formal ziemlich unsinnig, geschichtspolitisch einseitig und in der Botschaft deswegen höchst fragwürdig. Das Formale mal vorweg: Dass die Linkspartei immer beantragt, dass der Bundestag als Legislative doch die Bundesregierung als Exekutive ersuchen möge, einen Gesetzentwurf vorzulegen, daran haben wir uns gewöhnt. Das kann man ja noch rechtfertigen, wenn es um ein kompliziertes Artikelgesetz geht, da kann man ja sagen: Das kann eine Oppositionspartei kaum stemmen, dazu braucht es den Regierungsapparat. Das kann man aber bei der Komplexität dieses Antrags wohl kaum ins Feld führen. Aber offenbar überfordert auch die Ausrufung eines Gedenktages die Geschäftsordnungskenntnisse der Antragsteller. Denn sie könnten schon wissen, dass es der Bundespräsident ist, der einen Gedenktag proklamiert, da braucht es kein Gesetz. Das könnten Sie ganz besonders deshalb wissen, weil die Fraktion Die Linke kürzlich auch die Initiative für einen Gedenktag 18. März unterstützt hat, der war nämlich formal - inhaltlich natürlich auch - richtig. Sei es, wie es sei, für uns macht sich die Ablehnung Ihres Antrags an seinem Inhalt und seiner Begründung fest, nicht an diesen formalen Skurrilitäten. Klar ist: Unsere Ablehnung hat nichts damit zu tun, dass wir nicht auch der Meinung wären, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Diese richtige Bewertung des endgültigen Endes des Naziregimes hat der damalige Bundespräsident von Weizsäcker 1985 in seiner beeindruckenden Rede in eindrucksvoller Weise getroffen und hat damit das gesellschaftliche Selbstverständnis in unserem Land verändert. Was bis dahin viele dachten, was aber die Ewiggestrigen nicht wahrhaben und nicht laut ausgesprochen haben wollten, wurde so zum breit getragenen Konsens. Und das ist eben das Problem mit Ihrem Antrag: Sie tun so, als habe es das alles nicht gegeben! Als seien nicht in der Bundesrepublik lange und erfolgreiche Kämpfe um die Deutung des Nazisregimes geführt worden, an deren Ende nun wirklich jeder sagt: Das war ein menschenverachtendes System des Völkermordes, sein Untergang war eine Befreiung. Sie stellen es in Ihrer Begründung so hin, als sei das alles umstritten, als würde die ganze Gesellschaft - und nicht nur eine Handvoll Ewiggestrige - den Zu Protokoll gegebene Reden 8. Mai immer noch als Niederlage bewerten. Die Debatten, die Sie angeblich auslösen wollen, die werden aktiv geführt. Und die hochbetagten Zeitzeugen ins Feld zu führen, ist nun auch ganz billig. Gerade das Gedenken, das sie verkörpern, das Gedenken an das Mordsystem Nationalsozialismus, das ist zu Recht mit dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar verbunden. An diesem Tag geht es um die Opfer des NS-Regimes, um die Menschen, die unter dem System gelitten haben und in seinen Lagern ermordet wurden. Das ist der richtige Tag, um die historische Lektion des Nationalsozialismus in Erinnerung zu behalten. Sie unterstellen etwas, das nicht zutrifft, und fordern dann im hohen Ton des historischen Rechthabens ganz dringend eine Korrektur. Das ist die Attitüde dieses Antrags, das wird aber der Sache nicht gerecht, das ist nur selbstgerecht! Und es kommt noch schlimmer, es gibt noch eine ganz andere Dimension dieser Frage in der Linkspartei - darauf hat mich der Kollege Bartsch kürzlich in der Debatte über die Aufarbeitung des SED-Unrechts wieder gestoßen -; Sie verbinden mit dem 8. Mai ganz offenbar auch, dass er in der DDR als Tag der Befreiung begangen wurde. Und auch darauf kochen Sie Ihr Süppchen. Den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begehen, war zwar richtig. Aber Ihnen dient diese Tatsache als Fassade, hinter der Sie verbergen können, dass in der DDR ein System der Unterdrückung und Entrechtung wirkte, das Sie und Ihre Altvorderen zu verantworten haben. Es spricht Bände über Ihr Selbstverständnis und Ihr Geschichtsbild, dass Sie auf der einen Seite einen unreflektierten, ja reaktionären Umgang mit der Geschichte in der Bundesrepublik unterstellen und Jahrzehnte der Debatte nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Auf der anderen Seite nehmen Sie den allzu oft nur oberflächlich wirksamen, staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR für bare Münze und wollen sich selbst damit entlasten. Als hätte das verordnete, verquaste, marxistische Geschichtsbild der SED irgendetwas mit der Beschreibung der Realität zu tun! Natürlich gab es in der DDR unzählige Naziopfer und Antifaschisten, die mit dem neuen Staat eine Überwindung von Entrechtung und Gewalt erkämpfen wollten, das ist unbestritten. Aber Sie missbrauchen diese Menschen, wenn gerade Sie als Nachfolger der SED so tun, als habe das von Ihren Vorgängern betriebene Unterdrückungssystem irgendetwas mit solchem Idealismus zu tun gehabt!

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12908, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/585 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Handelsgesetzbuchs - Drucksache 17/13221 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem Gesetz zur Änderung des Handelsgesetzbuches wird ein wichtiger Gesetzentwurf im Interesse kleiner Unternehmen und kleiner Unternehmer vorgelegt. Dies ist eine gute Nachricht. Mit dem Änderungsgesetz zum Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister werden wir entbürokratisieren und die Verfahrensabläufe bei der Offenlegung von Rechnungslegungsunterlagen erleichtern. Der Deutsche Bundestag hat 2006 ein Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister, das EHUG, beschlossen, das grundlegende Änderungen des Verfahrens zur Durchsetzung der Pflichten insbesondere der Kapitalgesellschaften zur Offenlegung ihrer Rechnungsunterlagen mit sich brachte. Durch das EHUG wurde das Bundesamt für Justiz mit der Durchsetzung der Offenlegungspflichten betraut. Seit Inkrafttreten des EHUG können wir feststellen, dass über 90 Prozent der betroffenen über 1,1 Millionen Kapitalgesellschaften ihre Rechnungslegungsunterlagen rechtzeitig offenlegen. Nachdem inzwischen fünf Jahre seit Einführung des EHUG verstrichen sind, hat der Deutsche Bundestag in seiner Entschließung vom 29. November 2012 ({0}) festgestellt, dass etwaiger Änderungsbedarf an dem seit 2006 geltenden Ordnungsgeldverfahren zu prüfen war. Änderungsbedarf hat der Deutsche Bundestag nunmehr in drei Bereichen festgestellt. Erstens sollten die Mindestordnungsgelder für Kleinstkapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesellschaften deutlich gesenkt werden, wenn diese Unternehmen am Verfahren der Offenlegung ihrer Rechnungsunterlagen mitwirken. Nach derzeit geltendem Recht beträgt das Mindestordnungsgeld unabhängig von der Unternehmensgröße stets 2 500 Euro. Nach dem Gesetzentwurf soll das Mindestordnungsgeld für Kleinstkapitalgesellschaften auf 500 Euro gesenkt werden. Zweitens werden Fragen zum Verschulden und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geregelt. Damit können unbillige Härten durch knappe Fristen aufgefangen werden. Das Instrument der Wiedereinsetzung würde dem Bundesamt die Möglichkeit geben, den Besonderheiten des Einzelfalles besser als bisher gerecht zu werden. Drittens sollte ein Verfahren geschaffen werden, um eine einheitliche Rechtsprechung in Ordnungsgeldverfahren zu erreichen. Zwar sieht das EHUG jetzt schon vor, dass nur das für den Sitz des Bundesamtes für Justiz zuständige Landgericht Bonn über Beschwerden gegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes zu entscheiden hat. Die große Zahl der Verfahren und die Befassung mehrerer Kammern des Landgerichts hat in den vergangenen Jahren jedoch in wichtigen Einzelfragen zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung geführt. Ziel ist es, ein Verfahren zu schaffen, durch das beispielsweise bei einer Divergenz zwischen einzelnen Kammern eine einheitliche Entscheidung erreicht wird. Das hilft betroffenen Unternehmen, damit sie sich auf eine möglichst einheitliche Rechtsprechung verlassen können. Es freut mich sehr, dass die Änderungen zu einer spürbaren Verbesserung der Rechtslage im Bereich der kleinen Unternehmen führen werden. Ich bin davon überzeugt, dass dies ein richtiger Schritt ist, und freue mich auf die parlamentarischen Beratungen.

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Alle Kapitalgesellschaften und Personenhandelsgesellschaften ohne haftende natürliche Person, GmbH und Co KG, müssen ihren kaufmännischen Jahresabschluss im elektronischen Bundesanzeiger offenlegen oder mindestens dort hinterlegen. 90 Prozent der Unternehmen kommen diesen Pflichten reibungslos nach. In den letzten Jahren gab es öfter Verdruss, wenn kleine Unternehmen gegen diese Pflicht verstoßen haben. Das Bundesamt für Justiz musste dann nach § 335 HGB ein Ordnungsgeldverfahren durchführen. Das Ordnungsgeld beträgt mindestens 2 500 Euro und höchstens 25 000 Euro. Bereits bei den Beratungen zum Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz oder MicroBilG hatte der Bundesrat geringere Bußgeldhöhen bei sogenannten ruhenden Gesellschaften gefordert, die Grünen haben darüber hinaus in einem Antrag im Deutschen Bundestag mehr Ermessen des Bundesamtes für Justiz gefordert. Das MicroBilG wurde zwar ohne Rücksicht auf diese Änderungswünsche verabschiedet, aber die Koalitionsfraktionen haben immerhin die Regierung in einem Entschließungsantrag aufgefordert, einen Gesetzentwurf mit Erleichterungen hinsichtlich Ordnungsgeldhöhe und Ordnungsgeldverfahren vorzulegen, hier insbesondere unter Berücksichtigung der Erforderlichkeit eines Verschuldens und der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bis März 2013 vorzulegen, inklusive Regelungen, die eine einheitliche Rechtsprechung ermöglichen. Der Gesetzentwurf setzt diesen Antrag um, allerdings nicht sehr großzügig: Bei Nichtverschulden gibt es nun die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, das ist gut. Wenn die Unternehmen nach Androhung des Ordnungsgeldes, bei der eine sechswöchige Frist gesetzt wird, diese zwar überschreiten, aber die Offenlegung nachholen, bevor das Bundesamt weitere Schritte eingeleitet hat, beträgt das Mindestbußgeld nur 500 Euro bei Kleinstkapitalgesellschaften bzw. 1 000 Euro bei kleinen Kapitalgesellschaften. Außerdem gibt es gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts nun die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde zum OLG - aber nur dann, wenn das Landgericht sie zugelassen hat. Der Gesetzentwurf geht eindeutig in die richtige Richtung, tastet sich aber zu behutsam vor. Ich nehme an, dass das Bundesministerium der Justiz befürchtet, bei genereller Herabsetzung der Ordnungsgelder - auch wenn nicht offengelegt wird - das ganze Verfahren zum zahnlosen Tiger werden zu lassen. Ich kann verstehen, wie man auf diesen Gedanken kommt, aber ich teile die Befürchtung nicht. Wichtiger wäre es gewesen, im Interesse einer europaweit gültigen Regelung die Akzeptanz insbesondere bei den Kleinstkapitalgesellschaften durch ein vernünftiges Maß beim Ordnungsgeld und einen Schwerpunkt auf nachvollziehbares Verfahren zu fördern. Die Erleichterungen, die der Gesetzentwurf schafft, sind zu gering. Die SPD-Bundestagsfraktion ist insbesondere der Auffassung, dass die Rechtsbeschwerde ohne Zulassung möglich sein sollte. Denn auch bei einer Verurteilung in einem normalen Bußgeldverfahren ist die Rechtsbeschwerde ohne Zulassung schon ab einem Bußgeld von 250 Euro zulässig. Hier geht es auch nach der Änderung um mindestens 500 Euro. Beim Mindestbußgeld fragen wir uns, warum Sie die 2 500 Euro nicht auch auf 1 000 Euro herabsetzen und dem Bundesamt für Justiz bei Miniunternehmen oder ruhenden Unternehmen mehr Spielraum geben konnten. Wir wissen von vielen kleinen Unternehmen, die mit der Veröffentlichungspflicht ihrer Daten hadern - nicht weil sie böswillig ihrer Pflicht nicht nachkommen wollen, sondern weil sie schlecht informiert sind, den Zwang der Übermittlung sensibler Unternehmensdaten an ein privates Unternehmen nicht einsehen, mit den umständlichen und wirklich nutzerfeindlichen Verfahren zur Übermittlung der Jahresabschlussdaten überfordert sind oder Wettbewerbsnachteile durch die Veröffentlichung allzu detaillierter sensibler Unternehmensdaten fürchten. Sie sollten mit Ihrem Gesetzentwurf, den wir im Kern sehr begrüßen, den politischen Spielraum ausnutzen und die Chance wahrnehmen, diesen Unternehmen zu helfen, ihre Offenlegung auf europaweit einheitlichem Niveau vorzunehmen. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Reform des Ordnungsgeldverfahrens des elektronischen Handels- und Unternehmensregisters. Er geht zurück auf eine Entschließung des Deutschen Bundestages vom 29. November 2012. Damit wollen wir das Ordnungsgeldverfahren bei Verstößen gegen die handelsregisterrechtlichen Offenlegungspflichten im Sinne kleiner und kleinster Kapitalgesellschaften anpassen und der Lebenswirklichkeit des Mittelstandes weiter entgegenkommen. Insbesondere wollen wir für diese Gruppe Härtefälle besser in den Griff bekommen und das Sanktionsinstrumentarium abstufen. Der Gesetzentwurf zur Änderung des Handelsgesetzbuches führt konsequent die Ziele des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes fort. Kleine Unternehmen und der Mittelstand insgesamt werden durch unsere Initiative über die Erleichterung bei der Bilanzierung weiter entlastet - nunmehr eben im Bereich des Ordnungsgeldverfahrens. Mit dem vorliegenden Koalitionsentwurf haben wir einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen der Erleichterung für Unternehmen im Ordnungsgeldverfahren sowie den bewährten Publizitätserfordernissen und der Gefährdung der ausgezeichneten Offenlegungsquote von nunmehr 90 Prozent gefunden. Der Gesetzentwurf greift im Wesentlichen drei Anliegen auf: Die Ordnungsgelder werden abgesenkt; es werden die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingeführt und eine einheitliche Rechtsprechung durch ein neues Rechtsmittel gegen die gerichtliche Beschwerdeentscheidung gefördert. Bislang setzte das Bundesamt für Justiz Ordnungsgelder in Höhe von einheitlich 2 500 Euro fest. Beibehalten wird dies für mittelgroße und große Unternehmen; für kleine Kapitalgesellschaften kann künftig jedoch maximal ein Betrag von 1 000 Euro und für Kleinstkapitalgesellschaften sogar nur von 500 Euro festgesetzt werden. Um jedoch einen gleichbleibend stabilen Offenlegungsanreiz zu schaffen, müssen die Unternehmen am Verfahren mitwirken: kleine Kapitalgesellschaften durch Offenlegung der Bilanz und des Anhangs und Kleinstkapitalgesellschaften durch elektronische Hinterlegung ihrer Bilanz beim Bundesanzeiger. Das ist schon deshalb notwendig, weil für die Festsetzung des niedrigen Ordnungsgeldes Bilanzkennzahlen erforderlich sind, um zur Qualifizierung als kleine oder Kleinstkapitalgesellschaft zu gelangen. Ein Ordnungsgeld kann künftig von Gesetzes wegen nur dann festgesetzt werden, wenn das Unternehmen tatsächlich ein Verschulden trifft. Um unbillige Härten zu vermeiden, kann beispielsweise der Alleingeschäftsführer, der an der Offenlegung durch längere Erkrankung gehindert war, innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall dieses Hindernisses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Einen entscheidenden Beitrag zu mehr Rechtssicherheit leistet der Gesetzentwurf mit der Einführung eines neuen Verfahrens zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung im Ordnungsgeldverfahren. Künftig soll gegen die Entscheidungen des einzig zuständigen Landgerichts Köln das Rechtsmittel der zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerde zum OLG Köln gegeben sein. So können zwischen verschiedenen Kammern divergierende Rechtsprechungen eingefangen und grundsätzliche Fragen des Ordnungsgeldverfahrens geklärt werden. Mit diesem Gesetzentwurf werden wir künftig unbillige Härten im Ordnungsgeldverfahren des elektronischen Handels- und Unternehmensregisters vermeiden und kleine Kapitalgesellschaften sowie Kleinstkapitalgesellschaften insgesamt stärken.

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP die ohnehin schon niedrigen Mindestordnungsgelder für Kleinstkapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesellschaften drastisch senken, wenn auch nur für Unternehmen, die innerhalb von wenigen Monaten nach Fristablauf doch noch ihre Unterlagen einreichen, Verschulden und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regeln sowie die Rechtsbeschwerde im Ordnungsgeldverfahren einführen. Wir hatten uns bereits bei der Verabschiedung des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes am 29. November 2012 dagegen ausgesprochen, dass bei Verstößen gegen die Offenlegungsfrist Ordnungsgelder verhängt werden können, die so niedrig sind, dass sie keinen Anreiz für die Einhaltung des Gesetzes bieten. Bereits in meiner Rede am 29. November 2012 hatte ich darauf hingewiesen, dass Kapitalgesellschaften wegen der beschränkten Haftung bestimmte Publizitätspflichten erfüllen müssen, damit sich Gläubiger ein Bild über die finanzielle Lage machen können. Außerdem haben kleine Kapitalgesellschaften sechs Monate nach dem Geschäftsjahr Zeit, den Jahresabschluss zu erstellen. Der dann vorliegende Jahresabschluss ist innerhalb von weiteren sechs Monaten elektronisch zu hinterlegen. Dieser lange Zeitraum von insgesamt zwölf Monaten reicht nach meiner langjährigen Erfahrung vollkommen aus - wenn man diese lästige Aufgabe nicht immer wieder verschieben würde. Ich hatte aber bereits bei der letzten Beratung im Rahmen des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes ausgeführt, dass wir für Härtefallregelungen sind, mit denen dem Bundesamt für Justiz mehr Flexibilität ermöglicht werden soll. Das gilt sowohl für die Frage nach dem Verschulden bei Überschreiten von Fristen als auch für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Gemeint sind damit die Verlängerung der Frist zur Einreichung des Jahresabschlusses und der Verzicht auf Ordnungsgelder in diesen Fällen. Diesen neuen Regelungen können wir somit zustimmen. Zu Protokoll gegebene Reden Die Regelungen im Handelsgesetzbuch sind jetzt klarer und transparenter - auch das freut uns. Die dritte geplante Änderung, nämlich die Einführung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des allein zuständigen Landgerichts Bonn, sollte nach unserer Meinung für jeden Anhänger eines Rechtsstaates eine Selbstverständlichkeit sein. Bisher entscheidet über Beschwerden gegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes für Justiz ausschließlich das Landgericht Bonn. Es gibt keine Rechtsmittel gegen dessen Entscheidungen. In einem sich selbst Rechtsstaat nennenden Land sollte dagegen immer eine Berufung oder Beschwerde gegen ein erstinstanzliches Gerichtsurteil möglich sein. Dass das jetzt endlich nachgeholt wird, damit gegen Willkürentscheidungen vorgegangen werden kann und zu widersprüchlichen Entscheidungen der Kammern des Landgerichts Bonn eine einheitliche Rechtsprechung und damit Rechtsanwendung in Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes für Justiz endlich geschaffen werden soll, halten wir für dringend geboten. Aufgrund der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister, also dem EHUG, im Jahre 2006 verstrichenen Zeit wäre es aus meiner Sicht erforderlich gewesen, auch die zwischenzeitlich mit der Offenlegungspflicht in der Wirtschaftspraxis gemachten Erfahrungen bei dem vorliegenden Gesetzentwurf einzubeziehen. Dann wäre Ihnen aufgefallen, dass sich in einer Befragung mittelständischer Unternehmen im Jahre 2011 gezeigt hatte, dass durch das EHUG kleine und/oder nichtdiversifizierte Familienunternehmen tendenziell benachteiligt werden. Viele Unternehmen nehmen daher hohe Kosten in Kauf, um die negativen Wirkungen des elektronischen Bundesanzeigers, in dem die Unternehmen ihre Jahresabschlüsse publizieren müssen, zu minimieren. Im Ergebnis wird das EHUG von den mittelständischen Unternehmen auch unter Anerkennung seiner Vorteile mehrheitlich abgelehnt, das heißt also: obwohl diese Unternehmen nicht nur die Nachteile des EHUG tragen, sondern auch von dessen Vorteilen profitieren. Reformvorschläge der Wirtschaft und mögliche Alternativen zum elektronischen Bundesanzeiger scheinen die Regierungsfraktionen offenkundig nicht einbezogen zu haben. Warum nicht? Die Regierungsparteien, insbesondere die FDP, stellen sich doch sonst immer auf die Seite des Mittelstands und vertreten angeblich dessen Interessen - hier nicht. Aber nicht nur hier nicht, sondern beispielsweise auch nicht bei der Zahlungsverzugsrichtlinie.

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nach dem Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz folgt nun - nach zahlreicher Kritik von Verbänden und Unternehmen - ein Gesetzentwurf zur Änderung des Handelsgesetzbuches. Lange genug wurden wir auf die Folter gespannt. Die Inspiration durch unseren damaligen Antrag ist überdeutlich, das freut uns natürlich. Schade nur, dass das Vorhaben nicht ganz bis zu Ende gedacht wurde. Doch schauen wir uns den Entwurf doch etwas näher an. Das eigentliche Problem blieb vom ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung zunächst unberührt: die unangemessen hohen Ordnungsgelder ab 2 500 Euro aufwärts, die zu entrichten waren, wenn die Rechnungsunterlagen nicht spätestens zwölf Monate nach Abschluss des Geschäftsjahres beim Bundesanzeiger elektronisch eingereicht wurden und die sechswöchige Androhungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelaufen war. Um zu verstehen, wer von diesen Ordnungsgeldern am stärksten betroffen ist, muss man wissen: In den Ordnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurden laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfahren gegen kleine Unternehmen eingeleitet. Aber gerade für kleine Unternehmen ist der buchhalterische Aufwand zur Erstellung des Jahresabschlusses schwerer zu erfüllen als für mittlere und große Unternehmen. 2 500 Euro sind für kleine Unternehmen außerdem ein harter Schlag - bis hin zur Existenzbedrohung. Jetzt will Schwarz-Gelb unserem Vorschlag nachkommen, die Höhe der Ordnungsgelder zu senken. Man könnte fast meinen, unser Antrag wäre plagiiert worden. Aber leider haben die Autorinnen und Autoren es nicht richtig zu Ende geführt. Wenn abschreiben, dann schon richtig! Denn CDU/CSU und FDP gehen davon aus, dass 1 000 Euro für kleine Unternehmen durchaus verträglich seien. Also sagen wir mal so: Natürlich ist es besser, als alle pauschal mit 2 500 Euro oder mehr zu bestrafen. Aber wir glauben, dass auch eine geringere Summe ausreicht, um Unternehmen zur Ordnung zu rufen. Der Vorschlag geht uns nicht weit genug. In unserem Antrag forderten wir im vergangenen Jahr echte Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse: Wir wollten, dass die Ordnungsgelder an die Größe der Unternehmen angepasst werden. Dabei haben wir als Mindesthöhe für Kleinstunternehmen 250 Euro vorgeschlagen, für Kleinunternehmen 500 Euro. Das ist aus unserer Sicht ausreichend abschreckend und kann ja immer noch progressiv gestaltet werden. Und außerdem ist da noch etwas versteckt, was die geplante Senkung der Ordnungsgelder gleich weniger spektakulär erscheinen lässt. Was im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung etwas befremdlich erscheint, ist vor allem die Tatsache, dass diese geringeren Ordnungsgelder nur dann greifen sollen, sofern Unternehmen ihre „Pflicht, wenn auch verspätet“ erfüllt haben. Die Mindesthöhe der grundsätzlich angesetzten Ordnungsgelder soll demnach für alle Kapitalgesellschaften, gleich welcher Größe, bestehen bleiben - nämlich bei 2 500 Euro. An unserer Kritik Zu Protokoll gegebene Reden ändert sich damit wenig, denn diese Gleichbehandlung aller Unternehmensgrößen ist zu pauschal. Zudem erscheint fraglich, inwiefern sich der Verwaltungsaufwand durch diese Vorgehensweise erhöhen würde - denn so wird zunächst die Summe von 2 500 Euro angedroht, nur um dann bei verspäteter Zahlung zu prüfen, ob nicht doch eine Senkung greifen könnte und, wenn ja, welche der drei Stufen zutreffen würde. Ein Versäumnis ist es aus unserer Sicht auch, die Höhe der Ordnungsgelder auf einem Höchstbetrag von 25 000 Euro belassen zu wollen - diese Summe ist für Großunternehmen doch vergleichsweise eine Mücke gegenüber einem Elefanten. Schauen Sie doch nur einmal, was 2 500 Euro für einen kleinen Handwerksbetrieb bedeuten, und überlegen Sie im Gegenzug, was 25 000 Euro an Auswirkungen für einen millionenschweren Großkonzern mit sich bringen. Finden Sie das wirklich verhältnismäßig? Wir wollten in unserem Antrag damals außerdem, dass das Bundesamt für Justiz in Härtefällen ganz vom Ordnungsgeld absehen oder zumindest die Frist verlängern kann. Ich habe es in der ersten Rede zu diesem Thema ja bereits erwähnt: Gerade in kleinen Betrieben ist nur eine Person für die Rechnungslegung und Buchhaltung verantwortlich. Vertretungskräfte sind ein Luxus, die sich die Kleinen nicht unbedingt leisten können. Im Krankheitsfall kann sich logischerweise die Einreichung der Bilanz drastisch verzögern. Im Gesetzentwurf wird deshalb nun vorgeschlagen, dass Wiedereinsetzungsverfahren greifen sollen. Zunächst muss vonseiten der Unternehmerinnen und Unternehmer „glaubhaft“ geschildert werden, dass ein wirklich unverschuldetes Hindernis der rechtzeitigen Offenlegung entgegenstand. Wenn das Bundesamt für Justiz der Erklärung Glauben schenkt, gibt es eine zusätzliche sechswöchige Nachfrist, die mit dem Wegfall des Hindernisses startet. In so einem Fall soll das Ordnungsgeld entfallen. Fraglich erscheint jedoch, ob die angedachte Frist, in der ein solcher Wiedereinsetzungsantrag gestellt werden kann, praktikabel ist. Nach dem momentanen Entwurf müssen Betroffene spätestens zwei Wochen nach Ende des Hindernisgrundes einen solchen Antrag stellen. Nach einer langen schweren Krankheit sofort an die rasche Antragstellung zu denken, ist womöglich zu rational, zu bürokratisch gedacht. Im Fazit stehen wir also einem Gesetzentwurf gegenüber, der die richtigen Tendenzen aufweist. Er lässt aber den Mut missen, die Erleichterungen sinngemäß zu Ende zu denken. In einem Rundumschlag hätte jetzt die Gelegenheit bestanden, die Kleinsten und Kleinen praktisch und einfach zu entlasten und die Großen fair zu beteiligen. Einen solchen Entwurf können wir schlecht mittragen, auch wenn uns die Richtung gefallen hätte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Monika Lazar, Beate WalterRosenheimer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ahndung von Therapien mit dem Ziel der Änderung der sexuellen Orientierung bei Minderjährigen - Drucksache 17/12849 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Da muss immer jeder für sich entscheiden, glaube ich. Also ich würde jetzt sagen, natürlich kann man das so oder anders sehen, und würde auch immer akzeptieren, dass andere eine andere Position haben“, so zitiert die Zeitung „Die Welt“ am 26. März 2013 die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Diese leicht verschachtelte Antwort gab sie auf die Frage, wie sie zum Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stehe, den wir heute in erster Lesung beraten. Die Grünen beantragen damit, einen Ordnungswidrigkeitstatbestand zu schaffen, wonach „ordnungswidrig handelt, wer berufs- oder gewerbsmäßig Therapien anbietet oder durchführt, die das Ziel haben, die sexuelle Orientierung von Minderjährigen zu verändern.“ Die leicht schlingernden Einlassungen der Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen zeigen sehr deutlich, was es mit dem Gesetzentwurf auf sich hat. Es wird plakativ etwas beantragt, wofür es in der Sache überhaupt keine Notwendigkeit gibt. Alles das geschieht nur, um ein Thema in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, dessen Bedeutung im Einzelnen zwar nicht von der Hand zu weisen ist, bei dem sich aber die Frage nach der Notwendigkeit eines Eingreifens durch den Gesetzgeber stellt. Vordergründig ist das Ziel des Antrags, einen Ordnungswidrigkeitstatbestand neu zu schaffen. Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist vom Strafrecht abgeleitet und hat den gleichen Charakter. Das Strafrecht ist die gleichsam schärfste Waffe des Rechtsstaates, um missbilligtes Verhalten mit Sanktionen zu ahnden. Dementsprechend geht der Staat damit in gegebenem Maße umsichtig um. Denn umgekehrt bedeutet die Tatsache, dass ein Verhalten von einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand nicht umfasst ist, nicht automatisch, dass es vom Staat gutgeheißen wird. So verhält es sich auch bezüglich der im Antrag angesprochenen Therapien. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass auch die Bundesregierung diese Therapien missbillige. Und ja, zweifelsohne sind sie auch fragwürdig. Aber bedeutet das gleichzeitig, dass es deshalb eines Straf- beziehungsweise Ordnungswidrigkeitstatbestandes bedarf? Nach Ansicht der CDU/ CSU-Fraktion ist dies nicht der Fall. Zunächst geht es hier nicht um Zwangstherapien, sondern um die autonomen Entscheidungen Einzelner. Hier stellt sich die Frage, in welchem Maße es dem Staat zusteht, durch gesonderte Vorschriften in diese Entscheidungen einzugreifen. Sicherlich geht es bezogen auf Minderjährige darum, dass diese ihre Entscheidung nicht alleine treffen, sondern deren Erziehungsberechtigte. Sofern es aber um fragwürdige Entscheidungen der Erziehungsberechtigten geht und die Gefährdung des Kindeswohls eine Rolle spielt, finden sich im Familienrecht bereits ausreichende Instrumente, um der - ohne Zweifel gegebenen - Wächterfunktion des Staates über das Kindeswohl nachkommen zu können. Einer eigenständigen Vorschrift bedarf es somit aus diesem Gesichtspunkt nicht. Des Weiteren haben wir mit den Körperverletzungsvorschriften des Strafgesetzbuches sowie der Vorschrift des § 228 StGB bereits jetzt entsprechende strafrechtliche Regelungen, die vor fragwürdigen Therapien schützen, wenn diese in den Bereich der Körperverletzung umschlagen. Gerade bezüglich solcher Fragen existiert eine ausdifferenzierte Rechtsprechung. Auch hier hat der Staat, sogar mit seinem schlagkräftigsten Instrument, dem Strafrecht, Möglichkeiten an der Hand, gegen entsprechendes Handeln vorzugehen, soweit es denn die Schwelle der Körperverletzung überschreitet. Dies ist aber ohne Zweifel im Einzelfall zu beurteilen. Die Notwendigkeit einer eigenständigen Vorschrift besteht auch in dieser Hinsicht nicht, da keine Schutzlücke besteht. Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen greift also in tatsächlicher Hinsicht ein Problem auf, das nicht von der Hand zu weisen ist, für dessen rechtliche Regelung es aber gleichzeitig keinen eigenständigen Bedarf gibt. Es besteht keine Schutzlücke, die zu schließen ist. Denn auf verschiedenen rechtlichen Ebenen, angesprochen habe ich Familienrecht und Strafrecht, gibt es entsprechende rechtliche Möglichkeiten für ein Eingreifen. Wir lehnen den Gesetzentwurf daher ab.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen das Anbieten und die Durchführung von Therapien an Minderjährigen untersagt werden, die eine Änderung der gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung verfolgen. Die Annahme, dass Homosexualität überhaupt einer Therapie bedarf, mutet heutzutage nicht nur äußerst merkwürdig und reaktionär an. Diese Denkweise ist schlichtweg dumm, respektlos und diskriminierend. Seit Jahrzehnten wird Homosexualität in der Medizin nicht mehr als Krankheit definiert. Die Diskriminierung wegen der sexuellen oder geschlechtlichen Identität und Orientierung ist längst gesetzlich verboten. Schritt für Schritt hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren die Lücken in den Rechtsbereichen geschlossen, in denen homosexuelle Menschen gegenüber Heterosexuellen benachteiligt wurden. Wir haben in diesem Hause dazu bunte Debatten geführt, zuletzt nachdem das Bundesverfassungsgericht gleichgeschlechtliche Paare im Adoptionsrecht gestärkt hat. All die Diskussionen haben gezeigt, dass wir in einem aufgeklärten und toleranten Land leben und dass es nur noch ein Häuflein von Ewiggestrigen ist, den Menschen mit einer von der heterosexuellen abweichenden Sexualität für minderwertig oder gar krank hält. Diese Ewiggestrigen sind es jedoch, die dafür sorgen, dass sich junge Menschen von derartigen Therapien überhaupt angesprochen fühlen, dass solche Angebote nicht einfach ins Leere laufen. Dass wir heute über das Verbot dieser Therapien reden, ist richtig. Solchen Methoden muss aber nicht nur rechtlich Einhalt geboten, sondern auch der ideelle Nährboden entzogen werden. Nur ein gesamtgesellschaftlicher Prozess kann es schaffen, dass unsere Kinder ohne Angst und Einschränkungen aufwachsen können. Kinder müssen so gefördert werden, dass sie in allen Aspekten ihrer Entwicklung die Möglichkeit haben, sich entsprechend ihren Voraussetzungen zu entwickeln, und dass sie zu starken Persönlichkeiten werden und ihren Weg im Leben finden. Dabei müssen wir ihnen das Gefühl geben, sich in einer sicheren Welt bewegen zu können. Es ist auch die Aufgabe der Politik, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wenn ein Verbot von gefährlichen und dubiosen Therapieangeboten dafür einen Beitrag leisten kann, sollten wir das auch eingehend prüfen und in die Wege leiten. Eine längst überfällige Maßnahme ist in diesem Zusammenhang auch, das ausdrückliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität im Grundgesetz zu verankern, wie es die SPD-Fraktion fordert. Alle Menschen haben eine sexuelle Identität, die wir als hetero-, bi-, homo-, asexuell oder wie auch immer bezeichnen können. Menschen, die mit der gesellschaftlichen Norm Heterosexualität brechen, sind keine kranken Leute. Daher erübrigt sich auch die Frage nach einer Behandlung oder Therapie. Was wir stattdessen brauchen, ist Akzeptanz und Toleranz für alle Menschen. Zu Protokoll gegebene Reden

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass Homosexualität keine Krankheit ist, sondern Teil der menschlichen Natur und deshalb Therapien grundsätzlich nicht zugänglich. Auch ich beobachte mit Sorge diese Konversionstherapien und die damit verbundenen Aktivitäten, die auch aus meiner Sicht belegt zu negativen und schädlichen Effekten führen können. Ich halte dennoch nichts von einer Bußgeldbewehrung eines entsprechenden Angebots. Gegen diese Bestrebungen muss mit Aufklärung und Hilfe vorgegangen werden, die erfreulicherweise auch bundesweit angeboten wird. Eine Bußgeldbewehrung erscheint mir nicht angezeigt. Mir erscheint auch fraglich, ob die in dem Antrag zitierte Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes wirklich alle verfassungsrechtlichen Fragen aufwirft und diese auch zutreffend würdigt. Interessanterweise wird das Grundrecht der Religionsfreiheit und damit auch einer religiös motivierten kritischen Betrachtung von gleichgeschlechtlichen Handlungen und Beziehungen im Antrag nicht zitiert. Aber auch dieses Grundrecht ist in die Abwägung miteinzubeziehen. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist deshalb klar: Homosexuelle Menschen bedürfen weder der Therapie noch einer Umerziehung. Entsprechenden Angeboten ist mit Aufklärung und Hilfe entgegenzutreten. Einer Bußgeldbewehrung bedarf es nicht.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Am 7. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation, WHO, Homosexualität aus dem Krankheitskatalog. Dieser längst überfällige Schritt hatte eine Signalwirkung und führte zu einem steigenden Respekt gegenüber Lesben und Schwulen und einer zunehmenden Anerkennung ihrer sexuellen Orientierung. Nicht überall ist dies so. Auch heute noch gibt es Menschen, die Homosexualität als Krankheit auffassen, welche heilbar wäre. Insbesondere in den USA gibt es christlich-evangelikale Gruppen, die verbreiten, dass man Menschen von der Homosexualität „heilen“ könne. In den USA existiert die Ex-Gay-Bewegung, die vermeintlich Menschen helfen möchte, indem sie vorgibt, dass sie ihre homosexuellen Neigungen unterdrücken können oder sie gar heterosexuell werden könnten. Sie betrachten Homosexualität als anormal. Auch in Deutschland existieren Gruppen, die sich die Ex-GayBewegung zum Vorbild genommen haben. Natürlich steht es jedem Menschen frei, seinen religiösen Überzeugungen nachzugehen oder auch die eigene Sexualität als falsch zu empfinden. Versuche, jemanden davon zu „heilen“, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, da selbst Krankheiten nur zum Teil heilbar sind. Aber wie die WHO unterstrich, ist Homosexualität keine Krankheit. Die sexuelle Orientierung gehört zur Identität eines Menschen. Das sexuelle Begehren ist ein Teil der Persönlichkeit. Menschen können nicht umgepolt werden. Im Gegenteil: Ein Ansatz, der Menschen einredet, Homosexualität wäre schlecht, unnatürlich oder Ähnliches, ist gefährlich! Gerade junge Menschen brauchen in der schwierigen Phase der Selbstfindung Rückhalt und Sicherheit und müssen angenommen werden, wie sie sind. „Heilversuche“ gefährden diesen Prozess, können schlimme psychische Folgen haben, im Extremfall bis zum Suizid. Auch die Bundesregierung hat diese Therapieansätze in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen für falsch befunden. Umso befremdlicher ist es, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Anfang dieses Jahres den Gnadauer Gemeinschaftsverband für seine Arbeit würdigte. Dieser fordert die „Korrektur“ von Homosexuellen. Frau Merkel plant, am 12. Juli am Landesjugendtreffen der „Apis“ teilzunehmen und dort zu reden. Die „Apis“ sind junge Menschen, die im evangelischen Gemeinschaftsverband Württemberg engagiert und zu der festen Überzeugung gelangt sind, Homosexualität sei eine veränderbare Persönlichkeitsstörung. Dies ist das falsche Signal, Frau Bundeskanzlerin. „Homoheiler“ betreiben wissenschaftlichen Mumpitz und gefährden junge Menschen. Zum Glück haben evangelikale Gruppen in Deutschland im Gegensatz zu den USA nur eine sehr geringe Bedeutung, und „Homoheiler“ sind eine verschwindend kleine Minderheit. Natürlich müssen wir alles darangeben, dass unsere Kinder vor ihnen geschützt werden und Eltern nicht aus einer falsch verstandenen Religiosität ihre Kinder ins Unglück stürzen. Doch der Gesetzgeber sollte nicht neue Straftatbestände schaffen, sondern zunächst prüfen, inwiefern wir dies mit den bestehenden Gesetzen verhindern können. Meine Fraktion ist skeptisch, ob der Vorschlag der Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der geeignete Weg ist, „Homoheilern“ das Handwerk zu legen. Zunächst sollten wir prüfen, ob nicht das geltende Recht ausreichend Möglichkeiten bietet. Hier ist zu prüfen, ob nicht die Gewerbeaufsicht der Ämter dies mit Rückgriff auf die Gewerbeordnung unterbinden kann und ob man „Homoheilern“ ihre Tätigkeit nicht untersagen kann, da sie auf wissenschaftlich haltloser Basis agieren und deshalb Betrug begehen, und ob ihr Handeln nicht im Angesicht der psychischen Folgen eine Körperverletzung darstellt. Des Weiteren ist zu prüfen, ob das bestehende Recht Anwendung findet. Falls dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, so können wir über eine Verschärfung des Strafrechts nochmals nachdenken. Anlässlich der Streichung von Homosexualität aus dem Krankheitskatalog der WHO wird seit dem Jahr 2005 der Internationale Tag gegen Homophobie am 17. Mai begangen. Ich wünsche mir, dass Frau Dr. Merkel an diesem Tag lesbische und schwule Gruppen besucht und damit ein deutliches Zeichen geZu Protokoll gegebene Reden gen Homophobie in dieser Gesellschaft setzt, statt sich gegen die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu stellen und „Homoheiler“ zu besuchen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Homosexualität ist keine Krankheit. Am 17. Mai 1990 hat die WHO dieser Tatsache in ihren Richtlinien Rechnung getragen. Man kann deswegen auch nicht von Homosexualität „kuriert“ oder „geheilt“ werden. Jeder Mensch hat seine eigene sexuelle Identität und persönliche Entwicklung. Allerdings gibt es weiterhin Menschen, die glauben, die sexuelle Orientierung ließe sich durch Therapien ändern. Frei nach dem Motto: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Für bestimmte religiös-fundamentalistische Gruppen ist der Befund, dass Homosexualität eine natürliche Ausprägung der sexuellen Identität ist unerträglich. Sie bieten deswegen Seminare und Therapiegruppen an, bei denen vermeintlich Kranke und Leidende auf den „richtigen Weg“ geführt werden sollen. Sie nutzen dabei die Unsicherheit von Menschen, insbesondere von Jugendlichen und ihren Eltern, aus und versprechen eine Änderung der sexuellen Identität. Sie changieren dabei in unredlicher Weise zwischen Begriffen und Sphären: Sünde und Krankheit, theologische Überzeugung und scheinbar wissenschaftliche Befunde werden in intellektuell unzulässiger Weise vertauscht und vermengt. Natürlich ist die Findung der sexuellen Identität nicht immer einfach, und gerade der Coming-outProzess kann schmerzhaft und schwierig sein. Psychologische Therapien zur Beratung und Selbstfindung gehen deswegen von einem ergebnisoffenen Therapieverlauf aus. Einziges Ziel muss Selbstfindung und Selbstversöhnung der Patienten mit sich selbst sein. Diese Form von Beratung und Unterstützung ist wertvoll und hilft den Menschen, ihr Leben erfüllt und glücklich zu gestalten und fördert die Annahme der eigenen sexuellen Orientierung, sei sie homo-, heterooder bisexuell. Nicht der Therapeut gibt hierbei das Ziel normativ vor, sondern er macht sich mit seinem Patienten auf die Suche nach dessen Identität und versucht, die Selbstentfaltungsprozesse zu unterstützen. Im Gegensatz dazu ist das Ziel der von Wüstenstrom, manchen Siebenten-Tag-Adventisten oder dem Bund Katholischer Ärzte vermittelten bzw. durchgeführten Therapien klar vorgegeben: Homosexualität wird als negativ und falsch dargestellt. Der Bund Katholischer Ärzte spricht in seiner Stellungnahme zu dem heute debattierten Gesetzentwurf zum Beispiel ausführlich über angeblich stark gefährdende Sexualpraktiken wie Oral- und Analverkehr, die natürlich nur von Homosexuellen praktiziert würden. Hier zeigt sich deutlich die Grundeinstellung dieser Leute: Sie begegnen den Hilfesuchenden nicht unvoreingenommen, sondern vorurteilsbelastet. Solchen Menschen darf man Jugendliche nicht ausliefern! Denn diese Therapien sind nicht einfach ein sinnloser Zeitvertreib, der schlicht zu nichts führt. Vielmehr sind sie für die behandelten Menschen schädlich und gesundheitsgefährdend. Zahlreiche Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass die Folgen dieser sogenannten Therapien Ängste, soziale Isolation und Depressionen sind, die nicht selten zu Selbstmordversuchen führen. Die American Psychiatric Association kommt in einem Gutachten für den Senat von Kalifornien im Jahr 2007 zu dem Ergebnis, dass die Wirksamkeit von diesen Therapien nicht gegeben sei. Die Organisation hatte Dutzende Studien ausgewertet und dabei Belege gefunden, dass zu den negativen Nebenwirkungen unter anderem der Verlust sexueller Gefühle und Suizidalität zählten. Die American Psychiatric Association kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit solcher Therapien trotz jahrzehntelanger Bemühungen der jeweiligen Kreise nicht gegeben sei. Im Gegenteil seien Berichte über aufgrund der Behandlung aufgetretene Schädigungen dokumentiert. Die Organisation der amerikanischen Psychiater lehnt diese Behandlungen deswegen ab. Der Professor für Psychologie der Universität Basel, Herr Professor Dr. Rauchfleisch, kommt zu dem Ergebnis, dass die Behandlung fehlliefe und zudem „die Änderung im Sexualverhalten häufig mit schweren Depressionen, zentralen Selbstwertproblemen und tiefer Verzweiflung erkauft“ wird und bis „zum Suizid der betreffenden Menschen führen“ könne. Nicht zuletzt hat auch die Bundesregierung die Gefährlichkeit dieser Therapien bestätigt. Demnach gründet diese Einschätzung sich „auf die Ergebnisse neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen, nach denen bei der Mehrzahl der so therapierten Personen negative und schädliche Effekte ({0}) auftraten und die versprochenen Aussichten auf „Heilung“ enttäuscht wurden.“ ({1}). In Kalifornien ist der Gesetzgeber aufgrund all dieser Erkenntnisse zu dem Ergebnis gekommen, dass solche „Heilungsversuche“ für Minderjährige zu verbieten seien. Unser Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, verfolgt dasselbe Ziel. Wir schlagen vor, das Anbieten und Durchführen solcher Therapien als ordnungswidrig zu verbieten. Der Staat kommt damit seiner Pflicht des Jugendund Gesundheitsschutzes nach, die sich aus dem Art. 2 Abs. 2 und des Art. 6 Abs. 2 unseres Grundgesetzes ergibt. Bei Überschreitung der Grenzen des Elternrechts durch kindeswohlbeeinträchtigenden Missbrauch des Rechts berechtigt und verpflichtet der Art. 6 Abs. 2 Satz 2 zu staatlichen Interventionen zugunsten des schutzbedürftigen Kindes. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einem Gutachten ({2}) geprüft, ob einem solchen Verbot in Deutschland verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen. Der Dienst kommt zum Ergebnis, dass keine solchen Zu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({3}) Bedenken vorliegen. Die Gefährdung des Kindeswohls, die bei den angesprochenen Therapien zweifelsfrei vorliegt, stellt eine materielle Anforderung dar, die den Staat verpflichtet, das staatliche Wächteramt auszuüben. Wir müssen diese Quacksalberei und Scharlatanerie verbieten! Ich erwarte eine interessante Debatte in den Ausschüssen und hoffe, dass wir dort zügig zu einem Ergebnis kommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf Drucksache 17/12849 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes und anderer registerrechtlicher Vorschriften zum Zweck der Zulassung der elektronischen Antragstellung bei Erteilung einer Registerauskunft - Drucksache 17/13222 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll gegeben.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bisher war es grundsätzlich notwendig, persönlich bei der entsprechenden Meldebehörde vorzusprechen, wenn man einen Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses aus dem Zentralregister oder einen Antrag auf Erteilung einer Auskunft aus dem Gewerbezentralregister stellen wollte. Wenn der Wohnsitz im Ausland besteht, war es nach bisheriger Gesetzeslage nach § 30 Abs. 3 BZRG sogar notwendig, einen schriftlichen Antrag mit Identitätsnachweis durch Bescheinigung einer deutschen Konsularbehörde einzureichen. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses Verfahren nun erheblich erleichtert. Die Regelungen im Bundeszentralregistergesetz werden dahin gehend geändert, dass zukünftig der Antrag auf elektronischem Wege unmittelbar bei der Registerbehörde gestellt werden kann. Die entsprechende Regelung enthält der neue § 30 c BZRG. Das Konzept für die Antragstellung auf Erteilung eines Führungszeugnisses soll auf den elektronischen Antrag zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbezentralregister übertragen werden. Für die Gewerbeordnung wird eine entsprechende Regelung in § 150 e GewO geschaffen. Die Identifizierung des Antragsstellers wird mittels eID erreicht. Ein Abgleich mit dem Melderegister wird insoweit entbehrlich. Die Grundlage für den elektronischen Identitätsnachweis wurde in § 18 Abs. 2 PAuswG geschaffen und die entsprechende elektronische Identifikation allgemein im Rechtsverkehr zugelassen. Durch dieses Verfahren profitieren vor allem Bürgerinnen und Bürger und im Bereich der Gewerbeordnung die Wirtschaft. Das Verfahren wird erleichtert, beschleunigt und verbilligt. Die Antragstellung kann nun online erfolgen. Somit wird Zeitaufwand bei der Antragstellung eingespart. Da die Gebühr im elektronischen Rechtsverkehr wegen des verkleinerten Aufwandes sicher geringer ausfällt, findet auch eine Kostenreduzierung statt. Zuerst wird das Angebot sicher eher durch die Wirtschaft wahrgenommen werden. Um nämlich den elektronischen Identitätsnachweis zu führen, bedarf es eines entsprechenden Lesegerätes, das derzeit nur wenige Bürgerinnen und Bürger haben. Die zukünftige Entwicklung hin zu mehr elektronischem Rechtsverkehr wird aber dafür sorgen, dass die Möglichkeit der elektronischen Antragstellung auch von Bürgerinnen und Bürgern mehr und mehr genutzt wird. Insbesondere bei der Auskunft aus dem Bundeszentralregister bedarf es nur einer einfachen Identifizierung, sodass die Sicherheitsschwelle eher gering anzusetzen ist. Auch dies wird dazu führen, dass sich die elektronische Antragstellung durchsetzen wird. Ebenfalls die Kommunen werden auf Dauer von der elektronischen Antragstellung profitieren. Zwar werden die Gebühren nicht mehr den Kommunen, sondern dem Bund zufließen. Die Auskunftserteilung erfolgt eben nicht mehr durch die Meldebehörde, sondern durch die Registerbehörde; mithin fließen die Gebühren direkt an den Bund. Da die Kommunen aber erhebliche Kosteneinsparungen für Personal und Sachmittel haben werden, wird in Zukunft ein finanzieller Gewinn der Kommunen zu verzeichnen sein. Der Bundeshaushalt kann mit Mehreinnahmen von zu Beginn 2,5 Millionen Euro pro Jahr und nach Erreichen des mittelfristig geschätzten Antragsaufkommens von rund 10,2 Millionen Euro pro Jahr rechnen. Die voraussichtlichen Kosten, solche, die zu Beginn einmalig anfallen, wie etwa für die Anschaffung der notwendigen Hard- und Software, und die laufenden Kosten, beispielsweise für die Instandhaltung der IT und den Mehrbedarf an Personal, werden durch die größer ausfallenden Einnahmen der Registerbehörde gedeckt sein; diese gehen nämlich weit über die nötigen Beträge hinaus. Unbedingt zu betonen sind die Vorteile, die durch das neue System entstehen. Neben der erheblichen Erleichterung des Verfahrens, welches eine Antragstellung ermöglicht, ohne persönlich bei der zuständigen Behörde vorstellig werden zu müssen, ist auch die massive Beschleunigung zu nennen. Bei einer Erspar29872 nis von durchschnittlichen 16 Minuten pro Fall ergeben sich 128 000 Stunden pro anno, welche für diesen bürokratischen Aufwand eingespart werden können. Neben der Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger wird sich auch ein geringerer Verwaltungsaufwand bei der Registerbehörde selbst beobachten lassen. Grund dafür ist, dass zukünftig nur noch diese eine Instanz zuständig ist und ein sogenanntes OneStop-Shop-System entsteht. Mit der aktuellen, immer weniger zeitgemäßen Regelung sind immer mindestens zwei Instanzen involviert: zum einen die, die den Antrag entgegennimmt, und zum anderen die, welche die Identität und Meldedetails bestätigt. Die zuvor genannten Vorteile und Verbesserungen für viele Teile unserer Gesellschaft überwiegen anfängliche Herausforderungen, wie zusätzlicher Personalbedarf und neue praktische Prüfaufgaben bei der Registerbehörde auf Bundesebene. Diese werden zu bewältigen sein. Da bereits bundeseinheitliche Regelungen bestehen, ist die Gesetzgebungszuständigkeit gegeben. Die Wahrung der Rechtseinheit, welche im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist, kann nur so garantiert werden. Eine Regelung durch die Länder kann dies nicht erreichen. Im Laufe der Zeit ist durch die weitere Verbreitung des neuen Personalausweises auch mit einer Zunahme der elektronischen Anträge zu rechnen. Die Einführung neuer Anwendungen wird die Attraktivität der eID-Funktion steigern. Auch der vorliegende Gesetzentwurf trägt dazu bei. Um auch im internationalen Bereich weiter mithalten zu können und das E-Government mitzugestalten und weiterzuentwickeln, braucht die Bundesrepublik solche modernen und vorausschauenden Gesetzesänderungen. Die Union ist hier Vorreiter bei einem modernen E-Government und beim Bürokratieabbau. Die Opposition hatte viele Jahre Zeit, etwas zu machen, und hat nichts auf den Weg gebracht. Wir tun was.

