Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/19/2013

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir die Wahl eines Vertreters der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates durchführen. Die FDP-Fraktion schlägt vor, dass für den aus diesem Gremium ausscheidenden Kollegen Dr. Stefan Ruppert der Kollege Manuel Höferlin als stellvertretendes Mitglied benannt wird. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. - Das ist offenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Höferlin als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung gewählt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße heute Morgen besonders herzlich den polnischen Botschafter, der auf der Ehrentribüne Platz genommen hat. ({0}) Denn wir gedenken heute in Polen wie in Deutschland des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto, der vor 70 Jahren, am 19. April 1943, begonnen hat. Hinter den drei Meter hohen Mauern des hermetisch abgeriegelten Viertels lebten zu dieser Zeit noch Zehntausende verzweifelte, größtenteils längst entkräftete Menschen. Sie sollten - wie seit 1942 schon rund 300 000 Frauen und Männer, Kinder und Greise - in den Tod deportiert werden. Im Morgengrauen des jüdischen Passahfestes zur Erinnerung an den im Buch Mose beschriebenen Auszug aus der ägyptischen Sklaverei marschierten SS-Einheiten in das Ghetto ein. Das Datum für die endgültige Vernichtungsaktion war sicher nicht zufällig gewählt. Schon der Beschluss über die Schaffung des Warschauer Ghettos wurde auf zynische Art am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, am 12. Oktober 1940, per Straßenlautsprecher bekannt gegeben. Auch die großen Deportationen begannen am Vorabend eines jüdischen Feiertages, am 22. Juli 1942. Wir werden alle fallen, manche mit der Waffe in der Hand, andere als vergebliche Opfer. Aber es ist wichtig, dass das Gedenken um uns nicht verloren geht, dass die ganze Welt wissen soll, wie hoffnungslos, schwer und blutig dieser Kampf war. Diese Worte stammen von Leon Rodal, einem der Kommandanten des Aufstandes. Die Juden im Warschauer Ghetto wussten, dass sie keine Chance gegen den übermächtigen Angreifer hatten. Sie wollten aber kämpfen - einen aussichtslosen, verzweifelten Kampf um die Würde ihres Volkes. „Der Kampf war ein Zeichen des Protestes gegen die Gleichgültigkeit der Welt angesichts des Holocaust und eines heroischen Widerstandes“, heißt es in einer Entschließung des Sejm der Republik Polen zum 70. Jahrestag des Aufstandes. Nur spärlich mit Pistolen, Handgranaten, selbst gemachten Molotowcocktails und Gewehren bewaffnet, kämpften die etwa 750 Aufständischen fast vier Wochen lang gegen mehr als 2 000 schwer bewaffnete Deutsche, die durch Panzer, Artillerie und Luftwaffe unterstützt wurden. Am Ende war das Ghetto völlig vernichtet. Haus für Haus wurde von den Deutschen in Brand gesteckt und gesprengt. Die Große Synagoge von Warschau hatte der fanatische SS-General Jürgen Stroop eigenhändig gesprengt. In seinem Bericht liefert er die präzise Zahl der Opfer: 56 065 Tote. Nur wenigen Aufständischen gelang die Flucht durch unterirdische Kanäle. Der Aufstand war militärisch gescheitert; er war dennoch nicht vergeblich. Dieser Kampf wurde in den nachfolgenden Monaten zum Vorbild für Juden in anderen Ghettos und Lagern. Und er steht stellvertretend für den vielfältigen jüdischen Widerstand, den es während des Nationalsozialismus gegeben hat. Denn nicht „wie die Lämmer zur Schlachtbank“ haben sich die Juden Europas führen lassen - im Gegenteil, wo immer sie die Möglichkeit dazu fanden, haben sich jüdische Männer und Frauen gegen die Mörder zur Wehr gesetzt. Das unterstrich der im vergangenen Jahr verstorbene Historiker Arno Lustiger, selbst KZ-Überlebender und, wie sich viele von uns erinnern werden, 2005 Redner bei Präsident Dr. Norbert Lammert der Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus hier im Deutschen Bundestag. Ich möchte Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erheben. ({1}) Wir verneigen uns heute vor den mutigen Frauen und Männern und allen Opfern des Warschauer Ghettos. Ihr Kampf um die Menschenwürde ist und bleibt ein Ver- mächtnis für die nachfolgenden Generationen. Vielen Dank. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Prävention - Drucksache 17/13080 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes von Apotheken ({3}) - Drucksache 17/13081 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr. ({5})

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Guten Morgen, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalition legt Ihnen heute zwei Gesetzentwürfe vor, die die Versorgung der Versicherten in Deutschland verbessern werden. Das erste Gesetz, das Ihnen vorliegt, ist das Gesetz zur Förderung der Prävention. Wie viele Jahre haben wir hier im Deutschen Bundestag im Rahmen der Debatte über die Gesundheitspolitik überlegt, wie wir ein Präventionsgesetz gestalten und auf den Weg bringen können? Die Koalition hat ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag gehalten und in dieser Legislaturperiode ein Gesetz zur Stärkung der Prävention vorgelegt, das endlich auch in den parlamentarischen Beratungen diskutiert werden kann. ({0}) Solidarität und Eigenverantwortung gehören für die christlich-liberale Koalition untrennbar zusammen, weil wir wissen, dass die Solidargemeinschaft die großen Risiken teilt, weil wir wissen, dass sich die Versicherten darauf verlassen wollen, dass für die großen Risiken die Solidargemeinschaft eintritt. Wir wissen aber auch, dass die Solidargemeinschaft sich darauf verlassen möchte, dass jeder Einzelne in Eigenverantwortung für seine Gesundheit tut, was der Einzelne in Eigenverantwortung für seine Gesundheit tun kann. Durch gesunde Ernährung, durch mehr Bewegung, durch das Beschäftigen mit der eigenen Gesundheit können wir selbst bestimmte Krankheitsrisiken minimieren. In einer alternden Bevölkerung, in der die Kosten für Gesundheit eher steigen werden, ist es umso wichtiger, in die Gesunderhaltung der Menschen zu investieren, einen Schwerpunkt auf den Bereich Prävention zu legen. Das genau leistet der Entwurf eines Präventionsgesetzes für den Bereich des Gesundheitswesens. Wir haben viele Maßnahmen vorgeschlagen, wie wir davon wegkommen können, dass die Krankenkassen ihre Präventionsmaßnahmen allein nach Marketing- und Vertriebsgesichtspunkten ausrichten; denn das ist offenbar der Fall. Wir wollen, dass die Krankenkassen endlich verpflichtet werden, mehr Gelder für Präventionsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass die Ausgaben für die betriebliche Gesundheitsförderung verdreifacht werden. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass auch die Ausgaben der Krankenkassen für Lebensweltenprogramme, das heißt für Programme in sozialen Brennpunkten, für sogenannte Settingmaßnahmen, mit denen wir Menschen in ihrer Lebenswelt abholen, um sie für das Thema Prävention zu gewinnen, verdreifacht werden. Das heißt, wir nehmen bei den Krankenkassen eine neue Schwerpunktsetzung im Bereich Prävention vor. ({1}) Wir haben zwar festgestellt, dass es schon heute viele Menschen gibt, die sich mit ihrer Gesundheit beschäftigen, wir haben aber auch festgestellt, dass wir diejenigen Menschen erreichen müssen, die sich bisher noch nicht mit ihrer Gesundheit beschäftigen. Die Idee, diese Menschen über den Betrieb zu erreichen, ist sehr erfolgversprechend. Es gibt Studien, die belegen: 1 Euro, investiert in betriebliche Gesundheitsförderung, bringt einen sogenannten Return on Prevention von über 2 Euro. Das zeigt: Diese Investitionen lohnen sich sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für den Betrieb. Wir wissen, dass es viele Großunternehmen gibt, die sehr gute Projekte im Bereich betriebliche Gesundheitsförderung anbieten. Aber gerade bei den kleinen und mittelständischen Betrieben haben wir Nachholbedarf. Deswegen ist es richtig, dass mit diesem Gesetzentwurf ein klarer Schwerpunkt gelegt wird: Mit diesem Gesetzentwurf wird insbesondere das Ziel verfolgt, kleinen und mittleren Betrieben, in denen die meisten Menschen in Deutschland arbeiten und in denen viele Ausbildungsplätze geschaffen werden, gezielt einen Anreiz zu bieten, um Maßnahmen im Bereich der betrieblichen Prävention zu starten. Zu der Kritik, das sei zu wenig, man müsse hier und dort noch mehr machen - das werden wir gleich vonseiten der Opposition hören -, sage ich: Am Ende werden Sie von Rot-Grün und von den Linken die Frage beantworten müssen, ob Sie diese Maßnahmen für falsch halten; denn nur wenn Sie sie für falsch halten, können Sie sie ablehnen. Diese Maßnahmen, diese Investitionen in Lebensweltenprogramme und betriebliche Gesundheitsförderung, die auch Sie im Kern für richtig halten - das werden Sie nicht bestreiten können -, die brauchen wir. Daher sollten Sie das nicht ablehnen. Wir müssen diese Dinge voranbringen. Gerade die Lebensweltenprogramme sind wichtig. Wir stellen fest, dass immer mehr Kinder in die Schule gehen, ohne zu Hause ein Frühstück bekommen zu haben, dass sie in den Familien offenbar nicht mehr lernen, was gesunde Ernährung ist, dass sich das Freizeitverhalten offenbar verändert hat, dass Bewegung nicht mehr das typische Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen ist. Deswegen müssen wir in die Kitas, in die Grundschulen, in die weiterführenden Schulen und in die Sportvereine gehen, um Kinder und Jugendliche für das Thema Prävention, für gesunde Ernährung, für mehr Bewegung, für ein gesundheitsbewusstes Verhalten zu begeistern. Wenn wir nicht in Kinder und Jugendliche investieren und nicht frühzeitig durch Lebensweltenprogramme mehr tun zur Förderung der Gesundheit, wird sich das später rächen, weil die Kosten für das Gesundwerden viel höher sind. Deswegen ist dies ein kluger Gesetzentwurf. Wir investieren in Kinder und Jugendliche. ({2}) Der Gesetzentwurf sieht die Schaffung einer ständigen Präventionskonferenz vor. Als Gesundheitsminister habe ich die Verantwortung für die Gesundheitspolitik. Es wird gesagt - das ist die Kritik -, auch bei den Kommunen und Ländern müsse mehr gemacht werden. Dieser Entwurf eines Präventionsgesetzes ist doch eine Einladung an die Länder, mehr zu tun und sich mit weiteren Projekten zu beteiligen. Es wird ja auch schon viel getan; das wollen wir doch gar nicht in Abrede stellen. Mit der ständigen Präventionskonferenz schaffen wir jetzt aber endlich ein Gremium, in dem sich alle austauschen können, sodass sie abgestimmt agieren und überprüfen können, welche Fortschritte wir machen. Erstmals werden die Gesundheitsziele aus dem Gesundheitsziele.deProzess in ein Gesetz geschrieben und damit verpflichtend für die Krankenversicherungen, damit wir alle wissen, welche Ziele wir erreichen wollen, was wir voranbringen wollen. ({3}) Wir sehen ferner vor, dass die Versicherten durch einen Check-up die Gelegenheit erhalten, konkrete Präventionsempfehlungen zu erhalten, damit sie wissen, was sie besser machen können. Wir sehen vor, dass die Lücke bei den Grundschulkindern durch eine zusätzliche Kindervorsorgeuntersuchung, eine zusätzliche U-Untersuchung, geschlossen wird. In diesem Bereich haben wir nämlich eine Lücke. Der Gesetzentwurf schafft die Voraussetzung zur Schließung dieser Lücke. Dies sind viele gute Maßnahmen, die Sie, glaube ich, inhaltlich auch gar nicht ablehnen, weil Sie sie für richtig halten. Wir können gerne darüber streiten, was man in anderen Bereichen noch tun kann; das sollten wir machen. Aber wir müssen auch diese Maßnahmen, um die es heute geht, in den verbleibenden Monaten noch auf den Weg bringen. Ein zweiter Gesetzentwurf beschäftigt sich mit der Versorgung der Menschen insbesondere im ländlichen Raum. Wir haben mit dem Versorgungsstrukturgesetz, mit dem sogenannten Landärztegesetz, einen ganz wichtigen Beitrag geleistet, dass die Menschen in Deutschland sich weiterhin darauf verlassen können, dass sie einen Arzt vor Ort haben. Wer den Landarzt nicht nur aus einer idyllischen Vorabendserie kennen will und auch noch eine Landapotheke vor Ort haben möchte, der muss auch einen Beitrag dazu leisten, dass dies finanziell möglich ist. ({4}) Wir wissen, dass gerade die Apotheken in der Fläche viel häufiger einen Notdienst machen müssen, es aber für sie schwierig ist, das kostendeckend zu machen, weil diese Apotheken nicht so häufig aufgesucht werden. Deswegen wollen wir mit dem Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz für eine Anerkennung dieser Gemeinwohlpflicht der Apotheker sorgen. Ja, wir als christlich-liberale Koalition stehen zu der inhabergeführten Apotheke. Wir wissen, dass der Apotheker Gemeinwohlpflichten wie Nacht- und Wochenenddienst zu leisten hat. Weil er unabhängig beraten soll, sind wir auch weiterhin für den Erhalt des Fremd- und Mehrbesitzverbotes. Wir wollen die inhabergeführte Apotheke vor Ort erhalten. Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einen Beitrag dazu, dass diese Gemeinwohlpflichten auch finanziell anerkannt werden. Sie von Rot-Grün wollen das Fremd- und Mehrbesitzverbot abschaffen. Das ist die Beschlusslage bei den Grünen, und das ist die Beschlusslage vom letzten Parteitag der SPD. ({5}) - Wir haben sie ja gar nicht geändert. - Sie wollen Apothekenketten. Sie wollen, dass die Menschen sich nicht mehr darauf verlassen können, von einem unabhängigen Apotheker vor Ort versorgt zu werden, der rund um die Uhr diese Gemeinwohlpflichten erfüllt. Das macht die Unterschiede zwischen uns deutlich. Wir setzen uns dafür ein, dass durch die freiberuflich tätigen Apotheker die gute Versorgung mit Arzneimitteln auch in der Flä29482 che erhalten bleibt. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag dazu. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Lauterbach erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Diese unwahre, aber auch völlig überflüssige Wahlkampfverbeugung vor den Apothekern in Richtung Fremd- und Mehrbesitzverbot hätten Sie sich sparen können. Darum geht es heute nicht, und es war auch noch falsch. ({0}) Wir sprechen heute über zwei Gesetzentwürfe. Ich fange einmal mit dem Präventionsgesetz an. Dies hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem, was wir gestern bei der Quote gesehen haben. Wir beschließen de facto nichts. Das ist im Prinzip die Verschiebung eines Gesetzes. Denn worum geht es hier? Insgesamt sollen etwa 180 Millionen Euro für die Vorbeugung zur Verfügung gestellt werden. Das sind etwa 12 Cent pro Versichertem pro Monat. Ich bitte Sie: Mit zusätzlichen 12 Cent pro Versichertem pro Monat - das reicht kaum für einen Brief alle paar Monate - werden Sie auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung keinen Einfluss nehmen. Das wissen Sie genauso wie ich. Das Gesetz ist ein Etikettenschwindel, mehr nicht. ({1}) Sie werden hier auch unglaubwürdig, wenn man die beiden Gesetzentwürfe, über die Sie vorgetragen haben, im Zusammenhang betrachtet. Insgesamt werden für 70 Millionen Versicherte für die Vorbeugung aller Erkrankungen etwa 180 Millionen Euro in die Hand genommen, und für die Landapotheker - es gibt etwa 10 000 Landapotheker - werden 100 Millionen Euro in die Hand genommen. Somit sind Ihnen die 10 000 Apotheker ungefähr so viel wert wie die 70 Millionen Versicherten. In Wirklichkeit geht es hier um eine Wahlkampfaktion. ({2}) Sie verbeugen sich noch einmal vor dem Apotheker, dem wir übrigens diese Zuschläge gönnen. Das erwähne ich, damit wir uns nicht falsch verstehen. ({3}) Die Landzuschläge sind nicht falsch, aber die Förderung der Vorbeugemedizin sind Sie schuldig geblieben. Ich will dies gleich näher erläutern. Sie schaffen mit der Präventionskonferenz eine weitere Gruppe, die Sie selbst leiten, verbunden mit bürokratischem Aufwand; Sie haben darauf hingewiesen. Man wird sich beim Gesundheitsminister treffen, und man wird Runde Tische veranstalten. Dies wird eine weitere große Runde, in deren Rahmen Sie sich vor der Presse zeigen und die 12 Cent pro Monat verteilen können. Machen Sie sich doch nichts vor, dabei wird nichts herauskommen. Das ist doch nur das, was Sie bisher immer bekämpft haben: eine weitere Runde Bürokratie. In diesem Fall gehört es zur Wahlkampfhilfe der FDP. ({4}) Eine regionale und konkrete Gesundheitsförderung, bei der man Geld in die Hand nimmt und unbürokratisch vor Ort hilft, funktioniert. Sie funktioniert beispielsweise in Schweden. Gesundheitsvorsorge muss regional und konkret sein. Man muss Geld in die Hand nehmen, ({5}) und die Förderung muss unbürokratisch sein. Was Sie uns hier und heute vorlegen, ist national, es ist abstrakt, es wird dabei wenig Geld zur Verfügung gestellt - 12 Cent pro Versichertem pro Monat -, und es ist bürokratisch. Von daher: Dieser Gesetzentwurf scheitert aus meiner Sicht auf der ganzen Linie. Er ist nichts anderes als ein Etikettenschwindel. Es wird eine neue Vorsorgebürokratie geschaffen, die wir nicht brauchen. Stattdessen hätten Sie das beschließen müssen, was anderswo funktioniert: regionale, konkrete Gesundheitsarbeit mit den Menschen, die sie benötigen, und zwar in Schulen, in Kitas und in den Problembereichen, also im Hinblick auf Drogenabhängige, Menschen, die arbeitslos sind, und Menschen, die große soziale Probleme haben. Nichts zur Verbesserung der Gesundheitschancen und zur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich kam in Ihrer Rede vor - das scheint Sie schlicht nicht zu interessieren -, geschweige denn kommt dazu etwas in Ihrem Gesetzentwurf vor, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Sie lassen aus meiner Sicht erneut die Einkommensschwachen, die Benachteiligten im Stich. Ich will das konkret begründen. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts vorgesehen, was das Rauchen in den Hauptschulen und in den Förderschulen, wo wir derzeit die größten Probleme haben, beseitigen würde. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts vorgesehen, was in irgendeiner Weise gezielt arbeitslosen Menschen oder psychisch Kranken zugutekäme. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts vorgesehen, um das, was Sie vorhaben, in irgendeiner Weise zu integrieren in Ihre Politik zur Bekämpfung der Armut, so selbige überhaupt vorhanden ist, oder in Ihre Drogenpolitik. Sie richten nur eine abstrakte Präventionskonferenz ein, die, wenn sie sich große Ziele setzt, nicht das erforderliche Geld hat, um sie zu erreichen, und die, wenn sie sich kleine Ziele setzt, nicht über die notwendige Ahnung, die man vor Ort haben muss, verfügt. Damit scheitern Sie entweder an Ahnungslosigkeit oder am nicht vorhandenen Geld. Das ist alles, was Sie heute liefern. ({7}) Es ist nicht gelungen, auch nur eine einzige große Studie zur Gesundheitsförderung aufzulegen. Es gibt in Deutschland keine Gesundheitsforschung im Hinblick auf die Vorbeugemedizin. Sie wissen überhaupt nicht, was gemacht werden sollte. Sie sind im Blindflug unterwegs. Es gibt keine einzige nationale Studie - wie dies zum Beispiel in den skandinavischen Ländern oder in Amerika der Fall ist -, in der es konkret um den Gesundheitszustand unserer Kinder geht. Die traurige Wahrheit ist, dass wir über die Gesundheit unserer Kinder zum jetzigen Zeitpunkt nicht viel wissen. Eine solche Studie wäre noch nicht einmal teuer gewesen. Dazu, eine solche Studie durchführen zu lassen, fehlte Ihnen aber schlicht die Fantasie oder das Engagement. Da wäre das wenige Geld besser investiert gewesen als in Kaffee und Kuchen im Büro des Ministers. ({8}) Die Vision, die nötig gewesen wäre, haben Sie nicht. Sie versprechen, dass Kinder- und Jugendärzte die dringend benötigte bessere Unterstützung endlich bekommen. Sie machen aber nichts, um dafür zu sorgen, dass es in den Problemgebieten mehr Kinder- und Jugendärzte gibt. Von Ihnen gibt es keine einzige Initiative, um sicherzustellen, dass es in den Brennpunkten demnächst überhaupt noch Kinderärzte gibt. Was soll denn ein Gesetz, in dessen Rahmen man ein paar Cent mehr für nicht vorhandene Kinder- und Jugendärzte in die Hand nimmt, damit diese die Prävention verbessern? Wie soll das funktionieren? Derjenige, der vor Ort nicht arbeitet, kann davon nicht profitieren. Hätten Sie sich darüber so viele Gedanken gemacht, wie Sie sie sich offenbar über die Notfallversorgung der Apotheker auf dem Land gemacht haben, hätten Sie also auch Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Kinderärzte vorgeschlagen, dann würde ich sagen: Das ist ein Ansatz, den man verfolgen kann. - Aber de facto waren Ihnen die Kinderund Jugendärzte diese Mühe nicht wert. Zumindest lässt Ihr Gesetzentwurf dies nicht erkennen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Zum Schluss will ich sagen: Man merkt Ihrem Gesetzentwurf an, dass in der Präventionspolitik über Jahre hinweg in diesem Hause wenig passiert ist. Das beklagen Sie. Sie vergessen aber, zu erwähnen, dass es die FDP und auf Länderebene immer auch die Union waren, die ein Präventionsgesetz verhindert haben. Jetzt legen Sie einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, sozusagen in den Vorwehen der bevorstehenden Bundestagswahl. Wenn es um diesen Gesetzentwurf geht, muss man die Umfrageergebnisse der FDP vor Augen haben. Sie haben sich zur Jagd tragen lassen und wollen nun diesen lieblosen Gesetzentwurf beschließen, um sagen zu können: Wir regieren noch. Wir sind noch da. ({9}) Wir machen in der Gesundheitspolitik noch bis zum Schluss etwas. - Aber dieser Gesetzentwurf ist nichts anderes als ein Etikettenschwindel. Er enttäuscht die Menschen. Er lässt diejenigen zurück, die es am nötigsten gehabt hätten, die Einkommensschwachen, die sozial Schwachen und unsere Kinder. Das ist die Wahrheit zu diesem Gesetzentwurf. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In die Gesundheit zu investieren, ist tausendmal besser, als für die Behandlung von Krankheiten teuer zu bezahlen. In einem haben Sie recht, Herr Kollege Lauterbach: Seit vielen Jahren, seit nahezu zehn Jahren wird über Präventionsmaßnahmen diskutiert. ({0}) Aber eines steht fest: Wir haben jetzt ein umfassendes Konzept vorgelegt. Wir liefern. Das ist ein gutes Konzept, und dies wird erfolgreich sein. Was heißt Prävention? Prävention - vereinfacht ausgesprochen - heißt: gesund essen und möglichst viel bewegen. ({1}) Wir wollen niemanden gängeln, niemanden in seiner Freiheit beschneiden oder gar mit finanziellen Nachteilen bedrohen. Für welche Art der Lebensführung sich jemand entscheidet, ist seine Sache. Aber wir wollen schon mit Nachdruck Anreize setzen, werben und überzeugen, dass sich gesund leben lohnt, einfach weil man sich besser fühlt und weil es solidarisch ist. Wer aber Anreize setzen will, der muss Geld in die Hand nehmen. Nur mit guten Worten geht es nicht. ({2}) Die gesundheitspolitische Debatte der letzten Jahrzehnte war maßgeblich geprägt von finanziell knappen Kassen und roten Zahlen. Das hat sich geändert. Das haben wir in der christlich-liberalen Koalition verändert. Jetzt wird nicht darüber diskutiert, wie rote Zahlen beseitigt werden können, sondern darüber, wie Überschüsse im Fonds und bei einem Teil der gesetzlichen Krankenkassen richtig angelegt werden können. ({3}) Da sage ich Ihnen: Es gibt nichts besseres, als das Geld - das sind rund 200 Millionen Euro zusätzlich - in die Zukunft, in die Gesunderhaltung der Menschen, vor allem der jungen Menschen, der Jugendlichen in Deutschland zu investieren. ({4}) Wir setzen klare Schwerpunkte bei den Präventionszielen: Diabetes mellitus, Brustkrebs, depressive Erkrankungen bekämpfen, die Gesundheitskompetenz erhöhen und vor allem bei der Gesundheit der jungen Menschen ansetzen. Denn eines macht uns Sorge: wenn eine wachsende Zahl von jungen Menschen praktisch eine persönliche Karriere startet, die nicht ins Glück führt, sondern die Krankheit bedeutet: durch Bewegungsmangel, durch Übergewicht. Zu nennen sind hoher Blutdruck, die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zum Schlaganfall, Zuckerkrankheit und möglicherweise zum Schluss die Notwendigkeit einer Organtransplantation. Das alles kann man vermeiden, indem man Überzeugungsarbeit leistet ({5}) und alles bündelt, was an Exzellenzinitiativen bei uns im Land schon da ist. Deshalb schaffen wir eine ständige Präventionskonferenz. Wir brauchen sie, weil der Bund nicht alle Kompetenzen hat, die notwendig sind, um zu bündeln. Wir wollen all diejenigen, die Verantwortung tragen, und all diejenigen, die Exzellenz einbringen, in dieser Konferenz auf gleicher Augenhöhe zusammenführen. Wir brauchen natürlich die Länder, die Kommunen, die Kassen, die Krankenversicherungen, die Ärzte, die Zahnärzte, die Apotheker, die Patientenorganisationen, die Gewerkschaften, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeberverbände, die Sportverbände, das Kur- und Bäderwesen. Alle, die da mitmachen, brauchen wir. Diese müssen sich auf gleicher Augenhöhe begegnen. Das ist das Ziel dieser Konferenz. Ich glaube, es kann gelingen, wenn alle mitmachen. Das beginnt damit, dass bereits im Kindergarten Wert auf eine gesunde Ernährung gelegt wird und nicht nur auf Pommes und Hamburger. ({6}) Das fällt in die Kompetenz der Kommunen. Deshalb müssen die Kommunen dabei sein. Wir wollen die Sportvereine einbinden, damit mehr Kooperation stattfindet. ({7}) Wir brauchen eine große öffentliche Aktion; denn wir brauchen ein Umdenken in den Köpfen, einen Bewusstseinswandel. Deshalb haben wir bestimmte Kompetenzen bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gebündelt. Wir wollen den finanziellen Rahmen für viele Bereiche erhöhen. Wir wollen die Qualität von Präventionsangeboten verbessern. Bei der betrieblichen Gesundheitsförderung machen wir eine kleine Revolution. ({8}) - Hören Sie genau zu! - Bisher sind die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung in den meisten Fällen starr. Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, den Beitragssatz zu verändern, wenn Unternehmensleitung, Betriebsrat und Krankenkasse zusammen bestimmte Präventionsziele vereinbaren. Der Beitragssatz wird natürlich nicht nach oben verändert werden, sondern nach unten, damit alle einen starken Anreiz haben, mitzumachen. Diesen Anreiz brauchen wir, und wir schaffen ihn damit. Ich bin sehr zuversichtlich, dass dies erfolgreich sein wird. ({9}) Wir wollen auch diejenigen einbinden, die in der Kur Verantwortung tragen. Ich denke, es ist wichtig, dass der Einzelne ermuntert wird, etwas für sich zu tun. Dabei können höhere Anreize zur Teilnahme an Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten ({10}) und Anreize zur Inanspruchnahme geeigneter Präventions- und Vorsorgeleistungen helfen. Wir haben ein fantastisches Kurwesen in Deutschland, das wir nutzen sollten, um Anreize zu setzen, diese Präventionsmöglichkeiten wahrzunehmen. ({11}) Ich bitte alle hier im Deutschen Bundestag, diesen Gesetzentwurf zügig zu beraten und zu beschließen. Ich hoffe - und bitte auch darum -, dass dieser Gesetzentwurf im Bundesrat nicht auf die lange Bank geschoben wird. Wir können uns das in Deutschland nicht leisten. Wenn es uns nicht gelingt, in der Prävention entscheidende Fortschritte zu machen, wird uns der große Überschuss, den wir jetzt im Gesundheitswesen haben, nicht dauerhaft nützen; denn es wird eine Explosion der Ausgaben auf uns zukommen. Dieses Präventionskonzept ist geradezu überlebenswichtig, nicht nur für die Finanzen, sondern vor allem für die Menschen, um die es geht. ({12}) Wir beraten heute noch einen zweiten Gesetzentwurf. Wer krank geworden ist und ein Arzneimittel braucht, der braucht dieses Arzneimittel meistens schnell. Er muss sich auf eine gute Versorgung verlassen können. Für uns ist es ein Anliegen, dass die Gesundheitsversorgung in den städtischen Ballungsräumen und in den ländlichen Regionen gleichwertig bleibt, ohne Unterschiede, ohne Differenzierung. Die Patientenfrequenz einer Bahnhofsapotheke in München wird sich nachtsüber, im Notdienst, nur wenig von tagsüber unterscheiden: Da wird immer eine Menge Nachfrage sein. In ländlichen Regionen, in dünn besiedelten Gegenden kann es dagegen schon vorkommen, dass am Wochenende nur zwei oder drei Patientenkontakte stattfinden. Das lohnt sich für den Apotheker nicht. Wir wollen aber die Versorgungsstruktur erhalten. Deshalb setzen wir, Herr Lauterbach, ganz gezielt Geld ein - 120 Millionen Euro -, um einen Ausgleich zu schaffen. Wir wollen gleiche Verhältnisse in Stadt und Land. Wer das nicht will, soll das hier laut sagen. ({13}) - Sie brauchen da nicht herumzukritisieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, das ist in einem Parlament allerdings nicht gänzlich unüblich. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann darf ich noch etwas erläutern; vielleicht wird die Kritik dann noch weiter schrumpfen. Wir brauchen für die ländlichen Regionen gute Verkehrsverbindungen. Das ist eine Banalität. Auch eine schnelle Internetverbindung ist von großem Vorteil. Wenn aber die Gesundheitsversorgung von Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken nicht mehr gewährleistet ist, dann werden alle anderen Infrastrukturmaßnahmen nichts nutzen; denn die Attraktivität der ländlichen Regionen wird dann nicht zunehmen. ({0}) Deshalb tun wir das alles, und wir werden noch mehr tun. Wir werden auch ein Krankenhausfinanzierungsgesetz vorlegen, das genau diesen Zweck hat, die ländlichen Regionen zu stärken. Wir sind die Partei der richtigen und gerechten Strukturen. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Bunge für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir wieder zwei Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Prävention und den Entwurf eines Apothekennotdienstsicherstellungsgesetzes. Dieses Zusammenwürfeln zeigt deutlich: Sie wollen kurz vor der Wahl noch ein paar Gesetzentwürfe verabschieden, um zu zeigen, was Sie alles gemacht haben und wie toll Sie hier sind. ({0}) Wenn man aber dahinterschaut, dann stellt man fest: Das sind keine guten Gesetzentwürfe. Hier geht es um schicke Verpackungen, um für den künftigen Wahlkampf etwas ins Schaufenster legen zu können. ({1}) Seit Beginn der Legislaturperiode drängen die Oppositionsfraktionen mit eigenen Vorschlägen darauf, dass diese Regierung endlich ein Präventionsgesetz vorlegt, weil das mehr als überfällig ist. ({2}) Unzählige Engagierte und Enthusiasten vor Ort warten sehnsüchtig darauf, dass die vielen Aktivitäten zur Gesundheitsförderung und Prävention endlich flächendeckend und dauerhaft gesichert werden. ({3}) In den letzten Tagen dieser Wahlperiode legen Sie etwas vor. Doch dieser Gesetzentwurf ist eine Fehlanzeige. ({4}) Als die CDU/CSU-Fraktion unlängst die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung kommentierte und dabei glatt die Ansichten der PKV abkupferte, hat sie dem Ganzen die Überschrift „Gut ist nur der Name“ gegeben. Ich bin geneigt, bei Ihnen abzukupfern und zu sagen: Bei diesem Präventionsgesetz ist der Name gut, aber die Substanz ist mies. ({5}) Sie benutzen - das ist ja das Perverse daran ({6}) Vokabeln der modernen Forschung zur Gesundheitsförderung - Lebenswelten, Ressourcenstärkung und Setting -, verpacken im Detail aber veraltete und verstaubte Ansätze wie Informationskampagnen oder Verhaltensansätze. Es geht Ihnen darum, den Namen „Präventionsgesetz“ zu verbrennen. Das Vorgelegte ist in Wahrheit der Entwurf eines Anti-Präventionsgesetzes. ({7}) Mit dieser Einschätzung stehe ich und steht die Linksfraktion nicht allein. Sie, Herr Präsident, erlauben sicher, dass ich im Weiteren einige Expertinnen und Experten zitiere, die mir für diese Debatte ausdrücklich ihre Zustimmung dazu gegeben haben. Die Deutsche Gesellschaft für Public Health schrieb zu Ihrer Präventionsstrategie - das gilt nach Auskunft von Frau Professor Birgit Babitsch, Professor Dr. Nico Dragano und Dr. Dr. Burkhard Gusy auch für Ihren Gesetzentwurf -: ({8}) Der vorgelegte Referentenentwurf und die Eckpunkte … lassen … eine nachhaltige Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung und eine Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit nicht erwarten. Dies liegt insbesondere an einer verengten und veralteten, nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Perspektive auf Gesundheitsförderung und Prävention. Ja, Ihre Vorstellungen von Gesundheitsförderung und Prävention sind aus dem letzten, wenn nicht gar aus dem vorletzten Jahrhundert und haben keinen wissenschaftlichen Hintergrund. ({9}) Es ist überhaupt nicht leicht, ein Beispiel zu nennen bzw. eine besonders schlechte Passage herauszugreifen, weil man nur die Wahl zwischen schlecht und sehr schlecht hat. Das, was Prävention und Gesundheitsförderung eigentlich ausmacht, fehlt schlicht und ergreifend. Ein Präventionsgesetz sollte der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Gesunderhaltung der Menschen dadurch Rechnung tragen, dass auch die Finanzierung breit angelegt ist und nicht nur durch die gesetzliche Krankenversicherung erfolgt. Die Linke fordert, dass sich neben der Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung auch der Bund an diesem wichtigen Thema beteiligt, statt hier eine kostenneutrale Schmalspurversion auf den Weg zu bringen. Die Linke fordert deshalb, dass die Bundesregierung aus dem Bundeshaushalt zum Start jährlich 1 Milliarde Euro in einen Präventionsfonds einzahlt. ({10}) - Das klingt sehr viel. Aber wenn Sie einmal bedenken, dass das ein reichliches halbes Prozent dessen ist, was die Versicherten über die Beiträge für die Leistungen aufbringen müssen, die dazu führen, wieder gesund zu werden, dann ist das, glaube ich, nicht zu viel. Eines der zentralen Probleme in dieser Gesellschaft ist doch, dass Menschen, die ärmer sind oder schlechter gebildet sind, durchschnittlich kränker sind und deutlich früher sterben. Menschen mit niedrigem Sozialstatus haben in Deutschland in etwa die Lebenserwartung von Menschen in Entwicklungsländern. Das kann weder hier noch dort hingenommen werden. ({11}) Diese Regierung tut mit diesem Gesetzentwurf nichts dagegen, rein gar nichts. Kein Wunder, dass einer der größten Experten in Deutschland für soziale Ungleichheit, Dr. Andreas Mielck, vom Helmholtz-Zentrum in München, diesen Entwurf wie folgt kommentiert - ich darf zitieren -: Glauben Sie im Ernst, dass so den Personen geholfen wird, die am stärksten belastet sind? Können so die Personen erreicht werden, die geringe Bildung und/oder niedriges Einkommen haben? Es ist doch offensichtlich: Dieses Gesetz wird die gesundheitliche Ungleichheit eher vergrößern als verkleinern. Sind Sie so naiv oder handeln Sie wider besseres Wissen? Wie der soziale Status die Gesundheit beeinflusst, ist gut untersucht, ebenso, dass Ihr vielbeschworenes Gesundheitsverhalten nur einen ganz geringen Anteil an der gesundheitlichen Ungleichheit hat. Dennoch tun Sie nichts, um sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit zu verringern, und setzen stattdessen auf Verhaltensprävention bis hin zu Prämien für die Teilnahme an Kursen zu Verhaltenspräventionsansätzen. Daher bewertet Professor Ullrich Bauer, Hochschule Duisburg, Ihren Gesetzentwurf so - ich darf zitieren -: Dass diese zentralen wissenschaftlichen Erkenntnisse hierzulande nicht wahrgenommen werden und wider besseres Wissen Entscheidungen getroffen werden, die gesundheitliche Ungleichheiten nur noch vergrößern und nicht verringern, ist fahrlässig und in Prozessen der seriösen politischen Entscheidungsfindung nicht mehr tolerierbar. Ich denke, dieser Aussage stimmen wir einmütig zu. ({12}) Bei dieser Bundesregierung werden Ärztinnen und Ärzte zu den Fachleuten für Prävention. Dazu sagt Professor Rolf Rosenbrock, vormaliges Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und hochangesehener Präventionsfachmann - ich darf wiederum zitieren -: Ärzte haben in der Regel weder Einblick in die Gründe, die Menschen an gesundheitsförderlichem Verhalten hindern, noch verfügen sie über Interventionsmöglichkeiten, die Gründe zu überwinden. Professor Raimund Geene, Hochschule MagdeburgStendal, ergänzt: Präventive Beratung für junge Familien muss in ihren Lebenswelten ansetzen und durch diejenigen, die sich dort auskennen - z. B. Hebammen in den Familien, Gesundheitsförderer in den Kitas und Schulen. Vernünftige Gesundheitsförderung und Prävention schauen auf die Gesundheit. Gesundheit ist in den Worten der Weltgesundheitsorganisation - das wissen Sie alle ein Zustand des … körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit … Dieser notwendige Perspektivenwechsel fehlt hier vollständig. ({13}) Noch ein paar Worte zu dem Entwurf eines Gesetzes zu den Apothekennotdiensten. Die Linke begrüßt, dass die bessere Finanzierung von Notdiensten endlich angepackt wird. Dies leistet einen Beitrag zur Sicherung der medizinischen Versorgung durch Apotheken vor allem in den ländlichen Regionen; der Minister hat das bereits gesagt. ({14}) - Jubeln Sie nicht zu früh. - Allerdings lassen Sie Teildienste außer Acht, die in vielen Regionen ein lange bewährtes, ausgeklügeltes System der Bereitschaftsdienste je nach Bedarf bilden. Wer hat sich bloß dieses Verfahren, dieses bürokratische, komplizierte Monstrum ausgedacht? Ähnliche Kritik erfahren Sie auch von den Ländern im Bundesrat. Wieso müssen von jedem Medikament 16 Cent mühsam von den Apothekerinnen und Apothekern in einen Topf abgeführt werden, um so 120 Millionen Euro für die bessere Vergütung von Notdiensten zusammenzusammeln? ({15}) Diese 16 Cent zahlen letztlich sowieso die gesetzlichen wie die privaten Krankenkassen. Warum können diese nicht gleich gemeinsam diese Summe Monat für Monat in den Topf abführen? ({16}) Auch in ordnungspolitischer Hinsicht macht es wenig Sinn, die Notdienstvergütungen quasi an die Medikamente zu hängen, die Menschen mit plötzlichen Beschwerden brauchen. In die Situation, Medikamente zu benötigen, kann jede und jeder von uns in jedem Augenblick geraten. Warum stellen Sie dann einen Zusammenhang mit den Medikamenten her? Nacht- und Wochenenddienste sind doch eine öffentliche Daseinsvorsorge für alle Versicherten. Herr Minister, lassen Sie sich unseren Vorschlag, die Kassen direkt zahlen zu lassen, noch einmal durch den Kopf gehen! Das ist bürokratieärmer. Angesichts des Anspruchs Ihrer Partei, Bürokratie abzubauen, stünde Ihnen das gut zu Gesicht. Insgesamt ist der Gesetzentwurf zu den Apothekennotdiensten wenigstens ein Lichtblick, im Gegensatz zum Entwurf eines Präventionsgesetzes. Dieses Präventionsgesetz werden wir nie und nimmer kritik- und widerstandslos hinnehmen. Das kann ich Ihnen versprechen. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Klein-Schmeink das Wort.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Minister hat gerade mit großen Worten den Entwurf eines in unseren Augen sehr kleinen Gesetzes vorgelegt, eines Gesetzes, das eben schon zutreffend als Etikettenschwindel, sehr durchsichtiges Wahlkampfmanöver und Armutszeugnis bezeichnet wurde. ({0}) Schauen wir uns einmal genau an, was hier passiert. Sie tun so, als würden Sie heute die Prävention im SGB V neu erfinden. Das alles ist Quatsch; denn es gibt sie schon seit vielen Jahren. Wir haben in den letzten zwölf Jahren mehrfach über die notwendige Weiterentwicklung gesprochen. Was machen Sie? Sie stellen kleine Schräubchen neu, um verschiedensten Gruppen, die für den Ausgang der Bundestagswahl bedeutsam sein werden, etwas vorzeigen zu können; darum geht es. ({1}) Wenn Sie es wirklich ernst gemeint hätten und der Prävention einen neuen Stellenwert hätten geben wollen, dann hätten Sie nicht drei Jahre lang einen Gesetzentwurf angekündigt und ihn erst jetzt, drei Monate vor Ende der Legislaturperiode, quasi auf den letzten Metern, in den Bundestag eingebracht. ({2}) Sie sind weit entfernt von dem, was Sie selber im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Sie wollten ohnehin nicht allzu viel machen, aber Sie wollten zumindest alles auf den Prüfstand stellen und bündeln. Dann haben Sie im Laufe des Diskussionsprozesses gesagt, dass Sie eine Präventionsstrategie erarbeiten wollen. Richtig, das könnten Sie tun. Sie kündigen sie seit drei Jahren an. Aber nichts ist passiert. Jetzt kommen Sie mit einem kleinen Gesetz daher, das mehrere große Webfehler hat. Der erste Fehler ist: Die Themenkomplexe „Armut und Gesundheit“ sowie „soziale Benachteiligung bei den Gesundheitschancen“ bleiben vollständig ausgeklammert. ({3}) Dabei wissen wir, dass genau in diesen Bereichen das größte Potenzial besteht, um mit Prävention und Gesundheitsförderung gegenzusteuern. Das ist der erste Punkt. ({4}) Zweiter Punkt. Sie sind weit von einem Gesamtansatz entfernt, mit dem Sie die Präventionsmöglichkeiten der verschiedenen Ressorts, der verschiedenen politischen Ebenen, der vielen Organisationen der Zivilgesellschaft, der Ärzteschaft, des Sports und der Vereinigungen, die sich mit gesunder Ernährung beschäftigen, sowie vieler anderer mehr zusammenführen können. Sie sind weit davon entfernt, mit diesen gemeinsam vor Ort regional gebündelte, vernünftige, zielgruppenbezogene und sehr genau auf verschiedene Themenstellungen hin orientierte Programme realisieren zu können. ({5}) Genau dieser Ansatz wurde ja schon in der Diskussion um das Kinderschutzgesetz verfolgt. Auch in diesem Fall hat sich der Minister erfolgreich geweigert, seinen Anteil, den er als Gesundheitspolitiker zu dieser Strategie hätte beitragen müssen, einzubringen. Genau das ist damals schon passiert und setzt sich heute fort. Dritter Punkt. Sie machen die BZgA, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zu dem Dienstleister und Leistungserbringer im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten. Wie kann man eigentlich einen solchen Denkansatz verfolgen, wo es doch darum geht, ganz gezielt vor Ort, in den sozialen Brennpunkten, in den Schulen, in den Kitas, in den Altenheimen, Projekte und Maßnahmen zu verwirklichen? ({6}) Da kann es doch nicht angehen, dass Sie die Hälfte der Mittel, die Sie dafür vorsehen wollen, der BZgA zuweisen und diese dann im Auftrag des Spitzenverbandes der GKV dort tätig werden soll. Wie sollen wir uns das vorstellen? Haben Sie keine Ahnung von kommunaler Selbstverwaltung? Haben Sie keine Ahnung von Länderund Bundeszuständigkeit? Haben Sie keine Ahnung, wie eine Zivilgesellschaft eigentlich funktioniert? Ein vollkommen verfehlter Ansatz! ({7}) Insofern muss man tatsächlich sagen: Sie geben mit 180 Millionen Euro zusätzlich auf der einen Seite zu wenig aus, auf der anderen Seite ist es aber gemessen an dem, was Sie damit politisch umsetzen wollen, eigentlich zu viel. Es ist ein verfehlter Gesamtansatz. ({8}) Weiterhin frage ich mich: Wie wollen Sie das denn eigentlich organisieren? Sie haben ja durchaus richtig erkannt, dass Sie in den Lebenswelten tätig werden müssen. Nun haben Sie ein Problem: Mit wem wollen Sie das denn absprechen? Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Landesprogramme, die es bereits im Bereich der Gesundheitsförderung und Gesundheitsprävention gibt, sich mit Ihren Ansätzen zusammenführen lassen? Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass der große Verbund „Gesundheitliche Chancengleicheit“ auch tatsächlich mit einbezogen werden kann? Es gibt 58 große Organisationen, die seit Jahr und Tag versuchen, in diesem Bereich gemeinsame, gebündelte Aktionen durchzuführen. Was ihnen fehlt, ist Nachhaltigkeit, ist eine dauerhafte finanzielle Basis, ist die Möglichkeit, alle Akteure, die dort zusammenkommen, zu diesem Verhalten und vor allen Dingen unsere verschiedenen Sozialleistungsträger zu gemeinschaftlichen Aktionen zu verpflichten. Hierfür hätten Sie einen Gesamtansatz finden müssen. Das konnten Sie nicht, weil der Minister viel zu spät auf den Trichter gekommen ist, dass man in diesem Bereich endlich tätig werden müsste. Das ist doch der Punkt. ({9}) Diesen Notstand hat die CDU genauso gesehen. Deshalb musste sie ja im letzten Jahr mit eigenen Eckpunkten Druck machen, damit überhaupt etwas passierte. Viele in Ihren Reihen wissen ja auch, dass der jetzige Ansatz, mit dem lediglich versucht wird, über die Mittel des SGB V ein klein wenig umzusteuern, verfehlt ist und so nicht funktionieren kann. Viele von Ihnen wissen das haargenau. ({10}) Das hat doch zu diesem großen Dilemma geführt. Sie wollen im Wahlkampf etwas vorweisen können. Sie wollen sagen können: Ja, wir haben beim Thema Prävention etwas getan. - Aber im Kern machen Sie das Falsche. So werden wir diesen Gesetzentwurf auf keinen Fall mittragen können. Es ist ein Entwurf, der entweder grundlegend überarbeitet werden müsste oder besser in den Papierkorb geschoben werden sollte. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem, Frau Klein-Schmeink, haben Sie recht: Es wurde über Prävention auch hier im Deutschen Bundestag seit 15 Jahren viel geredet, aber wenig gemacht. Was Sie doch am meisten wurmt - das wird ja in allen Ihren Reden deutlich -, ist, dass wir als christlich-liberale Koalition über Prävention nicht nur reden; vielmehr haben wir endlich ein Präventionsgesetz vorgelegt. Wir sorgen ganz konkret für eine verbesserte präventive Gesundheitsförderung im deutschen Gesundheitswesen. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Spahn, möchten Sie gleich zu Beginn Ihrer Rede eine Zwischenfrage beantworten?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Frau Bender.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Herr Kollege Spahn, Sie haben gesagt, seit 15 Jahren werde in diesem Haus über Prävention nur geBirgitt Bender redet. Darf ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen? Trifft es zu, dass die rot-grüne Regierung ein Präventionsgesetz in diesem Hause vorgelegt hatte, das von Ihnen abgelehnt wurde und das die Länder - die unionsgeführten Länder, wohlgemerkt - nachher aus wahltaktischen Gründen haben scheitern lassen? ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Problem aller bisherigen Ansätze - sie sind im Übrigen auch in diesen Reden wieder deutlich geworden ist, dass die Spannbreite zwischen all den Sonntagsreden und den tollen Zielen, die man da formuliert, und der Absicht, den Bund - am liebsten auch Brüssel -, die Kommunen, die Länder, alle Sozialversicherungsträger, jede einzelne Stadt, jede kleine Kiezberatungsstelle in ein Gesetz einzubinden, dazu geführt hat, dass Sie sich immer, wenn Sie darüber gesprochen haben und wenn Sie irgendetwas vorgeschlagen haben, an dieser Stelle völlig verheddert haben. Sie sind im ganzen Gefüge des Föderalismus untergegangen, weil Sie immer zu viel wollten. Wir sagen an dieser Stelle: Wir schaffen eine konkrete und vernünftige Regelung. Wir setzen beim Sozialgesetzbuch V, bei der gesetzlichen Krankenversicherung an. Wir wollen lieber etwas, was am Ende auch funktioniert. Wir wollen nicht so überambitioniert starten, wie Sie es in den früheren Debatten immer getan haben, um am Ende ganz schlapp zu landen. ({0}) Was machen wir da genau? Das eine ist eine Verdreifachung der für die Gesundheitsförderung in Deutschland zur Verfügung stehenden Summe. Das ist übrigens die Summe, die für die Primärprävention, also für die allgemeine Gesundheitsaufklärung, zur Verfügung steht. Natürlich betreiben Krankenkassen bei denjenigen, die Diabetes, Bluthochdruck oder andere Erkrankungen haben, auch Prävention, damit diese Erkrankungen nicht fortschreiten. Hier geht es aber vor allem um die grundsätzliche allgemeine Gesundheitsförderung in der Bevölkerung. Natürlich wollen wir die Menschen in ihrem Lebensumfeld erreichen, in den Betrieben, in den Kindergärten, in den Schulen. Gesundheitsförderung soll Thema werden, am besten in der Kantine bei gesundem Essen. Deswegen sollen die Krankenkassen mit den Partnern vor Ort kooperieren. Über Einzelheiten der Gesundheitsförderung soll niemand aus Berlin und auch nicht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln für alle in Deutschland entscheiden; vielmehr soll Prävention mit den Kooperationspartnern vor Ort betrieben werden. Wir wollen Qualitätsorientierung in der Prävention. Wir haben heute das Problem, dass wir sehr oft eher marketinggetriebene Aktionen erleben, bei denen es etwa darum geht, einen Fitnessgutschein groß zu bewerben. Damit werden am Ende aber nicht diejenigen erreicht, die wirklich eine präventive Gesundheitsförderung brauchen, sondern eher diejenigen, die sich sowieso schon bewegen wollten. Wir müssen weg von diesen individuellen Marketingansätzen, hin zu konkreten Ansätzen in den Betrieben, in den Schulen, in den Kindergärten, um auch diejenigen Menschen zu erreichen, die bis jetzt vielleicht nicht erreicht wurden. ({1}) Dazu gehören auch Angebote zu Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag vor einigen Wochen das Krebsfrüherkennungs- und Krebsregistergesetz beschlossen. Das gehört für uns zusammen: Vorsorge, Früherkennung. Wir wollen eine informierte Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger, ob sie ein solches Angebot zur Vorsorge, zur Früherkennung annehmen. Wir wollen sie nicht gängeln, wir wollen es ihnen nicht vorschreiben; aber wir wollen sie darüber informieren. Wir wollen, dass jeder angeschrieben wird. Wir wollen jedem das Angebot machen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten, Vorsorge zu betreiben, Krankheiten früh zu erkennen. Wir sind sehr sicher, dass die allermeisten Bürgerinnen und Bürger mit dieser informierten Entscheidung sehr gesundheitsbewusst umgehen werden. Dazu kommen Gesundheitsziele, die wir erstmals - auch das hat es bis jetzt noch nicht gegeben; auch das ist ein großer Schritt nach vorne - verbindlich gesetzlich festschreiben und damit zur Handlungsmaxime machen werden, auch für die Krankenkassen. Das zielt etwa auf die Bereiche Diabetes, Bluthochdruck, Brustkrebs und auf die Frage: Wie bleibt man im Alter gesund? Das ist angesichts des demografischen Wandels ein wichtiges Thema. Die Bevölkerung in Deutschland wird kleiner, und gleichzeitig werden die Menschen älter als früher. Wir definieren ganz konkrete Gesundheitsziele und schaffen einen Leitfaden für das Handeln der Krankenkassen und aller, die im Gesundheitswesen tätig sind. Da können Sie von der Opposition sagen, das sei alles zu wenig, es müsse mehr sein, es müsse größer sein, es müsse mehr Geld sein. Das ist ja das, was Sie immer gern tun: bei allem mehr Geld fordern. Was wir machen, sind konkrete Maßnahmen: mehr Geld für Prävention ausgeben, den Mindestwert verdreifachen, eine Qualitätsorientierung bei dem betreiben, was schon da ist, Gesundheitsziele definieren, eine Stärkung bei den Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen vornehmen. Sie wissen genauso gut wie wir, dass das die richtigen Maßnahmen sind. Man kann immer mehr wollen, aber, ich finde, an dieser Stelle könnte man auch einmal anerkennen, dass wir hier konkrete gute Vorschläge machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Spahn, eine bestimmte Fraktion möchte heute Ihre Redezeit gleich mehrfach verlängern.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer gern.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Spahn, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die Aktivitäten verdoppeln und ausweiten wollen und dass das ja nicht falsch sein kann. Das kann man erst einmal so sehen. Wie erklären Sie dann, dass in den letzten Jahren, in denen Sie hier die Regierung gestellt haben, das Volumen für Prävention massiv rückläufig war? Wir haben 2008 noch 340 Millionen Euro dafür ausgegeben, und heute liegt das bei 270 Millionen. Wie erklären Sie sich diesen Rückgang? Womit hat das zu tun? Kann man nicht auch sagen, dass Sie die Bedeutung der Prävention in den letzten Jahren deutlich unterschätzt haben?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann man natürlich nicht sagen, ({0}) weil wir überall gesagt haben - ich bin noch beim Antworten; bleiben Sie bitte stehen -, wie wichtig Prävention und Gesundheitsförderung sind. Die Mindestsumme von gut 2 Euro pro Versicherten pro Kasse pro Jahr, die einmal festgeschrieben worden ist, verdreifachen wir fast; deswegen verstehe ich Ihre Kritik bezüglich der Centbeträge nicht. Gerade weil die Tendenz der Kassen ist, im Zweifel nicht genug in Prävention zu investieren, sagen wir: Wir schreiben es euch gesetzlich vor. Wir schreiben euch vor, mindestens 6 Euro pro Versicherten pro Jahr in Prävention zu investieren. - Wir sagen auch ganz klar: Ihr sollt es nicht in Marketingansätze und Gutscheine investieren, sondern ihr sollt die Menschen in den Betrieben, in den Kindergärten, in den Schulen erreichen. - Genau deswegen machen wir dieses Gesetz. Insofern war Ihre Frage eine gute Gelegenheit, das noch einmal ausdrücklich darzustellen, Frau Kollegin Klein-Schmeink. ({1}) Das zweite Gesetz, das wir hier heute einbringen, ist schon angesprochen worden. Darin geht es um den Apothekennotdienst. Wir müssen das in einer Gesamtschau sehen. Was haben wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz begonnen? Dabei ging es vor allem um die flächendeckende Versorgung im ländlichen Raum mit Ärzten - ein Thema, das viele Menschen in Deutschland - ich selbst komme aus dem Münsterland; das gilt hier, aber auch in anderen Regionen - im Moment sehr bewegt. Sie fragen nämlich: Ist dann, wenn ein Hausarzt aufhört, noch ein Nachfolger da? Wir müssen natürlich auch schauen: Wie sieht es in den anderen Gesundheitsberufen aus? Hier nehmen wir die Apotheker mit in den Blick, weil im ländlichen Raum, aber übrigens auch in manchen Stadtteilen in Berlin oder in München oder anderswo wenige Apothekerschultern den Notdienst tragen müssen, die Apotheker also relativ häufig nachts und am Wochenende mit dem Notdienst dran sind, häufiger jedenfalls als in der Stadt allgemein. Das wollen wir finanziell honorieren. Wir werden im Gesetzgebungsprozess das, was wir hier eingebracht haben, noch ergänzen, und zwar um Regelungen zur Krankenhausfinanzierung, um auch insofern eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Das heißt, das, was wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz begonnen haben, setzen wir mit den Regelungen zu den Apothekern, Krankenhäusern und anderen Bereichen fort, weil wir eine flächendeckende Versorgung für die Menschen wollen, nicht nur Spitzenmedizin in den großen Städten, sondern auch ein breites Angebot im ländlichen Raum. Dafür ist das vorgelegte Gesetz ein wichtiger weiterer Schritt. ({2}) Etwas überrascht, Herr Kollege Lauterbach, bin ich davon, dass Sie das Gesetz eine Verbeugung vor den Apothekern nennen. ({3}) Ich finde, das, was Sie hier betreiben, ist, ehrlich gesagt, ein Stück weit Hohn. Wir wissen jedenfalls, dass wir eine flächendeckende Versorgung der Menschen in Deutschland, eine gute gesundheitliche Versorgung der Menschen in Deutschland nur mit den Ärzten, nur mit den Apothekern, nur mit den Pflegekräften, nur mit denjenigen hinbekommen, die im Gesundheitswesen tätig sind, und nicht gegen sie. ({4}) Was Sie hier rhetorisch immer machen: Sie bauen Gegensätze auf zwischen Patienten auf der einen Seite und Ärzten, Apothekern und anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind, auf der anderen Seite. Wir sehen da keine Gegensätze. Es geht um die Zusammenarbeit. Die Menschen vertrauen ja zu Recht ihrem Arzt, ihrem Apotheker, ihrer Hebamme, ihrem Physiotherapeuten, denjenigen, die sie behandeln. Deswegen wollen wir gerade diese im ländlichen Raum stärken. ({5}) Ich will einmal das in einer Gesamtschau betrachten, was wir in den letzten dreieinhalb Jahren gesundheitspolitisch gemacht haben, und das einordnen, was wir tun. ({6}) Denn Sie fragen ja: Warum jetzt? Wir haben zuerst gesagt: Wir wollen in der gesetzlichen Krankenversicherung eine solide finanzielle Basis herstellen. Denn wir sind gestartet mit einem drohenden großen Defizit, das uns bevorstand. Wir haben es mit Sparmaßnahmen, mit einer Erhöhung des Beitrags, aber vor allem durch die gute wirtschaftliche Entwicklung, zu der auch Politik beigetragen hat, hinbekommen, dass wir heute eine solide finanzielle Basis in der gesetzlichen Krankenversicherung mit Rücklagen haben, wie wir sie seit mindestens 20, 25 Jahren nicht gekannt haben. ({7}) Dann haben wir gesagt: Nachdem die finanzielle Basis hergestellt ist, wollen wir stärker als bisher die Frage in den Blick nehmen: Wie nehmen die Menschen in Deutschland Versorgung wahr? Wo gibt es in der Versorgung Probleme? Etwa bei der flächendeckenden Versorgung mit Ärzten, mit Apothekern, mit Krankenhäusern. Daran anschließend die Frage: Wie können wir die Versorgung im ländlichen Raum sicherstellen? Bei Medikamenten, die jemand bekommt, wäre zu fragen: Nutzen die tatsächlich auch etwas, bringen die auch etwas, oder werden hier etwa unnötig hohe Preise gezahlt? Deswegen haben wir mit einem entsprechenden Gesetz auch eine Nutzenbewertung möglich gemacht. Weiter weise ich hin auf die Krankenhaushygiene und viele andere Themen, die wir aufgegriffen haben. Jetzt geht es in einem weiteren Schritt um die Perspektive, die noch über die akute Versorgung hinausgeht. Wir sagen im Präventionsgesetz: Wir legen zum einen die Basis dafür, dass man in Deutschland, wenn man krank wird, darauf vertrauen kann, dass eines der besten Gesundheitswesen der Welt zur Verfügung steht, einen in der Not unterstützt und einem hilft, und wir wollen zum anderen gemeinsam daran arbeiten - hier sind auch die Krankenkassen und diejenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind, zu nennen -, Krankheiten möglichst zu vermeiden, damit es erst gar nicht zu Krankheiten kommt. Ich denke da insbesondere an die Volkskrankheiten: Diabetes, Bluthochdruck und viele andere sind schon genannt worden. Die wichtigsten Mittel sind und bleiben ja eine gesunde Ernährung und Bewegung. Es gilt in diesen Bereichen Akzente zu setzen. Auch jeder für sich sollte überlegen: Wie kann ich das in meinem Leben besser gestalten? - Dazu wollen wir anregen. Mir sagte vor einigen Tagen jemand in einer Veranstaltung, er würde drei Mal in der Woche joggen - für seine Krankenkasse. Da habe ich ihm gesagt: Ich hoffe, Sie joggen nicht für Ihre Krankenkasse, sondern weil Sie sich jedes Mal besser fühlen, wenn Sie vom Joggen nach Hause gekommen sind, weil es Ihnen also besser geht, weil es Ihnen guttut und weil es am Ende Ihnen in Ihrem Leben etwas gibt. - Dahin wollen wir kommen: dass Menschen für sich die Entscheidung treffen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten. Wir wollen sie nicht gängeln, sondern sie informieren, sie aufklären, sie erreichen. Das ist der Ansatz, den wir fortsetzen werden auch und gern über den 22. September hinaus. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Angelika Graf ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst etwas richtigstellen, Herr Lanfermann - die Kollegin Klein-Schmeink hat das ja auch schon angesprochen -: Es hat sehr wohl - ich bitte Sie, doch einmal in die Dokumente des Bundestages zu schauen - einen Gesetzentwurf von Rot-Grün gegeben; der wurde im Bundesrat unter anderem auch mit Ihrer Mithilfe gestoppt. Und es hat eine zweite Anstrengung vonseiten der SPD gegeben - die leider in der Großen Koalition gescheitert ist -, einen Gesetzentwurf vorzulegen. ({0}) Also, bitte schön, stellen Sie keine so dreisten Behauptungen auf! ({1}) Dieser zweite Gesetzentwurf ist übrigens daran gescheitert, dass unser damaliger Koalitionspartner, Ihr jetziger Koalitionspartner, einen solchen Gesetzentwurf nicht wollte. ({2}) Wir haben hier schon jahrelang auf Maßnahmen der Regierung im Bereich der Prävention gewartet. Ich denke, das Warten hat sich definitiv nicht gelohnt. Sie haben erst drei Jahre lang die Vorlage eines Präventionsgesetzes abgelehnt, Herr Minister - alle Anträge dazu wurden im Bundestag ebenfalls abgelehnt -, und man hat drei Jahre lang wolkig über eine Präventionsstrategie gesprochen. Jetzt, wo die Diskontinuität in Reichweite ist, wo es zu spät für einen solchen Gesetzentwurf ist, da legen Sie einen solchen Rohrkrepierer vor. ({3}) Ich denke, der Entwurf hat nur einen Zweck - Herr Lauterbach hat es auch schon angesprochen -: Er ist ein Feigenblatt für Ihren Wahlkampf. Und, bitte schön, es liegt nicht an uns, dass die Zeit so knapp ist, sondern es liegt an Ihnen. ({4}) Wie so oft bei Ihnen, gibt es dazu ein nahezu leeres Glas - das ist schon angesprochen worden - mit einem irreführenden Etikett darauf. Das haben diejenigen, die im Bereich der Prävention arbeiten und dort gut arbeiten und die erwartet haben, dass die Regierung vernünftig tätig wird, nicht verdient. Wir haben Ihnen in unseren Anträgen vor zwei Jahren aufgeschrieben, was ein vernünftiges Präventionsgesetz beinhalten muss. Auf zwei Hauptprobleme möchte ich heute eingehen; es sind übrigens Hauptprobleme, die alle Oppositionsparteien gleichermaßen so identifiziert Angelika Graf ({5}) haben. Der erste Punkt: Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland erreichen nur die bereits Gesundheitsbewussten. Der zweite Punkt: Prävention ist in Deutschland sehr fragmentiert, wenig nachhaltig, nicht aufeinander abgestimmt und häufig ineffektiv. ({6}) Wir von der SPD haben damals einen sehr konkreten Antrag vorgelegt, abgestimmt mit Praktikern, Experten und Expertinnen. Vor diesem Hintergrund habe ich mir Ihren Gesetzentwurf angesehen. Ich muss Ihnen sagen: Bis auf vereinzelte Vorschläge zur Verbesserung der betrieblichen Prävention ist das Gesetz aus meiner Sicht völlig ungeeignet, die oben angesprochenen Hauptprobleme der Prävention in Deutschland zu beheben. ({7}) Der Gesetzentwurf ist Murks, wie auch Ihre Regierungsbilanz im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren. Problem eins: Wie erreichen wir Menschen, die bisher kaum an Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung teilgenommen haben? Der sogenannte Setting-Ansatz, der die Menschen in ihrem Lebensumfeld abholt, wird bislang vollkommen unzureichend verfolgt. ({8}) - Sie können sich darauf verlassen, ich habe den Gesetzentwurf gelesen. Wir wollten mit unserem Antrag diesen Ansatz maßgeblich stärken, die begrenzten Mittel auf diesen Ansatz konzentrieren. Und was wollen Sie in Ihrem Gesetzentwurf? Sie wollen 1 Euro pro Versicherten in den Bereich generelles Setting geben. Und die Kassen sollen noch einmal die Hälfte dieser Mittel der BZgA zur Verfügung stellen. ({9}) Sie belassen es damit dabei, dass der Großteil der Kassenausgaben für die Prävention in wenig effektive individuelle Präventionsmaßnahmen gesteckt wird, obwohl wir wissen, dass wir damit vor allem diejenigen erreichen, die, wie gesagt, sowieso schon etwas tun. Wenn man diesen Ansatz in Richtung nicht individuelle Präventionsmaßnahme verfolgen will, geht das nur mithilfe der Kommunen, der Länder und der Player vor Ort. Vor diesem Hintergrund würden Sie mit diesem Gesetzentwurf wohl ein zweites Problem schaffen. Mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben Sie sich meiner Ansicht nach nicht den besten Akteur im Bereich des Setting ausgesucht. ({10}) Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - damit wir uns nicht falsch verstehen - macht eine hervorragende Arbeit im Bereich der Aufklärung. Deswegen heißt sie ja auch so. Aber für den Bereich der Lebenswelten, in der konkreten Arbeit mit bildungs- und einkommensschwachen Menschen gibt es bessere Kooperationspartner. Schauen Sie sich einmal die Stellungnahme der Caritas an, die Sie sicher auch bekommen haben! ({11}) Der Gesetzentwurf wird also nichts daran ändern, dass diejenigen, die am stärksten von Präventionsmaßnahmen profitieren könnten, am wenigsten erreicht werden. Ein Beispiel hierfür ist die alleinerziehende, psychisch labile arbeitslose Mutter. Auch das zweite Problem, die Projektitis in der Prävention, wird mit diesem Gesetzentwurf nicht gestoppt. Kaum ein Programm oder Projekt hat eine längere Laufzeit als 18 Monate. Modellruinen, wohin man sieht. Daran ändert auch Ihr Gesetzentwurf nichts. ({12}) Wer soll denn die Qualität der Präventionsmaßnahmen systematisch überprüfen und gewährleisten? Wer sorgt für ein Ineinandergreifen der Programme? Wie soll Nachhaltigkeit gesichert werden? Auf all diese Fragen gibt dieser Entwurf definitiv keine Antwort. Die Ständige Präventionskonferenz, die alle vier Jahre einen Bericht schreiben soll, wird daran auch nichts ändern. ({13}) Es ist keine Überraschung, dass sich die privaten Krankenversicherungen mit Ihrem Gesetzentwurf weiter aus dem Staub machen können. Gönnerisch weisen Sie im Entwurf lediglich darauf hin, dass die PKV die Prävention fördern kann, es aber nicht muss. Ihre Versicherten werden eventuell von den Maßnahmen profitieren. Die private Kasse wird aber nicht gezwungen, dort einzuzahlen. Prävention und Gesundheitsförderung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es müssen sich alle, auch finanziell, an diesem Gesamtprojekt beteiligen. ({14}) Deswegen möchte ich in der letzten Minute kurz den Blick darauf lenken, was Sie denn eigentlich in den letzten drei Jahren zur Verbesserung der Prävention konkret gemacht haben. Das kann man am besten am Etat feststellen. Ich habe mir den Haushalt dazu angeschaut. Sie haben die Haushaltsmittel im Bereich Prävention für das Jahr 2011 um 2 Prozent gekürzt und für das Jahr 2012 noch einmal um rund 9 Prozent. Die Mittel für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Bekämpfung von Aids und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten sind für 2011 um 25 Prozent gekürzt worden. Die Mittel für nationale Aufklärungsmaßnahmen zu sexuell übertragbaren Krankheiten kürzte die Koalition für 2012 um knapp 10 Prozent. Der Aktionsplan für Ernährung Angelika Graf ({15}) und Bewegung, IN FORM, wurde an das Verbraucherschutzministerium übergeben und dort im Jahre 2013 komplett eingestellt. ({16}) Im Jahr 2013 sind dann die Haushaltsmittel für Aufklärungsmaßnahmen zu sexuell übertragbaren Krankheiten noch einmal um 10 Prozent gekürzt worden, die Mittel zur Bekämpfung von Drogen- und Suchtmittelmissbrauch noch einmal um 4 Prozent. Ich fasse zusammen: Seit Ihrem Amtsantritt im Jahre 2009 sind die Mittel im Bereich der Prävention trotz aufwachsender Mittel im Gesundheitswesen um 10 Prozent gekürzt worden. Das sagt mehr aus als jede generelle Aussage über die Wertigkeit von Prävention in Ihrer Politik. ({17}) Täuschen Sie sich nicht: Die Menschen werden sehr genau auf das Präventionsgesetz und das, was Sie im Bereich der Prävention gemacht haben, schauen. Die Bürgerinnen und Bürger und die Wählerinnen und Wähler sind nicht dumm. Sie sehen, dass Sie die Mittel auf der einen Seite gekürzt haben, sich aber auf der anderen Seite jetzt mit einem Feigenblatt in Form des Präventionsgesetzes bedecken wollen. Das wird durchschaut werden. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Wahl. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Erwin Lotter das Wort. ({0})

Dr. Erwin Lotter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003895, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegen von der Sozialdemokratie, bevor Sie hier unterstellen, der Minister würde die Unwahrheit darüber sagen, wie Sie sich zu den Apotheken positionieren, empfehle ich Ihnen, den Leitantrag Ihres eigenen Parteivorstandes zur Gesundheitspolitik zu lesen, wo es wörtlich heißt: Den Arzneimittelvertrieb werden wir liberalisieren, um Preisvorteile von größeren Vertriebsstrukturen zu erreichen. ({0}) Sie sollten vielleicht auch lesen, wie sich Ihr Kanzlerkandidat geäußert hat. In einem Brief an die Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz spricht er sich nämlich ausdrücklich für den Versandhandel aus. Überhaupt ist ja die Abstimmung über das Präventionsgesetz für die Opposition die Stunde der Wahrheit. Viele Jahre haben wir miterlebt, wie SPD und Bündnis 90/Die Grünen lautstark ein solches Gesetz gefordert haben: Das umfangreiche Präventionsangebot, das wir in Deutschland seit Jahrzehnten entwickelt haben, genüge nicht. Die Prävention stehe nicht im politischen Fokus. Die bestehenden Maßnahmen seien unkoordiniert. Nicht, dass etwa die Sozialdemokraten, die erst mit den Grünen und dann mit der CDU/CSU elf Jahre lang an der Regierung waren, tatsächlich etwas unternommen hätten; es ist vielmehr die schwarz-gelbe Bundesregierung, die nach umfangreichen Vorarbeiten endlich einen Gesetzentwurf vorlegt, der umfassend und zukunftsgerichtet ist. ({1}) Und was hören wir von SPD und Grünen? Zu wenig, zu spät, zu bürokratisch. Überhaupt hätten Sie alles besser gemacht. Ganz offen drohen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, das Gesetz im Bundesrat scheitern zu lassen. Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Das wäre ein Affront gegen die zahlreichen Verbände, gegen die Vertreter der medizinischen Berufe, gegen die Krankenkassen und gegen die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. ({2}) - Und gegen die Menschen. - Denn all diese Institutionen haben dazu beigetragen, den aktuellen Gesetzentwurf zu schaffen. All diese Institutionen erwarten, dass nun das lange erwartete Präventionsgesetz endlich verabschiedet wird. Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern mit Unterstützung einer Vielzahl von Akteuren aus dem Gesundheitswesen. ({3}) Ihnen allen schulden wir Politiker, endlich tätig zu werden. ({4}) Ich denke, dass der vorliegende Entwurf wichtig ist, um das Bewusstsein in der Bevölkerung für gesundheitsförderndes Verhalten zu stärken. Es sind nicht nur die Krankenkassen und Ärzte angesprochen, die sich bemühen, auf die Menschen zuzugehen, um bereits im Vorfeld die Zahl insbesondere chronischer Krankheiten zu senken. Auch jeder Einzelne selbst ist gefordert, sich Gedanken über sein persönliches Verhalten zu machen. Die entscheidende Frage ist und bleibt: Wie können wir jeden Einzelnen tatsächlich erreichen? - Es reicht doch nicht, die Fahrradwege zu verbreitern; ich muss die Menschen aufs Fahrrad bekommen. ({5}) Nach unserer Überzeugung ist es die beste Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger in den gesellschaftlichen Strukturen anzusprechen, wo eine große Resonanz möglich ist: Dazu gehören Schulen, Kommunen, Betriebe, aber auch Sportvereine, Alters- und Pflegeheime oder Orte, an denen sich viele Migranten aufhalten. Eine weitere Facette dieser Herangehensweise ist es, die herausgehobene Bedeutung der Familien anzuerkennen, zumal im Bereich der Migranten. Kinder und Jugendliche werden die Notwendigkeit eines gesunden Lebens nicht erkennen, wenn es ihnen in der Familie nicht vorgelebt wird. ({6}) Aus meiner langjährigen Praxis als Arzt weiß ich um die entscheidende Bedeutung von Vorbildern. Dies gilt vor allem für Kinder, aber nicht nur für sie. Wenn ich als Arbeitnehmer in meinem Betrieb Strukturen vorfinde, die mir sportliche Betätigung ermöglichen und ein hochwertiges Essen in der Kantine anbieten, so kann das für mich auch im privaten Bereich ein Ansporn sein. Wenn ich als älterer Mensch miterlebe, wie andere Senioren ihre Lebensqualität durch Bewegung und gesundes Essen erhöhen, kann das auch für mich eine Ermutigung darstellen. Wenn meine Ärzte und die Ärzte meiner Kinder stets aufs Neue Maßnahmen zur Vorbeugung vorstellen, dann werde ich die Bedeutung der Prävention persönlich ganz anders einschätzen. ({7}) Dies beginnt bei der Ernährungsberatung und hört bei Untersuchungen zur Früherkennung nicht auf. Diese Strategie wird umso effektiver, wenn sie mit Anreizen, mit Boni verbunden wird, die die präventiven Maßnahmen ihrem Wesen nach begleiten. All die relevanten Lebenswelten zu identifizieren und miteinander zu verzahnen - dies ist die Aufgabe des Präventionsgesetzes. Natürlich werden wir die Ergebnisse nicht sofort, in zwei oder drei Jahren, sehen können; die Reduktion von Krankheiten ist erst nach Jahrzehnten messbar. Der Gesetzentwurf verfolgt einen langfristigen Ansatz. Diese Nachhaltigkeit ist Kern und Zielvorstellung liberaler Gesundheitspolitik. ({8}) Meine Damen und Herren, wir wollen nichts unversucht lassen, um die Menschen vor vermeidbaren Krankheiten zu bewahren. Damit werden langfristig auch Krankheitskosten reduziert - im Interesse der finanziellen Stabilisierung des Gesundheitswesens. Hiermit müssen wir jetzt anfangen, nicht erst übermorgen. Ich appelliere daher ausdrücklich an die Opposition, dem Präventionsgesetz zuzustimmen und nicht unnötig Zeit verstreichen zu lassen - im Interesse der Gesundheit unserer Bürger. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war voraussichtlich meine letzte Rede hier an dieser Stelle, weil ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren werde. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit mit den gesundheitspolitischen Sprechern aller Fraktionen bedanken. ({10}) Man erlebt als Parlamentarier nicht unbedingt immer nur Glücksmomente. Aber es gab Momente, in denen man jenseits der parlamentarischen Rituale und des Aufeinander-Eindreschens doch bei allen Kollegen das Ringen um die beste Lösung gespürt hat. Es gab auch Momente, in denen man das Gefühl hatte: Ja, die menschliche Basis stimmt. Da möchte ich mich - das wird Sie jetzt vielleicht wundern - stellvertretend für alle anderen beim Kollegen Lauterbach bedanken, weil ich ihn trotz der politischen Meinungsverschiedenheiten, die wir haben, immer als sehr kollegial empfunden habe und weil er in menschlicher Hinsicht hochanständig war gerade in dem Moment, als ich krank geworden bin. Dafür herzlichen Dank. Ich wünsche mir und dem nächsten Deutschen Bundestag, dass dieser menschliche Aspekt erhalten bleibt. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Lotter, ich möchte den Dank, den Sie gerade insbesondere an Ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Gesundheitspolitik ausgesprochen haben, im Namen des ganzen Hauses gerne zurückgeben. Die allermeisten von uns haben mit großem Respekt registriert, unter welchen erschwerten Bedingungen Sie Ihr Mandat in den letzten Monaten wahrgenommen haben. Deswegen gilt Ihnen unser Dank und Respekt mit allen guten Wünschen für die Zeit nach Ende dieser Legislaturperiode. ({0}) Birgitt Bender erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Lotter, ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich den Worten des Präsidenten anzuschließen. ({0}) Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zeit nach der Arbeit im Parlament. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zur Sache. Der zweite Gesetzentwurf, den wir heute beraten, heißt „Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz“. Sichergestellt wird da aber gar nichts. Es gibt 120 Millionen Euro mehr für die Apothekerinnen und Apotheker - das wird sie gewiss freuen, und es sei ihnen auch gegönnt -, aber die Belastung für die Apotheken bleibt die gleiche. Die Wege für die Patienten und PaBirgitt Bender tientinnen bleiben genau gleich lang; das heißt, es ändert sich überhaupt gar nichts. Man müsste doch an die Struktur herangehen. Die Notdienstbezirke sind historisch gewachsen. Deswegen ist die Belastung der Apotheker und Apothekerinnen außerordentlich unterschiedlich, und zwar nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen verschiedenen ländlichen Räumen; ich habe mir das für BadenWürttemberg schildern lassen. Dementsprechend sind die Wege für Patientinnen und Patienten unterschiedlich lang. Sie erleben es zum Beispiel, dass es die ärztliche Notfallversorgung am Wochenende in der einen Ecke des Landkreises gibt, dass sie dann aber weit in eine andere Ecke des Landkreises fahren müssen, um die Medikamente zu bekommen. Was wird denn da sichergestellt, wenn die Struktur weiterhin so bleibt? Das ist doch eine Farce. ({1}) Man müsste sich dafür interessieren, wie die Strukturen verbessert werden könnten, wie man die Notdienstbezirke neu zuschneiden kann, ({2}) wie man die ärztliche Notfallversorgung und den apothekerischen Notdienst besser aufeinander abstimmen kann. ({3}) Das würde Apotheker und Apothekerinnen entlasten. ({4}) Es würde für die Patientinnen und Patienten weniger lange Wege mit sich bringen und damit eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung bedeuten. Aber den Minister interessiert das alles leider gar nicht. Das Einzige, was Sie wollen, ist: Ruhe an der Apothekerfront vor der Wahl. Ja, Sie werden von der Apothekerlobby Zuspruch bekommen, aber ich sage Ihnen: Die Apotheker und Apothekerinnen an der Basis werden weiterhin unzufrieden sein, auch wenn sie das Geld begrüßen. Es ist gut, dass es wenigstens innerhalb der Apothekerschaft eine neue Diskussion darüber gibt, welches Leitbild in Zukunft für Apothekerinnen und Apotheker gelten soll. Ich hoffe, dass da auch diese Strukturfragen eine wichtige Rolle spielen werden. ({5}) In einem Kommentar in der Deutschen Apotheker Zeitung heißt es, es stehe ein Umbruch bevor hin zu anderen Dienstleistungen, der ähnlich tiefgreifend sein werde wie der Wandel vom Hersteller zum Verkäufer von Arzneimitteln: Nicht mehr das Arzneimittel, sondern die Patienten und Patientinnen sollten im Mittelpunkt stehen. - Das können wir als Grüne nur unterstützen. Mehr Patientenorientierung würde im Übrigen auch heißen: mehr Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen. Ich hoffe sehr, dass sich auch Ärztinnen und Ärzte solchen Kooperationen - Stichwort „Medikamentenmanagement“ - öffnen. Wir werden das unterstützen. ({6}) In der Anhörung werden wir nicht zuletzt thematisieren, welch hoher bürokratischer Aufwand mit Ihrem angeblichen Sicherstellungsgesetz verbunden ist. Überzeugende Reformvorschläge sehen anders aus. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Stefanie Vogelsang ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit November 2009 findet vor jeder wichtigen Landtagswahl alle zwei bis drei Monate eine Debatte über das Gesundheitswesen in unserer Republik statt, häufig unterlegt mit Anträgen der Linken, der SPD oder der Grünen, in denen immer von einer katastrophalen Versorgungssituation und dem Untergang der Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland die Rede ist. Am Anfang ging es um die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung: Die gesetzliche Krankenversicherung geht pleite; wir bekommen dieses und jenes nicht gelöst. Ich erinnere mich an überbordende Debatten, die wir hier geführt haben, und an sehr massive Anschuldigungen von Ihrer Seite. Die Koalition hat das Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenkassen, zur Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung, das GKV-Finanzierungsgesetz, verabschiedet. Heute spricht kaum jemand mehr über dieses Thema. Ein zweiter Bereich, in dem es immer wieder massive Angriffe gibt: die Pharmaindustrie. Es wird behauptet, die Pharmaindustrie würde sich das Geld der gesetzlichen Krankenkassen in die Tasche stecken, wir hätten eine überbordende Finanzierung im Pharmabereich, wir hätten eine viel zu starke Finanzierung in diesem Bereich. Wir haben das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz verabschiedet. ({0}) Vor Landtagswahlen haben Sie behauptet, dass wir die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung nicht sicherstellen könnten. ({1}) Wir haben uns mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz darum gekümmert. Immer wieder wurde auch behauptet, dass der Bereich Prävention nicht thematisiert werde. Wenn ich die Leistungen dieser Koalition im Bereich der gesundheitlichen Versorgung der Menschen in den letzten Jahren richtig bewerte, dann war das, was Sie hier geschildert haben, nur Popanz und nicht Realität. Es gab Schwierigkeiten und Probleme. Um diese Probleme hat man sich gekümmert. Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, egal ob jung oder alt, arm oder reich, kräftig oder schwächer, haben den bestmöglichen Zugang zu medizinischer Versorgung. Das ist in kaum einem anderen Land - ich möchte sogar behaupten: in keinem anderen Land - dieser Welt so der Fall. ({2}) Das ist eine ganz enorme Leistung unserer Gesellschaft. Ich finde, das ist es wert, deutlich gemacht zu werden. Das sollte man immer wieder sagen. Selbstverständlich entwickeln sich die Dinge. Selbstverständlich gibt es an der einen oder anderen Stelle Justierungsbedarf. Darum kümmern wir uns intensiv. Im Großen und Ganzen hat das, was Sie hier vorgetragen haben, aber nicht gestimmt. Die Menschen empfinden die Situation im Großen und Ganzen auch so. Die Bürgerinnen und Bürger wissen das, sie sehen das. Frau Volkmer, Sie haben in Ihrer Rede formuliert - ({3}) - Entschuldigung, Sie haben recht. Ich meine Frau Bunge. ({4}) - Ja. Frau Graf, zu Ihnen komme ich gleich auch noch. Aber jetzt ist erst einmal Frau Bunge dran. - Frau Bunge, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie an dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Prävention nichts gut finden außer der Überschrift. Ich möchte ganz klar sagen: Ich finde, dass der Inhalt einen riesengroßen Schritt darstellt. Ich werde gleich auf die Details eingehen. Das Einzige, was ich persönlich nicht so gelungen und gut finde, weil ich es langweilig und bürokratisch finde, ist die Überschrift. ({5}) - Vielleicht haben Sie Experten zitiert, weil Sie nichts Eigenes zu sagen hatten. Ich kann das nicht so genau beurteilen, Frau Kollegin. ({6}) Herr Lauterbach hat vorgetragen, dass er es als sehr schlimm erachtet, dass wir ein nationales Gesetz vorgelegt haben. Ich glaube, Sie wollten ausdrücken, dass wir ein zentrales Gesetz formuliert haben. ({7}) Das wäre jedenfalls stimmig mit der Kritik, die Sie formuliert haben. Aber genau das ist es ja nicht; das sehen Sie, wenn Sie in den Gesetzentwurf schauen. In diesem Gesetzentwurf werden das erste Mal im Deutschen Bundestag nationale Gesundheitsziele festgeschrieben. Es ist das erste Mal, dass sich das deutsche Parlament damit beschäftigt. Dabei geht es nicht um die Projekte A, B und C einer Kommune. Wir alle wissen, dass wir eine breite Projektlandschaft haben. Diese Projektlandschaft wollen wir aber nicht einfach nur vor sich hinwirken lassen. Vielmehr haben wir gesagt: Wir müssen die Kräfte, die wir in unserer Republik haben, im Interesse der Menschen, die in Deutschland leben, bündeln und auf bestimmte Ziele ausrichten. Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass wir bei dieser nationalen Zielfestlegung fünf, sechs konkrete Ziele im Gesetzentwurf benannt haben und im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung einen verpflichtenden Orientierungsrahmen formulieren. ({8}) Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn sich die privaten Krankenversicherungen im Rahmen ihrer Arbeit diesen Zielen bei der Förderung und Finanzierung anschließen würden. Ich glaube, dass wir uns in unserem Land ganz intensiv mit diesen Themen beschäftigen und in den Städten, in den Gemeinden, in den Landkreisen darüber diskutieren müssen. Wir müssen diese Ziele wirklich als nationale Ziele begreifen. In den Schulen oder aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in Settings, wo Menschen mit einem relativ niedrigen Bildungsstand vielleicht eine besonders intensive Versorgung und Aufklärung brauchen, könnten wir - unterstützt durch die gesetzliche Krankenversicherung oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - daran arbeiten und große Fortschritte machen. Ich denke, dass wir durch die Qualitätssicherung, die Qualitätsprüfung und durch den Orientierungsrahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung davon abkommen werden, dass zum Beispiel der Besuch einer Muckibude für einen 20-jährigen jungen kräftigen Mann bezahlt wird. Das alles sind schöne Leistungen, und junge kräftige Männer sollten ruhig auch in ein Bodybuilding-Studio gehen - ich habe überhaupt nichts dagegen -, ({9}) aber es muss ja nicht auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung geschehen. Deswegen, denke ich, ist es richtig, dass wir diese Qualitätsprüfung, diese Qualitätssicherung haben. Dadurch wird gewährleistet, dass durch die gesetzliche Krankenversicherung nur solche Maßnahmen finanziert werden, die auch den nationalen Zielen, die wir formuliert haben, entsprechen. Ich glaube, lieber Herr Minister, dass Sie uns etwas sehr Gutes vorgelegt haben. Aber es gibt ja nichts, was man nicht noch besser machen kann. Ich freue mich darüber, dass wir diesen Entwurf von Ihnen jetzt in der parlamentarischen Beratung haben. Ich werde noch einmal anregen - man kann es ja versuchen -, dass im Zusammenhang mit den Zielen auch konkrete Gesundheitsbereiche in den Gesetzentwurf geschrieben werden. Vielleicht können wir darüber noch einmal diskutieren. Ich glaube, wir kämen ein Stück weiter, wenn wir zum Beispiel in den Gesetzentwurf schreiben würden: Wir alle verpflichten uns, die Zahl der Diabetes-mellitus-Erkrankungen bis zum Jahr 2020 um 10 Prozent zu senken. Das wäre etwas sehr Konkretes und Fassbares. Alle könnten sich daran ausrichten. Ich glaube, dass man im gesetzgeberischen Verfahren im Deutschen Bundestag noch einmal über die nationalen Ziele diskutieren sollte, könnte, müsste, und dies wird man auch tun. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und bin gespannt, was wir bei der zweiten und dritten Lesung hier vortragen und gemeinsam, lieber Herr Minister, feiern können. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun ist, wie angekündigt, die Kollegin Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion dran. ({0})

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Lotter, ich spreche im Namen der Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion, wenn ich sage, dass wir Ihnen für die Zusammenarbeit danken, die wir immer als kollegial empfunden haben. Wir würden uns natürlich freuen, wenn wir Sie außerhalb des Parlaments wiedersehen. Wir hoffen, dass Sie noch öfter nach Berlin kommen werden. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Gesundheit und Stabilität! ({0}) Im Laufe der Debatte ist mir klar geworden, warum wir diese beiden so unterschiedlichen Gesetzentwürfe, den zur Förderung der Prävention und den zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes von Apotheken, gemeinsam unter demselben Tagesordnungspunkt behandeln: weil es über das Präventionsgesetz im Grunde genommen nichts zu sagen gibt; es ist auch nichts gesagt worden. ({1}) Mit Freude habe ich vernommen, wie viel Angst Sie vor der SPD haben, ({2}) weil die SPD bei den Apothekern viel an Boden gewonnen und Sie bei den Apothekern viel an Boden verloren haben. ({3}) Aus diesem Grunde betreiben Sie hier billigste Wahlkampfrhetorik. ({4}) Schauen Sie in unser Regierungsprogramm! Da steht kein Wort von Fremdbesitz und Mehrbesitz. ({5}) Jetzt werde ich die Gelegenheit nutzen, unsere Meinung zum Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz darzustellen. Wir haben schon immer gesagt, dass die Finanzierung des Apothekennotdienstes nicht sachgerecht und ungerecht ist, weil sie einzig und allein an die Inanspruchnahme des Notdienstes gebunden ist. Da liegt es auf der Hand, dass eine Apotheke in einem strukturschwachen Raum schlechter bezahlt wird als eine Apotheke in einem Ballungsgebiet. Hier muss es eine Änderung geben. Aber was haben Sie vorgelegt? Es bleibt erst einmal bei dem Betrag von 2,50 Euro für die Inanspruchnahme; an dieser Ungerechtigkeit wird nichts geändert. Obendrauf kommt nun eine Pauschale. Sie ist - mit Ihren Worten - „eine Anerkennung für die Leistungen der Apotheker für die Allgemeinheit im Notdienst“. Ja, das ist doch keine sachgerechte Finanzierung! Das ist eine kleine Anerkennungsprämie. Wie bringen Sie das Geld dafür auf? Die 120 Millionen Euro sollen aufgebracht werden durch einen Zuschlag auf alle verschreibungspflichtigen Medikamente, die von der Apotheke abgegeben werden. Es stellen sich viele Fragen, warum man das so macht. Man kann allgemein sagen: Sie haben das gut gemeint. Aber das, was herausgekommen ist, ist Murks. ({6}) Das liegt sicherlich auch daran, dass Sie zuerst viel zu lange gewartet haben. Jetzt, im Wahlkampf, kurz vor Toresschluss, möchten Sie etwas vorweisen können. ({7}) Um die Fristen einhalten zu können, wird alles übers Knie gebrochen. Sie haben den Verbänden und dem Nationalen Normenkontrollrat für ihre Stellungnahmen ganze zwei Tage Zeit eingeräumt. Dass Sie sich selbst auf diese Weise der Möglichkeit eines unabhängigen Feedbacks berauben, ist Ihnen doch hoffentlich bewusst. Wir haben begründete Zweifel, dass der Deutsche Apothekerverband die richtige Instanz für das Management des Fonds ist. Außerdem muss ja mindestens eine neue Stelle im Bundesgesundheitsministerium geschaffen werden, um diese Arbeit zu überwachen. Auch der Normenkontrollrat kritisiert den von Ihnen gewählten Ansatz. Aufwand und Kosten sind zu hoch, und Sie ha29498 ben es versäumt, Alternativen, zum Beispiel ein steuerfinanziertes Zuschussmodell, zu prüfen. Der Apothekennotdienst ist die eine Sache. Die SPD fordert schon seit längerem - wir setzen uns auch weiterhin dafür ein -, dass auch andere Leistungen, die allein von öffentlichen Apotheken erbracht werden, besser vergütet werden müssen. Dabei geht es zum Beispiel um die Abgabe von Betäubungsmitteln und den Aufwand für die Zubereitung von Rezepturen. Das wird viel zu schlecht bezahlt. Auch hier muss es Veränderungen geben. Es muss also nicht nur der Notdienst, sondern es müssen auch viele andere Bereiche unter die Lupe genommen werden, wenn wir wollen - und das wollen wir -, dass auch in strukturschwachen Regionen der Bestand der Apotheken und der Apothekennotdienst gesichert sind. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir als Regierungskoalition legen heute zwei Gesetzentwürfe vor, die dringliche Probleme angehen und durch politische Steuerung die Lebenswirklichkeit der Menschen aufgreifen und entscheidend verbessern sollen. Im Rahmen dieser Debatte wurden schon sehr viele richtige Dinge angesprochen. Von herausragender Bedeutung bei der Befassung mit dem Ansatz der Prävention und diesem Präventionsgesetz ist die Vermeidung chronischer Erkrankungen und für mich persönlich das Thema Diabetes mellitus. Als selbst Betroffener, als Typ-2-Diabetiker, verfolge ich die Entwicklung der Zahl der an Diabetes Erkrankten und der Neuerkrankungen seit langem mit großer Sorge. Auch die Wissenschaft bestätigt Erschreckendes: Tendenz steigend, gerade auch bei jungen Menschen. In Deutschland leben circa 7,5 Millionen Menschen, die an Diabetes erkrankt sind, also circa 10 Prozent der Bevölkerung, davon 90 Prozent mit dem vermeidbaren Typ 2. Etwa 3 Millionen wissen noch nicht von ihrer Erkrankung. Jeder vierte Bewohner in Pflegeheimen hat Diabetes. Bis 2020 wird eine Verdoppelung der Anzahl erkrankter Kinder unter fünf Jahren mit Typ-1-Diabetes erwartet. Die Ursache bei dem häufigen Typ 2 sind familiäre Veranlagung, zu wenig Bewegung, Übergewicht. Auch Rauchen verdoppelt das Diabetesrisiko. Nicht nur dass die Menschen unter ihrer Erkrankung leiden, auch der Kostenfaktor für die sozialen Sicherungssysteme ist hoch. Allein im Jahre 2009 verursachten Diabeteserkrankungen Kosten von circa 48 Milliarden Euro. Jeden Tag gibt es rund 100 Neuerkrankungen in Deutschland. Meine Damen und Herren, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Auf Deutschland bewegt sich im Hinblick auf die gesundheitspolitischen Auswirkungen ein Tsunami zu. ({0}) Der übergeordnete Ansatz der Prävention gibt hier die Möglichkeit, gegenzusteuern. ({1}) Die Ursachen von Diabetes und anderen Erkrankungen sind ebenso wenig krankheitsspezifisch, wie ihre Vorbeugemaßnahmen es sein dürfen. Zu wenig Sport, Übergewicht, Rauchen und falsche Ernährung lösen genauso Herz-Kreislauf-Erkrankungen aus, wie sie Diabetes verursachen. Was tun wir konkret, um Präventionsansätze im Allgemeinen wie im Speziellen zu stärken? Wir nehmen eine zielgerichtete Ausgestaltung der Leistungen der Krankenkassen zur primären Prävention und Früherkennung sowie zum Aufbau gesundheitsfördernder Verhaltensweisen vor. Die Reduktion von Diabetes Typ 1 und 2 wird als konkretes Ziel ins Sozialgesetzbuch aufgenommen. Beim Bundesministerium für Gesundheit wird eine ständige Präventionskonferenz eingerichtet. Die Checkup-35-Untersuchungen werden auf bevölkerungsmedizinisch relevante Krankheiten umgestellt. Wir stärken die betrieblichen Leistungen zur Gesundheitsförderung. Insgesamt werden 35 Millionen Euro zusätzlich für die Versorgung der Versicherten zur Verfügung gestellt. Das kommt gerade jungen Menschen zugute. Wir sind hier sicher noch nicht am Ziel, aber schon auf einem sehr guten Weg. Erlauben Sie mir, als Abgeordneter eines ländlichen und eher schwach strukturierten Wahlkreises auf ein weiteres wichtiges Thema dieses Gesetzespaketes einzugehen. Das Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz halte ich für die Region, die ich vertrete, für ausgesprochen wichtig. ({2}) Ein Apotheker in Deutschland ist generell verpflichtet, Not- und Nachtdienste wahrzunehmen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten außerhalb normaler Geschäftszeiten zu gewährleisten. Wie viele Notund Nachtdienste ein Apotheker übernehmen muss, legt seine Kammer je nach Bedarf in den Verwaltungsgebieten fest. In meinem Wahlkreis im Westen MecklenburgVorpommerns ist die Zahl der Apotheken vergleichsweise gering. Hier sind deutlich weniger Menschen zu versorgen. So muss beispielsweise eine Apotheke in Hagenow und Wittenburg einmal pro Woche einen 24-Stunden-Notdienst anbieten, da es in diesem Verwaltungsgebiet nur sieben Apotheken gibt, die für den Notdienst zur Verfügung stehen. In anderen Bereichen MecklenburgVorpommerns muss gar alle fünf Tage ein 24-Stunden-Notdienst durchgeführt werden. Finanzieren kann die Apotheke diese Nachtdienste bisher nur aus den 2,50 Euro, die ein Kunde zusätzlich zum Abgabepreis zahlen muss, wenn er in der Zeit von 20 Uhr bis 6 Uhr ein Arzneimittel im Notdienst bezieht. Es dürfte jedem einleuchten, dass die Personal- und Betriebskosten über eine Gebühr von 2,50 Euro Nachtzuschlag wirtschaftlich nicht abbildbar sind. Die teilweise hohe Häufigkeit der Not- und Nachtdienste, die auch am Wochenende anfallen, ist außerdem eine enorme Belastung für Apotheker, Angestellte und deren Familien. Deshalb legt die christlich-liberale Regierungskoalition ein Gesetz vor, um die Apotheken in den ländlichen Regionen zu unterstützen. Die zusätzliche Vergütung von circa 120 Millionen Euro - nicht aus Steuermitteln, sondern über eine Fondslösung - hilft, die Standortnachteile der Apotheken im ländlichen Raum auszugleichen. Herr Dr. Lauterbach, um in Ihrem Bild zu bleiben: Lieber vorbeugen als sich gar nicht bewegen. - Das übergeordnete Ziel der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP ist, die flächendeckende, bedarfsgerechte und wohnortnahe medizinische Versorgung der Bevölkerung weiterhin sicherzustellen, auch in ländlichen Räumen. Diesem Ziel kommen wir heute ein Stück näher. Herr Dr. Lotter, auch meine Fraktion und ich wünschen Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Werdegang. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der angesprochenen Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/13080 und 17/13081 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Darüber gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 37: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Lambrecht, Burkhard Lischka, Ingo Egloff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirtschaftskriminalität effektiv bekämpfen - Drucksache 17/13087 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine 90-minütige Aussprache stattfinden. - Da ich dazu keinen Widerspruch höre, können wir offenkundig so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern als nicht ausreichend gesehen. Oftmals heißt es: Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen. - Ich glaube, es ist ein untragbarer Zustand, wenn wir so eine Wahrnehmung, so eine Einschätzung akzeptieren und nicht gegensteuern. Deswegen legen wir heute als SPD-Fraktion einen umfassenden Antrag zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität vor. ({0}) Warum entsteht der Eindruck: Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen? Ich will nur zwei Beispiele nennen: Auf der einen Seite ist da die Kassiererin, der gekündigt wurde, weil sie unberechtigterweise einen Pfandbon eingelöst hat; also klare Konsequenzen für dieses Vorgehen. Auf der anderen Seite hat uns der BGH ganz klar ins Stammbuch geschrieben, dass es in dem Fall, dass sich niedergelassene Ärzte Prämien für die Verschreibung bestimmter Medikamente zahlen lassen, eine Strafbarkeitslücke gibt. Seit diesem Urteil mussten wegen dieser Strafbarkeitslücke immerhin 3 400 Verfahren gegen solche Ärzte eingestellt werden. Das verstärkt den Eindruck: Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen. Meine Damen und Herren, wir müssen diesem Eindruck engagiert entgegentreten. Nicht nur Korruptions- und Schmiergeldaffären gehören zur Wirtschaftskriminalität, sondern auch die zahlreichen Lebensmittelskandale; ich erinnere nur an die Umetikettierung von Gammelfleisch und die Falschetikettierung von Pferdefleisch. All das läuft unter der Überschrift Wirtschaftskriminalität. Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik macht die Wirtschaftskriminalität zwar nur 2 Prozent der Kriminalität aus. Durch diese Kriminalität entsteht jedoch ein wirtschaftlicher Schaden von 4 Milliarden Euro. Dieser wirtschaftliche Schaden sollte Anlass genug sein, engagierter gegen Wirtschaftskriminalität vorzugehen. Schlimmer als der wirtschaftliche Schaden ist jedoch der Schaden beim Vertrauen in Wirtschaft, Justiz und Politik. Daher muss Wirtschaftskriminalität entschieden bekämpft werden. ({1}) Zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität haben wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgelegt. Diese Maßnahmen betreffen, weil wir einen ganzheitlichen Ansatz wählen, die unterschiedlichsten Bereiche: Rechtspolitik, Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik. Wir wollen überall da eingreifen, wo wir Lücken feststellen und wo wir Möglichkeiten sehen, als Gesetzgeber tätig zu werden. Zunächst einmal geht es um die Frage, wie wir überhaupt von solchen Skandalen wie dem Gammelfleischskandal erfahren. Davon erfahren wir doch nicht etwa, weil irgendeiner der Verantwortlichen sagt: „Oje, jetzt bekomme ich aber doch ein schlechtes Gewissen, weil ich den Verbrauchern so etwas zumute und damit auch noch einen Reibach machen möchte“, sondern wir erfahren von solchen Skandalen in der Regel, weil ganz mutige Mitarbeiter irgendwann sagen: „Jetzt reicht es mir aber; so etwas unterstütze ich nicht länger“, und dann damit an die Öffentlichkeit gehen. Durch einen sehr couragierten Lkw-Fahrer haben wir erfahren, dass Gammelfleisch umetikettiert wurde, wodurch es den Verbraucherinnen und Verbrauchern erspart wurde, immerhin 11,5 Tonnen solchen Fleisches zu verzehren. Das hat dieser Mann bewirkt, nicht etwa die Verantwortlichen. Jetzt müssen wir uns überlegen, was mit diesem Mitarbeiter passiert oder auch mit der Mitarbeiterin eines Pflegeheims, die sich über die unzumutbaren Zustände so geärgert hat, dass sie an die Öffentlichkeit gegangen ist, weil sie diese Zustände nicht mehr mittragen wollte. In der Regel erhalten sie dafür keine Zustimmung im Betrieb; denn der Arbeitgeber wird das nicht mit einem lauten Hurra begleiten. Eher erleben sie Mobbing und erhalten gegebenenfalls auch die Kündigung. Deswegen ist es an der Zeit und dringend notwendig, dass wir einen Schutz für die Personen regeln, die auf untragbare Zustände in Unternehmen hinweisen. ({2}) Die Bundesregierung hat lautstark angekündigt, bis Ende 2012 wolle man einen solchen Schutz auch gesetzlich verankern. Whistleblower sollen entsprechend geschützt werden. Was ist passiert? Bisher nichts! Dieses Untätigsein der Regierung und auch der Koalition hat dazu geführt, dass die Unternehmen mittlerweile selbst solche Regeln aufstellen. Wir konnten vor zwei Tagen lesen, dass ThyssenKrupp, ein Unternehmen, das durch Schmiergeldaffären sehr gebeutelt ist, an die eigenen Mitarbeiter appelliert, sich vertrauensvoll zu melden, wenn sie solche Vorgänge erkennen, und ihnen versichert, dass sie mit keinen Konsequenzen rechnen müssen. Es ist richtig, dass ThyssenKrupp so etwas macht, auch im eigenen Interesse, um sich dadurch vielleicht auch von den schwarzen Schafen distanzieren zu können; aber das ist der falsche Ansatz. Es kann nicht sein, dass Mitarbeiter nur in den Unternehmen geschützt sind, die ihre Mitarbeiter freiwillig zu solchen Hinweisen auffordern, während Mitarbeiter in anderen Unternehmen mit Konsequenzen zu rechnen haben. ({3}) Deswegen brauchen wir endlich eine gesetzliche Regelung dafür, dass Hinweisgeber nicht mit Konsequenzen zu rechnen haben. Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der ebenfalls in diesem Antrag enthalten ist. Es geht um die Frage, wie wir mit der öffentlichen Auftragsvergabe umgehen. Ganz oft erfahren wir nämlich auch hier von Skandalen. In irgendeiner Stadt XY wird zum Beispiel ein neues Hallenbad gebaut - wenn so etwas in Zeiten von knappen Kassen überhaupt noch möglich ist -, oder es werden sonstige Aufträge der öffentlichen Hand vergeben. Am Ende des Tages stellt sich dann heraus, dass die Unternehmen, an die Aufträge vergeben wurden, entweder korrupt sind oder schon als Steuerbetrüger oder auch dafür bekannt sind, dass sie Sozialabgaben nicht abgeführt haben. Diese Erkenntnisse liegen aber eben nicht der Kommune vor, die den Auftrag vergeben hat, sondern sie liegen irgendwo sonst vor. Deswegen brauchen wir ganz dringend ein Korruptionsregister, in dem all die Unternehmen, die für solche Vorgänge bereits bekannt sind, entsprechend aufgeführt werden. Das wird in vielen Bundesländern schon so gehandhabt, aber das nützt nichts, wenn sich zum Beispiel eine Stadt in Hessen erkundigen möchte, ob es in Bezug auf ein Unternehmen, das bundesweit tätig, aber eben nicht im örtlichen Register enthalten ist, entsprechende Erkenntnisse gibt. Deswegen brauchen wir für jede Kommune und jeden öffentlichen Auftraggeber endlich ein bundesweites Korruptionsregister, damit Klarheit herrscht, wie mit öffentlichen Geldern umgegangen wird - und zwar auch im Interesse des Steuerzahlers, der das Ganze hinterher ja zu verantworten hat, wenn etwas schiefgeht. ({4}) Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen. Es geht um eine Frage, die, wie ich finde, längst hätte beantwortet werden können. Uns liegt ein Urteil des Bundesgerichtshofs vor, in dem ganz klar geregelt ist, dass die Möglichkeiten der Korruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen in Bezug auf Ärzte, die in Krankenhäusern beschäftigt sind, nicht auf niedergelassene Ärztinnen und Ärzte anzuwenden sind. Durch diese Strafbarkeitslücke besteht hier ein massives Problem. § 299 StGB - Korruptionsstrafbarkeit - greift hier eben nicht. Es ist einfach unglaublich, dass es weiterhin möglich ist, dass niedergelassene Ärzte aufgrund von Prämien, die sie von den Pharmaunternehmen bekommen, nicht Medikamente verschreiben, die medizinisch indiziert sind, sondern Medikamente, die für sie lukrativ sind. Das ist zum einen ein unverantwortlicher Umgang mit den Patientinnen und Patienten. Ich verlasse mich doch als Patient darauf, dass mir der Arzt das Medikament verschreibt, das für mich am besten ist, und nicht das, das ihm die höchste Prämie einbringt. Zum anderen aber wird dadurch auch Schindluder mit den Krankenkassen getrieben, denn auch da gilt natürlich die Ansage, dass das Geld für das medizinisch sinnvollste und nicht das für den Arzt lukrativste Medikament ausgegeben werden soll. Wir brauchen also ganz dringend die Schließung dieser Strafbarkeitslücke. Es kann nicht länger angehen, dass Verfahren eingestellt werden müssen, weil es hier keine Möglichkeit der Strafverfolgung gibt. Das ist untragbar. ({5}) Wir haben viele Vorschläge in unserem Antrag schon eingebracht. Sie haben, wie so oft, in dem einen oder anderen Bereich, zu den Whistleblowern, zur Schließung der Strafbarkeitslücke, Ankündigungen gemacht; aber bis heute ist nichts passiert. Jetzt hätten Sie die Möglichkeit, die klare Ansage zu machen: Wir legen hier die Hände nicht in den Schoß, sondern bekämpfen Wirtschaftskriminalität ganz konsequent - darin sind wir uns einig -, damit sich der Eindruck „Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen“ nicht weiter verfestigt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ansgar Heveling. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und nun? Diese Frage habe nicht nur ich mir gestellt, als mir am Dienstag die 23 Seiten des SPD-Antrags auf den Tisch flatterten. Offen gestanden sind wir auch nach dem Beitrag von Kollegin Lambrecht bei der Beantwortung dieser Frage nicht wesentlich weiter gekommen. ({0}) Handelt es sich bei dem Antrag um einen Beitrag zum heraufziehenden Wahlkampf oder um eine Fleißarbeit? ({1}) Ohne Frage sind viele Punkte, die in dem Antrag zusammengetragen worden sind, im Einzelnen sogar durchaus bedenkenswert. ({2}) Aber so ganz im Klaren darüber, wohin die Reise gehen soll, ist sich die SPD wohl selbst nicht; ({3}) denn man liest durchaus Widersprüchliches. So zitiert der vorliegende Antrag der SPD eine Studie, laut der jedes zweite Unternehmen von mindestens einem Schadensfall in Sachen Wirtschaftskriminalität betroffen sei. Das erweckt zunächst den Eindruck, als wolle man etwas für den Schutz von Unternehmen tun. ({4}) Dann aber lenkt die SPD den Fokus auf große Unternehmen und versucht, dort einseitig den Schwarzen Peter zu sehen. Mit dem Hinweis auf den Satz: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“, der in dem Beitrag ständig wiederholt wurde, ({5}) wird reflexartig tief in die Populismuskiste gegriffen. Was also will die SPD? ({6}) Ich denke, wir sollten das Thema differenzierter sehen. Auch Unternehmen selbst können Opfer von Wirtschaftskriminalität werden, auch große Unternehmen. Hier sollte man niemanden unter Generalverdacht stellen. Natürlich muss Justitia blind sein in dem Sinne, dass nicht zwischen groß und klein, bedeutend und unbedeutend oder kompliziert und einfach unterschieden wird. Damit sich die SPD nicht selbst entscheiden muss, wohin es gehen soll, fordert sie kraftvoll von anderen die Vorlage eines schlüssigen Konzepts. ({7}) Das spricht vielleicht dafür, dass sie ihren Antrag nicht als solches ansieht. Gerade deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen und zu fragen: Brauchen wir wirklich ein weiteres Konzept, oder sind wir nicht schon viel weiter und handlungsfähiger, als es uns die SPD an dieser Stelle weismachen will? Ich will mit einem generellen Punkt beginnen. Bei einem Großteil der in dem Antrag formulierten Punkte - Steuerstraftaten, Geldwäsche, Sicherstellung und Einziehung sowie Cybercrime seien stichwortartig genannt wird gefordert, sich stärker für europäische Lösungen einzusetzen oder europäische Regelungen im Strafrecht stärker als bisher in deutsches Recht zu übernehmen. Generell verwundert das zunächst ein wenig; denn im Unterausschuss „Europarecht“ sitzen wir jeden Freitagmorgen zusammen und beraten vor allem über solche EU-Richtlinien besonders intensiv, die die Harmonisierung des europäischen Strafrechts zum Gegenstand haben. Es wird dort in fraktionsübergreifender Einmütigkeit jeder Schritt einer strafrechtlichen Harmonisierung kritisch auf Herz und Nieren und seine Notwendigkeit insbesondere im Hinblick auf die Subsidiarität geprüft. Alle Fraktionen vertreten dabei die Auffassung, dass die strafrechtliche Harmonisierung, die im sogenannten Stockholm-Programm der EU niedergelegt ist, äußerst sensibel und sehr zurückhaltend zu handhaben ist; denn das Strafrecht ist und bleibt der Kernbereich staatlicher Souveränität. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hat uns hier eine Reihe von Grenzlinien gesetzt. Das heißt nicht, dass die Zusammenarbeit nicht ausgeweitet werden kann; in vielen Fällen geschieht das auch. Aber es ist zu einfach, in einem Antrag an verschiedenen Stellen immer nur „Europa, Europa“ zu rufen, vor allem wenn gleichzeitig im Einzelnen die zurückhaltende Positionierung gegenüber einer strafrechtlichen Harmonisierung durchaus von allen geteilt wird, so wie es im Unterausschuss „Europarecht“ geschieht. Ein weiterer Punkt, der ebenfalls angesprochen werden muss, ist die Frage: Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht? Das ist ein Evergreen in der politischen Diskussion. ({8}) Ein Beitrag in der Zeitschrift für Rechtspolitik brachte es kürzlich auf den Punkt: Nicht zuletzt wegen der ausgerufenen diversen Finanz- und Wirtschaftskrisen ist es derzeit politisch populär, Sanktionen gegen die mächtigen Banken oder auch Unternehmen bzw. deren Entscheidungsträger zu fordern. Außen vor bleibt dann aber die Frage, ob man mit einem reinen Unternehmensstrafrecht wirklich etwas erreichen kann. Immer wieder sehen sich Unternehmen mit strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert. Deswegen aber gleich die Einführung eines Unternehmensstrafrechts in Deutschland zu fordern, geht möglicherweise zu weit. Nur weil es gerade politisch attraktiv erscheint, hat es noch nicht eine sachliche Berechtigung; denn das geltende Recht lässt bereits eine hinreichende Bestrafung von Entscheidungsträgern zu, denen Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Durch das Strafrecht werden Auflagen, Geldstrafen oder gar Freiheitsstrafen gegen diese Personen verhängt. Das hängt damit zusammen, dass wir ein Schuldstrafrecht haben, das an das persönliche Fehlverhalten anknüpft. Wenn wir ein Unternehmensstrafrecht einführen wollten, müssten wir die gesamte Dogmatik unseres Strafrechtssystems auf den Kopf stellen bzw. stark überarbeiten. Schauen wir uns einmal Länder an, die ein Unternehmensstrafrecht haben, wie Frankreich und Großbritannien. Es zeigt sich, dass die Verfolgung von Unternehmensstraftaten dort mit einem viel größeren Aufwand verbunden ist, als es bei der persönlichen Inhaftungnahme der Fall ist. Bisher ist nicht der Nachweis erbracht worden, dass damit tatsächlich das Problem effektiver und besser bekämpft werden kann. ({9}) Im Antrag werden Punkte aufgeführt, die sich auf den ersten Blick gut lesen lassen, bei denen sich aber entweder die Frage stellt, was daran neu oder noch nicht ausdiskutiert ist, oder bei denen festgestellt werden muss, dass es schon längst angepackt wird. Thema „Sicherstellung und Einziehung“. Der Vorschlag für eine Richtlinie über die Sicherstellung und Einziehung von Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union wurde bereits im April 2012 im Bundestag sowie anschließend im Bundesrat beraten. Es gibt also auf europäischer Ebene Bestrebungen, diese Frage EUeinheitlich zu regeln. Das Verfahren läuft aber noch auf europäischer Ebene. Sobald es abgeschlossen ist, werden wir selbstverständlich die Richtlinie in nationales Recht umsetzen. Fazit: Es läuft. Thema „Reverse Charge im Steuerstrafrecht“. Die Möglichkeiten des Reverse-Charge-Verfahrens wollen wir innerhalb des Steuerstrafrechts ausdehnen, weil es als effizientes Instrumentarium angesehen wird. Deutschland hat sich in der Vergangenheit an vorderster Front dafür starkgemacht. Es war die Große Koalition, die dort sehr aktiv gewesen ist; darauf wird im Antrag hingewiesen, und das soll auch nicht kleingeredet werden. Wir waren alle zusammen vorneweg. Aber wir sind in Europa an Grenzen gestoßen und müssen nun zusammen mit den Partnern schauen, wie wir in diesem Verfahren weiterkommen. Derzeit befindet sich ein Vorschlag der Kommission, im Zuge eines Quick Reaction Mechanism Reverse-Charge-Verfahren vorzusehen, im europäischen Gesetzgebungsprozess. Also auch hier wird etwas getan. Fazit: Es läuft. Thema „Geldwäsche“. Bereits Ende 2011 haben wir das Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention beschlossen. Damit haben wir die dritte EU-Richtlinie zur Geldwäsche umgesetzt. Es ist also erkennbar, dass auch auf europäischer Ebene die Geldwäsche einheitlich besser bekämpft werden soll. Fazit: Es läuft; wir haben es umgesetzt. Alle diese Punkte zeigen: Es tut sich etwas. Es bedarf dieses Antrages überhaupt nicht. ({10}) Wir haben ein Konzept. Es wird engagiert gegen die Wirtschaftskriminalität vorgegangen. ({11}) Wir als christlich-liberale Koalition nehmen uns der Probleme an. Den Antrag der SPD benötigen wir dazu nicht. Wir werden ihn ablehnen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke erteile ich jetzt dem Kollegen Richard Pitterle das Wort. ({0})