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schon 2008 hat die damalige SPD-Justizministerin Brigitte Zypries eine grundlegende Überarbeitung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Bundeszentralregistergesetzes vorgelegt, der wir dann auch hier im Parlament zugestimmt haben. Damit konnten die Meldebehörden beim Bundeszentralregister das Führungszeugnis elektronisch anfordern. Durch den Übergang von der schriftlichen auf die elektronische Antragstellung schufen wir die erste Grundlage dafür, dass Anträge von Bürgerinnen und Bürgern auf Erteilung eines Führungszeugnisses wesentlich schneller bearbeitet werden konnten. Doch die Bürgerinnen und Bürger mussten auch weiterhin einen Antrag auf Erteilung des Führungszeugnisses bei der Meldebehörde stellen. Problematisch war nämlich der elektronische Identitätsnachweis. Nachdem mit dem neuen Personalausweis der elektronische Identitätsnachweis realisiert wurde, ist nun auch die elektronische Antragstellung durch die Bürgerinnen und Bürger bei Gewährung des dafür notwendigen Datenschutzes möglich. Die Datensicherheit muss natürlich zwingend gegeben sein. Wir wissen ja alle, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine besonders hohe Bedeutung genießt. Mit der geplanten Rechtsänderung werden die Verfahrensabläufe bei Auskünften aus dem Bundeszentralregister weiter beschleunigt. Durch die Einführung des elektronischen Datenaustauschs können Anfragen der Bürgerinnen und Bürger künftig rascher und einfacher erledigt werden; denn der Umweg über die Meldebehörden entfällt. Die beschleunigte Datenverarbeitung bei der Erteilung von Führungszeugnissen im Bundeszentralregister kommt vor allem den Bürgerinnen und Bürgern zugute. Wer ein einfaches oder erweitertes Führungszeugnis aus dem Zentralregister benötigt, zum Beispiel, wenn bei einer Bewerbung ein Führungszeugnis verlangt wird, braucht also künftig nicht mehr wie bisher zum Einwohnermeldeamt zu gehen. Der Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses kann direkt online beim Bundesamt für Justiz als zuständige Registerbehörde gestellt werden. Damit werden auch die Kommunen entlastet. Allerdings muss auch gesagt werden, dass dann auch entsprechend die Gebühreneinnahmen für die bisherigen Antragstellungen wegfallen. Die Umstellung auf das automatisierte Verfahren aber verringert den bisherigen personellen Aufwand und rationalisiert das Registerverfahren. Das elektronische Antragsverfahren beim Führungszeugnis wird nun ermöglicht, weil das Personalausweisgesetz den elektronischen Identitätsnachweis allgemein im Rechtsverkehr zulässt. Für Ausländer können auch Aufenthaltstitel, die mit einem elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmedium versehen sind, für die elektronische Antragstellung verwendet werden. Allerdings ist für die Überprüfung der Angaben zur Person auch der Geburtsname für die registerrechtliche Zuordnung von Bedeutung. Erst mit dem neuen Personalausweis ist die elektronische Übermittlung des Geburtsnamens möglich. Damit kann die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben zur Person und zum Wohnort, die bei elektronischer Übermittlung denen des Personalausweises entsprechen müssen, durch den Empfänger überprüft werden. Ein Abgleich mit den Daten im Melderegister ist dann nicht mehr erforderlich. Das ist erst seit dem 21. Juni 2012 möglich. Um auch Personen, die Dokumente besitzen, in denen der Geburtsname nicht gespeichert wurde, die elektroniZu Protokoll gegebene Reden sche Antragstellung zu ermöglichen, können sie den Geburtsnamen im Antrag angeben. In diesen Fällen wird die Registerbehörde dann jedoch einen Datenabgleich mit dem Melderegister vornehmen müssen. Es ist sinnvoll, die elektronische Antragstellung auch zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbezentralregister zu ermöglichen, wie es der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht. Auch hier soll der neue Personalausweis eine sichere Identifizierung des Antragstellers gewährleisten. Der Petitionsausschuss des Bundestages befürwortet die Zulassung der elektronischen Beantragung des Führungszeugnisses. Anders als der Regierungsentwurf hält er aber eine Gesetzesänderung zur Schaffung dieser Möglichkeit nicht für erforderlich. Nun, das Bundeszentralregistergesetz regelt die Grundlagen der Organisation, Führung und Verwaltung des Zentralregisters, ferner Inhalt, Reichweite, Dauer und Tilgung der Eintragungen sowie die Voraussetzungen zur Erlangung von Auskünften aus dem Register. Da ist es doch notwendig und sinnvoll, die effiziente und vereinfachte elektronische Antragstellung im Gesetz zu verankern und so an die moderne Informationstechnologie anzupassen. Das Gesetz führt also das zu Ende, was eine sozialdemokratische Justizministerin konzeptionell angelegt hatte.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses oder die Erteilung der Auskunft aus einem Register ist für Bürgerinnen und Bürger nach wie vor nicht einfach und unkompliziert möglich. Begrenzte Öffnungszeiten in den Ämtern, lange Wartezeiten, unflexible Bearbeitung, schriftliche Antragstellung: Diese Dinge machen für Bürgerinnen und Bürger oftmals ihre Erlebnisse mit der Verwaltung in Deutschland aus. Die christlich-liberale Koalition möchte diesen Zustand beenden. Wir möchten, dass zukünftig Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, auf verschiedenen Wegen mit der Verwaltung zu kommunizieren. Mit dem E-Government-Gesetz des Bundes haben wir den Grundstein dafür gelegt. Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes möchten wir einen weiteren Baustein der liberalen Strategie zur Verwaltungsmodernisierung setzen. Denn auch in der Verwaltungsmodernisierung waren es vier gute Jahre für Deutschland. Moderne Verwaltung muss für Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit bieten, auf verschiedenen Wegen mit ihr zu kommunizieren. Die Zeiten, in denen man Nummern in Ämtern ziehen muss, können zu Ende gehen. Das Bundeszentralregistergesetz ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern ab sofort nicht nur persönlich die Ausstellung von polizeilichen Führungszeugnissen. Auch auf elektronischem Weg können sie zukünftig beantragt werden. Wir werden im Detail noch einmal überprüfen, ob hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Aber wir sind der Ansicht, dass mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ein gelungener erster Wurf auf dem Tisch liegt. Wir prüfen, ob und wie wir diesen Vorschlag noch weiter verbessern können. Mit dem neuen Bundeszentralregistergesetz schaffen wir für Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, einfach und ohne großen Aufwand die Informationen beizutreiben, die sie zum Beispiel für Bewerbungen benötigen. Ich würde mich daher freuen, wenn Sie uns dabei unterstützen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Endspurt der Wahlperiode und bemüht um eine Aufbesserung ihrer miesen Bilanz, führt die Koalition auf ziemlich halsbrecherische Weise einige ihrer fragwürdigen oder sogar gescheiterten Großprojekte im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik, IKT, zusammen. Keine Rolle spielen dabei Gefahren für die Daten der Bürgerinnen und Bürger, klare Defizite und systembedingte Sicherheitslecks. Der Zufall hilft manchmal der Wahrheit auf die Sprünge. Wenige Stunden vor der Vorlage der Bundestagstagesordnung, auf der der Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes auftauchte, wurde eine Stellungnahme des Bundesrechnungshofs, BRH, bekannt, in der dieser mit deutlichen Worten bemängelte, dass es dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, in mehr als zwei Jahren nicht gelungen sei, eine zertifizierte Software zur Nutzung der elektronischen Identität im neuen elektronischen Personalausweis zur Verfügung zu stellen. Und wie hängt beides zusammen? Der vorliegende Gesetzentwurf soll die - im Grunde ja wünschenswerte Nutzung eines elektronischen Zugangs zu Führungszeugnissen und Auskünften aus dem Gewerbezentralregister eröffnen. Die bisher unbedingt vorgeschriebene persönliche Antragstellung wäre damit hinfällig. Der Bundesrechnungshof schreibt dazu, dass zwar über 4 Millionen Euro ausgegeben worden sind, eine zertifizierte Software für den Identitätsnachweis der notwendigen Ausweis-App aber nicht vorliege. Was ist die Folge? Nach der Personalausweisverordnung sollen die Nutzer dieser Ausweis-App auf ihrem PC, Laptop oder anderem sicherstellen, dass sie nur eine vom BSI zertifizierte Software einsetzen, weil damit hinreichende Sicherheit gegeben sei. Tun sie das nicht - und das ist das Entscheidende -, gehen sie unkalkulierbare Haftungsrisiken ein, sowohl was Datenverluste, als auch was kommerzielle Aktivitäten betrifft. Laut BRH wurden die Nutzerinnen und Nutzer weder über die Nichtzertifizierung noch über die damit verbundenen rechtlichen Probleme und Risiken informiert. Die Deutsche Rentenversicherung biete gar den elektronischen Zugang auf die Versichertendaten an Zu Protokoll gegebene Reden und verweise - wahrheitswidrig - auf eine zertifizierte Ausweis-App des BSI. In einer ersten Zusicherung hatte das BMI die Zertifizierung verbindlich zugesagt. Der BRH zitiert sie aber nun in dem Sinne, dass eine Zertifizierung in ihren Augen nicht mehr nötig sei, da das BSI bei der Entwicklung der Software ja schon alles geprüft habe. „Auftretende Schwachstellen ({0}) frühzeitig erkannt und zeitnah behoben werden“ ({1}). Ich halte es ja tatsächlich für ein Problem, wenn die softwareentwickelnde Behörde, hier also das BSI, dieselbe ist, die das Produkt zertifizieren soll. So eine Interessenkollision haben wir im Gegensatz zu Ihnen immer kritisiert und vor den Folgen gewarnt. Dass diese Konstruktion jetzt aber auch noch dafür herhalten muss, eine Zertifizierung ad acta zu legen, auf eine öffentlich nachvollziehbare Sicherheitsbewertung zu verzichten und die Nutzerinnen und Nutzer unwissend zu lassen, das ist schon ein ziemlicher Hammer. Dieses Vorgehen entspricht aber - und damit zurück zum vorliegenden Gesetzentwurf und dem nächsten Systemproblem - dem standardisierten fahrlässigen Umgang dieser Bundesregierung mit zum Teil hochsensiblen Daten der Bürgerinnen und Bürger: Schon auf der ersten Seite der Gesetzesbegründung wird nämlich auf die neuen Regelungen des Entwurfs eines „Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung …“, Bundestagsdrucksache 17/11473, verwiesen. Dieses erst vor wenigen Tagen verabschiedete sogenannte E-Government-Gesetz basiert auf dem DeMail-Gesetz und der damit verbundenen unsicheren Technik: ein hochgefährlicher Systemfehler der angestrebten elektronischen Verwaltung. Auf der Sachverständigenanhörung wurde das ausgesprochen anschaulich dargestellt. Die Bundesregierung wollte das nicht ändern und senkte stattdessen die Sicherheitsstandards in den Behörden zur Weitergabe von Daten ab. Eine kleine Zwischenbilanz: Der vorliegende Gesetzentwurf zwingt die Bürgerinnen und Bürger, möglicherweise unsichere Technik einzusetzen und der Bundesregierung zu glauben, dass das schon in Ordnung gehe. Derselbe Gesetzentwurf fußt in einer Regelung - zum Umgang mit dem Geburtsnamen - auf dem gerade erst verabschiedeten Gesetz zur elektronischen Verwaltung, das wiederum auf der unsicheren DeMail-Technik basiert. Beide zusammen würden nicht funktionieren, hätte die Bundesregierung nicht das unsichere Projekt der eID auf dem neuen Personalausweis gegen alle Kritik auf Biegen und Brechen ohne jede Notwendigkeit durchgesetzt. Kaum eines der Versprechen auf optimale Datensicherheit in den Großprojekten der Regierung konnte eingehalten werden. Alle - bis auf das in aller Schönheit gestorbene ELENA - wurden und werden jetzt im Endstadium der Legislaturperiode durchgedrückt, um vollendete Tatsachen zu schaffen und im Dienste wirtschaftlicher Interessen. Ich erinnere hier nur an E-Perso, E-Government, ePass und elektronische Gesundheitskarte. Dagegen steht die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger: 17,5 Millionen Personalausweise mit eIDFunktion wurden bis Oktober 2012 ausgegeben. Bei 70 Prozent davon haben klugerweise die Ausweisinhaberinnen und -inhaber die eID-Funktion ausschalten lassen. Denn noch kann man das, obwohl immerhin 130 behördliche und kommerzielle Internetdienste damit anzuzapfen wären. Hier zeigt sich korrektes bürgerliches Misstrauen. Die Regierung scheint darauf zu setzen, durch vollendete Tatsachen und immer mehr per gesetzlichem Zwang eingeleitete Angebote dieses Misstrauen aus der Welt schaffen zu können. Ich bin mir sicher, dass es sich dann eben anderswo wieder zeigen wird.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als wir hier vor ein paar Jahren die Einführung des elektronischen Personalausweises debattiert haben, da war ein ganz laut vorgetragenes Argument immer: Damit kann man sich elektronisch identifizieren, das schafft Sicherheit im Onlinehandel und macht den Umgang mit staatlichen Behörden ganz einfach. Inzwischen haben wir gelernt: Niemand hat es besonders eilig, diese Segnungen für sich nutzbar zu machen. Genau wie bei der elektronischen Signatur ist die meistgestellte Frage: Wozu brauche ich das? Und wie bei der Signatur beantworten die meisten diese Frage mit einem Schulterzucken. Die Bundesregierung hat das auch bemerkt, und in der Begründung dieses Gesetzes festgehalten: Kaum einer will die Identifikationsfunktion, und selbst die Bundesregierung erwartet nicht, dass es mehr werden. Kein Wunder, es gibt keine Verwendung für diese Funktion, nur Risiken. Und weil die Infrastruktur zu teuer ist, wird sich das auch in der Tat nicht ändern. Also nimmt es die Regierung nun auf sich, ein Angebot zu schaffen, das dann auch wieder keiner nutzt. Was sind die Zahlen? Nach zwei Jahren haben 17,5 Millionen Menschen den neuen Personalausweis. Bei 75 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, die in Deutschland leben, hat also knapp ein Viertel den neuen Ausweis. Bei einer Geltungsdauer von fünf bzw. zehn Jahren, bei Verlusten und Ersatz ist das einfach genau die Zahl, die man nach zwei Jahren erwarten kann. Also kein Run auf den neuen Ausweis mit seinen tollen Fähigkeiten. Von diesen 17,5 Millionen neuen Ausweisen ist bei nur 30 Prozent - also knapp 4,5 Millionen - die Funktion zur elektronischen Identifikation eingeschaltet. Erstes Mysterium: Die Bundesregierung erwartet jährlich 500 000 Anträge auf elektronische Registerauskunft. Nun mag man sagen: Es werden ja mehr Ausweise, also auch mehr mit Identifikationsfunktion stimmt, aber werden die wirklich alle dann einen Antrag elektronisch stellen? Ich habe meine Zweifel. Und nimmt man mal an, dass nur die Hälfte von denen, die Zu Protokoll gegebene Reden es könnten, den elektronischen Weg wählt, dann warten wir noch eine ganze Weile, bis solche Zahlen erreicht sind. Das zweite Zahlenrätsel bezieht sich auf die Zahl der Anträge: Es sind jedes Jahr 4 Millionen. Anders gesagt: Knapp jeder Zwanzigste stellt im Jahr einen Antrag. Oder: Jeder nur alle knapp 20 Jahre. Warum sollte ich mir für so eine seltene Notwendigkeit eine elektronische Identifikationsfunktion in meinem Ausweis anschalten lassen? Mich überzeugen diese Zahlen keinesfalls von der Notwendigkeit, dieses neue Verfahren einzuführen. Die Kosten jetzt sind garantiert, der Nutzen wirklich überschaubar. Keine Bürgerin und kein Bürger wird sich je darüber beschweren, dass es so umständlich sei, wenn man für einen Antrag, den man nur alle 20 Jahre stellt, zum Amt gehen muss - zumal an solchen Anträgen zumeist ja auch einschneidende Ereignisse wie ein Wechsel des Arbeitsplatzes hängen; es also nicht darum geht, die Bürokratiebelastung im Alltag zu reduzieren. Wer die technischen Schwierigkeiten mit dem neuen Ausweis kennt, wer weiß, dass alle Projekte dieser Art noch immer teurer geworden sind als geplant, der fragt sich wirklich, ob es die Millionen an einmaligen Kosten wert sind, hier einen elektronischen Zugang zu bauen, den ohnehin niemand nutzen will. Und es wird ja bei einer Doppelstruktur bleiben müssen, der papierene und persönliche Antrag bleibt ja möglich. Der Entwurf räumt auch jegliche Sicherheitsbedenken nonchalant beiseite. Es soll ein einfaches Verfahren sein, also können auch schriftliche Nachweise eingescannt und zugeschickt werden, und selbst eine Versicherung an Eides statt über die Echtheit der Nachweise kann elektronisch abgegeben werden. Alles ohne ernstzunehmende technische Sicherung. Wie befürchtet, wird die Identifikationsfunktion zur Signatur light - auch elektronisch, dafür aber nicht sicher. Alles in allem: Ein Projekt, das keiner braucht, technische Mängel absehbar, damit auch Datenschutzprobleme. Aus unserer Sicht die falsche Anwendung eines überflüssigen Ausweises.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf Drucksache 17/13222 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine anderen Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Graf ({1}), Petra Crone, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Menschenrechte älterer Menschen stärken und Erarbeitung einer UN-Konvention fördern - Drucksachen 17/12399, 17/13220 Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichAngelika Graf ({2})Pascal KoberKatrin WernerTom Koenigs Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Beobachtung beginnen. Da stehe ich - noch keine 50 Jahre alt morgens vor dem Spiegel, betrachte die Falten in meinen Augenwinkeln und denke: Du solltest es vielleicht mal mit einer Anti-Ageing-Creme probieren. AntiAgeing-Creme - ein Produkt gegen Falten, das sich dreist damit schmückt, dem Altern vorzubeugen: „Gegen-das-Altern-Creme“ hieße sie zu Deutsch. Sprache verrät ja bekanntlich eine Menge über Inhalte und Absichten. Und die Werbesprache ist häufig ein besseres Indiz für gesellschaftliche Normen, als alle politischen Debatten und intellektuellen Diskurse es sein können. Dem Altern kann man nicht vorbeugen. Die Haut kann man pflegen. Um die Fitness kann man sich kümmern. Doch jeder Mensch wird alle 24 Stunden einen Tag älter. C’est la vie - so ist das Leben. Historisch neu und in der Geschichte bisher einmalig ist, dass wir alle, unsere gesamte Gesellschaft, jeden Tag älter werden. Das Altern der Bevölkerung ist einer der bedeutenden Trends des 21. Jahrhunderts. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Kimoon schreibt: „Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieses Phänomens sind tiefgreifend und reichen in beispielloser Weise weit über das Individuum und die Familie hinaus bis in die Gesamtgesellschaft und die Weltgemeinschaft.“ Die weltweiten Zahlen besagen, dass 2050 mit 2 Milliarden Menschen ein Fünftel der Menschen dieser Erde über 60 Jahre alt sein wird. Heute ist es nur ein Neuntel. 80 Prozent der über 60-Jährigen werden 2050 - das ist der geografische Unterschied in Entwicklungsländern leben. Die Organisation HelpAge hat gesagt: „Die Welt wird grau.“ Das ist ein gesellschaftlicher Wandel, den es wahrzunehmen und zu gestalten gilt. Eine Herausforderung nicht nur für die Politik. Das Altwerden ist Teil meines Lebens. Und ich erschrecke, wenn ich das immanente Vorurteil wahrnehme, das da bei mir selber mitschwingt, indem ich zur Anti-Ageing-Creme greife. Oder besser gesagt: wenn ich diesen Begriff nutze. Wenn schon die tägliche Körperpflege sich mit einem Reflex gegen das Altwerden an sich verbindet, dann ist das ein schlechtes Zeichen. Die Haltung, die dahintersteckt, kulminiert in keinem Begriff stärker als im Wort „Überalterung“. Für mich ist dieser Begriff schon eine Diskriminierung in sich. Da wird ein gesellschaftlicher Konsens infrage gestellt, der den eigentlichen Kitt unseres Zusammenlebens darstellt: das Miteinander der alten und der jungen Menschen, der sogenannte Generationenvertrag. Hier wird ein Problem - das es ja tatsächlich gib, und dem wir uns stellen müssen -, das Problem des demografischen Wandels, einseitig einer Generation angelastet, nämlich der älteren. Ich plädiere erneut dafür, hier einen anderen Begriff in die Debatte einzuführen: die „Unterjüngung der Gesellschaft“. Wir haben zu wenig Kinder - nicht zu viele alte Menschen. Wir werden nicht nur älter, wir werden auch weniger. Und das verändert die Gesellschaft. Herbert Henzler und Lothar Späth schlagen in ihrem lesenswerten Buch „Der Generationen-Pakt“ sogar einen Paradigmenwechsel vor, im Untertitel heißt es: „Warum die Alten nicht das Problem, sondern die Lösung sind“. Die Alten, das zeigen die beiden Autoren an vielen Daten und praktischen Beispielen, werden gebraucht. Ja, ich möchte verstärken: Sie werden heute mehr gebraucht denn je: die Erfahrung und das Engagement der alten Menschen - welches sich in nicht zuletzt in unzählbaren Stunden ehrenamtlicher Arbeit ausdrückt, deren volkswirtschaftlicher Beitrag sich zu mehrstelligen Milliardensummen summiert und deren eigentlicher Wert nicht diesen beeindruckenden ökonomischen Kennzahlen, sondern im sozialen Miteinander sichtbar wird. Um zwei Beispiele zu nennen: Wie oft ist es nicht eine wirtschaftliche Maßnahme wie etwa das Elterngeld - so richtig und wichtig und politisch notwendig das Elterngeld ist! -, die ein Paar dazu bewegt, den Kinderwunsch zu realisieren, sondern es sind ganz andere, soziale Gründe. Es sind Oma und Opa und ihre Bereitschaft, die junge Familie zu unterstützen und zu entlasten, die Kinder von der Kita oder der Schule abzuholen, sie mal abends ins Bett zu bringen oder auch mal den einen oder anderen finanziellen „Zuschuss“ zu geben. Oder das andere Beispiel: Wie oft sind es nicht die professionellen Pflegedienste, die sich um die Kranken kümmern, so wichtig es für die Politik ist, Pflege institutionell zu organisieren und - wie das mit der Pflegeversicherung geschehen ist - sie wirtschaftlich gesund und langfristig stabil aufzustellen. Es sind in überwältigender Mehrheit die Angehörigen, die Lebenspartner, die den Pflegebedürftigen liebevoll und unter großem zeitlichem Aufwand pflegen. Alte Menschen sind ein Schatz und eine Bereicherung für eine Gesellschaft. Und das gilt nicht nur für die fleißigen und fitten „jungen Alten“, das gilt auch dann, wenn diese älteren Menschen „wunderlich“ oder „gebrechlich“ werden, um zwei ältere Adjektive zu bemühen. Ich persönlich habe als Kind 14 Jahre meines Lebens in einem Altenheim gelebt; meine Eltern haben diese Einrichtung mit geleitet. Viele dieser Menschen werde ich nie vergessen. Ich erinnere mich an Gesichter, und ich erinnere mich an Begegnungen. Wie ich bereits in meiner letzten Rede erwähnte, erinnere mich an Oma Berta, wie wir sie alle nannten; schon 99 Jahre alt, war sie doch quicklebendig und ein aufmunternder Gesprächspartner für die Menschen um sie herum, nicht nur im Haus selber, sondern auch im Dorf, in dem das Heim stand. Ich erinnere mich auch an Opa Walther, der überhaupt kein Problem hatte, sich mit den Jugendlichen zu unterhalten, und der ihnen mit seinem reichen Erfahrungsschatz und seinem breiten Wissen in vielen Diskussionen das Wasser reichen konnte. Wir jungen Leute hingen an seinen Lippen und konnten gar nicht genug von seinen Geschichten hören. Ältere Menschen - ich wiederhole mich und werde an dieser Stelle auch nicht müde, mich zu wiederholen - sind ein sozialer Schatz für unsere Gesellschaft. Sie verdienen unsere Wertschätzung. Daneben brauchen sie aber auch unseren Schutz. Die Menschenrechte älterer Menschen stärken und Altersdiskriminierung schon in ihren Ansätzen zu unterbinden: Ja, das müssen wir tun! Hier ist Politik gefordert. Die oben erwähnte Aussage Ban Ki-moons macht deutlich, dass die demografische Entwicklung ein globales Problem ist. Und doch gibt es dabei große regionale Unterschiede. Alleine die Entwicklungen in der nördlichen und der südlichen Hemisphäre gehen weit auseinander. Diesem Umstand trägt der heute zu diskutierende Antrag leider zu wenig Rechnung. Er ist nicht differenziert genug. Die Lage älterer Menschen hat sich in den Entwicklungsländern in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Ältere Menschen haben in Afrika, in Asien und auch in Lateinamerika aufgrund ihrer Lebenserfahrung nicht nur innerhalb der Kernfamilie traditionell einen hohen gesellschaftlichen Status. Sie galten als Lehrer, als „Weise“ und damit als Entscheidungsträger oder juristische Vermittler in der Gemeinde bzw. der Gemeinschaft. Dieser Status ändert sich rasant. Zurzeit erleben alte Menschen besonders in Afrika immer häufiger Gewalt und Misshandlungen. Die Gründe dafür zu analysieren, ist eine elementare Voraussetzung dafür, dem Problem wirksam begegnen zu können. Dabei spielen sicherlich existenzieller Druck und wirtschaftliche Notsituationen eine zentrale Rolle. Armut oder HIV/Aids sind Gründe für die Verschlechterungen, ebenso Analphabetismus und die höhere Vulnerabilität älter werdender Menschen. Ob diese Probleme durch eine UN-Konvention für die Rechte älterer Menschen gelöst werden können, ist fraglich. Um diese Frage aber auch wirklich zu beantworten, hat die „UN Open-ended Working Group on Ageing“ im Dezember 2012 den Auftrag erhalten, die tatsächliche Notwendigkeit einer solchen Konvention und in deren Folge die Einsetzung eines UN-Sonderberichterstatters für die Menschenrechte älterer Menschen zu prüfen und einen Vorschlag dazu zu unterbreiten, welche Punkte eine Vereinbarung zum Schutz der Rechte Älterer umfassen sollte. Da abschließende Erkenntnisse aktuell noch nicht vorliegen, ist der Zeitpunkt, eine solche Konvention zu fordern, eindeutig verfrüht. Diese Einschätzung teilen alle mitberatenden Ausschüsse, die den Antrag abgelehnt haben: der Auswärtige Ausschuss, der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Gesundheitsausschuss Zu Protokoll gegebene Reden und der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Als Menschenrechtler können wir bereits vor dem Bericht der UN-Arbeitsgruppe feststellen, dass entsprechende völkerrechtliche und menschenrechtliche Voraussetzungen zum Schutze der älteren Menschen bestehen. Da sind der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. Immer geht es in diesen Übereinkünften auch um das Alter, auch wenn es nicht immer explizit genannt wird. Ausdrücklich benennt und verbürgt Art. 25 der 2009 in Kraft getretenen Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben. Alter ist darüber hinaus eines von sechs Merkmalen, die durch das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 geschützt werden - dort heißt es ausdrücklich: Niemand darf aufgrund seines Alters diskriminiert werden. Nicht die fehlende Rechtsgrundlage ist also das wesentliche Problem, wenn es darum geht, ältere Menschen besser zu schützen. Es besteht vielmehr der Bedarf, die bestehenden Verträge, die aus diesen Verträgen resultierenden Mechanismen besser anzuwenden. Denn - und da gehen die Fraktionen der Regierungskoalition und die Antragsteller konform - es liegen große nationale und internationale Herausforderungen vor uns. Daher können wir die Forderung unterstützen, dass sich die Bundesregierung im Rahmen von Entwicklungspartnerschaften und wirtschaftlicher Zusammenarbeit auch weiterhin für die Umsetzung von Systemen des sozialen Basisschutzes, für sogenannte Social Protection Floors, in Partnerländern einsetzt und auf diese Länder hinwirkt, im menschenrechtlichen Bereich ordnungsrechtliche Verantwortung zu übernehmen. Auch in Deutschland ist der Status quo nicht befriedigend. Auch hier möchte ich erneut einige in meiner letzten Rede genannten Probleme in Deutschland konkret ansprechen: Die altersbedingten Krankheiten, die eine Demenz zur Folge haben - in der öffentlichen Diskussion ist Alzheimer der bestimmende Begriff -, führen oft zu Fremdbestimmung und Entmündigung, zu Altersarmut und Diskriminierung. Es gibt Diskriminierung im Erwerbsleben, beim Abschluss von Versicherungen und soziale Isolation. Auch Fälle von Misshandlungen im Pflegewesen wurden publik: körperliche Misshandlung durch Festhalten, emotionale Misshandlung durch Beschimpfung oder in Form von Vernachlässigung. Der angloamerikanische Sprachraum hat für das Phänomen der Altersdiskriminierung einen Fachbegriff - analog dem Sexismus - geformt: Ageism. Es existiert noch keine adäquate deutsche Entsprechung. Geriatrismus vielleicht? Gemeint sind stereotype Einstellungen, die zu diskriminierendem Verhalten gegenüber älteren Menschen führen. Ageism beschreibt einerseits die Diskreditierung des Altersprozesses als solcher - Sie erinnern sich an mein einleitendes Beispiel von der Anti-Ageing-Creme? - und andererseits die Exklusion von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben all derjenigen, die als „alt“ etikettiert werden. Sie erinnern sich an das von mir zitierte Beispiel aus der Tageszeitung „Die Welt“? Sie hat im vergangenen Jahr in einem Bericht das Beispiel von Margret Schukies, einer attraktiven und unternehmungslustigen Dame, 62 Jahre alt, beschrieben. Sie wollte sich einen Hundewelpen in einem Tierheim abholen; aber die Leiterin des Tierheims sagte zu ihr, sie sei zu alt. Wir finden nach wie vor diskriminierende Altersgrenzen, Höchstaltersgrenzen genannt, im Ehrenamt und im Kirchengesetz. Wir dürfen daher in unseren Anstrengungen gegen die Altersdiskriminierung nicht nachlassen! Und deswegen ist es mir, neben der klaren Benennung der Probleme, auch wichtig, auf die begonnenen Maßnahmen hinzuweisen. Wir brauchen dafür, das fordern die Antragsteller zu Recht, eine stärkere Einbeziehung aller zivilgesellschaftlichen Verbände. Die bereits bestehenden menschenrechtlichen Schutzmechanismen für ältere Menschen habe ich bereits erwähnt. Darüber hinaus gibt es auf den verschiedenen politischen Ebenen Maßnahmen gegen Altersdiskriminierung. Das Jahr 2012 ernannte die Europäische Union zum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“. Um eine breite europäische Debatte voranzubringen, wurden anlässlich dieses Jahres 90 Initiativen auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene initiiert und durchgeführt. In Deutschland wurde ebenfalls im vergangenen Jahr die Demografiestrategie der Bundesregierung unter dem Titel „Jedes Alter zählt“ auf den Weg gebracht. Sie vereint mehrere Zielrichtungen. Eine davon ist es, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Die Bundesregierung engagiert sich bei der Bekämpfung von Stereotypen bezüglich älterer Menschen und setzt sich für eine bessere Lebensqualität ein. Die Demografiestrategie umfasst sechs Themenfelder. Um eines davon beispielhaft herauszunehmen: Unter der Überschrift „Selbstbestimmtes Leben im Alter“ geht es um die Ziele: selbstbestimmtes Leben, Aktivität im Alter, gesellschaftliche Teilhabe, gesundes Altern. Zu Protokoll gegebene Reden Zu würdigen in diesem Zusammenhang ist die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit ihrem Themenjahr 2012 und der Kampagne „Im besten Alter. Immer.“ Als erstes deutsches Bundesland hat Sachsen 2005, und das sage ich als sächsischer Abgeordneter nicht ohne Stolz, einen Landesseniorenbeauftragten bestellt. Dieser hat sich seither unter anderem um folgende konkrete Projekte gekümmert: Förderung der Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, insbesondere im ländlichen Raum, oder die altersentsprechende Anpassung von Bildschirmen und Eingabemasken. Diese guten Erfahrungen aus Sachsen lassen sich auf andere Bundesländer übertragen. Ähnliches gilt für die Arbeit der Seniorenbeiräte. Ich unterstütze daher das Anliegen des Antrags, die Bundesregierung aufzufordern, auf die Bundesländer einzuwirken, Seniorenbeiräte in den Ländern und Kommunen nach einheitlichen rechtlichen Grundlagen einzurichten In meinem Wahlkreis Chemnitz gibt es ein bemerkenswertes Forschungsprojekt. Im Rahmen der Professur für Arbeitswissenschaft gibt es das Forschungsgebiet über alle Aspekte des demografischen Wandels. Initiiert wurde es von Professorin Spanner-Ulmer. Neben den Fragen zu altersgerechter Prozess- und Produktgestaltung wurde die Simulation von altersinduzierten Leistungseinschränkungen mithilfe tragbarer Alterssimulationsanzüge untersucht. Die Auswirkungen dieser Forschungen sind beachtlich: Sie führen zu marktfähigen Produktinnovationen, sind also ein Wirtschaftsfaktor, und sie führen zu Möglichkeiten der Teilhabe älterer Menschen am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben, sind also zugleich ein sozialer Faktor. Hier zeigt sich: Wenn wir im Bereich Forschung vorne dranbleiben wollen, müssen wir auch in diesem Bereich die älteren Menschen in den Fokus nehmen. Hier sind die Alten ganz praktisch „nicht nur das Problem, sondern die Lösung“. Der Forschungsbedarf ist auch im medizinischen und anderen Bereichen erheblich. Nicht zuletzt in der Sozialforschung müssen neue Modelle des Zusammenlebens evaluiert und gefördert werden, die das Miteinander von Jung und Alt verbessern. Sehr erfolgreich wurden die Modellprojekte der Mehrgenerationenhäuser entwickelt. Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Henning Scherf, einem Vorreiter für neue Modelle gemeinschaftlichen Lebens. Die Wichtigkeit, die Bedeutung älterer Menschen in unserer Gesellschaft lässt sich kaum positiver und mutmachender ausdrücken, als es dem Bremer Altbürgermeister in seinem Buch „Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist“ gelingt. Zur Lebenserwartung der heute 60-Jährigen, die noch durchschnittlich 30 Jahre Lebenserwartung vor sich haben, schreibt Scherf: „30 Jahre in wunderbaren Bedingungen, weil wir nämlich eine Rente haben, die uns ernährt, weil wir plötzlich Zeit haben, weil wir noch fit sind, weil wir uns noch interessieren können, einmischen können, weil wir uns noch beteiligen können, ohne immer zu fragen: Kriege ich da auch das richtige Gehalt dafür?“

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute abschließend den SPD-Antrag „Menschenrechte älterer Menschen stärken und Erarbeitung einer UN-Konvention fördern“. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, bei Ihren Redebeiträgen in der ersten Lesung und im Ausschuss habe ich zwei Punkte herausgehört, die Sie in unserem Antrag kritisch sehen. Ich kann Ihrer Argumentation allerdings überhaupt nicht folgen. Sie gestatten deshalb, dass ich mich auch hier mit Ihrer Kritik beschäftige und sie ausräume. Erstens halten Sie eine Konvention für ältere Menschen - eine der vulnerabelsten Gruppen überhaupt für nicht notwendig und möchten daher auch nicht die Einsetzung eines UN-Sonderberichterstatters unterstützen. Ihre Argumente, mit denen Sie Ihre Kritik begründen, haben mich wirklich schockiert: „Eine weitere Konvention brauchen wir doch nicht!“ Sie stellen sich tatsächlich die Frage, ob ein Diskussionsprozess und die Beschäftigung der UN mit diesem Thema „wirkliche Verbesserungen“ möglich machen würden, und verweisen auf die EU-Regelungen. Das können Sie eigentlich nicht ernst meinen. Mit einem solchen Argument könnte man die kompletten Strukturen und Instrumente der UN infrage stellen, alle Konventionen für nicht umsetzbar erklären und sich nur noch mit sich selbst beschäftigen. So bringen Sie den internationalen Menschenrechtsschutz nicht voran. Sie behindern, im Gegenteil, eine effektive Weiterentwicklung der internationalen und letztendlich nationalen Schutzmechanismen und lassen erkennen, dass Sie den globalen Aspekt des Themas nicht begriffen haben. Dabei hat Ihnen unser Kollege Tom Koenigs in seiner Rede bei der ersten Lesung den Prozess erklärt: Genau durch solche Konventionen ist die universelle Menschenrechtserklärung in den vergangenen knapp 80 Jahren Stückchen für Stückchen weiterentwickelt worden. Nur dank mutiger Vorreiter, die die Situation von besonders vulnerablen Gruppen in den Fokus rückten, konnte die internationale Gemeinschaft mit der Schaffung von Schutzmechanismen reagieren. Wenn es diese Weiterentwicklung nicht gegeben hätte, stünden wir heute immer noch auf dem Stand von 1948. Diese Konventionen beschneiden nicht die Rechte anderer Bevölkerungsgruppen, sondern führen zu mehr Rechten für alle: Die UN-Kinderrechtskonvention oder die UN-Behindertenrechtskonvention, zum Beispiel, wurden zu Wegweisern und sind für alle von Nutzen. Wir wollen die Lücke bei den älteren Menschen schließen und in Solidarität mit anderen Teilen der Gesellschaft auch hier ähnliche Erfolge erzielen. Deshalb kann ich Ihre ablehnende Haltung nicht verstehen. Zu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) Weil wir von der SPD die Brisanz der Debatte erkannt haben, fordern wir die Bundesregierung auf, sich aktiv in den Diskussionsprozess auf internationaler Ebene einzubringen. Das schafft Öffentlichkeit, das schafft Aufmerksamkeit und das stärkt das Bewusstsein der Betroffenen und ihrer Vertreter. Vor allem aber denke ich auch, dass sich Deutschland mit seinen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Antidiskriminierungsgesetz gut und produktiv einbringen kann und muss. Als einen weiteren Grund, sich unseren Vorschlägen zu verweigern, nannten Sie die gegenwärtige Situation hier in Deutschland: Hier sei doch alles in bester Ordnung. Und Sie wurden nicht müde, die jüngsten Aktivitäten Ihrer Regierung aufzulisten. Ich denke, Sie widerlegen sich selbst: Wenn doch alles wunderbar läuft, warum gibt es dann zum Beispiel immer noch - im Übrigen durch Studien belegt - Defizite und gravierende Diskriminierungen älterer Menschen in Deutschland? Und selbst wenn alles so super wäre und wir keinen Handlungsbedarf in Deutschland hätten, weil die Ziele der Konvention schon jetzt so gut wie erfüllt wären, entbände uns das doch nicht von unserer menschenrechtlichen Verantwortung, auch ältere Menschen in anderen Ländern verstärkt zu schützen und zu unterstützen. Diese Argumentation schließt nahtlos an Ihr erstes Argument an: „Warum eine neue Konvention? Wir haben doch bereits einen verankerten Schutz in Europa.“ Ganz abgesehen davon, dass auch in der EU nicht alles wirklich gut läuft für ältere Menschen, finde ich diese Scheuklappenhaltung sehr problematisch. Sie müsste eigentlich unter Ihrem intellektuellen Niveau sein. Es ist eines der ehernen Prinzipien der Menschenrechtspolitik in Deutschland, auch die eigene Situation ohne rosarote Brille - oder soll ich sagen: schwarzgelb-gestreifte Tigerentenbrille? - zu reflektieren. Und da stelle ich fest: Eine unvoreingenommene Betrachtung der Lage in der EU und auch bei uns in Deutschland müsste Sie eigentlich zu dem Schluss bringen, dass die Bundesregierung die Problematik der Diskriminierung Älterer auf nationaler Ebene nicht ernst genug nimmt. Sprechen Sie doch einmal mit der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau Lüders! Diskriminierungen wegen Alters sind eines ihrer Hauptbeschwerdefelder. Das fängt beim Bankkonto und bei Krediten an und hört bei Bürgermeister- oder Schöffentätigkeiten auf. Und was tut die Bundesregierung? Eine ihrer ersten Handlungen bei Amtsantritt 2009 war, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Mittel zu kürzen. Wir fordern die Bundesregierung mit diesem Antrag dazu auf, diese Kürzungen zurückzunehmen. Wir wollen zudem, dass in Deutschland die Menschenrechte im Bereich der Pflege effektiver überwacht werden. Die Heimaufsichtsbehörden und die medizinischen Dienste müssen besser als bisher in die Lage versetzt werden, ihre Kontrollmöglichkeiten zu nutzen. Sanktionen dürfen kein Tabu sein. Unangemeldete Kontrollen in Heimen müssen eine Selbstverständlichkeit werden. Wir wollen mehr darüber wissen, wie diese Kontrollmöglichkeiten genutzt und verbessert werden können - deshalb regen wir mit unserem Antrag eine wissenschaftliche Evaluierung dieser Kontrollmöglichkeiten an - sowie darüber, wie das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz und die Heimgesetze der Länder hinsichtlich dieser Fragestellungen funktionieren. Dies sind nur einige der Knackpunkte, bei denen man in Deutschland eindeutigen Verbesserungsbedarf feststellen kann. Es ist eine Schande, dass Ihre Regierung auf nationaler und internationaler Ebene keinerlei Zeichen für eine entsprechende UN-Konvention setzt, obwohl die UN 2012 feststellte, dass das Menschenrechtssystem lückenhaft ist, und explizit anregte, die Rechte zum Schutz Älterer neu zu regeln. Die Bundesregierung ist - wie auf anderen Themenfeldern im Zweifel untätig und überlässt Anstrengungen für Verbesserungen der Zivilgesellschaft. Wir fordern die Bundesregierung daher dringend auf, aktiv zu werden. Unterstützen Sie endlich die UN Working Group on Ageing bei der Erarbeitung einer UN-Konvention für ältere Menschen sowie bei der Bestellung eines UN-Sonderberichterstatters bzw. einer UN-Sonderberichterstatterin, der oder die für die Umsetzung und Einhaltung dieser zu beschließenden Konvention zuständig ist.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In ihrem Antrag fordert die SPD die Bundesregierung auf, sich auf internationaler und nationaler Ebene für die Stärkung der Menschenrechte älterer Menschen einzusetzen. Wir müssen daher den Antrag zunächst aus zwei Perspektiven betrachten: Zum einen ließe sich trefflich darüber diskutieren, wie auf internationaler Ebene bei diesem Thema wirklich Verbesserungen möglich sind und wie diese im Rahmen der Vereinten Nationen ausgestaltet werden könnten. Zum anderen aber ist darauf hinzuweisen, dass ein Großteil des Antrags ausschließlich die nationalen Aspekte der Situation der Älteren behandelt. Und da muss man sagen, dass sich diese christlich-liberale Bundesregierung maßgeblich für die Bedürfnisse der älteren Menschen in unserem Land einsetzt. Denn der demografische Wandel und - mit ihm einhergehend die Diskriminierung älterer Menschen sind wichtige gesamtgesellschaftliche Herausforderungen und liegen der Koalition sehr am Herzen. So hat diese Bundesregierung im vergangenen Jahr eine Demografiestrategie auf den Weg gebracht, bei der Maßnahmen und Aufgabenfelder konkret benannt und Handlungsziele beschrieben worden sind. Ich möchte die wichtigsten Aspekte der Demografiestrategie aufzeigen; denn daraus wird ersichtlich, wie viel wir für die Rechte Älterer getan haben und weiter tun werden. Zu Protokoll gegebene Reden Erstens stärken wir die Familie als Gemeinschaft. Denn nirgendwo sind Zusammenhalt und gegenseitiges Vertrauen stärker als in der Familie. Das gilt insbesondere bei der Pflege Älterer, auf die ich gleich noch dezidiert eingehen werde. Zweitens setzen wir uns dafür ein, dass die Menschen qualifiziert und gesund arbeiten und damit auch im Alter gesünder leben können. In diesem Zusammenhang werden wir für ältere Arbeitnehmer bessere Möglichkeiten schaffen, Erwerbstätigkeit und Rente flexibel zu kombinieren. Dies ist natürlich auch für die Unternehmen und für die jüngeren Generationen von großer Bedeutung. Denn der Erfahrungsschatz der älteren Mitarbeiter wird in der Wirtschaft sehr geschätzt. Drittens macht sich diese Bundesregierung dafür stark, dass die Menschen in unserem Land selbstbestimmt im Alter leben können. So gehören etwa altersgerechte Wohnformen, technische Geräte für Ältere und die Mobilität der Älteren zu den zentralen Zielen der Demografiestrategie. Vor diesem Hintergrund werden wir auch die Rahmenbedingungen für das Engagement der Menschen über die Generationen hinweg verbessern. Dazu zählt, um nur einige Beispiele zu nennen, dass wir Anlaufstellen und Mehrgenerationenhäuser breiter verankern werden. Ein weiterer Punkt ist die Stärkung zukunftsweisender Modelle der Mitverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen. Denn dies ist auch eine From gelebter Generationenverantwortung. Dazu gehört, dass wir die Pflegeberufe zukunftsgerecht weiterentwickeln und die Pflegeversicherung einschließlich des Begriffs der Pflegebedürftigkeit neu ausrichten werden. Hier sind im Übrigen bereits erste wichtige Schritte getan. Denn seit dem 1. Januar 2013 gibt es aus der Pflegeversicherung auch Leistungen für Demenzerkrankungen. Das ist sehr wichtig, da zunehmend Familien bzw. demenzkranke Menschen in der Pflege auf Unterstützung angewiesen seien. Jetzt gibt es hier nicht nur Leistungen für körperliche Einschränkungen. Nun werden auch psychische Einschränkungen wie Demenz unterstützt. Neben diesen finanziellen Leistungen des Bundes sind wir gerade dabei, eine nationale Allianz für Menschen mit Demenz auf den Weg zu bringen und die Bildung regionaler Hilfenetze zu unterstützen. Daher haben wir auch die Mittel für Selbsthilfegruppen erhöht. Denn da glücklicherweise immer noch der weitaus überwiegende Teil der Pflegebedürftigen in Familien gepflegt wird, ist es wichtig, den Familienangehörigen zur Seite zu stehen. Letztlich setzt die Demografiestrategie natürlich auch immer auf die Eigeninitiative und die Kraft der Menschen. Denn wir wollen Vorschläge entwickeln, wie die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen, gestärkt und besser in die konkreten Politikfelder eingebunden werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Erfolge ist es nicht besonders hilfreich und glücklich, dass die SPD in ihrem Antrag die internationalen mit den nationalen Interessen Älterer vermengt hat. Im Gegenteil wird durch den Antrag die Bedeutung der Interessen Älterer auf der internationalen Ebene wieder geschmälert, statt auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Daher ist der Antrag abzulehnen.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Jahr 2050 wird jede und jeder dritte Deutsche älter als 60 Jahre sein. Das wird aber nicht nur bei uns und in anderen Ländern des Nordens der Fall sein, sondern gilt weltweit. Seriösen wissenschaftlichen Prognosen zufolge werden im Jahr 2050 weltweit etwa 2 Milliarden Menschen über 60 Jahre alt sein. Heute sind es gerade einmal 810 Millionen. In praktisch einer Generation wird es insgesamt mehr ältere Menschen auf der Erde geben als Kinder unter 14 Jahren. Für ein würdevolles Leben im Alter müssen die Rechte älterer Menschen gestärkt werden, weil es sich um eine stetig wachsende Gruppe von Menschen handelt, die besonders verletzlich ist. Es ist daher richtig, wenn die SPD in ihrem Antrag fordert, der besonderen Schutzbedürftigkeit von älteren Menschen dahin gehend Rechnung zu tragen, dass eine eigene UN-Konvention verabschiedet und ein zuständiger Sonderberichterstatter ernannt werden sollte. Denn was hilft es, wenn eine Konvention vorhanden ist, aber keine entsprechende Kontrolle stattfindet? Die Linke unterstützt beide Forderungen ausdrücklich. Es überrascht mich nicht, dass die Bundesregierung vehement gegen die Verabschiedung einer UN-Konvention ist. Wer gleich zu Beginn seiner Regierungszeit, wie dies Schwarz-Gelb 2009 getan hat, ausgerechnet bei der nationalen Antidiskriminierungsstelle den Rotstift ansetzt, zeigt damit, dass er auch bei den älteren und kranken Menschen die neoliberale Politik sozialer Grausamkeiten durchexerzieren will. Die sozial Schwachen und die besonders verwundbaren Gruppen sind immer die Ersten, die es trifft. Darauf ist bei dieser Bundesregierung immer Verlass gewesen. Um von der sozialen Kahlschlagpolitik auch in diesem Bereich abzulenken, hat Schwarz-Gelb ein Placebo präsentiert: Es ist die „Demografiestrategie“, die eine Fülle von unverbindlichen, wohlklingenden Absichtserklärungen enthält, ohne dabei konkrete Aktionspläne und Instrumente zu präsentieren. Das kennen wir schon zur Genüge aus anderen Bereichen. Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber älteren Menschen schreien auch bei uns zum Himmel: Es gibt einen akuten Pflegenotstand. In Alters- und Pflegeheimen fehlen examinierte Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Stress und Überlastung bestimmen den Arbeitsalltag vieler Beschäftigten, die mit 8,50 Euro pro Stunde abgespeist werden. Niemand sollte in einem Zu Protokoll gegebene Reden solchen verantwortungsvollen Beruf unter 10 Euro pro Stunde arbeiten müssen. Das fehlt im Antrag der SPD, der nur sehr allgemein bessere Arbeitsbedingungen und einen gesetzlichen Mindestlohn für die Beschäftigten fordert, ohne eine konkrete Höhe zu nennen. Die Leidtragenden dieser kaltherzigen, neoliberalen Arbeitsethik sind die alten und pflegebedürftigen Menschen, die zu wenig menschliche Zuwendung erhalten und häufig nicht einmal ausreichend zu trinken bekommen. Ruhigstellungen durch Medikamente, Zwangsernährung mittels Magensonden und Fixierungen an Händen und Füßen sind ebenfalls keine Seltenheiten. Das sind schwere Einschränkungen in das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen. Der Großteil der Pflege, etwa zwei Drittel, spielt sich in der Familie ab. Viele Angehörigen kümmern sich aufopferungsvoll um ihre alten und kranken Familienmitglieder, obwohl dies oft nur schwer mit dem Beruf zu vereinbaren ist. Sie benötigen mehr gesellschaftliche Anerkennung und stärkere Unterstützung durch die Politik. Auch das Heimrecht müsste den gesellschaftlichen Realitäten stärker Rechnung tragen. Darauf geht der SPD-Antrag leider überhaupt nicht ein. Ein heute schon absehbares Problem wird die künftige Altersarmut sein. Durch den von Rot-Grün mit der Agenda 2010 eingeführten Niedriglohnsektor drohen vielen heutigen Erwerbstätigen im Alter Minirenten, die keinen menschenwürdigen Lebensabend mehr garantieren. Frauen werden davon besonders betroffen sein, da sie infolge von Kindererziehungszeiten und mehr prekärer Beschäftigung häufiger unterbrochene Erwerbsbiografien aufweisen als Männer und dementsprechend geringere Rentenansprüche erwerben. Hinzu kommt ihr längeres Lebensalter. Bereits jetzt kommen bei den über 80-Jährigen 100 Frauen auf 61 Männer. Daraus lässt sich ableiten: Die künftige Altersarmut wird ebenso wie die Pflegebedürftigkeit vor allem ein weibliches Gesicht tragen. Das wird auch in anderen Bereichen zu ernsthaften Problemen führen, die der SPD-Antrag vernachlässigt. Wie verhält es sich beispielsweise, wenn aufgrund der Rentenkürzungspolitik der Bundesregierung bei gleichzeitiger Preistreiberei auf dem Wohnungsmarkt die Seniorinnen und Senioren künftig größere Schwierigkeiten haben werden, ihre Mieten zu bezahlen? Der Zugang zu bezahlbarem und angemessen ausgestattetem Wohnraum ist ein Menschenrecht, das auch Älteren zusteht. Und wie steht es um die Finanzierung von altersgerechtem Wohnraum, wenn aufgrund der weiter zunehmenden Lebenserwartung der Menschen auch der Bedarf steigt und gleichzeitig bei der öffentlichen Wohnungsbauförderung Ebbe herrscht, weil die Kommunen klamm bei Kasse sind und die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten müssen? Hier muss eindeutig in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen gedacht werden, was die Auswirkungen der neoliberalen Sozialkahlschlagpolitik der letzten zehn Jahre betrifft, die sich vor allem gegen die Schwächsten der Gesellschaft richtet. Wenn diese Entwicklung nicht endlich gestoppt wird, dann wird in Deutschland womöglich schlimmstenfalls Altersarmut sogar bald mit physisch bedrohlicher Ernährungsarmut einhergehen. Ein weiteres Problem ist die Altersdiskriminierung. Es ist völlig inakzeptabel, wenn Menschen aufgrund ihres Alters von sozialer, politischer und kultureller Teilhabe ausgeschlossen werden, indem bei Ehrenämtern, Partei-, Vereins- oder Kirchenmitgliedschaften von vornherein Altersgrenzen existieren oder eingeführt werden sollen oder sie trotz guter Gesundheit zu Opfern fremdbestimmter Vormundschaft gemacht werden. Im neoliberalen Gesellschaftsentwurf werden ältere Menschen primär zu einem „Kostenfaktor auf zwei Beinen“ degradiert, denen im Rahmen eines „aktivierenden Sozialstaats“ bestenfalls Almosen zustehen. Die Linke stellt sich dieser menschenverachtenden Denklogik entgegen: Für uns ist jedes Menschenleben von materiell unermesslichem Wert. Ältere Menschen sind eine Bereicherung für die Gesellschaft: Gerade wegen ihrer Lebenserfahrung können sie wichtiges Wissen an jüngere Generationen weitergeben, sich um die Miterziehung ihrer Enkelkinder kümmern und häufig auch lange Zeit noch selbst aktiv ihre Interessen und Hobbys bestreiten. Ältere Menschen sind auch das historische Gedächtnis einer Gesellschaft. Wo stünden wir heute als Demokratie und als Gesellschaft ohne ihre persönlichen Erfahrungen aus der Zeit des Hitlerfaschismus, des Zweiten Weltkriegs und der jahrzehntelangen Lebensrealitäten in zwei unterschiedlichen politischen Systemen als Folge der Teilung Deutschlands? Darauf können und dürfen wir als Gesellschaft um unserer selbst willen nicht verzichten. Die älteren Menschen benötigen bessere gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um in der Mitte unserer Gesellschaft in Würde alt werden zu können. Das ist die Aufgabe der Politik. Der SPD-Antrag liefert hierfür einige wichtige Anregungen; er bleibt allerdings in etlichen Punkten zu oberflächlich, auch weil die SPD innerlich immer noch nicht aus ihrer neoliberalen Sackgasse herausgekommen ist, in die sie sich unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders selbst hineinmanövriert hat. Aus diesem Grund kann sich Die Linke bei dem Antrag auch nur enthalten, betrachtet ihn allerdings als einen wichtigen Impuls für die gesellschaftspolitische Debatte, die bei diesem Thema keinen Zeitaufschub mehr duldet.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Leben wird länger. Wir werden immer älter. Die Anzahl der älteren Menschen wächst. Bis 2050 wird sich die Zahl der über 60-Jährigen fast verdreifachen: von knapp 740 Millionen auf 2 Milliarden Menschen. Vor allem in den Industrieländern werden 2050 etwa ein Drittel der Menschen älter als 60 Jahre sein. Diese demografische Verschiebung bedeutet für uns einen Gewinn, für die gesellschaftlichen Kapazitäten Zu Protokoll gegebene Reden eine Herausforderung. Es sind Gesetze und Maßnahmen nötig, die auf den demografischen Wandel zugeschnitten sind. Alt sein heißt nicht krank sein. Viele ältere Menschen tragen zu unserer Gesellschaft bei. Wir müssen lernen, wo wir sie besonders fördern können, aber auch, wie wir sie besser schützen können. Das ist Aufgabe der Staaten. Deshalb muss die internationale Gemeinschaft Grundsätze und Regeln für die Menschenrechte Älterer erarbeiten. Bereits 1982 beriefen die Vereinten Nationen in Wien die erste Weltversammlung zur Frage des Alterns ein. Acht Jahre später hat die Generalversammlung die Resolution 45/106 verabschiedet. Sie war die Grundlage für einen internationalen Aktionsplan. Der 1. Oktober wurde als „Internationaler Tag der älteren Menschen“ ausgerufen - zu mehr hat das allerdings nicht geführt. Unter den Schlagwörtern „Unabhängigkeit“, „Partizipation“, „Fürsorge“, „Selbstverwirklichung“ und „Würde“ nennt die VN-Resolution 46/91 konkrete Richtlinien für die nationalen Aktionspläne. Das hat die Bundesregierung erst 2007 zur Kenntnis genommen und daraufhin einen nationalen Aktionsplan entworfen. Die Maßnahmen und ihre Umsetzung waren und sind bis heute dürftig. Die Wahl der Bundesrepublik in den VN-Menschenrechtsrat im Dezember 2012 bietet Deutschland die Gelegenheit, einen neuen Anlauf zu machen. Deutschland soll eine Konvention zu den Rechten der Alten einbringen. Solche Konventionen gibt es schon für andere schutzbedürftige Gruppen in der Gesellschaft, wie zum Beispiel die VN-Kinderrechtskonvention oder auch die Behindertenrechtskonvention. Schon die Diskussionen zu den Konventionen haben etwas gebracht. Im Antrag wird gefordert, einen VN-Sonderberichterstatter einzusetzen. Dem kann ich nur zustimmen. Mit dieser Institution würde man nicht nur problemorientiert handeln, sondern auch deutlich machen, dass man den demografischen Wandel ernst nimmt und auf die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaften eingeht. Der Bericht im Juli 2007 von Vernor Muñoz, Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Bildung, war ein Erfolg. Er hat deutliche Missstände im deutschen Bildungssystem aufgezeigt, wie zum Beispiel die Chancenungleichheit von Kindern von Migranten oder Kindern mit Behinderung. Sein Bericht löste damals eine längst notwendige Diskussion in der BRD über Chancengleichheit im Bildungssystem aus. Ein VN-Sonderberichterstatter sollte nicht davor zurückschrecken, jede Bundesregierung auf die bestehende Altersdiskriminierung hinzuweisen. Der Sonderberichterstatter für die Menschenrechte älterer Menschen sollte regelmäßige, unabhängige Berichte liefern, Missstände aufzeigen und konstruktive Kritik äußern. Er soll positive Umsetzungsbeispiele, best practices, auflisten, an denen sich ein handlungs- und nicht nur schönwetterbezogener Aktionsplan orientieren kann. Eine VN-Konvention würde nicht nur die Situation der Älteren in der Bundesrepublik ändern. Wir könnten ein weltweites Zeichen setzen. Der 69-jährige kolumbianische Bauer im Hochland sollte dieselben Rechte auf Älterwerden in Würde haben wie der 69-jährige Bundestagsabgeordnete. Unser Leben ist sehr verschieden verlaufen, an Würde sind wir jedoch immer gleich gewesen - in jedem Alter.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13220, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12399 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Öko-Landbaugesetzes - Drucksache 17/12855 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})Rechtsausschuss Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Umetikettierung von Pferdefleisch auf europäischer Ebene und mutwillige Falschdeklaration vermeintlicher Bioeier in Deutschland: Die aktuellen Lebensmittel- und Haltungsskandale machen deutlich, dass Transparenz und Rückverfolgbarkeit fundamentale Bestandteile eines wirksamen Verbraucherschutzes sind. Das gilt sowohl für Produkte des konventionellen Landbaus als auch im Ökobereich. Den Ökokontrollstellen wird hierbei eine wichtige Aufgabe zuteil. Sie überprüfen die Einhaltung der Vorgaben der EG-Öko-Basisverordnung aus dem Jahr 2007. Die Durchführungsverordnung Nr. 426/2011 der EU gilt seit dem 1. Januar 2013 und hat einen stärkeren Verbraucherschutz zum Ziel. Demnach müssen alle von den Ökokontrollstellen registrierten Unternehmen in öffentlichen Verzeichnissen geführt und im Internet der Bevölkerung zugänglich gemacht werden. In weiten Teilen entsprechen die Vorgaben der EU-Durchführungsverordnung bereits den aktuellen Bestimmungen des Öko-Landbaugesetzes. Lediglich die Informationen der Kontrollstellen über kontrollierte Unternehmen, die nicht zur Biokennzeichnung berechtigt sind, sowie die Angabe der Geltungsdauer der Kontrollbescheinigungen sind nicht in der nationalen Gesetzgebung verankert und sollen mit EU-Recht harmonisiert werden. Um Verbrauchern mehr Informationen zu ermöglichen, hat die Konferenz der Kontrollstellen für den ökologischen Landbau e. V., KdK, auf freiwilliger Basis eine zentrale Internetplattform bereitgestellt, die die Verzeichnisse und Bescheinigungen der Datenbanken der einzelnen Kontrollstellen bündelt. Die Plattform wurde Ende 2012 ins Leben gerufen, führt aber bisher nur die Aktivitäten der KdK-Mitglieder auf. Hiermit werden circa 90 Prozent der ökologisch bewirtschafteten Landwirtschaftsfläche abgedeckt. Eine Vervollständigung der zentralen Plattform wird angestrebt und scheint mir vor dem Hintergrund, dass die entscheidenden Informationen ohnehin von den einzelnen Kontrollstellen bereitgestellt werden müssen, auch ohne besonderen Mehraufwand oder Gegenwehr realisierbar. Außerdem könnten weiterführende Ergänzungen und Verpflichtungen in den Zulassungsbescheiden für die Kontrollstellen aufgeführt werden. Die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung betrachte ich in Anbetracht des zusätzlichen Verwaltungsaufwands kritisch, zumal nach der EU-Durchführungsverordnung keine einheitliche Datenbank vorgeschrieben wird. Jedoch sollte gerade der sensible Bereich der Kontrollstellen, die im Zuge der aktuellen Lebensmittelskandale mehr und mehr in den Mittelpunkt rücken, eindeutig, einfach und verpflichtend geregelt sein. Die Abwägung zwischen neuen bürokratischen Zwängen und Sicherheit für den Verbraucher fällt nicht immer leicht. Vorsätzliche Betrügereien Einzelner lassen sich nicht durch Gesetzesänderungen vermeiden. Die Lebensmittelbranche ist auf Akzeptanz und Vertrauen der Verbraucher angewiesen. Gleichermaßen fordert der Verbraucher zum Beispiel einen transparenten Produktionsprozess, um sich von der versprochenen Qualität des Produktes überzeugen zu können. Skandale müssen lückenlos aufgeklärt und die Verursacher benannt werden können. Hierzu sind verpflichtende Maßnahmen innerhalb der Produktions-, Handels- und Kontrollkette von großer Wichtigkeit. Es muss eindeutig festgestellt werden können, welches Glied seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist. Das gilt insbesondere zum Schutz der Erzeuger, die häufig als Sündenbock an den Pranger gestellt werden, jedoch wenig Einfluss auf die folgenden Akteure in der Wertschöpfungskette haben. Die Kontrollstellen haben eine zentrale Stellung im Kontext des Verbraucherschutzes. Vor diesem Hintergrund halte ich die Gesetzesänderung für eine gangbare Lösung.

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die landwirtschaftliche Intensivtierhaltung in ihrer jetzigen Form hat umfassende negative Folgen für uns und unsere Umwelt. Das hat die Gesellschaft längst erkannt. Das hat auch die Wirtschaft in weiten Teilen erkannt. Darauf weisen wir Sozialdemokraten seit Jahren hin. Einzig die Bundesregierung hinkt mit ihren groß angekündigten Aktionsplänen und Werbemaßnahmen hinterher. Dies wirkt angesichts der bestehenden Probleme fast grotesk. Um nur einige zu nennen: Langzeitschäden für die Umwelt, gefährliche Bodenund Luftimmissionen, Klimawandel, Bodenerosion durch falsche Bewirtschaftung, Gefährdung der Artenvielfalt, schlechte Arbeitsbedingungen, mangelhafte Ernährung und Krankheiten bei Mensch und Tier. Was ich neben den gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Aspekten besonders hervorheben möchte, ist die millionenfache Tierquälerei. Auch die Lebensmittelund Verbraucherskandale 2013 scheinen endlos zu sein. Diese reichen von Ehec-Erregern im Gemüse über Dioxin im Schweinefleisch bis hin zu BSE in der Rinder- oder Antibiotika in der Geflügelproduktion. Allein wegen der Skandale wäre es daher nur eine logische Konsequenz die bisherige Politik infrage zu stellen und umzustellen. Denn die strukturellen Ursachen liegen oftmals in der derzeitigen Form der landwirtschaftlichen Intensivtierhaltung und der schlechten Politik der Bundesregierung. Wir Verbraucher haben Besseres verdient und wollen auch Besseres. Wir haben einen Anspruch auf qualitativ hochwertige Produkte, bei denen wir uns sicher sein können, dass sie unbelastet sind und unter besseren Bedingungen hergestellt wurden. Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher ernähren sich deswegen bewusster und achten beim Lebensmittelkauf auf den Tierschutz und die Qualität der Produkte. Die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten steigt ständig. Das Wachstum in der Biobranche spiegelt diese bewusste Entscheidung wider: Allein letzes Jahr wuchs der Biomarkt um 6 Prozent, der Umsatz lag sogar erstmals über 7 Milliarden Euro. Der Bioanteil am gesamten Lebensmittelumsatz in Deutschland erhöht sich damit auf 3,9 Prozent. In den letzten 10 Jahren hat sich das Volumen verdreifacht. Momentan liegen wir flächenmäßig bei 6,3 und bei der Zahl der Betriebe bei rund 8 Prozent. Deutschland ist derzeit weltweit Bioland Nummer zwei hinter den USA. Das größte Problem bleibt indes offensichtlich: Die Umsatzsteigerungen ergeben sich zu einem guten Teil aus Preissteigerungen infolge der Angebotsknappheit. Mit anderen Worten: Die Nachfrage übersteigt schon jetzt das Angebot, weil die vorhandenen Potenziale noch lange nicht ausgeschöpft sind. Trotz der enorm steigenden Nachfrage nach Biofleisch im letzten Jahr, die zum Teil nicht befriedigt werden konnte, wuchs der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Flächen nur um magere 2,7 Prozent. Das hat zur Folge, dass viele Bioprodukte noch immer importiert werden müssen, was lange Transportwege nach sich zieht und damit die Nachhaltigkeit infrage stellt. Zwischen Angebot und Nachfrage besteht eine derart große Diskrepanz, dass wir unbedingt handeln müssen. Denn damit kommen wir nicht nur den Verbraucherinnen und Verbrauchern entgegen; wir unterstützen auch die ökologischen Landwirte selber, deren Bemühungen sich lohnen müssen. Vor allem müssen Zu Protokoll gegebene Reden wir aber auch handeln, um die gesamte Ernährungswende zu unterstützen, hin zu mehr Nachhaltigkeit, Tierschutz und Umweltbewusstsein. Dass Nachhaltigkeit auch in der Praxis erreicht werden kann, zeigen die unzähligen erfolgreichen Biounternehmen in Deutschland, die den Spagat zwischen wirtschaftlichem Erfolg, fairem Umgang mit Arbeitnehmern und Kunden sowie höchster Qualität der ökologischen Lebensmittel hinbekommen. Die Biolandwirte sowie die Verarbeiter und Händler entsprechen damit nicht nur dem Wunsch des Verbrauchers, sondern sind auch den notwendigen politischen Schritten voraus. Die Bundesregierung tut zu wenig für den Ökolandbau. Dies zeigte sich auch bei den Verhandlungen über die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EUEbene. Statt die Zahlungen aus Brüssel an konkrete ökologische Maßnahmen und Leistungen zu koppeln, wird gezögert und gezaudert. Ein Schelm, wer dabei nicht die große Agrarlobby im Hintergrund jubeln sieht. Angesichts aller Probleme muss aber selbst Schwarz-Gelb endlich Farbe bekennen und den Schritt zu mehr Ökolandbau wagen. Die letzte große Studie des Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hat bestätigt, dass ein großer Teil der Landwirte angesichts der fehlenden Rechtssicherheit und der komplizierten Verfahren verunsichert ist, wenn es darum geht, auf ökologische Landwirtschaft umzusteigen. Hier kann die Bundesregierung direkt Abhilfe schaffen. In bewährter Manier wird stattdessen gezögert und abgewartet. Der Bundesrat hat indes mit rot-grüner Mehrheit den richtigen Vorschlag einer gemeinsamen Internetdatenbank gemacht. Der Gesetzentwurf begleitet und präzisiert die Auflagen des EU-Rechts durch eine nationale Regelung. Was die Bundesregierung also weiterhin hinausschiebt, packt der Bundesrat jetzt an: eine klare und einheitliche Rahmenregelung, die Rechtssicherheit bietet und allen Beteiligten im Internet Zugang zu den Daten verschafft. Damit wollen wir mehr Transparenz schaffen und die Kontrolle erleichtern. Künftig könnte sogar die Papierdokumentation durch eine elektronische Dokumentation der Zertifikate ersetzt werden und damit die Arbeit auf betrieblicher Ebene erleichtert werden. Dies ist zwar nur ein Baustein in einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die noch nötig sind, um den Ökolandbau zu stärken, aber ein wichtiger. Denn er betrifft direkt die Arbeit vor Ort und stärkt den Verbraucherschutz. Natürlich muss es auch hier weitergehende Verbesserungen geben. Um eine praktikable Handhabung in den Kontrollstellen zu gewährleisten, könnte man beispielsweise die Berichtspflicht so definieren, dass eine Aktualisierung auf den folgenden Werktag erfolgt. Außerdem könnte man den Kontrollstellen insofern entgegenkommen, als dass eine Berichtspflicht nicht rückwirkend, sondern sofort mit dem Tag des Inkrafttretens besteht. Unsere Landwirte und Kontrollbehörden sind der Schlüssel zu einer nachhaltigen Ernährungswende. Sie brauchen diese Art der Unterstützung und Förderung, damit sie auf ökologische Produktion umstellen können. Unsere Landwirte sind der Schlüssel für die Lösung vieler Probleme, vor denen wir stehen. Stellen wir die Landwirtschaft endlich auf die Zukunft ein! Dazu gehört insbesondere die Unterstützung der ökologischen Landwirtschaft bei uns in Deutschland.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Deutschland sind 20 Kontrollstellen für die Kontrolle von Ökobetrieben zugelassen. Nach der EUÖko-Verordnung müssen diese Kontrollstellen aktuelle Verzeichnisse der von ihnen kontrollierten Öko-Unternehmen führen und diesen Unternehmen außerdem Bescheinigungen ausstellen. Seit dem 1. Januar 2013 verpflichtet das EU-Recht zusätzlich die Mitgliedstaaten, die aktualisierten Verzeichnisse mit den aktualisierten Bescheinigungen für die einzelnen Unternehmer, unter Beachtung der Anforderungen an den Schutz personenbezogener Daten, im Internet der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Regelung zielt darauf ab, Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit zu bieten, sich über die Unternehmer und deren Erzeugnisse, die dem Kontrollsystem für Bioprodukte unterliegen, zu informieren. Der Bundesrat hat dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die EU-rechtlichen Vorgaben für die Veröffentlichung von Verzeichnissen und Bescheinigungen der Biounternehmen durch die Kontrollstellen in nationales Recht umgesetzt und konkretisiert werden sollen. Die Bundesregierung ist in ihrer Gegenäußerung dem Gesetzentwurf des Bundesrates teilweise gefolgt. Es gibt bereits eine durch den Bund geförderte Datenbank mit allen relevanten Informationen. Die Konferenz der Kontrollstellen für den ökologischen Landbau e. V. , KdK, bietet bereits eine geeignete Internetseite an. Diese Datenbank ist für die Veröffentlichung der Verzeichnisse der Betriebe und die zugehörigen Bescheinigungen geeignet. Sie bietet Recherchemöglichkeiten zu allen deutschen Unternehmen, die dem Kontrollverfahren des ökologischen Landbaus unterliegen. So können bereits jetzt alle aktuellen Daten und Informationen aus den angebundenen Kontrollstellen abgerufen werden. Das Rad muss nicht ein weiteres Mal erfunden werden. Das Anliegen der Länder, Vorgaben zur Veröffentlichung in einem Bundesgesetz zu regeln, dient der vergleichbaren Transparenz und wird auch von der FDP unterstützt. Zur bundesweiten Bündelung der Verzeichnisse zu einem zentral geführten Verzeichnis schlägt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vor, im Gesetz zunächst keine Regelungen vorzunehmen. Hier müssen erst die rechtlichen und administrativen Möglichkeiten für eine solche Bündelung geprüft werden. Diese Einschätzung teilt die FDP. Zu Protokoll gegebene Reden Im weiteren parlamentarischen Verfahren will die FDP insbesondere prüfen, ob die Veröffentlichung aller Öko-Bescheinigungen über fünf Jahre hinweg tatsächlich sinnvoll ist. Als problematisch sehen wir nicht nur datenschutzrechtliche Aspekte an, sondern auch eine mögliche Unübersichtlichkeit bei einer hohen Anzahl von bescheinigungsrelevanten Vorgängen. Wir wollen keinen Datenfriedhof schaffen. Ziel ist die Transparenz der Kontrollvorgänge, nicht jedoch das Ansammeln und Veröffentlichen von möglichst vielen Bescheinigungen. Dieses erzeugt eine Scheintransparenz, die dem Anliegen der Transparenz gerade widerspricht. Im Übrigen gilt für Unternehmen der Biobranche, was für alle Unternehmen gilt: Sie sind für ihre Produkte verantwortlich. Auch sie müssen vor einer Veröffentlichung Gelegenheit bekommen, Verdachtsmomente auszuräumen. Bei einem tatsächlichen Verstoß gegen die EU-Öko-Verordnung steht einer Veröffentlichung der Bescheinigung nichts im Wege. Die Dokumentation aller Bescheinigungen, die einen Betrieb betreffen, durch die Kontrollstellen bleibt gewährleistet. Sie müssen von den Kontrollstellen bereits heute sechs Jahre aufbewahrt und den Behörden zur Verfügung gestellt werden. So können Unternehmen, welche häufig Verdachtsmomente aufweisen, trotzdem risikoorientiert kontrolliert werden. Die FDP hält eine klare, einheitliche und rechtssichere Umsetzung der EU-Veröffentlichungspflicht, im Sinne der Verbraucherinformation und im Sinne der am Markt beteiligten Unternehmen, in Form eines Gesetzes für zweckmäßig und wird sich konstruktiv in das Verfahren einbringen.

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf zum Öko-Landbaugesetz, den der Bundesrat eingebracht hat. Worum geht es? Mit diesem Gesetz sollen verbindliche Regelungen für die Veröffentlichung von Kontrolldaten im Bereich der Öko-Landwirtschaft im Internet getroffen werden. Dieses Vorhaben wird von der Linken unterstützt, obwohl die Kontrollstellen und deren Verbund von sich aus bereits auf dem Weg waren, die Internetveröffentlichung voranzutreiben. Aber eine verbindliche gesetzliche Regelung schadet nicht - im Gegenteil. Damit wird jeder Betrieb, der ökologische Produkte produziert und anbietet oder mit ihnen handelt, künftig im Internet zu finden sein. Damit lässt sich dann von jedem und zu jeder Zeit überprüfen, ob als Öko-Produkte deklarierte Waren tatsächlich dem von der EU vorgegebenem Kontrollsystem der Öko-Landwirtschaft entsprechen. Betriebe, die dort nicht registriert sind, dürfen keine Öko-Produkte verkaufen. Die Gestaltung einer einheitlichen bundesweit gültigen Internetplattform vereinfacht das Auffinden der Betriebe. Eine solche Transparenz ist angesichts der zunehmenden Anteile von Öko-Produkten im Lebensmittelhandel wichtig und auch im Sinne von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den seriös arbeitenden Erzeugungs-, Verarbeitungs- und Handelsbetrieben. Unseriöse Geschäftspraktiken in der Erzeugung und im Handel mit Bioprodukten werden damit erschwert. Dass diese immer wieder vorkommen, haben zuletzt der Skandal um falsch deklarierte Bioeier oder das illegal als ökologisch gekennzeichnete Futtergetreide aus Osteuropa gezeigt. Nicht nur in der Erzeugung, auch in den Zwischenstufen der ökologischen Lebensmittelkette gibt es immer wieder Probleme mit Betrug. Ein heute fast überall verfügbarer Internetzugang macht es den Akteuren auf allen Ebenen vergleichsweise leicht, zu überprüfen, ob eingekaufte Ware von Betrieben kommt, die ordnungsgemäß kontrolliert und registriert sind. Die Voraussetzung dafür ist die Pflicht, dass die dafür notwendigen Daten im Netz veröffentlicht werden. Ein auf Freiwilligkeit beruhendes System weist immer Lücken auf und ist damit anfälliger für Betrug. Die von den Bundesländern geforderte gesetzliche Pflicht für die Internetveröffentlichung schließt diese Lücke. Die Veröffentlichung im Internet wäre handhabbar, praxisnah und effizient. Immer wichtiger werden in diesem Kontext die ÖkoKontrollstellen. Dass diese vernünftig und sauber arbeiten, ist die Voraussetzung für ein vergleichsweise großes Vertrauen, das Verbraucherinnen und Verbraucher den Bioprodukten entgegenbringen. Das Kontrollsystem im Öko-Landbau hat sich im Prinzip bewährt, auch wenn es im Zusammenhang mit den Kontrollen der Legehennen in Öko-Betrieben Schwächen gezeigt hat. Auch die Öko-Branche muss darauf reagieren, dass mit den größeren Marktanteilen und dem steigenden Kostendruck auf die Erzeuger auch die Versuchung zum Verstoß gegen Richtlinien größer geworden ist. Konsequenzen wurden inzwischen gezogen, und es bleibt zu hoffen, dass ein Versagen an dieser Stelle die Ausnahme bleibt. Für die Überwachung der Kontrollstellen ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, kurz BLE, zuständig. Sie muss sicherstellen, dass die Standards der Biokontrollen eingehalten werden, und sie vergibt die Zertifikate, die die Öko-Kontrollstellen zu ihrer Arbeit autorisieren. Über diese Regelungen sind die Kontrollen letztlich staatlich garantiert. Der gesamte Warenstrom von Öko-Produkten unterliegt damit der Kontrolle, und die Ergebnisse dieser Kontrollen sind zu veröffentlichen! Das wäre dann nämlich sehr viel umfassender und transparenter als alle anderen Kontrollsysteme, die es noch in der Lebensmittelerzeugung gibt. Johannes Remmel, Minister ({0}): Der Bundesrat legt den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Öko-Landbaugesetzes vor. Hintergrund dieser Gesetzesänderung ist die nationale Umsetzung der EU-Verordnung Nr. 426 vom 2. Mai 2011. Diese EU-Verordnung sieht vor, dass die Mitgliedstaaten ab dem 1. Januar 2013 „aktualisierte Zu Protokoll gegebene Reden Minister Johannes Remmel ({1}) Verzeichnisse“ aller „Öko Unternehmen“ - das heißt aller Landwirte, Verarbeiter und Handelsunternehmen, die Ökoprodukte entsprechend der EU-Vorschriften er- zeugen, verarbeiten und mit ihnen handeln - im Inter- net veröffentlichen müssen. In Deutschland sind dies inzwischen 34 000 Unternehmen. Gleichzeitig müssen in diesem Verzeichnis die „Öko Vermarktungs-Be- scheinigungen“ dieser 34 000 Unternehmen aufge- führt werden. In dem im Internet veröffentlichten Verzeichnis sol- len sich Verbraucherinnen und Verbraucher zukünftig informieren können, ob die gekauften Ökolebensmittel tatsächlich von kontrollierten und zertifizierten Unter- nehmen stammen. Diese größtmögliche Transparenz soll nicht nur den Käufern helfen, sondern insgesamt der Biobranche einer Nachverfolgung und Absiche- rung aller Warenströme dienen. Nicht zuletzt soll das umfangreiche Verzeichnis den in Deutschland zugelas- senen 20 privaten Ökokontrollstellen und den in den Bundesländern tätigen Überwachungsbehörden bei der Betrugsabwehr helfen. Wie so häufig bei EU-Regelungen müssen auf natio- naler Ebene ergänzende Rechtsvorschriften erlassen werden, um das EU-Recht in Deutschland sinnvoll und gezielt ausführen zu können. Der Bundesrat musste diese ergänzenden Rechts- vorschriften jetzt vorlegen, da die Bundesregierung sich bisher weigerte, solche präzisierenden Regelun- gen im Öko-Landbaugesetz zu erlassen. Unter allen Bundesländern bestand hingegen vollständige Einig- keit, dass die generalklauselartigen EU-Vorschriften durch klare, eindeutige und rechtssichere Durchführungs- regeln zu konkretisieren seien. In ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bun- desrates hat die Bundesregierung am 20. März 2013 schließlich eingesehen, dass sie dem wiederholt be- kundeten Willen der Länder nach einer klaren recht- lichen Verankerung im Öko-Landbaugesetz nicht mehr im Wege stehen möchte und hat jetzt einen eigenen Än- derungsentwurf des Öko-Landbaugesetzes vorgelegt. Viele Änderungsvorschläge des Bundesrates greift die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf auf. Aber in einem entscheidenden Punkt weicht der Vorschlag des BMELV von dem des Bundesrates ab. Die EU-Regelung sieht bedauerlicherweise nicht vor, dass es in jedem Mitgliedstaat ein einheitliches Verzeichnis geben muss. Der Bundesrat hatte daher ausdrücklich formuliert, es müsse ein „bundesweit einheitliches Verzeichnis“ in Deutschland geben. Die- ser Passus fehlt im Vorschlag der Bundesregierung. Was nützt es den Verbrauchern aber, wenn sie - wie in Deutschland - in vielen verschiedenen Verzeichnissen der 20 Ökokontrollstellen prüfen müssen, ob die ein- gekauften Lebensmittel tatsächlich von kontrollierten Unternehmen stammen? Und wie soll in Betrugsfällen die Biobranche schnell informiert werden, wenn es kein rechtsverbindliches gemeinsames Verzeichnis gibt? Das BMELV hat in seiner Erwiderung auf den Ge- setzesvorschlag des Bundesrates zwar auch eine Bün- delung der bislang zersplitterten Informationsange- bote befürwortet, hält aber anscheinend eine vom Dachverband der Kontrollstellen angebotene freiwil- lige und privatwirtschaftliche Lösung für ausreichend. Deshalb möchte ich Sie, sehr geehrte Bundestags- abgeordnete, herzlich bitten, dem Antrag des Bundes- rates zuzustimmen und nicht dem unvollständigen Vor- schlag der Bundesregierung zu folgen. Damit möchte ich ein deutliches Signal des ernst gemeinten Verbrau- cherschutzes setzen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgenommen werden. Gibt es dazu andere Vor- schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Gustav Herzog, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Organisationserlass zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung stoppen - Reform rechtssicher gestalten - Drucksache 17/13228 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})- Innenausschuss- Sportausschuss- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit- Ausschuss für Tourismus- Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ohne Beschlussfassung des Deutschen Bundestages und Bundesrates verhindern - Drucksache 17/13229 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dieser Antrag der SPD-Fraktion ist der bisher realistischste und überzeugendste, den ich in den letzten Jahren gesehen habe. Er ist das, was viele Anträge der Opposition nicht sind. Er ist visionär. Er ist zukunftsweisend. Heute, liebe Kollegen von der Union, muss ich die Sozialdemokraten loben: ihren Realitätssinn, ihre Expertise und ihre Fähigkeit, die Zukunft einzuschätzen. Sie fordern in ihrem Antrag die Bundesregierung dazu auf, nach der Bundestagswahl einen neuen Dialogprozess über die zukünftige Struktur der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu beginnen. Das ist richtig analysiert. Diese Bundesregierung wird in der Tat auch nach der Bundestagswahl Bundesregierung sein. Danke für diese Bestätigung! Ansonsten bieten der SPD-Antrag wie auch der Antrag der Linken inhaltlich wenig Neues. Die Kolleginnen und Kollegen tun das, was sie bei Reformen und Veränderungen immer tun: Sie schüren Angst - Angst vor dem Neuen, Angst vor dem Ungewohnten, Angst vor dem Besseren. Dabei wäre das Gegenteil richtig. Ein Blick in die Natur lehrt uns dies. Arten, die sich verändernden Lebensbedingungen nicht anpassen, sterben aus oder überleben nur in ganz bestimmten, abgetrennten Biotopen. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Staatsapparat. Er muss sich immer wieder den geänderten Lebensverhältnissen anpassen. Sonst verliert er seine Legitimität. Genau deshalb will diese Koalition der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung das Schicksal der Dinosaurier ersparen. Gewandelte Verhältnisse erfordern gewandelte Behördenstrukturen. Lobend erwähnen möchte ich an dieser Stelle die Grünen, die den Reformbedarf bei der WSV erkannt haben und die Debatte in den vergangenen Monaten kritisch, aber konstruktiv begleitet haben. Daran könnte sich die übrige Opposition ein Beispiel nehmen. Denn es ist unstrittig, dass die Struktur der WSV veraltet ist. Deshalb richten wir die Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn ein. Dies wird durch einen Einrichtungserlass unter Wahrung der personalvertretungsrechtlichen Belange geschehen. Ein Gesetz brauchen wir dazu nicht. Zum einen gibt es keinen Vorbehalt derart, dass eine solche Organisationsänderung nur durch Gesetz oder Rechtsverordnung erfolgen darf. Zum anderen ist sie durch das Selbstorganisationsrecht der Verwaltung gedeckt. Dies ist auch - zumindest außerhalb der Opposition - nachvollziehbar: Die Verwaltung muss in der Lage sein, sich so zu organisieren, dass sie die ihr übertragenen Aufgaben so gut, so schnell und so effizient wie möglich erfüllen kann. Das ist auch richtig so: Sonst würden wir im Deutschen Bundestag einen großen Teil unserer Zeit damit verbringen, über veränderte Organisationsformen von Behörden zu entscheiden. Das kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein. Das ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers. Insofern wird die Errichtung der Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt in der angemessenen und gesetzlich gebotenen Form erfolgen. So wird der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch weiterhin eine von allen Seiten geachtete Existenz als flexible und kompetente Behörde mit hochmotivierten Mitarbeitern sicher sein. Warum wollen Sie dies nicht, meine Damen und Herren von der Opposition? Warum wollen Sie verhindern, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit einer erneuerten Organisationsform fit für die Zukunft wird? Warum wollen Sie verhindern, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch weiterhin attraktive Arbeitsplätze für hochmotivierte Mitarbeiter schafft? Warum wollen Sie verhindern, dass unsere Wasserstraßen effektiv und hochwertig bewirtschaftet werden? Die Errichtung der Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt ist der erste Schritt in die Moderne der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Weitere werden folgen. Es werden aber Schritte in die richtige Richtung sein. Die Kernkompetenzen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung werden wir nicht antasten. Das aber, was andere besser können, soll die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an andere vergeben. Diese Balance werden wir halten. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass die Erledigung einiger Aufgaben durch Private nicht zu einem Kompetenzverlust beim Staat führen darf. Um es ganz klar zu sagen: Diese Koalition wird sich nicht von Oligopolen abhängig machen. Genauso klar ist, dass hoheitliche und sicherheitsrelevante Aufgaben auch weiterhin von der WSV erledigt werden, erledigt werden müssen. Wir wollen keinen trägen, verfetteten Staat; wir wollen einen starken, schlanken Staat, einen Staat, der eingreift, wo es nötig ist - aber auch nur da. Daher kann ich auch nicht erkennen, dass hier in irgendeiner Weise die Kernkompetenzen der Wasserund Schifffahrtsverwaltung tangiert, geschweige denn vernichtet werden. Das sind Unterstellungen. Es sind Unterstellungen von Leuten, die auch morgen noch im Gestern leben wollen. Wir aber wollen und werden in einem zeitgemäßen Morgen leben. Wir nehmen schon heute Kurs auf die Zukunft.

Matthias Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum wiederholten Male setzen wir uns heute mit der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes auseinander. Während wir in den vergangenen Plenardebatten versuchten, mit den bösen Gerüchten über den Inhalt dieser Reform aufzuräumen, hat die Opposition des Deutschen Bundestages nun einen neuen Kritikpunkt am Vorgehen um die WSV gefunden. Im Wesentlichen handelt es sich zwar um alten Wein in neuen Schläuchen - da es hier sicher nicht um den Organisationserlass, sondern um die Reform als solche geht -, aber dennoch möchte ich die erneute Chance Zu Protokoll gegebene Reden nutzen, um zum aktuellen Vorgehen des BMVBS in dieser Angelegenheit Stellung zu beziehen. Nachdem das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung richtigerweise den Ländern einen Entwurf zum Zuständigkeitsanpassungsgesetz vorgelegt hat, wurde dieser vorerst noch nicht in das Plenum eingebracht. Stattdessen werden nun die ersten Schritte der Reform via Ordnungserlass durchgeführt. Dieses Verfahren ruft nun bei Ihnen Kritik hervor, weil Sie selbstverständlich wissen, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat geändert haben und Sie dieses Vorgehen damit begründen. Tatsächlich aber wehrt sich niemand gegen ein Anpassungsgesetz oder den weiteren Dialog darüber. Diesbezüglich muss man erwähnen, dass der Ordnungserlass und das Gesetz ganz unterschiedliche Regelungsinhalte haben. Der Entwurf des Zuständigkeitsgesetzes erhielt so keine Organisationsregelung. Davon abgesehen, steht es auch nirgends geschrieben, dass die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt davon ausging, dass die Einrichtung der GDWS ein Rechtsbereinigungsgesetz benötigt. Und auch in Ihren Anträgen finde ich dazu keinerlei rechtlich begründete Argumente. Sie halten sich also wieder einmal nicht an die Fakten. Aber das kennen wir aus den vergangene Debatten um die Reform ja bereits. Und meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, wir wissen selbstverständlich, dass es Kritiker gibt. Die gibt es bei jeder Reform. Deshalb haben wir hier auch nichts von heute auf morgen über das Knie gebrochen, sondern einen langen Reformprozess beratend und reflektierend begleitet. Wir haben über Jahre hinweg immer wieder an der WSV-Reform geformt und gefeilt. Sie selbst waren bisher nicht willens dazu, oder im Falle der Linken auch noch nie in der Regierungsverantwortung, und kritisieren deshalb unsere Schritte nur noch um des Kritisierens willen. Natürlich ist Kritiküben eine wesentliche Aufgabe der Oppositionsfraktion. Allerdings sollte man nach ein paar Jahren vielleicht auch vernünftige Vorschläge erwarten können. Darauf nämlich warten wir schon lange vergeblich. Und auch die Menschen in der Verwaltung wissen, dass Sie jahrelang nur mit heißer Luft um sich geblasen haben, anstatt mal da anzugreifen, wo der Schuh wirklich drückt. Und so sind auch diese Anträge lediglich Hilfeschreie, um mit wehenden Fahnen in den Bundestagswahlkampf zu ziehen und doch noch das eine oder andere gutgläubige Wählerpotenzial ausfindig zumachen. Denn die Notwendigkeit einer Reform ist inzwischen vielfach unbestritten. Sollte es sich hier um rein rechtliche Bedenken handeln, existiert selbstverständlich immer die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Auch ich kann und will hier nicht die Rolle der Justitia übernehmen und vorschnell urteilen. Dennoch muss ich darum bitten, mit den Gerüchten darüber aufzuräumen, wir würden die Länder ihrer Stimme berauben und im stillen Kämmerlein vor uns hin brüten. Vor allem die Länder waren während des Prozesses eingeflochten und werden es auch zukünftig weiter sein. Auch sollten sowohl Sie alle hier als auch die Länder anerkennen, dass es sich um die Bundesverwaltung handelt. Und die ist nun mal bundeseigen und der Hoheit des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung unterstellt. Ich hege daher auch keine Zweifel daran, dass das BMVBS seinen Behördenunterbau selbst durch Organisationserlasse verwalten darf. Gern können Sie sich hierzu auch im Grundgesetz Art. 86 sachkundig machen. Zum Thema der Ämter und deren Aufgabenspaltung verweise ich auf die Antwort einer Kleinen Anfrage der Kollegin Wilms, Bundestagsdrucksache 17/12624. Zum einen werden die Strukturen hier nochmals ergebnisoffen geprüft. Zum anderen ist es ein Ammenmärchen, zu behaupten, wir würden die Regionen schwächen. Denn auf die Stärkung der regionalen Strukturen zielt diese Reform ja ab! Und noch nicht genug der Kuriositäten, denn die SPD fordert in ihrem Antrag einen Aufschub der Reform bis zur Bundestagswahl und eine umfassende Aufgabenkritik und Personalbedarfsermittlung. Offenbar haben die Genossen die fünf Berichte aus dem Ministerium nicht gelesen; denn sonst wüssten sie, dass derartige Untersuchungen schon durchgeführt wurden und auf einem guten Wege sind. Auch werden wir mit dem Aufschub keine kostengünstigere und effektivere, verlässliche WSV schaffen. Und gerade im Bereich des Personals ist es dringender denn je, Lösungen zu erarbeiten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich vermisse in Ihren Anträgen nachhaltige Konzepte, über die man sich ernsthaft unterhalten kann. Seit 2001 ist Ihnen nichts weiter eingefallen, um diese Verwaltung vernünftig zu reformieren. Ihre Anträge gehören daher ins Schaufenster und nicht in dieses Plenum!

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit den WSV-Plänen ist der Bundesverkehrsminister mächtig vom Kurs abgekommen. Vergeblich hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten versucht, Länder und Verbände bei dem höchst umstrittenen Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes mit ins Boot zu holen. Am Ende musste sie zurückrudern: Nach heftiger Kritik von Ländern, Verbänden und der Opposition im Deutschen Bundestag hat sie ihren Gesetzentwurf, mit dem sie die Zuständigkeiten der sieben regionalen Direktionen auf eine neu einzurichtende Zentralbehörde mit Sitz in Bonn übertragen wollte, wieder zurückgezogen. Ihre Pläne für den Verwaltungsumbau der WSV will die Regierungskoalition nun an Bundestag und Bundesrat vorbei per Organisationserlass durchsetzen, Zu Protokoll gegebene Reden der bereits am kommenden Mittwoch in Kraft treten soll. Eine überzeugende Erklärung für diesen bemerkenswerten Kurswechsel hat die Bundesregierung nicht. Das Manöver ist aber auch so ziemlich durchsichtig. Denn auf diese Weise verhindert die Bundesregierung jede parlamentarische Mitwirkung und eine offene Debatte über die Zukunft der WSV, eine der wichtigsten Behörden in Deutschland. Wenn die Bundesregierung jetzt das Parlament umschifft, zeigt dass nur eines: Sie hat selbst nicht mehr damit gerechnet, dass sie mit ihren Plänen durch Bundestag und Bundesrat kommt. Nun will sie diese auf Biegen und Brechen noch vor der Bundestagswahl durchsetzen. Diskussion oder gar Kritik lässt sie dabei nicht zu. Der jetzt geplante Verwaltungsumbau im Wege eines Organisationserlasses wird zudem zu massiver Rechtsunsicherheit führen. Wir als SPD halten es für höchst bedenklich, dass in Bundesgesetzen definierte Zuständigkeiten von den jetzigen Direktionen per Erlass auf die neue Generaldirektion übertragen werden sollen, die in den zugrunde liegenden Gesetzen nicht einmal erwähnt ist. Doch eine Antwort auf unsere entsprechende Anfrage vom 14. März hielt die Bundesjustizministerin nicht für nötig. Erst auf erneute Nachfrage und mit Fristsetzung kam die dürre Nachricht aus dem Haus, dass die Anfrage an das Bundesministerium des Innern abgegeben worden sei. Die Antwort, die schließlich von dort kam, ist - nun ja - bemerkenswert: „Die in Ihrem Schreiben erwähnten bestehenden gesetzlichen Zuweisungen von Zuständigkeiten an die bisherigen Wasser- und Schifffahrtsdirektionen sind lediglich von deklaratorischer Natur.“ Das zeugt nun allerdings von einem fragwürdigen Demokratieverständnis - mal ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen Fragen, die das Vorgehen der Bundesregierung aufwirft. Auch wenn zu einem späteren Zeitpunkt eine Rechtsbereinigung geplant ist, wie es aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung heißt, bestehen doch über einen Zeitraum von zwölf und mehr Monaten keine klaren Zuständigkeiten - mit rechtlichen Folgen, die derzeit kaum absehbar sind. Denn bisher sind für Planfeststellungsverfahren die Direktionen zuständig; so ist es im Bundeswasserstraßengesetz festgelegt. Wird diese Zuordnung jetzt durch Erlass neu geordnet, könnte dies Auswirkungen auf laufende oder künftige Planfeststellungsverfahren nach § 14 ff. Bundeswasserstraßengesetz haben. Wenn die Bundesregierung hier auf das geplante Zuständigkeitsanpassungsgesetz verweist, ist das nicht mehr als ein müder Beschwichtigungsversuch. Denn es ist überhaupt nicht absehbar, wann der neu zu wählende 18. Deutsche Bundestag zusammentreten und ein solches Gesetz verabschieden wird. Wir halten einen solchen Schwebezustand für nicht tragbar, geht es doch um eine der wichtigsten Behörden in Deutschland, die für die Unterhaltung und die Sicherheit und Schiffbarkeit unserer Bundeswasserstraßen verantwortlich ist. Das Vorhaben, die WSV zu modernisieren, ist grundsätzlich richtig. Denn in den vergangenen Jahren sind viele neue Aufgaben - etwa im Bereich Ökologie und Tourismus - hinzugekommen. Doch der Ausweitung des Aufgabenprofils und den gestiegenen Herausforderungen bei Bau und Unterhaltung steht keine ausreichende Aufstockung der Finanzmittel im Bundeshaushalt für die Bundeswasserstraßen gegenüber. Die Folge: Der Anteil der Aufgaben der WSV, die zur Erledigung an private Unternehmen vergeben werden, musste deutlich erhöht werden; 2009 hatte der Vergabeumfang mit 3 656 Einzelvergaben ein Gesamtvolumen von 1,08 Milliarden Euro. Mit ebendiesem Argument will die Bundesregierung nun begründen, warum die WSV in der bisherigen Größenordnung nicht mehr gebraucht und also dringend reformbedürftig sei. Damit verkehrt sie Ursache und Wirkung. Ausbaden müssen das die WSV-Beschäftigten. Bis Ende 2013 will das Bundesministerium mindestens zehn Ämter schließen, die bisherige Ämterstruktur soll weitgehend zerschlagen werden. Mindestens ein Viertel aller Stellen soll gestrichen werden. Verdi hat vor diesem Hintergrund jetzt zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik aufgerufen - die Frist läuft noch bis morgen. Es wird sich zeigen, ob es am Ende zu einer Abstimmung mit den Füßen kommt. Für die SPD steht fest: Eine Reform der WSV ist wichtig, um die Verwaltung fit für die Zukunft zu machen. Der Organisationserlass leistet das jedoch nicht. Er ist verkehrspolitisch unsinnig; denn die Regierungspläne würden die Entwicklung des Wasserstraßennetzes behindern, die Verkehrssicherheit gefährden und die Nutzung der Wasserwege verteuern. Er ist wirtschaftspolitisch schädlich, da wichtige Wasserstraßen in Deutschland - insbesondere im Norden künftig vom Verkehrsnetz abgekoppelt würden, obwohl bereits heute massive Kapazitätsengpässe im Güterverkehr bestehen. Er ist beschäftigungspolitisch fatal, da ein drastischer Stellenabbau innerhalb der gesamten WSV droht und das - siehe oben - auch massive Folgen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der verladenden Wirtschaft und der Binnenschifffahrt hätte. Er ist verfassungsrechtlich bedenklich, da eine untergesetzliche Übertragung von gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten der Wasser- und Schifffahrtsdirektionen auf die neue Generaldirektion zu massiver Rechtsunsicherheit führen wird. Wir fordern Sie daher mit unserem Antrag auf, den Organisationserlass zur Errichtung der Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt auszusetzen. Was es braucht, ist ein echtes Zukunftskonzept für die WSV und eine verlässliche Finanzausstattung der Bundeswasserstraßen. Wir wollen einen Neustart nach der Bundestagswahl - und zwar im engen Dialog mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen. Eine Entscheidung über die Struktur der WSV kann es erst geben, wenn eine umfassende Aufgabenkritik und eine grundlegende Personalbedarfsermittlung erfolgt sind. Beides ist bisher nicht der Fall, ebenso wenig wie eine Wirtschaftlichkeitsprüfung der Vergabe von Aufgaben, Zu Protokoll gegebene Reden die eine Kostenermittlung für den Fall der Eigenerledigung durch die WSV einschließt. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung fährt auf Sicht - und hat dabei leider die falsche Richtung eingeschlagen. Herr Minister, kehren Sie um, und sorgen Sie dafür, dass die Reform, die diesen Namen nicht verdient, gestoppt wird!

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie erinnern sich an den „Herbst der Entscheidungen“ im Oktober 2010? Nicht nur der Ausstieg aus dem Atomausstieg wurde ohne jeden vernünftigen Grund von der schwarz-gelben Koalition beschlossen. Auch - weniger beachtet von der Öffentlichkeit - die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes wurde Opfer einer schwarz-gelben Fehlentscheidung. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin enttäuscht. Ich bin enttäuscht von den Kolleginnen und Kollegen dieser Koalition im eigentlich zuständigen Verkehrsausschuss, die dieses Drama in sieben Akten zugelassen haben: die sogenannte WSV-Reform, die den Namen „Reform“ nicht verdient und die sich an Unprofessionalität, Ignoranz und Inkompetenz kaum überbieten lässt. Angestoßen von den Privatisierungsgelüsten einiger FDP-Abgeordneter nahm das Unheil am 27. Oktober 2010 seinen Lauf. Akt eins bis fünf: Fünf Berichte des Verkehrsministeriums später blicken wir auf einen Zickzackkurs, der kaum zu erkennen gibt, wo es eigentlich hingehen soll. So nebenbei wurde das ungeliebte Kind der „Kategorisierung“ geboren: von niemandem gewollt und doch in die Welt der Bundeswasserstraßen gesetzt. Gegen alle Widerstände aus der Wirtschaft, aus den Ländern und den Kommunen und wider alle fachliche Kritik setzt dieses Ministerium eine tonnagebasierte Kategorisierung durch. Schubladen werden zur Grundlage von verkehrspolitischen Entscheidungen, und Schwarz-Gelb verabschiedet sich damit endgültig von der verkehrsträgerübergreifenden und gestaltenden Verkehrspolitik. Eine parlamentarische Legitimation für derart weit in die Zukunft reichende Entscheidungen gibt es nur in Form von Ausschussbeschlüssen. Vor einem eigenen Antrag und einem Gesetz haben sie gekniffen. Ganze Regionen werden mittel- bis langfristig abgehängt, Wirtschaftsräume ausgetrocknet und Arbeitsplätze gefährdet, Milliardeninvestitionen der Vergangenheit entwertet, und das Ganze auf der Basis von „Berichten“? Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Damit haben Sie dem Parlament einen Bärendienst erwiesen. Akt sechs: Das BMVBS bereitet ein Gesetz zur Anpassung der Zuständigkeiten der Direktionen an die Neuordnung der WSV vor. In einem Vermerk vom Dezember 2012 war zu lesen: „Die Arbeit an dem Gesetzgebungsverfahren hat oberste Priorität“. Ich will Ihnen auch nicht vorenthalten, was im Referentenentwurf stand: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: …“. Das macht zwei Dinge deutlich. Erstens: Das Verkehrsministerium war der Meinung, ein Gesetz sei notwendig. Zweitens: Das BMVBS hat dem Bundesrat ganz eindeutig ein Mitspracherecht zugestanden. Und dann kam der 20. Januar und mit ihm die Niedersachsenwahl. Seitdem werden Sie nicht müde, zu beteuern, ein Gesetz sei überflüssig. Hier werden parlamentarische Grundrechte mit Füßen getreten. Sie legen ein Projekt „oberster Priorität“ zurück in die Schublade. Selbst Ihre eigenen Fachleute warnen unmissverständlich vor Rechtsunsicherheiten, wenn auf ein reguläres Gesetzgebungsverfahren verzichtet wird. Ich sage Ihnen: Für bereits laufende oder auch zukünftige Verwaltungsverfahren gilt: Ohne vorherige gesetzliche Zuständigkeitsänderung kann rechtlich nicht sichergestellt werden, dass die GDWS rechtmäßige Verwaltungsakte erlassen kann. Einschlägigen Petitionen der Beschäftigten und aus der Wirtschaft, einstimmigen Beschlüssen der VMK und persönlichen Appellen der Ministerpräsidenten zum Trotz hält Bundesminister Ramsauer an seinem Kurs fest und hat dabei längst die Übersicht verloren. Damit kommen wir zu Akt sieben: Ohne Rücksicht wird auf Biegen und Brechen versucht, diese Reform durchzudrücken. Auf untergesetzlichem Weg wird mit einem Organisationserlass eine Generaldirektion geschaffen, gesetzlich zugeordnete Zuständigkeiten der Direktion übertragen und ein Zuständigkeitschaos ausgelöst, das gefährlich ist für den ganzen Verkehrsträger. Ich gebe zu bedenken: All das geschieht zu einer Zeit, in der wir alle Ressourcen darauf verwenden sollten, unsere Wasserstraßen auf Vordermann zu bringen. Stillstand am NOK, verrottete Schleusen an der Lahn, in Passau und Schneckentempo beim Ausbau der Mosel-Schleusen - hier müssen wir unsere Kräfte bündeln, um die Güter von der Straße auf das Binnenschiff zu bringen. Stattdessen werden Beteiligungsrechte der Beschäftigten auf das Gröbste missachtet, Bundestag und Bundesrat umgangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, das alles geht auf Ihr Konto. Sie haben das zugelassen, durchgewunken und sich selbst zum Abnicker degradiert - obwohl, wie ich weiß, viele von Ihnen ebenfalls sehr unzufrieden sind. Wir werden nach der Bundestagswahl wieder ändern, was noch möglich ist. Wir werden einen neuen Prozess einleiten und Beschäftigte, Wirtschaft, Länder und Kommunen dabei aktiv beteiligen. An dieser Stelle möchte ich mich mit den Beschäftigten solidarisch erklären. Bis morgen läuft die Urabstimmung für einen unbefristeten Streik, und ich bin zuversichtlich, dass sich die Beschäftigten nicht alles gefallen lassen. Ich mag mir nicht ausmalen, was passiert, wenn die WSV bundesweit die Arbeit niederlegt. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn, dann hat der oberste Dienstherr dafür die Verantwortung zu tragen. Der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ein gutes Stehvermögen!