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Ich frage mich: Warum steigt sie weiterhin so stark an? ({0}) Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Korruption, Geldwäsche, Internetkriminalität, Wirtschafts- und Industriespionage sind an der Tagesordnung. Das Geld für Schulen, Straßen und Brücken fehlt. Unsere Infrastruktur wird immer maroder; denn die Kommunen und Bundesländer sind klamm. Allein durch die Steuerhinterziehung verliert Deutschland jährlich Steuereinnahmen in Höhe von ungefähr 100 Milliarden Euro. Gravierend ist auch die Internetkriminalität: Viren- und Spionageprogramme, Computerhacking und Phishing, also das Stehlen von Passwörtern. Jede und jeder kann ein Opfer werden. Allein die Wirtschaftskriminalität - ohne BeRichard Pitterle rücksichtigung der Steuerausfälle - verursacht Schäden bis zu 50 Milliarden Euro jährlich. Wie ist das möglich? Zum einen liegt dies an den technischen Möglichkeiten. Stichworte sind hier die Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere das Internet, und die Globalisierung, die wirtschaftliche Aktivitäten von überall her erlaubt. Zum anderen gibt es auch hausgemachte Ursachen, die die Bundesregierung bekämpfen könnte, wenn sie denn wollte. Es fehlt jedoch am entsprechenden politischen Willen. Ich nenne als Beispiel nur den Personalabbau in den Behörden und Unternehmen. Die Stammbelegschaften werden ausgedünnt, Leiharbeiter eingesetzt, Werkverträge abgeschlossen. Sparen ist die Devise. Da darf man sich nicht wundern, dass die Sicherheit in Unternehmen und Behörden abnimmt. Darauf ist die Bundesregierung auch noch stolz; Hauptsache, die Schuldenbremse ist eingehalten. Wir sagen: Das ist der falsche Weg. ({1}) Wie sieht es mit den Steuereinnahmen aus? Es fehlen schlicht Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer und Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder. Dadurch ist die Steuerhinterziehung vorprogrammiert. Steuererklärungen insbesondere von reichen Selbstständigen und Unternehmen können nicht ausreichend geprüft werden. Und, Herr Brüderle, wer hat das gemacht? Das haben FDP und CDU/CSU gemacht. ({2}) - Herr van Essen, ich weiß, dass Sie nicht Herr Brüderle sind. Jetzt kommt die Krönung. Statt die Behörden personell und finanziell so auszustatten, dass sie effektiv arbeiten können, verlassen sich einige Bundesländer auf Deals mit Kriminellen. Das geht sogar so weit, dass den Datendieben Aufträge erteilt werden, welche Daten aus Schweizer Banken gestohlen werden sollen. Der Zweck heiligt aber nicht die Mittel. Wohin das führt, sehen wir bei den Geheimdiensten, Stichwort „NSU“. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Linke warnt davor. Einige Bundesländer hingegen handeln inzwischen richtig. Sie schaffen neue Stellen für Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder und für Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer. Die von der Union regierten Bundesländer wollen dagegen die Stellenzahlen auf dem niedrigen Niveau halten. Finanzminister Markus Söder von der CSU musste sich im letzten Monat vom Bayerischen Obersten Rechnungshof vorhalten lassen, dass jede fünfte Stelle bei den Betriebsprüfern unbesetzt ist. ({3}) Söder möchte, dass sich die Unternehmen nicht zu oft durch Steuerforderungen gestört fühlen. ({4}) Wir sind der Meinung, dass Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Zoll anders organisiert und ausgerichtet werden müssen, wenn sie die Wirtschaftskriminalität effektiv bekämpfen sollen. Wir brauchen dringend eine Bundesfinanzpolizei; das fordert die Linke, das fordert auch die Gewerkschaft der Polizei. ({5}) Diese Bundesfinanzpolizei soll zielgerichtet und effektiv organisierte Geldwäsche, Außenwirtschaftskriminalität, Subventionsbetrug, organisierten Schmuggel - zum Beispiel von Waffen, geschützten Tieren oder Pflanzen - und Verstöße beim Verbraucherschutz - zum Beispiel hinsichtlich kontaminierter Lebensmittel - bekämpfen. ({6}) Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD geht in die richtige Richtung. Die meisten Positionen kann die Linke im Grunde - ich betone: im Grunde - unterstützen. Unterschiede sehen wir in einigen Details, zum Beispiel bei der Ausweitung des Strafrechts und der Verfolgungskompetenzen, der Umkehr der Beweislast bei Vermögenswerten von Beschuldigten und Verurteilten. Wir sind entschieden gegen den Einsatz von Geheimdiensten. ({7}) Trotzdem werden wir dem Antrag zustimmen, weil er die richtigen Themen aufgreift. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Jörg van Essen. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich mir diesen Antrag der SPD-Fraktion angesehen habe, habe ich mich gefragt: Was soll er eigentlich? ({0}) - Frau Lambrecht, Sie sagen: „Wirtschaftskriminalität bekämpfen“. - Ich erwarte aber von einer großen Fraktion im Deutschen Bundestag, dass man Klartext redet und keinen Gesinnungsaufsatz schreibt. ({1}) Da soll betrachtet werden. Da soll geprüft werden. Da soll nachgedacht werden. Nein, das ist einfach zu wenig. Von einer großen Fraktion im Deutschen Bundestag erwartet man klare Vorstellungen. ({2}) Genau das ist in Ihrem Antrag nicht enthalten. Das ist die erste Feststellung, die ich treffen möchte. Meine zweite Feststellung: Es wundert mich überhaupt nicht, dass der Vertreter der Linken gerade deutlich gemacht hat, dass er Ihren Überlegungen weitgehend zustimmt. Es ist nämlich genau der Sinn dieses Antrages, die SPD links zu positionieren: ({3}) Wirtschaft ist nichts, was unser Land voranbringt. Wirtschaft vollzieht sich in einem Sumpf von Kriminalität. Dabei haben Sie sich selbst verraten, Frau Kollegin Lambrecht. ({4}) Sie haben den Anteil der Wirtschaftskriminalität mit 2 Prozent beziffert. Richtig ist nicht einmal das; denn im Jahre 2010 lag dieser Anteil bei 1,7 Prozent, so schreiben Sie es jedenfalls selbst in Ihrem Antrag. ({5}) Im Jahre 2011 ist er aber zurückgegangen, Herr Kollege Pitterle. ({6}) Sie haben von steigender Wirtschaftskriminalität gesprochen. Tatsächlich ist dieser Anteil auf 1,3 Prozent zurückgegangen. ({7}) Das macht deutlich, dass das Bild, das hier gezeichnet wird - die Wirtschaft ist von Kriminalität geprägt -, völlig falsch ist. ({8}) Was mich als jemanden, der lange Angehöriger der Staatsanwaltschaft war, auch sehr gewundert hat, ist, dass Sie den Fortschritt, den wir in der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität erzielt haben - die Stärkung der Wirtschaftsabteilungen der Staatsanwaltschaften, aber auch die Stärkung der entsprechenden Spezialkammern der Landgerichte - überhaupt nicht erwähnen. Viele der Verfahren, die wir erlebt haben, wären vor 10, 15 oder 20 Jahren noch nicht möglich gewesen, weil sich die Staatsanwaltschaft mangels Sachwissen daran nicht herangetraut hätte. Ich bin froh, dass sich das geändert hat, dass jetzt auch Vorstandsvorsitzende, Vorstandsmitglieder großer Firmen damit rechnen können, wegen Wirtschaftskriminalität verfolgt zu werden. ({9}) Aber eigentlich wundert es mich nicht, dass Sie diesen Fortschritt nur zurückhaltend ansprechen; denn zur Motivation der dort eingesetzten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten gehört auch eine angemessene Bezahlung. Es ist typisch, dass gerade in Nordrhein-Westfalen die Ergebnisse der Lohnrunde im öffentlichen Dienst auf diese Personen eben nicht übertragen werden. ({10}) Wenn man engagierte Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, engagierte Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten will, dann müssen sie auch entsprechend entlohnt werden. Es ist auffällig, dass ausschließlich in rot-grün regierten Ländern eine solche Übertragung auf den höheren Dienst nicht stattfindet. ({11}) Deshalb wundert es mich überhaupt nicht, dass Sie davon so wenig reden. ({12}) Die Wirtschaft funktioniert in unserem Land. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat für vier gute Jahre in Deutschland gesorgt. ({13}) Dazu gehört auch, dass die Bundesjustizministerin für vier gute Jahre in der Rechtspolitik in Deutschland gesorgt hat. ({14}) Deshalb sind viele der Dinge, die Sie angesprochen haben, auf einem guten Weg. ({15}) Zur Frage der Korruption im Gesundheitswesen beispielsweise - Frau Lambrecht hat sie angesprochen finden im Augenblick Berichterstattergespräche statt. ({16}) Das geht also voran, und ich bin froh, dass es so ist. ({17}) Ich sage ein ganz klares Nein, und zwar auch als langjähriger Angehöriger der Staatsanwaltschaft, zu der Datenhehlerei, die wir im Zusammenhang mit der Schweiz pflegen. Das kann nicht sein. Strafverfolgung kann nur rechtmäßig erfolgen. ({18}) Es ist einfach auch die Ehre eines Staatsanwalts, dass sie nur rechtmäßig erfolgen kann. ({19}) - Nein, das tut sie nicht, Herr Kollege. - Das, was wir dort machen, ist aus meiner Sicht eine klare Datenhehlerei, ({20}) und deshalb wird es von uns keine Zustimmung dazu geben. ({21}) Der rechtmäßige Weg ist der, den wir vorgeschlagen haben, nämlich beispielsweise ein Abkommen mit der Schweiz. ({22}) Wir hätten schon Milliardenbeträge in unseren Haushalten, wenn das von SPD und Grünen im Vermittlungsausschuss nicht verhindert worden wäre. ({23}) Damit bin ich bei einem zweiten Thema im Zusammenhang mit dem Vermittlungsausschuss. Einer der Punkte, die Sie angesprochen haben, ist die Erhöhung der Geldbuße bei Verstößen von Unternehmen. In der GWBNovelle, die wir im Vermittlungsausschuss hatten, ist eine Erhöhung von 1 Million Euro auf 10 Millionen Euro vorgesehen. Das hätten wir haben können. Gestern sind die Verhandlungen über die GWB-Novelle in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses an Rot-Grün und niemandem sonst gescheitert. Es ärgert mich, wenn Sie uns hier vorwerfen, dass bestimmte Dinge nicht kommen, Sie selbst aber dafür sorgen, dass die entsprechende Novellierung, die die gute Bundesregierung vorgeschlagen hat, nicht stattfindet. ({24}) Von daher erwarte ich von Ihnen nicht einen Besinnungsaufsatz, sondern eine klare Ansage, was Sie wollen, was Sie nicht wollen, wie Sie es ausgestalten wollen. Darüber kann man reden. Aber über einen solchen Besinnungsaufsatz, wie wir ihn vorgelegt bekommen haben, werden wir - das Gefühl habe ich - nicht zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen, obwohl die eine oder andere Anregung sicherlich einer vertieften Betrachtung wert wäre. Vielen Dank. ({25})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der Kollege Jerzy Montag.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaftskriminalität ist im Kern Bereicherungskriminalität rund um die Erzeugung und Verteilung von Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen. Sie ist meist verflochten mit Firmen, mit Unternehmen, mit anderen juristischen Personen, und sie umfasst auch alle Formen der organisierten Steuerhinterziehung. Für die Wirtschaftskriminalität ist bezeichnend: Einige wenige Täter schädigen viele Opfer und verursachen hohe Schäden. - So steht es jedenfalls im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung. Man kann es auch anders sagen: Auf nicht mehr als circa 1,4 Prozent aller registrierten Straftaten entfällt mehr als die Hälfte des materiellen Gesamtschadens durch diese Straftaten. ({0}) Dabei sind diese 4 bis 5 Milliarden Euro an jährlichem Schaden sicherlich nur die Spitze des Eisbergs, weil das Dunkelfeld im Bereich der Wirtschaftskriminalität weit überdurchschnittlich groß ist. Aber nicht nur wegen des hohen materiellen Schadens, sondern auch wegen der mit der Wirtschaftskriminalität einhergehenden Entsolidarisierung der Gesellschaft und der Zersetzung demokratischer Werte und Strukturen sind wir Grüne jedenfalls überzeugt, dass Wirtschaftskriminalität sowohl in ihren personalen wie auch in ihren unternehmerischen Strukturen konsequent bekämpft werden muss. ({1}) Dabei spielt das Strafrecht eine wichtige Rolle, wenn es auch nicht das einzige staatliche Mittel ist, um Korruption zu bekämpfen. Meine Fraktion hat hierzu vielfältige Vorschläge gemacht, konkrete Gesetzentwürfe vorgelegt; meine Kollegin Hönlinger wird auf einige noch eingehen. Die Fleißarbeit der Kolleginnen und Kollegen der SPD, die eine Zusammenfassung vieler sinnvoller und nötiger Maßnahmen vorgelegt haben, begrüßen wir ausdrücklich. Ob es aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sinn macht, diese schwarz-gelbe Bundesregierung aufzufordern, gegen Wirtschaftskriminalität jetzt, kurz vor der Wahl, vorzugehen, ({2}) bezweifele ich. Wir sollten dies nach dem 22. September zu unserer Aufgabe machen. ({3}) Die vielen positiven Maßnahmen zu würdigen, dafür fehlt mir die Zeit. Dass mir jedenfalls einige Punkte kritisch erscheinen, will ich aber nicht verschweigen. Dazu gehören zum Beispiel die Beweislastumkehr ({4}) bei der strafrechtlichen Sicherstellung von Vermögenswerten, deren strafbare Herkunft unbekannt bleibt, eine weitere Aufblähung des Geldwäscheparagrafen - schon jetzt mit zehn Absätzen und 701 Wörtern ein Ungetüm im Strafgesetzbuch -, die Streichung der rechtsstaatlich wohl gebotenen Straflosigkeit der Selbstbegünstigung, besonders aber - das hat mich wirklich gewundert - das neue Betätigungsfeld für den Bundesnachrichtendienst und die Verfassungsschutzämter im Bereich der sogenannten Konkurrentenausspähung und der Verletzung von wirtschaftlichen Geheimnissen. Dieser letzte Punkt - so jedenfalls die Auffassung der Grünen - verbietet sich geradezu, bevor die Geheimdienste nicht einer Ge29506 neralreform an Haupt und Gliedern unterzogen worden sind. ({5}) Einen wirklich zentralen Ansatz im Antrag der SPD will ich näher beleuchten: die Einführung eines Unternehmensstrafrechts. Sollen juristische Personen, Unternehmen, vertreten durch ihre Organe, also letztlich vertreten durch natürliche Personen, verteidigt von Wahloder Pflichtverteidigern, vor Strafgerichten angeklagt werden können? Wir sagen: Wer schon bei dieser Frage abblockt, wie wir das vonseiten der CDU/CSU gehört haben, und sich hinter dem Schuldprinzip verbarrikadiert, der verkennt die Brisanz dieser Debatte, der verkennt die Entwicklungen in der Europäischen Union und der verkennt die Notwendigkeit, sich bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität neuen Gedanken und neuen Instrumenten zu öffnen. Wir Grünen sagen ganz klar: Wir wollen ein Unternehmensstrafrecht, das über das heutige Ordnungswidrigkeitenrecht hinausgeht. ({6}) Uns ist bewusst, dass letztlich immer nur Menschen handeln können. Deshalb wird ein Unternehmensstrafrecht kein Schuldrecht im klassischen Sinne, sondern immer ein Recht der strafrechtlich relevanten Zurechnung des Handelns oder Unterlassens von Menschen zur jeweiligen juristischen Person sein können. Selbstverständlich können Unternehmen auch nicht zu Haftstrafen verurteilt werden; aber im Unternehmensstrafrecht ist viel mehr denkbar als nur die Verhängung von Geldstrafen. Auch Betätigungsverbote, zeitlich befristet und sektoriert, sind denkbar. ({7}) Überwachung bestimmter Tätigkeitsfelder und besondere Berichtspflichten dazu sind möglich. Wiedergutmachung und ein Täter-Opfer-Ausgleich gehören auch zum Ahndungskasten von Strafgerichten im Unternehmensstrafrecht. Wir werden über den Zaun des deutschen Rechts schauen und sorgfältig studieren müssen, zu welchen Mitteln viele andere Rechtsstaaten greifen, bei denen ein Unternehmensstrafrecht längst eingeführt ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU arbeitet längst an Modellen eines supranationalen Unternehmensstrafrechts. Die Abwehrreflexe in Deutschland vonseiten der schwarz-gelben Koalition sind längst auf dem Radarschirm der Europäischen Kommission. Deshalb sind wir gut beraten, uns dieses Themas in der nächsten Legislaturperiode beherzt anzunehmen. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Heider das Wort. ({0})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal muss man auch eine anerkennende Anmerkung an dieser Stelle machen: Sie haben mit Ihrem Antrag eine lange Sammlung denkbarer Änderungen im Strafgesetzbuch und in vielen Nebengesetzen vorgelegt. Darin sind durchaus detaillierte Befunde zu Delikten im Sektor der geschäftsmäßigen Tätigkeit von Unternehmen, die eine kriminelle Energie aufweisen, zu finden. Spätestens bei einem Satz in Ihrer Einleitung bin ich allerdings skeptisch geworden. Ich zitiere: Vom Staat nicht effektiv verfolgte oder sogar geduldete Wirtschaftskriminalität verletzt das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen. Hätten Sie nicht eigentlich von Handlungen oder einem vorwerfbaren Verhalten sprechen müssen? Taten, die unsere Rechtsordnung mit Strafe bedrohen, knüpfen an Handlungen an. Deshalb wird auch bei Wirtschaftsstraftaten das strafrechtlich vorwerfbare Verhalten einer natürlichen Person angeklagt. Ermittlungen richten sich zuvor an das verantwortliche Handeln von Vertretern oder Personen in einem Unternehmen. In dem gerade zitierten Satz wird einmal eben so der Eindruck erweckt, der Staat schaut zur Seite, Tausende von Polizisten, Staatsanwälten und Richtern schauen tatenlos zu, wenn wirtschaftskriminelle Machenschaften auffällig werden, und Bürgerinnen und Bürger werden dadurch ungerecht behandelt. Das ist nicht in Ordnung. ({0}) Zur Sache: Der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ ist ein Auffangbecken vieler Straftaten, die wirtschaftliche Bezüge aufweisen. Wir sprechen von Formen des Diebstahls, des Betrugs, der Untreue, der Korruption, der Wirtschaftsspionage und der Verletzung geistigen Eigentums. Findet ein Teil dieser Taten im World Wide Web statt, spricht man auch von Cybercrime. Wirtschaftskriminalität als Ganzes verursacht hohe materielle Schäden. Nach einer Studie der KPMG aus dem letzten Jahr reichte die Bezifferung des Schadens aus wirtschaftskriminellen Handlungen im Jahr 2011 von 4 Milliarden Euro bis hin zu 20 Milliarden Euro. Jedes vierte deutsche Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten war in den vergangen zwei Jahren Opfer von Wirtschaftskriminalität. Jeder dieser Fälle hat durchschnittlich einen Schaden von 30 000 Euro verursacht. Dabei stammt die Hälfte der Täter aus den Unternehmen selbst. Diese Differenzierung vermisse ich in Ihrem Antrag. Es gibt zwei große Gruppen von Wirtschaftskriminellen. Es gibt zum einen Wirtschaftskriminalität, die zum Nachteil des Staates, seiner Bürger, wenn Sie so wollen, begangen wird. Auf der anderen Seite wird die Masse an Straftaten zum Nachteil von Unternehmen und Personen begangen. Wichtigstes Mittel jedenfalls in Bezug auf Unternehmen ist die Vermeidung von Wirtschaftskriminalität, die Prävention. Auf seinen 23 Seiten enthält Ihr Antrag leider nur sehr wenig über Prävention, aber viel mehr über Abschreckung und die Erweiterung von Straftatbeständen, über ein Gesetz für Whistleblower. Aktionismus in Sachen Cybercrime und Wirtschaftsspionage steht im Vordergrund. So verwundert es nicht wirkDr. Matthias Heider lich, dass in diesem Antrag in Robin-Hood-Manier unzählige Forderungen zusammengekommen sind, die durchgängig eine soziale Ungerechtigkeit suggerieren und dem Staat als solchem vorwirft, Wirtschaftskriminalität zu dulden. Es wäre schön gewesen, wenn in den Antrag nicht einfach alles geschrieben worden wäre, was einem vor einem Wahlkampf einfällt, weil dadurch der Eindruck entsteht, dass Unternehmer, Managerinnen und Manager, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die lediglich eine Ordnungswidrigkeit begangen haben, in Bausch und Bogen mit Kriminellen und Steuerhinterziehern in einen Topf geworfen werden. Auch das ist nicht in Ordnung. ({1}) Im Kern der Debatte sind wir uns bei einer Reihe von Fragen einig. Wirtschaftskriminalität muss bekämpft werden. Es gibt eine Reihe von diskussionswürdigen Ansätzen in Ihrem Antrag, die wir schon an anderer Stelle besprochen haben, zum Beispiel im Wirtschaftsausschuss das Korruptionsregister. Leider schafft es der Antrag nicht, an vielen Stellen der Versuchung zu widerstehen, unter dem Deckmantel der Ernsthaftigkeit eines sehr wichtigen Themas Wahlkampf zu betreiben. Ich könnte beispielsweise eingehen auf die Solidaritätsadresse an Ihren Kanzlerkandidaten auf der Seite 16. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, auf den fatalen Irrglauben einzugehen, dass der Ankauf illegal erworbener Steuerdaten ({2}) ein angemessenes finanz- und strafpolitisches Instrument zur Verfolgung von Steueransprüchen sei. ({3}) Dass Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, kein Problem damit haben, zeigt das jüngste Beispiel des Ankaufs von Steuer-CDs durch das Land Rheinland-Pfalz. Eines möchte ich an dieser Stelle einmal deutlich machen: ({4}) Das Bundesverfassungsgericht geht, anders als Sie in Ihrem Antrag suggerieren, in seinem Beschluss zur Verwertung illegal erworbener Steuerdaten ({5}) nicht auf die Frage ein, ob illegal erworbene Daten einem Beweisverwertungsverbot im Strafverfahren unterliegen. Das Gericht macht lediglich deutlich, dass sich der Anfangsverdacht für eine Wohnungsdurchsuchung auf diese Daten stützen darf. Das ist der entscheidende Unterschied. Im Übrigen lässt es offen, inwieweit sich die Amtsträger bei der Beschaffung der Daten nach innerstaatlichem Recht strafbar gemacht haben. Das ist ein dezidierter Unterschied. ({6}) Warum Sie auf der einen Seite rechtliche Grauzonen präferieren ({7}) und davon profitieren wollen, auf der anderen Seite aber einen völkerrechtlich sauberen Vertrag ablehnen und ihn im Bundesrat blockieren, das ist mir schleierhaft. ({8}) Ich sage Ihnen im Anschluss an das, was der Kollege van Essen schon gesagt hat: Die Hehlerei mit gestohlenen Steuerdaten ist ein mühsamer Weg, um Steuersündern auf die Spur zu kommen. ({9}) Abschließend vielleicht noch ein Satz zum Gesundheitswesen; auch diesen Bereich hatten Sie angesprochen. Es ist unumstritten, dass sich die überwältigende Mehrheit der Ärzte und der Leistungserbringer in Deutschland korrekt verhält. ({10}) Genauso klar ist, dass wir bei einem Fehlverhalten tätig werden müssen. Der richtige Ansatz ist aber nicht, eine Berufsgruppe mit Straftatbeständen zu diskreditieren; der richtige Weg ist, dass wir uns an den einzelnen Stellen der Sonderstrafnormen Gedanken machen müssen, wie wir das dolose Verhalten mit einer Reaktion belegen. ({11}) Richtig ist, dass eine Weiterentwicklung auch in der ärztlichen Selbstverwaltung möglich ist. Aber ob es dazu das Instrument des Strafrechts braucht, das ist die Frage. Es gibt einige wenige positive Anregungen in Ihrem Antrag, die wir durchaus aufnehmen und in der Diskussion sowohl im Wirtschaftsausschuss als auch im Rechtsausschuss weiter behandeln sollten. Ich bin der Auffassung, dass einige Beratungen sicherlich erforderlich sein werden. Aber beanspruchen Sie bitte nicht mit dem unterschwelligen Wahlkampfgetöse, das Sie mit Ihrem Antrag verbreiten, die Aufmerksamkeit für die Veränderung strafrechtlicher Normen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Lothar Binding das Wort. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr van Essen erwartet klare Vorstellungen. Das ist immer ein schöner Satz. Den will ich ein bisschen genauer reflektieren; denn bezogen auf das von Ihnen erwähnte Abkommen bzw. den Ankauf der Steuer-CDs haben wir von der FDP und der CDU oft gehört, es sei verfassungswidrig, die CDs anzukaufen. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht nach meinem Verständnis erklärt, dass der Ankauf verfassungsgemäß ist. Das wurde eben ein bisschen bestritten. Allerdings stütze ich meine Interpretation auf Aussagen im Finanzausschuss. Dort haben sich der Kollege Koschyk und, soweit ich mich erinnere, auch der Minister Schäuble darauf berufen und den Ankauf der CDs begrüßt, mit den notwendigen Konsequenzen. ({0}) Jetzt wissen wir: Nach dieser Interpretation ist der Ankauf verfassungsgemäß. Nun sagt die FDP-Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger plötzlich: Dann verbieten wir es halt. - Nun ist die Frage, ob das der richtige Reflex auf diesen Vorgang ist, ob das eine klare Position ist ({1}) und ob das zu kraftvollem Handeln führt. Ich wiederhole: Ein Minister erklärt unter Berufung auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts den Ankauf für verfassungsgemäß, während sich die Ministerin für ein Verbot ausspricht. Wenn Sie das eine klare Handlungsoption nennen, dann ist mir unklar, was Sie unter „klar“ verstehen. ({2}) Sie haben noch einen beliebten, ich möchte sagen: Trick angewandt, um ganz bestimmte Überlegungen zu diskreditieren. Sie haben nämlich gesagt, dass wir mit unserem Antrag der Wirtschaft allgemein unterstellten, sie sei von Kriminalität geprägt. Genau das ist aber nicht der Fall. Herr Heider hat das auf die Arbeitnehmer erweitert, als ob wir allen Arbeitnehmern und Unternehmern unterstellen würden, sie seien kriminell. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Erinnern Sie sich einmal, was unter der rot-grünen Koalition hier im Saal für ein Theater war, wenn man das Bankgeheimnis auch nur angesprochen hat. Was war da hier los! Das Bankgeheimnis war ein Heiligtum. Ähnliches gilt für das Wort „Steuerbetrug“: Wenn wir uns um Steuerbetrug kümmerten, hieß es plötzlich, in unseren Augen seien doch alle Steuerbetrüger; die ganze Wirtschaft, alle seien böse. - Nein, das Gegenteil ist der Fall: Wenn wir von Steuergestaltung, von Geldwäsche, von Schlupflöchern, vom Bankgeheimnis, von Steuerbetrug reden, dann wollen wir immer die Betrüger und die Kriminellen fangen, und zwar zum Schutz der Ehrlichen und der Fairen. Dann wird ein Schuh daraus. ({3}) Sie haben noch einmal das Abkommen mit der Schweiz erwähnt. Wir erwähnen es jeden Tag ungefähr dreimal. Das will ich jetzt auch machen. Sie haben recht: Bezogen auf die Vergangenheit geht durch die Ablehnung des Abkommens mit der Schweiz Geld verloren, und zwar aufgrund der Verjährung. ({4}) Das stimmt; das ist völlig klar. Wer wollte das bestreiten? Aber für die Zukunft hätte das Abkommen eine Anonymisierung für alle Zeit bedeutet. Sie hätten überhaupt niemanden mehr erwischt. Sie wollen auch keine SteuerCDs kaufen. Auf wen wollen Sie sich dann überhaupt verlassen, wenn es keinen automatischen Informationsaustausch gibt? Wie hätten Sie denn bei vollständiger Anonymität jemals zu Steuereinnahmen kommen wollen? Jetzt werden Sie natürlich sagen: Wenn ich unterstelle, da seien Leute anonym, dann unterstelle ich allen Menschen, dass sie anonym bleiben wollen. - Nein, ich unterstelle nur denjenigen, die anonym bleiben wollen, sie seien anonym. Da stimmt es auch. Gegen sie wollen wir vorgehen. Das ist eine sehr zielgenaue Überlegung. ({5}) Es war zu der Zeit besonders schlimm, mit der Schweiz über ein Abkommen zu verhandeln. Denn Sie sind damit im Grunde den USA in den Rücken gefallen, die ein besseres Abkommen ausgehandelt haben, das nicht auf bilateralen Überlegungen beruhte, nämlich das FATCA-Abkommen, den Foreign Account Tax Compliance Act. Wir sind froh, dass inzwischen auch die Schweiz eine neue Stufe der Erkenntnis erlangt hat und jetzt selber sagt: Der Weg der bilateralen Abkommen war ein Irrweg. - Die Schweiz verlässt diesen Pfad. Insofern konterkariert jetzt sogar die Schweizer Regierung das Anliegen Ihres Abkommens, das Sie hier immer noch rückwärtsgewandt verteidigen. ({6}) Ich will darauf hinweisen, wie nah einem manchmal Probleme kommen können. Ich kann überhaupt nicht abschätzen, welche rechtliche Bedeutung das hat. Mich interessiert natürlich schon, wie die Koalition bestimmte Vorgänge reflektiert, zum Beispiel, wenn ein Mitglied des Finanzausschusses einen Praktikanten hat, über den dann in der Zeitung steht, er heiße Bushido und habe Kontakte zur Mafia, es gehe um Fragen rund um Korruption und Geldwäsche. So nah können einem die Probleme kommen. Da meine ich auch nicht alle und jeden, sondern nur die, die unmittelbar davon betroffen sind. Gemäß der neuerlichen Rhetorik will die Regierung Steueroasen aktiv bekämpfen. Jetzt ist es aber so: Wenn Sie die Offshore-Leak-Daten wirklich auswerten wollten, dann müssten Sie eigentlich in der G-8-Runde und im Zusammenhang mit der EU-Geldwäscherichtlinie Lothar Binding ({7}) viel aktiver ein verpflichtendes Onlineregister der Briefkastenfirmen fordern. Davon haben wir aber noch nicht gehört. Es wäre aber wichtig. Dazu gibt es gute Vorschläge vom Tax Justice Network. Es wäre eine gute Sache. Sie reden auch davon, dass Steueroasen ausgetrocknet werden müssen, übersehen aber ganz, dass möglicherweise auch Deutschland in diesem Kontext eine Rolle spielt. Denn wollten wir ausschließen, dass in den weltweiten Netzwerken von Geheimhaltung und Intransparenz nicht auch Deutschland eine große Rolle spielt? Sie wissen, dass die Steuerfreiheit vieler Finanzanlagen internationaler Anleger in Deutschland in Kombination mit den fehlenden Berichtspflichten der Banken gegenüber den Finanzämtern ein großes Problem darstellt, wenn es darum geht, illegale Vorgänge aufzudecken. Wir können sicher nicht garantieren, dass von den von der Weltbank geschätzten 1,6 Billionen US-Dollar Schwarzgeld nicht ein großer Teil in Deutschland zu finden ist. Ich glaube, wir sollten den Blick darauf lenken. Wenn Sie sich überlegen, wie spät wir erst die Gaddafi-Konten gesperrt haben, dann wissen Sie: Man muss über solche Dinge nachdenken. Wenn man auf die anderen zeigt, ist es immer gut, bei sich selbst nachzuschauen. Denn diejenigen, über die wir reden, sind so gut vernetzt, dass auch Deutschland fast automatisch eine unrühmliche Rolle spielt. Wir brauchen also ein Onlineregister für Briefkastenfirmen. Wir sind uns alle einig, dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, in welcher Form das gestaltet werden soll. Wir müssen uns überlegen, wie wir einen ernsthaften Informationsaustausch innerhalb der OECD gewährleisten können; denn nicht nur die ehrlichen Konzerne, sondern speziell auch die Gauner sind international organisiert. Ihnen können wir mit nationaler Gesetzgebung natürlich nicht beikommen. Wenn wir dieses Thema behandeln, dann stoßen wir immer auf einen weiteren Argumentationspfad. Das betrifft die Internationalisierung, die Globalisierung und Europa. Wann immer wir einen Vorschlag machen, der ernsthafte Konsequenzen nach sich zu ziehen droht und der möglicherweise den Gaunern sehr nahe kommt, dann wird hier argumentiert: Das geht nur, wenn man eine Lösung auf internationaler Ebene hat, das geht nur global, das geht nur in Europa. - Ich glaube, dass damit eine bestimmte Entscheidungsschwäche kaschiert werden soll. Wenn wir wissen, was wir wollen, wenn wir wissen, was für die Welt gut ist, dann können wir, denke ich, in Deutschland damit anfangen. Das wäre ein wichtiger erster Schritt. Wir sind in vielen Fällen beispielgebend, und so könnten wir dafür sorgen, dass unser gutes Modell auch international fortgesetzt wird. Aber auf diesem guten Pfad sind Sie noch nicht. Ich finde, Sie könnten in Ihren Entscheidungen etwas mutiger sein, um auch auf internationaler Ebene etwas durchzusetzen. Das wirft auch ein Schlaglicht auf die Schwäche unserer Außenpolitik; denn das, worüber ich spreche, muss außenpolitisch vorbereitet werden. Können Sie mir sagen, wer in dieser Regierung außenpolitisch vorbereitet, was man finanzpolitisch erreichen will? Ich kann da nichts erkennen. Das wäre aber ein ganz wichtiger Pfeiler für die internationale Finanzpolitik. ({8}) Lassen Sie mich ein, zwei Beispiele nennen, die belegen, wie schwer Sie sich tun. Trotz langer Diskussion haben wir immer noch die Cash-GmbH, obwohl wir - das ganze Haus - derartige erbschaftsteuerliche Gestaltungen vermeiden wollen. Trotzdem haben Sie das Verfahren erst einmal verzögert, dann zusammengefaltet. Jetzt kommt es zu einem weiteren Gesetzgebungsverfahren. Hier liegt die Schwierigkeit, die Sie haben. Ich will noch einen Schritt weitergehen: Sie haben die RETT-Blocker-Strukturen in Ihrem neuen Gesetzgebungsverfahren noch gar nicht aufgegriffen. Sie merken: Sie helfen denjenigen, die Steuergestaltung betreiben wollen, immer wieder bei ihren Problemen. Helfen Sie doch lieber demjenigen, der seine Steuern ehrlich und fair bezahlt. Für Gauner muss das Gegenteil gelten. ({9}) Wer solche Steuergestaltungen im eigenen Land erkennt, der muss eilig und entschieden handeln. Auch die CDU hat das eigentlich erkannt. In einem Flugblatt schreibt sie: „Die CDU handelt, die SPD redet nur“. Darüber steht etwas ganz Interessantes, nämlich: „Strafen für Steuersünder“. Wie harmlos das doch klingt. Steuerhinterziehung ist aber keine Sünde. Ein Kollege sagte zu mir: Wenn eine Partei das C im Namen führt, dann müsste sie eigentlich wissen, dass das eine Straftat ist. ({10}) Da besteht schon ein Unterschied. Man sollte sich gut überlegen, was man schreibt. Jetzt steht hier: „Rot-Grün hat seine Regierungszeit nicht für eigene Initiativen genutzt“. Das kann sein. Es ist natürlich zehn Jahre her, dass Rot-Grün regiert hat, und man muss sagen: Das war eine andere Zeit und immer begleitet von dem, was ich vorhin sagte, dass nämlich Sie gegen eine Verbesserung der Kriminalitätsbekämpfung waren. ({11}) - Wir haben eine Mehrheit im Bundesrat gehabt? Wenn Sie das einmal prüfen, merken Sie, dass Ihre Aussage falsch ist. Außerdem schreiben Sie: Die Braunschweiger Erklärung ist reiner Populismus. Dabei ist es umgekehrt. Ich glaube, Sie haben Angst vor Peer Steinbrück, weil er nämlich anpackt. Er redet nicht nur Klartext, sondern Sie müssen auch damit rechnen, dass er tut, was er sagt. ({12}) Deshalb reagieren Sie so empfindlich auf seine Vorschläge. Ich freue mich sehr darauf, ihn eines Tages in einer Regierung zu sehen, was möglicherweise schon bald eintreten wird. Alles Gute. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort der Kollege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verbraucher und der ehrbare Kaufmann müssen vor schwarzen Schafen geschützt werden. Das ist hier Konsens. Wir als schwarz-gelbe Regierung tun auch etwas. Erst gestern haben wir hier im Hause ein breites Maßnahmenbündel gegen unseriöse Geschäftspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen des Rechts beschlossen. ({0}) Aber zum Schutz der Verbraucher und des ehrbaren Kaufmanns vor schwarzen Schafen gehört natürlich auch das Strafrecht. Der Kollege Montag hat den Antrag der SPD vorhin mit dem etwas zweifelhaften Titel einer „Fleißarbeit“ geadelt. Fakt ist, dass die Fleißarbeit insbesondere im Abschreiben bestand, weil fast alle diese Maßnahmen seit der Justizministerkonferenz vom 9. November 2011 bekannt sind. Dort ist dieses Maßnahmenbündel nicht beschlossen worden, weil es eine ganze Reihe sachlicher Bedenken dagegen gab. Sie wissen, der Deutsche Anwaltverein hat dieses Paket gerügt, weil es den Eindruck erweckt, dass man allein mit der Androhung höherer Strafen zu einer besseren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität kommt. Fakt ist - alle Kriminologen bestätigen uns das -: Nicht der Strafrahmen ist das Entscheidende, sondern die Aufklärungsquote. ({1}) Die Aufklärungsquote - das hat das Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität der JuMiKo bestätigt - ist im Bereich der Wirtschaftskriminalität besser als in den übrigen Kriminalitätsbereichen. Das heißt, das Bild, das versucht wird zu zeichnen, man täte hier nichts, man könne Wirtschaftskriminalität betreiben, ohne sich Sorgen vor Strafverfolgung zu machen, ist falsch. Das Ganze ist allein dem Umstand geschuldet - das hat der Kollege van Essen hier schon herausgearbeitet -, dass kurz vor Ende der Legislaturperiode versucht wird, Stimmung zu machen, und zwar gegen die Fakten. ({2}) Die absolute Krönung dieses Unterfangens findet sich in dem einzigen originellen Teil des SPD-Antrags, dem Vorwort. Dort hat sie nicht abgeschrieben, aber da wird tatsächlich die These aufgestellt - Sie müssen das einmal lesen -, am Unterrichtsausfall in Deutschland sei die fehlende, wenig konsequente Verfolgung von Wirtschaftskriminalität schuld. Meine Damen und Herren, schuld am Unterrichtsausfall ist, dass die rot-grüne Regierung in Rheinland-Pfalz 2 000 Lehrerstellen gestrichen hat, dass in Schleswig-Holstein 3 700 Lehrerstellen gestrichen wurden, dass in Baden-Württemberg 12 000 Lehrerstellen gestrichen wurden und in Nordrhein-Westfalen 25 Millionen Euro aus dem Etat für die Vertretungslehrer gestrichen wurden. Das ist der Grund, warum wir Unterrichtsausfall haben. Sie zeichnen hier ein Zerrbild. ({3}) Jetzt möchte ich zu dem Maßnahmenbündel kommen. Es gibt viele Punkte, über die zu diskutieren sich lohnen würde. Viele Bedenken, die der Kollege Jerzy Montag hier vorgetragen hat, teile ich, insbesondere hinsichtlich des Einsatzes der Geheimdienste. In einem Punkt bin ich aber ganz anderer Meinung, Herr Montag. Das möchte ich hier beleuchten. Es geht um das Unternehmensstrafrecht. Hier wird der Eindruck erweckt, wir hätten in Deutschland keine Sanktionsmöglichkeiten gegen das Unternehmen, die juristische Person, den Verband. Das ist aber schlichtweg falsch. Wir nennen das in Deutschland zwar nicht Strafrecht - wir haben das Ordnungswidrigkeitenrecht -, aber mit den §§ 30 und 130 des Ordnungswidrigkeitengesetzes stehen uns scharfe Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Ihrem Wesen nach unterscheiden sie sich gar nicht von dem, was andere Rechtsordnungen machen. In der Schweiz, die in diesem Zusammenhang immer genannt wird, steht die Rechtsfolge in der Tat im Strafgesetzbuch - deswegen sagt man immer, sie hätte ein Unternehmensstrafrecht -, tatsächlich ist die Rechtsfolge dort aber eine Geldbuße. Das ist das Gleiche wie in Deutschland. Wir haben sogar schärfere Mechanismen: Die Schweizer beispielsweise betreiben die Abschöpfung des aus dem kriminellen Tun Erlangten nur bis zu einer Obergrenze von 5 Millionen Franken. In Deutschland können wir unbegrenzt abschöpfen. Es ist schlichtweg falsch, wenn behauptet wird, wir hätten in Deutschland keine Sanktionen oder nur schwächere Sanktionen als in anderen Rechtsordnungen. Das muss man bitte schön einmal zur Kenntnis nehmen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Buschmann, das löst eine Frage des Kollegen Montag aus.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, dass ich diese Frage schon vorweggenommen habe und in meinen weiteren Ausführungen noch beantworten werde.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Also lassen Sie die Frage nicht zu?