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die bestehenden Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes müssen dringend effizienter gestaltet werden, um sie leistungsstark, zukunftsfähig und demografiefest zu erhalten. Hierzu werden die See- und Binnenwasserstraßen nach ihrer Bedeutung für den Güterverkehr kategorisiert. Der Deutsche Bundestag hat dazu Auf- und Abstiegsmöglichkeiten beschlossen, die auch umkehrbar sind, damit sie geänderten Güterverkehrsströmen angepasst werden können. Die neu zu schaffende Generaldirektion wird zentral die Aufgabensteuerung übernehmen und dadurch wesentlich zur Beschleunigung von Entscheidungsverfahren sowie zur Einsparung von Kosten beitragen. Der Bundesrechnungshof hat Prioritäten und Mitteleinsatz überprüft und untersucht, welche Verfahren optimiert werden müssen, ein Vorgehen wie in jedem gut geführten Unternehmen. Bald können wir ein weiteres Häkchen auf unserer Liste erfolgreichen Bürokratieabbaus setzen! Das können und wollen die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der Linken so kurz vor der Bundestagswahl natürlich nicht dulden! Von ihnen kommt nichts als Gegenrede um der Gegenrede willen. Das bringt uns nun wirklich nicht weiter! Nicht, dass man Ihnen unterstellen wollte, Sie hätten etwas gegen Leistungsfähigkeit und Kostenersparnis. Aber Ihre Anwürfe sind - mit Verlaub - bestenfalls plakativ. Keine Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates - das hört sich ja ganz schlimm an. Wenn man Ihre Anträge liest, könnte man meinen, der Rechtsstaat samt freiheitlich-demokratischer Grundordnung sei für die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung kurzerhand abgeschafft worden, um einem schrecklichen Verwaltungsmonster Tür und Tor zu öffnen. Fakt ist, dass der Bundesrat in der aktuellen politischen Konstellation und insbesondere vor entscheidenden Wahlen den Reformprozess nicht konstruktiv begleitet. Im Übrigen stellt sich ohnehin die Frage, ob der Bundesrat beteiligt werden sollte. Art. 86 des Grundgesetzes lässt dies nicht zu. Eine Blockadehaltung aus durchsichtigen politischen Motiven muss verhindert werden. Denn auch der Bundesrat muss endlich erkennen, dass wir mit der Reform auf dem richtigen Wege sind! Hier droht keinerlei Unbill, weder was die Aufgabenerfüllung noch die Ämterstrukturen betrifft. Ganz im Gegenteil: Hier wird gute Politik für den Schifffahrtsstandort Deutschland gemacht! Anders als Sie schlagen wir konkrete Maßnahmen vor, was man besser machen kann. Denn wir wissen: Gute Kritik ist nur die, die auch Lösungsansätze beinhaltet. Auch wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern mit lautem Wahlkampfgetöse etwas anderes einreden wollen: Durch die Wasser- und Schifffahrtsreform werden keine Arbeitsplätze vernichtet. Wer, wie Sie, Ängste vor betriebsbedingten Kündigungen schürt, agiert in völliger Unkenntnis der Fakten. Kündigungen sind nicht vorgesehen. Ich sage: Das ist schäbig - noch dazu auf dem Rücken der Beschäftigten und der Schifffahrt! Und was würden Ihre Anträge letztlich bewirken? Einen guten und wichtigen Reformprozess zum Stillstand bringen. Wer Ihnen folgt, könnte auch genauso gut dem Rattenfänger von Hameln hinterherlaufen. Das ist es doch genau, was Bürgerinnen und Bürger so politikverdrossen macht - die Vernachlässigung von sachlichen Erwägungen und oft leider auch das gänzliche Fehlen fachlicher Kompetenz. Ihren Anträgen werden wir deshalb nicht zustimmen.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Menschen wollen mit Politik nichts mehr zu tun haben, wenn sie merken, dass ihre Argumente nicht gehört werden. Sie wenden sich ab von der Demokratie, wenn sie erfahren müssen, dass Entscheidungen einfach exekutiert werden. Der Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist ein Paradebeispiel für demokratiefeindliche Arroganz der Macht. Unbeirrt zieht der Bundesverkehrsminister sein Projekt durch, wischt jeden Vorschlag vom Tisch, der Reform doch noch eine vernünftige Wendung zu geben. Die Beschäftigten der WSV, die Binnenschiffer, Wirtschaftsverbände und Wassersportler versuchen seit Jahren, mit guten und ernst zu nehmenden Vorschlägen die Zerschlagung der WSV zu verhindern. Doch selbst eine Allianz von Beschäftigten, Wirtschaft und Fachverbänden konnte nichts bewirken. Die Verkehrsminister der Länder protestierten auf ihrer Konferenz vor zwei Wochen dagegen, dass eine Behörde, die in den Bundesländern wichtige Arbeit leistet, ohne ihre Mitwirkung zentralisiert wird. Statt auch nur einen ihrer Einwände gegen den WSV-Umbau ernsthaft zu prüfen, weist Staatssekretär Ferlemann die Bedenken als „unzulässige Einmischung“ der Länder in die Bundespolitik zurück. Das ist schon ein ziemlicher Hammer, muss ich sagen. Aber diese Arroganz der Macht beschädigt nicht nur die Demokratie. Am Freitag vergangener Woche hat Bundesverkehrsminister Ramsauer verfügt, dass die Generaldirektion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn gegründet wird und die Wasser- und Schifffahrtsdirektionen zu Außenstellen dieser Zentralbehörde degraZu Protokoll gegebene Reden diert werden. Wasser- und Schifffahrtsämter verlieren ihre Zuständigkeiten, die in den vergangenen Jahren erarbeiteten Arbeitsstrukturen werden zerschlagen, und das Personal wird in eine ungewisse Zukunft entlassen. Mit einem verfassungsrechtlich zweifelhaften Organisationserlass drückt der Verkehrsminister sein Projekt durch, ohne den Bundesrat und den Bundestag ausreichend zu beteiligen. Das notwendige Gesetz könne auch im Nachklapp beschlossen werden, heißt es. Das ist ein Skandal. Nach drei Jahren Rumwerkeln an einer sogenannten Reform der WSV ist der Schaden groß, für die Verkehrspolitik auf dem Wasser und für die Behörde selbst. Mit dem Antrag der Linken ist es möglich, diesen doppelten Schaden abzuwenden. Stimmen Sie für eine wirklich ökonomische und ökologische, eine sinnvolle Reform der WSV! Die funktioniert aber nur mit den Beschäftigten, das geht nur mit den Fachverbänden und mit den Bundesländern. Wir fordern den sofortigen Stopp der Zerschlagung der WSV, damit es einen Neustart geben kann. Was passiert, wenn sich der Verkehrsminister jetzt durchsetzt? Die Ansprechpartner der Wasser- und Schifffahrtsdirektionen werden zunächst damit beschäftigt sein, sich überhaupt in das neue Organigramm einzusortieren; neue Strukturen in der Zusammenarbeit müssen gebildet werden. Wir haben bei vielen Besuchen von Dienststellen und Bauhöfen die Arbeit der Beschäftigten kennengelernt. Beim Besuch in Emden und Aurich habe ich erfahren, dass Kunden der WSV bei manchen Aufgaben künftig drei verschiedene Stellen anlaufen müssen, wo sie heute alles bei einer Direktion erledigen können. Die Beschäftigten werden sich in neu zusammengestrickten Ämtern und Außenstellen wiederfinden. Und sie müssen gleichzeitig in der Lage bleiben, jederzeit die Sicherheit auf Flüssen und Kanälen zu garantieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, auch Sie haben bei Ihren Besuchen erfahren können, dass diese Reform kein Fortschritt ist. Auch wenn Sie in einzelnen Wahlkreisen eine Behörde sichern konnten, nützt das der WSV insgesamt nichts. Wie soll sie mit noch einmal 2500 Leuten weniger auskommen? Wie sollen die oft komplizierten Aufgaben von Firmen auf dem freien Markt erledigt werden? Die Reparatur einer Schleuse kann ausgeschrieben werden, wenn sie geplant ist. Aber wir wissen nicht zuletzt durch den zeitweiligen Totalausfall am Nord-Ostsee-Kanal, dass schnelles Eingreifen mit qualifizierten und engagierten Leuten so schnell auf dem Markt nicht zu finden ist. Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft Verdi haben mit Gesprächsangeboten nicht erreichen können, die Kenner der Materie in die Reform der WSV angemessen einzubeziehen. Nun stehen sie vor der Situation, dass sie die sozialen Folgen der Zerschlagung der WSV regeln müssen. Damit die Kolleginnen und Kollegen wissen, wo sie eingesetzt werden sollen, ob sie mit ihren Familien den Wohnort wechseln müssen, fordern sie einen Tarifvertrag. Und selbst in dieser Frage weigerte sich der Bundesverkehrsminister lange Zeit, die sozialen Folgen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Mit Warnstreiks und dem Beginn der Urabstimmung nimmt der Arbeitgeber zur Kenntnis, dass die Reform direkt in das Leben der Beschäftigten eingreift. Wir wünschen den Kolleginnen und Kollegen und ihrer Gewerkschaft Verdi viel Erfolg bei der Aushandlung guter Bedingungen. Aber wir versprechen ihnen auch, dass wir auch eine andere Bundesregierung bearbeiten werden, damit dieser Tarifvertrag nicht angewendet werden muss. Es muss eine Reform der Reform geben, die die Arbeit der WSV und nicht die Privatisierung öffentlicher Aufgaben ins Zentrum stellt.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung macht deutlich, wie planlos diese Bundesregierung agiert. Noch im Juni 2012 wurde die Reform durch Minister Ramsauer angekündigt, und zwar als Konzept, das „Reformstau und 20 Jahre Unsicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ beenden sollte. So weit, so gut: für uns ein Ziel, das auch wir gerne bereit sind, zu unterstützen und kritisch zu begleiten. Doch das Ministerium kommt mit der Umsetzung einer im Kern sinnvollen Reform nicht voran. Jetzt ist Herr Ramsauer auf dem besten Weg, überhaupt nichts mehr zu erreichen. Bisher mangelt es im Rahmen der Umsetzung der Reform vor allem bei der Kommunikation mit den Mitarbeitern. Ich warne davor: Wenn das Ministerium seine Reform durchzusetzen versucht, ohne die Belegschaft mitzunehmen, kann das nur schiefgehen. Seit fast einem Jahr warten die Mitarbeiter in den Ämtern auf ein Ende der Hängepartie. Sie möchten endlich wissen, wie es mit der Reform weitergeht. Wir stellen uns unter einer guten Verwaltungsreform vor, dass die Organisationsstruktur den heutigen Bedürfnissen angepasst wird. Eine Verwaltung, wie sie bei ihrer Gründung vor 140 Jahren geschaffen worden ist, ist nicht mehr zeitgemäß. Maßnahmen einer klugen Verwaltungsreform sind zum Beispiel der Einsatz eines funktionierenden Change-Managements sowie eines klugen Personalkonzepts. Doch beides fehlt bisher; das Reformvorhaben dieser Bundesregierung ist eine reine Top-down-Veranstaltung. Nur wenn auch die Belange der Mitarbeiter vor Ort ernst genommen werden, wird dies auch eine erfolgreiche Reform. Ich habe deswegen Zweifel am Erfolg des Reformvorhabens: Per Organisationserlass, also wieder von oben herab, soll nun die Reform der Ämterstruktur umgesetzt werden. Vorgesehen war eigentlich ein Gesetz mit ordentlicher Befassung des Parlaments, doch hier kneift die Bundesregierung. Nach dem Verlust der Mehrheit im Bundesrat wurde das Gesetz begraben Zu Protokoll gegebene Reden obwohl das Gesetz nicht einmal zustimmungspflichtig gewesen wäre. Lassen Sie mich hier aus der Pressemitteilung des Hauses Ramsauer, BMVBS, vom 27. Juni 2012 zitieren: „Die rechtliche Umsetzung erfolgt durch eine Reihe von Gesetzesänderungen unter anderem im WasserstraßenG, SeeaufgabenG, SeeunfallUG, BinnenschifffahrtsaufgabenG. Der Gesetzgebungsprozess wird noch dieses Jahr begonnen.“ Auf meine Anfrage, welcher Zeitplan vonseiten der Bundesregierung für das Rechtsbereinigungsgesetz vorgesehen ist, wurde am 13. November 2012 in Drucksache 17/11460 geantwortet: „Mit der Befassung des Deutschen Bundestages ist Anfang 2013 zu rechnen.“ Hier ist keinesfalls die Rede von einem Organisationserlass, und auf das Gesetz warten wir vergeblich. Was ist das Wort dieser Bundesregierung eigentlich wert? Damit liegt auf der Hand, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung der Reform schlampig arbeitet. Wir sind weiterhin für eine konsequente Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Aber aus dem Hause Ramsauer ist bis zur Bundestagswahl wohl nicht mehr viel zu erwarten. Mal sehen, was aus dem Erlass wird, ob die neue Behörde tatsächlich arbeitsfähig wird und was die Angestellten und Beamten aus der unklaren Situation noch machen. Zu viele Fragen sind offen. Wir müssen deswegen jetzt unseren Blick schon auf die nächste Legislatur richten. Die SPD macht das in ihrem Antrag deutlich. Ich freue mich, dass die SPD sich für einen Dialogprozess über die zukünftige Struktur der WSV einsetzt, der in enger Abstimmung mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen transparent und ergebnisoffen geführt werden soll. Dieser Dialog ist absolut notwendig und fügt sich sehr gut zu unserem Vorschlag zu einer Kommission, die einen Reformvorschlag mit den Betroffenen erarbeiten soll. Mir scheint, inzwischen haben Sie verstanden, dass es eine Reform geben muss. Das begrüßen wir. In der nächsten Legislatur geht es dann an die richtige Umsetzung mit den Menschen vor Ort. Damit müssen wir im Herbst spätestens beginnen. Ich nehme die SPD beim Wort.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/13228 und 17/13229 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann haben wir das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EUEmissionshandels - Drucksachen 17/12064, 17/12489 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({1})Frank SchwabeMichael KauchEva Bulling-SchröterBärbel Höhn Die Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in der letzten Woche, das sogenannte Backloading zurück an die Ausschüsse zu geben, ist ein Rückschlag für den Klimaschutz. Und eine vertane Chance zugleich. Dieser einmalige Eingriff in den Emissionshandel sollte dafür Sorge tragen, dass eines der wichtigsten Instrumente der europäischen Klimapolitik stabilisiert werden und man über entsprechende Neujustierungen für die nächste Handelsperiode nachdenken kann. Denn der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zertifikaten wird sicherlich in absehbarer Zeit nicht für einen signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise sorgen. Das vorgesehene Herausnehmen von 900 Millionen hätte hier für eine gewisse Entspannung der Situation sorgen können. Doch ein generelles Scheitern des ETS, wie es Die Linke in ihrem Antrag darstellt, sehe ich noch nicht. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich informell mit Rat und Kommission auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Das Ergebnis kann dann wieder dem Plenum vorgelegt werden. Ziel muss es weiterhin sein, den europäischen Emissionshandel als ein zentrales Klimaschutzinstrument zu erhalten und zu stärken. Denn die Alternativen wären ordnungsrechtliche Vorschriften oder Klimasteuern. Ein wie im Antrag gefordertes Kohleausstiegsgesetz wäre ein solcher ordnungspolitischer Eingriff, den ich aus diesem Grund nicht für zielführend halte. Ich unterstütze daher ausdrücklich die eindringlichen Bemühungen von Bundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bundesregierung zu einer eindeutigen, einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Auch ich fordere die Bundesregierung auf, hier schnell klar Stellung für ein fest umrissenes Backloading und eine Erhöhung des Reduktionszieles innerhalb der EU auf 30 Prozent bis 2020 zu beziehen. Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese beiden genannten Eingriffe. Nur durch die klar definierte Herausnahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraum und eine daran anschließende grundlegende Reformierung der nächsten Handelsperiode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerungselement als Kernelement der europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten. Das Backloading ist hierfür die erste Voraussetzung. Andreas Jung ({0}) Der Handel mit CO2-Zertifikaten ist das Herzstück der EU-Klimapolitik. Dabei ist seine wichtigste Aufgabe, die Unternehmen dazu anzuregen, in effiziente, emissionsarme Technologien und Verfahren zu investieren. Investiert ein Unternehmen, benötigt es weniger Zertifikate, die es sonst zum Teil ersteigern müsste. Der Mechanismus hilft darum, dass Europa seine Führungsrolle bei den zukunftsgerichteten Effizienztechnologien gegen Wettbewerber halten kann. Und er soll für einen planbaren, ruhigen Übergang in eine emissionsarme Wirtschaft sorgen. In einem für Investitionen relativ knappen Zeitrahmen von circa 35 Jahren muss sich die Wirtschaft der EU vom CO2-Ausstoß fast vollständig verabschieden. Je länger Europa aber mit dem Abschied wartet, desto mehr werden wir dafür investieren müssen. Je steiler der zu erfüllende CO2-Ausstiegspfad sein wird, desto teurer wird es am Ende. Neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaftlichem Instrument muss es auch darum gehen, die Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen, um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die Europäische Union ihre Ziele bis 2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbstgesteckten Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse gegeben. Darauf muss jetzt aufgebaut werden. Die EU muss diesen Schritt mit einem Bekenntnis zu einem 30-Prozent-Ziel nachvollziehen. Bundesumweltminister Altmaier setzt sich innerhalb der EU stark für diese Position ein, und ich unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Denn nationale Bemühungen allein werden am Ende nicht ausreichen, um die anvisierten klimapolitischen Ziele zu erreichen.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Fraktion der Linken fordert in diesem Antrag, dass im April 2013, also in diesen Tagen, das Scheitern des Emissionshandels festgestellt wird und die Bundesregierung im Mai dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf über den planmäßigen Ausstieg aus der deutschen Kohleverstromung vorlegt. Spätestens im Jahr 2040 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland stillgelegt werden. Ab dem nächsten Jahr soll die jährliche Menge an Strom, die in Kohlekraftwerken erzeugt wird, begrenzt und in den Folgejahren stetig reduziert werden. Mit diesem Antrag bekommen wir genau die Debatte über die Ablösung des Emissionshandels durch Ordnungsrecht, vor der ich die Gegner des Backloading immer gewarnt habe. Offensichtlich war vielen Industrievertretern und konservativen und liberalen Abgeordneten nicht klar, was sie mit ihrem Boykott der Reform des Emissionshandels angerichtet haben. Es ist absurd, dass diejenigen, die massiv für ein marktwirtschaftliches Instrumentarium wie den Emissionshandel eingetreten sind, jetzt dieses Instrumentarium kaputtmachen. Dadurch entsteht natürlich eine neue Debatte über andere Instrumente der Klimaschutzpolitik, wie zum Beispiel Ordnungsrecht, Grenzwerte für Kraftwerke, Abgaben oder CO2-Steuern. Diese Debatte werden wir nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa bekommen. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Regelungen entstehen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systems. Großbritannien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis für CO2 eingeführt, die Niederlande und Spanien eine Steuer auf Kohle, Italien debattiert über solch eine Steuer. Es kann sein, dass wir genau das Gegenteil von einem „level playing field“ erhalten werden, von dem die Industrie immer redet. Die Bundesregierung trägt eine große Verantwortung für die gegenwärtige Situation. Allen Fachleuten war klar gewesen, was passieren wird und dass eine Reform des Emissionshandels dringend notwendig ist. Allen ist klar, dass das Leitinstrument des europäischen Klimaschutzes, der EU-Emissionshandel, seine Lenkungswirkung verloren hat und unter starkem Druck steht. Backloading, also die vorübergehende Herausnahme von Zertifikaten, ist nur eine kurzfristige Rettungsmaßnahme, gegen die auch instrumentelle Vorbehalte vorgebracht werden können. Konsequent wäre es, eine mittel- und langfristige Perspektive für die Jahre 2020 und 2030 aufzuzeigen, die Unternehmen eine klare Orientierung für ihre Investitionsentscheidungen gibt. Um Schritte zur Funktionsfähigkeit des Emissionshandels im Sinne eines effizienten Klimaschutzinstrumentes einzuleiten, auch um das notwendige politische Signal zu geben, ist es aktuell notwendig, überschüssige Zertifikate aus dem Markt zu nehmen. Der Vorschlag der EU-Kommission zur kurzfristigen Herausnahme von Zertifikaten löst die bestehenden Probleme nicht, ist aber wegen der Signalwirkung extrem wichtig. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu keine Meinung. So löblich der Einsatz des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie der Mitglieder dieses Ausschusses gewesen ist: Am Ende ist diese Bundesregierung nicht in der Lage, eine klare Linie zu fahren. Die Bundeskanzlerin erklärte, dass sie nach der Abstimmung im Europaparlament für eine einheitliche Position sorgen wird. Das ist jedoch bis heute nicht passiert. Nach diesem Rückschlag im Europaparlament muss die Bundesregierung ihre destruktive Rolle aufgeben und retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächsten Wochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Entscheidung geben wird, werden wir bis zum Jahr 2020 keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Eine weitere Folge davon ist, dass ein Teil der Energiewende nicht mehr zu finanzieren ist, weil die dem Haushalt zugrunde gelegten Zertifikatspreise regelmäßig nicht erreicht werden. Die Linken weisen in ihrem Antrag auf einen wichtigen Sachverhalt hin: Ohne wirksame Preissignale durch den Emissionshandelsmarkt wäre die Erreichung der Klimaschutzziele zunehmend auf ordnungsrechtliche Maßnahmen angewiesen. Diese Maßnahmen werden keineswegs kostenlos zu haben sein, wie ich nebenbei bemerken möchte. Auch deshalb unterstützen einige Unternehmen der Energiewirtschaft die Reform des Emissionshandels. Ohne das klare Preissignal im CO2-Markt werden Investitionen in kohlenZu Protokoll gegebene Reden stoffarme Technologien zurückgehalten oder erfolgen gar in CO2-intensive Infrastrukturen, welche später zu hohen Folgekosten führen werden, wenn man es mit Klimapolitik und dem Erreichen des 2-Grad-Ziels ernst meint. Dabei zeigt sich auch, um was es bei der Debatte um Backloading wirklich geht: um einen Angriff auf die Klimapolitik an sich. Die Gegner des Klimaschutzes sehen ihre Chance für einen Rollback zurück, als ob es die Klimadebatte der letzten Jahre mit den Berichten des IPCC, den Vorträgen von Al Gore oder den Berechnungen von Sir Nicolas Stern niemals gegeben hätte. Wie soll eine Verständigung auf ambitionierte Klimaziele für das Jahr 2030 möglich sein, wenn nicht einmal eine Mehrheit für solch einen kleinen Eingriff wie das Backloading möglich ist? Mit allen Mitteln und einer aggressiven Lobbykampagne verteidigt die Industrielobby ihr veraltetes Geschäftsmodell. Und stößt in Zeiten der Wirtschaftskrise leider auf viele offene Ohren. Viele Menschen denken, dass jetzt Wirtschaft und Arbeitsplätze ganz oben stehen sollten und wissen leider nicht, dass kluge Umweltpolitik Arbeitsplätze schaffen kann. Staaten wie Griechenland oder Zypern sind nicht in der Krise, weil sie zu viel für den Klimaschutz gemacht hätten. Ich kann nicht oft genug betonen: Ökologische Industriepolitik ist nicht ein Gegensatz und auch keine Ergänzung klassischer Industriepolitik. Sie ist die Industriepolitik des 21. Jahrhunderts! Sie sichert angesichts knapper Ressourcen und wachsender Nachfrage die Zukunft der industriellen Produktion. Deshalb fordere ich die Bundesregierung noch einmal auf, in den nächsten Wochen alles zu tun, damit die Reform des Emissionshandels doch noch gelingt. Eine generelle Aufkündigung des Emissionshandels, wie sie die Linke in ihrem Antrag fordert, kann ich dagegen heute nicht unterstützen.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Preis für CO2-Zertifikate hat einen historischen Tiefstand erreicht und liegt nun bei circa 3 Euro pro Tonne. Diese Entwicklung hat zugegebenermaßen unerfreuliche Seiten: Der niedrige Zertifikatepreis führt zu einem niedrigeren Anreiz, in neue CO2-arme und nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU nach 2020 das Emissions-Cap absenkt, um auf dem Klimaschutz-Pfad bis 2050 voranzukommen. Daneben brechen die Einnahmen des Energie- und Klimafonds ein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung der Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelle Jahr konnte dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der Einnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kompensiert werden. Somit können Programme für internationalen Klimaschutz, für die Gebäudesanierung und die Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden. Auch das neu eingeführte Speicherförderprogramm für die Photovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die Finanzierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr somit eine gangbare Lösung gefunden. Ich möchte aber auch festhalten, dass der originäre Zweck des Emissionshandels nicht die Finanzierung von staatlichen Klimaschutzprojekten ist, sondern die Einhaltung des Cap, das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen ausstoßen. - Dieses Ziel wird bislang erreicht, von einem Scheitern des Emissionshandels, wie es der Titel des Linken-Antrags nahelegt, kann also keine Rede sein. Der Klimaschutz funktioniert. Zur Stabilisierung des CO2-Preises hat die EUKommission vorgeschlagen, das sogenannte Backloading anzuwenden, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handelsperiode zurückzuhalten. Dieser Vorschlag ist im Europäischen Parlament gescheitert. Die Forderung der Linken, diese Zertifikate endgültig stillzulegen, würde erst recht zu weit führen. Denn die EUKommission würde so ein Instrument aus der Hand geben, um bei einer Überhitzung des CO2-Zertifikatemarktes zu reagieren, etwa wenn die europäische Wirtschaft wieder an Fahrt gewinnt. Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neubaus von Kohlekraftwerken. Dies ist Wunschdenken, das mit der Realität nichts zu tun hat. Wir werden für eine Übergangszeit auf Kohle nicht verzichten können, schon alleine aus Gründen der Netzstabilität. Wer den Bau neuer effizienterer Kohlekraftwerke verhindert, trägt Schuld am Weiterbetrieb alter ineffizienter Dreckschleudern und erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vorhin haben wir über das Scheitern des Backloading debattiert. In meiner Rede vorhin habe ich detailliert erklärt, warum die Linke den SPD-Antrag unterstützt, nach dem die Bundesregierung einen erneuerten Anlauf zum zeitweisen Stilllegen überschüssiger Emissionsrechte in Brüssel befördern soll. Die Forderung nach Backloading und weiter gehenden Reformen des Emissionshandels sind ja auch Teil unseres eigenen Antrags, den wir jetzt abschließend behandeln. Allerdings wird immer deutlicher, dass wohl weder das Backloading eine Chance hat, geschweige denn weiter gehende Reformen. Doch letztere sind zwingend notwendig, wenn der Emissionshandel endlich zum Klimaschutzinstrument werden soll. Darum werden sie wohl auch nicht kommen - die Lobby der Energieversorger und der Industrie ist europaweit schlicht zu stark. Unter dem Strich können wir den Emissionshandel getrost für tot erklären. Diese Entwicklung hat die Linke abgesehen; denn der Emissionshandel war von Anfang an seiner Klimaschutzwirkung weitgehend beraubt. Er wurde zur Gewinnmaximierungsmaschine für Stromkonzerne degradiert. Durch kostenlose Zuteilungen an Energiewirtschaft und Industrie, durch windige Zertifikate aus Zu Protokoll gegebene Reden Auslandsprojekten und durch zu niedrige Caps. Wegen dieser Architektur haben wir nun EU-weit mit 2 Milliarden überschüssigen Zertifikaten zu kämpfen, die das Cap aufblähen und die CO2-Preise ins Lächerliche verfallen lassen, und daran soll sich offensichtlich nichts ändern. Dies ist der Grund, warum wir im selben Antrag als Alternative ein nationales Kohleausstiegsgesetz fordern. Leider hat im Ausschuss keine andere Fraktion den vorliegenden Antrag unterstützt. Das liegt offensichtlich auch daran, dass sie alle gemeinsam am Emissionshandel hängen, dessen Konstruktion sie ja in den verschiedenen Regierungen zu verantworten hatten. Gut, Union, FDP und der NRW- und BrandenburgFlügel der Sozialdemokraten werden ohnehin einen Teufel tun, die Kohleverstromung planmäßig und zügig beenden zu lassen. Die anderen Sozialdemokraten und die Grünen aber möchte ich auffordern: Lösen Sie sich davon, die fossile Kraftwerkswirtschaft durch den EUEmissionshandel in die Knie zwingen zu können! Ausgehöhlt, wie er ist, wird er nie die Zugkraft entwickeln, die etwa das EEG hat. Das ist enorm erfolgreich und hat den Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung auf ein Viertel nach oben getrieben. Leider sind parallel die Stromexporte gewachsen. Denn Sonne, Wind und Biomasse ersetzen nicht die Kohleverstromung. Die macht munter weiter wie bislang; denn der lächerliche Emissionshandel kann sie nicht bremsen. Entsprechend stiegen zuletzt auch national die CO2-Emissionen des Kraftwerkssektors wieder an. Das ist der Grund, warum Greenpeace vor zwei Jahren erstmals für ein Gesetz plädierte, nach dem Kohlekraftwerke Restlaufzeiten erhalten sollen. Diese Idee hat die Linke aufgegriffen: Ab dem Jahr 2014 soll die jährliche Menge an in Kohlekraftwerken erzeugtem Strom begrenzt und in den Folgejahren stetig und weitgehend linear reduziert werden. Nach unserem Antrag soll dann spätestens 2040 der letzte Meiler vom Netz. Der Neubau von Kohlekraftwerken und Neuaufschluss von Tagebauen würde sofort untersagt. Hätten wir solch ein Gesetz, so würde Deutschland Europa nicht mehr lange mit billigem Kohlestrom überfluten können, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Kohleausstiegsgesetz hätte aber noch eine zweite positive Wirkung: Momentan ist der Netzentwicklungsplan darauf ausgelegt, dass alle Kohlekraftwerke beinah Volllast fahren. Klar, sie haben ja auch das Recht dazu. Nun kommen die geplanten Ökostrommengen dazu. In der Summe haben wir dann künftig eine Netzauslegung, die sich an einem Extremszenario orientiert, welches der Energiewende genau genommen widerspricht. Denn Kohlestrom soll ja eigentlich durch Strom aus Wind und Sonne abgelöst werden. Mit einem Kohleausstiegsgesetz hätten wir also nicht nur für die Kohleverstromung eine Begrenzung, sondern es wäre auch weniger Netzausbau nötig. Darum halten wir das Konzept nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch und sozial für eine vernünftige Sache. Ich hoffe, diese Sichtweise werden die anderen Parteien schrittweise verstehen und übernehmen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir reden hier heute über einen Antrag der Fraktion Die Linke, der Konsequenzen aus dem Scheitern des europäischen Emissionshandels einfordert. Und es ist wahr: Der Emissionshandel steht am Rande des Abgrunds. Unzureichende Klimaziele, die europäische Wirtschaftskrise und eine Schwemme billiger Zertifikate aus Drittstaaten haben dazu geführt, dass der Preis für Verschmutzungsrechte auf nur noch rund 3 Euro je Tonne CO2 eingebrochen ist - viel zu wenig, um Anreize für Investitionen in saubere Technologien zu setzen. Und die Bundesregierung ist nicht bereit, dem am Boden liegenden Emissionshandel wieder auf die Beine zu helfen. Im Gegenteil! Konservative und Liberale haben im Europäischen Parlament die dringend erforderliche Reparatur des europäischen Emissionshandels schon im Ansatz gestoppt. Sie haben das Backloading, die kurzfristige Verknappung von Emissionsberechtigungen, abgelehnt. Damit bleibt das zentrale Instrument der EU-Klimapolitik auf absehbare Zeit wirkungslos. Die Folgen dieses Politikversagens sind dramatisch: Klimaschädliche Braunkohle boomt, während hocheffiziente Gaskraftwerke stillstehen. Die deutschen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch die EEG-Umlage steigt, weil Wind- und Sonnenstrom mehr Unterstützung brauchen, um mit der verbilligten Kohle konkurrieren zu können. Und im Energie- und Klimafonds der Bundesregierung klafft ein Milliardenloch. Für diese Entwicklungen trägt Bundeskanzlerin Merkel maßgebliche Verantwortung. Bundeswirtschaftsminister Rösler hat die EmissionshandelsReform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn gewähren lassen. Sie hat stillschweigend hingenommen, dass die Abgeordneten ihrer Partei dem europäischen Klimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hat die ehemalige „Klima-Kanzlerin“ gerührt. Minister Altmaier hat hilflose Appelle nach Brüssel geschickt, vor einem Rückschlag für den Klimaschutz gewarnt. Doch seine Parteifreunde haben nicht auf ihn gehört, und auch nicht seine Kanzlerin. Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zu einer Richtungsentscheidung über den Klimaschutz. Wir Grüne treten ein für die überfällige Anhebung des EU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020. Wir wollen eine deutliche Verknappung der Verschmutzungsrechte, um das Überangebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem Markt zu nehmen. Und wir wollen eine grundlegende Reform des Emissionshandels, um den CO2-Preis zu stabilisieren. Zu Protokoll gegebene Reden Die Schwächung des europäischen Klimaschutzes macht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebene notwendig. Deshalb werden wir dem Bundestag den Entwurf eines nationalen Klimaschutzgesetzes vorlegen: Ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele verbindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle der Klimaschutzmaßnahmen etabliert und bei Abweichungen vom Zielpfad ein Gegensteuern der Politik erzwingt. Ein Gesetz, das klarmacht, dass klimaschädlicher Kohlestrom in Deutschland keine Zukunft hat, dass wir ihn Schritt für Schritt überflüssig machen durch erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Deutschland muss wieder Vorreiter und Antreiber werden beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen dafür bereit.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Die Beschlussempfehlung des zuständigen Ausschusses offenbart eine bemerkenswerte Einigkeit bei der Analyse der Situation. Doch der Mut, daraus Konsequenzen zu ziehen, fehlt den meisten. Der Antrag der Fraktion Die Linke versucht es noch im Guten: Zum größten Teil beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten, wie der Emissionshandel doch noch zu retten sein könnte: Erhöhung des europäischen Klimaschutzzieles auf minus 30 Prozent, Stilllegung überschüssiger Zertifikate und eine entschlossenere jährliche Reduktion. Dem Markt soll also eine Chance gegeben werden, zu zeigen, dass er auch Klimaschutz kann. Erst wenn das scheitern sollte, wird in letzter Konsequenz ein ordnungsrechtliches Instrument in Gestalt eines Kohleausstiegsgesetzes gefordert. Das ist ein großzügiges Kompromissangebot an die Regierungsfraktionen. Schlagen Sie das nicht aus. Die Bundesregierung hat es nicht einmal geschafft, die viel zu vorsichtigen Vorschläge der EU-Kommission zur Rettung des Emissionshandels zu unterstützen. Eine solche Bundesregierung muss vom Parlament zum Handeln gezwungen werden. Als in der Lausitz direkt gewählter Abgeordneter habe ich ganz konkrete Folgen mangelnden Klimaschutzes vor Augen; denn die Braunkohlekraftwerke gehören - in der Lausitz genauso wie im Rheinland zu den klimaschädlichsten Anlagen Deutschlands. Die Landesregierungen in Brandenburg und Sachsen lassen sich bereits Gefälligkeitsgutachten schreiben, denen zufolge Braunkohlestrom aus Deutschland künftig Polen und Frankreich mit Energie versorgen soll. Die engen Beziehungen der Staatskanzleien in Potsdam und Dresden zum Vattenfall-Konzern sind legendär. Offensichtlich hat der geringe CO2-Preis zu diesen Planspielen auf Kosten des Klimaschutzes inspiriert. Offensichtlich sehnt mancher in diesen Kreisen ein Scheitern des Klimaschutzes in Europa herbei. Doch für diese Lobbypolitik sollen in meinem Wahlkreis Dörfer zerstört und Menschen gegen ihren Willen umgesiedelt werden. Bei Weigerung, seine Heimat zu verlassen, kommt die Drohkulisse der bergrechtlichen Grundabtretung ins Spiel. Deren Verfassungskonformität ist umstritten und wird demnächst durch das Bundesverfassungsgericht überprüft. Aktuell werden die Langzeitprobleme offensichtlich, die Braunkohleabbau für den Wasserhaushalt verursacht. Die Versauerung des Grundwassers und die Einträge riesiger Mengen an Eisen und Sulfat in die Flüsse halten mehr als 100 Jahre nach Beendigung des Bergbaus an. Jeder neue Tagebau würde diese Probleme um mehrere Jahrzehnte verlängern. Im Übrigen erreicht ein Teil dieser Probleme über die Spree auch Berlin. Braunkohleverstromung wird den Erfordernissen der Energiewende mittel- und langfristig nicht gerecht. Das ist nicht neu, sondern bereits von Enquetekommissionen früherer Legislaturperioden in Energieszenarien eindeutig dargestellt worden. Aktuell weist besonders das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wiederholt darauf hin. Machen Sie sich also nicht zum Handlanger derjenigen, die die Zeit der Braunkohle mit immer neuen Tricks verlängern wollen. Tragen Sie nicht dazu bei, besser geeignete Brückentechnologien wie Gaskraftwerke durch zu geringe CO2-Preise kaputtzumachen. Man kann nicht lauthals die Energiewende verkünden und dann den Klimaschutz absichtlich vor die Wand fahren. Die deutsche Energiewende steht vor einem Glaubwürdigkeitstest. Lassen sie ihn uns gemeinsam bestehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12489, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12064 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimme der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung menschenrechtskonform gestalten - Drucksache 17/12712 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({0})Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ob wir hier im Deutschen Bundestag eine Debatte über die Arbeitswelt oder den Sport oder das Wahlrecht oder die wirtschaftliche Entwicklung führen, immer sind auch die Belange von Menschen mit Behinderung berührt. So ist es auch im Gesundheitswesen. Dieses deckt sogar einen wesentlichen Anteil der Belange von Menschen mit Behinderung ab, denn es gilt, das gesundheitliche Wohlbefinden zu erhalten bzw. zu stärken oder die Beeinträchtigungen zu lindern oder Schmerzen zu vermeiden oder den gegenwärtigen Gesundheitszustand zu stabilisieren, chronische Erkrankungen oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden bzw. die Betreuung so zu organisieren, dass ein menschenwürdiges Leben und eine gesellschaftliche Teilhabe möglich sind. Das ist nicht nur aus ganz persönlichen Gesichtspunkten für erkrankte oder durch einen Unfall dauerhaft verletzte oder von Geburt an mit einer Behinderung lebende Menschen wichtig, sondern letztlich aufgrund der demografischen Entwicklung eine gesellschaftspolitische Aufgabe von uns allen. Das haben wir als Unionsfraktion in vielen immer wieder vorgelegten Anträgen deutlich gemacht. Und wir haben in dieser Legislaturperiode in den jeweiligen Gesetzgebungsprozessen immer wieder auch Anliegen im Interesse der Menschen mit Behinderung geregelt. Das Thema der Gesundheitsversorgung ist eine permanente Aufgabe und immer aktuell. Insofern ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen durchaus sinnvoll. Auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist dem Thema Gesundheitsversorgung ein besonderer Abschnitt gewidmet. Wir wollen eine wohnortnahe, barrierefreie und flächendeckende Versorgung mit Präventions-, Gesundheits-, Rehabilitations- und Pflegedienstleistungen für Menschen mit und ohne Behinderung. Das bedeutet, dass auch alle Ärztinnen und Ärzte, das gesamte medizinische Personal, ja alle Leistungsanbieter für die Belange von Menschen mit Behinderung sensibilisiert und fachlich qualifiziert sind. Das bedeutet auch, dass in den kommenden Jahren weiter daran gearbeitet werden muss, eine ausreichende Zahl an Arztpraxen barrierefrei zugänglich zu machen. Es muss nach unserer Ansicht unmissverständlich Bedingung sein, bei Neubauten konsequent auf Barrierefreiheit zu achten. Auch Modernisierungsarbeiten in Praxen von gesundheitlichen Leistungsanbietern sollten genutzt werden, noch mehr Barrierefreiheit zu schaffen. Dabei ist auf Praxisbesonderheiten entsprechend den Behandlungsnotwendigkeiten zu achten. In diesem Kontext ist die ehrenamtliche Arbeit der Stiftung Gesundheit zu loben. Über ihre transparente Aufstellung im Internet ist die Orientierung bei der Arztsuche mit den Suchfunktionen der „barrierefreien Praxis“ leicht möglich. Dieses Angebot schafft zur Barrierefreiheit in Arztpraxen Transparenz und ist schon deshalb wertvoll. Es ist eine echte Hilfestellung für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen. lch weiß, dass dieses Angebot genutzt wird, weil es auch eine ständige Vervollkommnung erfährt. Aber es geht nicht nur um bauliche Bedingungen. Wir sind uns einig, dass die Fragen der verständlichen Kommunikation, zum Beispiel durch Leichte Sprache oder Assistenz bei Taubblindheit, ein unbedingtes Muss für eine gute individuelle Versorgung sind. Mehr und mehr Arzneimittelhersteller achten auf den barrierefreien Beipackzettel. Und ich selbst habe in Apotheken auch schon Informationsmaterial in Leichter Sprache gesehen. Es ist wirklich etwas in Bewegung gekommen, seitdem wir über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention diskutieren. Ich finde es zumindest untertrieben, wenn die Antragsteller im Antrag lapidar formulieren, dass im Ersten, Fünften, und Neunten Sozialgesetzbuch einige Vorgaben zur Erbringung von Leistungen der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung enthalten sind. Vielmehr ist es so, dass wir eine umfassende und solidarische Regelung haben. Natürlich stellen wir in der Umsetzung immer wieder auch Defizite fest und wir thematisieren diese. Die Zuständigkeiten dafür sind differenziert. Sie liegen zum Teil bei den Ländern, zum großen Teil auch bei der Selbstverwaltung. Wir Menschen sind von lernenden Systemen umgeben. Das gilt auch für das System des Gesundheitswesens. Deshalb kommt es ja immer wieder zur neuen Gesetzgebung. Und wie Sie wissen, ist das gerade im Gesundheitsbereich besonders intensiv, weil es sich um ein sehr komplexes und ausdifferenziertes System handelt. Wir Menschen sind ja auch sehr verschieden. Lassen Sie mich auf einige Aspekte von Verbesserungen in der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderung eingehen. So haben wir im GKV-Versorgungsstrukturgesetz, das zum Jahresanfang 2012 in Kraft getreten ist, im § 87 im SGB V einen neuen Abs. 2 eingefügt. Danach ist im einheitlichen Bewertungsmaßstab für zahnärztliche Leistungen zusätzlich zum Wegegeld eine gesondert abrechenbare Position vorzusehen. Diese soll für das Aufsuchen von Pflegebedürftigen und Menschen mit einer Behinderung gelten, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, eine Zahnarztpraxis selbst aufzusuchen. Und im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist zehn Monate später die Erweiterung des einheitlichen Bewertungsmaßstabs nochmals ausgedehnt worden, und zwar auf Personen mit dauerhaft erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Es wird eine zusätzliche Leistungsposition zur Abrechnung von Hausbesuchenstätigkeiten durch Vertragsärzte eingeführt, wenn diese im Rahmen eines Kooperationsvertrags nach § 119 b Abs. 1 SGB V erbracht wird. Am 17. Dezember 2012 hat der Bewertungsausschuss nunmehr für zahnärztliche Leistungen beschlossen, mit Wirkung zum 1. April 2013 den BEMA den gesetzlichen Vorgaben entsprechend zu erweitern. Damit steZu Protokoll gegebene Reden hen seit April dieses Jahres die verbesserten Leistungen zur Verfügung. Als weiteres Beispiel für die sich verbessernde medizinische Versorgung nenne ich das AMNOG. Danach gilt bei Arzneimitteln für die Behandlung seltener Erkrankungen, sogenannter Orphan Drugs, der sonst nachzuweisende medizinische Zusatznutzen bereits durch die arzneimittelrechtliche Zulassung als belegt. Von dieser Regelung profitieren viele Menschen mit einer Behinderung und einer spezifischen Erkrankung. Erinnern will ich auch an die novellierte Heilmittelrichtlinie. Seit 2011 gilt, dass Menschen mit dauerhaften schweren Behinderungen ohne erneute Überprüfung des Behandlungsbedarfs eine langfristige Genehmigung von mindestens einem Jahr Heilmittelbehandlungen von ihrer gesetzlichen Krankenkasse bekommen können. Kinder und Jugendliche mit einer besonders schweren und langfristigen funktionellen und strukturellen Schädigung und Beeinträchtigung der Aktivitäten können auch ohne Verordnung eines Hausbesuchs eine Heilmittelbehandlung in fördernden Tageseinrichtungen außerhalb der Praxis erhalten. Das sichert eine kontinuierliche und qualitätsgerechte Behandlung, weil sie zu Tageszeiten stattfindet, wo die Kinder noch besonders aufnahmefähig sind. Das ist viel besser als abendliche Behandlungen, wenn Mutter oder Vater, von der Arbeit kommend, Zeit haben. Damit haben wir auch auf die sich verändernden Bedingungen der Arbeits- und Familienwelt reagiert. Ferner haben wir zum Januar 2012 mit dem GKVVersorgungsstrukturgesetz im § 32 im Abs. 1 a verschiedene Regelungen getroffen, um die Heilmittelversorgung von Patientinnen und Patienten mit langfristigem Behandlungsbedarf, insbesondere für Menschen mit schweren und dauerhaften Behinderungen, zu erleichtern. Sie können sich die erforderlichen Heilmittel von ihrer Krankenkasse für einen geeigneten Zeitraum genehmigen lassen. Natürlich wird ein Antrag gestellt. Dieser muss von der Krankenkasse innerhalb von vier Wochen entschieden sein. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Genehmigung als erteilt. Diese speziellen Verordnungen unterliegen zudem nicht mehr den Wirtschaftlichkeitsprüfungen, die den behandelnden Ärztinnen und Ärzten oftmals die Entscheidung erschwerten. Zur Umsetzung haben sich der GKV-Spitzenverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf bundesweit geltende Praxisbesonderheiten für die Verordnung von Heilmitteln geeinigt, die seit dem 1. Januar 2013 in Kraft sind. Meiner Aufzählung der Verbesserungen füge ich noch zwei weitere Beispiele hinzu: Mit Inkrafttreten des Assistenzpflegegesetzes gilt seit Januar dieses Jahres der erweiterte Assistenzpflegeanspruch für Assistenz nach dem Arbeitgebermodell für die Situationen, wo es nicht nur um die Unterstützung im Krankenhaus geht, sondern auch wenn stationärer Aufenthalt für Vorsorge und Rehabilitation notwendig wird. Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist noch eine weitere Verbesserung seit dem 30. Oktober 2012 in Kraft. Pflegebedürftige, die in vollstationären Einrichtungen leben, erhalten anteilig auch für die Tage das volle Pflegegeld ausgezahlt, an denen sie zu Hause gepflegt werden. Dadurch werden die häusliche Pflege sowie der familiäre Kontakt gestärkt. Und diese Regelung gilt auch für die Pflege von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, die zu Hause gepflegt werden und bislang nur einen Anspruch auf eine Kurzzeitpflege bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres hatten. Wir in der Koalition haben hier nachgebessert, das heißt, der Anspruch besteht nunmehr bis zum 25. Lebensjahr. Wir haben damit den berechtigten Bedürfnissen Rechnung getragen. Wie Sie wissen, ist derzeit das Präventionsgesetz in der parlamentarischen Beratung. Auch für die medizinische Versorgung von Menschen mit einer Behinderung gilt: Vorbeugen ist in jedem Fall besser. Wir arbeiten daran, dass in der GesundheitsuntersuchungsRichtlinie des G-BA die ärztliche Gesundheitsuntersuchung neben der Früherkennung auch primärpräventive Maßnahmen enthält. Die bisher in § 25 Abs. 1 vorgegebene Häufigkeit des Anspruchs der Gesundheitsuntersuchung von zwei Jahren und die untere Altersgrenze von 35 Jahren sowie die nicht abschließende Aufzählung von Zielkrankheiten für die Früherkennung entfallen. Der G-BA soll Inhalt, Art, Umfang und Häufigkeit der Untersuchungen sowie die für die Früherkennung in Betracht kommenden bevölkerungsmedizinisch relevanten Zielkrankheiten an den jeweils aktuellen Stand des medizinischen Wissens anpassen und zugleich altersund zielgruppengerecht ausgestalten. Hierbei ist auch den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung Rechnung zu tragen. Diese Gesetzesbegründung zeigt deutlich auf, dass bei aktuellen Gesetzgebungsverfahren die Belange von Menschen mit Behinderung beachtet und Schritt für Schritt optimiert werden. Ja, Gesundheit hat einen zentralen Stellenwert in unserer Gesellschaft eingenommen und zählt zu den sogenannten Megatrends. Deshalb ist es für uns selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung auch hier eine echte Teilhabe erfahren und von allen neuen Erkenntnissen auf medizinischem Gebiet profitieren. Die Beispiele haben gezeigt, dass viele im Antrag benannte Forderungen von der christlich-liberalen Koalition bereits umgesetzt wurden bzw. in die aktuelle Gesetzgebung einbezogen werden. Dass es in individuellen Situationen immer wieder auch Unzufriedenheit oder Klagen der Betroffenen gibt, liegt oftmals an unterschiedlicher Auslegungspraxis der gesetzlichen Bestimmungen vor Ort und noch öfter an nicht geklärten Schnittstellenfragen. Wir sind uns einig: Verschiebebahnhöfe in der medizinischen Versorgung, meist aus Kostengründen, zulasten von Menschen mit Behinderung sind nicht akzeptabel. Und wir sind uns auch einig, dass noch stärker als bisZu Protokoll gegebene Reden her in der medizinischen Aus- und Weiterbildung für die besonderen Erfordernisse von Menschen mit Behinderung sensibilisiert werden muss und umfassende Kompetenzen angeeignet werden müssen. Und wir sind uns in einem dritten Punkt einig: Gute, vorausschauende Gesetze und Verordnungen sind wichtig! Aber ebenso wichtig ist die Kontrolle der Umsetzung. Dies setzt eine zeitnahe und umfassende Information aller Leistungsanbieter voraus. Da uns alle aber immer wieder auch Beschwerden über nicht zufriedenstellende Versorgung erreichen, nutze ich die Gelegenheit, für die Union zu erklären: Wir setzen uns auch weiterhin für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung ein und gehen davon aus, dass alle Leistungsträger die medizinische Versorgung verantwortungsbewusst erfüllen. Wir halten am Solidarprinzip fest, das eine kostenmäßige Überforderung durch Zuzahlungen ausschließt. Die Überforderungsklausel im Gesetz funktioniert in der Praxis. Auch sind zwischenzeitlich praktische Umsetzungsstrategien erprobt, die den bürokratischen Aufwand minimieren. Wir nehmen diese Themenstellung nach wie vor ernst, da wir wissen, dass in einer älter werdenden Gesellschaft die medizinische Versorgung von Menschen mit Mehrfachbehinderungen zunehmen und über einen viel längeren Zeitraum praktisch stattfinden wird. Das sind neue Herausforderungen, an deren Lösungen wir heute bereits arbeiten.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der heute hier im Plenum behandelte Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen thematisiert den sehr wichtigen Bereich einer inklusiven Gesundheits- und Pflegepolitik. Wir sind uns alle einig, dass den Bedürfnissen und Bedarfen von Menschen mit Behinderungen sehr viel stärker Rechnung zu tragen ist. Von einem inklusiven Gesundheits- und Pflegewesen sind wir noch weit entfernt. Menschen mit Behinderung brauchen viel mehr medizinische Unterstützung. Damit diese umfassende Unterstützung im Gesundheitswesen auch geschieht, ist Handeln der Politik angesagt. Nicht nur Menschen mit Behinderung brauchen mehr als Lippenbekenntnisse und Absichtserklärungen in Sonntagsreden. Durch die Vielzahl der im Antrag erwähnten Baustellen wird klar, wie wenig die aktuelle Bundesregierung - für den Bereich Gesundheit Bundesminister Daniel Bahr ({0}) - zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich getan hat. Deren Unterzeichnung jährte sich am 26. März 2013 bereits zum vierten Mal. Dabei ist mit der Ratifizierung am 26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht geworden. Sie verpflichtet insbesondere alle staatlichen Stellen zu mehr Chancengleichheit beim Zugang und zu mehr Teilhabe und Partizipation in allen Bereichen. Schon unter Rot-Grün wurde bereits der Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft eingeleitet - mit der Einführung des SGB IX, dem Behindertengleichstellungsgesetz und dem Gleichbehandlungsgesetz. Wir haben noch einen langen Weg zur inklusiven Gesellschaft vor uns, in der alle Rechtsansprüche aus der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt sind. Die SPD fordert die Bundesregierung auf, die riesigen Chancen aus der UN-Behindertenrechtskonvention für eine inklusive Gesellschaft wahrzunehmen und ihre Politik der kleinen Umsetzungsschritte aufzugeben. Um die Menschenrechte der behinderten Menschen auf freie Zugänge, auf Selbstbestimmung, auf volle Teilhabe in einer inklusiven Gesellschaft umzusetzen und Rechtsansprüche in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen, hat die SPD in dieser Legislaturperiode bereits mehrere Initiativen gestartet. Unser großer SPD-Antrag zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention „UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen“ wurde am 9. November 2012 in zweiter und dritter Lesung hier im Deutschen Bundestag debattiert. Wir haben hier benannt, wo für uns Handlungsbedarf besteht, um allen Menschen mit Behinderung vor Beginn an Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Das sind im Bereich von Gesundheit und Pflege unter anderem: Der Aufbau von medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung, in Anlehnung an die bestehenden Sozialpädiatrischen Zentren für Kinder; die Auflage eines Programms für den barrierefreien Umbau von Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft, zum Beispiel Arztpraxen, Krankenhäuser, Physio- und Ergotherapiepraxen und Rehabilitationseinrichtungen. Aus- und Weiterbildungen für Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte im Themenfeld sollen verpflichtend werden ({1}). Nötig sind die Erweiterung der Ausbildungs- und Facharztweiterbildungsordnungen. Die Sensibilisierung zur Gewaltproblematik gegenüber Frauen mit Behinderungen sollte in die Grundausbildung von medizinischen und therapeutischen Berufsgruppen aufgenommen werden. Beratungs-, Hilfs- und Betreuungsstrukturen sind behinderungs-, geschlechts- und kultursensibel zu verbessern. Und Menschen mit geistiger, insbesondere aber mit mehrfacher Behinderung sind umfassend in den Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention einzubeziehen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gilt: Wir wollen diskriminierungsfreie Zugänge zum Gesundheitswesen, wollen gleiche Patientinnenund Patientenrechte für alle, sodass Teilhabe und Selbstbestimmung für alle auch im Gesundheitswesen gilt. Leider ist zu konstatieren: Zwar wollte das Bundesgesundheitsministerium für 2012, gemeinsam mit den Ländern und der gesamten Ärzteschaft, ein GesamtZu Protokoll gegebene Reden konzept vorlegen, um Anreize für einen barrierefreien Zugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxen und Kliniken zu gewährleisten. Zwar steht es so - wie vieles andere auch - im ersten Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011. Geschehen ist aber wenig bis nichts. CDU/CSU und FDP haben bei der Umsetzung der Rechte aus der UN-Behindertenrechtskonvention, haben bei der Herstellung eines inklusiven Gesundheits- und Pflegewesens versagt. So rückt beispielsweise das Ziel, in den nächsten zehn Jahren eine ausreichende Zahl an Arztpraxen barrierefrei zugänglich zu machen, in weite Ferne. Das ist schlimm, denn der Handlungsbedarf liegt auf der Hand - allein in Berlin sind rund 80 Prozent der Arztpraxen nicht barrierefrei. Für Menschen mit Behinderung ist dadurch das Recht auf freie Arzt- bzw. Ärztinnenwahl erheblich eingeschränkt. Als Gesundheitspolitikerin setze ich mich für das Recht auf eine bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung für jede und jeden ein. Nur ein auf dem Gedanken der Solidarität und Beitragsparität organisiertes Gesundheitswesen ist im Interesse von chronisch kranken, älteren, behinderten und pflegebedürftigen Menschen. Es existieren Barrieren in vielfacher Hinsicht. Diese sind multidimensional und existieren in struktureller, mentaler und kommunikativer Art. Zu den strukturellen Barrieren des deutschen Gesundheitssystems gehören neben nicht barrierefreien Arztpraxen und nicht behindertengerechten Praxisausstattungen die ungenügende Assistenz in der stationären Versorgung oder nicht ausreichende Ausbildungscurricula in den Gesundheits- und Pflegeberufen. Von höchster Bedeutung ist auch die mangelnde Kommunikation zwischen Arzt und Patient, zwischen Ärztin und Patientin: Die einen können sich häufig nicht ausreichend ausdrücken, die anderen haben nicht gelernt, dass Krankheit und Behinderung zwei verschiedene, oftmals aber mit Wechselwirkungen versehene Aspekte sind. An eine Anamnese werden vielfache Herausforderungen gestellt, zu denen es besonderer Kompetenzen bedarf. Völlig unverständlich ist mir, warum nicht von Anfang das Motto „Nichts ohne uns über uns“ umgesetzt wurde, warum die Vertretungen von Menschen mit Behinderung so wenig in den Prozess der Erarbeitung des Gesamtkonzepts eingebunden sind. Dann wäre mit Sicherheit mehr geschehen, und wir wären bei einer inklusiven Gesellschaft, einem inklusiven Gesundheits- und Pflegewesen sicherlich ein Stück weiter. Für mich, für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bleibt die grundlegende Herausforderung, für ein grundsätzliches gesellschaftliches und persönliches Umdenken im Gesundheitswesen zu sorgen. Unser Ziel ist es, alle medizinischen und pflegerischen Angebote aus Sicht der Patientenperspektive zu planen und vor Ort anzubieten. Wir werden den heute vorgelegten Antrag im Ausschuss für Gesundheit weiter beraten. Ich prophezeie, dass Schwarz-Gelb bis zum Ablauf dieser Legislaturperiode aber keine wesentlichen Verbesserungen für die Gesundheitsversorgung der Menschen mit Behinderung umsetzen wird. Nach der gewonnenen Bundestagswahl werden wir, wird Rot-Grün dieses Thema mit Verve anpacken und zu mehr Teilhabe, zu mehr Selbstbestimmung führen.

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Menschen mit Behinderung haben ebenso wie Menschen mit psychischen Erkrankungen das Recht auf gute Gesundheit. Ein diskriminierungsfreier Zugang zu einer guten gesundheitlichen Versorgung leitet sich für uns schon aus dem Grundgesetz ab und nicht erst durch die UN-Behindertenrechtskonvention. Mit der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung haben wir uns in dieser Legislaturperiode intensiv beschäftigt. Unser Ziel ist eine optimale gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung. Das schließt Früherkennung und Präventionsmaßnahmen ebenso ein wie Leistungen, die eine Behinderung abwenden oder kompensieren. Wir haben in dieser Legislatur eine deutliche Verbesserung in der zahnärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung erzielt. Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sind häufiger von Zahn- und Zahnfleischerkrankungen betroffen, da sowohl die Mundhygiene als auch die Behandlung eingeschränkt ist. Ich freue mich daher, dass wir im Versorgungsstrukturgesetz, das die FDP-Bundestagsfraktion gemeinsam mit dem Koalitionspartner im Bundestag verabschiedet hat, die Vergütung der Zahnärzte angemessen gestaltet haben. So wird dem erhöhten personellen, instrumentellen und zeitlichen Aufwand Rechnung getragen. Zahnärzte können bettlägerige oder schwerbehinderte Menschen nun in der Pflegeeinrichtung aufsuchen und vor Ort behandeln. Mit dem Versorgungsstrukturgesetz haben wir zudem dafür gesorgt, dass auch zukünftig alle Menschen eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung wohnortnah erhalten. Auch für Menschen mit Assistenzpflegebedarf haben wir Verbesserungen erreicht. Durch unsere Politik können Menschen mit Pflegebedarf ihre privat beschäftigte Pflegekraft nicht mehr nur ins Krankenhaus mitnehmen, sondern zusätzlich auch in stationäre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Für die gesamte Dauer ihres Aufenthalts erhalten die Betroffenen nun weiterhin das Pflegegeld und die Hilfe zur Pflege von der Sozialhilfe. Auch die Barrierefreiheit spielt in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung eine wichtige Rolle. Menschen, die auf Rollstühle oder Rollatoren angewiesen sind, muss der Zugang zu Arztpraxen, Apotheken oder Physiotherapieräumen erleichtert werden. Im besten Fall haben Praxen Behindertenparkplätze am Haus, eine Busstation in der Nähe, eine Rampe, elektrische Türöffner auf Hüfthöhe, höhenverstellbare Behandlungsliegen sowie -stühle und einen Fahrstuhl mit Blindenschrift auf den Tasten. Leider Zu Protokoll gegebene Reden haben immer noch einige Arztpraxen und Krankenhäuser erhebliche Defizite in der Barrierefreiheit, während andere schon viel weiter sind. Deshalb fördern wir das Projekt „Barrierefreie Praxis“, das in die Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit integriert ist. Damit können sich Patienten über den Grad der Barrierefreiheit bzw. Barrierearmut von Arztpraxen in ganz Deutschland informieren. In einer alternden Gesellschaft spielt auch die Versorgung von Menschen mit Demenz eine große Rolle, da diese eine umfangreiche Unterstützung benötigen. Deshalb haben wir mit dem Pflege-NeuausrichtungsGesetz die Leistungen für demenziell Erkrankte in der ambulanten Versorgung erhöht. Auch die Ausweitung der Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ist ein Erfolg. Die erwachsenen Töchter pflegebedürftiger Menschen sind mit 23 Prozent die größte Gruppe pflegender Angehöriger: Ihnen Spielräume und weitere Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten, war uns ein wichtiges Anliegen. Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt. Darum beneiden uns viele Länder. Doch darauf können und wollen wir uns nicht ausruhen, sondern wir wollen unser Gesundheitssystem noch effizienter und bedarfsgerechter gestalten, gerade auch für Menschen mit Behinderung. Jedoch sind nicht alle Fragen rund um die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung eine Aufgabe des Gesetzgebers. So kann es beispielsweise nicht sein, dass Rehabilitationsträger Leistungen verwehren, da sie sich nicht einig sind, wer die Kosten trägt. Meist sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen schon längst geschaffen, sodass wir auch von den Parteien der Selbstverwaltung erwarten, dass sie die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Blick behalten.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Was nützt die beste Gesundheitsversorgung, wenn man sie nicht erreichen kann? Gar nichts. Die Linke hat die Bundesregierung in einer Großen Anfrage nach ihren Kenntnissen bezüglich der barrierefreien Gestaltung von Praxisräumen und Kliniken gefragt. Es folgte eine der häufigsten Antworten auf Fragen zum Gesundheitswesen - nämlich dass der Bundesregierung dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Gerne wird auf die Verantwortung der Länder verwiesen, als ob der Bund keine Verantwortung für eine ausreichende gesundheitliche Versorgung der Menschen mit Behinderung tragen würde. Das gleiche Ergebnis bei unseren Fragen zur zahnärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung. Menschen mit Behinderung spielen in der bisherigen Bedarfsplanung, in der Prävention, letztlich in der gesamten Gesundheitspolitik keine oder nur eine marginale Rolle. Stattdessen vollmundige Ankündigungen im Nationalen Aktionsplan, man würde 2012 gemeinsam mit den Ländern und der Ärzteschaft ein Gesamtkonzept entwickeln, das dazu beiträgt, einen barrierefreien Zugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxen und Kliniken zu gewährleisten. Leere Worte, wie so oft. Die Linke hat auf die Mängel bei der Barrierefreiheit in den entsprechenden Anträgen und Anfragen hingewiesen und Änderungen gefordert. Den Grünen gebührt der Dank dafür, eine Vielzahl von Forderungen für eine barrierefreie Gesundheitsversorgung in einem Antrag zu bündeln. Einen großen Teil der Forderungen können wir unterstützen, einiges hätten wir lieber klarer oder auch schärfer formuliert. So reicht es nicht aus, bei den Ländern auf eine Stärkung der Barrierefreiheit als Qualitätskriterium in der Krankenhausplanung hinzuwirken. Die Linke fordert seit geraumer Zeit zur Beseitigung des Investitionsstaus bei Krankenhäusern 2,5 Milliarden Euro jährlich für zehn Jahre aus dem Bundeshaushalt. Die Beantragung dieser Gelder kann an einen Beitrag zur barrierefreien Ausgestaltung der Kliniken geknüpft werden. So hätte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wir finden es wie die Grünen richtig, bei Neuzulassungen von Praxissitzen die Verpflichtung zur Barrierefreiheit festzuschreiben. Hier sind die Barrieren teilweise sogar für Menschen ohne festgeschriebene Behinderung kaum überwindbar. Wie kann es zum Beispiel sein, dass es orthopädische Praxen im vierten Stock ohne Aufzug gibt? Natürlich werden viele Praxisinhaber darauf bestehen, dass sie auch ihre nicht barrierefreie Praxis weiterverkaufen können. Der Aufkauf der Praxen durch die KV benachteiligt allerdings diejenigen Praxisinhaber, die selbst für einen barrierefreien Zugang gesorgt haben; denn der Aufkauf von Praxen mindert das Honorarbudget der KVen. Hier müssen schnellstens Regelungen gefunden werden, bevor weitere Ärztinnen und Ärzte ihre neuen, unzugänglichen Praxen einrichten, und wir müssen eine Deadline benennen, bis wann alle Praxen barrierefrei sein müssen. Sonst schleppen wir Praxen mit Barrieren bis ins nächste Jahrtausend. Es ist auch nicht ausreichend, eine bestimmte Anzahl von barrierefreien Arztsitzen vorzuhalten, wie es die Bundesregierung fordert. Es kann doch nicht sein, dass Menschen mit Behinderung Einschränkungen bei der freien Arztwahl haben, faktisch Patientinnen und Patienten zweiter Klasse sind, nur weil Praxissitze nicht barrierefrei sind. Es mag da Ausnahmen bei bestimmten Behinderungen geben, für die Praxen nur mit großem Aufwand zugänglich gemacht werden können. Entsprechend sind verbindliche Mindestkriterien für Praxen, ob für Ärzte oder Heilmittelerbringer, zu benennen. Die Bundesregierung ist gefordert, jährlich einen Bericht über die Barrierefreiheit in der gesundheitlichen Versorgung und die Fortschritte vorzulegen, statt leerer Versprechungen. Das Nichtwissen, das ja letztlich aus einem Nicht-wissen-Wollen folgt, muss aufhören, und es müssen endlich Taten folgen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen Rollstuhl, um sich dauerhaft damit fortzubewegen, und müssen plötzlich Ihrer Krankenkasse erklären, warum Sie mit diesem Rollstuhl auch zur Bank, zum Optiker und in Zu Protokoll gegebene Reden den Buchladen möchten. Denn Ihre Kasse ist der Auffassung, sie sei gesetzlich nur verpflichtet, einen Rollstuhl zu finanzieren, der medizinisch notwendig ist. Stellen Sie sich vor, Sie liegen nach einem Notfall im Krankenhaus, und das gesamte Personal ist nicht in der Lage, mit Ihnen zu kommunizieren: Niemand dort spricht Ihre Sprache, und eine Dolmetscherin ist auch nicht vor Ort. Das ist die Situation von vielen Gehörlosen in diesem Land. Oder stellen Sie sich vor, Sie sind blind und möchten zum Hausarzt, dürfen in die Praxis um die Ecke Ihren Blindenführhund aber nicht mitbringen. Menschen mit Behinderung kennen solche Probleme; sie begegnen ihnen immer wieder. Denn unser Gesundheitssystem ist nicht für sie gemacht. Wer keine Beeinträchtigung hat, hat vermutlich auch schon viel Zeit in Wartezimmern verbracht, musste lange auf einen Termin warten oder hatte Probleme, auf Anhieb die richtige Anlaufstelle zu finden. Wenn wir hier über die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung sprechen - und zu den Menschen mit Behinderung zählen auch Menschen mit chronischen Erkrankungen, psychischen Beeinträchtigungen oder Pflegebedürftigkeit -, dann sprechen wir über wesentlich gravierendere Probleme. Ich möchte hier kein Bild des Schreckens zeichnen: Es ist richtig, dass sich immer mehr Akteure im Gesundheitssystem bemühen, die Bedarfe behinderter Menschen zu berücksichtigen und das System entsprechend umzugestalten. Es ist aber auch richtig, dass unser Gesundheitssystem viel zu stark an den Interessen der Kostenträger und Leistungserbringer ausgerichtet ist - auf Kosten einer guten Versorgung von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Und die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure versichern sich viel zu häufig gegenseitig, dass sie ein inklusives System möchten, ohne viel dafür zu tun. Das muss sich ändern. Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen. Das geht unzweideutig aus § 2 a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch hervor. Wohlfahrtsverbände und Verbände behinderter und chronisch kranker Menschen kritisieren seit langem, dass diese Formel leistungsrechtlich und praktisch kaum Niederschlag findet. Grund sind unter anderem bestehende Spannungsfelder zwischen dem Fünften und dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch. Sie verursachen zahlreiche Probleme in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung. Unser Antrag sieht daher vor, alle Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, die Leistungsansprüche und die Organisation der Gesundheitsversorgung regeln, auf noch bestehende Widersprüche zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur UN-Behindertenrechtskonvention zu überprüfen und im Sinne behinderter Menschen zu beseitigen. Es ist aber nicht allein die Politik gefragt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind gesetzlich dazu verpflichtet, die ärztliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen. Für Menschen mit Behinderung ist das nicht gewährleistet, wenn Praxen baulich und technisch nicht barrierefrei sind oder die Kommunikation nicht gelingt. Damit Krankenhäuser entsprechend gestaltet werden, muss das Ziel der Barrierefreiheit in der Krankenhausplanung der Länder berücksichtigt werden. Wenn es um die Aus-, Fort- und Weiterbildung in den Gesundheitsberufen geht, kommen unter anderem die Universitäten ins Spiel. Zu diesen Bereichen haben wir entsprechende Forderungen in unseren Antrag aufgenommen. Denn auch wenn die Politik nicht alleine gefragt ist, so halte ich es für wirklich notwendig, dass wir politisch größeren Druck machen. Ich war selbst ganz überrascht: Im Rahmen einer Veranstaltung meiner Fraktion zur gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung waren sich Kassen- und Ärztevertreter in ihrer Forderung an die Politik erstaunlich einig. Angesichts der teilweise konträren Interessen in der Selbstverwaltung dauere es mitunter sehr lange, bis die untergesetzliche Ausgestaltung von Vorgaben Gestalt annehme. Hier sei der Gesetzgeber aufgerufen, für eine Einigung Fristen mit Sanktionsandrohungen vorzugeben, um Verzögerungstaktiken zu verhindern. Ich finde, auch darüber sollten wir sprechen. Dass wir konsequenter an einer besseren gesundheitlichen Versorgung behinderter Menschen arbeiten, gebietet die völkerrechtliche Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich freue mich, mit Ihnen in den Ausschussberatungen über unsere Vorschläge zu diskutieren.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12712 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bildung und Teilhabe für alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland sicherstellen - Das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren - Drucksache 17/13194 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschuss Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Komponist Benjamin Britten sagte einst: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man damit aufhört, treibt man zurück.“ Dieses Zitat lässt sich ebenso auf die Bereiche Bildung und Teilhabe übertragen. Wir wollen, dass kein Kind in Deutschland „zurück treibt“ und alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern oder ihrer Herkunft eine Chance auf Bildung und Teilhabe erhalten. Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ermöglichen wir Kindern und Jugendlichen seit 2011 diese Chance. Wir ermöglichen ihnen, an Bildungs- und Freizeitangeboten mit Gleichaltrigen teilzunehmen und ein warmes Mittagessen in der Schule, der Kita oder im Hort in Anspruch zu nehmen. Wir haben das Bildungs- und Teilhabepaket infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010 rückwirkend zum 1. Januar 2011 eingeführt. Sie haben diesen Antrag eingebracht und fordern darin vermeintlich soziale Gerechtigkeit. Ich frage Sie ganz offen: Wo war Ihr soziales Gewissen gegenüber den Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Familien, als Sie selbst in der Regierungsverantwortung waren? Ich möchte Sie daran erinnern: Mit dem Bildungsund Teilhabepaket haben wir Kindern und Jugendlichen erstmals seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch Ihre rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005 eine echte Chance ermöglicht, an Bildungs- und Freizeitangeboten teilzunehmen, so zum Beispiel die Mitgliedschaft in einem Sport- oder Musikverein, die Möglichkeit der Lernförderung oder das gemeinsame warme Mittagessen in Hort, Kita oder in der Schule. Das Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht die Übernahme der Kosten für ein- oder mehrtätige Ausflüge in der Kita oder in der Schule, den persönlichen Schulbedarf in Höhe von 70 Euro jeweils zum 1. August und in Höhe von 30 Euro jeweils zum 1. Februar eines Schuljahres, die Schülerbeförderung, die schulnahe Lernförderung und, wie bereits erwähnt, ein gemeinsames warmes Mittagessen in der Schule, in der Kita oder im Hort. In Anspruch nehmen können das Bildungs- und Teilhabepaket Kinder und Jugendliche in der Grundsicherung nach dem SGB II sowie in der Sozialhilfe nach dem SGB XII. Kinder und Jugendliche, deren Eltern Wohngeld oder Kindergeldzuschlag erhalten oder unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werden ebenfalls berücksichtigt. Seit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets im Jahr 2011 sind inzwischen zwei Jahre vergangen. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten wird das Bildungs- und Teilhabepaket inzwischen gut von den betroffenen Familien vor Ort angenommen. Das zeigen zum Beispiel die Zahlen, die der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag im Jahr 2012 zur Inanspruchnahme des Bildungspakets vorgelegt haben. Hierfür hatten der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag eine Umfrage bei 70 Städten und 190 Landkreisen in Deutschland zum Bildungs- und Teilhabepaket durchgeführt. Laut dieser Umfrage des Deutschen Städtetages stieg die Inanspruchnahme des Bildungspakets von 27 Prozent im Juni 2011 auf etwa 56 Prozent im März 2012. Nach Angaben des Deutschen Landkreistages stieg die Inanspruchnahme von 30 auf 53 Prozent im gleichen Zeitraum. Das zeigt eine positive Tendenz. Meine lieben Kollegen von der SPD, ich möchte Sie in diesem Zusammenhang an den 21. Februar 2013 erinnern, als Sie dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksache 17/12036, im Deutschen Bundestag zugestimmt haben. Mit der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf wurde nach zwei Jahren Praxiserfahrung in der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets der Weg für eine Vereinfachung des Bildungspakets geebnet. Der Deutsche Landkreistag als Vertreter der Landkreise hat hierfür viele konstruktive Vorschläge zur Verwaltungsoptimierung unterbreitet. So können Leistungen, welche vor einem Schul- oder Kitaausflug nicht rechtzeitig erbracht werden, auch im Nachhinein erstattet werden. Die Regelung zum Eigenanteil von Hartz-IV-Beziehern bei der Schülerbeförderung und zur Kostenabrechnung von Klassenausflügen sollten mit dem Gesetzentwurf praktikabler gefasst werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies waren unter anderem die Vorschläge der kommunalen Spitzenverbände. Umso mehr wundert es mich, dass Sie, verehrte Kollegen von der SPD, die dem Gesetzentwurf des Bundesrates im Februar zugestimmt haben, nun einen neuen Antrag vorlegen, der die Reformierung des Bildungs- und Teilhabepakets vorsieht. Nicht nur das. Sie fordern auf Seite 3 Ihres Antrags den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen, die Deckung des förderpädagogischen Bedarfs an Regelschulen, Schulsozialarbeit an allen Schulen. Darüber hinaus fordern Sie gebührenfreie Betreuungsangebote, Lernmittelfreiheit und kostenlosen Förder- und Leistungsunterricht. Sie fordern diese kostenlosen Angebote, sagen aber nicht, wer das bezahlen soll, liebe Kollegen der SPD. Weiterhin fordern Sie - ich zitiere - „für alle zugängliches Mittagessen in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege und Horten sowie die notwendige finanzielle Absicherung der zusätzlichen Bildungsanstrengungen von Bund und Ländern“. Verehrte Kollegen von der SPD, Sie wissen, dass in unserem föderativen Staat die Kompetenzen für die schulische Bildung bei den Ländern liegt. Warum fangen Sie nicht in den Bundesländern, in denen Sie in der Regierungsverantwortung stehen, damit an und verbessern die Möglichkeiten vor Ort? Zu Protokoll gegebene Reden Auf Seite 5 Ihres Antrags fordern Sie in Punkt 4 weiterhin - ich zitiere -: „Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Horte sollen flächendeckend eine gemeinsame, gesunde, qualitative und diskriminierungsfreie Essensverpflegung anbieten.“ Ihr Ziel ist es - ich zitiere weiter -: „auf die Erhebung eines Eigenanteils zu verzichten …“. Ich frage Sie: Was machen Sie für die Familien mit Kindern und Jugendlichen, welche keine Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten, für ihre Kinder jeden Cent zusammenkratzen und alles selbst erarbeiten müssen? Die Wohltaten, welche Sie hier so großzügig verteilen, müssen erst erarbeitet und vor allem finanziert werden. In Ihrem Antrag, der sich über fünf ganze A4-Seiten erstreckt, schreiben Sie jedoch an keiner Stelle, wie Sie die geforderten Maßnahmen eigentlich finanzieren wollen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das den Wählerinnen und Wählern erklären wollen, verehrte Kollegen der SPD. Lernmittelfreiheit, kostenloser Förderunterricht, Neufestsetzung der Regelbedarfe in der Grundsicherung, Barauszahlung der Mittel für Schulbedarf ohne Antragstellung - Ihnen geht es doch in Ihrem Antrag nicht darum, wie wir in Zukunft Kinder und Jugendliche mit dem Bildungs- und Teilhabepaket unterstützen können. Ihnen geht es darum, unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit fleißig Wahlgeschenke zu verteilen. Ich frage Sie, verehrte Kollegen: Ist das die Art von nachhaltiger Sozialpolitik, die unsere zukünftigen Generationen verdient haben? Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen im September erscheinen mir Ihre Forderungen doch als sehr durchsichtig. Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates, dem auch Sie zugestimmt haben, haben wir das Bildungs- und Teilhabepaket optimiert. Die Vorschläge zur Verwaltungsvereinfachung wurden unter anderem durch den Deutschen Landkreistag eingebracht. Dieser hat die Erfahrungen der Landkreise mit in die Gesprächsrunden der Runden Tische eingebracht, welche regelmäßig von unserer Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen mit den Akteuren rund um das Bildungspaket durchgeführt werden. Unsere CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat am 18. März 2013 unter dem Motto „Probleme und Herausforderungen im SGB II - Bilanz und Ausblick“ verschiedene Vertreter der Arbeitsagenturen und Jobcenter aus ganz Deutschland zu einem Fachgespräch eingeladen, um gemeinsam Erfahrungen auszutauschen, so auch zum Thema der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets. Wir dürfen nicht vergessen: Die kommunalen Träger leisten eine hervorragende Arbeit vor Ort und sind zuverlässige Ansprechpartner für die Betroffenen. Lassen Sie mich nun zum Abschluss meiner Ausführungen kommen. Ziel des Bildungs- und Teilhabepakets ist es, für Kinder und Jugendliche das „Mitmachen möglich zu machen“. Nach zwei Jahren Praxiserfahrung und dem regelmäßigen Austausch der Akteure vor Ort haben wir das Bildungspaket optimiert, um die Inanspruchnahme für die betroffenen Familien zu erleichtern. Die entsprechenden Zahlen zur Inanspruchnahme werden voraussichtlich Ende des Monats vorliegen. Ich appelliere an Sie, verehrte Kollegen, diese Zahlen im konstruktiven Miteinander auszuwerten und gemeinsam mit den verschiedenen Spitzenverbänden nach Lösungen zu suchen. Wir wollen, dass alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland unabhängig von ihrer Herkunft oder dem Geldbeutel ihrer Eltern eine Chance auf Bildung und Teilhabe erhalten. Darauf haben die Kinder und Jugendlichen in Deutschland ein Anrecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie ein, dass wir uns mit Engagement und mit aller Kraft für die Chancen und Perspektiven dieser Kinder und Jugendlichen einsetzen. Ihren Antrag, liebe Kollegen von der SPD, lehnen wir von der CDU/CSU-Fraktion ab.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schule, Bildung und natürlich gesellschaftliche Teilhabe von allen Kindern ist ein wichtiges Thema. Wer sich den Antrag der SPD aufmerksam durchliest, merkt aber sehr schnell: Hier geht es nicht um Bildungspolitik, sondern hier wird wieder eine Debatte zum Betreuungsgeld an den Haaren herbeigezerrt. Auch in diesem Antrag zeigt die SPD erneut, dass sie den Sinn des Betreuungsgeldes in keiner Weise verstanden hat, dass wir den Eltern auf der einen Seite eine Garantie für einen Hortplatz geben, auf der anderen Seite aber auch die Eltern, die sich die Zeit nehmen, ihre Kinder selbst zu Hause zu erziehen, finanziell bei ihrem Einsatz unterstützen. Wir vertrauen den Eltern, dass sie die richtige Entscheidung für ihre Kinder treffen, ob sie die Betreuung im Hort oder zu Hause wählen. Wir geben ihnen die Entscheidungsmöglichkeit. Kommen wir zurück auf die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets, die eine gute Entscheidung war. Mit ihr wird Kindern aus finanzschwachen Familien ein Mehr an Teilhabe in unserer Gesellschaft ermöglicht. Denn das Bildungspaket ist weit gestaffelt. Was ist drin im Bildungspaket? Mittagessen in Kita, Schule und Hort: Der verbleibende Eigenanteil der Eltern liegt bei 1 Euro pro Tag. Lernförderung: Bedürftige Schülerinnen und Schüler können Lernförderung in Anspruch nehmen, wenn nur dadurch das Lernziel erreicht werden kann. Kultur, Sport, Mitmachen: Bedürftige Kinder sollen in der Freizeit nicht ausgeschlossen sein, sondern bei Sport, Spiel und Kultur mitmachen. Deswegen wird zum Beispiel der Beitrag für den Sportverein oder für Zu Protokoll gegebene Reden die Musikschule in Höhe von monatlich bis zu 10 Euro übernommen. Schulbedarf und Ausflüge: Damit bedürftige Kinder mit den nötigen Lernmaterialien ausgestattet sind, wird den Familien zweimal jährlich ein Zuschuss gewährt, zu Beginn des Schuljahres 70 Euro und im Februar 30 Euro - insgesamt 100 Euro. Zudem werden die Kosten eintägiger Ausflüge in Schulen und Kitas finanziert. Schülerbeförderung: Sind Beförderungskosten erforderlich und werden sie nicht anderweitig abgedeckt, werden diese Ausgaben erstattet. Außerdem können die Kommunen Schulsozialarbeiter einstellen. Das sind vielfältige Angebote, die Kinder nutzen können. Ich halte dieses Programm allemal für besser, als den Familien ein erhöhtes Sozialgeld zu geben; denn hier weiß ich genau, dass es den Kindern zugutekommt. Der Bundesregierung ist es wichtig, dass die Leistungen direkt beim Kind oder Jugendlichen ankommen. Das sieht auch die Mehrheit unserer Bevölkerung so. Das Prinzip „Sach- oder Dienstleistung statt Bargeld“ wird von 90 Prozent der Bevölkerung für richtig befunden; nur 9 Prozent lehnen es ab. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Bund für die Kommunen die vollen Kosten für das Bildungspaket übernimmt. Das finanzielle Gesamtvolumen des Bundes beträgt 2011 bis 2013 rund 1,6 Milliarden Euro. Darin enthalten sind auch die Kosten, die die Kommunen für die Einstellung von Schulsozialarbeitern aufwenden. Dies erspart auch dem einen oder anderen Land etliche Millionen Ausgaben. Beispiel NordrheinWestfalen: Das Land hat vor Inkraftreten des Pakets nach Angaben des Schulministeriums 17,5 Millionen Euro für das Programm „Kein Kind ohne Mahlzeit“ ausgegeben. Weil jetzt der Bund einspringt, wird die Landesregierung ab dem Sommer nur noch sogenannten Härtefällen, zum Beispiel Kindern von Asylbewerbern, das Essen subventionieren. Für diese Härtefälle werden lediglich 1 Million Euro veranschlagt. Wir sind uns alle darin einig, dass das Bildungspaket kein Schulsystem ersetzen kann und auch nicht den weiter notwendigen Ausbau der Kitas. Aber das Bildungspaket ist eine notwendige Ergänzung, damit Kinder aus ärmeren Familien bessere Startchancen bekommen. Es ist richtig, dass der Start ein wenig holprig war. Die Zwischenergebnisse zeigen aber, dass das Paket immer mehr greift. Nach Umfragen des Deutschen Städtetages, DST, und des Deutschen Landkreistages, DLT, bei rund 70 Städten und 190 Landkreisen haben die Eltern bis zum 1. März 2012 im Durchschnitt für etwa 56 Prozent, DST, bzw. 53 Prozent, DLT, der leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen Anträge auf Leistungen gestellt. Im Juni 2011 hatte in Umfragen der Verbände die Inanspruchnahme der Leistungen noch bei 27 Prozent bis 30 Prozent und im November 2011 bei 44 Prozent bis 46 Prozent gelegen. Dies zeigt, wird sind auf einem guten Weg. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass der Staat nicht nur eine Bringschuld, sondern die Eltern auch eine Holschuld für ihre Kinder haben und den Weg auf sich nehmen müssen, die entsprechenden Leistungen zu beantragen. Wir möchten natürlich, dass noch mehr Kinder die Teilhabeangebote nutzen. Wir wollen uns auch stärker um Migranten kümmern und die Kinder erreichen, deren Eltern das Bildungspaket noch nicht kennen oder ablehnen. Auf diesen drei Feldern müssen wir besser werden. Trotzdem lässt sich heute bereits feststellen: Das Bildungspaket ist aus dem Gröbsten raus und wird langsam selbstständig. Weitere genauere Daten über die Inanspruchnahme werden wir aus einer wissenschaftlichen Studie ziehen können. Im Auftrag des BMAS wurde vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik eine Befragung zum Niveau der Inanspruchnahme des Bildungsund Teilhabepakets durchgeführt, deren Ergebnisse Ende April vorliegen. Wenn diese Daten vorliegen, werden wir das Bildungs- und Teilhabepaket unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse prüfen und bewerten und an der einen oder anderen Stellschraube drehen. Ich fordere alle auf, zugunsten der Kinder und Jugendlichen daran mitzuwirken, um das Instrument der gesellschaftlichen Teilhabe weiter zu verbessern.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir debattieren heute über unseren Antrag zum Bildungs- und Teilhabepaket. Es geht einerseits darum, wie wir dieses bürokratische Monster schnell und wirksam an die Kette legen können. Andererseits zeigen wir auch unsere mittel- und längerfristigen Vorstellungen von mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland auf: Wir investieren in die Bildungsinfrastruktur. Deshalb wollen wir flächenund bedarfsdeckend Kitas und Horte ausbauen und Schulen zu Ganztagsschulen umgestalten - mit Betreuungs-, Freizeit- und Lernförderangeboten und Schulsozialarbeitern sowie diskriminierungsfrei zugänglicher und gesunder Essensverpflegung. Zu dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen gerechte Bildungschancen durch gute barrierefreie Angebote an Schulen und Kitas bereitzustellen, haben wir uns schon immer bekannt: Bereits unter Rot-Grün haben wir 4 Milliarden Euro in den Ausbau der Ganztagsschulen gesteckt, und in der Großen Koalition den Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab einem Jahr ab dem 1. August 2013 durchgesetzt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung verfolgt eine andere Strategie. Sie kümmert sich nicht darum, die Bildungsinfrastruktur auszubauen. Stattdessen soll ein Betreuungsgeld an diejenigen Eltern gezahlt werden, Zu Protokoll gegebene Reden die ihre Kinder von der Kita fernhalten. Dies ist bildungs-, integrations- und gleichstellungspolitisch völlig verfehlt und verfassungsrechtlich problematisch. Unterm Strich: eine absolute Fehlinvestition. Der Gesetzgeber schafft damit Anreize, dass Kinder Bildungsangebote nicht nutzen und Eltern ihre Erwerbstätigkeit einschränken. Das ist genau der falsche Weg. Wir wollen das Betreuungsgeld so schnell wie möglich abschaffen und die so gewonnenen rund 2 Milliarden Euro jährlich zusätzlich in die Bildungsinfrastruktur, also in den konsequenten Ausbau von Krippen und Kitas, stecken. Gerechte Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen, ist unser Ziel. Gute Bildung von Anfang an muss für alle möglich sein: von der Kita über die Schule bis zu Studium und Berufsabschluss. Die SPD hat als bisher einzige Partei mit dem „Nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung“ einen umfassenden Vorschlag vorgelegt, die Bildungsfinanzierung von Bund und Ländern auszuweiten: Wir wollen für Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahr bereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Ländern finanziert aus Einsparungen, dem Abbau von überflüssigen Subventionen, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Reform der Erbschaftsteuer zugunsten der Länder. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das Kooperationsverbot im Grundgesetz aufzuheben, damit Bund und Länder bei der Bildung wieder zusammenarbeiten dürfen. Nur gemeinsam wird es gelingen, Ganztagsschulen und Kitas in Deutschland auszubauen und sie besser auszustatten - Bund und Land Hand in Hand. Auch wenn sich das leider nicht über Nacht erreichen lässt, gilt: Alle Kinder in unserem Land haben ein Recht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Leider sieht die Realität viel zu oft anders aus. Insbesondere für Kinder aus Familien mit wenig Geld ist Chancengleichheit nicht gesichert. Deshalb ist es gut, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben hat, dass wir bei der Bemessung der Grundsicherung die Teilhabe der Kinder an Bildung und ihr soziokulturelles Existenzminimum sicherstellen müssen. Bundestag und Bundesrat haben nach langen Verhandlungen Anfang des Jahres 2011 das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket geschnürt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das Bildungspaket im Vermittlungsausschuss gemeinsam mit CDU und CSU auf den Weg gebracht - nach intensiven Verhandlungen, in denen die SPD deutliche Verbesserungen für die Familien erreicht hat. Wir haben dem Kompromiss zugestimmt, um den 2,5 Millionen Kindern und deren Eltern bessere Bildungschancen und die dafür notwendigen Finanzmittel zukommen zu lassen. Die Alternative wäre sonst gewesen: kein Bildungspaket und weniger Gerechtigkeit für die Kinder. Die SPD hat durchgesetzt, dass nicht nur Kinder aus Hartz-IV-Familien an Klassenfahrten, Nachhilfe und Schulessen teilnehmen können und Lernmaterial erhalten. Auch einkommensschwache Familien im Kinderzuschlags- und Wohngeldbezug können das Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das betrifft rund 500 000 Kinder zusätzlich. Leider muss beim Bildungspaket aktuell jede Leistung einzeln beantragt und abgerechnet werden. Das konnten wir als SPD in den Verhandlungen nicht verhindern. Wir halten dies für unnötig aufwendig - die Bürokratie kostet zudem Geld. Außerdem zeugt das von einer pauschalen Misstrauenskultur gegenüber den Eltern. Wir vertrauen den Eltern. Das Bildungspaket ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es sind aber - wie es zu erwarten war und die Erfahrung gezeigt hat - wesentliche Verbesserungen dringend nötig. Denn wir wollen, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen, und wir wollen bessere Wege - ohne ausufernde Bürokratie. Das Bildungs- und Teilhabepaket schreckt mit seinen bürokratischen Hürden Anspruchsberechtigte ab. Viele Kinder und Jugendliche können daher ihren grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung und Teilhabe nicht wahrnehmen. So kann es nicht gehen. Das Bildungspaket ist Teil des grundgesetzlich garantierten soziokulturellen Existenzminimums. Laut Schätzungen erhalten nur etwa 50 Prozent der Kinder tatsächlich Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Das bedeutet, dass jedes zweite bedürftige Kind leer ausgeht. Sie sehen, wir sind noch sehr weit von echter Bildungs- und Chancengerechtigkeit entfernt. Wie viele Kinder es ganz genau sind, wie viel Geld wo und für welche Leistungen ausgegeben wurde, weiß niemand. Die Bundesregierung kann dazu bis heute keine Angaben machen und verweist darauf, dass erstmals zum 31. März 2013 Zahlen durch die Länder gemeldet werden mussten. Aber bis heute wurden diese nicht offiziell bekannt gegeben. Entweder kennt die Regierung die Zahlen wirklich nicht, oder sie hält sie bewusst zurück. Beides wäre ein Skandal. Ursprünglich hat die eigentlich zuständige Sozialministerin von der Leyen große Töne gespuckt, dass durch das Bildungspaket den Kindern neue Zukunftschancen eröffnet werden. Über zwei Jahre nach seinem Start kommen diese Chancen aber leider nur bei höchstens jedem zweiten Kind an - eine traurige Bilanz. Die Bundesregierung hat sich weder um vernünftige statistische Daten bemüht noch versucht, nur die kleinsten Verbesserungen vorzunehmen. Diese Arbeit mussten die Länder machen. Sie haben sich - alle 16 einvernehmlich auf zumindest kleinere Änderungen Zu Protokoll gegebene Reden verständigt. So wird etwas Verwaltungsaufwand abgebaut, wovon auch die Kinder und Jugendlichen profitieren und somit letztendlich die Inanspruchnahme verbessert wird. Die Verbesserungen können zum 1. August in Kraft treten - dank unserer Länder. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das Bildungs- und Teilhabepaket von Anfang an intensiv auf den Prüfstand gestellt. In vielen Gesprächen mit Praktikern vor Ort, Gewerkschaften und Verbänden haben wir uns kritisch mit dessen Umsetzung auseinandergesetzt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat letztes Jahr dazu auch ein großes Fachgespräch mit vielen Sachverständigen durchgeführt. Die Ergebnisse legen wir heute in unserem Antrag vor. Wir bringen damit ganz konkrete und kurzfristig umzusetzende Verbesserungsvorschläge für weniger Verwaltungsaufwand für die Betroffenen und Behörden und mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit ein: Die 10 Euro monatlich zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft sollen ohne Antrag mit dem Regelsatz ausgezahlt sowie grundsätzlich überprüft werden. Wie die Regelsätze selbst muss dieser Betrag fortlaufend angepasst werden. Auch das Schulbedarfspaket ist allen Leistungsberechtigten ohne zusätzlichen Antrag mit dem Regelsatz auszuzahlen. Hier wollen wir ebenfalls eine Überprüfung und regelmäßige Anpassung der Höhe von derzeit insgesamt 100 Euro. Der Zugang zur Lernförderung soll vereinfacht und möglichst an den Schulen angeboten werden. An Schulen, Horten und Kitas muss eine diskriminierungsfreie gemeinsame und gesunde Essensverpflegung angeboten werden. Auf den Eigenanteil von 1 Euro soll verzichtet werden, was zudem Verwaltungskosten spart. Zur Entbürokratisierung soll der Finanzierungsbeitrag des Bundes pauschal orientiert an der Zahl der Leistungsberechtigten erfolgen. Lediglich Einmal- und Härtefallleistungen sowie nur schwer pauschalisierbare Kosten wie für Kita- und Schulausflüge und Beförderungskosten sollen weiterhin auf unbürokratischen Antrag gewährt werden. Außerdem muss die Direktzahlung an die Eltern ohne Gutschein- oder Sachleistungsabwicklung zur Verringerung des Verwaltungs- und Kostenaufwands ermöglicht werden. Mit diesen Vorschlägen können wir das bestehende bürokratische Bildungspaket nachhaltig verbessern und mehr Kinder und Jugendliche erreichen. Aber auch die Kommunen müssen mit in die Umsetzungsverantwortung genommen werden. Sie sind näher am Geschehen; sie kennen die Angebote und wissen beispielsweise, wie das Mittagessen in Kitas und Schulen organisiert ist. Einerseits müssen wir die Kommunen - wie von uns vorgeschlagen - von unnötiger Verwaltungsbürokratie entlasten. Andererseits müssen sie dann aber auch die Möglichkeiten nutzen, das Bildungspaket mit ihren bestehenden Strukturen und Programmen zu verknüpfen und bestmöglich umzusetzen. Anerkannt gute Umsetzungsbeispiele wie der Lübecker Bildungsfonds aus meinem Wahlkreis können hier als Vorbilder dienen. Deshalb fordern wir die Entwicklung von unbürokratischen Verwaltungs- und Verfahrensstandards anhand von guten Praxisbeispielen. Schließen Sie sich unseren Forderungen an und verweigern Sie unseren Kindern nicht weiterhin wichtige Bildungschancen. Wir müssen alle Kinder fördern - nicht nur jedes zweite.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wieder einmal diskutieren wir über einen Antrag zum Thema Bildungs- und Teilhabepaket. Es scheint mir immer wieder, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, dabei vergessen, wie es zur bestehenden Regelung kam. Am 9. Februar 2010 beurteilte das Bundesverfassungsgericht die von der rot-grünen Bundesregierungen beschlossenen Gesetze zum Arbeitslosengeld II als verfassungswidrig. Dies geschah unter anderem deshalb, weil bei der damaligen Festlegung der Regelsätze der Bildungs- und Teilhabebedarf von Kindern und Jugendlichen vollkommen unberücksichtigt blieb. Diese Regierungskoalition hatte dann vorgeschlagen, die Leistungen für Bildung und Teilhabe zentral über die Jobcenter zu administrieren und dabei auf die Kenntnisse der Bundesagentur für Arbeit zu vertrauen. Da das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch im Bundesrat zustimmungspflichtig war, haben SPD und Grüne diese Idee der sogenannten Familienlotsen in den Jobcentern blockiert. Sie haben stattdessen, unterstützt von den Kommunen, die Zuständigkeit für das Bildungs- und Teilhabepaket in die Hände der Kommunen geben wollen. Um zu einem Ergebnis im Vermittlungsverfahren zum Wohle der Anspruchsberechtigten zu kommen, haben wir diese Bedingung vonseiten von SPD und Grünen erfüllt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, haben diesem Kompromiss am Ende sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat zugestimmt, während sich die Grünen aus parteipolitischen Gründen in letzter Sekunde verabschiedet hatten. Deshalb nur zur Klarstellung für all das, was Sie in Ihrem Antrag kritisieren: Die SPD hat sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat die Hand gehoben. Das müssen Sie aus Gründen der Redlichkeit den Menschen auch sagen. Der heute zu beratende Antrag stellt die Tatsachen und Fakten aber bewusst falsch dar. So behaupten Sie auf Seite 3 im zweiten Abschnitt, dass derzeit viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihren grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung und Zu Protokoll gegebene Reden Teilhabe nicht wahrnehmen könnten. Dies ist so schlichtweg falsch. Wahrnehmen kann den Anspruch jeder Anspruchsberechtigte; es gibt da keine Hürden. Richtig ist aber, dass aufgrund von Anlaufschwierigkeiten, die durch die zentrale Erbringung der Leistungen durch die Kommunen entstanden sind, die Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets noch ausbaufähig ist. Am kommenden Montag wird Bundesarbeitsministerin Dr. Ursula von der Leyen die aktuellen Zahlen zur Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets veröffentlichen. Ich bin mir dessen sehr sicher, dass wir eine weitere Zunahme im Vergleich zu den letzten Zahlen vom März 2012 verzeichnen werden. Dennoch wird es gewiss auch weiterhin Luft nach oben geben. Um dies zu erreichen, haben wir am 21. Februar dieses Jahres im Deutschen Bundestag ein Gesetz beschlossen, das zu Änderungen in der Praxis des Bildungs- und Teilhabepakets führt. Diese Änderungen sind auf die Initiative dieser christlich-liberalen Regierungskoalition zurückzuführen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat direkt nach der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets einen Runden Tisch gestartet, an dem Bund, Länder und Kommunen gemeinsam über Verbesserungen und Nachsteuerungen beim Bildungs- und Teilhabepaket gesprochen haben. Ergebnis der Gespräche waren die erwähnten Änderungen des Gesetzes. Der Runde Tisch wird auch weitergeführt. So stellen wir sicher, dass weiterhin sehr praxisnah Probleme besprochen und dann auch gesetzgeberisch gelöst werden können. Sie fordern in ihrem Antrag unter Punkt 4, dass in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Horten flächendeckend Essensverpflegung angeboten werden soll. Hierbei übersehen Sie jedoch die praktischen Probleme. Natürlich ist es ein Ziel, dass jedes Kind eine Essensverpflegung in Anspruch nehmen kann. Sie müssen jedoch auch die Gegebenheiten an Gebäuden vor Ort berücksichtigen. Nicht jede Bildungs- oder Betreuungseinrichtung kann Mittagessen anbieten. An einigen Stellen fehlen dazu schlichtweg die Räumlichkeiten. Eine große Zahl ihrer Forderungen wäre derzeit aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht umsetzbar. In vielen Punkten wollen Sie in die Bildungshoheit der Länder eingreifen. Wenn Sie dies wollen, müssen sie aber auch gleichzeitig einen Gesetzentwurf für eine Grundgesetzänderung einbringen. So kann man Ihrem Antrag nicht zustimmen, da er, würden wir ihn jetzt beschließen, verfassungswidrig wäre.

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit seinem Urteil im Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht eine Neuermittlung der Regelbedarfe für das menschenwürdige Existenzminimum auch für Kinder erzwungen. Bei dieser Neuermittlung wurde ein Teilbedarf von Kindern und Jugendlichen - nämlich spezifische Bedarfe für Bildung und Teilhabe - aus dem Regelbedarf ausgegliedert und in Form eines sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets organisiert. Grundcharakter dieses Bildungs- und Teilhabepakets ist demzufolge, dass die Bedarfe nicht automatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungen gedeckt werden, sondern erstens beantragt werden müssen und zweitens in der Regel als Sach- oder Dienstleistung gewährt werden. Die Folge ist, dass dies zum einen extrem bürokratisch ist und dass zum Zweiten quasi eine mehrfache Bedarfsprüfung stattfindet. Das Ergebnis: Das Antragserfordernis führt zu einer völlig unzureichenden Inanspruchnahme der Leistungen, weil Aufwand und Leistung in keinem Verhältnis zueinander stehen. Die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets war von Anbeginn an ein Fehler. Sie wurde ideologisch mit dem Misstrauen gegenüber den Eltern begründet: „Die Gelder müssten tatsächlich bei den Kindern ankommen.“ Damit wurde gegen alle Erfahrungen und empirische Erhebungen unterstellt, die Eltern würden zusätzliche Gelder für andere Zwecke - beliebte Beispiele: Flachbildschirme und Bier - und nicht für die Bildung und Teilhabe ihrer Kinder verwenden. Die Linke lehnt eine solche Stigmatisierung von Eltern im SGB-II-Leistungsbezug grundsätzlich ab. Dass die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets nicht bei den Kindern ankommen, ist nicht das Verschulden der Eltern. Es ist vielmehr die realitätsfremde Konstruktion des gesamten Pakets, die bewirkt, dass Kindern und Jugendlichen Leistungen vorenthalten werden, die ihnen rechtlich zustehen! Das Bundesverfassungsgericht hat die Leistungen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche als einen Teil des zu garantierenden menschenwürdigen Existenzminimums angesehen. Dieser Anspruch bedeutet, dass jedes Kind und jeder Jugendliche die Leistungen auch bekommen muss. Dass die Hilfe bei den Kindern nicht ankommt, ist das Versagen der Politik und nicht ein Mangel an Engagement von Eltern! Mit dem Geburtsfehler des Bildungs- und Teilhabepakets sind mehrere Probleme systematisch verknüpft: Erstens. Da - wie die niedrigen Antrags- und Bewilligungsquoten deutlich zeigen - nicht alle Kinder und Jugendliche Leistungen aus dem BuT beziehen, dieser Bedarf aber bei der Ermittlung des Regelbedarfs nicht berücksichtigt wird, entsteht bei vielen Kindern und Jugendlichen eine verfassungsrechtlich bedenkliche Unterdeckung ihres Existenzminimums. Sprich: Sie bekommen nicht das, was sie brauchen, und auch nicht das, was ihnen zusteht. Zweitens. Weitere verfassungsrechtliche Bedenken formulieren Professor Münder und Dr. Becker in einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung: So sehen sie zum Beispiel in der Tatsache, dass lediglich bestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote finanziert Zu Protokoll gegebene Reden werden, einen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Eltern und Kinder. Drittens. Das Antragserfordernis erfordert einen vollkommen unangemessenen Apparat zur Verwaltung des BuT. Die Verwaltungskosten wurden allein für den Bereich des SGB II mit deutlich über 100 Millionen Euro pro Jahr veranschlagt. Dem stehen veranschlagte Leistungen in Höhe von 626 bis 661 Millionen Euro pro Jahr gegenüber. Dieses Ungleichgewicht sorgt dafür, dass umfangreiche finanzielle Mittel den Kindern für ihre Bedürfnisse nicht zur Verfügung stehen. Die Linke sagt: Die verfügbaren Mittel müssen den Leistungsberechtigten zugute kommen und dürfen nicht die Verwaltungsapparate finanzieren. Es ist sehr zu begrüßen, dass die SPD diese Kritik ({0}) weitgehend teilt und in ihrem Antrag formuliert: „Die Probleme resultieren aus dem individualisierten und bedürftigkeitsgeprüften Zugang zu Bildungs- und Teilhabeleistungen sowie aus der Fokussierung auf das Sach- und Dienstleistungsprinzip.“ Es ist aber daran zu erinnern, dass die SPD-geführten Länder im Vermittlungsausschuss für zusätzliches bürokratisches Chaos gesorgt haben. Statt das BuT zu verhindern bzw. es in vernünftige Bahnen zu lenken, bestanden sie auf der Durchführung des BuT durch die Kommunen. Die Übertragung der Verantwortung auf die Kommunen durch den Vermittlungsausschuss klingt zwar grundsätzlich vernünftig, in der praktischen Umsetzung führt die Entscheidung aber zu zusätzlichem Chaos. Der Bund finanziert Leistungen, deren konkrete Umsetzung er nicht anweisen, nicht einmal kontrollieren oder prüfen kann. Der Bund kann nicht einmal zuverlässig sagen, wie viele Kinder welche Leistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Der Bund ist hier auf Ergebnisse von Befragungen angewiesen. So kann ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht garantiert werden. In der Perspektive der Linken ist klar: Das Bildungs- und Teilhabepaket ist gescheitert und muss grundlegend neu gestaltet werden. Das menschenwürdige Existenzminimum der Kinder und Jugendlichen ist zu gewährleisten. Statt des Bildungs- und Teilhabepakets ist dringend notwendig, dass die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets, wo immer sachlich möglich, in den allgemeinen Regelbedarf der Kinder und Jugendlichen einfließen. Diese regelmäßigen Leistungen sind deutlich anzuheben. Perspektivisch bedarf es der Einführung einer bedarfsdeckenden Kindergrundsicherung. Darüber hinaus müssen Bedarfe, die nur unregelmäßig anfallen - wie zum Beispiel Schulausflüge oder Klassenfahrten -, wo dies nicht bereits Praxis ist, als Mehrbedarfe in Form von Geldleistung ausgezahlt werden. Die Praxis, dass Eltern hier in Vorleistung gehen müssen, entspricht nicht der Lebensrealität der betroffenen Familien. Hier müssen Mittel und Wege gefunden werden, die Eltern nicht in finanzielle Notlagen bringen oder gar Kindern im Zweifel eine Teilnahme unmöglich machen. Dienst- und Sachleistungen wie Schulverpflegung und Schülerbeförderung sind bei Bedarf allen Schülerinnen und Schülern unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Auch die Lernförderung aller Schülerinnen und Schüler muss selbstverständliche Regelleistung aller Schulen sein und darf nicht - über das BuT gefördert - ausgegliedert und privatisiert werden. Und ja: Die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur ist - da ist der SPD zuzustimmen - massiv auszubauen. Die SPD verschweigt aber, dass zur Finanzierung eines derartigen Ausbaus der öffentlichen Infrastruktur eine deutliche Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums notwendig ist. Die Linke hat ein Programm zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Ohne die Bereitschaft, von oben nach unten umzuverteilen, blieben die Forderungen hohle Ziele, weil die finanziellen Mittel letztlich fehlen - und zwar vor Ort!

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales hat die Diskussion über das Bildungsund Teilhabepaket, BuT, einen neuen Tiefstand erreicht. Auf der Tagesordnung stand die Berichterstattung der Bundesregierung zur Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets 2012. Aber das, was Staatssekretär Dr. Brauksiepe den Mitgliedern des Ausschusses vortrug, war eine Brüskierung. Keine einzige Zahl wurde genannt. Seit nunmehr zwei Jahren dreht und windet sich die Bundesregierung, weil sie nicht einräumen will, was alle, die in der Praxis mit dem BuT vertraut sind, einmütig beklagen: Das BuT ist in seiner jetzigen Form ein bürokratisches Ungetüm, das Kindern nur ungenügend Bildungs- und Teilhabeförderung zuteil werden lässt. Der kommunikative Umgang der Bundesregierung mit dem BuT ist desaströs und zeigt zweierlei: Zum einen scheint es die Bundesregierung nicht zu interessieren, ob die Leistungen tatsächlich bei den anspruchsberechtigten Kindern ankommen. Ministerin von der Leyen hatte vor allem die mediale Inszenierung und weniger die Bedürfnisse der Kinder im Sinn. Zum anderen weigert sich die Bundesregierung, die offenkundigen Konstruktionsfehler des BuT einzugestehen. Dass die Bundesregierung die Zahlen zurückhält, die ihr von den Ländern seit dem 31. März 2013 vorliegen, hat vor allem einen Grund: Anhand der Zahlen lassen sich die Fehlkonstruktionen des BuT nicht mehr verleugnen. Nehmen wir das Beispiel Nordrhein-Westfalen, für das mir die Zahlen vorliegen. In NRW wurden insgesamt 87,2 Millionen Euro aus dem BuT abgerufen, das entspricht 60 Prozent der zur Verfügung gestellten Mittel. Damit liegt NRW sowohl relativ als auch absolut über dem Bundesdurchschnitt. Zum Überblick: Von den 87,2 Millionen wurden die meisten Gelder, nämlich 36,2 Prozent, für die Mittagsverpflegung in Anspruch genommen. 32,5 Prozent entfielen auf das Schulbedarfspaket, und 19,8 Prozent wurden für Schulausflüge und Klassenfahrten verausgabt. Die anZu Protokoll gegebene Reden deren drei Leistungsfelder des BuT, die Lernförderung, die Leistungen der sozialen und kulturellen Teilhabe und die Schülerbeförderungskosten, machten zusammen nur 10 Prozent aus. Und ich frage mich: Wie kann es sein? Wie kann es sein, dass 2,5 Millionen Kinder in diesem Land Anspruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe haben, aber nur gut die Hälfte der zur Verfügung gestellten Mittel tatsächlich in Anspruch genommen wird? Daran, dass teure Schulmaterialen oder auch Klassenfahrten und Schulausflüge von Hartz-IV-Familien problemlos selbst finanziert werden können, wird es wohl kaum liegen. Oder nehmen wir die marginalen Abrufraten bei der Lernförderung und den Leistungen zur sozialen und kulturellen Teilhabe, die eigentlich das Herzstück des Bildungs- und Teilhabepakets bilden sollten: Sie kommen sicher nicht dadurch zustande, dass Kinder aus bildungsfernen Familien oder Kinder mit Migrationshintergrund keine Nachhilfe bräuchten oder anders als andere Kinder nicht mit Freunden im Verein Fußball spielen oder ein Instrument lernen möchten. Und selbst bei der Mittagsverpflegung, die von den Ländern insgesamt am stärksten in Anspruch genommen wird - so das Ergebnis einer Abfrage des Norddeutschen Rundfunks bei den Kommunen; wohlgemerkt: des NDR, nicht des Ministeriums! -, muss man doch fragen: Warum werden die Gelder auch hier nicht voll ausgeschöpft? UNICEF hat im vergangenen Jahr eine Studie zur Kinderarmut in den reichen Ländern der Welt veröffentlicht. Ein Ergebnis dieser Studie war, dass in Deutschland von 20 Kindern eines keine warme Mahlzeit am Tag bekommt. Das sind fünf Prozent der Kinder; aber die Gelder aus dem Bildungs- und Teilhabepaket werden nicht genutzt. Die Antwort auf all diese Fragen ist erschreckend einfach: Die Hürden der Beantragung sind zu hoch, und die Konzentration auf Sachleistungen geht an den Erfordernissen der Praxis schlicht vorbei. Denn was nützt der Zuschuss zum Mittagessen, wenn Schulen keine Schulküchen haben und private Caterer wegen der komplizierten Abrechnung zurückschrecken, sodass überhaupt kein Schulessen angeboten wird? So bleiben die Küchen kalt und die Mägen leer. Was nützen monatliche Zuschüsse zu Sportvereinen oder Musikschulen, wenn der Zuschuss nur einen Bruchteil der eigentlichen Kosten deckt und die Familien zusätzlich 25 bis 50 Euro im Monat selbst finanzieren müssen? Pro Kind wohlgemerkt. Das Beispiel der Musikschulen wird immer wieder angeführt: Dass Instrumentalunterricht, selbst dann, wenn es sich um günstigen Gruppenunterricht handelt, nicht unter 35 Euro pro Stunde zu haben ist, ist keine Neuigkeit. Das war auch bekannt, als die schwarz-gelbe Bundesregierung das Bildungs- und Teilhabepaket geschnürt hat. Ähnlich absurd und weltfremd sind die Vorgaben für die Bewilligung von Lernförderung: Diese wird nur im Fall einer unmittelbaren Versetzungsgefährdung und dann auch nur einmalig und kurzfristig gewährt. Dass ein langfristiger Lernerfolg Kontinuität braucht, ist landläufig bekannt. Mit maximal 35 Stunden pro Schuljahr und Kind kann dieser nicht erreicht werden. Selbst dann nicht, wenn der hohe Aufwand betrieben wird und die Leistungen tatsächlich beantragt werden. Die Bundesregierung rühmt sich, im Jahr 2012 knapp 900 Millionen für das BuT bereitgestellt zu haben. Was sie dabei geflissentlich verschweigt, ist, dass ein Großteil des Geldes - nämlich 159 Millionen Euro ausschließlich auf Verwaltungsmittel entfällt. Faktisch ist es aber noch mehr. Tatsächlich schätzen wir anhand der Zahlen des Verwaltungspersonals den Verwaltungsaufwand auf mindestens 30 Prozent. Für die eigentlichen Sachleistungen wurden also bestenfalls 716 Euro Millionen bereitgestellt. Eine sachgerechte Verwendung der Mittel fordern wir Grünen seit langem. In unserem Antrag „Das Bildungs- und Teilhabepaket - Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“ ({0}) - wohlgemerkt dem ersten zum Reformbedarf des BuT - haben wir die Überführung der sogenannten Teilhabepauschale, des Schulbasispakets und der Schülerbeförderung in den monatlichen Regelsatz gefordert. Außerdem ist es aus unserer Sicht notwendig, die Lernförderung unbürokratisch zu gewähren und die tatsächlichen Kosten für Schulausflüge und Klassenfahrten zu erstatten. Und für das Mittagessen fordern wir eine Vereinfachung der Abrechnung: Die Kostenübernahme muss den Schulen, Horten und Kindertagesstätten direkt zukommen. Der Änderungsbedarf am Bildungs- und Teilhabepakt ist allgemein konsentiert. Vereine, Sozialverbände, Stiftungen, Jobcenter, der Deutsche Landkreistag und auch die Länder, sie alle sind sich einig: Der Bürokratieaufwand muss reduziert und die Leistungsgewährung so umgestaltet werden, dass die Leistung bei den Kindern ankommt. Der Bundesrat hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({1}) vorgelegt. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat Praktikerinnen und Praktiker befragt und die Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets evaluiert. Die kritische Praxisbilanz nennt die drängenden Probleme konkret beim Namen und macht Lösungsvorschläge. Die Vodafone Stiftung Deutschland hat die Lernförderung bilanziert und einen Zehn-Punkte-Plan zur Lernförderung vorgeschlagen. Von allen Seiten werden der Bundesregierung die Lösungen auf dem silbernen Tablett serviert. Aber Ministerin von der Leyen zieht es vor, die Inanspruchnahme selbst zu evaluieren und eine ehrliche Bewertung des BuT weiter zu verzögern. Wenn die Ministerin am kommenden Montag vor die Presse tritt und anstelle der Zahlen aus den Ländern die Ergebnisse einer vom BMAS in Auftrag gegebenen Befragung präsentiert, dann wird sie wieder davon sprechen, dass das BuT ein sozialpolitischer Erfolg ist. Und wie schon beim Abschlussbericht des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik werden die Zu Protokoll gegebene Reden Tatsachen sicher auch am 29. April 2013 wieder beschönigt werden. Frau von der Leyen hat heute im Plenum treffenderweise Kurt Schumacher zitiert: „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Das sollte sie sich selbst ins Stammbuch schreiben und die Zahlen, Fakten und Bedürfnisse der Praxis, die ihr vorliegen, ernst nehmen. Die Wirklichkeit von 2,5 Millionen Kindern ist, dass sie besseren und umfassenden Zugang zu Bildung und Teilhabe brauchen und dass das Bildungsund Teilhabepaket in seiner derzeitigen Ausformung dazu nur ungenügend beiträgt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13194 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann verfahren wir so. Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten Schneider ({1}), Uwe Beckmeyer, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Privatkundengeschäft der Finanzagentur Deutschland GmbH fortsetzen - Drucksachen 17/12062, 17/12434 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider ({2})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({3}) Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Alexander Funk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit unserer letzten Debatte zum Privatkundengeschäft der Finanzagentur hat sich gezeigt: Auch nach unserer Ankündigung, Ihren Antrag zur Fortsetzung des Privatkundengeschäftes der Finanzagentur nicht zu unterstützen, dreht sich die Welt weiter. Wie sollte es auch anders sein? Kunden können ja weiterhin Bundeswertpapiere erwerben, nur eben nicht mehr über die Finanzagentur, für deren Minusgeschäft der Steuerzahler aufkommt. Überdenken Sie doch einfach Ihr Anliegen selbstkritisch. Sie fordern, dass die Finanzagentur des Bundes ein Produkt weiter anbietet, das jedes Jahr zwischen 50 und 70 Millionen Euro Verluste einbringt. Dieses Geld soll dann der Bund, also der Steuerzahler zuschießen, damit andere über die Finanzagentur Schatzbriefe erwerben können. Warum? Und vor allem: Wieso stellen Sie Ihre Forderung erst jetzt? - Seit Juni 2012 wissen die Mitglieder des Bundesfinanzierungsgremiums - also auch Ihre Vertreter darin -, dass das Privatkundengeschäft eingestellt werden soll. Dass es unrentabel ist, wissen Sie schon länger. Da muss ich fragen: Wieso befassen Sie sich erst jetzt damit, wenn Ihnen angeblich so sehr an diesem Thema gelegen ist? Ich meine: Sie versuchen, die wenigen aktuellen Presseartikel zu dem Thema aufzugreifen, in denen der Wegfall der Bundesschatzbriefe bedauert wird, ohne jedoch auf das Verlustgeschäft für den Steuerzahler hinzuweisen. Suggeriert wird dann, der einfache Sparer könne keine Bundeswertpapiere mehr erwerben. Das ist schlicht und einfach falsch: Sie können komfortablere und häufig preisgünstigere Erwerbswege nutzen als den Kauf über die Finanzagentur. Denn das ist doch das Problem und hat zu der Entscheidung geführt, das Privatkundengeschäft einzustellen: Banken haben vielfach preiswertere Angebote im Sortiment und haben der Finanzagentur hier schlicht und einfach den Rang abgelaufen. Nichts anderes schreibt uns der Bundesrechungshof ins Stammbuch. Ein kleiner Blick in den Bericht wäre sicher hilfreich gewesen, bevor Sie Ihren Antrag hier zur Debatte gestellt haben. Gewiss werfen Sie dem BRH nicht vor, im Interesse anderer Vertriebswege zu sprechen - und uns nicht, dass wir Anmerkungen und Hinweise des Rechnungshofes ernst nehmen. Nochmals zu Ihrer Kenntnis, falls Sie die entscheidende Passage des Berichts übersehen haben sollten: „Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfehlung des Bundesrechnungshofes bis zum Ende des Jahres 2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, die es für Privatanleger anbietet. Dieses Privatkundengeschäft ist für die Kreditaufnahme des Bundes bedeutungslos geworden, weil Privatanleger seit über 20 Jahren immer weniger Wertpapiere des Bundes kaufen.“ Weiter heißt es: „Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sich damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem entstanden im Privatkundengeschäft in den letzten Jahren Verluste, teilweise in zweistelliger Millionenhöhe.“ Außerdem heißt es: „Der Bundesrechnungshof hat bezweifelt, dass sich das Privatkundengeschäft mit neuen Produkten oder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveau deutlich ausweiten und kostendeckend betreiben lässt.“ Abschließend heißt es: „Privatanleger sind damit nicht von einer Geldanlage beim Bund ausgeschlossen. Sie können weiterhin Wertpapiere des Bundes über Kreditinstitute erwerben.“ Ich nehme an, dass diese Bewertung doch auch Ihnen zu denken geben müsste. Wollen Sie ernsthaft, dass der Steuerzahler in Millionenhöhe für diejenigen aufkommt, die ihr Geld verleihen? - Das ist zumindest nicht unsere Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn Sie mehr Gemeinsinn einfordern, dann beginnen Sie doch einfach hier im Kleinen und überprüfen Sie mit uns kritisch, welche unrentablen Vertriebswege, die zulasten des Gemeinwesens gehen, wegfallen können. Wir jedenfalls werden weiterhin auch im Detail nicht nachlassen, wenn es darum geht, unsere Staatsfinanzen nachhaltig zu sanieren. Dass Sie damit nicht viel anfangen können, ist nicht nur bei Ihren großen Steuererhöhungsplänen zu sehen, sondern auch hier im Detail. Lassen Sie uns die richtigen Konsequenzen aus dem Bericht des Rechnungshofes ziehen und dem Antrag der SPD nicht folgen.

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vergangene Woche, am 16. April 2013, hat das italienische Schatzamt für eine „Patriotenanleihe“ Italiens so viele Gebote der italienischen Bürgerinnen und Bürger erhalten, dass die Bücher zwei Tage vor Ende der Zeichnungsfrist geschlossen werden mussten. „Italien kann sich auf seine Bürger verlassen“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 17. April. Italien hat so knapp 17 Milliarden Euro eingesammelt und zwar zu 2,25 Prozent Zinsen, gekoppelt an die italienischen Verbraucherpreise. Italien hat das mitten in einer wirtschaftlich und politisch schwierigen Situation geschafft, war zur Auktionszeit sogar ohne neue Regierung. Das Beispiel zeigt: Staaten können, wenn sie an den Kapital- und Finanzmärkten in eine schwierige Lage geraten, sich selbst daraus befreien, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger ihnen vertrauen. Die Reformen von Ministerpräsident Monti waren sicherlich für viele Italiener schwierig und anstrengend; sie haben sich aber gelohnt, weil die Menschen wieder Vertrauen in ihren eigenen Staat haben. Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist von dieser Erfolgsgeschichte gänzlich unbeeindruckt. Über viele Jahrzehnte war es auch dem Bund möglich, sich direkt bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu refinanzieren. Bundesschatzbriefe und Finanzierungsschätze hatten in Deutschland einen guten Namen. Gerade die ältere Generation, die die Einführung der D-Mark im Juni 1948 noch erinnerte, entschied sich oft für diese Anlagen, und sei es als Geschenk für die Enkel. Ab dem 1. Januar 2013 hat diese Bundesregierung, hat Herr Schäuble das Privatkundengeschäft der Finanzagentur eingestellt. Ich habe das seit der ersten Information im Sommer 2012 immer wieder kritisiert. Heute sind die Schulden Deutschlands auf dem höchsten Stand, auf dem sie je waren. Deutschland ist mit über 2,1 Billionen Euro, davon über 1,3 Billionen Euro beim Bund, verschuldet. Wir geben gegenwärtig über 30 Milliarden Euro pro Jahr für Zinszahlungen aus. Nun haben Sie entschieden, die Mittel zur Finanzierung dieser Schulden künftig vollständig an den Finanz- und Kapitalmärkten aufzunehmen. Damit bestimmen die großen internationalen Investoren den Ton. Dem Bund die Möglichkeit zu nehmen, sich bei seinen Bürgern Geld zu leihen, ist wieder einmal der puren Marktideologie der FDP geschuldet, und sie ist und bleibt ein schwerwiegender Fehler. Sie verstecken diese Ideologie hinter einem Bericht des Bundesrechnungshofes, der besagt, die Kosten für das Privatkundengeschäft überstiegen den Gewinn um über 50 Millionen Euro. Das trifft zwar zu, Ihre Konsequenz daraus ist aber falsch. Denn es war diese Bundesregierung, die nichts unternommen hat, um das zu ändern. Sie haben der Finanzagentur untersagt, Werbung für Privatanlagen zu machen. Sie haben sich nicht bemüht, über Synergieeffekte und effektivere Angebote die Kosten zu senken. Sie haben sich einfach ausgeruht und zugesehen. Seit zwei Jahren haben wir eine sehr spezielle Situation. Deutschland ist - so paradox das klingen mag in einem Punkt Profiteur der Finanzmarktkrise. Aufgrund der Finanzmarktkrise, die über marode Bankbilanzen zu einer Refinanzierungskrise für einige Staaten des Euro-Raums geworden ist, suchen Investoren heute fieberhaft nach sicheren Anleihen. Deutschland ist hier mit die beste Adresse in der Welt. Die Folge daraus ist, dass die Zinssätze, die wir als Bund zahlen müssen, gegenwärtig stark gesunken sind - teilweise bis ins Negative. Das ist zwar eine gute Entwicklung für die Bundesschuld und den Bundeshaushalt. Sie ist aber nicht von Dauer und kann sich rasch wieder ändern. Zudem werden die Zinsen durch die niedrigen Leitzinssätze der Europäischen Zentralbank und die enormen Liquiditätshilfen an Geschäftsbanken generell auf einem niedrigen Niveau gehalten. Für die Sparerinnen und Sparer jedenfalls in Deutschland bedeutet das eine langsame, schleichende Enteignung, solange die Zinsen auf Ersparnisse unterhalb der Inflationsrate liegen. Auf mittlere und lange Sicht ist das gefährlich und muss sich ändern. Deshalb muss der Bund nicht nur ein sicherer Hafen bleiben, sondern wird perspektivisch auch für Privatanleger wieder ökonomisch interessant werden. Das Privatkundengeschäft mit Bundesschuldtiteln findet seit Januar nur noch über die Geschäftsbanken statt, über die Privatkunden Schuldtitel des Bundes erwerben können. Das ist verbunden mit Gebühren und anderen Kosten, denn die Banken wollen ja daran verdienen. Den Gewinn der Banken aber auch noch mithilfe der Bundesschuldenverwaltung zu steigern, darf doch wirklich nicht unser Interesse sein. Da haben Sie, Kollege Fricke, in der ersten Lesung dieses Antrags recht gehabt: Ja, wir wollen den Banken diesen Gewinn auf Kosten der privaten Anleger nicht zubilligen. Sie aber schon. In Klientelpolitik sind Sie einfach unübertroffen. Wir wollen, dass Sie das Privatkundengeschäft der Finanzagentur umgehend wieder aufnehmen und prüfen, wie andere, auch längerfristige Wertpapiere zusätzlich zu den traditionellen Privatkundenprodukten angeboten werden können. Gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof müssen Möglichkeiten erarbeitet werden, wie die Kosten minimiert werden und gegebenenfalls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft Zu Protokoll gegebene Reden Carsten Schneider ({0}) an anderer Stelle kompensiert werden können. Und ich fordere Sie auf, Herr Schäuble, gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes Möglichkeiten und Instrumente zu erörtern, um das Engagement Privater bei der Refinanzierung der Euro-Mitgliedstaaten generell zu erhöhen und lukrativer zu gestalten und dadurch mehr Unabhängigkeit gegenüber institutionellen Investoren und anderen Finanzmarktakteuren zu gewinnen. Noch hätten Sie Gelegenheit, das klug zu ändern. Nach dem 22. September 2013 jedenfalls werden wir mal wieder Ihre Arbeit tun müssen.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben in dieser Debatte über den Antrag der SPD zur Fortführung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur Deutschland GmbH bereits mehrfach Argumente ausgetauscht. Weder an den Fakten noch an der Wertung hat sich etwas geändert. Die Bundesregierung hat entschieden, das Privatkundengeschäft zum Jahresende 2012 einzustellen. Der Bundesrechnungshof hat diese Entscheidung unterstützt. Die Einstellung des Vertriebs von speziellen Privatkundenprodukten des Bundes ist aufgrund festgestellter Unwirtschaftlichkeit erfolgt. Das ist im Interesse der Steuerzahler und sollte damit auch im Interesse der privaten Anleger sein. Als FDP haben wir das Privatkundengeschäft der Finanzagentur des Bundes stets kritisch begleitet, zumal sich der Staat hier teilweise in Konkurrenz zu privaten Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken begeben hat. Die SPD wollte nun, dass weiterhin der Steuerzahler mit 50 bis 70 Millionen Euro belastet wird, um Kapitalanlegern Vergünstigungen zu verschaffen. Je Bestandskunde kostete die Finanzagentur des Bundes den Steuerzahler rund 200 Euro. Deutschland sollte also im Sinne der SPD weiterhin unwirtschaftlich Schulden aufnehmen. Auch nach der Beendigung des Privatkundengeschäftes der Finanzagentur besteht für jeden Bürger weiterhin die Möglichkeit, über sein Bankdepot deutsche Staatsanleihen zu erwerben. Der international so beneidete „sichere Hafen“ steht dem Kleinanleger damit weiterhin offen. Der Antrag der SPD passt gut in die Politik der SPD, bedeutet er doch in der Konsequenz, dass privaten Banken, Sparkassen und Volksbanken das Geschäft weggenommen und dem Staat die weitere Verschuldung erleichtert wird. Damit fließen Spareinlagen nicht in Investitionen und privatwirtschaftliche Entwicklungen und damit in die Zukunft unseres Landes, sondern in die Verschuldung des Staates. Die christlich-liberale Koalition hat eine nachhaltige Politik der Haushaltskonsolidierung erfolgreich auf den Weg gebracht. Auch in diesem Bereich waren die vergangenen Jahre vier gute Jahre für Deutschland. Damit sich diese guten Jahre für Deutschland fortsetzen, macht die christlich-liberale Koalition auch in diesem Punkt das sachlich Richtige, setzt privat vor Staat und lehnt daher den Antrag der SPD ab.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Juni 2012 hat die Bundesregierung entschieden, das Privatkundengeschäft der bundeseigenen „Bundesrepublik Deutschland - Finanzagentur GmbH“, Finanzagentur, einzustellen. Das passt in die neoliberale Politik der Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Angebote. Es gibt kaum noch einen Lebensbereich, wo die Bundesregierung nicht versucht, öffentliche Angebote durch kommerzielle zu ersetzen. Die Resultate sprechen für sich: Die Angebote werden teurer und in der Regel schlechter. Im SPD-Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, das Privatkundengeschäft der Finanzagentur fortzusetzen. Auch wenn zurzeit keine ökonomischen Gründe bestehen würden, das Privatkundengeschäft der Finanzagentur fortzuführen, soll privaten Investoren ein direkter Zugang zu Staatsschuldtiteln des Bundes weiter offenstehen. Der Zugang allein über Geschäftsbanken sei zudem mit Gebühren- oder Provisionszahlungen verbunden. Die Bundesregierung soll umgehend prüfen, wie andere, auch längerfristige Wertpapiere zusätzlich zu den traditionellen Privatkundenprodukten der Bundesschatzbriefe und der Finanzierungsschätze angeboten werden können. Die Bundesregierung soll aufgefordert werden, gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof Möglichkeiten zu erarbeiten, wie die Kosten, die durch die Bereitstellung der Finanzagentur-Infrastruktur für Private entstehen, minimiert werden und gegebenenfalls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft an anderer Stelle kompensiert werden können. Die Linke befürwortet die Fortsetzung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur. Das Privatkundengeschäft der Finanzagentur hat in der Vergangenheit einen positiven Beitrag zur Senkung der Zinskosten des Bundes geleistet und könnte das künftig wieder leisten. Das Privatkundengeschäft der Finanzagentur war den Interessen von Bürgerinnen und Bürgern entgegengekommen, die bei ihren Anlageentscheidungen nicht von Banken über den Tisch gezogen werden wollen. Die Banken wollten das Privatkundengeschäft der bundeseigenen Finanzagentur kapern, um den Privatkunden der Finanzagentur im nächsten Schritt die Bundeswertpapiere auszureden und ihnen stattdessen eigene Papiere anzudienen, an denen die Banken mehr verdienen. Dieses Interesse haben Koalition und Bundesregierung durch die Einstellung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur bedient. In ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschland von der Finanzmarktkrise dadurch profitiert habe, dass Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt worden sind und werden. Diese Feststellung greift zu kurz. TatZu Protokoll gegebene Reden sächlich profitierte die deutsche Wirtschaft und eine wohlhabende Minderheit in Deutschland lebender Menschen auf Kosten anderer Staaten und der Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen vor allem durch Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge der von SPD und Grünen durchgesetzten Agenda 2010. Die Zielrichtung im SPD-Antrag, die Sparanlagen der Bürger zu mobilisieren, um in Not geratene Staaten besser refinanzieren zu können, führt dazu, dass die Auslöser und Profiteure der Finanzkrise aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Die Linke fordert, die Staatsfinanzierung endlich der Willkür der Finanzmärkte zu entziehen. Neben einer konsequenten Regulierung der Finanzmärkte muss die Europäische Zentralbank ermächtigt werden, den Euro-Staaten günstige Kredite zu geben - direkt oder über eine zwischengeschaltete europäische Bank für öffentliche Anleihen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nach meiner Rede in der ersten Lesung habe ich viele unterstützende Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern bekommen, die die Bedeutung des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur Deutschland erkannt haben. Die Leute sehen nicht ein, warum sie künftig saftige Bankgebühren zahlen sollen, wenn sie ihr Geld dem Staat über einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stellen. Ich finde, diese Menschen haben völlig recht. Als Politikerinnen und Politiker sollten wir uns freuen, dass viele Bürger ihrem Staat Geld anvertrauen und damit zur Refinanzierung des Gemeinwesens beitragen wollen, auch wenn die Rendite vergleichsweise niedrig ist. Stattdessen erhöht SchwarzGelb mit der Abschaffung des direkten Privatkundengeschäfts der Finanzagentur nun die Hürden, damit die privaten Banken keine Konkurrenz mehr fürchten müssen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Die Bundesschatzbriefe sind immer noch sinnvoller, als wenn die Leute ihr Vermögen in Zockerpapiere an den Finanzmärkten stecken, die zur wirtschaftlichen Destabilisierung beitragen können. Es mag sein, dass die Bundesrepublik sich derzeit günstiger Geld am Markt leihen kann, als das über den direkten Kontakt mit ihren Bürgerinnen und Bürgern möglich ist. Das liegt aber auch an der Krise der anderen Staaten im Euro-Währungsgebiet und dem damit verbundenen niedrigen Zinsniveau für Deutschland. Darauf können wir uns nicht dauerhaft verlassen. Wir brauchen langfristig solide Verhältnisse, wenn wir uns nicht in die Abhängigkeit der Finanzmärkte begeben wollen. Ein weitsichtiges Schuldenmanagement steht deshalb auf mehreren Beinen, und das Privatkundengeschäft muss ein wichtiges Standbein bleiben. Das Argument, dass private Anleger Bundeswertpapieren grundsätzlich ablehnend gegenüberstünden und der geringe Anteil des Privatkundengeschäfts an der Gesamtverschuldung nicht zu steigern wäre, geht jedenfalls ins Leere: In den 90er-Jahren lag der Anteil bei rund 15 Prozent und damit mehr als fünfmal so hoch wie heute. Das Interesse an sicheren Geldanlagen wird in der Bevölkerung insbesondere in den Zeiten der Krise seit ein paar Jahren nicht abgenommen haben. Das Potenzial wäre grundsätzlich also vorhanden, wenn man es denn richtig ausschöpfen würde. Das will die schwarz-gelbe Koalition aber offenbar nicht sehen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass CDU, CSU und FDP auch im Laufe der Beratungen nicht von ihren Plänen abzubringen waren. Wenn Lobbyinteressen der privaten Banken für Merkels Regierung wichtiger sind als rationale Argumente für die langfristige Stabilität der deutschen Finanzen, dann kann auch die Opposition das Ende des Privatkundengeschäfts der Finanzagentur nicht verhindern. Wer aber ein ehrliches Interesse an einem gesunden Schuldenmanagement und einer möglichst geringen Abhängigkeit von den Kapitalmärkten hat, der muss dem vorliegenden Antrag heute zustimmen und die von SchwarzGelb in den zuständigen Ausschüssen durchgedrückte Beschlussempfehlung ablehnen.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Das Bundesministerium der Finanzen hat im vergangenen Jahr entschieden, den Vertrieb von Privatkundenprodukten zum Jahresbeginn 2013 einzustellen. Diese Entscheidung wurde vor dem Hintergrund ausführlicher Beratungen mit der Bundesrepublik Deutschland - Finanzagentur GmbH sowie unter Beachtung verschiedener Gutachten, die der Bundesrechnungshof zu dieser Frage bereits erstellt hatte, getroffen. Auch seitens des Parlaments gab es die Forderung, aus dem Privatkundengeschäft auszusteigen. Der Bundesrechnungshof stellte fest: „Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sich damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem entstanden im Privatkundengeschäft in den letzten Jahren Verluste, teilweise in zweistelliger Millionenhöhe …Der Bundesrechnungshof bezweifelt, dass sich des Privatkundengeschäft mit neuen Produkten oder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveau deutlich ausweiten und kostendeckend betreiben lässt.“ Dieser Beurteilung schloss sich das Bundesministerium der Finanzen an, nachdem weder die tatsächliche Absatzsituation noch die von der Finanzagentur aufgezeigten Perspektiven für die weitere Entwicklung der Absatzsituation auf die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Betriebs hindeuteten. Zu den Hintergründen der Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben, lassen Sie mich näher erläutern, dass es bis in das Jahr 2002 noch zwei Absatzwege im PrivatkundengeZu Protokoll gegebene Reden schäft gegeben hatte, nämlich - erstens - den Verkauf über die Deutsche Bundesbank und - zweitens - den Vertrieb über Banken und Sparkassen. Die Deutsche Bundesbank entschied sich im Jahr 2002 jedoch, nicht mehr für den Vertrieb von Privatkundenprodukten des Bundes zur Verfügung zu stehen. Bereits mit Wirkung vom 31. Dezember 2002 wurde der Verkauf von Bundesschatzbriefen und Finanzierungsschätzen eingestellt, im Februar 2003 folgte dann auch die Einstellung des Verkaufs von Bundesobligationen ex Emission an Private. Seitdem ist die Deutsche Bundesbank nur noch bei der Abwicklung dieser Produkte für den Bund tätig. Nach dem Ausscheiden der Deutschen Bundesbank aus dem Verkauf von speziellen Produkten des Bundes für Privatkunden war nur der Verkauf dieser Produkte über Banken und Sparkassen sowie der Direktvertrieb über die Finanzagentur verblieben. Die für diese beiden Vertriebswege anfallenden Kosten waren jedoch nicht so zu beeinflussen, dass die Rentabilität des Vertriebs der Privatkundenprodukte des Bundes hätte sichergestellt werden können. Ein weiterer, noch gewichtigerer Aspekt kam hinzu, und das waren bzw. sind renditeorientierte Anlegerentscheidungen. Die übergroße Mehrheit der privaten Anleger hatte sich im mittlerweile heiß umkämpften Markt für Privatkundenprodukte gegen die risikofreien Bundprodukte mit niedrigen Renditen entschieden und zieht sehr oft Produkte vor, die mehr Rendite für höheres Risiko bieten. Auch die Versuche der Finanzagentur und des Bundesministeriums der Finanzen, das Privatkundengeschäft nochmals durch ein neues Produkt wie die Tagesanleihe des Bundes - begleitet sogar von einer TV-Werbekampagne - zu beleben, konnten den Absatzrückgang nicht wirklich aufhalten. Die derzeit besonders niedrigen Bundrenditen haben den Niedergang der speziellen Produkte des Bundes für Privatkunden sicherlich beschleunigt. Ausschlaggebend war aber nicht die Marktlage an sich, sondern dass die speziellen Produkte des Bundes für den Privatanleger nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Eine Subventionierung von Kapitalanlegern für Zwecke der Kreditaufnahme des Bundes ist jedoch unter keinem Aspekt sinnvoll; insoweit war unsere Entscheidung im Interesse eines verantwortungsvollen Umgangs mit öffentlichen Geldern ohne Alternative. Ich möchte zum Schluss noch einen weiteren Punkt festhalten und betonen, der in der Debatte manchmal untergeht: Die Einstellung des Vertriebs von speziellen Privatkundenprodukten - Bundesschatzbriefen, Finanzierungsschätzen und der Tagesanleihe - führt keineswegs dazu, dass diejenigen Privatanleger, für die die Sicherheit der Vermögensanlage an erster Stelle steht, keinen Zugang mehr zu Bundeswertpapieren haben. Eine Beteiligung privater Investoren an der staatlichen Kreditaufnahme ist dauerhaft auch ohne spezielle Produkte für Privatkunden gewährleistet. Denn Bundeswertpapiere können ohne Weiteres auch zukünftig von Privatanlegern, die eine sichere Wertanlage suchen, zum Beispiel über Banken und Sparkassen, erworben werden. Der Bundesregierung ist an dem fortbestehenden Anlegerinteresse sogar sehr gelegen, weil es eine wichtige Grundlage für eine weiterhin reibungslose Kreditaufnahme zu wirtschaftlich günstigen Konditionen ist. Der ab und zu vorgebrachte Einwand, beim Wertpapiererwerb über Banken und Sparkassen fielen Gebühren an, die die Anleger beim Direkterwerb gespart hätten, ist irreführend. Selbstverständlich wurden Direktanleger beim Bund an den höheren Kosten des Privatkundengeschäfts beteiligt. Nur geschah dies durch einen Zinsabschlag auf die Privatkundenprodukte anstelle der Eintreibung von Kontoführungs- oder ähnlichen Gebühren. Der Erwerb eines sechsjährigen Bundesschatzbriefs mit dem üblichen 0,3-prozentigen Zinsabschlag für den langfristig orientierten Anleger von zum Beispiel 10 000 Euro ist selbstverständlich weniger attraktiv als der Erwerb einer Bundesanleihe mit sechsjähriger Restlaufzeit zu banküblichen Gebühren. Zusammengefasst: Die Einstellung des Vertriebs von speziellen Privatkundenprodukten des Bundes ist im öffentlichen Interesse erfolgt, und zwar weil die Kreditaufnahme des Bundes dadurch kostengünstiger wird. Das liegt im Interesse aller Steuerzahler - und daher auch der privaten Anleger. Für Bestandskunden werden alle bestehenden Einzelschuldbuchkonten von der Finanzagentur bis zur Fälligkeit der darin verwalteten Bundeswertpapiere fortgeführt. Eine Quersubventionierung des Privatkundengeschäfts auf Dauer widerspräche dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Haushaltsrechts und wäre auch nicht sinnvoll.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12434, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12062 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Maurer, Herbert Behrens, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen als ersten Schritt zu deren Überwindung - Drucksache 17/13130 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich zunächst ein paar kurze Sätze zur aktuellen Lage am Arbeitsmarkt sagen: Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt weiter zu und erreichte im vergangenen Jahr mit über 40 Millionen Beschäftigten den höchsten Stand aller Zeiten. Die Arbeitslosigkeit sank mit 2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Trotz der aufgrund des anhaltenden Winters zunächst noch ausbleibenden Frühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit dennoch von Februar auf März 2013 um 58 000 Personen auf 3,089 Millionen gesunken. Die Arbeitslosenquote ging auf 7,3 Prozent zurück. In meinem Landkreis Würzburg beträgt die Arbeitslosenquote zurzeit lediglich 3 Prozent - im vergangenen Jahr lag sie sogar noch darunter! Per Definition handelt es sich hierbei um Vollbeschäftigung! Sie sehen, die Chancen für Langzeitarbeitslose sind derzeit so gut wie nie. Und ich will an dieser Stelle noch mal ganz klar betonen, dass sich die überwiegende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiert zeigt und wieder in Arbeit kommen will. Die hier immer wieder heftig diskutierten Sanktionen treffen nur einen kleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen. Im letzten Jahr waren lediglich 3,5 Prozent aller Leistungsberechtigten in Ostdeutschland und 3,3 Prozent in Westdeutschland von Sanktionen betroffen. Zwar stieg die Zahl der Sanktionen im vergangenen Jahr insgesamt auf über 1 Million - in Anbetracht der Zahlen vermutet die Bundesagentur für Arbeit aber, dass eine kleine Gruppe mehrfach sanktioniert wurde. Der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr ist auch auf den Anstieg von Meldeversäumnissen zurückzuführen - zum Beispiel, wenn ein vereinbarter Termin im Jobcenter nicht eingehalten wurde. Sie stiegen auf 705 000 und machten damit 70 Prozent aller Sanktionen aus. 13 Prozent der Sanktionen wurden wegen Ablehnung einer Beschäftigung, Ausbildung oder Bildungsmaßnahme ausgesprochen. 14 Prozent wurden ausgesprochen, weil sich Hartz-IV-Empfänger weigerten, Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter zu erfüllen, also beispielsweise wenn innerhalb einer bestimmten Zeit keine oder zu wenige Bewerbungen geschrieben wurden. Auch wenn Leistungsbezieher eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen oder an einer Fortbildung nicht teilnehmen, müssen sie mit Kürzungen rechnen. Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass es bei der heutigen Debatte keinesfalls um die große Mehrheit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechen hier auch nicht über die Ahndung von vorsätzlichem Betrug, sondern von der Verletzung von Pflichten, welche der Gesetzgeber den Unterstützten völlig zu Recht auferlegt hat. Wir diskutieren über diejenigen Menschen, die in diesem Land zu Recht Hartz IV beziehen, aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungen erhält, der muss sich in Kooperation mit seinem Arbeitsvermittler bzw. Fallmanager darum bemühen, möglichst rasch wieder eine Beschäftigung zu finden. Unsere Leitphilosophie, die die Kollegen der Fraktion Die Linke stets zum Dämon der sozialen Kälte stilisieren, heißt „Fördern und Fordern“. Dahinter steht die Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafür aber auch bei der Suche nach einem Job sehr nachdrücklich Engagement und Eigeninitiative einzufordern. Eine Person, die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt wird, muss mithelfen, ihre Situation auch wieder zu verbessern. Auch diejenigen, deren Einkommen möglicherweise nur knapp über den Transferleistungen liegt, finanzieren mit ihren Abgaben diese Leistungen letztendlich mit. Daher sind wir bei der Verteilung von steuerfinanzierten Fürsorgeleistungen auch ihnen in besonderem Maße verpflichtet. Nach dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hat der Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Dem sind wir - unter Bestätigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - mit der Neubemessung der Regelsätze auch nachgekommen. Wir tragen dafür Sorge, dass einem hilfebedürftigen Menschen die materiellen Voraussetzungen dafür zur Verfügung stehen, um seine Würde in Notlagen, die nicht aus eigenen Kräften überwunden werden können, durch materielle Unterstützung zu sichern. Eine Person, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung der Gesellschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie aber auch alles daransetzen, um diese Hilfebedürftigkeit zu beenden und ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten zu können. Dass der deutsche Sozialstaat deswegen eine „Disziplinierungsmaschine“ sein soll liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke -, kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Die Ausgangslage war - wie bereits erwähnt - noch nie so gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wenn nicht in einem konjunkturell guten Umfeld, wie wir es derzeit bei uns in Deutschland vorfinden, sollen Leistungsbezieher sonst den Schritt aus der staatlichen Abhängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenen wollen dies doch auch und bemühen sich redlich, wieder in Arbeit zu kommen - das stellt auch niemand in Abrede. Im Schnitt wurden die Leistungen um circa 115 Euro gekürzt, wobei die Kürzung nicht immer den Regelsatz betraf, der bei 374 Euro lag. Teilweise wurden auch die Leistungen für Unterkunft und Heizung oder für den individuellen Mehrbedarf gekürzt. Der Kürzungsbetrag richtet sich nach einem Prozentsatz des maßgebenden Regelbedarfs. Die Minderung bzw. der Wegfall der Leistung dauert drei Monate. Doch selbst bei einer Kürzung des Hartz-IV-Satzes ist der Bedarf für Ernährung, Gesundheits- und Körperpflege in Form von Gutscheinen gesichert. Eine vorübergehende Herabsetzung des Regelsatzes widerspricht nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Natürlich ist es schmerzhaft, wenn man auf einen Teil seines Geldes verzichten muss, aber wenn jemand in unserem Land berechtigterweise Hartz IV bezieht, Zu Protokoll gegebene Reden hat er selbstverständlich auch Pflichten - das habe ich bereits ausgeführt. Solidarität beruht eben immer auch auf Gegenseitigkeit. Nur so kann unsere Gesellschaft funktionieren. Die Solidargemeinschaft kann zu Recht erwarten, dass die angebotenen Hilfestellungen und Chancen von den Betroffenen auch genutzt werden, was bei der Mehrheit der Arbeitslosen ja ohnehin der Fall ist. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, ein von Ihnen gefordertes Sanktionsmoratorium trägt nicht zum Eintritt bzw. Wiedereintritt in Beschäftigung bei - dies ist durch Studien hinreichend belegt. Hierdurch würden falsche Anreize gesetzt - weswegen wir Ihre Forderungen als nicht zielführend erachten. Das Ziel von arbeitsmarktpolitischen Sanktionsinstrumentarien ist es, potenziellen Fehlanreizen im Arbeitslosenversicherungs- oder Sozialhilfesystem entgegenzuwirken und somit zu gewährleisten, dass die Arbeitslosen mit den jeweiligen Angestellten von Arbeitsagenturen bzw. Jobcentern zusammenarbeiten. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Arbeitssuchintensität nahezu aller Arbeitslosen im Vergleich zu Systemen ohne Sanktionen allein aufgrund einer möglichen Sanktionierung höher ist und Anspruchslöhne geringer sind. Die Arbeitslosigkeitsdauer wird verkürzt. Verhängte Sanktionen in der Grundsicherung erhöhen demnach die Beschäftigungswahrscheinlichkeit der sanktionierten Personen. Es ist davon auszugehen, dass sich bei einem Wegfall von Sanktionen die Suchanstrengungen der Leistungsempfänger verringern. Ich plädiere an dieser Stelle noch einmal für die konsequente Anwendung des bewährten Prinzips „Fördern und Fordern“. Bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sind wir am erfolgreichsten, wenn alle Beteiligten konstruktiv und aktiv auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten.

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Thema Sanktionen im SGB II wurde bereits vieles, wenn nicht alles gesagt. Wir haben allein in dieser Legislaturperiode bereits achtzehn Anfragen und Anträge dazu diskutiert. Elf davon wurden allein von der Fraktion Die Linke gestellt. Da wundert es nicht, dass die vorliegende Initiative extrem dürftig ist: Der Antrag besteht nur aus drei Sätzen. Trotzdem möchte ich die Gelegenheit nutzen, um den Sachverhalt nochmals klarzustellen. Sanktionen sind ein unverzichtbares Element der Strategie des „Förderns und Forderns“. Dass diese Strategie greift, ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist aber auch, dass der Schwerpunkt ganz klar auf dem „Fördern“ liegt. Die durch Sanktionen einbehaltenen Geldleistungen summierten sich nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2012 auf knapp 200 Millionen Euro. Dem standen insgesamt 32,7 Milliarden Euro an Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik gegenüber. Darunter waren allein 4,4 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik bereitgestellt worden. Wer also den Eindruck erweckt, der Sozialstaat sei eine „Disziplinierungsmaschine“, wie im Antrag aufgeführt, der erzeugt ein Zerrbild der Daten- und Faktenlage. In den vergangenen Jahren habe ich mehrere Jobcenter besucht und zudem hier in Berlin viele Gespräche mit Verantwortlichen geführt. Eins ist klar: Die Mitarbeiter vor Ort sind bestens qualifiziert und hochmotiviert. Sie haben nur ein Ziel, nämlich die Arbeitslosen wieder in Arbeit zu vermitteln und bei Bedarf zu qualifizieren, um deren Vermittlungschancen zu erhöhen. Ein solches System kann aber nur funktionieren, wenn alle Betroffenen mitarbeiten. In diesem Zusammenhang stellen die Sanktionen ein wichtiges Instrument dar. Der Gedanke, bei Fehlverhalten zu sanktionieren, ist ein grundsätzlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Dieser Ansatz ist genau richtig, um jeden Einzelnen zu motivieren und der Solidargemeinschaft insgesamt gerecht zu werden. Lassen Sie mich drei Argumente herausgreifen, die von Ihnen immer wieder vorgetragen werden: Erstens. Sie behaupten, Sanktionen seien nicht verfassungskonform. Dieses Argument ist schlicht falsch. Das Einfordern von eigenen Anstrengungen zählt zu den Grundprinzipien bedarfsabhängiger und am Fürsorgeprinzip orientierter Sozialleistungen und ist auch verfassungsrechtlich begründbar - vergleiche BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 27/AS R. Zweitens. Sie behaupten weiterhin, dass Menschen, die mit Sanktionen belegt werden, nicht ausreichend versorgt seien. Auch das ist falsch. Dazu verweise ich auf § 31 a Abs. 3 SGB II. Dieser Paragraf beschreibt die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums im Sanktionsfall. Auf Antrag können Sachleistungen zur Deckung des Bedarfs für Ernährung, für Gesundheitspflege, Hygiene und Körperpflege gewährt werden. Sind zudem minderjährige Kinder im Haushalt, werden diese Sachleistungen von Amts wegen erbracht. Drittens. Sie vermitteln den Eindruck, als würden sämtliche Grundsicherungsempfänger unter der Sanktionspraxis leiden. Das ist eine bewusste Täuschung, denn Sie kennen die Sanktionsquoten sehr genau: Mehr als 95 Prozent und damit die überragende Mehrheit der Leistungsempfänger hält sich an die Regeln und ist nicht von Kürzungen betroffen. Angesichts dieser Fakten sieht die CDU/CSU-Fraktion keinen Grund, den vorliegenden Antrag zu unterstützen.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag zur Beratung eingebracht, dessen Thema bereits vielfach Gegenstand der politischen Auseinandersetzung war: das Sanktionssystem im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, dass dieser Antrag in einem gewissen Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Sanktionszahlen für 2012 steht, Zu Protokoll gegebene Reden welche durch die Bundesagentur für Arbeit am 10. April dieses Jahres veröffentlicht wurden. Diese Zahlen sind auf den ersten Blick erschreckend, aber sie sind auch zu hinterfragen. Ich finde, dieser Antrag sagt eine ganze Menge darüber aus, wie Die Linke mit statistischen Zahlen umgeht. So wie Schwarz-Gelb die Realität in diesem Land leugnet und sich eine schöne heile Welt malt - hier sei auf den Armuts- und Reichtumsbericht verwiesen -, so malen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, immer ein schwarzes, düsteres Bild von Deutschland und hüllen die gesellschaftlichen Zustände in Tristesse und Ausweglosigkeit. Dieser undifferenzierte Blick lässt dann auch nicht die richtige Schlussfolgerung zu. Lassen Sie mich auf die Sanktionszahlen für 2012 zurückkommen: 1 024 600 neue Sanktionen - das hört sich gewaltig an. Ein genauer Blick relativiert die Zahl aber schon wieder. Denn 2012 haben sich im Jahresverlauf 96,6 Prozent aller rund 4,3 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten korrekt verhalten, haben die Vereinbarungen eingehalten und wurden durch die Jobcenter nicht sanktioniert. Lediglich 3,4 Prozent wurden im Jahresverlauf mit Sanktionen belegt. Das ist doch die richtige Schlussfolgerung aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Sie heißt: Die überwältigende Mehrheit der Arbeitsuchenden kennt nicht nur ihre Rechte, sondern nimmt auch ihre Pflichten wahr und bemüht sich aktiv, die Hilfebedürftigkeit zu beenden, eine Arbeit aufzunehmen oder in eine Fördermaßnahme zu kommen. Denn diese Einstellung ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik und die Voraussetzung dafür, dass die Eingliederungsmaßnahmen und -instrumente wirken können. Erst seit den arbeitsmarktpolitischen Reformen der rot-grünen Bundesregierung gibt es den Grundsatz des Förderns und Forderns. Beides gehört zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik. Mit diesem Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfe haben wir viele Menschen vom sozialen Rand in den Fokus der Förderung geholt und ihnen Chancen zur Teilhabe eröffnet. Schwarz-Gelb hat den Gleichklang aus Fördern und Fordern aber in Schieflage gebracht. Mit dem Streichen erfolgreicher arbeitsmarktpolitischer Instrumente und dem Zusammenstreichen des Eingliederungstitels hat diese Regierung die Axt an die Arbeitsmarktförderung gesetzt. Erfolgreiche Programme wie der Gründerzuschuss, der Ausbildungsbonus oder der Eingliederungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer sind keine Pflichtleistung mehr oder ganz gestrichen und können ihre vormals gute Wirkung nicht mehr entfalten. Das war und ist unverantwortlich. Hier muss endlich umgesteuert werden und der Gleichklang aus Fördern und Fordern wiederhergestellt werden. Vor dem Hintergrund der derzeit noch über 1,2 Millionen Langzeitarbeitslosen müssen die staatlichen Anstrengungen verstärkt werden. Gerade für diese Zielgruppe ist das wichtig. Fakt ist: Derzeit reichen die Anstrengungen nicht aus. Wir dürfen das Ziel, dass die Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können, nicht aus den Augen verlieren. Das muss aber auch von beiden Seiten gewollt und ermöglicht werden. Arbeitsuchende, die sich aktiv daran beteiligen, ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden, müssen auch aktiv unterstützt werden. Vorsätzliche Verweigerung wiederholter Art und die Nichtannahme von geeigneten Angeboten müssen jedoch sanktioniert werden können. Das Sanktionssystem ganz abzuschaffen, würden wir darum nicht mittragen können. Auch ein Moratorium fände nicht unsere Zustimmung. Jede Sanktion, die mit Repressionen einhergeht, lehnen wir aber ab. Darum bedarf das Sanktionssystem einer Überarbeitung. Die Sanktionsdauer von drei Monaten ist zum Beispiel viel zu starr. Das Sanktionssystem muss an einigen Stellen flexibler werden. Denn bei Eintritt der gewünschten Verhaltensänderung beim sanktionierten Arbeitssuchenden muss auch die Möglichkeit bestehen, die verhängte Sanktion umgehend aufheben zu können, damit positive Effekte erzielt werden können und es nicht ins Gegenteil umschlägt. Ferner gehört das verschärfte Sanktionssystem für junge Menschen unter 25 Jahren abgeschafft; das ist unser klares Votum. Für dieses verschärfte System gibt es weder pädagogische noch fachliche Gründe. Es steht auch im klaren Widerspruch zu anderen Rechtssystemen, wie zum Beispiel dem Jugendstrafrecht, das aus pädagogischen Gründen weichere Strafen für Jugendliche vorsieht. Die jungen Erwachsenen müssen für die Mitwirkung gewonnen und hierzu motiviert werden. Dazu bedarf es eben größerer Anstrengungen in der Arbeitsmarktpolitik. Schwarz-Gelb rennt aber sehenden Auges in die falsche Richtung. Das ist jedoch leider nichts Neues. Der uns vorliegende Antrag zielt zwar auf ein gewichtiges Thema ab, zieht jedoch die falschen Schlüsse. Einer sanktionsfreien Grundsicherung stimmen wir nicht zu. Wir stehen zu dem von uns mit eingeführten Gleichklang des Förderns und Forderns und den daraus erwachsenden Rechten und Pflichten - das gehört zusammen. Das gilt übrigens auch für andere gesellschaftliche Bereiche.

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der ein Moratorium für die Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Kraft setzt. Diese von der Fraktion Die Linke angestrebte gesetzliche Regelung zur Aussetzung der Sanktionen soll den ersten Schritt zur - wie es im Antrag heißt - „Abschaffung des Hartz-IV-Sanktionssystems“ markieren. Wie die Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt hat, wurden im Kalenderjahr 2012 rund 1 024 600 Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen leistungsberechtigten Personen ausgesprochen. Im Vergleich zum Kalenderjahr 2011 entspricht dies einer Steigerung von circa 11 Prozent. Die Sanktionen wurden in der überwiegenZu Protokoll gegebene Reden den Zahl wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen - circa 705 000 -, was einem Anteil an der Gesamtzahl der Sanktionen von rund 70 Prozent gleichkommt. Rund 13 Prozent der Sanktionen waren in Ablehnungen einer Beschäftigung ({0}) begründet sowie 14 Prozent wegen Nichteinhaltung der in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarten Pflichten. Die Zahl von 1 024 600 mag zunächst sehr hoch erscheinen - dementsprechend titelten auch die Vertreter der Printmedien zum Beispiel „Sanktionen für Hartz-IVEmpfänger erreichen Rekordwert“ wie „Die Zeit“ oder auch „Rekordstand bei Hartz-IV-Sanktionen” wie der „Stern“: Tatsächlich muss dieser „Rekordwert“ sehr differenziert betrachtet werden: Im Durchschnitt des Kalenderjahres 2012 wurden gegenüber rund 150 300 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten Sanktionen ausgesprochen. Das entspricht einem Anteil von lediglich 3,4 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Sowohl dieser geringe Anteil als auch der Anteil der Sanktionen wegen Meldeversäumnissen zeigt auf, dass es keine ausgeprägte Neigung der Arbeitsuchenden gibt, vorgeschlagene Arbeit abzulehnen. BA-Vorstand Heinrich Alt hat sehr treffend dargestellt, dass eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und eine höhere Betreuungsintensität in den Jobcentern sich auf die Zunahme der ausgesprochenen Sanktionen ausgewirkt haben: Wenn mehr Arbeitsangebote gemacht und mehr Beratungstermine anberaumt werden, erfolgen auch mehr Meldeversäumnisse. Es bleibt - wie schon erläutert - dabei: Der geringe Sanktionsanteil von 3,4 Prozent dokumentiert, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitsuchenden - über 96 Prozent! - die rechtlichen Vorgaben einhält und dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern nicht leichtfertig mit Sanktionsmaßnahmen umgehen. Das ist für uns Liberale der richtige Weg. Wer in eine Notsituation geraten ist, muss sich auf solidarische Unterstützung verlassen können. Solidarität beruht aber immer auf Gegenseitigkeit. Die Linke fordert in ihrem Antrag jedoch eine Aufhebung des Solidarprinzips, indem die Unterstützung in jedem Fall in voller Höhe erfolgen muss - unabhängig davon,ob eine leistungsberechtigte Person sich an die rechtlichen Vorgaben hält oder nicht. Diese Forderung lehnen wir ab. Insofern werden wir von der FDP-Fraktion auch den Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen.

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit großem Erstaunen haben wir das Märchen von Jürgen Trittin zur Kenntnis genommen, dass die Grünen schon immer für einen Mindestlohn gewesen sein wollen. Sie konnten ihn damals unter der Schröder/ Fischer-Regierung aber aufgrund der Blockadehaltung der SPD nie durchsetzen. Diese Märchen hat sich als Lüge herausgestellt. Mit großem Erstaunen nehmen wir nun zur Kenntnis, dass die Grünen ein weiteres Märchen erfinden. Sie sind für ein Moratorium der Hartz-IV-Sanktionen und versuchen so, gerade noch rechtzeitig vor dem Wahlkampf den Eindruck zu erwecken, sie seien gegen die Hartz-IV-Sanktionierungen. Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt erkennen in „Die Zeit“ vom 13. März 2013: Der deutsche Sozialstaat wurde im Bewusstsein der Menschen zu einer Disziplinierungsmaschine. Das ist ja schon einmal was. Sie fahren fort: „Das Gefühl, von sozialem Abstieg bedroht zu sein, reicht heute bis weit in die gut gebildete Mittelschicht.“ Als Konsequenz daraus fordern sie ein Moratorium für die Hartz-IV-Sanktionen. Das fordert Die Linke ebenso. Aber wir gehen weiter und fordern das als ersten Schritt der Überwindung der Hartz-IV-Sanktionen. Wenn Sie schon feststellen, dass der Wahlkampf naht, ziehen Sie die richtigen Konsequenzen, stimmen Sie der Forderung der Linken zu, und stimmen Sie gegen die menschenverachtende Sanktionierungsmaschine von Hartz IV! Bekennen Sie endlich einmal Farbe, und sagen Sie, wie Sie es mit Hartz-IV-Sanktionen und Hartz IV in Wirklichkeit halten! Wie wollen Sie sich im Übrigen nach der Wahl verhalten? Sie führen Seite an Seite mit der SPD Ihren Bundestagswahlkampf. Was ist denn von den Lagerparteien SPD und Grüne nach der Wahl zum Thema Hartz IV zu erwarten? Die SPD kann sich ja nicht einmal zu einem Moratorium der Hartz-IV-Sanktionierung durchringen. Setzen Sie sich, liebe Grüne, nach der Bundestagswahl für die Menschen ein, die unter diesem Hartz-System leiden, oder geben Sie ihre Haltung zur Hartz-IV-Sanktionierung nach der Wahl wieder einfach auf? Gerade vorletzte Woche verstarb in Reinickendorf in einer Wärmestube eine 67-jährige schwerbehinderte Frau wenige Tage nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung. Die Zwangsräumung war juristisch durch die von Ihnen damals eingeführte Hartz-Gesetzgebung gedeckt, da die Frau Mietrückstände hatte; aber wo bleibt der Mensch? Gestehen Sie sich bitte Ihre Fehler ein, die Sie damals mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze begangen haben, und streiten Sie an der Seite der Linken und der Menschen wieder für deren Abschaffung! Durch die Hartz-IV-Gesetzgebung werden Menschen zu Menschen dritter Klasse degradiert. Gesetze sollen für Menschen sein, nicht gegen sie. Selbst Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, konstatierte kürzlich: „Nur Lebenskünstler können von Hartz IV leben.“ Am Montag dieser Woche wurde Inge Hannemann, eine Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit in Hamburg, bis auf Widerruf freigestellt, weil sie sich weigerte, den Sanktionswahn der ARGE durchzupeitschen. In ihrem Brandbrief an die Bundesagentur für Arbeit stellt sie die Frage: „Wie viele Tote, GeschäZu Protokoll gegebene Reden digte und geschändete Hartz-IV-Bezieher wollen Sie noch auf Ihr Konto laden? Wie viele Dauerkranke, frustrierte und von subtiler Gehirnwäsche geprägte Mitarbeiter wollen Sie in Ihrem Konstrukt ‚Jobcentermaschine‘ durchschleusen?“ Diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten Sie sich alle in diesem Haus stellen, wenn Sie über unseren Antrag abstimmen. Belassen Sie es nicht bei Ihren Wahlkampf-Märchen, sondern entscheiden Sie sich endlich, Politik für die Menschen zu machen! Bekennen Sie Farbe, und stimmen Sie unserem Antrag „Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen als erster Schritt zu deren Überwindung“ zu!

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir Grünen fordern seit langem ein Sanktionsmoratorium. Die geltenden Sanktionsregeln sind undifferenziert, unflexibel und wirken oft kontraproduktiv. Insbesondere das verschärfte Sanktionsrecht für unter 25-Jährige gehört sofort abgeschafft. Für junge Menschen gelten derzeit viel härtere Regeln als für ältere Arbeitsuchende. Das ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich: Das führt Jugendliche ins Aus statt in Arbeit. Wir stellen fest: Die versprochene Balance zwischen Fördern und Fordern gibt es nicht. Unter Bundesministerin von der Leyen wurden die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik überproportional stark gekürzt. Zeitgleich sind die Zahlen der Sanktionen auf ein Rekordhoch gestiegen. Von einem Verhältnis auf Augenhöhe zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern kann unter diesen Bedingungen keine Rede sein. Im Jahresdurchschnitt 2012 waren monatlich 150 300 Menschen von Sanktionen betroffen. Gegenüber dem Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von 11 Prozent. 70 Prozent der Sanktionen wurden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen. In Niedersachsen, wo ich herkomme, ist die Anzahl der verhängten Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger 2012 sogar um 19 Prozent gegenüber 2011 und um 56 Prozent gegenüber 2009 gestiegen. Auch deshalb macht sich die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens ebenfalls für ein Sanktionsmoratorium stark und hat eine entsprechende Bundesratsinitiative angekündigt. Die gestiegene Anzahl an Sanktionen ist auch deshalb besonders bedenklich, weil davon häufig auch Angehörige betroffen sind, die gar keine Pflichtverletzung begangen haben. Die enorme Zunahme bei den Sanktionen liegt vor allem im System begründet und hat nur selten etwas mit Missbrauch zu tun. Arbeitsuchende brauchen eine passgenaue Unterstützung. Dazu gehören gute Betreuung, Beratung und Qualifizierungsangebote. Motivation und Bestärkung sollten im Mittelpunkt stehen; bürokratische Zumutungen und Gängelungen müssen endlich fairen Spielregeln weichen. Die persönlichen Ansprechpartner in den Jobcentern müssen in die Lage versetzt werden, einen nachhaltigen und auf die individuellen Stärken und Schwächen der Arbeitslosen abgestimmten Plan zu entwickeln, der die Menschen wieder in Arbeit bringen kann. Dies muss partnerschaftlich und auf Basis eines Vertrauensverhältnisses geschehen. In diesem Prozess haben weder Scheinangebote zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft noch Sanktionsandrohungen und -automatismen Platz. Was wir brauchen, ist ein qualifiziertes, individuelles und umfassendes Fallmanagement. Arbeitsuchende müssen die Möglichkeit haben, aus verschiedenen Maßnahmen ein passgenaues Angebot auszuwählen. All das ist im Moment leider nicht gewährleistet. Daher fordern wir Grünen, die Rechte der Arbeitslosen zu stärken. Auch die verstärkten Zumutbarkeitsregeln müssen korrigiert werden. Insbesondere für junge Menschen unter 25 Jahren sind Regelungen notwendig, die ihrer Entwicklung gerecht werden und nicht zu starr sind. Dafür brauchen wir gut ausgestattete Jobcenter mit einem besseren Fallmanagement und unabhängige Ombudsstellen, die bei Konflikten vermitteln. Die hohen Erfolgsquoten von Widersprüchen und Klagen gegen Jobcenterentscheide zeigen, dass hier ein enormes Verbesserungspotenzial liegt. Es gibt bereits Jobcenter, die mit Ombudsstellen gute Erfolge erzielen; daraus kann ein Erfolgsmodell für alle entstehen. Ein Sanktionsmoratorium ist also ein notwendiger Schritt, bis die Rechte der Arbeitsuchenden nachhaltig und umfassend gestärkt worden sind und die Arbeitsbedingungen und die Ausstattung in den Jobcentern stimmen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Dieser Tage geht der Euphorietaumel um. Bejubelt wird die Agenda 2010. Bundespräsident Joachim Gauck lobt Altkanzler Gerhard Schröder für „bleibende Verdienste“ und findet „die Balance von Fördern und Fordern in der Sozialpolitik sehr wichtig“. Denn: „Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir zu wenig von uns verlangen.“ Der Grundsatz, von dem die Rede ist, lautet „Fördern und Fordern“. Er ist oberstes Prinzip der Hartz-IV-Leistungsvergabe und bedeutet: keine Leistung ohne Gegenleistung. Die Befürworter der Agenda 2010 vergessen einen anderen Grundsatz. Er ist oberstes Prinzip unserer Verfassung und lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Prinzip des „Förderns und Forderns“ kann für die Garantie des Existenzminimums keine Geltung beanspruchen. In einem Sozialstaat ist es verfassungsrechtlich ausgeschlossen, die Existenz nur denjenigen zuzugestehen, die im Gegenzug gehorchen. Das ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit seiner Entscheidung zu Hartz IV hat das Gericht ein Grundrecht auf ein Minimum staatlicher Leistung geschaffen: das Existenzminimum. Es umfasst den unbedingt notwendigen Bedarf des Einzelnen zum physischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaftZu Protokoll gegebene Reden lichen, kulturellen und politischen Leben. Das Existenzminimum muss in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Dieses Verständnis der Menschenwürdegarantie respektiert die Bundesregierung jedoch nicht. „Eine Person, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung der Gemeinschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen“, begründet die Regierungskoalition die Leistungskürzungen bei Hartz IV. „Wiederholte Verstöße gegen die Selbsthilfeobliegenheit führen daher folgerichtig zu verstärkten Sanktionen“, schreibt die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage. Über 1 Million dieser Sanktionen verhängten die Jobcenter in den vergangenen zwölf Monaten, mehr als je zuvor. Über 10 000 Leistungsberechtigte waren im Jahresdurchschnitt 2011 „vollsanktioniert“, ihnen wurde im Sanktionszeitraum kein einziger Euro ausgezahlt. Obwohl sie bedürftig sind. Obwohl sie vielleicht von Obdachlosigkeit bedroht sind oder hungern. Aus einem einzigen Grund: weil sie nicht gehorchen. Das ist gerecht, könnte man meinen, wer - noch - einen Job hat, arbeitet schließlich auch für sein Geld. Es überlebt nur, wer etwas dafür tut. Das ist die Gerechtigkeit einer Leistungsgesellschaft. Doch es gibt einen Haken. Denn es gibt noch eine andere Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit des Sozialstaats. Sie geht von der gleichen Würde aller Menschen aus. Gleich, ob sie stark sind oder schwach. Bereits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt es: „Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.“ Im Unterschied zur freien Konkurrenz aller gegen alle sind die Menschenwürde und der Sozialstaat auf ewig im Grundgesetz niedergeschrieben. Sie markieren die Grenze, die in Deutschland nie wieder überschritten werden darf. Jedes politische und wirtschaftliche System muss diese Werte achten. Das kann man begrüßen oder ablehnen, ändern kann man es nicht. Weder das „Volk“ noch eine Regierung. Auch der Einzelne kann auf seine Menschenwürde nicht verzichten. Die Würde des Menschen kann auch durch die Nichterbringung staatlicher Leistungen verletzt werden. Wenn die Menschenwürde des Besitzenden und des Besitzlosen gleich wiegen, kommt es nicht darauf an, ob dem einen sein Brot genommen oder dem anderen keines gegeben wird. In beiden Fällen hungert ein Mensch. Der Philosoph Ernst Bloch hat vom „aufrechten Gang“ gesprochen. Aufrecht gehen kann der Mensch nur, wenn er sowohl von Entrechtung und Bevormundung als auch von Not und Elend frei ist. Unser Grundgesetz nennt es die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz evident unzureichend sind. Danach offenbart „ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch … ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz“. Entsprechendes muss auch für die Sanktionen bei Hartz IV gelten. Für die Höhe der staatlichen Leistung muss der Bedarf eines Menschen entscheidend sein. Ihn auszurechnen und zu garantieren, ist Sache des Gesetzgebers; ihn zu beschneiden, nicht. Das Existenzminimum muss bei gleichem Bedarf stets gleichermaßen gewährt werden. Der notwendige Bedarf sinkt nicht dadurch, dass jemand eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Er sinkt auch nicht, wenn jemand sich nicht regelkonform verhält. Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“. Sie ist auch arbeitsmarktpolitisch nicht zu relativieren. Nicht nur fleißige Arbeitslose, die täglich Bewerbungen schreiben und jede unterbezahlte Arbeit annehmen, haben das Recht auf eine menschenwürdige Existenz, sondern auch Menschen, die sich der Zusammenarbeit mit den Behörden entziehen, Personen ohne Aufenthaltstitel oder Strafgefangene. Ebenso, wie sie beispielsweise ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben. Solange eine staatliche Leistung „freiwillig“ erbracht wird, ist das Prinzip des „Förderns und Forderns“ eine Frage der politischen Beliebigkeit. Doch im Bereich der unantastbaren Menschenwürde hat es nichts zu suchen; denn dort besteht eine unbedingte staatliche Leistungspflicht. Das Prinzip der Bundesregierung „Tausche Gehorsam gegen Existenz“ ist verfassungswidrig. Soziale Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Die Abhängigkeit eines Menschenrechts von Bedingungen bedeutet in Wirklichkeit seine Einschränkung. Menschenrechte stehen jedoch nicht im Ermessen einer Regierung oder eines Sachbearbeiters im Jobcenter. Ein Sanktionsmoratorium, wie hier von der Linken gefordert, ist eine Minimalforderung. Die §§ 31 ff. SGB II gehören abgeschafft. Doch die Mehrheit im Bundestag befürwortet weiterhin den Verfassungsbruch. Wieder einmal wird es das Bundesverfassungsgericht sein, das irgendwann einschreitet. Bis dahin werden weiter Sanktionen verhängt, die Menschen in noch mehr Not und Armut stürzen. Bis dahin wird die Menschenwürde tagtäglich verletzt. Wir könnten dem Einhalt gebieten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13130 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann verfahren wir so. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Dr. Konstantin von Notz, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem ({0}) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ({1}) 2. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Registrierprogramm für Reisende({2}) 3. zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung ({3}) Nr. 562/ 2006 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/ Ausreisesystems ({4}) und des Programms für registrierte Reisende ({5})({6}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Smart-Borders-Paket ablehnen - Drucksache 17/13236 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({7})Auswärtiger AusschussAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union ist eine der wichtigsten politischen, aber auch faktischen Aufgaben zum Erhalt des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Erst durch ihn wird ein Wegfall der Binnengrenzen möglich. Gemäß Art. 77 Abs. 1 AEUV ist durch die Europäische Union eine Politik zu entwickeln, die schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an den Grenzen einführt und die eine Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sicherstellt. Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß Art. 77 Abs. 2 AEUV Maßnahmen erlassen, die die gemeinsame Politik in Bezug auf Visa und andere kurzfristige Aufenthaltstitel und die Kontrollen, denen Personen beim Überschreiten der Außengrenzen unterzogen werden, betreffen. Auch können Maßnahmen zur schrittweisen Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems an den Außengrenzen getroffen werden. Gestützt auf die vorgenannten Rechtsgrundlagen hat die Europäische Kommission am 28. Februar 2013 unter dem Titel „Smart Borders“ ein ganzes Bündel an Maßnahmen für den besseren Schutz der Außengrenzen der EU vorgestellt. Die vorgestellten Verordnungsentwürfe sollen den Einsatz von neuen Technologien an den EU-Außengrenzen befördern und Bürgerinnen und Bürgern aus Drittländern, die in die EU einreisen wollen, einen reibungsloseren und rascheren Grenzübertritt ermöglichen. Zugleich soll durch die Einführung der neuen Technologien auch eine Verbesserung der Sicherheit erreicht werden. Irreguläre Grenzübertritte sollen verhindert und Überschreitungen der zulässigen Aufenthaltsdauer in der EU schneller aufgedeckt werden. Hierfür gibt es ausweislich der von der EU-Kommission vorgestellten Zahlen auch einen erheblichen Bedarf. Vorsichtigen Schätzungen zufolge liegt die Zahl der irregulären Zuwanderer in die EU zwischen 1,9 und 3,8 Millionen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der irregulären Zuwanderer sogenannte Overstayer sind, also Personen, die für einen Kurzaufenthalt legal - erforderlichenfalls mit einem gültigen Visum - in die Europäische Union eingereist sind, dann jedoch nach Ablauf der zulässigen Aufenthaltsdauer nicht wieder ausgereist sind. Die Gesamtzahl der aufgegriffenen irregulären Zuwanderer belief sich in der EU für das Jahr 2010 auf 505 220 Menschen. Der überwiegende Teil der Overstayer wird somit in den Mitgliedstaaten derzeit nicht aufgegriffen. Es ist daher zu begrüßen, dass die Europäische Kommission sich des Themas der illegalen Zuwanderung und der Verbesserungen der Grenzkontrollen annimmt und versucht, angemessene Lösungen zu finden. Sie folgt damit im Übrigen nicht nur den Zielsetzungen des Stockholmer Programms, sondern auch dem ausdrücklichen Wunsch des Europäischen Rates vom 23. und 24. Juni 2011, der sich für „intelligente Grenzen“ in Europa ausgesprochen hatte. Für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem eingebrachten Antrag geforderte Blockadehaltung der Bundesregierung gegenüber dem Maßnahmenpaket besteht somit aus meiner Sicht kein Anlass. Das Gegenteil ist der Fall. Das Thema der illegalen Zuwanderung kann man nicht einfach ignorieren oder bagatellisieren, sondern wir müssen uns auf europäischer Ebene sowohl Gedanken zu den erforderlichen Rechtsgrundlagen als auch Gedanken zur technischen Umsetzung für einen besseren Grenzschutz machen. Mit der Übernahme des „Schengen-Besitzstandes“ in das Gemeinschaftsrecht und dem Erlass mehrerer gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte im Bereich der Visapolitik hat der europäische Gesetzgeber von den ihm zugewiesenen Kompetenzen hierzu bereits umfassend Gebrauch gemacht. Hervorzuheben sind hierbei Stephan Mayer ({0}) insbesondere das Visainformationssystem und der Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt sowie die im Jahr 2011 verabschiedete Verordnung über einen Visakodex. Die vorgestellten Verordnungsentwürfe schließen sich nun unmittelbar an die bisher bereits verabschiedeten Maßnahmen in diesen Bereichen an. Ebenso wie die bereits existierenden Maßnahmen schlagen auch sie den Weg hin zu mehr Mobilität und Sicherheit ein. Ich darf daher für meine Fraktion sagen, dass wir das vorgelegte Maßnahmenpaket grundsätzlich begrüßen. Allerdings könnte man sich durchaus an der einen oder anderen Stelle auch weiter reichende Regelungen vorstellen. Neben dem von der EU-Kommission vorgesehenen Einreise-/Ausreisesystem und dem Registrierprogramm für Reisende könnte die vorgestellte Initiative noch um zwei weitere Komponenten erweitert werden. Zum einen könnten die Grenzkontrollen insgesamt auf ein automatisches System umgestellt werden, welches dann auch nicht nur Drittstaatsangehörige, sondern auch Unionsbürger erfasst. Zum anderen haben die Erfahrungen der USA mit dem neuen elektronischen Reisegenehmigungssystem gezeigt, dass dieses erhebliche Vorteile bei der Sicherheitsüberprüfung einzelner Personen haben kann. Es wäre somit zu diskutieren, ob die Einführung eines vergleichbaren Systems auch für die Europäische Union von Vorteil wäre. Angesichts des zunehmenden Wegfalls von einzelnen Visabestimmungen könnte es insofern zumindest einen Teilausgleich hierfür bieten. Unabhängig von einer möglichen Erweiterung der vorgeschlagenen Komponenten stellen sich aber auch Fragen zur technischen und datenschutzrechtlichen Umsetzung der bereits in den Verordnungen angelegten Maßnahmen. Warum sollte das EES nicht bereits von Beginn an auch auf biometrische Daten zugreifen? Entsprechende technische Systeme sind bereits entwickelt und beispielsweise bei der Einreise nach Großbritannien im Einsatz. Sicherlich wird es den einen oder anderen Mitgliedstaat geben, der vor entsprechenden Investitionen derzeit noch zurückschreckt, aber letztlich werden die sich ständig weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten einen solchen Schritt sowieso erfordern. Auch Fragen der Zugriffsrechte und des Datenschutzes auf die im Einreise- und Ausreisesystem gespeicherten Daten sind im parlamentarischen Verfahren noch zu diskutieren. Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vertretene Auffassung, dass es sich bei der Speicherung von Daten von Drittstaatsangehörigen um eine anlasslose Speicherung von personenbezogenen Daten handle, vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Schließlich erfolgt die Überprüfung und Speicherung der personenbezogenen Daten eben sehr wohl anlassbezogen. Anlass ist die Ein- bzw. Ausreise aus der Europäischen Union. Auch bisher werden bei Grenzübertritten entsprechende personenbezogene Daten erhoben und auf ihre Korrektheit hin überprüft. Darüber hinaus erfolgt die Teilnahme am Registrierprogramm ausdrücklich freiwillig. Aus datenschutzrechtlicher Sicht wird aber in der Tat zu prüfen sein, wie sich die geplanten neuen Datenbanken zu bereits existierenden Datenbanken mit personenbezogenen Daten von Ein- und Ausreisenden verhalten. Mögliche Synergieeffekte sollten gehoben und Doppelerhebungen und -speicherungen vermieden werden. Beim geplanten Registrierprogramm für Reisende stellen sich aber auch einige technische Fragen, die es noch im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zu klären gilt. Insbesondere der Mehrwert der Ausgabe eines Tokens sollte aus meiner Sicht noch einmal hinterfragt werden. Zur Verifizierung der Identität der registrierten Reisenden könnte auch ausschließlich auf einen vorhandenen E-Pass zurückgegriffen werden. Dies hätte zudem den Vorteil, dass eine zentrale Speicherung von biometrischen Merkmalen entfallen könnte. Ein sicherlich aus datenschutzrechtlicher Sicht wünschenswertes Szenario. Generell gilt für die Umsetzung des Registrierprogramms für Reisende, dass auf zusätzliche manuelle Dateneingaben so weit wie möglich verzichtet werden sollte, um die Grenzkontrollprozesse nicht zu verzögern. Schließlich soll auch nach der Einführung der neuen Systeme eine schnelle und zuverlässige Ein- und Ausreise in die Europäische Union möglich sein. Sie merken, es gibt noch viele offene Fragen und Themen, die ausführlich diskutiert werden sollten, bevor das Smart-Borders-Paket auch tatsächlich in Kraft treten kann. Wir stehen somit erst am Anfang des Diskussionsprozesses. Es ist daher auch nicht verwerflich, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 20. März 2013 darauf hinweist, dass sie noch keine abschließende Position zu den Vorschlägen der EU-Kommission erarbeitet hat. Im Gegenteil, dies zeugt nur von einer sehr sorgfältigen Prüfung des vorgeschlagenen Maßnahmenpakets, und dies ist mit Sicherheit im Interesse aller Beteiligter. Es gilt somit, in den nächsten Monaten offen und in konstruktiver Art und Weise über die aufgezeigten Fragen zu diskutieren. Die entsprechende Ratsarbeitsgruppe hat ihre Arbeit Anfang April aufgenommen, und ich bin zuversichtlich, dass sie zügig arbeiten wird. Viele andere Mitgliedstaaten haben sich bereits bei einem ersten Termin grundsätzlich für eine weitere Verbesserung der Grenzkontrollen und der eingesetzten Technologien und Systeme ausgesprochen. Eine schlichte Ablehnung der Vorschläge der EUKommission, so wie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Antrag gewünscht, kommt daher für uns nicht in Betracht. Zu Protokoll gegebene Reden Stephan Mayer ({1}) Aus populistischen Gründen mag so etwas zwar opportun sein. Einschlägige Webseiten von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die bildlich auf Grenzbefestigungen eintreten, entsprechen aber mit Sicherheit nicht verantwortungsvoller europäischer Innen- und Rechtspolitik und auch nicht einem demokratischen Miteinander. Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag darf daher aus meiner Sicht keine Unterstützung in diesem Hohen Hause finden.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten einen Antrag unserer Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der das Thema Smart Borders - intelligente Grenzen zum Inhalt hat. Was kann man sich darunter vorstellen? Die Europäische Kommission hat Ende Februar dieses Jahres ein Verordnungspaket vorgelegt, das sowohl eine Verordnung über ein EU-Registrierungsprogramm für Reisende als auch eine Verordnung über ein Einreise-/Ausreisesystem der EU und eine entsprechende Anpassung des Schengener Grenzkodexes enthält. Mit dem Registrierungsprogramm für Reisende soll vorher sicherheitsüberprüften Vielreisenden aus Drittländern die Einreise in die EU durch vereinfachte Grenzkontrollen erleichtert werden. Dabei werden an wichtigen Grenzübergängen automatische Grenzkontrollsysteme eingesetzt. Diese ermöglichen eine schnellere Abfertigung der vorher registrierten Reisenden, insbesondere von Geschäftsreisenden, Studierenden oder Menschen mit Verwandten in der EU. Mit dem zweiten Verordnungsvorschlag, dem Einreise- und Ausreisesystem, sollen Einreise und Ausreise von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außengrenzen erfasst werden. Zusätzlich dazu soll eine Datenbank eingerichtet werden, die Zeit und Ort der Ein- und Ausreise dokumentiert. Dann wird die zulässige Dauer des Kurzaufenthalts automatisch berechnet. Die lokalen Sicherheitsbehörden werden gewarnt, wenn nach Ablauf der zulässigen Frist noch keine Ausreise erfolgt ist. Das bisherige System mit Stempeln in Pässen soll damit ersetzt werden. Das System der intelligenten Grenzen soll 2017/2018 in Betrieb gehen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiert in dem vorliegenden Antrag die Verordnungsvorschläge und fordert die Bundesregierung auf, sich bei den Verhandlungen dafür einzusetzen, dass alle drei Verordnungen abgelehnt werden. Grundsätzlich ist ein Entry-Exit-System gerechtfertigt. Die Reisebewegungen in die Europäische Union werden sich erhöhen; insofern ist es auch nachvollziehbar, dass darauf reagiert wird. Das Einreisesystem für Vielreisende zu vereinfachen, ist ein begrüßenswerter Vorschlag. Reiseerleichterungen begründen auch wirtschaftliche Vorteile. Ich kann die datenschutzrechtlichen Bedenken meiner Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen durchaus nachvollziehen. Ob es tatsächlich so kommt, wie erwartet, werden wir sehen. Die geplante Speicherung von Fluggastdaten, die in der Konferenz der Innen- und Justizminister so sehr begrüßt wurde, ist schließlich gestern im Innenausschuss des Europäischen Parlaments abgelehnt worden. Hier konnte ein Sieg für die Bürgerrechte errungen werden. Die Datenschutzfragen im vorliegenden Fall sind im weiteren Verfahren sehr genau zu prüfen. Wenn Nachbesserungsbedarf besteht, müssen entsprechende Änderungen erfolgen. Eine starke Demokratie fußt auf klaren Werten - nicht auf totaler Überwachung.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das geplante EES soll bei Kurzaufenthalten von Drittstaatsangehörigen die automatisierte Überwachung der zulässigen Aufenthaltsdauer erleichtern, die manuelle Stempelung der Reisepässe ersetzen und automatisierte Grenzkontrollverfahren für bestimmte Drittstaatsangehörige ermöglichen, über die Erfassung von Fingerabdruckdaten bei der Einreise zur Identifizierung von Personen beitragen, die die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen, und zwar insbesondere dann, wenn die Betroffenen nicht im Besitz ihrer Reisedokumente oder sonstiger Ausweispapiere sind, sowie die statistische Analyse der Ein- und Ausreise erleichtern und somit eine zusätzliche Informationsbasis für die Visumpolitik schaffen. Das Registrierungsprogramm, RTP, richtet sich an Drittstaatsangehörige, die häufig in den SchengenRaum reisen. Diese Vielreisenden sollen die Möglichkeit erhalten, sich nach einer Vorabkontrolle zentral registrieren zu lassen, um sodann für einen festgelegten Zeitraum von erleichterten Grenzkontrollen - insbesondere auch unter Nutzung zeitsparender automatisierter Grenzkontrollverfahren - an den SchengenAußengrenzen profitieren zu können. Die Teilnahme an dem Registrierungsprogramm ist freiwillig. Zu den Folgeänderungen im Schengener Grenzkodex gehören insbesondere die Aufhebung der Pflicht zur manuellen Stempelung der Reisepässe sowie die Einführung von Erleichterungen bei der Kontrolle von registrierten Reisenden. Der Vorschlag der EU-Kommission sieht für dieses Regelungspaket beim Fonds für die innere Sicherheit eine Gesamtfinanzausstattung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro vor. Die konkrete Ausgestaltung hinsichtlich des weiteren Umsetzungsbedarfs der drei Verordnungsvorschläge wird daher noch vertieft zu prüfen sein. Sämtliche Bewertungen sowie Stellungnahmen stehen im Übrigen unter nationalem Haushaltsvorbehalt. Perspektivisch sollten sämtliche fachlichen ZugeständZu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) nisse Deutschlands stets nur mit der Maßgabe einer haushaltsneutralen Umsetzung auf nationaler Ebene in Aussicht gestellt werden. Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundestagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischer Daten im Pass, im Personalausweis und an anderen Stellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sich um sehr sensible Daten. Deshalb nehmen wir die Kritik des Datenschutzbeauftragten ernst. Die FDP setzt sich dafür ein, dass mit Daten sorgfältig verfahren wird und sie nur zu unumgänglichen Zwecken oder wünschenswerten Erleichterungen für die Betroffenen genutzt werden. Das neue System soll den Reiseverkehr beschleunigen. Dieses Ziel unterstützen wir. So haben wir in der schwarz-gelben Koalition die Visa-Warndatei auch insbesondere unter diesem Aspekt geschaffen. Wir möchten auch, dass überprüft wird, ob die Visa-Warndatei dieses Versprechen hält. Ob aber die Verordnungsvorschläge überhaupt zur Beschleunigung geeignet sein können, muss noch bewiesen werden. Gleichzeitig muss man fragen, wie das Verhältnis der Verordnungsvorschläge zu nationalen Regelungen ist. Datenschutz bedeutet auch, dass Mehrfachspeicherungen vermieden werden müssen. Die Überlegung, auch feststellen zu wollen, wann jemand ausreist, möchte ich nicht gleich von der Hand weisen: Wir wissen, dass es Leute gibt, die mit einem Visum in den Schengen-Raum kommen, aber nie wieder ausreisen oder verspätet ausreisen. Es ist nachvollziehbar, dass die Nationalstaaten auch im Schengen-Raum darüber Bescheid wissen sollten. Ob die Vorschläge der Kommission dabei helfen können, muss geprüft werden. Aber natürlich muss vermieden werden, dass jeder, der nach Europa kommt, unter den Verdacht gestellt wird, diesen Umstand auszunutzen, um einfach hierzubleiben. Europa muss sich weltoffen zeigen. Abschottung hilft nicht weiter.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die EU-Kommission hat in diesem Jahr ihr sogenanntes Smart Border Package vorgelegt, mit dem die Rechtsgrundlage für zwei neue Datenerfassungssysteme an den EU-Außengrenzen geschaffen werden soll. Sie folgt mit diesen Vorschlägen dem Konzept der „intelligenten Grenzen“. Doch dieser Begriff ist nichts als eine Beschönigung. Es geht um die totale Erfassung aller Daten von Reisenden in die EU, den Zugang von Strafverfolgungsbehörden auf diese Daten und nicht zuletzt um 1,1 Milliarden Euro, die auf diesem Wege in die Taschen der Konzerne strömen. Es sind die gleichen Konzerne, die die EU-Staaten auch mit allen möglichen anderen Technologien zur Grenzüberwachung beliefern: Die großen Rüstungskonzerne EADS, BAE, Thaies, IAI verdienen sowohl an der Hochrüstung der Grenzuberwachung mit Hubschraubern, Schiffen und Drohnen als auch an der automatisierten Ein-und Ausreisekontrolle. Diesen beiden Vorschlägen ging im letzten Jahr der Vorschlag für ein EU-System zur Erfassung von Flugpassagierdaten von Reisenden in die EU voraus, das EU-PNR. Die Europäische Union nähert sich damit der schlechten Utopie einer totalen Überwachung von Drittstaatsangehörigen in der EU. Die beiden aktuellen Vorschläge setzen die Erfassung biometrischer Daten der Reisenden voraus. Im Entry Exit System EES sollen nach dem Vorschlag der EU-Kommission zunächst nur die Daten aus dem Reisepass, die biometrischen Daten erst nach einer Übergangsphase von drei Jahren erfasst werden. Dann müssen alle Reisenden beim Grenzübertritt ihre Fingerabdrücke hinterlassen, um bei der Ausreise ihre Identität bestätigen zu können. Daneben schlägt die Kommission vor, nach einer Evaluation nach zwei Jahren zu prüfen, ob auch Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf diese Daten erhalten sollen. Die Bundesregierung im Verein mit einer Reihe anderer EU-Staaten drängt bei den Verhandlungen im EU-Rat darauf, die Fingerabdruckdaten sofort zu erfassen und den Strafverfolgungsbehörden den Zugriff zu geben. Neben dem Visa-Informationssystem und dem Fingerabdrucksystem für Asylsuchende EuroDAC wäre das EES das dritte Datensystem, mit dem auf EU-Ebene massenhaft biometrische Daten von Drittstaatsangehörigen gesammelt und den Behörden zugänglich gemacht werden sollen. Auch wenn es aus der Kommission und aus dem Europaparlament Widerstand gegen diese Pläne gibt: Wo Daten in solcher Menge vorhanden sind, wachsen die Begehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden. Nach den bisherigen Erfahrungen ist nicht zu erwarten, dass Kommission und Parlament diesem Druck standhalten werden. Die EU-Kommission will sich ihren Traum von der elektronischen Grenzüberwachung einiges kosten lassen. 1,1 Milliarden Euro sind für den Aufbau beider Datengroßsysteme veranschlagt. Nach den Erfahrungen mit dem Schengener Informationssystem und dem Visa-Informationssystem dürfte es auch noch einiges mehr werden. Darin noch gar nicht enthalten sind die Kosten der Mitgliedstaaten, die nahezu jeden Grenzübergang mit der entsprechenden Technologie ausstatten müssen, das alles, um ein paar Menschen zu schnappen, die die Gültigkeitsdauer ihres Visums überziehen. Das ist vollkommen unverhältnismäßig. Die Linke lehnt diese Pläne deshalb ab und wird den Antrag der Grünen-Fraktion unterstützen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Europäische Kommission hat am 28. Februar 2013 das „Smart-Borders-Paket“ vorgelegt. Es enthält drei Verordnungsvorschläge: einen Vorschlag für eine Verordnung über ein Einreise-/Ausreisesystem, EES, zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern; einen Vorschlag für eine Verordnung über ein Registrierprogramm für Reisende, RTP, sowie einen Vorschlag zur Anpassung des Schengener Grenzkodex an EES und RTP. Die VorZu Protokoll gegebene Reden schläge wurden als Paket vorgelegt, weil ein funktionierendes EES Voraussetzung für die geplante vollautomatische Kontrolle registrierter Reisender im Rahmen des RTP ist. Mit dem EES sollen die Ein- und Ausreisebewegungen von Personen an den Außengrenzen des SchengenRaums aufgezeichnet und die biometrischen Identitätskontrollen auf alle Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger ausgeweitet werden - auch auf diejenigen, die derzeit kein Visum für die Einreise in die EU benötigen -. Dazu soll eine zentralisierte europäische Datenbank aufgebaut werden, in der neben anderen personenbezogenen Daten zehn Fingerabdrücke gespeichert werden. Die Datenbank soll so eingerichtet werden, dass später der Zugriff der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden darauf möglich ist. Damit würde das zur Einreise- und Migrationskontrolle eingerichtete EES in eine Datenbank zur allgemeinen Verbrechensbekämpfung umfunktioniert. Drei Jahre nach dem Start des Einreise-/Ausreisesystems soll überprüft werden, ob der Zugriff durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden tatsächlich erlaubt werden soll. Auch die Verlängerung der Speicherfristen zu Strafverfolgungszwecken ist bereits im Gespräch sowie der Zugriff von Drittstaaten auf die Daten. Mit dem RTP sollen Vielreisende nach vorheriger Durchleuchtung ihrer finanziellen Situation, Familienverhältnisse und anderer Daten die Möglichkeit erhalten, als „unbedenklich“ eingestuft zu werden und durch automatische Grenzkontrollen einzureisen. In seinem Nachbericht zum Rat der Justiz- und Innenminister der EU am 7./8. März 2013 berichtet das Bundesministerium des Innern, Bundesinnenminister Friedrich habe die Vorlage des Smart-Borders-Pakets begrüßt und angeregt, biometrische Daten von Anfang an zu nutzen. Begründet wurde diese Haltung mit der Notwendigkeit der Modernisierung der Außengrenzverwaltung und der wachsenden Bedrohung durch Terrorismus und organisierte Kriminalität. Am 20. März beantwortete das Bundesministerium des Innern meine Frage nach der Vereinbarkeit des Smart-BordersPakets mit dem Grundgesetz und den EU-Grundrechten nicht inhaltlich. Man prüfe die Legislativvorschläge noch und wolle dem Ergebnis dieser Prüfung nicht vorgreifen. Ein derart widersprüchliches Verhalten wird der Verpflichtung der Bundesregierung nicht gerecht, auf EU-Ebene verfassungskonforme Verhandlungspositionen zu beziehen. Zudem zeugt die Beantwortung der Frage abermals davon, dass die Bundesregierung das verfassungsrechtlich garantierte Auskunftsrecht der Abgeordneten nicht respektiert. Die Umsetzung der Vorschläge des Smart-BordersPakets würde extrem hohe Kosten verursachen. Die Europäische Kommission rechnet bis 2020 mit 1,3 Milliarden Euro Kosten für das Smart-Borders-Paket. Ursprünglich geplant war, einen Großteil davon 1,1 Milliarden Euro - aus dem Fonds für innere Sicherheit zu finanzieren. Mittlerweile geht die Kommission jedoch von einer drastischen Kürzung dieses Fonds um rund 800 Millionen Euro aus. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Mitgliedstaaten einen erheblichen Teil der Kosten selbst aufbringen müssen. Zugleich sind Nutzen und Funktionsfähigkeit von EES und RTP äußerst zweifelhaft. Es wurde versäumt, die unüberwindlichen Schwierigkeiten der USA bei der Einführung vergleichbarer Systeme in die Überlegungen mit einzubeziehen - US VISIT, das immer noch nicht in der Lage ist, automatische biometrische Ausreisekontrollen durchzuführen. Schließlich widersprechen die vorgelegten Legislativvorschläge deutschen und europäischen Grundrechten. Die anlasslose Speicherung personenbezogener Daten sämtlicher Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger stellt einen schweren Eingriff in deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, bzw. das EU-Datenschutzgrundrecht, Art. 8 EU-Grundrechtecharta, dar. Die Speicherung hat zudem diskriminierenden Charakter, da sie einem Generalverdacht gegen Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger gleichkommt und damit deren Persönlichkeitsrechte aufweicht. Die Vorabüberprüfung Vielreisender im Rahmen des RTP kommt einer freiwilligen Rasterfahndung gleich, die anschließend vorgesehene Speicherung von vier Fingerabdrücken in einem Zentralregister stellt ebenfalls einen schweren Eingriff in Grundrechte dar. Diese Grundrechtseingriffe sind nicht zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die EU mit dem Visa-Informationssystem VIS, Eurodac und dem Schengener Informationssystem II ohnehin bereits über eine Reihe zentraler Informationssysteme verfügt, in denen biometrische Daten gespeichert werden und auf die Sicherheitsbehörden Zugriff haben. Geplant ist überdies die Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdaten. Die Erforderlichkeit einer zusätzlichen Zentraldatei ist unbegründet, schafft zusätzliche Gefahren für den Datenschutz und missachtet die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das vor jeder neuen anlasslosen Datenspeicherung die Aufstellung einer Überwachungsgesamtrechnung fordert, um verbotene Rundüberwachung zu verhindern. Wir fordern die Bundesregierung auf, folgende Belange bei ihren Verhandlungen durchzusetzen: Erstens. Die Errichtung eines Elektronischen Einreise-/Ausreisesystems wird abgelehnt. Zweitens. Die Errichtung eines Registrierprogramms für Reisende wird abgelehnt. Drittens. Die Anpassung des Schengener Grenzkodex an EES und RTP wird abgelehnt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13236 an die vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann verfahren wir so. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen der Nanotechnologien nutzen und Risiken für Verbraucher reduzieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nanotechnologie - Chancen nutzen und Risiken minimieren - Drucksachen 17/8158, 17/9569, 17/13217 Berichterstattung:Abgeordnete Florian HahnRené RöspelDr. Martin Neumann ({1})Dr. Petra SitteKrista Sager Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Titel der hier vorliegenden Anträge ließen eigentlich auf eine vielversprechende und interessante Debatte hoffen. Die Nanotechnologie bietet als eine Schlüsseltechnologie viele neue Chancen in den Bereichen Klima, Energie, Gesundheit, Ernährung, Mobilität, Sicherheit und Kommunikation für unser Land. Es ist ein schnell wachsender Markt, auf dem sich Deutschland durch seine herausragende Innovationskraft einen Namen gemacht hat. Schon heute hängen mehr als 63 000 Arbeitsplätze von der Nanotechnologie ab. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir diesen Prozess effektiv begleiten können, um uns auch zukünftig auf diesem Markt gut zu platzieren, statt Gefahren zu suchen, die es nicht gibt. Doch leider kann die Opposition nicht anders, als eben diese Gefahren und Risiken dort zu suchen, wo es sie nicht gibt. Ihre Anträge lassen das Thema „Chancen der Nanotechnologie nutzen“ links liegen und konzentrieren sich lieber auf sinnlose Forderungen. Für die christlich-liberale Koalition hat die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger höchste Priorität. Wir wollen keine Produkte in Deutschland, die eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung darstellen. Deshalb gibt es bereits für Chemikalien, Lebensmittel, Lebensmittelkontaktmaterialien und kosmetische Mittel Regelungen auf EU-Ebene. Ein von den Grünen gefordertes Moratorium ist sinnlos. Alle verwendeten Materialien müssen bereits jetzt den erforderlichen Prüfungen unterzogen werden. Da wir uns nun dank dieser Anträge mit den Risiken der Nanotechnologie beschäftigten, werde ich Ihnen gerne Auskunft zu dem bisher Erreichten und den kommenden Mechanismen zum Schutz und zur Aufklärung der Bevölkerung geben. Die Opposition verlangt die Einführung eines nationalen Produktregisters. Dazu kann ich Ihnen Folgendes sagen: Wir haben einen europäischen Binnenmarkt. Ein EU-weiter Ansatz ist jedem nationalen Klein-Klein vorzuziehen. Auf EU-Ebene ist zu diesem Thema bereits eine informelle Expertengruppe aus mandatierten EU-Mitgliedstaaten zusammengekommen, die derzeit die Grundlagen für eine europäische Datenbank diskutiert. Zu den geforderten Kennzeichnungen ist Folgendes zu sagen: Für Kosmetika, Lebensmittel und Biozide gibt es bereits Kennzeichnungspflichten. Für Kosmetika tritt diese ab dem 11. Juli 2013, für Lebensmittel ab dem 31. Dezember 2014 und für Biozide ab dem 1. September 2013 in Kraft. Die Regelungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Nanomaterialien auf europäischer Ebene, die mit der GHS/CLP-Verordnung eingeführt wurden, greifen schon jetzt - auch ohne eine Mengenschwelle. Für alle Stoffe besteht somit die Pflicht, die Gefährlichkeit einzuschätzen. Auch tun sich durch die vermehrte Forschung und Anwendung der Nanotechnologie neue Felder auf, die nun abgedeckt werden müssen. Die Detektion von Nanomaterialien, die Entsorgung und die Risikoforschung sind Bereiche, denen man sich nun verstärkt zuwenden muss. Dies haben wir erkannt und fördern die notwendigen Projekte im Rahmen der HightechStrategie und des Aktionsplans für Nanotechnologie. Neben der reinen Kennzeichnung bedarf es aber auch der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger. Diese müssen verstehen, dass Produkte, die als nanohaltige Produkte deklariert wurden, nicht gefährlich sind. Dazu möchte ich eine wissenschaftlich fundierte Feststellung hier noch einmal aussprechen: „Nano“ per se ist kein Hinweis auf eine besondere Gefährdung. Damit die Akzeptanz und Aufklärung innerhalb der Bevölkerung gesteigert werden kann, wurden die Mittel für Aufklärung unter der CDU/CSU um 140 Prozent auf 14 Millionen Euro erhöht. Anstatt hier und heute die Angst vor der Nanotechnologie zu schüren, lade ich Sie ein, gemeinsam mit der christlich-liberalen Koalition die Zukunft dieser Technologie zu gestalten. Die Nanotechnologie bietet eine Menge Potenzial. Wir können hier auf eine Technologie zugreifen, die neue Chancen und Möglichkeiten eröffnet, von denen wir heute nur träumen können. Sie kann in allen möglichen Bereichen einen Mehrwert für Innovationskraft, Produktivität, Gesundheit und eine bessere Umwelt schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam die Chancen und das Potenzial nutzen.

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nanomaterial ist deshalb so interessant, weil die Partikel so klein sind und deshalb das Material veränderte, optimierte Eigenschaften hat. Mit Nanotechnologie kann man selbstreinigende Kleidung herstellen oder intelligente Verpackungen, die sich verfärben, wenn die Lebensmittel ablaufen. Aber man kann auch Nanomaterialien in der Krebstherapie einsetzen, in der Landwirtschaft, bei Energie- und Rohstoffeffizienz, bei Umwelt- und Klimaschutz. Gerade hier kann die Nanotechnologie wichtige Lösungsbeiträge leisten. Wir sind uns alle einig, dass die Nanotechnologie eine der wichtigsten Zukunftstechnologien ist. Die Forschung in Deutschland ist fortschrittlich. Im internationalen Wettbewerb stehen wir mit unserer Nanoforschung an der Weltspitze. Deshalb habe ich auch schon in meiner letzten Rede betont: Die Nanotechnologie ist wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für den Wohlstand unseres Landes und auch für das Wohlergehen der Menschen. Die christlich-liberale Koalition setzt sich dabei stets für einen nachhaltigen und verantwortungsbewussten Verbraucherschutz ein. Die Gesundheit und Sicherheit der Menschen steht dabei für uns an erster Stelle. Wir wägen Chancen und Risiken von neuen Technologien sorgfältig ab; denn wir wissen, dass ein übereilter Einsatz von neuen Technologien mit Risiken für die Menschen und die Umwelt verbunden sein kann. Die Bundesregierung hat einen Aktionsplan Nanotechnologie 2015 vorgelegt, in dem alle Aspekte bedacht sind: die Sicherheit, die Forschungsförderung, die Unterstützung der kleinen und mittelständischen Unternehmen und auch der Dialog mit der Öffentlichkeit und die Kooperation mit internationalen Partnern; denn etwa 90 Prozent des Wissens über die Nanotechnologie wird außerhalb von Deutschland erarbeitet. Vielleicht sollten Sie sich diesen Aktionsplan erst einmal anschauen, bevor Sie mit derartigen Anträgen die Menschen verunsichern. Wir wollen keine Ängste schüren. Niemand hat etwas davon, wenn wir ständig den „Anlass zur Besorgnis“ vor uns hertreiben. Stattdessen wollen wir die Forschung stärken - die christlich-liberale Regierung hat die Mittel für den Bereich der Risiko- und Begleitforschung übrigens in den letzten Jahren massiv erhöht -; wir müssen den Dialog fördern und für Transparenz sorgen. Denn der Verbraucher verlangt zu Recht einen Hinweis auf der Lebensmittel- oder Kosmetikverpackung, ob das Produkt nanoskalige Bestandteile enthält. Für Kosmetika in der Europäischen Union gilt deshalb auch seit diesem Jahr eine Kennzeichnungspflicht; für Lebensmittel gilt sie ab 2014. Dann müssen nanoskalige Bestandteile und Inhaltsstoffe auf dem Etikett mit „Nano“ gekennzeichnet sein. Zu der Forderung nach einem Nanoproduktregister lässt sich sagen, dass es bereits viele Melde-, Registrierungs- und Zulassungspflichten gibt. Die Kommission plant die Umsetzung einer Internetplattform, auf der sämtliche relevanten Registrierungen von Nanomaterialien zusammengeführt werden. Es ist besonders wichtig, dass die Nanotechnologie von der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür benötigt sie sachgerechte Informationen, wie dies zum Beispiel der Nanodialog oder die Internetseite www.nanopar tikel.info, die vom Bundesforschungsministerium gefördert wird, gewährleisten. Durch gute und sachliche Informationen können Vorurteile abgebaut werden. Ein hervorragendes Beispiel für eine Kommunikationsoffensive ist der nanoTruck. Der nanoTruck ist ein rollendes Ausstellungs- und Kommunikationszentrum des Bundesforschungsministeriums, der deutschlandweit unterwegs und einsetzbar ist - eine tolle Möglichkeit, an die Leute heranzukommen, den Bürgerinnen und Bürgern die Technologie zu erklären und über die Chancen und auch mögliche Risiken aufzuklären. Nanotechnologie ist dann nicht mehr die unbekannte Technologie, die vielleicht Heil, vielleicht Unheil bringt. Auf meine Anfrage hat der nanoTruck dann auch in meinem Wahlkreis bei einer Schule haltgemacht. Die Schülerinnen und Schüler waren begeistert, und auch andere Interessierte konnten sich über diese neue Technologie informieren lassen, und zwar ganz praktisch und hautnah. So kann man mit neuen Technologien umgehen: indem wir die Forschung fördern, Chancen und Risiken abwägen und immer den Dialog mit der Öffentlichkeit suchen, ohne Ängste zu schüren. Wir wissen, dass die Nanotechnologie ein großes Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt, Gesundheit und Wohlstand bietet. Wir sorgen aber auch dafür, dass der Schutz von Mensch und Umwelt im Bereich der Nanotechnologie an erster Stelle steht.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Europäische Kommission schätzt in einer ihrer jüngsten Stellungnahmen, dass das Marktvolumen von Produkten, in denen Nanomaterialien eingearbeitet sind, im Jahre 2015 auf 2 Billionen Euro steigen wird. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat für das Jahr 2013 um die 70 Millionen Euro für Projektmittel im Bereich „Neue Materialien - Nanotechnologien“ bereitgestellt. Das ist im Vergleich zum Vorjahr eine Kürzung von 10 Millionen Euro. Das verwundert, wenn man den Sätzen Glauben schenkt, dass der Bundesregierung diese Technologie sehr am Herzen liegt. Wir, die Oppositionsfraktionen der Grünen und SPD, haben deshalb grundsätzlich Zweifel, ob die aktuelle Strategie der Bundesregierung in die richtige Richtung zeigt. Aus diesem Grund haben Grüne und SPD jeweils eigene Forderungen aufgestellt. Diese diskutieren wir heute. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und die Kolleginnen und Kollegen der Grünen sind Zu Protokoll gegebene Reden beim Thema Forschungspolitik sehr oft einer oder ähnlicher Meinung. Aus diesem Grund wünschen wir uns eine gemeinsame Regierung für die nächste Legislaturperiode. Aber bei manchen Themen sind wir eben auch unterschiedlicher Meinung. Im Antrag der Grünen finden sich viele grundsätzliche inhaltliche Überschneidungen zu unserem Antrag. Zu nennen sei zum Beispiel die Erhöhung der Sicherheitsforschung auf 10 Prozent. Diese alte Forderung der SPD, die der Bundestag in Zeiten der Großen Koalition auf unsere Initiative hin beschlossen hat, ist bis heute nicht umgesetzt worden. Selbst die Ressortforschungseinrichtungen der Bundesregierung legen in ihrer gerade veröffentlichten ersten Bilanz „Nanotechnologie Gesundheits- und Umweltrisiken von Nanomaterialien“ dar, dass die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich zu intensivieren sei. Warum die schwarzgelbe Bundesregierung dann trotzdem die Projektförderung für Nanomaterialien senkt, ist für mich deshalb noch weniger nachvollziehbar. Weitere inhaltliche Überschneidungen mit dem Antrag der Grünen betreffen die Forderung nach der Umsetzung des Vorsorgeprinzips bei Nanomaterialien, die Einführung eines Nanoregisters und die Kennzeichnung von Produkten mit Nanomaterialien. Auch wenn es bei diesen Themen zwischen SPD und Grünen im Detail durchaus Unterschiede gibt, so stimmen wir in diesen großen Linien doch überein. An einem entscheidenden Punkt können wir den Grünen aber nicht zustimmen. Denn leider hat man nach dem Lesen des Antragstextes das Gefühl, dass jeder Nanopartikel erst einmal gefährlich sei. Das stimmt aber nun einmal nicht. Ganz im Gegenteil. „Nano“ bedeutet erst einmal nur, dass in dieser Größe das Material andere Eigenschaften besitzt als in anderen Größenordnungen. Diese können durchaus gefährlich, zum Beispiel toxisch, sein, müssen es aber auch nicht. Sie können auch harmlos sein, aber eben doch neue positive Eigenschaften enthalten, zum Beispiel die Fähigkeit, elektrische Energie besser zu leiten. Wenn man wie die Grünen von der generellen Annahme ausgeht, dass alle Nanomaterialien schädlich sind, dann macht ein Moratorium, wie sie es in ihrem Antrag fordern, für Nanoprodukte natürlich Sinn. Wenn man aber hingegen von der Realität ausgeht, nämlich dass sich Nanomaterialien ähnlich wie andere Chemikalien oder Stoffe verhalten, dann ist ein solches Moratorium nicht der richtige Weg. Hier ist vielmehr eine aufwendige Einzelprüfung notwendig. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind der Meinung, dass gewisse verbrauchernahe Produkte bzw. bestimmte Nanomaterialien einer besonderen Kontrolle unterliegen müssen. Aber das ist in der EU Standard. Die Europäische Kommission prüft außerdem bereits - übrigens im Auftrag des Europäischen Parlaments, welches beim Thema Nano sehr aktiv ist - an welchen Stellen die Kontrollen verbessert und Regelungen angepasst werden müssen. Aktuell ist die Kommission zum Beispiel zu dem Schluss gekommen, dass REACH, die Europäische Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe, für Nanoprodukte angepasst werden sollte. Auf dem Gebiet passiert also bereits einiges. Ein Grund für übertriebene Angst vor allen Nanomaterialien ist vielleicht die aktuelle EU-Definition für Nanomaterialien. Nach dieser fallen nämlich alle Nanopartikel, ob nun natürlich vorkommend, bei Prozessen anfallend oder bewusst hergestellt, unter diese Kategorie. Das bedeutet, dass natürlich vorkommende Nanopartikel in der Milch, bei Verbrennungen entstehende Rußpartikel und extra hergestellte nanogroße Partikel in Computerchips oder Verpackungsmaterial gleich behandelt werden. Die Gefahr für Mensch und Umwelt ist aber bei jedem dieser Materialien absolut unterschiedlich. Eine Kategorie, die alles erfasst, sagt am Ende hingegen gar nichts aus. Aus diesem Grund gehört die EU-Definition zügig überarbeitet. Vielleicht konzentriert sich die Diskussion dann auch wieder auf die realen Risiken bei der Nanotechnologie. Die sehen wir, wie auch verschiedene andere Institutionen, insbesondere in den freien Partikeln. Hier ist bei einigen immer noch unklar, wie der menschliche Organismus und die Umwelt darauf reagieren. Auch sind das Auffinden und die Reaktion hergestellter Nanopartikel in der Natur immer noch problematisch bzw. unklar. Forschungsbedarf ist also noch genug vorhanden. Um die großen Chancen der Nanotechnologie auch weiterhin nutzen zu können, müssen mögliche Risiken ausgeräumt werden. Dafür benötigen wir neben den finanziellen Mitteln aber auch gut ausgebildete Fachkräfte. Und wie wir aus unserer Kleinen Anfrage zum Thema Stand der Toxikologie in Deutschland erfahren mussten, sieht der Zustand dieses auch für die Nanotechnologie so wichtigen Wissenschaftszweiges ziemlich schlecht aus. Diese Bundesregierung hat über deren Zustand nur veraltete Zahlen und fördert den Bereich nur rudimentär. Das ist eine Katastrophe! Denn die Toxikologinnen und Toxikologen sollen doch, unter anderem im Auftrag der Bundesregierung, schauen, ob das eine oder andere Material für Mensch oder Umwelt gefährlich sein könnte. Diese Bundesregierung streicht also nicht nur Forschungsgeld. Sie gefährdet auch die Strukturen, welche eine unabhängige Untersuchung von Nanomaterialien gewährleistet. Es wird Zeit, dass sich auch in diesem Forschungsbereich ab Herbst etwas ändert; denn Schwarz-Gelb bekommt es einfach nicht hin!

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum wiederholten Mal debattieren wir in dieser Legislaturperiode zum Thema Nanotechnologie. Wir haben nicht nur in einigen Ausschusssitzungen zu Anträgen und Förderprogrammen politische Positionen ausgetauscht, sondern auch im Rahmen der Technikfolgenabschätzung mit Experten aus Wissenschaft und Vertretern europäischer Institutionen diskutiert. Ich Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Martin Neumann ({0}) behaupte deshalb, dass wir das Thema hinlänglich behandelt haben, um mit klarer fachlicher Haltung und mit Recht die Anträge der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Der Antrag der Fraktion der SPD „Chancen der Nanotechnologie nutzen und Risiken für Verbraucher reduzieren“ und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen „Nanotechnologie - Chancen nutzen und Risiken minimieren“ haben allenfalls in einem Punkt Recht. Die Nanotechnologien werden sich noch lange in einem Spannungsverhältnis zwischen Chancen und Nutzen auf der einen Seite und Risiken und Gefahrenpotenzial auf der anderen befinden. Jedoch geht die FDP nicht mit den Schlussfolgerungen konform, die ein überspitztes Handeln der Politik einfordern, um sich aus diesem Spannungsverhältnis zu lösen. Denn die Nanotechnologie ist ein Schlüssel zum technologischen Fortschritt im 21. Jahrhundert: Sie liegt in der Schnittmenge verschiedener Disziplinen, angefangen von der Physik über die Chemie und Biologie bis hin zu den Ingenieurwissenschaften und der Medizin. In diesem interdisziplinären Feld entsteht ein weitreichendes Anwendungspotenzial zum Nutzen der Gesellschaft und der deutschen Wirtschaft. Dieses Potenzial dürfen wir aber nicht durch überschnelles Handeln und unbegründete Verdachtsmomente zunichtemachen. Die Anträge werden abgelehnt, weil Sie den in Deutschland vorhandenen forschungs- und innovationsfreundlichen Rahmen durch Ihre Forderungen einschränken wollen. Forderungen nach einem nanospezifischen Produktregister, der Kennzeichnungspflicht, der Meldepflicht, einer Ermächtigungsverpflichtung für Behörden, Produkte im Besorgnisfall vom Markt zu nehmen, einer Überarbeitung von gesetzlichen Regelungen im Produkt-, Stoff- und Umweltrecht, einem Haftungsregime für Nanoprodukte etc. lehnen wir ab. Denn derartige Forderungen sind überzogen und unbegründet, wenn man wie die Antragsteller diese vom unzureichenden Wissensstand über Risiken und Gefahrenpotenzial von Nanoprodukten bzw. Nanotechnologie ableitet. Die Wissenschaft liefert keine Belege für eine spezifische Nanotoxizität. Auch über das Gefahrenpotenzial lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht keine stichhaltigen Belege finden. Das stellen die Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sogar selbst fest. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, SRU, der 2011 die Stellungnahme „Vorsorgestrategien für Nanomaterialien“ veröffentlichte, woraus SPD und Grüne ihre Forderungen ableiten, sagt: „Pauschale Urteile über die Risiken von Nanomaterialien sind nicht möglich … Bisher gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dahin gehend, dass Nanomaterialien - wie sie heute hergestellt und verwendet werden zu Schädigungen von Umwelt und Gesundheit führen.“ Als FDP sehen wir bei unbegründeten Verdachtsmomenten keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Gleichwohl setzen wir uns für eine Sicherheitsforschung ein, die Wissenslücken über Nanotechnologien schließt und einheitliche Mess- und Prüfmethodiken entwickelt, um Aussagen über das Gefahrenpotenzial für Gesundheit und Umwelt treffen zu können. Aus Sicht der FDP sollte dabei vor allem die bisher ungenügend beantwortete Frage nach dem Lebenszyklus von Nanopartikeln und danach, was nach dem Lebenszyklus passiert, von der Wissenschaft bearbeitet werden. Auch setzen wir Liberalen uns anders als die Antragsteller für eine über Europa hinausragende international harmonisierte Definition von Nanomaterialien ein. Der Vorschlag einer Definition von Nanomaterialien und -technologie, den die EU-Kommission erarbeitet hat und der bis Dezember 2014 auf seine Tauglichkeit hin überprüft werden soll, ist meiner Auffassung nach etwas zu kurz gegriffen. Als FDP plädieren wir dafür, die regulatorische Definition von Nanomaterialien an bestehende wissenschaftsbasierte Definitionen zu knüpfen, die im Rahmen der International Organization for Standardization, ISO, entwickelt worden sind, und so den Weg einer weltweit harmonisierten Definition zu gehen. Weiterhin sieht die FDP, wie auch die Koalition insgesamt, den nationalen Rechtsrahmen ebenso wie die europäische Chemikalienverordnung, REACH, als ausreichend an, um einen sicheren Umgang mit Nanomaterialien zu gewährleisten. Nach REACH wird jeder Stoff, der von einem Unternehmen in einer Menge von mehr als 1 Tonne pro Jahr hergestellt oder importiert wird, bei der Europäischen Chemikalienagentur, ECHA, mit einem technischen Dossier registriert. Auskunft wird über physikalisch-chemische, toxikologische und ökotoxikologische Eigenschaften des Stoffes gegeben. Auch wenn Stoffe in einer Menge von weniger als 1 Tonne pro Jahr hergestellt werden sollten, könne man in Bezug auf Nanomaterialien dennoch die Verordnung durch Interpretation anwenden. Die Industrie hat dabei ihre Verantwortung und muss einer Mitwirkungspflicht nachkommen. Ich bin mir sicher, dass die Industrie keinen Interpretationsspielraum in der REACH-Verordnung ausnutzen würde, allein um dann folgende gesetzgeberische Maßnahmen zu umgehen. Würden stattdessen die Forderungen von SPD und vor allem von Bündnis 90/Die Grünen umgesetzt, beraubt sich Deutschland einer wichtigen Technologie und eines zukünftig großen Wirtschaftsfaktors. Besonders kritisieren wir aber, dass die Anträge einen Generalverdacht insinuieren, der sich langsam in die Gesellschaft bahnt. Durch die verkettete Argumentation aus „kann“ und „mögliche Risiken“ wird ein Argwohn aufgebaut, der sich nicht rechtfertigen lässt, unter einer Überschrift, die die Chancen heben möchte. Deshalb lehnen wir die Anträge aus guten Gründen ab und verweisen auf den Aktionsplan Nanotechnologie 2015, den diese christlich-liberale Koalition auf den Weg gebracht hat und der ein tatsächliches Anliegen formuliert, wie Risiken zu unterbinden und die Chancen der Nanotechnologien zu fördern sind. Zu Protokoll gegebene Reden

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ohne Frage: Nanotechnologie bietet gute Chancen für Unternehmen in Deutschland. Für Verbraucherinnen und Verbraucher hingegen ist der Mehrwert begrenzt. Ob Nanozusätze bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen in einem vernünftigen Verhältnis zu möglichen Risiken und Mehrkosten stehen, ist eher fraglich. Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den öffentlichen Versprechungen vorbei. Vorrangig dient die Förderung der Industrie zur Verbesserung vorhandener Verfahren für Prozesse und Produkte. Im Vordergrund stehen dabei Kostensenkungspotenziale für die Unternehmen. Wichtige gesellschaftliche Fragen wie Energie- und Ressourcenschutz oder Gesundheits- und Risikoforschung haben daran einen verschwindend geringen Anteil. Es entsteht der Eindruck, dass solche Themen nur vorgeschoben werden, um die Förderung der Industrieforschung mit Geldmitteln in beträchtlicher Höhe zu rechtfertigen. Die Linke hatte bereits Mitte 2011 mit dem Antrag „Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen“ auf die fehlgeleitete Nanoförderung der Bundesregierung hingewiesen. Die mit jährlich über 400 Millionen Euro ausgestattete Nanoinitiative von Schwarz-Gelb ist weitgehend auf klientelhafte Subventionspolitik beschränkt: Die öffentlichen Gelder fließen maßgeblich an klassische Industriebereiche. Die Innovation besteht im Wesentlichen in den Kostensenkungen für große Unternehmen bei herkömmlichen Anwendungen und Prozessen. Es findet keine Lenkung der Förderschwerpunkte hin zu gesellschaftlich wichtigen Themen, wie erneuerbare Energien, Medizin und die Risikoforschung, statt. Die geförderten Vorhaben werden nicht einmal auf ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen hin untersucht oder bewertet. Mögliche Risiken im Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz werden als „Hemmnis bei der Vermarktung nanotechnologischer Produkte“ festgemacht, so der Nanoreport der Bundesregierung. In Hinblick auf Umwelt- und Gesundheitsrisiken erweist sich die Nanotechnologieförderung der Bundesregierung als wirkungslos. Die Erforschung und Bewertung von Gesundheits- und Umweltrisiken, die von Nanostoffen ausgehen können, wird deutlich vernachlässigt. Der Gesetzgeber ist daher kaum in der Lage, wirksame Maßnahmen zur Gesundheits- und Umweltvorsorge zu treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht. Ein Grund ist sicherlich, dass die Untersuchung und Bewertung von Risiken bisher weitgehend den Unternehmen überlassen wird, die die Nanostoffe selbst entwickeln. Viele Ergebnisse von Untersuchungen, die mit Fördergeldern der Nanoinitiative des Bundes finanziert wurden, nutzen die Unternehmen vorrangig zur Abschätzung ihrer betriebswirtschaftlichen Risiken. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass die Industrie gerne mögliche Risiken in der öffentlichen Kommunikation herunterspielt - nach dem Motto: Es ist ja noch nicht bewiesen, dass es schädlich sein könnte. Die Linke sagt: Das ist der falsche Weg. Verbraucherschutz kommt im Bereich der Nanotechnologie praktisch nicht vor. Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten aber, dass Behörden, Wissenschaft und Unternehmen die Frage nach den Risiken der Nanotechnologie vollständig beantworten. Der Gesetzgeber muss deshalb eine Kenntlichmachung aller nanotechnologisch hergestellten oder nanopartikelhaltigen Produkte sicherstellen. Dabei reicht ein Hinweis auf der Verpackungsrückseite nicht aus. Die Unbedenklichkeit muss belegt und der Zusatznutzen in verständlicher Weise erläutert sein. Die Linke fordert von der Bundesregierung, dass sie eine umfassende Regelung und Kontrolle der Nanotechnologie auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips umsetzt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat dazu mit seinem Sondergutachten „Vorsorgestrategien für Nanomaterialien“ sehr gute und hilfreiche Vorschläge gemacht. Dazu gehört ein öffentliches Register aller Nanostoffe ebenso wie eine unabhängige Risikoforschung. Nur so kann offenkundigen Risiken gegenüber Mensch und Umwelt angemessen begegnet und können unberechtigte Ängste abgebaut werden. Klare gesetzliche Vorgaben mindern darüber hinaus auch betriebswirtschaftliche Risiken bei den Unternehmen, die mit Nanotechnologien befasst sind. Wesentliche Voraussetzung und Forderung der Linken ist, die Förderstruktur zugunsten von Vorsorge und Verbraucherschutz neu zu strukturieren. Die vorliegenden Anträge von SPD und Grünen unterstützen diese Forderungen weitgehend, weshalb wir ihnen zustimmen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bisher gibt es in Deutschland keine nanospezifischen Regulierungen. Dabei ist die Nanotechnologie mit all ihren Chancen und Risiken längst in unserem Alltag angekommen. Denn Nanopartikel finden sich in den verschiedensten Anwendungen und Produkten. Doch aufgrund ihrer geringen Größe und den damit verbundenen anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften gegenüber den jeweiligen Ausgangsstoffen schlüpfen Nanopartikel durch die bestehenden Kontroll- und Regulierungsregimes. Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Gerade beim Einsatz von ungebundenen Nanopartikeln in verbrauchernahen und umweltoffenen Anwendungen wie zum Beispiel in Kosmetika oder Reinigungsmitteln sind die bestehenden Risiken für Mensch und Umwelt bislang viel zu wenig erforscht und unzureichend reguliert. Wir wollen, dass das Vorsorgeprinzip zum Leitsatz im Umgang mit der Nanotechnologie wird. Das hat Zu Protokoll gegebene Reden auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem ausführlichen Sondergutachten zu Nanomaterialien ausdrücklich empfohlen - leider ohne Reaktion vonseiten der Bundesregierung! Wir fordern in unserem Antrag, die Sicherheits- und Risikoforschung deutlich auszuweiten, um die vorhandenen Wissenslücken zu schließen und die Unsicherheit im Bezug auf das Gefahrenpotenzial bestimmter Nanomaterialen zu verringern. Außerdem brauchen wir nanospezifische Prüf- und Zulassungsverfahren und bessere Regelungen zur Produkthaftung. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat hierzu gute Vorschläge gemacht, die die Bundesregierung aufgreifen sollte. Dazu gehören auch Novellen der Novel-Food-Verordnung und des europäischen Chemikalienrechtes REACH. Auch die Regelungen zum Arbeitsschutz müssen um nanospezifische Regelungen ergänzt werden. Um mehr Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher zu schaffen, wollen wir, dass, wo Nano drin ist, auch Nano draufsteht. Ebenso muss offengelegt werden, ob diese Inhaltsstoffe neben den beworbenen Vorteilen auch mögliche Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringen. Wir fordern deshalb eine verständliche Kennzeichnung für verbrauchernahe und umweltoffene Nanoprodukte und ein öffentlich zugängliches Nanoproduktregister, um Transparenz und Wahlfreiheit zu gewährleisten und den Regulierungsbehörden einen Überblick über den Markt zu ermöglichen. Zum Schutz von Mensch und Umwelt ist es notwendig, dass Behörden im Besorgnisfall gefährliche Produkte gegebenenfalls vom Markt nehmen bzw. solchen Produkten den Marktzugang verweigern können. Das trifft unter anderem für den Einsatz von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten zu. Sowohl das Bundesinstitut für Risikobewertung als auch das Umweltbundesamt haben vor den möglichen Gefahren beim Einsatz von ungebundenem Nanosilber in verbrauchernahen Produkten gewarnt. Nanosilber kann sich nicht nur außen an menschliche Zellen anlagern, sondern auch biologische Grenzen überwinden und somit in Zellen eindringen. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Sicherheit von Mensch und Umwelt immer oberste Priorität haben muss. Nur dann wird auch eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für neue Technologien wie die Nanotechnologie möglich sein, die zweifelsohne auch große Chancen und erhebliches Innovationspotenzial für Bereiche wie Informations- und Kommunikationstechnik, Medizin und andere innovative Produktentwicklungen birgt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13217. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8158. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Grünenfraktion auf Drucksache 17/9569. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Grünen und Linken angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wiedereingliederung fördern - Gefangene in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbeziehen - Drucksache 17/13103 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})InnenausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Strafgefangene unterliegen heute nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Krankenund Pflegeversicherung. Die Zeit während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung gilt für die Rentenversicherung auch nicht als Anrechnungszeit. Die Vollzugsbehörde entrichtet für die Gefangenen, auch wenn sie ihrer Arbeitspflicht nach § 41 Strafvollzugsgesetz genügen, keine Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Für eine Aufrechterhaltung der Versicherungen sind die Gefangenen selbst verantwortlich. Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Frage der Einbeziehung der Strafgefangenen in die gesetzliche Renten-, Krankenund Pflegeversicherung befasst. Die Frage war und ist auch wiederholt Gegenstand von Petitionsverfahren. In der Sache hat sich an der Situation nichts geändert: Zwar enthält das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 Regelungen über eine grundsätzliche Einbeziehung der Strafgefangenen in die Sozialversicherung. Es hat in § 198 Abs. 3 das Inkrafttreten der im Gesetz vorgesehenen Regelungen zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung aber einem besonderen Bundesgesetz vorbehalten. Diese aufschiebende Inkraftsetzung beruht im Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundesländer, die die Beiträge zur Sozialversicherung als Träger des Strafvollzugs anteilig zu übernehmen hätten. Das mag man beklagen, aber wenn man Forderungen aufstellt, gehört zur Wahrheit auch eine Aussage, wie man diese Forderungen finanzieren will. Die Fraktion Die Linke macht es sich in diesem entscheidenden Punkt sehr einfach und trifft in ihrem Antrag hierzu keine Aussage. Das zeigt: Es geht der Fraktion nicht um eine sachgerechte Lösung für die Betroffenen, die Initiative ist vielmehr ein reiner Schaufensterantrag. Warum ist es zu dem oben angegebenen Bundesgesetz bislang nicht bekommen? Ganz einfach: Weil es der Bundesrat in der Vergangenheit abgelehnt hat, die sich aus der Einbeziehung der Strafgefangenen in die Sozialversicherung ergebenen finanziellen Belastungen zu tragen. Und ohne Zustimmung des Bundesrates kann ein solches Bundesgesetz nicht verabschiedet werden. Und ich sehe bei der Mehrheit der Bundesländer aufgrund ihrer Finanzlage weiterhin keine Neigung, einem dem Anliegen der Antragsteller entsprechenden Bundesgesetz zuzustimmen bzw. selbst eine entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat zu ergreifen. Wem das Anliegen der Betroffenen wirklich wichtig ist, der müsste eigentlich einen dringenden Appell an die Länder richten. Im Antrag der Linken findet sich dazu im Analyseteil verschämt die Aussage, die Bundesländer müssten „nun endlich aktiv werden“. Der Forderungsteil des Antrags ist dagegen recht mutlos ausgefallen, einen flammenden Appell an die Länder finde ich dort jedenfalls nicht. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag hätten Sie sich wirklich sparen können. An dieser Stelle nur am Rande: Man mag die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung als ein geeignetes Mittel für deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft halten. Einen zwingenden rechtlichen Handlungsbedarf kann ich aber nicht erkennen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 1. Juli 1998 zur Gefangenenentlohnung die fehlende Einbeziehung in die Kranken- und Rentenversicherung ausdrücklich als verfassungskonform gebilligt. Weder aus dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot noch aus dem Gleichbehandlungsgebot lasse sich eine Verpflichtung des Staates ableiten, Pflichtarbeit mit freier Erwerbsarbeit gleichzusetzen. Das zeigt: Es geht nicht nur um die Finanzierung, sondern auch um eine politische Entscheidung. Und mit genau diesen Fragen beschäftigt sich derzeit der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Die Kollegen machen sich die Fragen nicht einfach. Wer mit ihnen spricht, weiß, dass sie die Angelegenheit gründlich prüfen. Ich möchte hier und heute der Entscheidung der Kollegen nicht vorgreifen. Ich bin gern bereit, mit Ihnen die politische Auseinandersetzung in der Angelegenheit zu führen. Aber bitte in geordneten Verfahren. Deshalb: Lassen Sie erst die Kollegen im Petitionsausschuss ihre Arbeit machen. Erst dann sind wir dran. Die heutige Debatte ist eine Debatte zur Unzeit.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bevor eine Altersrente ausbezahlt werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Neben der Vollendung des erforderlichen Lebensalters sind dies vor allem die Berücksichtigung der Zeiten als Beitragszeiten und die vorgesehene Mindestversicherungszeit oder die sogenannte Wartezeit. Für die normale Altersrente liegt diese gemäß § 50 SGB VI bei fünf Jahren oder 60 Monaten. Für ein Jahr Beitragszahlung erhält man nach dem Durchschnittsverdienst - vorläufiger Wert für 2012: 32 446 Euro - dann einen Entgeltpunkt. Ein Entgeltpunkt bringt zurzeit eine Monatsrente von 28,07 Euro in den alten und 24,92 Euro in den neuen Bundesländern ({0}). Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Zeit als Beitragszeit gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI im Versicherungskonto ist ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. § 55 Abs. 1 SGB VI definiert als Beitragszeiten solche Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind Zeiten, während deren kraft Gesetzes oder auf Antrag oder kraft entsprechender Vorschriften Versicherungspflicht bestand und Pflichtbeiträge gezahlt worden sind. Bei einer Beschäftigung, die während eines Strafvollzugs ausgeübt wird, handelt es sich aber nicht um ein die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung begründendes Beschäftigungsverhältnis. Verschiedene Gerichte haben in ihren Urteilen und Beschlüssen dies bereits bestätigt und damit die Voraussetzungen für das Entstehen der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung durch eine Beschäftigung im Gefängnis abgelehnt. Die Beschäftigung von Strafgefangenen im Rahmen eines Straf- bzw. Maßregelvollzugs stellt kein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV dar, da ein Strafgefangener bei seiner Beschäftigung im Gegensatz zu einem Arbeitnehmer nicht frei sei. Vielmehr ist der Strafgefangene gemäß § 41 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz zur Arbeitsleistung verpflichtet. Nun fordern die Linken, dass die bisherige Arbeitsverpflichtung während des Strafvollzugs in ein „Recht auf Arbeit“ und „einen individuellen einklagbaren Anspruch auf einen Arbeitsplatz“ geändert werden solle. Zudem sollten die Anstalten „eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen“, und „bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen Fähigkeiten und Neigungen der Gefangenen berücksichtigt werden“. Nach der Föderalismusreform sind für die Regelungen des Strafvollzugs die Länder zuständig. Deshalb muss ein solcher Antrag nicht im Bundestag, sondern in den Landtagen eingebracht werden. 2011 haben Zu Protokoll gegebene Reden Peter Weiß ({1}) Berlin, Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, SachsenAnhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen einen gemeinsamen Entwurf für ein Landesstrafvollzugsgesetz vorgelegt, das aber in den einzelnen Ländern noch nicht in Kraft ist. In § 22 heißt es dort, dass den Gefangenen auf Antrag oder mit ihrer Zustimmung Arbeit zugewiesen werden soll. Die Erklärung zu § 22 besagt, dass Arbeit nach dieser Bestimmung, dem Angleichungsgrundsatz Rechnung tragend, freiwillig ist. Die Zuweisung einer Arbeit ermöglicht es den Gefangenen, Geld für die Erfüllung von Unterhaltsverpflichtungen, den Schuldenabbau, den Ausgleich der Tatfolgen oder den persönlichen Einkauf zu verdienen. Auch hinsichtlich der Höhe der Vergütung sei bei einer nach § 22 zugewiesenen Arbeit zu berücksichtigen, dass es sich insoweit um freiwillige Arbeit und nicht um Pflichtarbeit handele. Daher sei eine nichtmonetäre Komponente entsprechend der Regelung des § 43 Abs. 6 StVollzG nicht mehr vorgesehen, ohne dass sich daraus ein Anspruch der Gefangenen auf eine höhere Vergütung als bisher ergebe. Bei der Festsetzung der Vergütung werde berücksichtigt, dass die Produktivität der Arbeitsbetriebe in den Anstalten im Vergleich zu Betrieben in der freien Wirtschaft gering ist. Die Linken kritisieren weiterhin, dass es an einer Rechtsgrundlage für das Entstehen einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung fehle; denn § 191 Strafvollzugsgesetz, der die Versicherungspflicht einführe, sei nicht in Kraft gesetzt worden. Auch hier gibt es bereits umfangreiche Rechtsprechung, die besagt, dass in der Nichtinkraftsetzung der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung für Strafgefangene kein Verstoß des Gesetzgebers gegen Grundrechte oder das Sozialstaatsgebot ({2}) liege. Auch ein Verstoß gegen europäisches Recht liegt nicht vor. Zwar hat der EuGH entschieden, dass eine Person, die während eines Zeitraums, in dem sie eine Haftstrafe verbüßte, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtete, ein Arbeitnehmer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 sei. Diese europarechtliche Definition zwingt aber nicht zu der Annahme, damit sei entgegen der Entscheidung des nationalen Gesetzgebers quasi automatisch auch die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI begründet. In ihrem Antrag wollen die Linken außerdem suggerieren, dass aufgrund der fehlenden Leistungen zur Rentenversicherung Strafgefangene in der Regel von Altersarmut betroffen sind. Ein solcher zwingender Zusammenhang zwischen Haftzeiten und Hilfebedürftigkeit im Alter kann nicht automatisch abgeleitet werden. Weder kann aus der Verbüßung einer Haftstrafe eine generell niedrigere Rente noch ein Nichterreichen der Mindestversicherungszeit abgeleitet werden. „Eine Mindestversicherungszeit“, so der Kommentar von Kreikebohm zu § 50 SGB VI, „beugt Manipulationen zulasten der Solidargemeinschaft vor und schützt bedingt vor schlechten Risiken“. Dieser Schutz ist erforderlich, weil die Beitragszahler auch einen sozialen Ausgleich mitfinanzieren, indem sich zum Beispiel beitragsfreie Zeiten positiv auf die Rentenhöhe auswirken. Insbesondere bei frühzeitigem Eintritt eines Leistungsfalles kann die Zurechnungszeit bewirken, dass das Sicherungsziel der Rentenart - die Gewährleistung eines Einkommensersatzes über dem Grundsicherungsniveau - überhaupt zu erreichen ist. Die gesetzliche Rentenversicherung kann - zu Recht nicht den Beitritt von schlechten Risiken zur Versichertengemeinschaft verhindern. Eine Gesundheitsprüfung findet nicht statt, vielmehr entsteht die Versicherungspflicht kraft Gesetzes.“ Rentenhöhe und Hilfebedürftigkeit im Alter hängen von vielen verschiedenen Faktoren ab und wirken sich höchst individuell aus. Es gibt also keinen zwingenden Grund, Strafgefangene in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einzubeziehen.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die gesellschaftliche Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener ist ein wichtiges gesellschaftliches Thema. Daher tut es tatsächlich not, dass wir uns hier auch mit der Frage der Sozialversicherungspflicht bzw. dem Sozialversicherungsschutz Strafgefangener auseinandersetzen. Insofern begrüße ich den vorliegenden Antrag. Allerdings fordern Sie weit mehr, als wir mittragen können und wollen: Die Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung. Das soll aufgrund der im Vollzug geleisteten Arbeit paritätisch beitragspflichtig und anspruchsbegründend sein - ohne dass geklärt ist, worauf sich die Beitragsbemessung beziehen soll. Sie formulieren lediglich eine weitere Forderung nach einer besseren Bezahlung. Ferner: die Verknüpfung der Abschaffung der Arbeitspflicht und der Einführung einer angemessenen Entlohnung mit der Schaffung eines Rechts auf Arbeit im Strafvollzug; die Ausweitung des bestehenden Vertrauensschutzes bei der Anerkennung von versicherungspflichtigen Zeiten bei ehemals in der DDR Inhaftierten; die Verbindung von Verbesserungen bei Entschädigungsleistungen für Opfer schwerer Gewalttaten mit den Interessen von Strafgefangenen im vorliegenden Antrag. Es ist aber nicht sinnvoll, Strafgefangene, während sie sich in Gewahrsam befinden - auch unter Ableistung von Pflichtarbeit -, in Hinblick auf die spätere Rente besserzustellen als Bezieher von Arbeitslosengeld II, Ersatz- oder Wehrdienstleistende. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesländer auch ohne eine Versicherungspflicht bereits heute freiwillige Beiträge für arbeitende Strafgefangene abführen könnten, wenn sie es so beschließen würden. Zu Protokoll gegebene Reden Gegenwärtig sind Strafgefangene ausdrücklich in die Unfall- und Arbeitslosenversicherung ({0}) einbezogen, nicht aber in die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Hier gelten die allgemeinen Regeln des Sozialversicherungsrechts, wonach es nach den Vorschriften des SGB IV für eine Versicherungspflicht vor allem an der „Freiwilligkeit“ der Arbeitsleistung mangelt. Sogenannte Freigänger, denen die Unterhaltung eines Arbeitsverhältnisses außerhalb der Justizvollzugsanstalt erlaubt ist, sind hingegen in diesem Beschäftigungsverhältnis pflichtversichert. Arbeitende Strafgefangene werden darauf verwiesen, dass sie freiwillige Beiträge leisten können. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 1. Juli 1998 entschieden, dass die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung verfassungskonform ist. Allein die Höhe der Entgelte - 5 Prozent der sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße - entsprach nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung. Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgelte daraufhin auf circa 9 Prozent der Bezugsgröße erhöht ({1}). Im Nachgang hat das Bundesverfassungsgericht die Neuregelung im Jahr 2002 als verfassungsgemäß gebilligt. Zudem gab es zahlreiche Petitionen zur Aufnahme von Strafgefangenen in die Sozialversicherung. Von der 14. bis zur 16. Legislaturperiode sind allein 35 Petitionen an den Deutschen Bundestag gerichtet worden. Derzeit läuft ein weiteres Petitionsverfahren eine ältere Leitpetition und weitere Mehrfachpetitionen. Im Augenblick läuft der Abstimmungsprozess in den Fraktionen. Gegenwärtig liegt eine Gesetzesinitiative der Landesregierung Brandenburg vor ({2}), die unter anderem die Abschaffung der Arbeitspflicht vorsieht. Ein Automatismus in Bezug auf die Integration in die Sozialversicherung wäre damit aber noch nicht in Gang gesetzt. Wie Sie auch in Ihrem Antrag rekapitulieren, wurde im Jahr 1976 das Strafvollzugsgesetz, StVollzG, verabschiedet. Das Gesetz sah auch die Einbeziehung arbeitender Strafgefangener in die Kranken- sowie die Rentenversicherung vor. Die §§ 190 bis 193 des StVollzG enthielten die entsprechenden Vorschriften, die nach § 198 Abs. 3 durch ein weiteres Bundesgesetz in Kraft gesetzt werden sollten. Zugleich sollten auch die Arbeitsentgelte erhöht werden. Dieses besondere Gesetz ist bis jetzt nicht ergangen. Seit der Föderalismusreform liegen die Zuständigkeiten für den Strafvollzug zwar bei den Ländern, der Bund bleibt aber weiterhin für die Sozialversicherung verantwortlich. Die jeweiligen Bundesregierungen haben in der Vergangenheit zwar die Einbeziehung Strafgefangener in die Sozialversicherung als sinnvoll erachtet, die aufgeschobene Inkraftsetzung wird vor allem dem Widerstand der Bundesländer und deren finanziellen Vorbehalten zugeschrieben. Im Zusammenhang mit einer Anfrage des Grundrechtekomitees, einer Organisation, die sich unter anderem mit der Frage der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte Strafgefangener beschäftigt, zur Einbeziehung Gefangener in die gesetzliche Rentenversicherung habe ich die Bundesregierung in zwei schriftlichen Fragen im Juli 2011 ({3}) um Stellungnahme zum Thema gebeten. Zum einen sollte geklärt werden, ob die Bundesregierung diese Problematik in dem sogenannten Rentendialog aufgreifen wird und wie sie dazu steht, die Arbeitszeiten von Strafgefangenen als Anrechnungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. In ihrer Antwort hat die Bundesregierung die Einbeziehung in den Rentendialog verneint und auch den Vorschlag zur rentenrechtlichen Anerkennung abgelehnt. Begründet hat sie ihre Ablehnung mit den Kosten für die Solidargemeinschaft der Beitragszahler, die nicht zu rechtfertigen seien. Dabei hat die Bundesregierung in ihrer Antwort aber die Höhe des finanziellen Aufwands nicht angegeben. Die Bundesregierung sieht die Bundesländer in der Pflicht, einer Änderung zuzustimmen. Eine Mehrheit für eine solche Position bei den Bundesländern sieht sie aber wegen der weiterhin angespannten Haushaltssituation nicht. Dabei können die niedrigen Entgelte für die Pflichtarbeit, auch wenn sie in Zukunft etwas steigen, kaum einen nennenswerten Beitrag zum Aufbau einer existenzsichernden Rente leisten. Anrechnungszeiten können bei entsprechenden Vorleistungen im Einzelfall sogar zu höheren Ansprüchen führen als Beitragszeiten. Das Argument einer zu starken finanziellen Belastung der Solidargemeinschaft erweist sich bei Betrachtung der Wirkungen von Anrechnungszeiten als unangebracht. Denn allein durch den Strafvollzug würde kein Rentenanspruch erstmalig begründet. Lediglich ein bereits erworbener würde aufrechterhalten, zum Beispiel auf eine Erwerbsminderungsrente, bzw. in Zukunft wirksam werden, wenn der Versicherte vor oder nach dem Vollzug weiter versicherungspflichtig war oder wird. Darüber hinaus fordern Sie von der Linken, den Krankenversicherungsschutz und die Einbeziehung in die Pflegeversicherung sicherzustellen. Dabei ist aber weniger an den Betroffenen selbst als an dessen Angehörige zu denken. Der Gefangene erhält während des Vollzugs Leistungen der Gesundheitsfürsorge. Familienversicherte Angehörige können bzw. müssen im Einzelfall jedoch Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen, um ihren Krankenversicherungsschutz aufrecht zu halten. Hier sehen wir noch Klärungsbedarf zur Situation in den einzelnen Bundesländern. Die SPD verfolgt das Ziel, in Zukunft alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Dies könnte über kurz oder lang bedeuten, dass auch Menschen in besonderen Erwerbssituationen Zu Protokoll gegebene Reden - dies beträfe dann auch Strafgefangene - integriert würden. Bis dahin sind aber noch einige Fragen zu klären. Letztendlich können die Länder bei Fragen der Entlohnung aber auch immer auf die finanziellen Belastungen durch die allgemeinen und individuellen Unterhaltskosten im Vollzug verweisen. Insofern wäre die Anerkennung dieser Zeiten als Anrechnungszeiten eine gute Lösung, um den Interessen der Strafgefangenen für eine bessere Alterssicherung gerecht zu werden. Es wäre schön gewesen, hätte sich die Fraktion Die Linke allein auf den Themenkomplex des Sozialversicherungsschutzes konzentriert. So werden nun zwar zusammenhängende, aber doch sehr unterschiedliche Probleme in Ihrem Antrag miteinander vermischt, aber längst nicht ausführlich genug abgehandelt: Arbeit ist ohne jeden Zweifel wichtig für die Resozialisierung Strafgefangener. Aber die Abschaffung der Arbeitspflicht zu fordern, ist das eine; zugleich aber auch ein Recht auf Arbeit für Strafgefangene verankern zu wollen, lässt Ratlosigkeit auch bei Wohlwollenden zurück. Das Recht auf Arbeit beschreibt nach Art. 12 unseres Grundgesetz das Recht, bei freier Berufswahl und Sicherung der menschlichen Würde arbeiten zu können. Dies beinhaltet aber keinen individuellen Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Den kann es daher auch für Strafgefangene nicht geben. Eine freie Berufswahl ist schon allein aus Gründen, die im Charakter des Vollzugs liegen, unmöglich. Die Vollzugsanstalten sind bemüht, sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten bereitzustellen, letztendlich haben sie aber heute schon Schwierigkeiten, allen Gefangenen etwas anzubieten, weil die Nachfrage die vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten übersteigt. Sie haben eine finanzielle Opferentschädigung über einen Härtefonds für Opfer von schweren Gewalttaten in ihren Forderungskatalog mit aufgenommen. Halten Sie es für taktvoll und angemessen gegenüber den Betroffenen, die Sache der Strafgefangenen mit dem der Opferentschädigung in einem Antrag abzuhandeln? Sicherlich ist es richtig, Strafgefangene für angetanes Leid auch in die finanzielle Pflicht zu nehmen, wie Sie es mit der Änderung der Pfändungsvorschriften beabsichtigen. Aber die Einrichtung eines Härtefonds hätte sicherlich eine eigenständige Behandlung verdient. Es erscheint mir unangemessen und löst Befremden aus, die Interessen der Opfer mit denen der ehemaligen Täter gemeinsam zu behandeln. Kurz und gut: Obwohl wir Ihre Initiative zur Integration Strafgefangener in die Sozialversicherung als richtig erachten, wäre es dem Antrag zustatten gekommen, hätten Sie sich ausschließlich mit diesem Kernthema auseinandergesetzt. Dies hätte dann auch einen Erkenntnisgewinn für uns bedeuten können. Stattdessen haben Sie thematische Verknüpfungen vorgenommen, die der Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens nicht dienlich sind.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum wiederholten Male bringt die Fraktion der Linken das Thema aufs Tableau. Das ist zwar lobenswert, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Problematik. Ich möchte sie Ihnen gerne noch einmal darlegen. Zur inhaltlichen Diskrepanz: Versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung sind gemäß SGB VI unter anderem Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Ein solches Beschäftigungsverhältnis kann nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur angenommen werden, wenn man die Arbeit freiwillig macht. Die Arbeitsleistung von Gefangenen hingegen wird aufgrund eines sogenannten öffentlich-rechtlichen Gewahrsamsverhältnisses erbracht, sodass ein freies Beschäftigungsverhältnis nicht vorliegt. Nach geltendem Recht unterliegen Strafgefangene somit während einer Tätigkeit im Rahmen des Strafvollzugs nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Für diese Zeiten werden folglich auch keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt. Das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 enthält zwar schon Regelungen über eine grundsätzliche Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherungspflicht, es hat jedoch in § 198 das Inkrafttreten der vorgesehenen Regelungen einem besonderen Bundesgesetz vorbehalten. Und hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel: Dass aus dem Vorhaben bislang nichts wurde, beruht im Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundesländer, die die Beiträge zur Sozialversicherungsleistung übernehmen müssten. Die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug ist im Wege der Föderalismusreform auf die Länder übertragen worden. Nur der Bundesgesetzgeber kann jedoch Festlegungen zu den Personengruppen treffen, die von den sozialen Versicherungssystemen erfasst sind. Dass Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden, war bereits in der 14. und 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages Thema im Petitionsausschuss. Seinerzeit hat der Ausschuss keine Möglichkeit gesehen, dieses Anliegen auf Bundesebene zu unterstützen, und daher empfohlen, das damalige Petitionsverfahren abzuschließen. Der Deutsche Bundestag ist dieser Empfehlung gefolgt. Der Petitionsausschuss hat jedoch wegen der erforderlichen Zustimmung der Bundesländer zu einem entsprechenden besonderen Bundesgesetz im Sinne des § 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes zwei Petitionen den Landesparlamenten zugeleitet. Im Wege einer erneuten parlamentarischen Prüfung in der 16. Wahlperiode vertrat der Petitionsausschuss in seiner Beschlussempfehlung die Meinung, dass bei künftigen Gesetzgebungsverfahren zur Rentenversicherung das Anliegen mit einbezogen werden sollte. Dieser Vorschlag wurde dann im Bundesministerium für Arbeit und Soziales zwar geprüft, jedoch konnte Zu Protokoll gegebene Reden eine entsprechende Regelung als Gesetzesinitiative der Bundesregierung nicht in Aussicht gestellt werden, da mit wenig Erfolg zu rechnen gewesen wäre. Die Vorbehalte der Bundesländer gegen die Aufnahme von Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung bestehen unverändert fort. Die Haushaltssituation der Bundesländer hat sich nicht in der Weise verändert, dass eine erneute Initiative der Bundesregierung Aussicht auf Erfolg hätte. Die Bundesregierung hält die Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung zwar weiterhin für sinnvoll, hat jedoch keinerlei Möglichkeiten, die umfassende Einbeziehung in die Sozialversicherung auf anderem Wege sicherzustellen. Es können somit allein die Bundesländer eine Änderung der bestehenden Rechtslage herbeiführen, indem sie eine Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung initiieren. Nach derzeitigem Kenntnisstand besteht jedoch bei der Mehrheit der Bundesländer aus den eingangs geschilderten finanziellen Gründen weiterhin keine Neigung, einem Bundesgesetz im Sinne des § 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes zuzustimmen bzw. eine entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat zu ergreifen.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bereits vor 35 Jahren hat die Politik das Versprechen gegeben, dass Gefangene im Rahmen einer grundlegenden Gesamtreform des Strafvollzugswesens in die Sozialversicherungen einbezogen werden. Bisher gilt dies lediglich für die Unfall- und Arbeitslosenversicherung. Die Linke will die Wiedereingliederung von Gefangenen fördern und fordert daher, sie in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einzubeziehen. Mit dem Verweis auf die finanziellen Vorbehalte der Länder und auf die für sie anfallenden Kosten durch Sozialversicherungsbeiträge verweigert sich die Bundesregierung, initiativ zu werden. Das Sozialstaatsprinzip und Gebot der Resozialisierung von Gefangenen darf aber nicht unter Kostenvorbehalt gestellt werden. Die heutigen Regelungen stellen eindeutig eine doppelte Bestrafung dar, die nicht rechtens ist. Denn durch die Nichteinbeziehung in die Sozialversicherungssysteme entstehen den Gefangenen langfristig schwere Nachteile, indem sie etwa Vorversicherungszeiten und Wartezeiten verfehlen oder ihren Anspruch auf Erwerbsminderungsrente verlieren. Gefangene sind deshalb nicht in Sozialversicherungen einbezogen, weil bisher die Freiwilligkeit als das Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gilt. Strafgefangene und Sicherungsverwahrte unterliegen jedoch einer gesetzlichen Arbeitspflicht. Wir fordern die vollständige Abschaffung der Arbeitspflicht und diese in ein individuelles und einklagbares Recht auf einen Arbeitsplatz umzuwandeln. Die meisten Gefangenen wollen nämlich arbeiten. Es existiert zwar der Musterentwurf eines Gesetzes von zehn Ländern, der die Abschaffung der Arbeitspflicht vorsieht. Doch als einziges Bundesland steht Brandenburg mit seiner rot-roten Regierung auch vor der tatsächlichen Umsetzung dieses Entwurfs. Dass die von Gefangenen geleistete Arbeit derzeit nicht bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung berücksichtigt wird, hat verheerende Auswirkungen auf die Zeit nach der Haftentlassung. Die entstandenen Versicherungslücken führen zu sehr niedrigen Altersrenten, und sogar die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner ist keineswegs garantiert. Ansprüche auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung oder auch auf Erwerbsminderungsrente können nur bei Einhaltung bestimmter Vor- bzw. Mindestversicherungszeiten geltend gemacht werden. Wir Linken schlagen deshalb vor, für die Dauer des Freiheitsentzugs eine eigenständige rentenrechtliche Zeit einzuführen. Bei der 35-jährigen Wartezeit muss die Zeit des Strafvollzugs voll berücksichtigt werden. Für ehemals in der DDR Inhaftierte galten Arbeitseinsätze als versicherungspflichtige Zeiten. Diese Regelung lief jedoch am 31. Dezember 1996 aus. Für die Zeit nach 1996 wollen wir eine vertrauensschutzwahrende Regelung schaffen. Strukturierte und ausgefüllte Arbeitstage, entsprechend der Fähigkeiten und Neigungen der Gefangenen, sind für einen echten Resozialisierungsprozess unabdingbar. Die Länder müssen daher dazu angehalten werden, neue Arbeitsplätze im Strafgefangenenvollzug zu schaffen. Die geleistete Arbeit muss zudem paritätisch beitragspflichtig und anspruchsbegründend werden. Dies soll neben der Verbesserung der Resozialisierungsbedingungen insbesondere den Opfern der Straftäterinnen und Straftäter zugutekommen. Wir fordern darum, die bisherigen Pfändungsvorschriften derart zu gestalten, dass zunächst die Opfer der Straftaten mit ihren Entschädigungsansprüchen privilegiert werden. Dazu ist ebenso die derzeitige Entlohnung der Gefangenen von durchschnittlich 1,50 Euro pro Stunde deutlich anzuheben. Im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Straftäterinnen und Straftäter kann nur ein Härtefallfonds für Opfer schwerer Gewalttaten Abhilfe schaffen. Die Gesetzgebungskompetenz liegt hier ausdrücklich beim Bund. Dafür muss im nächsten Haushaltsgesetz unbedingt ein Haushaltstitel in angemessener Höhe eingestellt werden. Die Wahrung der Opferrechte ist unmittelbar mit der Wahrung der Straftäterinnen- und Straftäterrechte verknüpft.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es zählt zu den Grundsätzen des Sozialstaats, dass der Staat „für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind“, Vor- und Fürsorge trägt. Ganz im Geiste dieser sozialen Verantwortung des Staates für seine Bürger Zu Protokoll gegebene Reden wurde 1976 eine Änderung des Strafvollzugsgesetzes beschlossen. Sie sah vor, die Arbeit von Inhaftierten neu zu bewerten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte die Arbeitspflicht im Strafvollzug zukünftig nicht - mehr - als Strafe gelten, sondern die berufliche Integration der Strafgefangenen fördern und sie darin unterstützen, sich nach Verbüßung der Haftzeit eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen. Als wesentliche Punkte dieser Neubewertung waren zum einen eine bessere Vergütung vorgesehen, die derjenigen in Freiheit vergleichbar sein sollte; zum anderen sollten die arbeitenden Häftlinge umfassend in die Sozialversicherung einbezogen werden. Dieser Beschluss wurde 1976 gefasst; allerdings ist keiner der beiden Punkte bislang umgesetzt. Damals wie heute erhalten Strafgefangene und Sicherungsverwahrte einen Minimallohn von wöchentlich 100 Euro. Und damals wie heute sind Strafgefangene und Sicherungsverwahrte trotz Erwerbsarbeit weder kranken-, pflegenoch rentenversichert. Dass ein entsprechendes Bundesgesetz bislang nicht zustande kam, ist dem Widerstand der Länder geschuldet. Im Bundesrat wurde die Einbeziehung der Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung mit Verweis auf die finanziellen Belastungen der Länderhaushalte, die als Träger des Strafvollzugs die Beiträge anteilig übernehmen müssten, abgelehnt. Die Kosten, die auf die Länder für eine Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung zukämen, würden sich auf jährlich 160 Millionen Euro belaufen. Noch einmal 100 Millionen Euro fielen jährlich für eine angemessene Entlohnungshöhe an - eine vergleichsweise geringe Summe, stellt man ihr die Kosten gegenüber, die dadurch entstehen, dass viele ehemalige Häftlinge - vor allem diejenigen mit langen Haftzeiten - mit dem Eintritt ins Rentenalter auf Leistungen aus den Sozialkassen angewiesen sind. Abgesehen davon, dass die Blockadehaltung der Länder eine finanzielle Milchmädchenrechnung ist, bedeutet der seit 37 Jahren währende Ausschluss von Strafgefangenen aus der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung vor allem eine Bankrotterklärung an das Sozialstaatsprinzip. Ihr Ausschluss widerspricht der staatlichen Vor- und Fürsorgepflicht. Indem Gefangene für ihre Arbeit, die sie als Pflichtarbeit in Eigenbetrieben der Strafvollzugsanstalten oder assoziierten Unternehmen leisten, weder angemessen entlohnt noch sozial abgesichert werden, ist das Verbüßen einer Freiheitsstrafe nicht allein ein Freiheitsentzug für einen bestimmten Zeitraum, sondern straft die Betroffenen auch über ihren Haftaufenthalt hinaus. Damit widerspricht die Praxis zwei eisernen Grundsätzen des Strafvollzugs: erstens dem Gebot, dass eine Haftstrafe über die eigentliche Haftdauer hinaus keine negativen Folgen für die Betroffenen haben darf. Greift man allein die fehlende Einbindung in die Rentenversicherung heraus, so wird deutlich, dass genau das aber der Fall ist. Da während der Zeit der Strafhaft keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden und diese Zeit auch nicht als Berücksichtigungs-, Anrechnungs- oder Zurechnungszeit gilt, führt die Haft trotz Heranziehung zur Arbeit dazu, dass Teile der Lebensarbeitszeit für die Altersvorsorge entfallen. Neben Einbußen bei der Rentenhöhe scheitern Rentenansprüche so auch an der Nichterfüllung von Wartezeiten. Durch den Ausschluss aus der Rentenversicherung kann die Anwartschaft auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wegen der Nichterfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen verloren gehen. Zweitens steht der Umgang mit den Inhaftierten im Widerspruch zum Grundsatz der Resozialisierung. Wir wissen um die Bedeutung der Arbeit für Kriminalprävention, Straffälligkeit und Resozialisierung. Die Wertschätzung, die Strafgefangene für ihre Arbeit erfahren, ist wichtig. Allerdings erschwert es die geringe Entlohnung, Schulden zu tilgen, Angehörigen Unterhalt zu leisten oder Rechtstitel der Opfer zu begleichen. Die Schuldenlast, die viele Strafgefangene drückt, kann während der Haftzeit kaum gemindert werden, und das, obwohl Schuldenfreiheit die Chancen für ein Leben ohne Straftaten deutlich erhöht. Ein echter Neuanfang ist - insbesondere nach längerer Haft - ohnehin schwer. Wer das Ziel der Resozialisierung von Strafgefangenen wirklich ernst nimmt, der sollte ihnen die Möglichkeit geben, während der Haftzeit „reinen Tisch“ zu machen - und zwar auch in finanzieller Hinsicht -, um eine realistische Aussicht auf gelingende Rückkehr in die Gesellschaft zu haben. Noch ein Wort zum Sozialstaatsprinzip, mit dem ich meinen Redebeitrag eingeleitet habe: Hinter ihm steht das politische Bekenntnis, jedem Einzelnen den Status als Bürger zuzugestehen. Der Ausschluss von Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten fällt hinter diesen Grundsatz zurück. Die Linke betont in ihrem Antrag die Wiedereingliederung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten; das unterstützen wir Grünen. Allerdings hat die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung noch eine andere, man könnte sagen, symbolische Dimension. Es geht um die Integration in die soziale Sicherung, und zwar als vollwertige Bürger, unabhängig davon, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind oder nicht. Unstrittig ist, dass Rechtsverstöße strafbewehrt verfolgt werden müssen und dass - wo dies möglich ist - ein Ausgleich zwischen Tätern und Opfern erfolgen muss. Unstrittig ist aber auch, dass Rechtsverstöße keine Ungleichbehandlung rechtfertigen, wie sie derzeit - und, ich betone das noch einmal, seit inzwischen 37 Jahren - betrieben wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann haben wir so beschlossen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Katja Kipping, Sabine Zimmermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei den Jobcentern erhöhen - Drucksache 17/7844 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})Innenausschuss Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch ist ein lernendes System. Dies hat sich erst vor wenigen Tagen wieder gezeigt, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Fachleute aus ganz Deutschland zu einem Symposium zur Anwendung des SGB II eingeladen hatte. Wir haben aus diesem Gespräch eine Fülle von Anregungen für unsere Arbeit mitgenommen. Aber, um es vorwegzunehmen: Vorschläge, wie sie die Fraktion Die Linke heute in ihrem Antrag präsentiert, hat uns dort niemand unterbreitet. Dabei ist der Überschrift des Antrags nicht einmal zu widersprechen. Nichts ist so gut, als dass es nicht auch noch besser werden könnte. Insofern räume ich durchaus ein, dass bei der Wirksamkeit der Beiräte bei den Jobcentern bisweilen noch Spielraum nach oben sein könnte. Ich will an der Stelle aber auch vorab schon sagen, dass viele Jobcenter mit den Beiräten sehr gut zusammenarbeiten und die dort vorhandene Expertise zugunsten ihrer Kunden nutzen. Wie gesagt, die Überschrift des Antrags ist ganz vernünftig, aber das war es dann auch schon. Wenn man sich die Vorschläge im Einzelnen ansieht, stünde am Ende der Umsetzung dann wohl die vollständige Ausgliederung der Einzelfallbearbeitung im Jobcenter in deren örtliche Beiräte. Wer auch nur ein bisschen Ahnung von Verwaltung hat, kann sich ausmalen, was das in der Praxis bedeutet. Das Ganze soll dann auch noch in öffentlicher Sitzung beraten werden. Was das mit dem Ziel der Effizienzsteigerung zu tun haben soll, erschließt sich mir beim besten Willen nicht. Ich komme nochmals auf die eingangs zitierte Anhörung zu sprechen. Da gab es auch kritische Untertöne, dass bisweilen die Kooperation mit den Beiräten nur formal sei. Wir wurden aber gleichzeitig und fast schon händeringend gebeten, das SGB II nicht zu übersteuern. Daraus folgt für mich: Wenn es einen Optimierungsbedarf zwischen Jobcenter und Beirat geben sollte, dann müssen sich dem die Akteure vor Ort zuwenden. Diesem Anliegen können sich beispielsweise die Kreistage widmen, wenn ihnen über die Arbeit des Jobcenters berichtet wird. Der Bund ist als Gesetzgeber wichtig; er sollte aber gerade dort, wo es um originäre kommunale Zuständigkeiten geht, einsehen, dass auch im vorliegenden Fall der Leitsatz gilt: In der Beschränktheit zeigt sich der Meister. Insofern kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem Antrag der Linkspartei nicht folgen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unsere erste und vorrangigste Aufgabe ist es, den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen vor Ort durch Unterstützung und Förderung eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen. Dazu ist in dezentraler Verantwortung ein individuelles und passgenaues Fallmanagement erforderlich. Denn der Gesetzgeber kann nur die Rahmenbedingungen setzen; die eigentliche Arbeit wartet vor Ort im Rahmen der Gestaltung der örtlichen Arbeitsmarktpolitik. Gefordert sind also in erster Linie die Träger der Grundsicherung, die Jobcenter, die Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes und eben auch die örtlichen Beiräte. Der Sachverstand aller wird benötigt, um die bestmöglichen Lösungen für die betroffenen arbeitslosen Menschen zu finden und zu nutzen. Dabei bilden die gesetzlich verankerten örtlichen Beiräte die Schnittstelle zwischen der öffentlichen Verwaltung in den Jobcentern und der Umsetzung und Erbringung der erforderlichen Maßnahmen durch die Arbeitsmarktdienstleister. Sie beraten das Jobcenter und die verantwortlichen Träger und geben Impulse. Ziel ist es, die Erfahrung und das Wissen der Akteure vor Ort bei der Auswahl von Eingliederungsmaßnahmen zu nutzen. Seit dem 1. Januar 2011 ist verbindlich vorgesehen, dass jedes Jobcenter, egal ob gemeinsame Einrichtung oder Optionskommune, einen örtlichen Beirat einrichtet. Damit hat der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebracht: Die Nutzung der Kompetenzen der Partner des Arbeitsmarkts sollen aktiv genutzt und in die tägliche Arbeit der Jobcenter eingebunden sein. Die Beiräte werden gebraucht, sie können überall einen aktiven fördernden Part bei der Zielerreichung spielen. Das ist zugleich Teil der Philosophie der Jobcenterreform, mit der wir die lokalen Strukturen und die dezentrale Verantwortung gestärkt haben. Aufgabe der Beiräte ist allerdings lediglich die Beratung der Jobcenter. Es geht nicht darum, Entscheidungen für die Jobcenter zu treffen. In diese Richtung zielt erkennbar der Antrag der Fraktion Die Linke. Die Beiräte sollen verbindlich mitbestimmen; sie sind bei ablehnenden Widersprüchen anzuhören; ihnen soll Akteneinsicht gewährt werden. Das geht aber weit über die Aufgabenbefugnisse hinaus, die den Beiräten zukommen soll. Ein verbindlicher Einfluss der örtlichen Beiräte, eine Entscheidungskompetenz oder ein Vetorecht sind einfachgesetzlich und auch verfassungsrechtlich ausgeschlossen. § 18 d SGB II spricht deshalb mit guten Gründen von der beratenden Funktion des örtlichen Beirats. Das geht natürlich nur, wenn die Jobcenter gegenüber den örtlichen Beiräten transparent handeln. Nur im ehrlichen und offenen Dialog können gute und nachMax Straubinger haltige Ergebnisse erzielt werden. Je engagierter die örtlichen Beiräte auftreten, nachfragen und sich einbringen, desto stärker können positive Impulse von den verantwortlichen Stellen gehört und umgesetzt werden. Die Beiräte sind nicht Placebo, nicht Beiwerk oder Kulisse; sie sind wichtig, notwendig und eine Einflussgröße von besonderem Wert. Alle Beteiligten vor Ort sind aufgefordert, darauf zu achten und dieser Funktion in den wesentlichen Entscheidungsprozessen zur Geltung zu verhelfen. Eine andere Frage ist, die Wirksamkeit der örtlichen Beiräte auf die Arbeit der Jobcenter zu prüfen. Kommen die Beiräte ihrer Funktion nach? Welchen Einfluss haben sie auf die Entscheidung der Jobcenter? Welche Gestaltungsspielräume stehen ihnen dazu zur Verfügung? Die Bundesregierung hat dazu Anfang März 2013 in ihrer Antwort auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage der Linken ausgeführt, dass sie derzeit keinen Bedarf sieht, ein Forschungsvorhaben zur Rolle und Wirkungsweise der örtlichen Beiräte umzusetzen. Ich teile diese Einschätzung. Ich halte es für einen großen Erfolg, dass innerhalb kurzer Zeit fast überall Beiräte eingerichtet worden sind. Jetzt sollten wir die Beiräte erst einmal in Ruhe arbeiten lassen. An mich sind bislang auch keine diesbezüglichen Klagen herangetragen worden. Nach meinen Erkenntnissen stehen die Linken mit ihrer Forderung auch ziemlich allein. Eine Erweiterung der Kompetenzen der Beiräte, wie sie die Antragsteller fordern, lehne ich jedenfalls ab. Die heutige Gespensterdebatte könnten wir uns getrost sparen.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Beiräte in den Jobcentern sind ein wichtiger Partner vor Ort, wenn es darum geht, lokal erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Ihrem ehrenamtlichen Engagement sollten wir alle Anerkennung und Dank zollen. Und die Kenntnisse und Erfahrungen der örtlichen Arbeitsmarktakteure sind zudem eine große Bereicherung für die Arbeit der Trägerversammlung und der Geschäftsführung. Sie bringen sich ein und tragen mit dafür Sorge, dass die Eingliederungsleistungen im Sinne der arbeitsuchenden Menschen vor Ort gestaltet werden. Die rigide Kürzungspolitik dieser schwarz-gelben Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik stellt die Arbeitsuchenden, die Jobcenter und die Träger vor große Herausforderungen. Daher ist es umso wichtiger - vor dem Hintergrund dieser verschärften Bedingungen -, das Wissen der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter, der Kammern und berufsständischen Organisationen sowie der Freien Wohlfahrtpflege mit einzubinden. Das war immer unser Anspruch! Deshalb ist es auch gut und richtig, dass seit dem 1. Januar 2011 die örtlichen Beiräte nach § 18 d SGB II in allen Jobcentern verpflichtend sind. Dafür haben wir uns in den Beratungen zur Jobcenterreform eingesetzt. Die Einrichtung der Beiräte lief etwas holprig, und in vielen Regionen musste sich das vertrauensvolle und reibungslose Zusammenspiel zwischen dem Beirat, der Trägerversammlung und der Geschäftsführung erst entwickeln. Wir schauen in den meisten Regionen unseres Landes also auf gut zwei Jahre Arbeit von Beiräten zurück. Die Fraktion Die Linke hat den Antrag bereits im November 2011 eingebracht und wollte zu diesem Zeitpunkt schon erkannt haben, dass die Arbeit der Beiräte nur ungenügend wirkt. Das ist schon interessant. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Sie uns die Quelle Ihrer Erkenntnis verschweigen! Der Gesetzgeber hat mit den Beiräten ein beratendes Gremium geschaffen, welches vor Ort gute fachliche Unterstützung leistet. Diesem Anspruch müssen aber auch die Größe der Beiräte und ihre Zusammensetzung, sowie ihr Aufgabenspektrum Rechnung tragen. Denn zu berücksichtigen ist und bleibt, dass die örtlichen Beiräte ehrenamtlich arbeiten. Daher müssen die gemachten Vorschläge der Linksfraktion genau geprüft werden - inwieweit sie mit dem Anspruch einer wirksamen Arbeit der Beiräte vereinbar sind. Und dann kommen wir zum Schluss, dass durch die meisten Forderungen die Wirksamkeit der Arbeit der örtlichen Beiräte nicht verbessert wird, sondern eher verschlechtert wird. Schauen wir uns exemplarisch den einen oder anderen Vorschlag genauer an. Es wird zum Beispiel gefordert, dem Beirat Akteneinsicht zu gewähren und auf Verlangen Auskunft zu erteilen. Hier muss erläutert werden, wie weit sich das Akteneinsichtsrecht erstrecken soll. Lediglich datenschutzrechtliche Grenzen zu ziehen, ist sicherlich zu weitläufig. Für Einzelfallakten ist dieser Vorschlag gänzlich auszuschließen, und wir müssen auch Sorge dafür tragen, dass die ohnehin schon komplexen Verwaltungsabläufe nicht noch komplizierter werden. Voraussetzung für eine wirksame Arbeit der Beiräte ist, dass die Jobcenter Transparenz über ihre Arbeit schaffen. Das heißt, dass sie den örtlichen Beiräten Informationen über die Höhe des Eingliederungstitels, über geplante Maßnahmen und deren Grundlagen rechtzeitig zur Verfügung stellen. Denn die Intention des Beirats ist verfehlt, wenn er erst nach Erstellung des Katalogs der Eingliederungsmaßnahmen und -instrumente eingebunden wird. Sinn macht nur eine frühzeitige Beteiligung! Inwieweit das derzeit schon gut funktioniert oder wo es noch hakt, kann keiner zum jetzigen Zeitpunkt sagen. Ich glaube aber, dass sich die Zusammenarbeit noch besser einspielen muss. Die Trägerversammlungen sowie die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer müssen die Beiräte als Partner und guten Ratgeber begreifen. Doch das lässt sich nicht per Gesetz regeln. Wovor wir uns auch hüten sollten, es gesetzlich zu regeln, ist die Einbindung der Beiräte im WiderZu Protokoll gegebene Reden spruchsverfahren der Leistungsbescheide. Wir dürfen nicht vergessen, dass es von vornherein gewollt war, dass die örtlichen Beiräte ein ehrenamtliches und beratendes Gremium sind. Und so ist es nach unserer Auffassung auch richtig. Eine Einbindung in das Widerspruchsverfahren würde die Arbeit der Beiräte nicht wirksamer werden lassen, sondern zum Erliegen bringen. Richtig ist, dass dem Sozialrecht eine Beteiligung Dritter im Widerspruchsverfahren nicht fremd ist. Aber der Beirat ist hier definitiv die falsche Adresse - zumal wir dann auch wieder bei den Einzelfallakten und den datenschutzrechtlichen Regeln wären. Wenn man in diese Richtung was machen will, dann sollte man eher über neutrale Ombudsstellen nachdenken. Die Frage, wer in den Beiräten sitzt und wer Mitglieder entsenden darf, war im Vorfeld der zum 1. Januar 2011 eingeführten Änderungen schon Thema. Die derzeitige Regelung ist in unseren Augen ausreichend und begrenzt die Beiräte somit auch auf eine arbeitsfähige Größe. Eine weitere Ausdehnung des Gremiums werden wir daher nicht unterstützen. Was wir aber unterstützen, ist die engere Einbindung der örtlichen Beiräte im Einsatzfeld der öffentlich geförderten Beschäftigung. In unserem Antrag zum sozialen Arbeitsmarkt haben wir das schon unterstrichen. Wir wollen, dass die Sozialpartner ein ordnungspolitisches Vetorecht bekommen - und zwar für die im Arbeitsmarktprogramm dargelegten Konzepte für sozialversicherungspflichtige öffentlich geförderte Beschäftigung. Diese intensive Einbindung hat nämlich ihren besonderen Reiz. Zum einen ist der lokale Konsens in einem sozialen Arbeitsmarkt unabdingbar. Zum anderen können somit auch Vorurteile abgebaut werden. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Konsens mit dem Jobcenter die Instrumente und Maßnahmen besprechen, kann den permanenten Vorwürfen - öffentlich geförderte Beschäftigung verdrängt reguläre Arbeitsplätze und sei nur schlecht bezahlt - entgegengewirkt werden. Jedoch kann die Befugnis des Beirats als beratendes Gremium nur bei einem ordnungspolitischen Vetorecht liegen. Das haben wir in unserem Antrag zum sozialen Arbeitsmarkt auch hinreichend begründet. An diesem Punkt würden wir die Rechte der örtlichen Beiräte stärken wollen. Inwieweit die beratende Tätigkeit, wie in Punkt 1 gefordert, noch ausgeweitet werden soll, muss in der weiteren Diskussion geklärt werden. Es kann durchaus Sinn machen, die Beiräte in einzelnen Punkten beratend mit hinzuzuziehen. Eine generelle Ausweitung auf alle Leistungen ist aber zu weitgehend, und wird durch uns nicht unterstützt. Im Großen und Ganzen können wir über die Anregungen aus diesem Antrag diskutieren. Schlussendlich haben wir hier aber ein Thema, zu dem es derzeit kein fundiertes und belastbares Material gibt. Es ist einfach zu früh, über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit der Beiräte zu Schlussfolgerungen im Sinne dieses Antrags zu kommen. Wir wissen zudem, dass die Hans-Böckler-Stiftung gerade an einem Forschungsprojekt zu genau diesem Thema arbeitet. Das Projektteam untersucht die Gestaltungsspielräume und die Durchsetzungskraft der Beiräte. Lassen Sie uns doch einfach erst einmal abwarten, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen! Mitte 2014 soll das Forschungsprojekt abgeschlossen sein. Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. Und davon ausgehend lohnt sich dann auch eine intensivere Betrachtung der Arbeit der Beiräte in den Jobcentern.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit der Neuorganisation der Aufgabenwahrnehmung im Bereich des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch hat diese christlich-liberale Regierungskoalition die Bildung von Beiräten bei den Jobcentern gesetzlich verankert. Im Zuge der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente haben wir die örtlichen Beiräte weiter gestärkt. Sie können daran erkennen, dass dieser Regierungskoalition viel an der Arbeit der örtlichen Beiräte liegt. Unsere Zielrichtung bei der Jobcenterreform war es, den Prozess des lokalen Zusammenarbeitens der entscheidenden Akteure vor Ort zu stärken. Dabei ist auch klar, dass, je engagierter die örtlichen Beiräte auftreten, nachfragen und sich einbringen, desto stärker positive Impulse von den verantwortlichen Stellen gehört und umgesetzt werden können. Als Politik haben wir das Signal gesetzt, dass die Beiräte wichtig sind und ihren Einfluss geltend machen sollen. Sie dienen nicht als Feigenblatt, sondern sollen konkret mitsprechen und beraten. Gerade uns als Liberalen war es ein Anliegen, bei der Entscheidung über den Einsatz von Arbeitsgelegenheiten nach §16 d SGB II die örtlichen Beiräte mit Befugnissen auszustatten. Sie haben jetzt eine beratende Funktion beim Einsatz dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments. Gerade bei der Bewertung der Einhaltung der Kriterien öffentliches Interesse, Wettbewerbsneutralität und Zusätzlichkeit setzen wir auf das Wissen der lokalen Arbeitsmarktakteure vor Ort. Diese können die Einsatzfelder viel besser ausmachen und definieren, als es aus der Ferne einzuschätzen wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr Antrag ist für mich ein Beispiel dafür, dass gut gemeint das Gegenteil von gut gemacht ist. Wenn man Ihren Antrag liest, dann klingt das alles sehr schlüssig und unterstützenswert. Ich möchte nicht verhehlen, dass auch wir gerade im Zuge der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente darüber nachgedacht hatten, die örtlichen Beiräte mit noch weiter gehenden Kompetenzen auszustatten. Im Rahmen der Beratung des damaligen Gesetzentwurfs haben wir uns mit Fachleuten unterhalten, die Zu Protokoll gegebene Reden uns aus einem einfachen Grund davon abgeraten haben. Ein verbindlicher Einfluss der örtlichen Beiräte, eine Entscheidungskompetenz oder ein Vetorecht sind einfachgesetzlich und vor allem auch verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Durch das Urteil vom 20. Dezember 2007 zu den Arbeitsgemeinschaften als Gemeinschaftseinrichtung von Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Trägern hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber den Auftrag gegeben, dafür zu sorgen, dass transparente und eindeutige Entscheidungs- und Aufsichtsstrukturen geschaffen werden. Dies sei ein zwingendes Gebot des Demokratieprinzips; denn für jeden Bürger müsse klar nachvollziehbar sein, welche staatliche Stelle für eine Entscheidung tatsächlich verantwortlich ist. Daher ist die Übertragung von verbindlichen Entscheidungsmöglichkeiten auf die örtlichen Beiräte nicht möglich. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit der örtlichen Beiräte so wertvoll, dass wir sie weiterhin unterstützen wollen, auch wenn es keine verbindlichen Entscheidungen der Beiräte geben kann. Für uns ist wichtig, dass lokale Arbeitsmarktpolitik akzeptiert ist. Hierfür ist es notwendig, dass keine Arbeitsplätze verdrängt werden. Uns ist wichtig, dass jeder eine Chance bekommen kann. Dies darf aber nicht zulasten der bisherigen Arbeitnehmer gehen. Gerade dies kann der Rat der örtlichen Beiräte bewerkstelligen. Es ist das Ziel dieser christlich-liberalen Regierungskoalition, die lokalen Arbeitsmarktakteure stärker an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen. Denn vor Ort liegt das Wissen über die regionalen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes. Unter anderem aus diesem Grund haben wir uns ja auch für die Entfristung und Ausweitung der Optionskommunen eingesetzt. Und auch aus diesem Grund sind wir gegen einheitliche staatlich festgesetzte Mindestlöhne. Vor Ort muss entschieden werden, welche Lösungen es jeweils braucht. Wir bekennen uns zu den örtlichen Beiräten; der Antrag der Linken ist jedoch nicht praktikabel.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem Gesetz über die Neuorganisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde die Einrichtung von örtlichen Beiräten bei Jobcentern festgeschrieben. Der neu in das Zweite Buch Sozialgesetzbuch, SGB II, aufgenommene § 18 d schreibt die Bildung von Beiräten bei allen Jobcentern der gemeinsamen Einrichtungen und den zugelassenen kommunalen Trägern verpflichtend vor; das heißt, Beiräte müssen überall gebildet werden. Dies stellt zwar gegenüber der alten Gesetzeslage einerseits einen Fortschritt dar, aber andererseits beinhaltet die Neuregelung auch einen Rückschritt. Positiv ist, dass es nun nicht mehr im Belieben eines Landrates oder Bürgermeisters oder einer kommunalen Vertretung liegt, ob ein Beirat eingerichtet wird. Er kann auch nicht einfach wieder abgeschafft werden. Beides war leider in der Vergangenheit vielfach der Fall. Insofern ist die verbindliche Einführung von Jobcenterbeiräten grundsätzlich zu begrüßen. Sie bedeutete auch eine Aufwertung der Beiräte. Negativ ist allerdings, dass die Beiräte die Trägerversammlung und die Jobcenter nur noch in Fragen der Auswahl und der Gestaltung der Eingliederungsinstrumente und -maßnahmen beraten können. Dies ist ein Rückschritt. Denn bis zur Neuregelung konnten sich die Beiräte mit allen Fragen des SGB II befassen. So haben sie sich zum Beispiel auch mit der Widerspruchs- oder Sanktionspraxis der Jobcenter befasst. Das ist jetzt nicht mehr machbar, da die Bundesregierung diese Möglichkeit per Gesetz ausgeschlossen hat. Zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Regelung wird deutlich, dass die Beiräte sehr oft nur eine Alibifunktion haben. Ihre Einflussnahme ist begrenzt bzw. auch nicht gewollt. Nicht nur aus einer Kommune ist mir bekannt, dass, obwohl die Trägerversammlung per Gesetz zur Zusammenarbeit mit dem Beirat verpflichtet ist, seine Empfehlungen gar nicht erst zur Kenntnis genommen werden. Einen Rücklauf, wie mit den Empfehlungen des Beirats umgegangen wurde, gibt es nicht. Das ist nicht nur demotivierend für viele, die sich ehrenamtlich in den Beiräten engagieren. Das ist auch eine Pflichtverletzung der Trägerversammlung. Ich weiß, wovon ich rede, da unsere Fraktion seit nunmehr sechs Jahren regelmäßig Erfahrungsaustausche mit Mitgliedern von Beiräten durchführt. Die in unserem Antrag unterbreiteten Vorschläge zur Erhöhung der Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte ist ein Ergebnis dieser regelmäßigen Treffen. Die Beiratsmitglieder wollen ihr Aufgabenfeld selbst bestimmen und eine Zusammenarbeit mit dem Jobcenter und der Trägerversammlung auf gleicher Augenhöhe. Sie sind der Auffassung, dass sie ihre beratende Rolle erst richtig wahrnehmen können, wenn die Beiräte auch über entsprechende Kompetenzen verfügen. So sollten sich die Beiräte mit allen grundsätzlichen Fragen, die im Zusammenhang mit Leistungen, die für Betroffene im Rahmen des SGB II erbracht werden, befassen und hierzu Empfehlungen an die Trägerversammlung und die Jobcenter aussprechen können. Wichtig ist auch, dass die örtlichen Beiräte über die Einsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung verbindlich mitbestimmen. Hier sollten sie nicht nur beratend tätig sein, um Missbrauch und Fehlsteuerungen entgegenwirken zu können. Es ist heute bereits in einigen Kommunen Praxis, dass Trägerversammlungen per Vereinbarung den Beiräten weitere Aufgaben übertragen. Diese Möglichkeit sollte allen eröffnet werden. Auf diese Weise kann den unterschiedlichen Gegebenheiten des jeweiligen örtlichen Arbeitsmarktes und den daraus erwachsenden Anforderungen an Auswahl und Gestaltung der EinZu Protokoll gegebene Reden gliederungsinstrumente besser Rechnung getragen werden. Weiterhin schlagen wir vor, dass sich die Beiräte mit strittigen Widerspruchsbescheiden befassen können, um Klageverfahren zu verhindern. Eine Beteiligung Dritter im Widerspruchsverfahren ist dem SGB nicht fremd. Für die Sozialhilfe bestimmt § 116 Abs. 2 SGB XII, dass sozial erfahrene Dritte vor dem Erlass des Bescheides über den Widerspruch gegen die Ablehnung der Sozialhilfe oder die Festsetzung ihrer Art und Höhe beratend zu beteiligen sind. Die Einbringung dieser Erfahrung in das Verfahren soll unter anderem eine erhöhte „Richtigkeitsgewähr“ für die jeweils zu treffende Maßnahme bewirken, und zwar im öffentlichen Interesse wie im Interesse des von dieser Maßnahme betroffenen Einzelnen. In der Begründung zur verbindlichen und flächendeckenden Einrichtung von Beiräten wurde darauf verwiesen, dass durch die Arbeit des Beirats für alle Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes Transparenz über das Gesamtpaket der aktiven Leistungen hergestellt wird. Die Linke ist der Auffassung, dass dieser Anspruch nur erfüllt werden kann, wenn die Beiratsmitglieder den Zugang zu Informationen zu allen zum Aufgabenbereich eines Beirats gehörenden Angelegenheiten haben. Insofern fordern wir ein Akteneinsichtsrecht für alle Mitglieder des Beirats und eine Auskunftspflicht der Geschäftsführung des Jobcenters gegenüber den Mitgliedern des Beirats. Dies würde zugleich zu einer Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe beitragen. Zu beachten sind allerdings etwaig entgegenstehende datenschutzrechtliche Regelungen. In Zukunft sollten die Mitglieder eines Beirats nicht mehr über die Trägerversammlung berufen werden. Kommunale Vertretungen und SGB-II-Beziehende bzw. deren Interessenvertretungen sowie die übrigen Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes, insbesondere Gewerkschaften und Arbeitgebervertretungen, die Industrie- und Handelskammer, die Handwerkskammern sowie die Liga der freien Wohlfahrtspflege, sollen ihre Vertreterinnen und Vertreter selbst bestimmen. Dadurch wird sichergestellt, dass alle gesellschaftlich relevanten Belange berücksichtigt werden. Soweit zu unseren Vorschlägen. Die Linke ist der Auffassung, dass deren Umsetzung zu einem anderen Verständnis und zu einer echten Aufwertung der Arbeit der Beiräte im Interesse der Betroffenen führen kann.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir brauchen starke Jobcenter, und dazu gehören auch stark besetzte und gut eingebundene Beiräte. Wer kann besser die örtlichen Problemlagen einschätzen als die Beteiligten des lokalen Arbeitsmarktes selbst? Wer kann besser den Einsatz von Eingliederungsmaßnahmen bewerten als diejenigen, die breite Erfahrung haben mit den verschiedenen Instrumenten? Wer kann besser bei der Gestaltung der Maßnahmen beraten als diejenigen, die wissen, wo es Lücken und Defizite gibt, aber auch sagen können, was bereits gut funktioniert? In den Beiräten sitzen idealerweise genau diejenigen zusammen, die die Gegebenheiten vor Ort am besten kennen und einschätzen können. Dazu gehören die Vertreter von Kommunen und Gemeinden, der freien Wohlfahrtspflege, von Arbeitgebern, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Kammern. Aber immer wieder wird die Arbeit der Beiräte nicht ernst genommen oder gar missachtet. Die Arbeitsmarktakteure dürfen sich dann in den Beiräten zwar austauschen und ihre Meinung kundtun, wirklich eingebunden werden sie aber nicht. Beispielhaft dafür steht die Situation in Leipzig. Die dortigen Grünen mussten erst ein Rederecht des Jobcenterbeirats in der Trägerversammlung beantragen und im Stadtrat durchsetzen - um den Widerstand der Verwaltung dagegen aufbrechen zu können. Partnerschaftliche Zusammenarbeit stelle ich mir anders vor. Die Beiräte sind nicht als Plauderrunden gedacht. Dort sitzt wichtige lokale Expertise. Es muss daher überall eine echte und transparente Kultur der Zusammenarbeit zwischen den Jobcentern und den Beiräten entstehen. Nur dann können Impulse in der Arbeitsmarktpolitik gesetzt werden, nur dann kann die Arbeit der Jobcenter begleitet und reflektiert werden, nur dann entstehen dringend notwendige Kooperationen zwischen der Arbeitsverwaltung und den arbeitsmarktpolitischen Akteuren der Region. Nur so kann den Herausforderungen am Arbeitsmarkt wirksam begegnet werden. Und Sie alle wissen, wie groß die Probleme am Arbeitsmarkt nach wie vor sind. Die lösen wir nicht mit starren 08/15-Programmen, sondern nur mit flexibel gestaltbaren Maßnahmen, die an die Erfordernisse vor Ort angepasst werden können. Dafür wollen wir die Rahmenbedingungen schaffen. Herr Keller vom Deutschen Landkreistag hat es in einer öffentlichen Anhörung zum Thema „Sozialer Arbeitsmarkt“ auf den Punkt gebracht. Er erinnerte daran, dass der Gesetzgeber nicht der erste Sachbearbeiter ist! Der vielfältigen und heterogenen Wirklichkeit wird man mit kleinteiligen gesetzlichen Regelungen kaum gerecht werden können. Stattdessen wollen wir die lokalen Entscheidungsspielräume ausweiten und die Möglichkeit für flexible Lösungen schaffen. Lokale Spielräume erfordern Know-how vor Ort, und das ist in den Beiräten vorhanden. Wie das genutzt werden kann, zeigt beispielhaft unser grünes Konzept für einen sozialen Arbeitsmarkt. Wir wollen, dass an die Stelle starrer und oft realitätsferner gesetzlicher Vorgaben und Kriterien ein lokaler Konsens tritt. Den Konsens schmieden müssen die relevanten Arbeitsmarktakteure vor Ort. Sie stimmen in Kenntnis der örtlichen Lage den Arbeitsverhältnissen im sozialen Arbeitsmarkt zu, die wir grundsätzlich für alle Arbeitgeber öffnen wollen. Auf Kriterien wie Zusätzlichkeit, Wettbewerbsneutralität und öffentliches Interesse, wie sie zurzeit bei öffentlich geförderter Beschäftigung bestehen - sie haben sich nicht bewährt -, kann so verzichtet werden. Der lokale Konsens mit den Arbeitsmarktpartnern gewährleistet eine praxisnahe Zu Protokoll gegebene Reden und abgestimmte Handhabung vor Ort. Diese Form der Beteiligung der Arbeitsmarktakteure vor Ort sollte noch viel häufiger genutzt werden. Wir wollen die lokale Ebene im Sinne einer flexiblen Arbeitsmarktpolitik stärken, und dazu gehören selbstverständlich auch die Akteure in den Beiräten. Allerdings sehen wir nicht, dass die Beiräte zur Widerspruchsbearbeitungsstelle werden sollten. Hier schlagen wir stattdessen die Einrichtung unabhängiger Ombudsstellen in den Jobcentern vor, die bei Konflikten eingeschaltet werden sollen. Dadurch können unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen zwischen Arbeitsuchenden und Jobcenter in einem frühen Stadium bearbeitet und gelöst und Klagen vermieden werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. April 2013, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe. Die Sitzung ist geschlossen.