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das war damit konkludent zum Ausdruck gebracht. ({0}) Herr Kollege Montag, jetzt könnten Sie ja sagen, wir brauchten noch andere Arten von Sanktionen, wir brauchten zum Beispiel die Unternehmensliquidation wie in den USA. Es gibt Leute, die das die „Todesstrafe für Unternehmen“ nennen und sie auch für Deutschland fordern. Was hat das denn mit dem Gedanken die Großen lässt man laufen, und die Kleinen hängt man zu tun? Das ist das Gegenteil davon. Die Liquidation als Rechtsfolge im Unternehmensstrafrecht führt doch zu Folgendem: Vorstände und mittleres Management sind korrupt, verstoßen gegen das Recht, am Ende wird das Unternehmen aufgelöst, und die Arbeitnehmer stehen auf der Straße. Das kann doch keine vernünftige Rechtsfolge sein. Das ist doch gerade der Inbegriff dessen, gegen das die SPD vorzugehen vorgibt, nämlich dass die Kleinen am Ende unter dem leiden, was oben möglicherweise falsch gemacht worden ist. Auch deshalb haben wir hier keinen Anpassungsbedarf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat Herr Montag wieder den Wunsch, eine Frage zu stellen.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, okay.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Zeit wird angehalten.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Kollege Buschmann. - Sie haben geglaubt, meine Frage zu antizipieren, deswegen habe ich Ihnen weiter gelauscht und darauf gewartet, was daraus werden würde, aber Sie haben danebengegriffen. Weil Sie danebengegriffen haben, erlaube ich mir, Ihnen jetzt meine Frage zu stellen. Niemand bezweifelt, dass wir in Deutschland ein Ordnungswidrigkeitenrecht haben. Niemand bezweifelt, dass mit den §§ 30 und 130 Ordnungswidrigkeitengesetz natürlich auch Möglichkeiten bestehen, Geldbußen gegen Unternehmen zu verhängen. Ich selber habe in meiner Rede von einer Ausweitung des Rechts der Ordnungswidrigkeiten gesprochen. Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, hier auch Ausführungen dazu zu machen und zu bestätigen, dass es, obwohl das Ordnungswidrigkeitenrecht im weiteren Sinne bei uns unter das Dach des Strafrechts fällt, doch eklatante Unterschiede gibt. Ein Unterschied - dieser ist ganz wichtig - ist: Im Ordnungswidrigkeitenrecht gibt es den Legalitätsgrundsatz nicht, sondern nur den Opportunitätsgrundsatz. Es ist ein riesiger Unterschied, ob es lediglich opportun ist, gegen ein Unternehmen vorzugehen, oder ob die Verfolgungsorgane verpflichtet sind, es zu tun. Beim Ordnungswidrigkeitenrecht werden das Erkenntnisverfahren und die Ahndung von einer Behörde durchgeführt, und nur auf Einspruch oder Widerspruch entscheidet dann ein Gericht, während wir beim Strafrecht ein unabhängiges Gericht haben, das über eine Ahndung entscheidet. Es gibt also entscheidende strukturelle Unterschiede zwischen dem Ordnungswidrigkeitenrecht und dem Strafrecht. Deswegen ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, unser materielles Unternehmensstrafrecht auszuweiten.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Montag, ich bedanke mich für diese Zwischenfrage, weil sie mir die notwendige Zeit einräumt, meinen letzten Punkt noch zu erläutern, warum es sinnvoll ist, zwischen Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht zu unterscheiden. Sie haben vorhin etwas flapsig gesagt, wir würden uns hinter dem Schuldprinzip verschanzen. ({0}) Das Schuldprinzip ist - anders als es zum Beispiel die Kollegen der SPD auf Seite 13 ihres Antrags beschreiben - nicht nur ein strafrechtsdogmatischer Lehrsatz. ({1}) - Ja, das schreiben die tatsächlich. ({2}) Sie sagen, das sei von der Verfassung nicht gedeckt. - In Wahrheit ist der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ seit dem 20. Band der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Teil des Rechtsstaatsprinzips, Ausfluss des Gedankens der materiellen Gerechtigkeit. Wenn dieser Grundsatz nicht eingehalten wird, dann ist der betroffene Bürger in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 verletzt. ({3}) So geht der Antragsteller hier mit Grundrechtssubstanz um. Deshalb ist das, Herr Montag, nicht etwas, hinter dem wir uns verschanzen. Es handelt sich um einen strukturellen Unterschied: Im Strafrecht geht es um personale Schuld und im Ordnungswidrigkeitenrecht um Strukturen, die sozusagen auch einen Unwertgehalt, einen Unrechtsgehalt produzieren. Dass wir auf diese Strukturen mit eigenen Behörden, mit eigenen Instrumenten reagieren, ist nicht Willkür und auch kein Versuch, hier irgendjemanden oder irgendwelche Strukturen zu decken, sondern direkt Ausfluss unseres Verfassungsrechts, und dies sollten wir achten und wahren. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt konnten wir bei einer anspruchsvollen strafrechtsjuristischen Seminardiskussion anwesend sein. Für einen schlichten Ökonomen war das spannend. Vielen Dank. ({0}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Der nächste Redner ist der Kollege Raju Sharma von der Fraktion Die Linke. ({1})

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine Sorge, ich werde Sie hier nicht überfordern. - Im SPDAntrag wird ein schwerwiegendes Problem angesprochen. Durch Finanz- und Wirtschaftskriminalität entstehen für die Wirtschaft und den Staat jährlich finanzielle Schäden in Milliardenhöhe. Je nach Erfassungskriterien und Berechnungsgrundlagen sprechen manche von 4 Milliarden Euro, andere von 50 Milliarden Euro. Leidtragende sind nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger. Wirtschaftskriminalität und Korruption verhindern Einnahmen für die öffentlichen Haushalte und schaden somit direkt unserer sozialen Infrastruktur. ({0}) Die traurige Konsequenz ist, dass im sozialen Bereich oder auch bei Kultur- und Bildungsangeboten gekürzt wird. Deshalb ist es gut, dass dieses Thema heute aufgeworfen wird, und es ist gut, dass dieser Antrag vorliegt. Da müssen wir tatsächlich etwas machen. ({1}) Nun hat die SPD den Bogen möglicher Maßnahmen zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität weit gespannt: von Verbesserungen im Strafrecht und Maßnahmen zur Erhöhung der Verfahrenseffizienz bis hin zu Strategien zur Bekämpfung von Cybercrime oder Wirtschaftsspionage. Wir begrüßen es, dass die SPD hier Initiative zeigt. Dem Kernproblem im Zusammenhang mit der Erhellung des Dunkelfelds wird man mit diesem Antrag und seinen Maßnahmen jedoch nicht beikommen können. Meine Vorredner haben schon viel gesagt. Deshalb will ich mich hier nur auf drei konkrete Aspekte beschränken: Erstens. Was Whistleblower betrifft, sind wir uns mit der SPD anscheinend einig. Die Linke hat dazu bereits im Jahr 2011 einen Antrag in den Bundestag eingebracht. In diesem Antrag ging es vor allem darum, die Whistleblower vom Ruch des Denunziantentums zu befreien. Denn wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter illegale Praktiken ihrer Unternehmen bemerken und den Mut haben, diese aufzudecken, dann verdient das Anerkennung und Respekt. ({2}) Niemand, kein Staat und kein privater Unternehmer, hat das Recht, Loyalität einzufordern, wenn er sich selbst strafbar macht und sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. ({3}) Es ist schön, dass sich die SPD in ihrem Antrag dazu bekennt. Allerdings stellt sich dann auch die Frage: Warum konnten Sie unserem Antrag damals nicht zustimmen? So sieht das tatsächlich wie ein billiges Wahlkampfmanöver aus. ({4}) Sei es drum; das ist jetzt vergossene Milch. Aber ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Die Linke wird Sie bis zum 22. September dieses Jahres und darüber hinaus an Ihren jetzt vorliegenden Antrag erinnern und auch daran messen. ({5}) Zweitens. Wir unterstützen ausdrücklich die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Finanzbehörden. Ich habe in meiner Zeit beim Landesrechnungshof in SchleswigHolstein im Rahmen einer Querschnittsprüfung die unterschiedliche Praxis der Behörden untersucht. Das Ergebnis war eindeutig: Überall dort, wo sich Polizei, Staatsanwaltschaften und Finanzbehörden intensiv abgestimmt haben, sich über Ermittlungsstrategien verständigt haben und am besten sogar in denselben Räumlichkeiten zusammengearbeitet haben, wurden bessere Ergebnisse bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität erzielt. Einige Länder haben diese Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt. Deswegen ist es richtig, dass die SPD dies in ihrem Antrag als vorbildlich darstellt. ({6}) Dieselben Überlegungen gelten aber nicht nur für die Landesebene; sie gelten auch für die Bundesebene. Auch hier brauchen wir ressortübergreifende Konzepte zur Vorbeugung, Ermittlung und Strafverfolgung im Hinblick auf Wirtschaftskriminalität. Wir haben in der Vergangenheit oft genug erleben müssen, dass die aktuellen Instrumente zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität beim BKA, bei der Bundespolizei und beim Zoll der Entwicklung und den jetzigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind. Genau das ist der Grund, warum die Linke die Schaffung einer Bundesfinanzpolizei vorgeschlagen hat. Ich fordere Sie alle auf: Gehen Sie diesen Weg mit uns gemeinsam, und unterstützen Sie unseren Antrag! ({7}) Drittens. Eine engere Zusammenarbeit der Behörden ist nicht alles. Wenn wir wirklich Waffengleichheit mit den Wirtschaftskriminellen herstellen wollen, dann müssen wir Polizei, Staatsanwaltschaft und Finanzbehörden nicht nur organisatorisch, sondern auch personell und technisch besser ausstatten. Jeder Euro, den Sie hier investieren, ist gut angelegt und zahlt sich mehrfach wieder aus. ({8}) Dazu gehört auch ein Umdenken. Es gibt Landesfürsten, die beispielsweise eine schlechte Ausstattung der Steuerfahndung als Standortvorteil ansehen. In Hessen eskalierte das bis hin zu dem bekannten Fall der Ausschaltung einer hochkompetenten Steuerfahndungsgruppe unter fadenscheinigen Vorwänden. Ich bin sicher, in den Hochhäusern der Banken wird man sich damals vor Lachen die Bäuche gehalten haben. Ich wünschte mir, in den Reihen der Union würde man Wirtschaftskriminelle eher ins Visier nehmen als harmlose Kiffer, Sprayer oder Schwarzfahrer. Auch da ist ein Umdenken nötig. ({9}) Zu guter Letzt noch ein Wort in eigener Sache. Wenn wir hier im Bundestag über Korruptionsbekämpfung diskutieren, müssen wir auch vor unserer eigenen Haustür kehren. Noch immer ist die Abgeordnetenbestechung in Deutschland nicht strafbar, und noch immer kann deshalb die UN-Konvention gegen Korruption in Deutschland nicht ratifiziert werden. Ich weiß, dass Sie von der Koalition davon nichts mehr hören wollen; aber Sie müssen damit leben, bis Sie endlich Ihre Blockadehaltung aufgeben. Bis dahin wird die Linke Ihnen das bei jeder passenden Gelegenheit immer wieder aufs Butterbrot schmieren. ({10}) Nachdem Sie die Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen - wir hatten drei davon - abgelehnt haben, liegt nun ein gemeinsamer Gesetzentwurf von Abgeordneten von CDU, SPD, Grünen und Linken vor. ({11}) Es ist ein Gesetzentwurf, der einen Kompromiss darstellt und der von unabhängigen Organisationen wie Transparency International unterstützt wird. Ich bitte Sie alle, auch Sie von der FDP und der CDU/CSU: Geben Sie sich endlich einen Ruck! Es ist erbärmlich, dass wir in Deutschland immer noch darüber reden, ob wir die Abgeordnetenbestechung unter Strafe stellen. Es wird höchste Zeit, dass wir darüber reden, wie wir sie unter Strafe stellen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Ingrid Hönlinger das Wort.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Jahren hat der Korruptionsskandal bei Siemens das Unternehmen nachhaltig erschüttert. Andere Unternehmen, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind: MAN, Ferrostaal, Daimler, Infineon, EADS, Thyssenkrupp und Rheinmetall. Das beschreibt die FAZ unter dem prägnanten Titel „Bestechende Großunternehmen“. Korruption ist fast immer ein Element von Wirtschaftskriminalität. Korruption begünstigt sie. Korruption kostet den deutschen Staat und den deutschen Steuerzahler Geld, sehr viel Geld. Wissenschaftliche Schätzungen gehen von einem Schaden von 250 Milliarden Euro jährlich aus. Noch viel schlimmer ist, dass Korruption das Vertrauen der Bevölkerung in Wirtschaft und Staat infrage stellt. Das zeigt: Hier besteht großer Handlungsbedarf. Wirtschaftskriminalität ist kein Kavaliersdelikt. ({0}) Ich möchte Ihnen heute drei Punkte nennen, die aus meiner Sicht zentral sind. Immer wieder gibt es einzelne Menschen, mutige Insider, die ihr Wissen nach außen tragen und Korruptionsskandale aufdecken. Diese Menschen müssen wir ermutigen, rechtswidriges Handeln anzuzeigen. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, das es diesen Mitarbeitern ermöglicht, Fehler offen anzusprechen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie nicht den Makel des Verpfeifens oder des Petzens tragen. Diese Menschen verdienen den Respekt unseres Staates und der Gesellschaft. ({1}) Wir müssen eine sichere rechtliche Grundlage für den Schutz von Whistleblowern schaffen. Wir müssen sie vor Mobbing und Kündigung schützen. Das zeigt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall von Brigitte Heinisch sehr deutlich. Wir Grüne haben in dieser Wahlperiode ebenso wie die beiden anderen Oppositionsfraktionen Initiativen zum Schutz von Whistleblowern in den Bundestag eingebracht. Nun stehen wir am Ende dieser Legislaturperiode, und diese Bundesregierung bleibt weiter untätig. Die Bundesregierung hält sich auch nicht an ihre eigenen politischen Zusagen. Bereits im Herbst 2010 haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, in dem Antikorruptions-Aktionsplan der G-20Staaten vollmundig erklärt, Sie würden bis Ende 2012 Regeln zum Whistleblower-Schutz erlassen und umsetzen. Was haben Sie bisher getan? - Nichts. Damit werden Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, unglaubwürdig - national und auch international gegenüber unseren Partnerländern. ({2}) Wir können noch ein weiteres Instrument schaffen, um Wirtschaftskriminalität effektiv zu bekämpfen. Lassen Sie uns endlich über die Einführung eines bundesweiten Korruptionsregisters nachdenken. Hintergrund ist folgender: Länder und Gemeinden vergeben jährlich Aufträge im Wert von mehreren Hundert Milliarden Euro an private Unternehmen. Sie müssen auf ein bundesweites Register zugreifen können, um festzustellen, ob ein Unternehmen, das sich um einen Auftrag bewirbt, bereits in Korruptionsfälle verwickelt war oder nicht. Die Bundesländer haben damit auf Landesebene gute Erfahrungen gemacht. Diese Korruptionsregister schaden auch nicht den Unternehmen. Ganz im Gegenteil! Sie helfen den Unternehmen, weil sie nämlich die integeren Unternehmen vor den schwarzen Schafen schützen, und sie ermöglichen fairen Wettbewerb. Mit Korruptionsregistern tragen wir dazu bei, dass die ehrlichen Unternehmen einen Vorteil haben und bei einer öffentlichen Auftragsvergabe nicht die Verlierer sind. Es wird höchste Zeit, dass wir hier im Bund endlich einheitliche Regeln treffen. ({3}) Es gibt noch ein drittes Thema, auf das ich zum Schluss eingehen möchte - Kollege Sharma hat es bereits genannt -, nämlich das Thema „UN-Konvention gegen Korruption“. Es gibt auf dieser Welt 165 Staaten, die diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert haben. Sogar Myanmar und Swasiland gehören zu diesen 165 Staaten. ({4}) Führende Vertreter aus der Wirtschaft, liebe FDP, fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln, weil hier die Glaubwürdigkeit Deutschlands international auf dem Spiel steht. Die Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir weiter auf einer Stufe stehen mit Ländern wie dem Sudan, Somalia, Tschad, Syrien oder Nordkorea. ({5}) Sie reklamieren nach außen Wirtschaftskompetenz für sich, Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-gelben Koalition; doch bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität gibt es bei Ihnen noch erhebliche Defizite. Wir Grünen haben hier die besseren Konzepte: Wir fordern den Schutz von Whistleblowern, wir fordern die Einführung eines bundesweiten Korruptionsregisters, und wir fordern eine Ausweitung der strafrechtlichen Regelung für den Tatbestand der Abgeordnetenbestechung, ({6}) damit wir die UN-Konvention gegen Korruption endlich ratifizieren können. Erst eine rot-grüne Koalition wird die Kraft haben, sich eindeutig gegen Korruption zu positionieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Antrag der SPD ist eine ganze Reihe von gesetzlichen Änderungen und neuen Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen, die wir in dieser Legislaturperiode mit Sicherheit nicht mehr durchdiskutieren können, geschweige denn, dass wir zu einer weitergehenden Beratung dieses Antrags kommen können. Da entsteht schon ein bisschen der Eindruck, dass es hier weniger um die Sache und mehr um Wahlkampf geht. Mich wundert auch, dass von der SPD so wenige Vertreter hier sind. Es sind, wenn ich richtig zählen kann, nur drei Personen anwesend. Das ist zu wenig für die Diskussion eines Antrags, der von der SPD gestellt worden ist. ({0}) - Entschuldigung, ich nehme das zurück: Es sind vier Kolleginnen und Kollegen der SPD anwesend. Ich kann nur bis drei zählen. ({1}) Aber lassen Sie mich etwas zur Sache sagen: Sie machen Vorschläge zur Vermögensabschöpfung. Ich halte die Vermögensabschöpfung in der Tat für ein exzellentes Instrument. Wir kennen die Vermögensabschöpfung aus der Diskussion über die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Auch zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, zum Beispiel von Geldwäsche, ist die Vermögensabschöpfung ein exzellentes Mittel. Dieses Mittel ist jedoch nur wirksam, wenn es länderübergreifend gehandhabt wird. Nicht nur in der organisierten Kriminalität, auch in der Wirtschaftskriminalität sind die Akteure länderübergreifend tätig. Deswegen wird dieses Thema auch auf der europäischen Ebene diskutiert. Es scheint sich eine Einigung abzuzeichnen. Deswegen bin ich der Meinung, dass wir dieses Thema hier nicht gesondert diskutieren sollten, sondern erst einmal diese Einigung abwarten sollten. Eventuell kommt eine Richtlinie heraus, die wir dann umsetzen werden. Warten wir so lange! Es werden der Schutz von Whistleblowern und die Einrichtung eines bundesweiten Korruptionsregisters gefordert. Diese Diskussionen haben wir hier doch schon geführt, sie sind doch längst abgeschlossen. ({2}) Darüber ist hier schon abgestimmt worden, und der entsprechende Gesetzentwurf ist, wie Herr van Essen eben richtig dazwischengerufen hat, krachend durchgefallen. Warum sollen wir denn neu über alte Vorschläge debattieren? Lassen wir das! Dennoch will ich durchaus zugeben, dass hier Ansätze sind, über die nachzudenken und zu diskutieren sich lohnt. Eine zentrale Forderung oder überhaupt der Kern des Antrages - so habe ich ihn jedenfalls verstanden - dreht sich darum, ob man zusätzlich zum Ordnungswidrigkeitenrecht nun ein Unternehmensstrafrecht einführt. Das würde bedeuten, dass man also nicht nur im Verwaltungsrecht entsprechende Vorschriften vorsieht, sondern auch im Strafrecht. Das hat Herr Buschmann schon gut dargestellt; deswegen will ich das nicht ausführlich wiederholen. Ich will an dieser Stelle nur kurz meine Auffassung kundtun: Ein Unternehmen kann sich nach unserem Rechtsverständnis nicht strafbar machen. Es gilt der altrömische Grundsatz: Societas delinquere non potest eine Gemeinschaft kann sich nicht strafbar verhalten. Strafbar verhalten können sich immer nur Personen: der Prokurist, der Abteilungsleiter, der Geschäftsführer, das Mitglied des Vorstands, das Mitglied des Aufsichtsrats. Das Unternehmen selbst, die juristische Person, kann aber nicht selbstständig handeln. Handeln können immer nur Personen. Weil man der juristischen Person keine Schuld zuweisen kann, kann sie sich auch nicht strafbar machen. Ich bin schon der Meinung, dass wir an dem Prinzip festhalten müssen, dass nur bestraft werden kann, wer sich schuldig gemacht hat, ({3}) und schuldig kann sich nur eine Person machen, ein Individuum. ({4}) Es gibt keine Kollektivschuld. Die Auffassung, dass es sie gibt, haben wir doch in anderen Diskussionsbereichen immer und immer wieder zurückgewiesen, und wir wollen daran festhalten. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung; das ist richtig. Es gibt eine Verantwortung für unsere Geschichte. Es gibt eine Verantwortung für die Zeit von 1933 bis 1945, die das deutsche Volk zu tragen hat, aber es gibt keine Kollektivschuld. Daran möchte ich doch schon festhalten. Lassen wir deswegen den Gedanken weg, dass wir jetzt ein Unternehmensstrafrecht einführen wollen. Ich weiß - da haben Sie recht -, in anderen europäischen Ländern gibt es ein solches Unternehmensstrafrecht. In Ihrem Antrag - ich habe das zusammengezählt haben Sie zehn Länder aufgeführt, darunter England und Frankreich, also bedeutende Staaten innerhalb Europas. Das heißt aber doch nicht, dass der Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität in diesen Ländern besser läuft als bei uns. Wir haben andere Möglichkeiten, zum Beispiel durch das - das ist von Herrn van Essen gesagt worden - Ordnungswidrigkeitenrecht. Es gibt die §§ 30 und 130 Ordnungswidrigkeitengesetz. § 30 bezieht sich auf die handelnde Person selbst, während es bei § 130 um die Aufsichtspflichtverletzung geht. Wenn also eine untergeordnete Person eine Maßnahme trifft, die beispielsweise umweltgefährdend ist, dann ist auch die aufsichtshabende Person mit heranzuziehen. Wir haben jetzt vorgesehen, die Geldbuße nach § 30 Abs. 2 Ordnungswidrigkeitengesetz bei einer vorsätzlichen Straftat von 1 Million Euro auf 10 Millionen Euro und bei einer fahrlässigen Straftat von 500 000 Euro auf 5 Millionen Euro zu erhöhen. Das Gleiche sollten wir im Übrigen auch in Bezug auf § 130 Ordnungswidrigkeitengesetz vorsehen, was von uns aber noch nicht aufgegriffen wurde. Das ist eine wirkungsvolle Maßnahme, die Sie allerdings blockieren. Das muss man deutlich sagen und ist auch schon gesagt worden. Sie wird im Vermittlungsausschuss jetzt schon zum dritten Mal blockiert. Es ist nicht ganz korrekt, wie Sie sich hier verhalten. Sie verlangen von der Bundesregierung Maßnahmen gegen Wirtschaftskriminalität, blockieren aber gleichzeitig eine wichtige Maßnahme, ({5}) die die Bundesregierung schon im Oktober 2012 im Bundestag hat verabschieden lassen. Das geht so nicht; das ist nicht redlich. ({6}) Ich will Ihnen aber auch einmal zwei Beispiele dafür nennen, wie so etwas wirken kann - hinzu kommt nämlich die Vermögensabschöpfung -: Aufgrund eines Bußgeldes verbunden mit einer Vermögensabschöpfung hat Siemens immerhin 350 Millionen Euro zahlen müssen, und MAN hat zweimal 75 Millionen Euro zahlen müssen. Das ist nicht wenig. Das heißt, hier sind Möglichkeiten geboten, die andere Länder nicht haben. Im angloamerikanischen Raum ist das Verwaltungsrecht nicht mit unserem vergleichbar. Dort werden Straftatbestände festgestellt, die wir mit dem Verwaltungsrecht bekämpfen, wobei hier sehr viel differenzierter, sehr viel einschneidender und sehr viel effektiver vorgegangen werden kann als beispielsweise in England, in den USA oder in Frankreich. Unser Verwaltungsrecht bietet uns sehr viel größere Reaktionsmöglichkeiten in Bezug auf die Wirtschaftskriminalität. Es wird kein Bußgeld gegen ein Unternehmen erlassen, ohne dass es gleichzeitig zu einer Vermögensabschöpfung kommt. Die Strafe beinhaltet also immer ein Bußgeld plus Vermögensabschöpfung. Das ist schon ein gewaltiger Eingriff. Aber es gibt auch in anderen Bereichen wirkungsvolle Vorschriften: Ich nenne zunächst die Gewerbeordnung. Nach § 35 Gewerbeordnung gibt es die Möglichkeit, ein Gewerbe zu untersagen. Es gibt das BundesImmissionsschutzgesetz. Die Genehmigung beispielsweise zum Betrieb eines Kraftwerks, in dem Strom erzeugt wird, kann entzogen und das Werk kann geschlossen werden, wenn dort nicht Biomasse, sondern irgendwelche anderen brennbaren Stoffe verbrannt werden. Diese Maßnahme ist möglich. Auch im Bereich Kreditwesen haben wir die Möglichkeit, entsprechende Maßnahmen zu treffen. Daneben gibt es die sogenannte Mehrerlösabführung im Wirtschaftsstrafgesetz. Man könnte vielleicht noch über weitere Maßnahmen nachdenken. Aber innerhalb des Verwaltungsrechtes haben wir sehr viele Möglichkeiten, einzugreifen. Diese Möglichkeiten brauchen wir, und diese sollten wir auch nicht verstecken. Wir sollten den Unternehmen deutlich machen, dass von diesen Maßnahmen des Verwaltungsrechts häufig Gebrauch gemacht wird. Es ergehen oft genug entsprechende Bescheide an die Unternehmen. Wir werden diesen Antrag, wie ich schon gesagt habe, wohl nicht nach eingehender Beratung hier verabschieden können. Aber er bietet doch - das will ich Ihnen sagen, auch wenn nur sehr wenige Kolleginnen und Kollegen von der SPD da sind; inzwischen sind es nur noch drei - die Möglichkeit, ({7}) darüber nachzudenken. Ich hoffe, dass wir zu vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn auch nicht in Form ei29516 nes solch umfänglichen Antrags, wie er hier vorgelegt worden ist. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Mathias Middelberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon betont worden, dass in diesem Antrag der Sozialdemokraten, die sich hier im Plenum leider immer weiter verflüssigen, ({0}) durchaus Sinnvolles vorhanden ist und auch solches, an das man anknüpfen kann. Wenn man sich den Antrag allerdings aufmerksam ansieht, stellt man fest, dass er eine ganze Menge an Widersprüchen enthält. So fordern Sie in Ihrem Antrag beispielsweise ein bundesweit gleichmäßiges Vorgehen der Finanzbehörden gegen Steuerhinterziehung. Diese Einschätzung teilen wir uneingeschränkt. Jetzt kam in der Diskussion um die Steueroasen der Vorschlag - unter anderem von unserem Staatssekretär Kampeter -, ein einheitliches Steuer-FBI ins Leben zu rufen, also eine Art Bundespolizei für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das wurde von den SPD-Länderchefs sogleich abgelehnt. ({1}) Das Interessante daran ist, dass die sozialdemokratischen Länderchefs damit auch ihrem Kanzlerkandidaten widersprochen haben; denn Peer Steinbrück hat in seinem Acht-Punkte-Plan Anfang dieses Monats gefordert, eine bundesweite Steuerfahndung einzuführen. - Da müssen wir uns ganz generell fragen: Wie verlässlich sind in Zukunft die Klartextaussagen von Peer Steinbrück, der offensichtlich in Ihren eigenen Reihen nur noch wenig Beinfreiheit zur Verfügung hat? ({2}) Der nächste Punkt, auf den ich gerne eingehen möchte, ist das Thema Ankauf von Steuer-CDs. Ich habe damit grundsätzlich gar keine Probleme und teile in diesem Fall die Einschätzung des Kollegen Binding. Aber ich sage doch: Der Ankauf dieser CDs - das muss man festhalten - beschert uns in der Regel nur Einzelerfolge aufgrund von Einzelmaßnahmen. Es geht nicht um eine rechtsstaatlich fundierte, wie der Kollege van Essen das zu Recht bemerkt hat, Ermittlungsmaßnahme, die systematische Erfolge und eine wirkliche Austrocknung dieses Sumpfes Steuerhinterziehung ermöglicht. Darüber müssen wir uns doch einig sein. Eine gescheitere Maßnahme wäre die Unterzeichnung des Steuerabkommens mit der Schweiz gewesen, was aber ohne Ihre Zustimmung nicht möglich war. ({3}) Herr Kühl aus Rheinland-Pfalz rennt herum und sagt: Ich habe diese tolle Steuer-CD erworben. Sie bringt mir später 500 Millionen Euro ein. - Der Kollege WalterBorjans aus Nordrhein-Westfalen war überhaupt nicht in der Lage, auf Anfrage der CDU-Opposition darüber Auskunft zu geben, wie viel denn der bisherige Ankauf von Steuer-CDs erbracht habe. Also: Was kommt dabei nachher wirklich an Erträgen heraus? Darüber haben wir bisher überhaupt keine verifizierten Zahlen vorliegen. Die Zahl von 500 Millionen Euro steht im Raum. Ob wir diese Summe jemals sehen werden, ist reine Spekulation. Auch unter diesem Gesichtspunkt muss man die Effizienz dieser Maßnahme hinterfragen. Ich gehe noch einmal auf das Thema Schweiz ein. Ich mache das, weil hier eben nicht zutreffende Behauptungen verbreitet wurden. Es wird immer gesagt, die USA hätten mit ihrem Musterabkommen mit der Schweiz, dem FATCA-Abkommen, viel mehr erreicht. Die USA haben mit diesem Abkommen für die Vergangenheit gar nichts geregelt. Es bleibt also ungeklärt, wer früher einmal in der Schweiz Geld angelegt hat; da bekommen die USA keinen Cent. Das ist die Wahrheit. Bei unserem Steuerabkommen dagegen würden nicht nur die Zinserträge aus der Vergangenheit, sondern auch das gesamte Kapital der Anleger pauschal nachversteuert werden, und zwar mit einem Zinssatz von 21 bis 41 Prozent. Im Schnitt müssten die Steuerzahler ungefähr 26,5 Prozent nachzahlen, und zwar nicht nur auf die dort anfallenden Zinserträge, sondern auf das gesamte schwarze Kapital, das dort angelegt ist. Das vergessen viele, insbesondere allzu gerne in Ihren Reihen, Kollege Binding. ({4}) Wir hätten damit einige Milliarden an zusätzlichen Einnahmen zur Verfügung gehabt. Auf diese müssen wir jetzt bedauerlicherweise verzichten. Insoweit ist Ihre Kritik, an dieser oder jener Stelle stehe nicht genügend Geld zur Verfügung, nicht viel wert. ({5}) Eben wurde gesagt, wir hinkten der Entwicklung im internationalen Kontext, wenn es um die Bekämpfung von Steuerhinterziehung gehe, etwas hinterher. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sind natürlich im internationalen Kontext auf die Zusammenarbeit mit anderen Ländern angewiesen. Bisher wurden Doppelbesteuerungsabkommen, also Verträge zwischen Deutschland und den jeweiligen Partnerländern, abgeschlossen. Dass Sie damit ein Problem haben, verwundert mich; denn bisher haben Sie allen Doppelbesteuerungsabkommen, die die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, zugestimmt, und zwar uneingeschränkt. ({6}) Ich könnte in diesem Zusammenhang noch mehrere Initiativen nennen. FATCA ist eben genannt worden. Deutschland ist mit einem Musterabkommen mit den USA führend. Wir haben als treibende Kraft dafür gesorgt, dass die G 5, die fünf großen europäischen Staaten, nun dieses Musterabkommen als Maßstab für den automatischen Informationsaustausch untereinander festlegen. Ähnliches gilt für die Revision der EU-Zinsrichtlinie. Hier geht es um den automatischen Informationsaustausch, diesmal auf Ebene der EU. Auch hier ist Deutschland führend. Wir haben dafür gesorgt, dass diese Richtlinie nun auf Lebensversicherungen, strukturierte Finanzprodukte, die berühmt-berüchtigten Trusts, private Stiftungen und alle Arten von Investmentfonds ausgedehnt wird. In Zukunft wollen wir nicht nur Zinserträge, sondern auch Dividenden und Veräußerungsgewinne erfassen. Die ersten Erfolge können Sie bereits sehen. Luxemburg hat eingelenkt und seine Blockadehaltung in diesem Punkt aufgegeben. Es wird im Rahmen der EU-Zinsrichtlinie ab 2015 am internationalen Informationsaustausch teilnehmen. Ich könnte noch auf die BEPS-Initiative eingehen, die in Zukunft den zunehmenden Steuerabfluss durch den Internethandel - beispielsweise bei Amazon und Google - verhindern wird. Hier ist unser Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble an erster Stelle zu nennen. Deutschland ist federführend und leitet eine der drei Arbeitsgruppen, die die Details für ein entsprechendes Abkommen in diesem Bereich erarbeiten. Wir werden im Juni dieses Jahres einen Aktionsplan auf G-20- und OECD-Ebene vorlegen. Es gibt hier also konkrete Schritte, und Deutschland ist führend, wenn es um die Bekämpfung von Steuerhinterziehung auf internationaler Ebene geht. ({7}) Da Sie unsere Maßnahmen kritisieren und behaupten, wir seien nicht vorne dabei, wenn es um die Bekämpfung von Steuerhinterziehung gehe, möchte ich Sie daran erinnern, dass bis 2009 der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hieß. Ich kann mich nicht erinnern, dass Herr Steinbrück als Finanzminister in den eben genannten Punkten - ich habe bereits FATCA und die EU-Zinsrichtlinie angeführt; die Regelungen betreffend die Selbstanzeigepflicht bei Steuerhinterziehung haben wir verschärft - irgendetwas Brauchbares umgesetzt hätte. ({8}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Unsere Steuerpolitik kann sich sehen lassen. Wir kommen mit der Kavallerie gerade auf internationaler Ebene nicht so gut voran, insbesondere dann nicht, wenn sie wie bei Steinbrück auf toten Pferden unterwegs ist. Wir bleiben unserem Stil treu, verhandeln nachhaltig und setzen auf Diplomatie, Transparenz und Konsequenz. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13087 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften - Drucksache 17/13082 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Dann eröffne ich auch schon die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Warum bringen wir heute einen Gesetzentwurf ein, dessen wesentliche Inhalte wir bereits vor sechs Monaten hier in diesem Hause beschlossen haben? ({0}) Die Antwort ist einfach: Seit Monaten nutzt die rotgrüne Opposition im Bundestag ihre Mehrheit im Bundesrat als Blockadeinstrument. ({1}) Seit Monaten geht es der Opposition und der Mehrheit im Bundesrat nur noch um Machtpolitik und nicht mehr um Sachpolitik. ({2}) Ob beim Abbau der kalten Progression, womit wir gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit mittleren Einkommen entlasten wollten, ob bei der steuerlichen Absetzbarkeit der energetischen Sanierungsleis29518 tungen: überall Blockade. Das vorhin angesprochene Schweizer Steuerabkommen wurde ebenfalls im Bundesrat blockiert - leider. ({3}) Denn für Bund, Länder und Kommunen ist damit, bezogen auf die Vergangenheit, sehr viel Geld unwiederbringlich verloren gegangen, und für die Zukunft - das muss man noch einmal betonen - hätten wir damit für die in der Schweiz angelegten Vermögen die gleiche Besteuerung wie in Deutschland durchgesetzt. ({4}) Auch das Jahressteuergesetz 2013, das ja wichtige Entlastungsregeln für die Bürgerinnen und Bürger, für die Unternehmen und für die Verwaltung beinhaltete, haben Sie im Bundesrat gegen die Wand gefahren. Nach diesem Crash stehen wir jetzt wieder hier und versuchen, die Teile des auseinandergeflogenen Gesetzes wieder zusammenzusetzen und zusammenzubasteln. Wir haben hier vor wenigen Wochen mit dem Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz schon Maßnahmen aus diesem gescheiterten Jahressteuergesetz beschlossen und auf den Weg gebracht. Jetzt sollen, wie von uns versprochen und vorhergesagt, weitere Maßnahmen folgen, darunter auch eine Änderung bei der Erbschaftsteuer. In diesem Haus herrscht ja wohl Konsens darüber, dass der Missbrauch, den es bei den sogenannten Cash-Gesellschaften gibt, nicht tolerierbar ist. Ich habe an dieser Stelle vor wenigen Wochen gesagt, dass wir zeitnah einen Vorschlag auf den Tisch legen werden, wie wir diesen Missbrauch im Zusammenhang mit Cash-Gesellschaften verhindern. Das haben wir versprochen, und heute liefern wir. ({5}) Wie versprochen unternehmen wir einen nächsten Versuch, um rechtliche Betreuer wie auch die Leistungen von Bühnenregisseuren und -choreografen von der Umsatzsteuer zu befreien. Wir hatten das schon einmal hier beschlossen. Das Gleiche gilt für den besonderen Gewerbesteuerzerlegungsmaßstab bei der Photovoltaik. Aber ich fürchte, dass auch dieser Gesetzentwurf - obwohl das etwas ist, was Sie selbst fordern - im Bundesrat von der rot-rot-grünen Mehrheit aufgehalten werden wird. Sie werden dies dann den Menschen erklären müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({6}) Sie werden erklären müssen, warum Sie sich gegen die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen wenden, warum Sie unseren Mittelstand und die Industrie in Deutschland nicht von zusätzlichen Bürokratiekosten in Höhe von 2,5 Milliarden Euro entlasten. ({7}) Sie fallen damit - das ist ganz interessant - auch Ihrem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück in den Rücken; denn er hat vor wenigen Wochen bei einer Mittelstandsveranstaltung gefordert, unnötige, für den Mittelstand kostenintensive Regelungen abzuschaffen. Dabei hat er explizit auch die Aufbewahrungsfristen angesprochen. Heute hätten Sie die Möglichkeit, Ihren Kanzlerkandidaten hier zu unterstützen. Sie werden diesen Gesetzentwurf aber, wie Sie schon angekündigt haben, wahrscheinlich ablehnen und auch im Bundesrat blockieren. Sie werden auch erklären müssen, warum Sie diesen Gesetzentwurf, mit dem wir eine längere Geltungsdauer der Freibeträge im Lohnsteuerabzugsverfahren einführen wollen, aufhalten. Sie werden das auch gegenüber der Verwaltung erklären müssen. Das, was geplant ist, wäre nicht nur eine Erleichterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land, sondern es wäre auch eine Verfahrensvereinfachung für die Finanzverwaltung. Die rot-grün regierten Bundesländer müssen sich jetzt ihrer Verantwortung stellen, und sie müssen diese Blockade aufgeben. Hören Sie auf, wichtige Maßnahmen, die wir hier im Bundestag beschließen, immer wieder ausschließlich mit dem Blick auf die Bundestagswahl im September zu blockieren und zu verhindern. Glauben Sie, dass diejenigen, die zivilen Freiwilligendienst leisten, Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün die Steuerbefreiung ihres Taschengeldes verhindert? Glauben Sie, dass die von Ihnen im Bundesrat aufgehaltenen Steuerbefreiungsvorschriften für freiwillig Wehrdienstleistende und Reservisten bei diesen auf Verständnis stößt? Die Menschen interessieren sich doch nicht für diese taktischen Spielchen. ({8}) Die Menschen wollen, dass gehandelt wird. ({9}) Sie haben diese Regelungen verdient. Sie könnten längst Gesetz sein. Wir haben sie hier bereits vor sechs Monaten beschlossen. ({10}) Ich kann nur sagen - das ist eine Bitte an Sie und auch ein Appell an das Verantwortungsbewusstsein von RotGrün -: Hören Sie mit dieser Blockadepolitik im Bundesrat auf. ({11}) Alles andere ist unredlich. Es schadet unserem Land. Es schadet den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land. Seien Sie kooperativ. Arbeiten Sie mit bei diesen wichtigen Regelungen, die den Menschen in unserem Land helfen und sie voranbringen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch etwas zum Kollegen Middelberg sagen, der, fast vorwurfsvoll, festgestellt hat, die SPD-Fraktion stimme den Doppelbesteuerungsabkommen immer zu. Das stimmt: Wir haben mehr als 90, also fast allen, Doppelbesteuerungsabkommen zugestimmt. Denn wir haben das für einen richtigen Schritt gehalten. Aber allein mit diesen Abkommen erreichen wir nicht unser Ziel. Es gab auf der langen Strecke der DBA-Entwicklung in den letzten 15 Jahren einen Fortschritt, der jetzt neue Schritte erforderlich macht. Die neuen Schritte in Richtung automatischer Informationsaustausch sind Sie noch nicht gegangen. Deshalb haben wir schon oft angeregt, bei der OECD ein neues Musterabkommen zu erwirken, wodurch der berühmte Art. 26 OECD-Musterabkommen in genau diese Richtung geändert wird. Insofern ist es sinnvoll, richtigen Schritten zuzustimmen, auch wenn man möglicherweise nicht alle Ziele erreicht. Sie haben noch etwas, wie ich finde, Richtiges zu den Steuer-CD-Ankäufen gesagt: dass die Höhe der zu erwartenden Beträge spekulativ ist. Das stimmt. ({0}) - Ich weiß, welcher Tagesordnungspunkt an der Reihe ist. Keine Panik! - Allerdings haben Sie behauptet, dass 10 Milliarden Euro in die Staatskasse fließen könnten, wenn das von Ihnen bevorzugte Abkommen mit der Schweiz geschlossen worden wäre. Frage: Wie haben Sie das berechnet? Liegt dem nicht viel mehr Spekulation zugrunde? Als Herr Koschyk im Ausschuss diesen Betrag nannte, habe ich ihn in einem Zwischenruf gefragt: Würden Sie das unterschreiben? Darauf hat er klugerweise keine Antwort gegeben. Das ist klar; denn die Höhe dieses Betrages lässt sich nicht berechnen, sondern ist Spekulation. In der Zukunft könnte das ein großes Problem sein. Zum eigentlichen Thema. Wir sind natürlich für die Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer, für Bühnenregisseure und -choreografen, für die Steuerbefreiung des - da merkt man auch, wie kleinmütig man manchmal sein kann - Taschengeldes für diejenigen, die zivilen Freiwilligendienst leisten. Wir sind für die längere Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugsverfahren. Wir sind für die neuen Regeln für freiwillig Wehrdienstleistende. Das sind alles gute Maßnahmen. Der Kollege Gutting hat gefragt: Warum diskutieren wir darüber eigentlich erst heute? Er hat dann gesagt: Das ist im Bundesrat alles blockiert worden. - Nein, Olav; das ist eine Selbstblockade der Regierungskoalition. ({1}) Wie kommt das zustande? Die Sache ist ganz einfach: Es passiert immer wieder, dass Dinge, die im Koalitionsvertrag dieser Regierung stehen, im Bundestag plötzlich abgelehnt werden. Gestern wurde hier sogar ein CDUParteitagsbeschluss eingebracht und von den CDU-Kollegen einstimmig abgelehnt. Was das für eine Politik ist, bei der man gewissermaßen hier antäuscht und dort dagegen stimmt? Ist doch klar: Bei diesem Widerspruch gibt es Probleme. So war das hier auch. Es gab ein zu 99 Prozent abgestimmtes Jahressteuergesetz. Es gab in diesem Gesetz einen einzigen strittigen Punkt, nämlich die steuerliche Gleichstellung von Lebenspartnerschaften. Dazu steht etwas in Ihrem Koalitionsvertrag. Indem Sie sogar gegen Ihren Koalitionsvertrag verstoßen, haben Sie die anderen 99 Prozent des Gesetzes zu Fall gebracht. Deshalb gibt es hier keine Blockade durch den Bundesrat, sondern eine Selbstblockade dieser Koalition. ({2}) Dass dies alles relativ chaotisch abläuft, kann jeder nachvollziehen; denn man kann einfach nicht erklären, dass man gegen sich selbst stimmt. Sie benutzen die Opposition nur, um zu begründen, warum Sie gegen sich selbst stimmen müssen. Das ist eine relativ komplizierte Angelegenheit. ({3}) Im Vermittlungsergebnis zum Jahressteuergesetz waren gute Regeln enthalten. Jetzt frage ich mich: Warum sind diese guten Regeln, auf die wir uns schon verständigt hatten, in dem heute vorliegenden Entwurf nicht mehr enthalten? ({4}) Bei der Einkommensteuer geht es um Goldfinger-Modelle. Das ist jetzt gut geregelt; da gibt es keine Kritik. Bei der Erbschaftsteuer muss man ein bisschen genauer nachschauen. Was die Gestaltung über CashGmbHs angeht, waren wir uns einig. Mit dem heute vorliegenden Entwurf schaffen Sie erneut ein Schlupfloch. ({5}) Warum? Warum dieser Rückschritt? Wir hatten heute schon eine Diskussion über Steuerkriminalität und Schlupflöcher. Jetzt gehen Sie schon wieder in diese Richtung, und das ist natürlich schlecht. Zu den Real-Estate-Transfer-Tax-Blockern, den RETT-Blockern, zur Steuergestaltung bei Grundstückskäufen. Letztlich fehlt dieser Bereich jetzt ganz. Oder Lothar Binding ({6}) habe ich da etwas überlesen? Wenn Sie mir zeigen, wo das steht, nehme ich die Aussage zurück. - Ich sage: Es fehlt im Gesetz. Warum fehlt es? Eben hieß es noch, der Bundesrat blockiere etwas. Hier blockiert keiner! Hier lässt die Regierungskoalition einfach wichtige Dinge aus, verzichtet auf gute Regelungen, weil sie intern vielleicht doch ein bisschen dagegen ist. Da wird es natürlich schwierig. Wenn man ein bisschen dagegen ist, aber so tun will, als ob man dafür ist, dann gibt es Widersprüche, und das führt zu Selbstblockaden der eben beschriebenen Form. Die Anti-Missbrauchs-Regelungen, über die wir gesprochen haben, finden sich zum Teil - ich habe das erwähnt - im Zusammenhang mit der Cash-GmbH wieder. Jetzt will ich einen Punkt ganz genau vortragen, damit Sie möglicherweise einen Änderungsantrag formulieren können: Ein vom Steuerpflichtigen über fünf Jahre im Unternehmen gehaltenes hohes Barvermögen gilt als unschädliches Verwaltungsvermögen, unabhängig von seiner betrieblichen Erforderlichkeit. Wird dagegen im letzten Jahr vor dem Besteuerungszeitpunkt ein hohes und betrieblich erforderliches Vermögen eingelegt, gilt der den Durchschnittswert übersteigende Betrag als schädliches Verwaltungsvermögen. Die Abgrenzung des schädlichen Verwaltungsvermögens anhand des durchschnittlichen Vermögens der letzten Jahre geht somit an den betrieblichen Erfordernissen vorbei. Jetzt frage ich Sie, ob Sie dieses Abgrenzungsproblem nicht doch aus dem Gesetz entfernen und die alte Fassung nehmen können; denn für die alte Fassung, denke ich, bekommen Sie hier eine Mehrheit. Ich will sogar ein bisschen forsch sagen: Wenn Sie zu dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zurückfinden, dann bekommen Sie unsere Zustimmung. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Daniel Volk. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Binding, Sie haben gerade im Wesentlichen vorgetragen, was in diesem Gesetz nicht steht, von dem Sie aber meinen, dass es im Gesetz stehen müsste. Man sollte vielleicht eher einmal darüber diskutieren, welche Änderungen die Koalitionsfraktionen in diesem Gesetzentwurf vorlegen und welche positiven Auswirkungen diese Änderungen haben, ({0}) sodass wir in diesem Hause am Ende gemeinsam einen positiven Beschluss, eine gute Steuergesetzgebung für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande, fassen. Wir werden zum Beispiel die Gewerbesteuerzerlegung bei Windkraftanlagen neu regeln. Das ist ein wichtiger Punkt; ich denke, insbesondere auch für die Grünenfraktion. Ich kann Sie nur auffordern, dem zuzustimmen, und zwar nicht aus irgendwelchen Gründen. Sie sollten formulieren, dass es eine wirklich gute Regelung ist, und sich nicht hinter vorgeschobenen Argumenten verstecken. Sie sollten nicht wegen irgendwelcher fehlenden Regelungen eine Ablehnung konstruieren. ({1}) Wenn wir die freiwillig Wehrdienstleistenden entlasten, sie bei ihrem Dienst an der Gesellschaft, bei ihrem Dienst für dieses Land unterstützen, wenn wir diejenigen, die zivilen Freiwilligendienst leisten, entlasten ({2}) und sie bei ihrem Dienst an der Gesellschaft unterstützen, dann müssen doch auch Sie das positiv aufnehmen und müssen dem doch zustimmen können. ({3}) Also insofern: Lehnen Sie dieses Gesetz nicht ab, sondern machen Sie mit uns eine gute Steuerpolitik! ({4}) Letztendlich muss man sich ja fragen: Was haben Ihnen denn diejenigen, die freiwillig Wehrdienst oder einen zivilen Dienst leisten, getan, dass Sie Verbesserungen in diesem Bereich immer wieder mit vorgeschobenen Gründen ablehnen? ({5}) Die Umsatzsteuerfreiheit für Betreuer ist ein ganz wesentlicher Punkt in einer Gesellschaft, ({6}) in der immer mehr Betreuungsleistungen nötig werden. Das ist eine wichtige steuerpolitische Entscheidung. Stimmen Sie dem zu! ({7}) Wenn wir mit diesem Gesetz den Mittelstand durch die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen von Bürokratie entlasten, was zu einer Entlastung in der Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro führt - übrigens ausdrücklich begrüßt vom Nationalen Normenkontrollrat -, dann müssen Sie dem doch auch zustimmen können. Denn auch dort muss man sich fragen: Was haben Ihnen denn die mittelständischen Unternehmer getan, dass Sie auch dieses ablehnen wollen? ({8}) Also insofern: Sie können diesem Gesetz mit gutem Gewissen, aus gutem Grund zustimmen. Sie können diesem Gesetz insbesondere vor dem Hintergrund zustimmen, dass wir ein weiteres Steuerschlupfloch schließen werden, nämlich mit der Regelung zu den sogenannten Cash-GmbH, womit wir eine missbräuchliche Steuergestaltung verhindern bzw. vermeiden wollen, und zwar im Interesse einer gerechten Besteuerung aller Steuerpflichtigen. Der Sinn ist ja, dass wir hier Steuerschlupflöcher schließen wollen. ({9}) Auch da können Sie zustimmen, auch da können Sie ein positives Votum abgeben. Aber bitte lassen Sie es, sich hinter vorgeschobenen Argumenten zu verstecken. Wissen Sie, das Entscheidende an der Sache ist ja, dass all diese Regelungen schon einmal auf dem Tisch waren, nämlich vor ungefähr einem halben Jahr hier im Bundestag. ({10}) Auch da haben Sie Ihre Zustimmung verweigert. ({11}) Im Bundesrat haben auch Ihre Parteifreunde aus den Landesregierungen, die rot-grün regierten Länder, diese Regelungen abgelehnt. Sie können jetzt noch einmal die Chance ergreifen, diesem Kurs einer vernünftigen Steuerpolitik, einer Steuerpolitik aus einem Guss zuzustimmen, um auf der einen Seite diejenigen, bei denen wir Entlastungen vornehmen müssen, auch wirklich zu entlasten und auf der anderen Seite durch das Schließen von Steuerschlupflöchern eine gerechte Besteuerung aller Steuerpflichtigen zu gewährleisten. Dem können Sie zustimmen. ({12}) Dementsprechend kann ich Sie nur auffordern: Geben Sie die Blockadehaltung auf. Machen Sie eine Steuerpolitik für die Bürgerinnen und Bürger, ({13}) für die Steuerpflichtigen in diesem Land. Folgen Sie unserer vernünftigen Finanzpolitik. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Steuerpolitik und FDP, das schließt sich schon per se aus. Also, diese Grundlage gibt es leider nicht. Ich habe in Vorbereitung der heutigen Rede gedacht: Wo ist die gute alte Zeit hin? ({0}) Früher hießen Jahressteuergesetze auch wirklich Jahressteuergesetz. Da gab es jährlich ein Jahressteuergesetz, und in das wurde alles hineingepackt, was anzupassen ist, was notwendig ist. Das wurde diskutiert - auch im Bundesrat, eventuell im Vermittlungsausschuss - und verabschiedet. Diesmal ist es so: Es gab ein Jahressteuergesetz 2013. Herr Kollege Binding sagte es schon: Aus dem Koalitionsvertrag wurde die steuerliche Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe - dies wäre eine Umsetzung Ihrer Positionierung im Koalitionsvertrag - aufgenommen. Deswegen haben Sie alles platzen lassen. Ich habe im Ausschuss nachgefragt: Herr Staatssekretär Koschyk, wie ist es, kommt ein neues Jahressteuergesetz? - Nein. Dann kommt ein Gesetz zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Das ist aber nicht der erste Versuch. Es gab in der Zwischenzeit schon ein Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz. Das alles sind kleine Jahressteuergesetze 2013. Also, es findet sich niemand mehr zurecht. Das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz liegt derzeit im Vermittlungsausschuss. Es herrscht ein riesiges Hin und Her. Den heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sie ganz schnell durch den Bundestag bringen. Wir haben uns natürlich die Mühe gemacht, das alles richtig zu bewerten; mein Kollege Binding war sich nicht sicher, ob er etwas übersehen hat. Interessant ist, dass die Diskussion über das Jahressteuergesetz 2013 im Vermittlungsausschuss eigentlich erfolgreich war. ({1}) Es wurden Kompromisse gefunden. Diese Kompromisse wurden getragen von der CDU/CSU, der FDP, der SPD, den Linken und den Grünen. Diese haben Sie abgelehnt. Nun könnte man den einen Punkt, den Sie nicht haben wollten, der aber im Koalitionsvertrag steht, herauslassen. Aber die anderen könnte man so verabschieden. Nein! Im Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz steht wiederum nur ein Teil davon. Auch im heute vorliegenden Gesetzentwurf steht nur ein Teil. Man versteht nicht, was. Ich habe mir das einmal farblich gekennzeichnet. Hier finde ich vier völlig neue Vorschläge, die wir ganz schnell bewerten müssen. Das ist alles andere als eine seriöse Steuerpolitik. ({2}) Wir haben schon im Vermittlungsausschuss gesagt, dass wir natürlich bei den Fragen in Bezug auf die Bühnenchoreografen und Bühnenregisseure übereinstimmen. Auch hinsichtlich der Kindergeldregelung bei Auslandseinsätzen besteht kein Problem. Aber warum kommen Sie jetzt wieder mit dem Thema der Verkürzung von Aufbewahrungsfristen? Dies ist doch durchsichtig. Es geht Ihnen dabei nur darum, Herrn Steinbrück vorzuführen. Ob es Ihnen gelingt oder nicht, wird man sehen. Das Thema der Verkürzung von Aufbewahrungsfristen wurde im Ausschuss länger diskutiert. Ich habe immer wieder nachgefragt, warum Sie die Verkürzung von Aufbewahrungsfristen wollen. Es kommt von Ihnen immer wieder das Argument des Bürokratieabbaus. Es geht doch nicht allein um Bürokratieabbau. Das ist doch Quatsch. ({3}) Das meiste wird doch heute elektronisch gespeichert. Ob Sie die Unterlagen zehn Jahre oder sieben Jahre elektronisch speichern, ist kein Unterschied. Der Computer bleibt der gleiche; vielleicht brauchen Sie 3 oder 20 CDs mehr. Diese nehmen nicht sehr viel Platz in Anspruch. Es stellt sich aber die Frage: Was geht verloren, wenn die Aufbewahrungsfrist verkürzt wird? Die Prüfmöglichkeit verkürzt sich um drei Jahre. Wenn wir in den nächsten Jahren mit Steuerausfällen und Mindereinnahmen von bis zu 3 Milliarden Euro - das ergibt sich aus Ihrem Finanztableau - rechnen müssen, dann nehmen Sie bewusst, sehenden Auges, in Kauf, dass aufgrund der fehlenden Prüfmöglichkeiten Steuervermeidung oder ungerechte Steuerzahlung die Folge sein können. Mich ärgert besonders - das bezieht sich auch auf die Debatte zur Wirtschaftskriminalität -: Warum nehmen Sie hier nicht, wie es im ursprünglichen Jahressteuergesetz 2013 der Fall war, die Regelungen zu Familienstiftungen und Trusts auf? Die fallen einfach weg, und zwar ohne jegliche Begründung. Bei diesem Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, zeigt sich der Unterschied zwischen Worten - Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung - und Taten. Danke. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Die Linke - Entschuldigung, für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerade noch die Kurve gekriegt, Herr Präsident. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 12. Dezember hatten wir ein hundertprozentiges Vermittlungsergebnis - ohne die Gleichstellungsfrage. Nur um von dem Koalitionsstreit um die steuerliche Gleichstellung von Lebenspartnerschaften, die tatsächlich im Koalitionsvertrag verankert war - darauf wurde schon hingewiesen -, abzulenken, machen Sie mit der heutigen Vorlage wieder zwei thematische Fässer auf und legen einen Gesetzentwurf mit Positionen vor, die bereits von Ihren eigenen schwarz-gelben Landesregierungen beim letzten Durchlauf im Bundesrat abgelehnt worden sind. ({0}) Nur um ein Signal an die eigene Klientel zu senden, nerven Sie uns hier. Ich sage dazu nur: Jeder macht sich so lächerlich, wie er selber kann. ({1}) Erstes Fass: Aufbewahrungsfristen. Die Aufbewahrungsfristen wollen Sie wieder von zehn auf acht und später auf sieben Jahre verkürzen. Dadurch entgehen dem Fiskus jährlich Mehrergebnisse aus Betriebs- und Außenprüfungen in der Größenordnung von mehreren Millionen Euro. Das ist auch in der Anhörung, die wir dazu im Deutschen Bundestag durchgeführt haben, deutlich geworden. ({2}) Außerdem leisten Sie der Verfolgung von Steuerstraftaten einen Bärendienst. Wenn Gesetzeslage ist, dass Steuerhinterziehung erst nach zehn Jahren verjährt, die Unterlagen aber nur sieben Jahre aufbewahrt werden müssen, dann offenbart das Ihr Verhältnis zum Rechtsstaat in Fragen der Steuerhinterziehung. Was soll denn der Steuerfahnder im neunten Jahr machen? Welche Unterlagen soll er denn prüfen, wenn sie geschreddert sind, meine Damen und Herren von der Koalition? ({3}) Das zweite Fass sind die Cash-GmbH. Sie legen hier einen Änderungsvorschlag vor, der die Cash-GmbH wieder verfassungskonform machen soll. Cash-GmbH sind Gesellschaften, deren einziger Zweck es ist, Steuervorteile zu sichern. Der Bundesfinanzhof hat Ihnen die geltende Regelung um die Ohren gehauen. Deswegen braucht es eine Änderung. Bisher gab es einen Konsens dahin gehend, dass dies tatsächlich ein Problem ist und dass alle gemeinsam dieses Steuerschlupfloch schließen wollen. Entsprechend hat man sich auf einen Vorschlag im Vermittlungsausschuss geeinigt. Sie machen hier wieder ein Fass auf. Wenn man sich Ihre Regelung anschaut, dann stellt man fest: Sie wollen das Steuerschlupfloch gar nicht schließen, sondern Sie wollen es weit auflassen, Sie wollen es nur gesetzeskonform machen. Kommen Sie zu der alten Regelung zurück! ({4}) Was haben Sie vor? Wenn es im Unternehmensverbund irgendwo mehr als 20 Arbeitskräfte gibt, dann kann noch so viel Privatvermögen umgeschichtet werden, aber eine Cash-GmbH wäre es nach Ihrer Formulierung nicht mehr. Aber das reicht Ihnen noch nicht einmal aus. Sie setzen noch eins drauf, und zwar richtig. Sie wollen auch noch Finanzdienstleistungsinstitute von der Regelung ausnehmen. Ich verstehe das nicht. Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein. Finanzdienstleistungen sind glasklar nicht begünstigtes Verwaltungsvermögen. Jetzt muss der Cash-GmbH nur noch der Hauptzweck Finanzdienstleistung angepinnt werden - das wäre noch nicht einmal gelogen -, und schon fällt deren Vermögen aus der Besteuerung heraus, wenigstens zu 50 Prozent. Mit Ihrer Regelung schaffen Sie neue Umgehungswege. Da ist das nächste BFH-Urteil vorprogrammiert. Ihre Regelung retten Sie höchstens bis zur Bundestagswahl, aber definitiv keinen Tag darüber hinaus. ({5}) Deswegen fordere ich Sie noch einmal auf: Kehren Sie zu dem Ergebnis, auf das man sich im Vermittlungsausschuss zu 100 Prozent geeinigt hat, zurück. Dann, Herr Gutting, wird es auch von uns hier und im Bundesrat eine Zustimmung dazu geben. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich erneut dem Kollegen Dr. Mathias Middelberg das Wort. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, herzlichen Dank. - Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich will mir ganz kurz erlauben, auf den Kollegen Binding und das schöne Schweizer Steuerabkommen einzugehen. Ich will gerne noch einmal erklären, wie man auf eine Schätzung von 10 Milliarden Euro kommen kann; man kann den Betrag natürlich nicht exakt berechnen. 2 Milliarden Euro wären ohnehin von den Schweizer Banken garantiert gewesen. Die wären in jedem Fall geflossen; auf die haben wir jetzt definitiv verzichtet. Wir hätten in jedem Fall mehr erlangt. Selbst wenn wir durch den Ankauf aller möglichen Steuer-CDs alle Steuersünder in der Schweiz hätten identifizieren und nachträglich besteuern können, wäre diese Besteuerung immer nur auf die Zinserträge fällig gewesen. Bei unserer Regelung und laut unserem Steuerabkommen wäre immer das gesamte Kapital, also das ganze Geld, das die Leute in die Schweiz geschafft haben, besteuert worden, der gesamte Haufen, nicht nur die Erträge daraus, die über die Jahre erzielt worden wären. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, natürlich, denklogisch - das ist für den Grundschüler, der in der ersten Klasse Mathematik hat, einfach auszurechnen erlangt man dabei deutlich höhere Steuererträge, als wenn man nur die Zinsen besteuert. - Das vorweg. ({1}) Nachdem wir die Dinge so weit berichtigt hätten, würde ich gerne zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf etwas sagen. Zum Thema Cash-GmbH ist das Zutreffende vom Kollegen Volk ausgeführt worden. Ich würde gerne auf das Thema Aufbewahrungsfristen eingehen. Die Kollegin Höll hat eben gesagt, es gehe uns hier nur darum, den Kanzlerkandidaten der SPD vorzuführen. ({2}) - Das macht er selbst; das ist völlig richtig. - Aber an diesem Punkt bin ich einmal ganz präzise. Ich finde, dass sich die Widersprüchlichkeiten summieren. Herr Steinbrück sagt das eine, die SPD sagt etwas anderes; Herr Steinbrück sagt etwas, die SPD rudert zurück. Ich habe das eben anhand der bundesweiten Steuerfahndung erklärt: Steinbrück will die bundesweite Steuerfahndung. Wir sind einverstanden und sagen zu, das zu machen; aber eure Länder sagen: Nein, das machen wir doch nicht. Es geht nicht darum, ihn vorzuführen. Man stellt sich bei alldem die Frage - darum geht es -: Inwieweit ist Steinbrück, inwieweit sind die Aussagen dieses Mannes überhaupt noch glaubwürdig? ({3}) Das ist die entscheidende Frage. Die Wähler wollen doch im September wissen, wen sie wählen können, und wollen im Vorfeld verlässliche Aussagen erhalten. Es kann nicht so sein wie 2005, als ihr Wahlkampf gegen die „Merkel-Steuer“ gemacht habt. Ihr habt polemisiert und gesagt, es sei ganz furchtbar, wenn die „MerkelSteuer“, also eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte komme. Nachher, als ihr mitregiert habt, kam es dann zu einer Erhöhung um 3 Prozentpunkte. Sagen wir es doch ganz offen: Ihr habt die Leute getäuscht; das war nicht sauber. ({4}) - Der Unterschied ist: Wir haben vorher gesagt, was wir machen wollen; ihr habt genau das Gegenteil gesagt, habt damit eine Wahlentscheidung für euch erreicht und habt euch nachher umentschieden. Solch ein Verhalten ist nicht korrekt. ({5}) Jetzt kommen wir zu den Aufbewahrungsfristen und schauen einmal ganz genau hin. Am 4. März hat euer Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ({6}) in den Siegener Thesen für den Mittelstand, also für die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland, ({7}) verkündet: Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kostenträchtige Regelungen abgeschafft werden … ({8}) Das hat Steinbrück gesagt. Dann nennt er ausdrücklich die „Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rechnungen und Belege“. ({9}) - Aha! - Exakt das ist Gegenstand unseres Gesetzentwurfs. ({10}) Sie haben uns eben beredt erklärt, warum das alles furchtbar ist und zu Missbrauch führe. Sie sagten, es würde die Steuerhinterziehung erleichtern. ({11}) Der Gesetzentwurf setzt aber die Forderung von Peer Steinbrück, dem Kanzlerkandidaten der SPD, um; genau das legen wir euch jetzt hier vor. Wir sagen: Das ist heute die Stunde der Wahrheit für Peer Steinbrück und die SPD. ({12}) Ihr müsst euch heute dazu bekennen. Was gilt denn jetzt: die Aussagen des Kanzlerkandidaten zur „Fußfessel“ oder die Aussagen, die die SPD von Woche zu Woche mal so oder mal wieder anders trifft? - Hier geht es um Glaubwürdigkeit. ({13}) Ich sage es ganz nett und freundlich: Euch kann am 22. September einfach keiner wählen, weil man gar nicht weiß, was am Ende herauskommt. ({14}) Steinbrück wollte keine Vermögensteuer, weil er genau wusste, dass der unternehmerische Mittelstand und die kleinen Unternehmen die Vermögensteuer in schlechten Jahren aus der Substanz zahlen müssten. Ich sage es einmal ganz deutlich: Es geht da nicht nur um reiche, faule Säcke, die irgendwo auf Mallorca im Cayenne - oder was weiß ich - herumfahren. Das ist das Bild, das immer erzeugt wird, wenn von der Vermögensteuer die Rede ist. Da hätte ich gar nichts dagegen: Wenn die mehr bezahlen würden, wäre das in Ordnung. Aber man kann bei der Vermögensteuer gar nicht zwischen betrieblichem und privatem Vermögen differenzieren. Das bekommt man gar nicht hin; da machen das Bundesverfassungsgericht und der Bundesfinanzhof nicht mit. Man bekommt eine solche Differenzierung nicht hin. Euer eigener Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Herr Kretschmann, und sein Finanzminister, Herr Schmid, weisen darauf hin, dass eine solche Unterscheidung gar nicht möglich ist. Ihr suggeriert den Leuten, da käme etwas; aber das ist gar nicht zu schaffen. Es ist Schwachsinn hoch zehn. Die Leute werden wieder getäuscht. ({15}) Steinbrück war klug genug, vorher zu sagen, dass die Einführung einer solchen Vermögensteuer nicht möglich ist. Aber ihr verkauft den Leuten jetzt diesen Popanz, damit sie euch wählen. Nach der Wahl sagt ihr dann: Das ist jetzt aber ganz schwer umzusetzen; jetzt machen wir es doch anders und erhöhen einfach pauschal die Steuern. ({16}) Was ihr macht, ist ein Katastrophenprogramm: Wir würden eine riesige Steuererhöhungsorgie erleben, die alle Steuerarten betrifft. Wahrscheinlich würde doch noch eine neue Vermögensteuer eingeführt. ({17}) Dann hätten wir die gleichen Verhältnisse wie in Frankreich: Da gibt es schon hohe Steuersätze, da gibt es eine Vermögensteuer. In Europa gibt es die Vermögensteuer nur in Spanien und Frankreich. ({18}) Das sind die beiden Länder, die in Europa leider am Boden liegen. Die Franzosen fahren im Moment wirtschaftlich vor die Wand. Sie haben mit dem Steuerrecht, das ihr erreichen wollt, ({19}) heute eine zweimal so hohe Arbeitslosenquote und eine dreimal so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie wir. Das ist nicht unser Ziel. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13082 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Recht auf ein Guthabenkonto einführen Kontopfändungsschutz sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbraucherrecht auf ein kostenloses Girokonto für alle gesetzlich verankern - zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherrecht auf Basisgirokonto für jedermann gesetzlich verankern - Drucksachen, 17/7823, 17/8141, 17/7954, 17/9798 Buchstabe b bis d Berichterstattung: Abgeordnete Peter Aumer Holger Krestel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die Unionsfraktion. ({1})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um noch einmal die vorausgegangene Debatte und den Beitrag von Herrn Kollegen Middelberg aufzugreifen: Es ist schon erstaunlich, dass die SPD im Wahlkampf durch die Gegend rennt und sagt „Von Frankreich lernen heißt siegen lernen“, dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Jetzt geht es um das Girokonto. Das ist in der Tat ein ernstes Thema. Wir alle wissen, dass man heutzutage das meiste, was man erledigen muss, nicht mehr bar, sondern nur noch unbar erledigen kann. Das bedeutet, dass jemand, der kein Konto hat, von wesentlichen Teilen des Lebens ausgeschlossen ist, dass die Teilhabe nicht möglich ist. Es ist gut und wichtig, dass wir dieses Thema immer wieder analysieren, dass wir uns damit beschäftigen. Deswegen hat die Unionsfraktion zusammen mit der FDP schon im letzten Jahr einen Antrag auf den Weg gebracht, der auch im Bundestag verabschiedet worden ist. In diesem Antrag wurde die Bundesregierung aufgefordert, sich bei den anstehenden europäischen Verhandlungen, die im Übrigen hoffentlich in den nächsten Wochen durch einen guten Vorschlag vorangebracht werden, einzusetzen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, auf ein Girokonto zuzugreifen, dass sich die Kosten für dieses Konto in einem angemessenen Rahmen bewegen und dass, wenn irgendetwas schiefläuft, ein Schlichtungsverfahren stattfinden kann. Noch etwas zum Thema Schieflaufen. Wir können - auch wenn das von der linken Seite hin und wieder gefordert wird - nicht jede Bank verpflichten, jeden Kunden anzunehmen. Es gibt auch Fälle, in denen das schlichtweg nicht geht, in denen es Konflikte gibt. Deswegen ist es durchaus legitim, dass eine Bank sagt: Nein, diesen Kunden kann ich nicht aufnehmen, ich will ihn nicht haben. Für einen solchen Fall gibt es dann das Schlichtungsverfahren. Nach der Verabschiedung des Antrages ist Folgendes passiert: Die Sparkassen haben sich bereit erklärt, ein Bürgerkonto einzurichten. Dieses Bürgerkonto soll genau das, was wir auf europäischer Ebene fordern, umfassen. Dieses Bürgerkonto soll flächendeckend angeboten werden; Sparkassen sind mit über 420 Instituten bis ins kleinste Dorf in Deutschland vertreten. Das Bürgerkonto soll Menschen, die kein oder wenig Einkommen haben, den Zugang zur Teilhabe sichern. Die Kosten für das Bürgerkonto sollen sich in einem angemessenen Rahmen bewegen. Es soll auch einen Schlichtungsmechanismus geben, falls irgendetwas schiefläuft. Man muss feststellen, dass ein Großteil der Problematik, zumindest hier in Deutschland, damit erst einmal ausgeräumt ist. ({0}) Sparkassen sind öffentlich-rechtliche Kreditinstitute, die den Auftrag haben, so etwas zu machen; teilweise sind sie durch Landesgesetze verpflichtet, so etwas zu machen. Sie haben sich dieser Aufgabe auch über den gesetzlichen Rahmen hinaus angenommen. Man kann den Sparkassen wirklich nur Dank und Lob zollen. Sie haben sich nicht nur bereit erklärt, das zu tun. Sie haben durch intensive Zusammenarbeit mit der Presse darauf aufmerksam gemacht, dass es diese Möglichkeit gibt. Das ist gut und richtig. Ich würde mir wünschen, dass die anderen Säulen der deutschen Kreditwirtschaft den Sparkassen an dieser Stelle nachfolgen, weil dadurch eine signifikante Verbesserung für die Verbraucher in unserem Land erreicht werden kann. Das Tolle an dieser Sache ist: Das, was wir von der Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag wollten, nämlich dass ein Schlichtungsverfahren gesetzlich auf den Weg gebracht wird, ist gar nicht mehr nötig. Es ist immer besser, wenn die Dinge durch eine freiwillige Selbstverpflichtung geregelt werden, als wenn wir als Gesetzgeber agieren müssen. ({1}) Bezüglich unserer Forderungen auf europäischer Ebene ist festzustellen: Die Kommission wird in den nächsten Wochen Vorschläge unterbreiten. Wir werden auf europäischer Ebene eine Regelung finden. Da die Problematik zum großen Teil gelöst ist, besteht unseres Erachtens keine Notwendigkeit, jetzt im Sinne Ihrer Anträge weiter zu handeln, insbesondere nicht im Sinne des Antrags der Linken, die sogar ein kostenloses Konto für jedermann fordern. Es gibt kein Menschenrecht auf ein Girokonto. ({2}) Dementsprechend halte ich diese Forderung für recht anspruchsvoll. Man könnte die Debatte an dieser Stelle abschließen. Aber es geht nicht nur um das Girokonto, sondern um den Verbraucherschutz im Allgemeinen. Die Opposition liefert uns immer wieder Steilvorlagen, wenn sie Debatten zum finanziellen Verbraucherschutz fordert. Ich möchte die Gelegenheit gerne nutzen und an dieser Stelle erklären: Keine Bundesregierung hat so viel für den finanziellen Verbraucherschutz getan wie diese Bundesregierung. ({3}) Diese Bundesregierung hat angefangen mit dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, mit dem die Qualität der Wertpapierberatung durch die Einführung von Produktinformationsblättern verbessert worden ist. Wir haben uns auch mit den offenen Immobilienfonds beschäftigt. Diese Bundesregierung hat die europäische OGAWIV-Richtlinie so umgesetzt, dass es zu einem qualitativ besseren Verbraucherschutz im Investmentbereich gekommen ist. Zum Beispiel wurde ein Key-Investor-Information-Document eingeführt. Diese Bundesregierung hat den Bereich der Finanzanlagevermittler reguliert. Sie hat damit einen bisher grauen Bereich des Kapitalmarktes in die Regulierungszuständigkeit geholt und dafür gesorgt, dass es auch in diesem Bereich eine qualitativ gute, sachkundige Beratung und auch eine Haftung gibt. Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass die Provisionen im Bereich der privaten Krankenversicherungen gedeckelt worden sind. Im Übrigen wurden auch neue Provisionsregeln im Bereich der Lebensversicherungen auf den Weg gebracht. Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass das Verbraucherschutzelement zum ersten Mal überhaupt Thema der Aufsicht wurde. Jetzt gibt es Beiräte und Richtlinien. Diese Bundesregierung hat in den letzten Wochen das AIFM-Umsetzungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit machen wir einen riesigen Sprung hinsichtlich der Qualität des Verbraucherschutzes im Bereich der geschlossenen Fonds, aber auch im Bereich der offenen Fonds. Diese Bundesregierung evaluiert momentan die Beratungsprotokolle. Diesbezüglich läuft es noch nicht so gut. Als wir, Schwarz-Rot, das damals eingeführt haben, haben wir gedacht, das würde besser laufen. Das evaluieren wir momentan. Auch diese Regelungen werden wir anpassen. ({4}) Diese Bundesregierung hat ganz viele kleine Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich nenne die Haftungsfristen und die Gebühren für die Nutzung von Geldautomaten. Diese Bundesregierung hat vor allen Dingen eines für den Verbraucherschutz getan: Sie hat mit über 25 Gesetzen und Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Finanzmärkte sicher und stabil sind. ({5}) Meine Damen und Herren, wir sind Ihnen sehr, sehr dankbar, dass Sie uns durch Ihre Anträge immer wieder eine Vorlage bieten, uns immer wieder die Möglichkeit geben, auch hier im Plenum darauf hinzuweisen, welch großartige Arbeit in Bezug auf den sogenannten finanziellen Verbraucherschutz vom Finanzministerium - Staatssekretär Koschyk ist anwesend - und natürlich auch von der Verbraucherschutzministerin, Frau Aigner, erbracht worden ist. Jüngstes Beispiel ist das Gesetz zur Honoraranlageberatung, das wir in der nächsten Woche hier im Deutschen Bundestag verabschieden werden. ({6}) Ich fasse das Ganze einmal zusammen: Das Girokonto ist ein ernstes Thema. Dank der Sparkassen ist das zunächst einmal abgeräumt. Auf europäischer Ebene wird das Ganze institutionell verankert. Auch das wird gut laufen. Zum Verbraucherschutz insgesamt: Keine Bundesregierung hat eine derart gute Bilanz hinsichtlich des Verbraucherschutzes vorzuweisen wie diese Bundesregierung. Ich kann Ihnen eines versichern: Auch in der nächsten Legislaturperiode wird der finanzielle Verbraucherschutz eines der Kernelemente unseres politischen Bemühens sein, um die Finanzmärkte stabiler und sicherer zu machen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die hier gerade angesprochene Bilanz der Bundesregierung im Bereich der Verbraucherpolitik ist leider überhaupt nicht so, wie sie hier dargestellt wurde. ({0}) Sie haben nicht viel mehr geleistet, als eine ganze Reihe dicker Papierberge auf den Weg zu bringen. Sie haben nicht mehr geleistet, als in vielen Sektoren Verfahren auf den Weg zu bringen, die nicht funktionieren. Ich verweise nur auf die verschiedenen Protokolle. Sie haben die Aufsicht so organisiert, dass die schlimmsten und schwierigsten Bereiche unten durchrutschen können. Ich verweise nur darauf, dass die Gewerbeaufsichtsämter für einen gefährlichen Bereich zuständig sind, für den Bereich der freien Berater. Das war eine Folge des Lobbydrucks. Das ist, was Sie hinbekommen haben. Auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes ist man in dieser Republik nicht so weit gekommen, wie man hätte kommen können. Dafür hat die schwarz-gelbe Regierung die Verantwortung. ({1}) Hier singen Sie nun wieder dasselbe Lied: Sie predigen die Selbstverpflichtung der Branche. Ich will hier ausdrücklich sagen: Ich begrüße es, dass die Sparkassen darauf reagiert haben und versuchen, ein erweitertes freiwilliges Angebot zu unterbreiten. Aber wir alle hier wissen doch, dass dieser Weg nicht zu einer Lösung führen wird. Erstens kann es nicht sein, dass sich nur ein Bereich des Finanzsektors ernsthaft dieses Problems annimmt. Wir müssen den gesamten Finanzsektor heranziehen. Zweitens gibt es Selbstverpflichtungen in diesem Bereich seit 1995. Seit 18 Jahren ist nichts passiert. Trotzdem gehen Sie diesen Weg weiter. Das zeigt, dass Sie nicht wollen, dass etwas passiert, dass die Menschen Angebote bekommen. ({2}) Ich will noch einmal sagen, warum das ein wichtiges und dringendes Thema ist: In Deutschland haben nach wie vor etwa 670 000 Bürgerinnen und Bürger keinen Zugang zu einem Girokonto, weil der Appell an die Freiwilligkeit nicht gereicht bzw. nichts genützt hat. Das heißt, man hat keine Möglichkeit, per EC-Karte Geld am Automaten abzuheben, man hat keine Möglichkeit, verschiedene Geldfunktionen wahrzunehmen oder eine Zeitung zu abonnieren; denn dies läuft über Daueraufträge. Dies gilt vor allem auch für Mietzahlungen. Nein, man muss ständig zum Bankschalter und Einzelüberweisungen machen, und das kostet Geld. Dies trifft gerade die Menschen, die nicht genug Geld haben, um sich das erlauben zu können. In der Regel kostet es 10 Euro pro Fall. ({3}) Das sorgt für tiefgreifende Unsicherheit und Ungerechtigkeit, die Sie festschreiben wollen, indem Sie diese Zweiklassengesellschaft nicht beseitigen. ({4}) Ich will Ihnen übrigens auch den Hinweis nicht ersparen, den uns in den Beratungen bzw. in der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, die Bundesagentur für Arbeit vorgetragen hat. Das Fehlen eines Girokontos bedeutet eben auch, dass Bürokratiekosten erzeugt werden. Die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass die dadurch entstehenden Gebühren wie Mahngebühren und anderes sie jährlich etwa 10 Millionen Euro kosten. Darum schlagen wir vor, nicht auf eine Brüsseler Regelung zu warten - Sie haben ja zugestanden, dass Sie deshalb noch keine Regelung wollen -, sondern jetzt hier zu handeln, wie es in anderen Bereichen ja auch gemacht wurde. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die vorsieht, dass ein solches Girokonto eingeführt wird; natürlich würde das eine Verpflichtung für den Sektor bedeuten. Für den Umgang mit Härtefällen wird man eine entsprechende Regelung ins Gesetz aufnehmen können. Das ist kein Argument gegen eine verbindliche Regelung. Wir wollen ein solches Gesetz in Deutschland, wie es schon viele andere Länder in Europa haben. Warum muss Deutschland immer der Letzte im Geleitzug sein? ({5}) Das liegt in der Tat an Schwarz-Gelb. Wir wollen, dass es in Deutschland an der Stelle Gleichberechtigung und gleiche Möglichkeiten gibt. ({6}) - Weil sie das vernünftig gesetzlich auf Bundesebene machen müssen. Das wissen auch Sie. Sie müssen einen vernünftigen Rahmen dafür schaffen; das geht nicht mit Einzelvorgängen. ({7}) Wir sind übrigens auch entschieden dafür, dass man das Ganze mit einem Ausbau der Schuldnerberatung und mit einem Ausbau der Verbraucherberatung begleitet. Denn auch das brauchen wir in diesem Land. ({8}) Das ist konkreter Verbraucherschutz. Wenn Ordnung auf den Märkten herrscht, führt das auch zu einer Stabilisierung der Finanzmärkte. Das ist etwas anderes als das Werfen von Nebelkerzen, wie Sie es seit dreieinhalb Jahren im Verbraucherschutz machen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Holger Krestel das Wort. ({0})

Holger Krestel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004205, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Sieling, bei diesem bunten Strauß von Forderungen, den Sie hier eben ansprachen, ({0}) müssen Sie dazu sagen, dass an jeder dieser Forderungen ein Preisschild klebt. Sagen Sie den Menschen bitte auch, wer das am Schluss bezahlen muss. Die ganz große Mehrheit der Menschen in diesem Land, die ihren Verpflichtungen regelmäßig nachkommt, muss die kleine Minderheit, die dazu nicht gewillt ist, mitfinanzieren. Ich komme zum Inhalt der Anträge. Nachdem wir uns ja nun schon vor circa einem Jahr intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, hat sich eine Menge getan. Das Girokonto ist zur vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherlich notwendig, und wem dies verwehrt bleibt, der erleidet durchaus Nachteile. Wir müssen aber auch da nach den Ursachen fragen. Diese Problematik haben die Regierung und die Koalitionsfraktionen erkannt. Wir haben im September 2012 mit Freude zur Kenntnis genommen, dass alle öffentlich-rechtlichen Sparkassen eine bindende Selbstverpflichtung zur Einrichtung eines Bürgerkontos abgegeben haben. ({1}) Sie umfasst die Zusage, dass die von der Schlichtungsstelle des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes getroffenen Entscheidungen stets von den Instituten als verbindlich anerkannt werden. Dieser Beschluss geht sogar über unsere Forderungen hinaus und erfüllt die Forderungen der Bundesregierung aus dem Bericht zum Girokonto für jedermann. Diese Verfahren sind gerade für den Verbraucher bürokratieärmer und viel leichter zugänglich als der Gang über die ordentlichen Gerichte. ({2}) Übrigens: Sie tun ja immer so, als ob diese Probleme erst in den letzten Jahren entstanden seien. Aber es gibt sie schon viel länger. Die Regelung, die wir jetzt erreicht haben, auch durch unser Handeln, ist etwas, was kein sozialdemokratischer Finanzminister in elf Jahren und keine grüne Verbraucherschutzministerin in vier Jahren geschafft haben. ({3}) Aufgrund der bindenden Selbstverpflichtung der Sparkassen ist hier derzeit kein Handlungsbedarf mehr erkennbar. Die schon seit 1995 existierende, jedoch nicht bindende Empfehlung des Verbandes der deutschen Kreditwirtschaft hat zwar Erfolge gezeigt, konnte jedoch nie die lückenlose Deckung erzielen, die die Sparkasse nun zweifellos erreichen wird. ({4}) Unter uns allen ist es sicher Konsens, dass sich langfristig auch die privaten Institute stärker an der Kontogrundversorgung der Bevölkerung beteiligen müssen. Ein zentraler Punkt des Antrags der Koalitionsfraktionen vom letzten Jahr war schließlich, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, sich bei der Kommission für eine einheitliche Lösung auf EU-Ebene starkzumachen. In Zeiten von SEPA mit einem gesamteuropäischen Zahlungsraum brauchen wir keine nationalen Alleingänge, sondern klare und einfache Regelungen über Grenzen hinweg. ({5}) Deshalb ist die Bundesregierung unserem Antrag gefolgt. Die Kommission hat bereits für das Frühjahr dieses Jahres eine Richtlinie im Hinblick auf den Zugang zu einem sogenannten Basiskonto angekündigt. Auch wenn das Frühjahr erst diese Woche wirklich angekommen ist, müssten wir Ihre Anträge theoretisch jetzt schon wieder an die europäischen Vorgaben anpassen, bevor irgendwelche Regelungen überhaupt in Kraft treten könnten. ({6}) Deswegen lehnen wir diese ab. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sage und schreibe 30 Millionen EU-Bürger besitzen kein Girokonto. Alleine in Deutschland sind schätzungsweise 700 000 Menschen ohne ein Konto. Wir sprechen also beileibe nicht über ein Randphänomen, sondern über eine wichtige Frage sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Für uns als Linke ist seit langem klar, dass hier endlich etwas passieren muss. Kein Girokonto zu haben, schränkt jeden Menschen im Alltag stark ein. Weil ich manchmal das Gefühl habe, dass es noch nicht alle wirklich begriffen haben, möchte ich Ihnen einige Beispiele nennen: Wer kein Girokonto hat, der kann eben nicht bequem per Bankeinzug und Dauerauftrag Miete, Strom- oder Telefonrechnungen bezahlen. Mal eben im Supermarkt mit der EC-Karte zu bezahlen, geht nicht. Und am Geldautomaten Geld abzuheben, funktioniert auch nicht. Man kann auch niemandem Geld überweisen. Welche Menschen sind davon betroffen? - Es sind oftmals diejenigen, die überschuldet sind, die erwerbslos sind oder gleich beides sind, denen die Banken ein Konto verweigern. Kein Girokonto zu haben, wird für sie dann zu einem doppelten Problem. Sie sind dadurch, dass sie keine Kontoverbindung angeben können, benachteiligt, wenn es darum geht, eine Wohnung anzumieten oder eine Arbeit aufzunehmen. Zusätzlich wird es auch noch richtig teuer, denn Barein- und Barauszahlungen lassen sich die Banken mit bis zu 15 Euro pro Überweisung bezahlen. ({0}) Das heißt, die Banken verdienen an der sozialen Notlage dieser Menschen kräftig mit. Hier dürfen wir nicht länger zusehen. ({1}) Genau deswegen setzen wir uns als Linke seit vielen Jahren für ein kostenloses Girokonto für alle ein. Das vertreten inzwischen auch die Sozialverbände. Ich freue mich, dass es mittlerweile Anträge von allen Oppositionsfraktionen, also von Linken, SPD und Grünen, gibt, die im Kern das gleiche Anliegen, nämlich das Recht auf ein Girokonto, verfolgen. Man muss der Ehrlichkeit halber schon sagen - das ist schon erwähnt worden -, dass auch die rot-grüne Bundesregierung hier nichts Wesentliches geändert hat. Auch SPD-Kollegen haben vor einigen Jahren in Plenardebatten noch gesagt: Lasst uns mal auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen setzen. Dann wird es schon irgendwann etwas werden. - Unter Schwarz-Rot wurde es nicht besser. Auch unter Schwarz-Gelb, wie wir heute gehört haben, gibt es keine ernsthaften Bestrebungen, ein Girokonto für alle einzuführen. Alle setzen auf die Selbstverpflichtung der Banken. Das Ergebnis ist, dass Hunderttausende immer noch kein Konto haben. Deswegen sagen wir als Linke: Selbstverpflichtungen bringen es nicht. Wir brauchen endlich eine gesetzliche Regelung. ({2}) Es kann ja sein, dass es bisher kein Recht auf ein Girokonto gibt, Herr Brinkhaus, aber wir als Linke wollen es einführen. Ich finde, das wird höchste Zeit. ({3}) Es gibt immer wieder das eine oder andere Argument, mit dem das Recht auf ein Girokonto abgelehnt wird. Sehr abenteuerlich fand ich das Argument der FDP, dass es irgendjemand bezahlen muss. Da sage ich als Bankkundin ganz ehrlich: Ich sorge mit meinen Kontoführungsgebühren lieber dafür, dass arme Menschen ein Girokonto erhalten, als für die Boni der Bankmanager. Ich würde mich freuen, wenn Sie das auch endlich so sehen würden. ({4}) - Das ist keine marxistische Mottenkiste. Ich wiederhole diesen Zwischenruf, damit es alle hören. Ich finde, es ist ein Grundrecht, dass jeder Mensch am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dass die FDP dies nicht genauso sieht, haben jetzt alle hier noch einmal gehört. ({5}) Folgendes kann ich ebenfalls nicht akzeptieren: Es ist schön, dass die Sparkassen jetzt Basiskonten anbieten werden - das ist gut so -, aber was wir als Linke nicht akzeptieren, ist, dass es wieder die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Banken ist, den armen Kunden ein Bankkonto anzubieten, und sich die privaten Banken die besseren Kunden, die zahlungskräftigen Kunden heraussuchen. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit wirklich nichts zu tun. ({6}) Meine Damen und Herren, wer heute kein Girokonto hat, der kann am sozialen Leben nicht teilnehmen. Wir freuen uns sehr, dass von der EU jetzt endlich eine Initiative kommt. Was ich aber nicht durchgehen lassen kann, ist, dass Sie sagen: Irgendwie ist es doch ganz schlimm, aber warten wir doch mal ab, was von der EU kommt. Ich finde, man kann sich hier nicht hinter der EU verstecken. Man kann auch hier im Deutschen Bundestag endlich das Recht auf ein Girokonto einführen. Das wird höchste Zeit. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kontolosigkeit in Deutschland ist ein ernstzunehmendes Problem; so steht es im mittlerweile sechsten Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der freiwilligen Selbstverpflichtung. ({0}) Da finde ich es schon sehr interessant, dass die Kollegen Brinkhaus und Krestel mit ihren prophetischen Gaben vorhergesehen haben wollen, dass eine weitere Selbstverpflichtung, nämlich der Sparkassen, das Problem in absehbarer Zeit lösen wird. Ich finde, diese Argumentation hat logische Schwächen; aber das müssen Sie unter sich abklären. ({1}) Im Antrag von Schwarz-Gelb zum Basiskonto stehen gute Analysen. Dort steht zu Recht: Die Führung eines Kontos für die Bürgerinnen und Bürger … ist daher Bindeglied zum Wirtschaftskreislauf und Teil der gewöhnlichen Lebensführung. Diese Analyse stimmt; aber eine Analyse ist in der Politik immer nur so gut wie die Taten, die aus ihr folgen, und da haben wir von Ihnen bisher sehr wenig gesehen. ({2}) Immer noch haben schätzungsweise 670 000 Menschen in Deutschland kein Konto und können damit ihr soziales Grundrecht auf Teilhabe am Markt nicht umsetzen. Diese Menschen warten darauf, dass etwas getan wird, dass sie nicht länger vom bargeldlosen Zahlungsverkehr ausgeschlossen bleiben und damit von Verträgen wie bei Telekommunikation, Miete, Strom und anderen Dingen, überhaupt vom Geschäftsverkehr im Netz. Noch immer sind sie gezwungen, ihre Bankgeschäfte hart an der Grenze zur Illegalität abzuwickeln: über Konten von Freunden oder Verwandten. Scham und peinliche Situationen bleiben ihnen damit nicht erspart. Einige Kolleginnen und Kollegen sind schon auf das Thema Baranweisungen eingegangen. Das ist ein lebenspraktisches Beispiel, mit dem Sie sich einmal in die Situation eines Menschen ohne Konto hineinversetzen können, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP. Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten für jede Transaktion von Ihrem Konto aus zwischen 3 und 7 Euro Gebühren zahlen: wenn Sie den Beitrag zum Fußballverein Ihres Sohnes zahlen, wenn Sie die Miete zahlen, wenn Sie für den Strom zahlen, wenn Sie fürs Wasser zahlen, wenn Sie Ihrer Tochter, die auswärts studiert, 50 Euro überweisen - jedes Mal zwischen 3 und 7 Euro Gebühren. Da bleibt gerade bei armen Menschen am Ende des Monats nichts übrig. ({3}) - Herr Krestel, wenn Sie sagen: „Die Leute sind selbst schuld, sie wollen sich in der Hängematte ausruhen“, dann sagt das mehr über die FDP aus als über die Menschen ohne Konto. ({4}) Die Menschen, die kein Konto haben, brauchen die Hilfe des Gesetzgebers. Ich finde die Wurstigkeit, mit der Sie dieses Thema hier behandeln, schwer erträglich. ({5}) - Wenn Ihnen die Moral nicht sympathisch ist, dann schauen Sie sich die Zahlen an: Auch die öffentliche Hand erwartet sich eine Entlastung von Bürokratie und, wie die Vorredner angesprochen haben, von Kosten in Höhe von 10 Millionen Euro. Wir fordern Sie auf: Sparen Sie dem Steuersäckel und den Betroffenen Ärger und unnötige Ausgaben! ({6}) Schaffen Sie einen Rechtsanspruch auf ein Girokonto auf Guthabenbasis! Verstecken Sie sich nicht länger hinter Europa! - Das ist auch in anderen Bereichen nicht sinnvoll. - Schaffen Sie den Rechtsanspruch, machen Sie noch etwas Sinnvolles mit dem Rest dieser Legislatur! Ich danke Ihnen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann für die Unionsfraktion.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer kennt ihn nicht, den Hauptmann von Köpenick? Ein arbeitsloser Schuster befindet sich in einem Teufelskreis: ohne Arbeit keine Wohnung, und ohne Wohnung keine Arbeit. - Die Geschichte mit dem Girokonto für jedermann erinnert an diesen Teufelskreis: Die Betroffenen, die Verbraucher ohne Konto, stecken darin. Sie sind häufig gebrandmarkt durch einen Schufa-Eintrag. Dabei beginnt der Weg in die Schuldenfalle häufig harmlos: erster Handyvertrag, Bestellungen im Internet, gegebenenfalls mit einer Kreditkarte, die Schulden häufen sich, irgendwann wird das Konto geschlossen. Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass eine Teilnahme am Wirtschaftsleben in Deutschland ohne Girokonto kaum möglich ist: Lohn, Wasser, Strom, nahezu alle Geschäfte des Alltags werden über die Bank abgewickelt. Ganz im Ernst: Haben Sie schon einmal versucht, eine Wasserrechnung bar zu bezahlen, oder mussten jeden Monat beim Vermieter anklopfen, um einen Geldumschlag zu überreichen? Sollten Sie das tun, werden Sie mehr als schräge Blicke erhalten und müssen mit kritischen Fragen und auch Nachforschungen rechnen. Ich glaube, in dieser Analyse sind sich alle Fraktionen in diesem Haus absolut einig. ({0}) Kontolosigkeit führt also nicht nur dazu, dass Betroffene in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden, sondern tatsächlich auch zu Ansehensverlust und damit zu sozialer Ausgrenzung. Natürlich ist das für die meisten Bürgerinnen und Bürger in diesem Land kein Thema; denn in diesem Land werden mehr als 94,5 Millionen Girokonten geführt. Aber es gibt eben auch Menschen ohne Girokonto, und zwar unfreiwillig, und diese brauchen unsere Hilfe und unseren Schutz. Dafür haben wir uns als CDU/CSU-Fraktion in den letzten Jahren aktiv eingesetzt; denn wir sind der Überzeugung, dass in Deutschland jeder Bürger und jede Bürgerin ein solches Girokonto haben können muss. Deshalb hatten wir im letzten Juni einen Antrag eingebracht, der gemeinsam mit der FDP-Fraktion hier beschlossen wurde, und zwar mit Erfolg; denn es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Sparkassen reagiert haben ({1}) und seit Oktober letzten Jahres für jede Privatperson ein Guthabenkonto einrichten, die dies wünscht. ({2}) Lieber Herr Sieling, ich habe mich nach Ihrer Wortmeldung an eine Sparkasse gewandt und gefragt, ob gar keine Daueraufträge eingerichtet werden. - Nein, das ist falsch. Es werden nach Vereinbarung Daueraufträge eingerichtet, und es werden - hier ist eine gewisse Fehldeutung entstanden - keine anderen Gebühren als von jedem anderen Bankkunden erhoben. ({3}) Ich finde, das ist nur gerecht. Bitte überzerren Sie an dieser Stelle also nicht. ({4}) Ich glaube, es steht uns gut an, den Sparkassen an dieser Stelle auch einmal Danke zu sagen; denn sie tun damit etliches für das Gemeinwohl. Ihre Situation ist etwas anders als die der Privatinstitute; denn es sind öffentlichrechtliche Sparkassen, die übrigens auch durch Landesgesetze geprägt sind. Ich frage mich deshalb schon, wie das eigentlich in Brandenburg oder auch in Nordrhein-Westfalen aussieht, wo Sie Regierungsverantwortung tragen. Haben Sie eigentlich dafür gesorgt, dass eine entsprechende Verpflichtung in die Landesgesetze aufgenommen wird? Ich glaube, nicht. Damit sage ich: Fangen Sie doch auch einmal vor der eigenen Haustür an! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Sieling?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich, sehr gerne.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Kollegin, Sie haben jetzt, wie auch andere Rednerinnen und Redner der Koalition, die Leistung der Sparkassen angesprochen. Meine Frage ist: Für wie viele der geschätzten 670 000 Menschen ohne Girokonto ist aufgrund Ihres Vorgehens, für das Sie sich so loben, ein Girokonto konkret eingerichtet worden? Wie viele Menschen mehr haben bei den Sparkassen ein Girokonto bekommen? ({0}) - Da Sie sich hier so loben, werden Sie dazu ja eine Zahl nennen können.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann vieles sagen, allerdings bin ich keine Hellseherin. Das Bürgerkonto ist am 1. Oktober 2012 eingeführt worden. Die Sparkassen haben bis dato keine Zahlen zur Verfügung gestellt; denn auch für die Kunden, um die es heute geht, gilt das Bankgeheimnis, auf das Sie sonst übrigens immer sehr viel Wert legen. ({0}) Ich finde, dass hier tatsächlich eine Zweiklassengesellschaft entstehen würde, wenn die Sparkassen gezwungen würden, genau das zur Kenntnis zu geben. Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen heute keine Zahlen nennen. Ich bin aber auch nicht so unseriös, das tun zu wollen. Noch einmal: Seit dem 1. Oktober 2012 werden diese Konten eingerichtet. Sie können bei Ihren Sparkassen vor Ort nachfragen. Ich habe dies getan - auch in Vorbereitung dieser Debatte. Dabei wurde mir gesagt: Bislang ist niemand abgewiesen worden. ({1}) Damit entsteht sicherlich ein Dilemma: Wie sieht es mit Informationen für die Betroffenen aus? Lieber Herr Sieling, Sie haben die Verbraucher- und Schuldnerberatung zu Recht angesprochen. Das war Ihr entsprechender Beitrag. Deswegen bekümmert es mich natürlich besonders, dass gerade die Mittel für die Verbraucher- und Schuldnerberatung in den von Ihnen geführten Ländern dramatisch zusammengestutzt worden sind. ({2}) Wenn Ihnen wirklich daran gelegen wäre, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Rechte kennen, dann würden Sie nicht genau an dieser Stelle kürzen. ({3}) Das ist nur Verbraucherschutz auf dem Papier, der aber mit der Realität nichts zu tun hat. Jetzt kommen wir zu Ihren Anträgen, die übrigens über ein Jahr in der Schublade gelegen haben; denn diese Anträge datieren aus dem Jahr 2012. Auf einmal kommt die Forderung: Wir wollen einen nationalen Alleingang machen. - Klar können wir das als Gesetzgeber entscheiden. In der Sache sind wir für ein solches Basiskonto für jedermann. ({4}) Aber macht ein solcher Alleingang, wie die Opposition ihn fordert, jetzt Sinn? Nein, denn der akute Handlungsbedarf ist durch das Angebot der Sparkassen entschärft worden. In den kommenden Wochen, nicht in einigen Jahren, wird die Europäische Kommission dazu einen Richtlinienvorschlag vorlegen. Die Richtlinie ist dann automatisch in nationales Recht umzusetzen. Es bringt wirklich überhaupt nichts, wenn wir jetzt in Deutschland Regelungen treffen, die vielleicht schon in einem Jahr wieder hinfällig sind. ({5}) Das ist Aktionismus. Damit nutzen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern in keiner Weise. ({6}) Ihnen nützt jede europäische Regelung, die ihnen die Möglichkeit eröffnet, ein Konto zu eröffnen, und zwar zu einem angemessenen Preis. Aber es braucht mehr. Das beste Recht nützt nämlich niemandem, wenn er nichts davon weiß. Deswegen brauchen wir auf europäischer Ebene Informationspflichten und Regelungen. Wir müssen auch über den Zugang zu Schlichtungsverfahren sprechen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wissen nach wie vor nicht, dass es ein solches Verfahren gibt, und zwar kostenlos. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hängen Sie Ihr Herz nicht an veraltete und überholte Anträge. Unterstützen Sie uns doch lieber, uns und die Bundesregierung, und zwar dabei, Brüssel zu überzeugen. Dort liegt jetzt der Ball. Entsprechend einem Motto unseres Altbundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer, dessen Todestag heute ist, sage ich Ihnen: „Jede Partei ist für das Volk da und nicht für sich selbst.“ ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Kerstin Tack hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was sagen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern? Wir sagen seit vielen Jahren: Auch wir finden es alle nicht gut, dass es kein Konto für jedermann gibt. - Aber was ist die Lösung für dieses Problem? Die Antwort ist: Wir sehen keinen Regelungsbedarf in Deutschland. Die Bundesregierung sagt dazu, dass sie nicht zuständig ist und nichts regeln will. Sie will nicht aktiv eingreifen, um die Situation der 670 000 Betroffenen zu verbessern; das soll Brüssel regeln. Die Bundesregierung weiß nicht, ob, aber sie hofft, dass irgendwann in Brüssel eine Richtlinie dazu auf den Weg gebracht wird, diese will sie dann ratifizieren. Bis dahin nimmt sie die Lage, die wir bitterlich beklagen, einfach hin. Frau Connemann hat mit großer Herzenswärme dargestellt, wie schwierig die Situation der Menschen in Deutschland ist, die kein Konto haben. Dennoch werden die Betroffenen mit dem Problem alleingelassen, da die Angelegenheit in Deutschland nicht geregelt wird. - Ich finde das skandalös. Ich finde das deshalb skandalös, weil wir uns doch in der Analyse, das nicht zulassen zu wollen, einig sind. Dann verstehe ich nicht, wie man hier sagen kann: Die Lösung dieses Problems schieben wir auf die europäische Ebene, und irgendwann, wenn wir dann ratifizieren dürfen - wir wissen gar nicht, in welchem Jahr das ist -, werden wir uns auch in Deutschland bewegen. - Ich halte das für nicht in Ordnung. ({0}) Ich will es mit den Worten des Soziologen Ulrich Beck sagen: „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“. - Genau so gehen Sie mit einem Thema um, das für die betroffenen Menschen existenziell ist. Es stellt sich die Frage: Was wollen wir in Deutschland für die Leute tun? Nur durch unser Handeln kann sich ihre Situation verändern. ({1}) Es ist gut, wenn die Sparkassen die Einrichtung eines entsprechenden Kontos anbieten; natürlich. Aber es ist doch unsere Verantwortung, da politischen Handlungsbedarf zu formulieren. Warum sträuben wir uns, hier zu handeln, wenn wir uns einig sind, dass wir die Situation der 670 000 Betroffenen so schnell wie möglich verändern wollen? Es gibt doch keinen Grund mehr, die Sache nicht heute schon zu regeln: zuerst in Deutschland und dann hoffentlich bald auch in Europa. Wir freuen uns, wenn es in ganz Europa einen Rechtsanspruch auf ein Girokonto gibt. Aber heute können wir auf nationaler Ebene regeln. Das wollen wir, und dafür werben wir mit unseren Anträgen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9798. Vizepräsidentin Petra Pau Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7823 mit dem Titel „Recht auf ein Guthabenkonto einführen - Kontopfändungsschutz sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8141 mit dem Titel „Verbraucherrecht auf ein kostenloses Girokonto für alle gesetzlich verankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7954 mit dem Titel „Verbraucherrecht auf Basisgirokonto für jedermann gesetzlich verankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Förderung Deutscher Auslandsschulen ({0}) - Drucksache 17/13058 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staatsministerin Cornelia Pieper. ({2})

Not found (Gast)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag, an dem die erste Lesung des Auslandsschulgesetzes stattfindet, ist ein schöner Tag für die deutschen Auslandsschulen. Für mich ist das sogar ein historischer Moment; denn es ist lange her, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern eine gesetzliche Regelung für Schulen - in diesem Fall den Entwurf eines Auslandsschulgesetzes - auf den Weg gebracht hat. Ich habe mich, ehrlich gesagt, selbst ein bisschen gewundert, dass es bisher kein politisches Anliegen einer Bundesregierung oder eines Parlaments gewesen ist, für die deutschen Auslandsschulen ein Gesetz einschließlich eines Förderanspruchs entsprechend den Privatschulgesetzen der Länder zu erlassen. Was habe ich vorgefunden, als die Bundesregierung 2009 ihre Arbeit aufnahm? Ich habe 132 verwirrte und verunsicherte Auslandsschulen, denen die Mittel gerade gekürzt worden waren, sowie ein angedachtes Reformkonzept vorgefunden, das zunächst allein auf Einsparungen setzte. Nach kurzer Zeit zogen sich dann die Bundesländer sogar teilweise aus ihrer bis dahin übernommenen Finanzverantwortung zurück. Plötzlich sollte der Bund auch noch die Hälfte des Versorgungszuschlages der von den Ländern beurlaubten Beamten übernehmen. Wir sind uns, glaube ich, einig: Die Deutschen Auslandsschulen sind Visitenkarten der deutschen Bildung und Kultur in der Welt. Sie tragen wesentlich zum Ansehen Deutschlands und zur Vermittlung europäischer Werte bei. Sie sind für uns alle Leuchttürme der interkulturellen Begegnung und des friedlichen, demokratischen Miteinanders. ({0}) Deswegen freue ich mich, dass wir diesen Gesetzentwurf heute gemeinsam beraten können. Für mich ist es immer wieder schön, zu sehen - das geht Ihnen sicher nicht anders, wenn Sie die Deutschen Auslandsschulen besuchen -, mit welchem Eifer, mit welcher Leidenschaft nicht nur die Lehrer, sondern eben auch die Schüler an diesen Schulen bei der Sache sind. Investitionen in die Köpfe dieser jungen Generation, insbesondere auch in Krisenregionen dieser Welt, sind für mich die beste Form der Friedenspolitik dieser Bundesregierung. ({1}) Die Stärkung der Deutschen Auslandsschulen war mir ebenso wichtig wie eine Qualitätsoffensive. Ich möchte dafür auch meinen Mitstreitern im Unterausschuss für Auswärtige Kulturpolitik und allen Fraktionen, die immer wieder darauf gedrängt haben und mich ermuntert haben, diesen Gesetzentwurf voranzubringen, danken. Diese Regierung hat sich darüber hinaus zum Ziel gesetzt, das Netz der PASCH-Schulen bis zum Ende des Jahres 2014 auf 2 000 Schulen auszuweiten. Bis Ende des Jahres werden es bereits 1 700 Schulen sein. Klar ist: Qualität und Ausbau sichert man nicht mit dem Rotstift, sondern durch eine angemessene finanzielle Grundlage. Dieses Argument ist angekommen. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel in die Deutschen Auslandsschulen und das PASCH-Netzwerk investiert. 2012 waren es 238 Millionen Euro, 2013 waren es 244 Millionen Euro. Das ist ein Höchststand in der Auswärtigen Kulturpolitik. ({2}) Wie Sie wissen, hat der Bund die Deutschen Auslandsschulen seit ihrem Bestehen durch die Vermittlung von deutschen Lehrkräften und über die Schulbeihilfe in jeweils unterschiedlicher Höhe gefördert. Diese Förderung erfolgt nach dem Zuwendungsrecht - das sind Leistungen ohne Rechtsanspruch - und ist jedes Jahr erneut vom Haushaltsgesetz abhängig. Schulen sind aber keine kurzfristigen Projekte, über die je nach Haushaltslage entschieden werden sollte. Sie sind Institutionen, in denen entscheidende Weichen für das Leben junger Menschen gestellt werden. Schulen brauchen Planungssicherheit; das ist der Kernpunkt des Gesetzes. Wir wollten Planungssicherheit schaffen. Das Gesetz definiert klare Kriterien, nach denen jede Deutsche Auslandsschule einen gesetzlichen Anspruch auf Förderung erlangen kann. Erstens. Hat eine Schule es geschafft, sich zu etablieren, und gezeigt, dass sie konsequent Schüler zu Abschlüssen führen kann, dann wird ihr die weitere Förderung garantiert. Zweitens. Dadurch, dass der gesetzliche Förderanspruch an die vergebenen Abschlüsse gebunden wird, setzen wir zudem Anreize für die Vermittlung deutscher und deutschsprachig geprägter internationaler Abschlüsse. Diese klaren Kriterien bedeuten natürlich nicht, dass Schulen im Aufbau oder kleine Schulen an wichtigen Standorten, die die Kriterien nicht erfüllen können, zukünftig nicht mehr gefördert werden. Für ihre Bedürfnisse ist das flexible Zuwendungsrecht weiterhin das richtige Instrument. Mein Ziel ist es aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihnen gemeinsam zukünftig möglichst vielen Schulen diesen gesetzlichen Rechtsanspruch zu ermöglichen. Die bisherige Förderung erfolgte als Fehlbedarfsfinanzierung. Das heißt: Geht es einer Schule wirtschaftlich gut, so wird ihre Förderung reduziert. Das klingt im ersten Augenblick nicht falsch. Es bedeutet aber am Ende, dass gutes Wirtschaften an den Auslandsschulen nicht belohnt wird. Das kann aber nicht richtig sein. Deshalb fördern die Bundesländer ihre freien Schulen nach Schülerzahl bzw. Unterrichtsbedarf und nicht nach Fehlbedarf. In Zukunft soll daher die finanzielle Förderung der Schulen anhand des Unterrichtsbedarfs für die angestrebten Abschlüsse berechnet werden. Für einen bestimmten Umfang an Unterrichtsaufwand bekommt eine Schule künftig unabhängig von ihren Eigenmitteln einen festen Förderbetrag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch das Reformkonzept geben wir den Deutschen Auslandsschulen, die ohnehin den größeren Teil ihres Budgets selbst erwirtschaften müssen, mehr Autonomie. Das heißt, sie haben ein Budget, über das sie selbst verfügen können, und sie können darüber hinaus selbst Lehrkräfte einstellen. Für die Deutschen Auslandsschulen bedeutet die neue Förderstruktur Planungssicherheit und neue Planungsmöglichkeiten. ({3}) Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich noch einmal allen danksagen, die mitgearbeitet haben. Ich möchte anfangen bei den Fördervereinen, bei den Elternvereinen, die die Träger der Schulen sind. Das sind verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Deutschen Auslandsschulen unterstützen. Mein Dank gilt aber auch dem Weltverband Deutscher Auslandsschulen für seine konstruktiv-kritische Haltung bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfs und des Reformkonzeptes. Mein Dank geht an die Zentralstelle für Deutsche Auslandsschulen, an die Vertreterinnen und Vertreter der Länder, des BLASchA, des Bund-Länder-Ausschusses für Schulische Arbeit im Ausland, und natürlich auch an Sie für Ihr Interesse an der Beratung. In einer Zeit, in der sich diese Bundesregierung intensiv um einen strukturell ausgeglichenen Haushalt bemüht, zeigt die Schaffung eines gesetzlichen Förderanspruchs für Deutsche Auslandsschulen, dass Bildung für diese Regierung höchste Priorität hat. ({4}) Deswegen - last, but not least - noch einmal herzlichen Dank an das Bundesfinanzministerium in personam Steffen Kampeter. Es hat uns geholfen, den Streit mit den Ländern über die Versorgungsrückstellungen für die vermittelten Lehrkräfte zu lösen. Wir, der Bund, werden jetzt den hälftigen Versorgungszuschlag übernehmen. Meine Damen und Herren, ich kann mir die Spitze nicht verkneifen: Wenn Bund und Länder in der Bildung kooperieren, kommt immer etwas Gutes dabei heraus. Das sollten wir uns auch in Zukunft zum Ziel machen. Als Allerletztes will ich noch sagen: Als altgediente Parlamentarierin bin ich mir bewusst, dass, wie es Peter Struck schon gesagt hat, kein Gesetz aus dem Deutschen Bundestag so herauskommt, wie es hineingegangen ist. Ich freue mich auf die konstruktive Diskussion mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und habe lediglich noch den Wunsch, dass wir diesen Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode verabschieden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die SPD-Fraktion.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade die Debatte in dieser Woche hat gezeigt, dass die Notwendigkeit globaler Zusammenarbeit über nationale und kulturelle Grenzen hinweg für uns heute dringender denn je ist. Das ist keineswegs nur aus wirtschaftlichen Gründen so. Auch politisch ist es von eminenter Bedeutung, das DeutschAngelika Krüger-Leißner landbild in der Welt zu stärken und dazu beizutragen, dass es keinen Schaden nimmt. Die Krise der Europäischen Union führt uns vor Augen, wie anfällig die Meinungsbildung unserer europäischen Nachbarvölker ist. Noch vor wenigen Jahren gab es für die Deutschen hohe Beliebtheitswerte. Inzwischen sind sie massiv eingebrochen. Das ist festzustellen, wenn wir nach Südeuropa schauen. Ich denke, Sie stimmen mit mir überein, wenn ich sage: Im Falle einer Krisenverschärfung läge darin eine Gefahr für ein einiges und friedliches Europa. Die deutsche Außenpolitik insgesamt sieht sich gerade in diesen Zeiten vor die große Herausforderung gestellt, dagegenzusteuern und Vertrauen zurückzugewinnen. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass die Pflege kultureller Beziehungen zum Ausland ein Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik ist. Seit Jahrzehnten arbeiten die deutschen Mittlerorganisationen in aller Welt mit großem Erfolg daran, ein positives Bild von Deutschland in der Welt zu vermitteln. Neben dem Goethe-Institut, dem DAAD und weiteren Institutionen sind es vor allem die Deutschen Auslandsschulen, die hier eine ganz hervorragende Arbeit leisten. Das sind die 140 anerkannten Auslandsschulen mit ihren unterschiedlichen Abschlüssen und die 870 ausländischen Schulen, die das deutsche Sprachdiplom als Abschluss anbieten. Im globalen Maßstab knüpfen sie Netze internationaler Zusammenarbeit über alle kulturellen Grenzen hinweg, und sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für eine friedliche Zukunft in unserer Welt. Zugleich schaffen sie die Voraussetzung für eine gute wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Gastländern, die beiden Seiten nützt und die Staaten und Gesellschaften über Kontinente hinweg einander näherbringt. Die Deutschen Auslandsschulen vermitteln gerade den jungen Menschen der Gastländer deutsche Sprache und Kultur und schaffen somit nachhaltige Bindungen zu Deutschland, die auch erkennbar in die Gesellschaft der Gastländer hineinwirken. Zugleich erwerben Kinder von Deutschen, die im Ausland tätig sind, an diesen Schulen nicht nur einen deutschen Schulabschluss; vielmehr erwerben sie in der Begegnung mit den Jugendlichen der Gastländer auch ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz. Das ist genau die Qualität, die in unserer Welt immer stärker gefragt ist, im Ökonomischen genauso wie im Politischen. Interkulturelle Kompetenz erwerben natürlich genauso die einheimischen Schüler, die sich an unseren Auslandsschulen ausbilden lassen. Viele von ihnen lassen sich für die deutsche Kultur begeistern und finden nach ihrem Schulabschluss den Weg an die deutschen Universitäten. Sie entscheiden sich, wenn wir großes Glück haben, auch dafür, ihre berufliche Laufbahn bei uns aufzunehmen. Ich brauche, glaube ich, nicht breit auszuführen, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung in unserer Gesellschaft auf diese in jeder Hinsicht hochqualifizierten jungen Menschen angewiesen sind. Das sind genau die Fachkräfte, an denen es uns in naher Zukunft stark mangeln wird. Um diese Menschen für uns zu gewinnen, müssen wir allerdings noch stärker an einer ausgeprägten Willkommenskultur in unserem Land arbeiten. ({0}) Dazu brauchen wir auch einen Mentalitätswandel. Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können unmittelbar nachvollziehen, wie wertvoll das deutsche Auslandsschulwesen für die deutsche Außenpolitik ist. Es ist das älteste Instrument der Auswärtigen Kulturpolitik und zugleich ihr stärkster Pfeiler. Wir sollten alles dafür tun, diesen Mittler deutscher Sprache und Kultur in der Welt zu stärken. Mehr denn je sind wir auf seine Arbeit angewiesen. Das hat sich wohl auch die Bundesregierung gedacht, als sie sich vor drei Jahren das Ziel steckte, endlich Planungs- und Finanzierungssicherheit für die deutschen Schulen im Ausland zu schaffen. Genau drei Jahre ist es her, dass uns die Vorlage eines Gesetzes für die Auslandsschulen versprochen wurde. Damals war sogar noch die Rede von einem Auslandsschulfinanzierungsgesetz, später dann von einem Auslandsschulwesengesetz. Wir haben das von Anfang an begrüßt, Frau Staatsministerin, und haben gesagt: Wir unterstützen das. Was uns nun vorliegt, ist ein ganz mageres und dürftiges Ergebnis. Viel zu lange hat es gedauert. Ich denke nur an das Gezerre mit den Ländern um den Versorgungszuschlag. ({1}) Ich begrüße es nun ausdrücklich, dass wir endlich auf einem guten Weg sind, dazu eine vernünftige Verwaltungsvereinbarung in der nächsten Woche unter Dach und Fach zu bringen. ({2}) Dann ist endlich Klarheit in dieser Frage. Wir haben aber auch immer gesagt: Am Versorgungszuschlag darf dieses Gesetz nicht scheitern. Große Erwartungen waren mit der Ankündigung dieses Gesetzes geweckt worden. Umso größer ist bei allen Beteiligten die Enttäuschung, zuallererst bei den Schulen selbst, aber auch bei den Mitgliedern des Unterausschusses. Der erste Entwurf, den wir im Frühjahr letzten Jahres gesehen haben, hatte noch die Intention der Kolleginnen und Kollegen getroffen. Darin war erstens die gesetzliche Finanzierung für alle Auslandsschulen vorgesehen, und zweitens waren auch die Sprachdiplomschulen einbezogen. Bezeichnenderweise war dieser Entwurf mit „Auslandsschulwesengesetz“ überschrieben. Jetzt ist es ein Auslandsschulgesetz, und es ist ein Rumpfgesetz. Da sind die 870 Schulen ausgeschlossen, die das Deutsche Sprachdiplom anbieten. Sie sind noch nicht einmal erwähnt. Das Deutsche Sprachdiplom ist ein Abschluss, dessen Bedeutung künftig weiter zunehmen wird. Darum gehören aus unserer Sicht die DSD-Schulen ins Gesetz. ({3}) Es soll bei der freiwilligen Förderung bleiben. Daran wollen wir nichts ändern. Wir müssen davon ausgehen: Was nicht im Auslandsschulgesetz vorkommt, ist einfach zur Disposition gestellt. - Wir dürfen uns nichts vormachen: Im nächsten Jahr, wenn die Schuldenbremse zu wirken beginnt, wird es ein böses Erwachen geben. Wir dürfen die DSD-Schulen nicht aufs Spiel setzen; denn das Deutsche Sprachdiplom ist ein von der Kultusministerkonferenz geschaffener Abschluss und basiert auf einem umfassenden Unterricht. Das kann man nicht ersetzen durch irgendwelche Sprachprüfungen oder Kurse. Hier geht es um Qualität und Nachhaltigkeit von Bildungsabschlüssen. Fakt ist, dass wir uns alle - alle Fraktionen - im Unterausschuss dafür eingesetzt haben, dass die DSDSchulen im Gesetz bleiben. Der Bundesrat fordert es und auch die GEW. Auch der WDA, der ja eigentlich in einer gewissen Finanzierungskonkurrenz zu den DSD-Schulen steht, befürwortet die Berücksichtigung dieses Abschlusses im Gesetz. Wenn wir unseren Blick jetzt einmal auf die 140 Auslandsschulen richten, dann müssen wir leider feststellen, dass gemäß den Kennziffern und Kriterien leider nicht alle 140 anerkannten Auslandsschulen die gesetzlich garantierte Förderung erhalten sollen, sondern nur 45. Nur diese 45 sind im Gesetz enthalten. Und die anderen? Die anderen wären weiterhin angewiesen auf die Kassenlage des Bundes. ({4}) So, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das einfach nicht. ({5}) Planungssicherheit und Finanzierungssicherheit sehen doch anders aus. Die Förderfähigkeit soll an 20 gleiche Abschlüsse in einem Jahr gebunden werden, und das können eben nur 45 Schulen vorweisen. Denn die Zahl der Abschlüsse hängt ja mit dem Standort und den äußeren Bedingungen zusammen. Ich will Beispiele nennen: Man kann doch nicht so eine große Schule wie die Deutsche Schule in Schanghai oder die Deutsche Schule Alexander von Humboldt in Lima mit 1 400 Schülern nach den gleichen Maßstäben bewerten wie etwa die Deutsche Schule in Changchun in China mit 66 Schülern oder die Deutsche Schule Tripolis mit 49 Schülern. Alle Standorte sind wichtig. Ich will kurz hinzufügen, dass in Teheran eine besondere Situation vorliegt. Die Schule in Teheran wäre, wenn wir das Gesetz so beschließen würden, heraus. Sie hatte im letzten Jahr 13 Abschlüsse, und in diesem Jahr werden es wahrscheinlich auch nur vier sein. Damit würde sie natürlich nicht die Kriterien des Gesetzes erfüllen. Wir sehen gerade an diesem Schulstandort, welche Fehler und welchen Mangel dieses Gesetz hat. Wir dürfen das nicht zulassen. Deutsche Außenpolitik sieht einfach anders aus. ({6}) Ich kann übrigens auch alle Haushälter beruhigen. Die gesetzliche Förderzusage für alle anerkannten Auslandsschulen ist haushaltsneutral. Darüber ist sich auch der WDA im Klaren. Es wird nicht mehr Geld geben. Jetzt - das hat, glaube ich, Frau Staatsministerin in ihren letzten Worten anklingen lassen - ist das Parlament gefordert, für die notwendigen Nachbesserungen zu sorgen, damit das Gesetz seinen Namen auch verdient. Wir, alle Fraktionen im Unterausschuss, haben in den letzten drei Jahren einen Großteil unserer Arbeit den Deutschen Auslandsschulen gewidmet. Viele von uns waren vor Ort, haben sich die Schulstandorte angeschaut, haben Gespräche geführt, und die Ergebnisse sind in unsere Beratungen eingeflossen. Vor allen Dingen dem Vorsitzenden, der ja auch noch zu Wort kommt, gebührt hier großer Dank für sein besonderes Engagement. ({7}) Unsere gemeinsame Position - ich wiederhole nur, was wir letztens beraten haben - ist zum einen, die Förderfähigkeit für alle anerkannten Auslandsschulen gelten zu lassen, und zum anderen, die DSD-Schulen im Gesetz zu verankern. Das ist für mich das Allerwichtigste. Dann erfüllen wir, glaube ich, auch das, was wir versprochen haben, nämlich mit diesem Gesetz Planungssicherheit zu geben. Wir haben vereinbart, dass wir einen Änderungsantrag gemeinsam erarbeiten. Ich hoffe, dass alle entschlossen dabei bleiben und für die notwendigen Nachbesserungen kämpfen. Dieses Gesetz wäre, wenn es so bliebe und verabschiedet würde, noch nicht einmal ein erster Schritt. Wir würden Schulen erster und zweiter Klasse schaffen, ({8}) und das wollen wir nicht. ({9}) Als Letztes will ich nur noch die Zusage -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das geht eigentlich nicht mehr, Kollegin KrügerLeißner. Sie haben es ja gesagt: Sie haben noch Beratungsbedarf und haben auch die Chance, in den Ausschüssen darüber zu reden. Vertagen Sie das bitte.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber ich sage: Wir stehen zu unserem Wort. ({0}) Das war das Einzige, was ich noch sagen wollte. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wäre ganz wichtig gewesen, was Frau Krüger-Leißner noch sagen wollte. Ich spreche für sie. ({0}) Wir haben uns schon überlegt, wie wir der Bundesregierung gemeinsam über die Hürden helfen können. Meine Vorrednerin hat einen ganz wichtigen Punkt angesprochen, nämlich dass in Zeiten, in denen es mit der Beliebtheit Deutschlands nicht ganz so gut bestellt ist - als Beispiel nenne ich die Debatten im Mittelmeerraum -, die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eine zusätzliche Bedeutung bekommt. Es ist an dieser Stelle gut, darauf hinzuweisen, dass Griechenland, das oft als Beispiel genannt wird, zurzeit den größten Anstieg an Deutschkursen weltweit zu verzeichnen hat. Eine unserer erfolgreichsten deutschen Schulen im Ausland ist das Gymnasium in Thessaloniki. Ganz nebenbei darf man auch darauf hinweisen, dass das erste Goethe-Institut, das nach dem Krieg eröffnet worden ist, auf Einladung der griechischen Regierung in Athen eröffnet worden ist, wofür wir alle sehr dankbar sind. ({1}) In dem Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ bemühen wir uns um eine substanzielle und auf die Kraft des Arguments gegründete Willensbildung. Auch beim heutigen Gesetzentwurf gibt es den alten Streit - wie immer bei Regierung und Opposition -: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Zumindest ist es gut, dass wir schon einmal ein Glas auf dem Tisch haben. Darüber sollten wir uns einig sein. Insofern verdienen die Bundesregierung und Frau Pieper unsere Anerkennung, dass nach all den Schwierigkeiten dieses gesetzliche Gefäß auf dem Tisch steht. Das Parlament hat die Aufgabe, es zu füllen. Es ist gut, dass es den Gesetzentwurf gibt. Der Gesetzentwurf, Frau Staatsministerin Pieper, geht letztlich zurück auf eine Entschließung des Bundestages vom 30. Mai 2008. Dort haben wir die Grundprinzipien formuliert. Herr Kampeter, der hier im Saal sitzt, hat gemeinsam mit der Kollegin Monika Griefahn, an die ich ebenfalls in Dankbarkeit denke, großen Anteil daran, dass die Grundzüge dieser Entschließung festgelegt werden konnten, die der Bundestag dann einstimmig angenommen hat. Das sollte hier schon Erwähnung finden. Die Koalition hat danach die Forderung nach einem Auslandsschulgesetz ausdrücklich in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Der diesbezügliche Teil der Koalitionsvereinbarung ist klar und gut formuliert, nämlich von mir. ({2}) Das sei nur nebenbei erwähnt. - Der zuständige Unterausschuss hat am 5. April 2011 die Bundesregierung noch einmal gebeten, diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Es ist gut, dass wir nun zum ersten Mal einen Rechtsrahmen haben, in dem sich die Deutschen Auslandsschulen - wenn wir die Sprachdiplomschulen mitzählen, handelt es sich um fast 400 000 Schülerinnen und Schüler in Zukunft bewegen können. Natürlich gibt es Dinge, die wir noch ergänzen müssen. Nach dem jetzigen Entwurf erhalten nicht alle klassischen Auslandsschulen die Garantie der Sicherheit, was wir aber wollen. Es soll für sie alle ein Leistungsanspruch bestehen. Es fehlt - wir werden das gemeinsam ergänzen; mit dem Kollegen Leibrecht habe ich schon Formulierungsvorschläge ausgearbeitet - die Einbeziehung der PASCH-Sprachdiplomschulen. Diese müssen einbezogen sein. Ferner müssen wir eine Regelung über die Aufgabenwahrnehmung treffen. Hierbei sollten wir die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen wesentlich berücksichtigen. Ich bin froh, dass die Bundesregierung heute bei der Einbringung des Gesetzes die Arbeit der Zentralstelle, die seit 50 Jahren das deutsche Auslandsschulwesen prägt, gewürdigt hat. Ich denke, dass dies einer gesetzlichen Erwähnung wert ist. ({3}) Wir sind insofern an einem positiven Wendepunkt. Wir stehen, schon wegen der Verzahnung des Bundes mit den Ländern, vor der Aufgabe, dieses Gesetz entweder scheitern zu lassen oder gemeinsam durchzubringen. Ich bin aufgrund der guten Zusammenarbeit in unserem Gremium ziemlich überzeugt, dass wir Letzteres schaffen werden. Ich habe ein bisschen in den Archiven gekramt. Deutschland hatte zwischen 1870 und 1914 900 Auslandsschulen. Heute sind wir, wenn wir die Sprachdiplomschulen dazu zählen, bei etwas über 1 000. Das ist gut, aber die Zahl ist auch nicht so, dass wir deswegen gleich ohnmächtig werden müssten. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wir können hier noch einiges zulegen, lieber Deutscher Bundestag, liebe Regierung und liebe Regierungen der Länder. Die Schule der Nation ist die Schule; sie ist auch das Ansehen der Nation, und wir können damit die beste Reklame machen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dr. Jochimsen das Wort. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorweg: Immer wenn ich in den vergangenen Jahren eine Deutsche Auslandsschule besucht habe, sei es als Journalistin oder als Parlamentarierin, war ich tief beeindruckt vom Engagement der Lehrer, Schüler und auch der Eltern für ihre Schule - Frau Staatsministerin hat das vorhin auch erwähnt - und besonders von der pädagogischen Atmosphäre in diesen Schulen. Ich habe dabei gelernt, dass diese Schulen für Kinder und Jugendliche in der Fremde eine besondere Bedeutung haben, sie ihr oft nicht einfaches Heranwachsen positiv unterstützen und schützen, auch die Beziehung zu ihrer Heimat übrigens. Schüler in Schanghai haben das einmal so ausgedrückt: Deutschland, das sind die Großeltern und die Schule hier. Dass es um so etwas Kostbares wie Kindheit und Jugend geht, wenn wir heute das Gesetz über die Förderung der Auslandsschulen diskutieren, sollten wir bedenken, und wir sollten das auch in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen, nicht nur unser Image nach außen und wirtschaftliche Standortfaktoren in aller Welt. Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden, Lernbegierigen in einer internationalen Welt, Begegnungen mit Gleichaltrigen anderer Kulturen und Traditionen Suchenden soll dieses Gesetz dienen, ihren Lehrerinnen und Lehrern und - nicht zu vergessen - den Kindern und Jugendlichen aus den Gastländern ebenfalls, die sich auf deutsche Kultur und auch auf Begegnung mit Gleichaltrigen anderer Herkunft einlassen. Das bitte ich zu bedenken. ({0}) Insofern: Ja, es ist gut, dass dieser Gesetzentwurf der Regierung jetzt endlich vorliegt. Der Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ hat seit Jahren fraktionsübergreifend - die Linke war stets dabei darauf gedrungen, dass die Deutschen Auslandsschulen gesetzlich abgesichert werden und nicht länger mit der auf ein Jahr begrenzten Förderung nach Zuwendungsrecht arbeiten müssen. Aber was erleben wir nun, in dem Moment, in dem das schon so lange als dringend notwendig erachtete Gesetz vorliegt? Von 141 bisher geförderten Auslandsschulen soll nur ein Drittel gesetzlich abgesichert werden. Für alle anderen soll es so weitergehen wie bisher. Nur die großen Schulen mit 20 Abiturabsolventen pro Jahr oder mehr fallen unter das neue Gesetz. Gut für sie, aber ganz und gar schlecht, weil das nun auch für die große Mehrheit der anderen gesetzlich festgeschrieben wird. Man kann es eigentlich kaum glauben, Frau Staatsministerin, aber in dieser großen Gruppe der vom Gesetz ausgeschlossenen befinden sich traditionsreiche deutsche Schulen wie zum Beispiel die Schule in Neu-Delhi, tapfere Neugründungen im früheren Ostblock wie die Schule in Bratislava und tapfere Einrichtungen, mehrfach erwähnt, die gegen Unwägbarkeiten jahrzehntelanger Diktatur angehen wie die Schule in Teheran. Die Schule in Neu-Delhi gibt es seit 1961. 2007 erhielt sie die Genehmigung zur Einrichtung einer Oberstufe. 2012 haben sieben Schüler das Abitur bestanden. Diese Zahl aber reicht nicht für die gesetzliche Absicherung. Deshalb müssen 180 Kinder und Jugendliche sowie 22 Lehrer weiter wurschteln wie bisher. Die Schule in Bratislava: eine neue Schule, gegründet 2005, die einzige deutsche Schule in der Slowakei, eine Begegnungsschule, auf der sowohl deutsche wie auch einheimische Abschlüsse abgelegt werden können, über 200 Kinder und Jugendliche, 26 Lehrer. Der Ausbau erfolgt schrittweise; ab 2015/16 soll es einen vollständigen Gymnasialzug geben. Bis die Schule in Bratislava den Kriterien des vorliegenden Gesetzes genügt, wird es Jahre dauern. Wollen wir diesem Unsinn wirklich zustimmen? ({1}) Das waren nur zwei Beispiele von ungefähr 100. Ich finde, wenn man schon nach jahrelangen Forderungen endlich ein Gesetz macht, dann muss es doch einen Nutzen haben und nicht wenige Privilegierte und viele Leidtragende schaffen. Was ist dann der Nutzen dieses Gesetzes? ({2}) Wie gesagt: Es geht überall gleichermaßen um Kinder, Jugendliche, Heranwachsende und ihre Bildungschancen, ihre Lernverhältnisse, die gerade in der Fremde die Lebensverhältnisse stark prägen. Wird das Gesetz in der jetzigen Fassung umgesetzt, konterkariert es sein angegebenes, laut gepriesenes Ziel, den deutschen Schulen im Ausland endlich eine bessere Finanzierungs- und Planungssicherheit zu verschaffen. Ein Auslandsschulgesetz muss für alle bisher geförderten und anerkannten Schulen gleichermaßen gelten. ({3}) Nur dann wird es seinem Namen und seiner Zielsetzung gerecht. Insofern war der hoffnungsvollste Satz in Ihrer Rede, Frau Staatsministerin, der letzte: Sie haben uns mehr oder weniger versprochen: So wie wir das Gesetz heute beraten, wird es hoffentlich am Ende nicht aussehen. Ich danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Claudia Roth das Wort. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ganz ruhig. Ich bin ganz moderat. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon öfter erlebt, dass die Auslandsschulen wunderbare Brücken in die Welt sind, sprachlich, kulturell und auch wirtschaftlich. Wir wollen Kindern dort die Möglichkeit geben, Deutsch zu lernen, aber auch eine offene, tolerante, integrative Bildungskultur zu entdecken und Demokratie im Dialog der Schule praktisch zu erleben. Deswegen begrüßen wir es sehr, dass das Auslandsschulwesen nun endlich auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden soll. Denn eine solche Grundlage schafft Vertrauen und Sicherheit für eine nachhaltige Arbeit an den Schulen, die oft über gemeinnützige Trägervereine organisiert sind - verbunden mit den entsprechenden Haftungsrisiken für die jeweiligen Vereinsvorstände. Im Laufe der Beratungen hat die Regierung den Entwurf leider immer wieder abgespeckt. Zwischenzeitlich war es sogar fraglich, ob wir es in dieser Legislaturperiode überhaupt schaffen, das Gesetz auf den Weg zu bringen. Die vorliegende Fassung hat gravierende Mängel; meine Vorrednerinnen und Vorredner haben darauf hingewiesen. Deswegen werben wir, die Mitglieder des Unterausschusses, gemeinsam - über alle Fraktionen hinweg - für deutliche Nachbesserungen. Denn es reicht nun wirklich nicht aus - Luc hat es gerade angesprochen -, wenn überhaupt nur ein knappes Drittel der bisher geförderten 141 Schulen von der vorgesehenen gesetzlichen Regelung erfasst wird ({0}) und die anderen Schulen auf der alten, unverbindlicheren Grundlage weiterarbeiten müssen, vor allem, weil sie die vorgesehene Mindestzahl bei den Abschlüssen nicht erreichen. Wir haben es doch erlebt - wir waren mit dem Ausschuss dort -, was das für die Schule in Teheran, eine Schule mit so engagierten Lehrern und einem wunderbaren Direktor, bedeuten würde. Diese Schule ist für viele, für Lehrer, Kinder und Eltern, eine Art Insel für Demokratie, für Menschenrechte, eine Insel der Hoffnung auf eine bessere, eine andere Zukunft. Das müssen wir fördern. Wir dürfen das nicht ausschließen, indem wir hierarchisieren, sodass die Schule in Teheran zu einer zweiten Klasse gehören würde, nur weil sie noch nicht genügend Abschlüsse verzeichnen kann. ({1}) Ein zweites Beispiel. Rund um Ostern war ich in Erbil in Irakisch-Kurdistan. Es handelt sich um eine Schule im Aufbau, die mit unglaublicher Begeisterung von den Lehrerinnen und Lehrern, von Eltern und nicht zuletzt von den Schülerinnen und Schülern angenommen wird. Ich habe mit Mädchen aus Mönchengladbach und aus Kassel gesprochen, für die diese Schule, auf der sie Deutsch sprechen und lernen können, ein Stück weit eine Verbindung in ihre Auch-Heimat Deutschland ist. Auch solche Schulen brauchen dringend eine klare und nachhaltige Unterstützung. ({2}) Dass die PASCH-Schulen, ein sehr erfolgreiches Projekt, das 1 500 Schulen mit Deutschangeboten weltweit vernetzt, überhaupt nicht vorkommen, das ist nicht nachzuvollziehen. Das ist ein wirklicher Makel. Bitte helfen Sie alle mit - vor allem die Bundesregierung! -, dass diese Lücken und diese Mängel im Gesetz überwunden werden. Ich will aber darauf hinweisen - Frau Pieper hat sich ja echt eingesetzt -, dass es schon ein Problem war, was die Länder in dieser ganzen Zeit getrieben haben. Wenn sie ihre Kompetenzen für Kultur und Bildung betonen, hinterher aber die Beiträge für die Versorgungszulagen der Lehrkräfte einseitig kürzen, dann ist das ein Trauerspiel. Ich sage das an die Adresse aller Länder, ich nehme keines aus. ({3}) Gut ist, dass jetzt ein Modus Vivendi gefunden werden konnte und der Bund einspringt; denn sonst wäre die Lage für die Pädagogen und Pädagoginnen, die mit großer Empathie ihre Arbeit machen, absolut demotivierend. Mit Verlaub, lieber Peter Gauweiler, ein bisschen skurril finde ich es schon, wenn die bayerische Staatskanzlei dem Gesetzentwurf eifrigst hinterherprotokolliert, dass - ich zitiere -: der Bund … auch in Zukunft die im Rahmen der deutschen Auslandsschularbeit notwendigen Kosten für die erforderlichen Reisen der Beauftragten der Kulturministerkonferenz der Länder übernehmen wird. Ich wünsche den Vertretern der Länder eine gute Auslandsreise. ({4}) Ein letztes großes Anliegen will ich noch ansprechen, das für uns wirklich sehr wichtig ist: die Stipendien für talentierte Kinder aus Familien, die die Schulgelder nicht aufbringen können. Wir sollten darauf achten, dass das deutsche System, nämlich dass bei uns der Zugang zu den Schulen eben nicht nur für die Geldeliten möglich ist, stärker gefördert wird und dass eine größere soziale Claudia Roth ({5}) Offenheit in die Gastländer hineingetragen wird. Diese gute Tradition sollte beibehalten werden. Ich hätte mir schon gewünscht, dass mehr Mittel aus dem groß angekündigten 12-Milliarden-Sonderprogramm für Bildung der Bundesregierung in diesen Bereich geflossen wären. Die hat man aber für anderes, zum Beispiel für das Stopfen von Haushaltslöchern, genutzt. Das ist eine verpasste Chance für mehr soziale Inklusion im Auslandsschulwesen, die wir dringend brauchen. Hier unterscheidet sich die deutsche Kultur tatsächlich deutlich positiv von den anderen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die Unionsfraktion. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns ist im Ausland oder bei Besuchen ausländischer Delegationen, mit denen wir hier in Berlin sprechen, auf Politikerkolleginnen oder -kollegen aus anderen Ländern gestoßen, die uns im Verlauf des Gespräches stolz berichten, dass sie auf einer Deutschen Auslandsschule gewesen sind. ({0}) Gerade in diesen Gesprächen kann man förmlich mit Händen greifen, wie aus dieser Erinnerung an den Schulbesuch eine besondere Verbundenheit mit Deutschland geworden ist. Man muss sich einmal anschauen, wer alles auf einer Deutschen Auslandschule war - es gibt entsprechende Übersichten -: Das ist beispielsweise die frühere griechische Außenministerin Dora Bakojannis, Patricia Expinosa Cantellano, die ehemalige mexikanische Außenministerin, oder Tarek Kamel, der ehemalige ägyptische Minister für Kommunikation und Informationstechnologie. Ich wollte auf diesen Aspekt Deutscher Auslandsschulen eingehen, weil dadurch deutlich wird, dass die Menschen, die auf diese Schulen gehen, später in ihren Ländern zur Elite gehören, jedenfalls in vielen Fällen, und sich ihre Verbundenheit mit Deutschland, die sie durch den Besuch dieser Schulen in ihrer Kindheit erfahren haben, weiter auswirkt, weil sie sich auch später, wenn sie eine Funktion in der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Politik ihres Landes innehaben, mit Deutschland besonders verbunden fühlen. In der Zeit der Globalisierung zählen genau diese persönlichen internationalen Netzwerke. Sie zählen in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und auch in der Politik. Deshalb gibt es kaum etwas Besseres oder Nachhaltigeres, um die Stellung Deutschlands in der Welt, unseren Einfluss in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, hier insbesondere in der Außenpolitik, zu stärken, als in das deutsche Auslandsschulwesen zu investieren. Aus diesem Grunde ist ein Gesetz, mit dem das deutsche Auslandsschulwesen auf eine rechtliche Grundlage gestellt wird, sicherlich eine gute Sache. Dass der Gesetzentwurf verbessert werden soll, haben die Fachleute hier vorgetragen. Ich hoffe, dass wir zuversichtlich sein können, dass der Unterausschuss „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik“ dazu gemeinsame Vorschläge unterbreiten wird. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich beim Unterausschuss für die geleistete Arbeit bedanken. Selbstverständlich bedanke ich mich auch bei Ihnen, Frau Staatsministerin, als Vertreterin der Bundesregierung. Ich will auch nicht unerwähnt lassen, dass in den schwierigen Verhandlungsgesprächen mit den Ländern - wir haben einiges darüber gehört - Kanzleramtsminister Pofalla eine wichtige Rolle gespielt hat, um die Kühe vom Eis zu bekommen. ({1}) Steffen Kampeter, ich glaube, auch ohne die Hilfe des Finanzministeriums beim Geradeziehen und Querschreiben wäre es nicht gegangen. Deshalb freuen wir uns heute, dass wir so weit sind. 80 000 Schüler besuchen 141 Deutsche Auslandsschulen. 60 000 davon sind nicht deutsche Schüler. Sie kommen entweder aus den Partnerländern oder aus Drittländern. Ich beziehe mich dabei allein auf die Schulen, die von diesem Gesetz erfasst werden. Ich möchte mich auch bei den Lehrerinnen und Lehrern bedanken - das sind etwa 2 000 -, die sich in einem solchen Auslandseinsatz befinden. Das ist für manche nicht einfach. Die Länder sind auch nicht gleichermaßen attraktiv, um das einmal deutlich zu sagen. Die Lehrerinnen und Lehrer sind diejenigen, die das Ganze mit Leben erfüllen. Leider wird nicht immer - das habe ich in Gesprächen mit manchen, die aus dem Ausland zurückgekommen und in den Schuldienst in Deutschland zurückgekehrt sind, erfahren - das, was sie in der Zwischenzeit gemacht haben, so anerkannt, wie ich mir das wünschen würde. Ich glaube, wir müssen in den Gesprächen mit den Ländern deutlich machen, dass der Einsatz als Lehrer oder Lehrerin an einer Deutschen Auslandsschule nicht karriereschädlich sein darf. Im Gegenteil: Man sollte sich darüber freuen, dass jemand diese Aufgabe wahrgenommen hat und internationale Erfahrung an die heimische Schule mitbringt, vielleicht auch Schulkontakte. An dieser Stelle liegt, glaube ich, noch manches im Argen. ({2}) Ich will zum Schluss noch auf einen Punkt hinweisen. Ich glaube aufgrund meiner Reisetätigkeit, dass wir in diesem Bereich so etwas Ähnliches brauchen wie das Gesetz, über das wir heute diskutieren. Dabei geht es um die deutschen Universitäten im Ausland. In Oman, in Amman, in Kairo und in Vietnam, wo ich gerade war, haben wir Universitäten, die sich „Deutsche Universität“ nennen. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass das ganz unterschiedliche Konstrukte mit ganz unterschiedlichen Trägerschaften, Einflussmöglichkeiten usw. sind; aber bei allen steht auf dem Türschild „Deutsche Universität“. In Kasachstan - dort habe ich mir das noch nicht angeschaut - soll das auch so sein. Ich weiß von deutschen Professoren, die dort tätig sind, dass das Markenlabel „Deutsche Universität“ dort schon ziemlich angekratzt ist, einfach weil die Finanzierung und vieles andere nicht stimmen. Meine Empfehlung und Bitte an den nächsten Bundestag ist, dass man sich das einmal anschaut und sich fragt, ob man nicht Grundsätze vorgeben will, die erfüllt sein müssen, damit sich eine Hochschule „Deutsche Universität XY“ nennen kann. Wir müssen dann eben auch den Rahmen abstecken, in dem die notwendigen Kooperationen mit Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland mit allem, was dazugehört, organisiert werden. Mit dem Auslandsschulgesetz machen wir jedenfalls einen wichtigen Schritt. Ich hoffe, dass es noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Abschließend hat ebenfalls für die Unionsfraktion der Kollege Dr. Thomas Feist das Wort. ({0})

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es muss noch einmal gesagt werden: Obwohl wir als Parlament Druck gemacht haben und obwohl die Staatsministerin von Anfang an gesagt hat, dass wir hier ein Gesetz brauchen, lagen viele Schwierigkeiten im Weg. Diese sind jetzt weitgehend ausgeräumt. Das ist wirklich toll. Frau Staatsministerin, da haben Sie etwas Tolles auf den Weg gebracht. ({0}) Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf. Der Name macht schon deutlich, worum es geht. Im parlamentarischen Verfahren werden wir uns natürlich genau den Fragen widmen, die jetzt noch zu klären sind. Sicher ist es für die Auslandsschulen nicht befriedigend, wenn nur ein Drittel von ihnen momentan in den Geltungsbereich des Gesetzes fällt. Deswegen empfehle ich für unsere parlamentarischen Beratungen, darüber nachzudenken, wo wir die Auslandsschulen wirklich als Mittel unserer auswärtigen Bildungspolitik, also als auswärtige Politik mit verstehen. Denn es macht natürlich einen Unterschied, ob wir mit großen Schulen an bestimmten Standorten präsent sind, oder ob wir sagen: Gerade in Krisengebieten müssen wir Bildungsangebote Deutschlands vorhalten. Darüber müssen wir noch beraten. ({1}) In 71 Ländern sind wir mit den Deutschen Auslandsschulen präsent. Es ist von Ihnen, Kollege Polenz, schon angesprochen worden: 60 000 von den 80 000 Schülerinnen und Schülern kommen nicht aus Deutschland. Ich denke, das ist eine Besonderheit der Deutschen Auslandsschulen. Denn dort können wir unterhalb der diplomatischen Ebene, die normalerweise Kinder und Jugendliche überhaupt nicht in angemessener Weise in den Blick nimmt, junge Botschafter einer deutschen Bildungs- und Kulturrepublik in den Ländern ausbilden. Ich denke, das müssen wir noch verstärken. Ich freue mich ganz besonders, dass heute zwei leibhaftige Vertreter hier anwesend sind. Auf der Tribüne - so ist mir gesagt worden - sitzen zwei junge Damen aus Kolumbien, die dort an der Deutschen Auslandsschule lernen. Sie sind genau die Hoffnungsträger, die wir in späteren Netzwerken brauchen. Vielen Dank. ({2}) Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, den die Redner vor mir noch nicht angesprochen haben, nämlich dass wir an den Deutschen Auslandsschulen selbstverständlich neben den allgemeinbildenden Abschlüssen auch berufsbildende Abschlüsse vergeben, dass wir teilweise auch die Funktion von Berufsschulen übernehmen. Diese Aufwertung einer dualen Bildung, wie wir sie hier in Deutschland kennen, ist ein ganz wichtiges Segment, das es auszubauen gilt. ({3}) Deswegen bin ich froh, dass ich mit meinem Kollegen Schummer, aber natürlich auch mit anderen Kollegen aus der Koalition momentan an einem Antrag arbeite, in dem wir genau dieses Potenzial der Deutschen Auslandsschulen aufgreifen, um duale Bildung genau dorthin zu exportieren, wo es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit gibt und wo wir mit unseren Bildungsangeboten eine echte Alternative bieten können. Ich möchte noch einmal den Fokus zurück aufs Inland legen. Ich bin nicht so oft im Ausland unterwegs, aber man kann sich ja auch mit Menschen in seinem Wahlkreis unterhalten. In Leipzig habe ich mich mit Leuten unterhalten, die als Pädagogen an Deutschen Auslandsschulen waren. Sie haben mir von dem Problem berichtet, dass dies in der späteren Karriere ein Nachteil ist. Ich habe dann mit den Vertretern der Bildungsagentur darüber gesprochen, warum das so ist. Das hängt damit zusammen, dass oftmals im Inland der falsche Eindruck entsteht, dass die Deutschen Auslandsschulen eine Art Eliteschulen sind, die mit Deutschland überhaupt nichts zu tun haben. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wir müssen genau diese interkulturellen Kompetenzen, die die Lehrer mitbringen, wenn sie aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren, aufgreifen und verstärken, und wir müssen im Inland deutlich machen, wie wichtig die Deutschen Auslandsschulen auch und gerade für die deutsche Bildung sind. ({4}) Abschließend möchte ich den Lehrerinnen und Lehrern an den Deutschen Auslandsschulen danken. Es ist schon angesprochen worden: Es gibt Länder, in die man als Lehrer gern geht. Es gibt aber auch Länder, für die das nicht unbedingt gilt. Indem die Lehrerinnen und Lehrer an den Deutschen Auslandsschulen Deutschland oftmals für eine lange Zeit im Ausland vertreten, prägen sie ganz wesentlich auch das Bild unserer Außenpolitik im Ausland. Das ist ihr Verdienst. Vielen Dank an dieser Stelle! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/13058 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({0}), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Informationsfreiheit weiter entwickeln - Drucksache 17/13097 - b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({1}), Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2}) - Drucksache 17/9724 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3}) - Drucksache 17/12490 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({4}) Gisela Piltz Jan Korte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir legen heute nochmals einen Antrag vor, die Informationsfreiheit endlich entschlossen weiterzuentwickeln. Informationsfreiheit und Transparenz waren und sind ein zentrales demokratiepolitisches Anliegen meiner Fraktion. Bei der Informationsfreiheit geht es uns darum, ein Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Zugang zu Informationen festzusetzen, vor allem gegenüber der Verwaltung, zum Beispiel den Ministerien. Hier gibt es großen Handlungsbedarf. Das haben jüngst die Diskussionen über das Abendessen von Herrn Ackermann im Bundeskanzleramt, ({0}) die wichtige Debatte um die Nichtoffenlegung der Medaillenvorgaben für Olympia 2012 und die Verwendung der öffentlichen Mittel in diesem Bereich noch einmal ganz deutlich gezeigt. ({1}) Auch das bestätigt: Informationsfreiheit ist Voraussetzung für die notwendige Transparenz in einer modernen Demokratie. Transparenz aber ist kein Selbstzweck, kein Allheilmittel; vielmehr ist die Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit von politischen Entscheidungen und Verwaltungshandeln die Grundlage einer modernen demokratischen Gesellschaft. ({2}) Sie ist Voraussetzung für Partizipation und Mitbestimmung, für das Suchen und Finden ausgewogener Entscheidungen nach einem offenen Diskurs. Transparenz ist die Vorbeugung gegen Korruption und Misswirtschaft mit öffentlichen Mitteln. Sie ist Voraussetzung für öffentliche Kontrolle durch Politik und Zivilgesellschaft. Letztlich erhöht die Transparenz auch die Legitimation und die Akzeptanz von politischen Entscheidungen. Das ist eine gute Sache. ({3}) All das gewährleistet mehr Transparenz. Deswegen ist ihre Stärkung ein Gebot der Stunde, Kollegin Piltz. Gleichzeitig ist uns völlig klar, dass natürlich - Achtung, dieser Punkt wird Ihnen gefallen - berechtigte Interessen der Öffentlichkeit, zum Beispiel die Sicherheit und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung, oder Privater, zum Beispiel der Datenschutz und die Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, geschützt werden müssen. Aber Geheimhaltung muss die Ausnahme sein. Dafür bedarf es einer wirklichen Abwägung der InteresDr. Konstantin von Notz sen, die nicht ausschließlich, wie heute praktisch immer der Fall, zulasten der Informationsfreiheit ausfallen darf. ({4}) Deswegen, Herr Kollege Sensburg, brauchen wir eine Reform der Informationsfreiheit in Deutschland. Andere Länder, auch die EU selbst, sind weiter; sie haben bereits ein Grundrecht auf Informationszugang. Wir haben hier Nachholbedarf, meine Damen und Herren, und das trotz des Erfolgs auf Bundesebene, dass es 2006 zur Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes kam - als Ergebnis jahrelanger, beständiger grüner Überzeugungsarbeit und sehr guter rot-grüner Regierungsarbeit. ({5}) - Geben Sie sich einen Ruck und klatschen Sie! Ich habe praktisch die SPD gelobt. ({6}) Trotzdem gibt es noch immer keinen Paradigmenwechsel in der Verwaltung. Transparenz als Grundlage für Partizipation wird viel zu häufig überwiegend als Bedrohung wahrgenommen. Hier müssen wir alle gemeinsam mehr Überzeugungsarbeit leisten, aber das allein reicht eben nicht. Interessierte kritische Bürger sind keine Last, sie sind ein Glücksfall für unsere Demokratie. ({7}) Deswegen appelliere ich an Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns jetzt gemeinsam handeln. Wir haben ja auch an anderer Stelle schon Kompromisse gefunden. Zur Informationsfreiheit haben wir in Speyer gemeinsam einen Bericht in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist ein 500 Seiten starker Bericht. Auf 15 Seiten stehen sehr konkrete Handlungsempfehlungen, zum Beispiel die Einführung einer Abwägungsklausel zur Stärkung des Informationsanspruchs, die Ausgestaltung des Rechtsweges, Open Data und die Stärkung der Rolle des Bundesbeauftragten für die Informationsfreiheit, um nur einige Punkte zu nennen. Die Reaktion darauf war bislang - leider keine. Schwarz-Gelb schweigt erschrocken, verdrängt und sitzt aus. Sie haben in Sachen Informationsfreiheit und Transparenz, einem der drängendsten Themen bei der Modernisierung unserer Demokratie, nichts unternommen. Das lang angekündigte Open-Data-Portal der Bundesregierung ist ein Flop. Es bietet nur Zugang zu Informationen, die vorher bereits anderswo öffentlich waren. Die Daten sind mangels offener Lizenzen nicht kommerziell nutzbar. Und es ist derzeit - hoffe ich - wegen technischer Mängel nicht erreichbar. Es lässt sich nicht vertuschen: Schwarz-Gelb hat in puncto Informationsfreiheit und Transparenz komplett versagt. Open Data, Open Government, Transparenz, Mitbestimmung scheinen von dieser Bundesregierung leider nicht erwünscht. Aber wir müssen jetzt ernst machen, Informationsfreiheit weiterentwickeln, ein Grundrecht schaffen. Denn nur damit können wir die Informationsrechte wirklich stärken. Ganz herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die Unionsfraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir beschäftigen uns heute zum wiederholten Male mit einem Lieblingskind der Grünen, mit der Informationsfreiheit. Schon im letzten Jahr haben wir uns in der ersten Lesung ausgiebig mit dem Gesetzentwurf der Grünen zur Schaffung eines Informationszugangsgrundrechts beschäftigt. Zwischenzeitlich gab es am 24. September des letzten Jahres die Sachverständigenanhörung. Ich bitte Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, noch einmal nachzulesen, was die Sachverständigen aller Fraktionen ausgeführt haben. ({0}) Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen ist nämlich der Auffassung, dass es keines Informationszugangsgrundrechts in Deutschland bedarf, dass die bisherigen einfachgesetzlichen Regelungen vollkommen ausreichen. ({1}) Es gibt ein bestehendes, wirksames, einfachgesetzliches Informationsfreiheitsgesetz, das die Verwaltung und die Rechtsprechung natürlich in vollem Umfang bindet. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen. Schon durch das heutige Informationsfreiheitsgesetz aus dem Jahre 2006 ist sowohl die Rechtsprechung als auch die gesamte Verwaltung gebunden. ({2}) Ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass durch eine sehr ausdifferenzierte und mittlerweile sehr umfangreiche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes anerkannt wird, dass es ein grundsätzliches Interesse der Allgemeinheit an Transparenz und Informationen gibt, zuletzt bestätigt durch ein Urteil aus dem Jahre 2010. Bereits im Jahr 2001 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals festgelegt, dass der Zugang zu Informationen ein wesentlicher Bestandteil unseres Demokratieprinzips ist. Neben dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf es also keiner Änderung des Grundgesetzes durch die Aufnahme eines neuen Informationszugangsgrundrechts. Stephan Mayer ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein sehr wesentlicher rechtspolitischer Fehler liegt aus meiner Sicht dergestalt in Ihrem Gesetzentwurf, dass, wenn wir dieses Informationszugangsgrundrecht schaffen würden, wir natürlich die Gesetzgebungskompetenz der Länder aushöhlen würden. Es gibt ja viele Länder, die bereits ein Informationsfreiheitsgesetz haben. Manche Länder haben noch keines. Wenn wir als Bund jetzt ein generelles Informationszugangsgrundrecht schaffen würden, dann würden wir natürlich in elementarer Weise in die Gesetzgebungskompetenz der Länder eingreifen. ({4}) Auch aus dieser Erwägung heraus wäre es falsch, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({5}) Ich habe mich natürlich auch mit Ihrem Antrag beschäftigt, der die Weiterentwicklung der Informationsfreiheit zum Inhalt hat. Zunächst war ich sehr hoffnungsvoll. Ich habe gedacht, der Lernprozess bei Ihnen hat eingesetzt, weil Sie ja durchaus etwas selbstkritisch schreiben: „Transparenz ist kein Selbstzweck und kein Allheilmittel.“ ({6}) Ich wurde aber - das muss ich offen sagen - sehr schnell desillusioniert: Als ich weiterlas, musste ich erkennen, dass das nur ein kleiner Fortschritt war. Im weiteren Verlauf des Antrags sind Sie nämlich sehr schnell wieder in das bekannte Rollenverhalten zurückgefallen und haben - meines Erachtens holzschnittartig - festgestellt, dass die gestiegene Zahl von Informationsersuchen gegenüber vielen Bundesministerien und anderen auskunftspflichtigen Bundeseinrichtungen ein Indiz dafür sei, dass das Informationsfreiheitsgesetz einer Erweiterung bedürfe. Sie haben den Evaluierungsbericht der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer aus dem letzten Jahr erwähnt, lieber Herr Kollege von Notz. Dieser umfangreiche Evaluierungsbericht zeigt sehr schön, dass man die Dinge etwas differenzierter betrachten muss: Wenn man sich anschaut, von wem und aus welchen Gründen Auskunftsersuchen gestellt werden, kommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass der Großteil der Antragsteller Partikularinteressen verfolgt, dass es eben nicht die Breite der Bürgerschaft ist, die diese Anträge stellt. ({7}) Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich möchte Partikularinteressen beileibe nicht diskreditieren. Nur, wenn man sich das genau ansieht, stellt man fest: Die Auskunftsersuchen an Bundesministerien und andere Behörden stammen von einer kleinen Anzahl von meistens Anwälten und Journalisten, aber nicht von der Breite der Bürgerschaft. ({8}) Schade finde ich auch, dass Sie in Ihrem Antrag nicht darauf eingegangen sind, dass man der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer zufolge bei allen Erwägungen, den Auskunftsanspruch des Informationsfreiheitsgesetzes zu erweitern, berücksichtigen muss, dass dadurch in der Verwaltung erhebliche Ressourcen gebunden werden. Diesen Auskunftsersuchen zu entsprechen, ist kostenintensiv; dafür werden zusätzliche Mitarbeiter benötigt. Es wäre insgesamt ein sehr ressourcenintensives Unterfangen, den Auskunftsanspruch des Informationsfreiheitsgesetzes auch noch auszuweiten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, man muss auch sehen: Die Entwicklung ist, seit das Informationsfreiheitsgesetz im Jahr 2006 verabschiedet wurde, in den Behörden, aber auch in den Unternehmen nicht stehen geblieben. Viele Behörden haben seitdem eigene Informationsbeauftragte benannt, die Bürgerinnen und Bürgern, die berechtigte Auskunftsbegehren an sie richten, jederzeit zur Verfügung stehen. Auch viele Unternehmen haben sich hier in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund sehe ich keine Notwendigkeit, Ihrem Antrag zu folgen, die Ausnahmevorschrift in § 6 des Informationsfreiheitsgesetzes - den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen - einzuschränken. Sie behaupten, dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse absolut geschützt seien. Das ist nicht so, lieber Herr Kollege von Notz. Es gibt hier eine ausdifferenzierte Rechtsprechung, darunter ein lesenswertes Urteil aus dem Jahre 2009. In diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht ganz klar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Unternehmer nachweisen muss, dass er ein berechtigtes Interesse daran hat, dass ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis nicht weitergegeben wird. Die Abwägungsklausel, die Sie fordern, ist vollkommen überflüssig, weil eine solche Abwägung bereits stattfindet und, wie gesagt, eine sehr differenzierte Rechtsprechung existiert. ({9}) Ich möchte, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, weil dieses Thema im Antrag der Grünen angesprochen wird, noch etwas zum Thema Open Data sagen. Offene Daten sind unstreitig ein sehr kostbares Gut, und in offenen Daten - das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen - steckt natürlich ein erhebliches Potenzial zur Weiterentwicklung von Forschung und Wissenschaft, aber auch zur Ankurbelung der Wirtschaft. Deswegen gibt es in vielen Ländern schon entsprechende Portale und Plattformen. Es gibt - das ist erwähnt worden - seit dem 19. Februar dieses Jahres „GovData Das Datenportal für Deutschland“. In Ihrem Antrag, Stephan Mayer ({10}) Herr von Notz, waren Sie mit diesem Datenportal noch etwas gnädiger; da haben Sie es zumindest noch als einen guten Anfang bezeichnet. ({11}) Jetzt haben Sie es als Flop bezeichnet. Dieses Datenportal ist seit Februar dieses Jahres online, die Daten sind einsehbar. Bis heute sind schon über 4 000 Datensätze eingestellt worden. Es wird auch entsprechend weiterentwickelt. Ich finde es schade, dass Sie, nur zwei Monate nachdem dieses Datenportal online gegangen ist, rufen: Das war ein Flop, wir brauchen eine Gesetzesänderung! ({12}) Haben Sie doch ein bisschen Geduld! Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit, an das Informationsfreiheitsgesetz Hand anzulegen. Dieses Gesetz hat sich wirklich bewährt. Ich glaube, man sollte die weitere Entwicklung jetzt ganz gelassen abwarten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Kirsten Lühmann hat nun für die SPDFraktion das Wort.

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir Abgeordnete haben vor einigen Wochen einen Brief von ProSiebenSat.1 bekommen, in dem eine Reportage über den Bundestag angekündigt wurde. Sie lief im Rahmen der Sendung Abenteuer Leben Spezial: Geheimnisse Exklusiv. Ein Bericht über den Alltag des Deutschen Bundestages wird also als exklusive Enthüllungsstory angekündigt. Das hat mich schon ein bisschen erstaunt; denn das, was ich in meinem Arbeitsalltag, in den Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern, erlebe, wird dem, was ProSiebenSat.1 hier hochstilisiert, nicht gerecht. Es liegt natürlich nahe, dass dieser reißerische Titel einfach nur Zuschauende anlocken sollte; aber meine Befürchtung ist, dass dahinter auch eine Wahrnehmung steckt, die ziemlich verbreitet ist, nämlich die Wahrnehmung, dass der Staat, die Politik und die Verwaltung eigentlich eine Art Blackbox ist, ({0}) bei der man überhaupt nicht weiß, was darin vor sich geht und was man möglicherweise nicht zu hören bekommt. Diese Wahrnehmung ist aus meiner und, ich denke, auch aus unserer Sicht nicht richtig, aber sie ist erklärbar, und zwar durch das bestehende Amtsgeheimnis. Unsere darauf beruhende Verschwiegenheitspflicht ist jahrhundertealt und rührt noch aus einem ganz anderen Verständnis von Staat her. Es ist mit strengen Strafen bedroht, dagegen zu verstoßen. Ein Bewusstseinswandel ist hier unheimlich schwer, aber er ist notwendig. ({1}) Die SPD hat vor sieben Jahren das Informationsfreiheitsgesetz initiiert und zusammen mit den Grünen, Herr von Notz, in der rot-grünen Regierung verwirklichen können. ({2}) Das war ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung. ({3}) Wir haben kürzlich aber einen Bericht auf Zeit Online gelesen. In diesem Bericht wird dargelegt, wie Behörden intern Anträge auf Akteneinsicht diskutieren. Wenn man das gelesen hat, dann konnte man den Eindruck bekommen: Im Vordergrund steht dabei, wie solche Anträge abgelehnt werden können - ob man sich auf einen zu hohen Aufwand beruft, welche Ausnahmegründe am effektivsten sind -, und es scheint so, als gäbe es regelrechte Anleitungen dafür, wie das problemlos erfolgen kann. Wenn das so ist, dann müssen wir das entschieden ablehnen. ({4}) Schauen Sie sich die Zahlen vom letzten Jahr an: Es sind über 6 000 Anträge auf Information gestellt worden. Weniger als die Hälfte davon wurde positiv beschieden. Hier beschleicht einen natürlich die Annahme, dass an diesem Artikel vielleicht ein bisschen Wahrheit sein könnte. Das heißt, wir brauchen eine neue Kultur der Offenheit. Zu dieser neuen Kultur der Offenheit gehört nicht nur, dass die Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich als gerechtfertigt und sinnvoll anzusehen sind, sondern auch, dass die Behörde von sich aus mehr Informationen an die Öffentlichkeit gibt, und das nach klaren Regeln. Ich denke, Beispiel dafür kann die neue Hamburger Regelung sein, wonach grundsätzlich alle Akten von den Behörden im Internet zu veröffentlichen sind. Das ist ein sehr guter Ansatz, mit dem dort sehr große Erfolge erzielt werden. Wir haben nun sieben Jahre Erfahrung mit dem Informationsfreiheitsgesetz. Die Evaluation ist mehrfach angesprochen worden. Das Ergebnis war klar. Es lautet aus unserer Sicht nicht, Kollege Mayer, dass nichts geändert werden muss, sondern im Gegenteil: Das Ergebnis dieser Evaluation war, dass wir das Informationsfreiheitsrecht weiterentwickeln müssen, und zwar vor allen Dingen in drei Bereichen: Der erste Punkt ist die Vereinheitlichung des Rechtes. Es gibt zurzeit diverse Einzelgesetze. Ich will nur ein paar nennen: Informationsfreiheitsgesetz, Verbraucher29546 informationsgesetz, Umweltinformationsgesetz. Wenn Sie als Bürger oder Bürgerin Interesse daran haben, eine Information zu bekommen, dann müssen Sie erst einmal herausfinden, nach welchem Gesetz Sie Ihren Antrag stellen müssen. Dafür brauchen Sie im Prinzip schon einen Juristen oder eine Juristin. Das kann so nicht weitergehen; das müssen wir dringend ändern. ({5}) Der zweite Punkt ist die Überarbeitung von Ausnahmetatbeständen. Auch hier, Kollege Mayer, widerspreche ich Ihnen vehement. Noch viel zu viele Anträge auf Informationszugang werden abgelehnt, teilweise, wie die Expertenanhörung ergeben hat, aufgrund von Unklarheiten im Gesetz. Es ist für mich nicht befriedigend, wenn Sie hier mehrere Urteile zitieren. Das bedeutet nämlich, dass die Anträge auf Informationszugang zunächst einmal abgelehnt wurden. ({6}) Wenn der Bürger bzw. die Bürgerin die Möglichkeit hatte, vor Gericht zu ziehen, dann konnte es sein, dass ihm bzw. ihr das legitime Recht zugesprochen wurde und der Verwaltung gesagt wurde, dass sie nicht richtig gehandelt hat. Aber all die, die diese Möglichkeit nicht haben, müssen mit der Ablehnung zufrieden sein und kommen nicht zu ihrem legitimen Recht. Das müssen wir ändern. Hier muss es ganz klare Regeln geben. ({7}) Diese Regeln brauchen wir auch für die Beschäftigten in den Verwaltungen. Ich kann sie verstehen; bei dieser unklaren Rechtslage würde wahrscheinlich auch ich lieber auf Nummer sicher gehen und sagen: Ehe ich etwas herausgebe, was ich nicht herausgeben darf, und hinterher Probleme bekomme, verweigere ich lieber erst einmal die Herausgabe und warte darauf, was ein Gericht dazu sagt. - Aber ist das denn unser Verständnis von einer offenen Verwaltung und von offener Politik? Unser Verständnis ist das nicht. ({8}) Als dritten Punkt hat die Evaluation ergeben, dass die Behörden von sich aus mehr Akten ins Internet stellen sollten. Der Vorteil davon liegt auf der Hand: Alle Akten, die öffentlich einsehbar sind, müssen nicht mehr per Antrag und mit hohem Aufwand von den Beschäftigten zusammengesucht werden; dieser Aufwand erübrigt sich. Man geht ins Internet und zieht sich heraus, was man braucht. Das vereinfacht das ganze Verfahren. Die Bundesregierung lässt in ihrer Stellungnahme leider keinerlei Bereitschaft erkennen, die Empfehlungen aus Wissenschaft und Praxis aufzunehmen. Sie praktiziert die übliche Vogel-Strauß-Politik und handelt wieder einmal gegen die Interessen der Bürger und Bürgerinnen. Die Stellungnahme der Bundesregierung beinhaltet mehrere Punkte. So wird behauptet - Herr Mayer, Sie haben das eben angesprochen -, dass es gar nicht die Bürger sind, die den Zugang zu Informationen wollen. Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! 43 Prozent aller Anfragen kommen von Bürgern und Bürgerinnen, ganz privat. Sie haben vielleicht Partikularinteressen; das sei ihnen zugestanden. Aber sie sind die größte Einzelgruppe von Anfragenden. Gut, es gibt sicherlich noch andere Gruppen, die einen Zugang zu Informationen wollen. Mir ist es aber völlig egal, ob es ein Bürger, ein Journalist oder ein Politiker ist - leider müssen auch wir uns teilweise auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen, weil wir ansonsten keine Auskunft von der Regierung bekommen -; ({9}) sie alle haben ein legitimes Recht auf Zugang zu Informationen. Das können sie im Moment nicht wahrnehmen, und dem müssen wir Rechnung tragen. ({10}) Wir müssen auch über den Arbeitsaufwand, den ich sehe, reden. Natürlich dürfen Beschäftigte im öffentlichen Dienst diese Aufgabe nicht on top machen, also quasi nebenbei. Die Frage, die ich mir stelle, ist aber: Was ist uns echte Transparenz wert? Wir beklagen in diesem Haus permanent die Demokratieferne, den Umstand, dass sich die Menschen nicht mehr für uns interessieren. Aber wenn wir wirklich die Möglichkeit haben, Nähe und Akzeptanz herzustellen, dann kommen Sie mit dem Kostenargument, ohne die Vorschläge, die wir machen, wie man das Ganze vereinfachen kann, zu prüfen. ({11}) Das ist unlauter; das ist nicht unsere Vorstellung. ({12}) Wir nehmen im Gegensatz zur Regierung von Frau Merkel die Empfehlungen der Experten ernst. Wir wollen sie umsetzen, allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nicht durch eine Änderung des Grundgesetzes. Wir haben eigene Vorstellungen. Wir werden einen Entwurf für ein neues Informationsfreiheitsgesetz vorlegen. Wenn er angenommen wird, kann sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Beschäftigten in den Ämtern die Akten für die Bürger und Bürgerinnen nur verwalten und sie nicht vor der Öffentlichkeit schützen müssen. Danke sehr. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Teilnehmer der heutigen Sitzung, die Sie nicht in die Röhre schauen, sondern Teil der Blackbox sind, wie die Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagt haben. Herzlich willkommen im Bundestag, in unserem transparenten Haus! Wir freuen uns sehr über Ihr Interesse. Passend zur heutigen Debatte schrieb die Zeit gestern: „Behörden tun sich mit Informationsfreiheit schwer“. Auf der Internetseite der Zeit werden dann gleich 142 Seiten interner Vermerke der Bundesregierung veröffentlicht. Es handelt sich um Besprechungsvermerke zwischen den Ressorts, in denen die unterschiedlichsten Fragen zum Informationsfreiheitsgesetz behandelt werden. ({0}) Ob es der Informationsfreiheit dient, wenn solche Vermerke an die Öffentlichkeit gelangen, ist fraglich. Ich glaube, wir sind uns alle darüber einig, dass wir dann möglicherweise solche Vermerke nicht geschrieben oder sie anders behandelt hätten. Aber dass man das zum Anlass nimmt, darauf hinzuweisen, dass die Behörden mit der Informationsfreiheit nicht umgehen können, halte ich für übertrieben. Dass Informationsfreit dem demokratischen Prinzip dient, stellte schon der ehemalige liberale Justizminister Professor Dr. Schmidt-Jortzig fest. Frau Kollegin Lühmann, nur zur Erinnerung: Wenn die Liberalen damals nicht dafür gesorgt hätten, dass das Informationsfreiheitsgesetz den Bundesrat passiert, gäbe es dieses Gesetz heute gar nicht. Ich weiß, dass Sie das gerne vergessen. ({1}) Ich wollte Sie nur noch einmal daran erinnern. ({2}) - Dass wir uns hier treffen, ist immer gut. Da haben Sie völlig recht, Herr Kollege. Es kommt immer darauf an, die gesetzliche Entwicklung zu beobachten und festzustellen, was richtig und was falsch läuft. Dass es manchmal einer Nachjustierung bedarf, ist keine Frage. Aber es kommt immer darauf an, was man verändern will. Der Gesetzentwurf der Grünen, über den wir im Mai letzten Jahres zum ersten Mal diskutiert haben, ist aus unserer Sicht heute nicht anders zu bewerten als damals. In der Gesetzesbegründung zum IFG hieß es 2004: Der Bund erlässt erstmals ein Gesetz zum allgemeinen Zugang zu amtlichen Informationen des Bundes. Bekanntermaßen lautet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes: Jeder hat das Recht, … sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Ganz offensichtlich haben Sie damals gedacht, dass das im Einklang mit dem Grundgesetz stünde, und wollten keine entsprechende Änderung vornehmen. Ich glaube nicht, dass Ihr Gesetz etwas an den Problemen, die wir haben, ändern würde, weder rechtlich noch politisch. ({3}) Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das, was Sie hier machen, aus meiner Sicht absolut populistisch ist. ({4}) Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, dass bei den Bürgerinnen und Bürgern „berechtigte Wut“ entstehe, „wenn einmal gewählte Volksvertreter über ihren Kopf hinweg intransparente Entscheidungen treffen“. Das fördert Ressentiments, und zwar unberechtigte Ressentiments, und hat nichts mit unserer Arbeit im Deutschen Bundestag zu tun. Wenn Sie so arbeiten, ist das Ihr Problem. Wir tun es nicht. ({5}) Ich muss Sie ernsthaft fragen, welches Selbstverständnis Sie als Parlamentarier haben. Das, was Sie sagen, ist nicht haltbar. Das sind bloße Behauptungen, die weder dem Haus noch unserem Ansehen helfen. Vielleicht noch als kleine Nachhilfe für die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Das Informationsfreiheitsgesetz betrifft ausdrücklich die Exekutive und ihre Handlungen und nicht unsere Arbeit als Parlamentarier. So gesehen sind all die von Ihnen genannten Beispiele aus dem Parlament daneben. Wir arbeiten transparent und beraten hier öffentlich. Alle Ihre Vergleiche betreffend das Parlament, die Abgeordneten und das Informationsfreiheitsgesetz zeigen, dass Sie es nicht verstanden haben. Ich bin froh, dass wir öffentlich tagen, damit es jeder versteht. ({6}) Herr Kollege von Notz, Sie warten jetzt sicherlich darauf, welche intransparenten Entscheidungen aus der rotgrünen Regierungszeit ich Ihnen vorwerfen werde. ({7}) Es ist viel schlimmer. ({8}) - Nein, es ist noch viel schlimmer. - Sie müssen nur auf das grün-rot regierte Baden-Württemberg schauen. ({9}) Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ein Blick auf die grün-rote Wirklichkeit: Im Koalitionsvertrag für BadenWürttemberg von 2011 wurde die sofortige Schaffung eines Informationsfreiheitsgesetzes versprochen. Jetzt bin ich dummerweise Juristin und weiß deshalb: „Sofort“ heißt „ohne schuldhaftes Zögern“. Was hat sich nach zwei Jahren getan? - Nichts! Das ist interessant. Seit zwei Jahren fehlt jede Spur von einer Initiative der Grünen. Auf Anfragen nach Information zum Stand des Gesetzgebungsverfahrens war, wie Lars Sobiraj auf www.gulli.com schreibt, aus dem zuständigen Ressort in der Landesregierung zu erfahren - das ist besonders hübsch -: „Haben Sie bitte Verständnis, dass wir Ihnen über Einzelheiten vorab keine Auskünfte erteilen“. Willkommen in der Wirklichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist der Unterschied: Sie reden darüber, wir tun es. ({10}) Es gibt einen Gesetzentwurf der baden-württembergischen FDP-Landtagsfraktion. Dem können Sie zustimmen. ({11}) Wenn Sie das machen, Herr Kollege von Notz, können wir hier im Haus gerne wieder über Ihre Haltung zum Informationsfreiheitsgesetz sprechen. Mein Vorredner von der Union hat bereits viel zu den übrigen inhaltlichen Punkten gesagt. Darauf beziehe ich mich vollumfänglich; das ist an einem Freitagnachmittag auch einmal schön. ({12}) Ich danke Ihnen und freue mich auf die Initiative der Grünen in Baden-Württemberg. Ich bin gespannt, ob sie da ihre Versprechungen in die Wirklichkeit umsetzen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie Herrn Schaar? ({0}) Landläufig wird er als Datenschutzbeauftragter bezeichnet. Korrekt heißt es aber: Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit - zu Recht; denn Datenschutz und Informationsfreiheit sind Zwillinge, wenn es um Bürgerrechte und Demokratie, um souveräne Bürgerinnen und Bürger geht. Der Datenschutz soll verhindern, dass Bürgerinnen und Bürger gläsern und damit beherrschbar werden. Die Informationsfreiheit soll garantieren, dass Bürgerinnen und Bürger mündig selbst entscheiden können. Kurz gesagt: Der Staat soll über Bürgerinnen und Bürger möglichst wenig wissen. Bürgerinnen und Bürger sollen über den Staat möglichst viel wissen. Es geht also um ein Kernthema der demokratischen Gesellschaft. Damit rennen Sie bei der Linken offene Türen ein. ({1}) Das geltende Informationsfreiheitsgesetz wurde 2005 beschlossen. Deutschland war damit im internationalen Vergleich spät, sehr spät dran. Die Initiative ging von den damals regierenden Parteien SPD und Bündnis 90/ Die Grünen aus. Ich habe das als Linke begrüßt. Zugleich wies ich seinerzeit auf ein rot-grünes Dilemma hin. Ich sagte nämlich: Machen Sie das Gesetz trotz Ihres Bundesinnenministers Schily, dann kann es gut werden. Machen Sie es mit Otto Schily, dann wird es schlecht. - Es wurde mit ihm gemacht. Übrigens erntete ich damals von der SPD den Zwischenruf: Warten Sie doch erst einmal die Praxis ab! - Das habe ich, und siehe da: Die Praxis gab und gibt mir recht, ebenso wie übrigens alle Experten, auf die sich Bündnis 90/Die Grünen heute berufen. Die beiden Hauptmängel des Informationsfreiheitsgesetzes schlagen durch: Erstens. Es gibt zu viele Ausnahmen, nach denen Behörden keine Auskunft erteilen müssen und Bürgerinnen und Bürger mithin unmündig halten können. Zweitens. Auskunftsrechte werden mit hohen Gebühren belastet. Die einen können sich das leisten und die anderen nicht. So entstehen Bürgerrechte erster und zweiter Klasse. Als Linke sage ich: Beide Defizite müssen endlich behoben werden. ({2}) Längst kommt eine dritte Herausforderung hinzu. Das Internet bietet uns vordem nie gekannte Möglichkeiten für die Informationsfreiheit. Dem wurde weder das Gesetz von 2005 gerecht, noch wird es die Praxis heute. Dieses Manko gilt übrigens wieder für beide Seiten der Medaille: für Datenschutz und Informationsfreiheit. Weder das Recht auf Datenschutz noch die Informationsfreiheit sind hierzulande im Internetzeitalter angekommen; sie sind antiquiert. Überhaupt muss die Demokratie im 21. Jahrhundert neu fundiert werden. Wir sollten uns endlich gemeinsam dieser Herkulesaufgabe annehmen. Allerdings glaube ich nicht, dass ein simpler Verweis im Grundgesetz etwas bewirkt. Deshalb wird die Linke diesem Antrag nicht zustimmen. Gleichwohl brauchen wir ein modernes Gesetz. Deshalb wird die Linke den Sachauftrag für mehr Informationsfreiheit mit Ja bekräftigen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege von Notz fordert eine neue Meinung von unserer Fraktion. Ich glaube, dass unsere Meinung nicht neu sein muss. Entscheidend ist vielmehr, dass wir auf der Basis des Grundgesetzes agieren, und das fehlt mir bei Ihrem Gesetzentwurf zur Ausweitung des Art. 5 des Grundgesetzes und bei Ihrem Antrag zur Überarbeitung des Informationsfreiheitsgesetzes. Wenn man sich Ihre letzten Vorlagen anschaut, dann muss man schon sagen, dass Sie sich hier als Partei der Bürger- und Informationsrechte aufführen wollen. ({0}) Dann müssen Sie aber auch einmal inhaltlich nachlegen. ({1}) Die hohe Geschwindigkeit, mit der Sie Vorlagen einbringen, wird mitnichten von inhaltlicher Substanz begleitet. Das war schon der Fall, als Sie den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 5 des Grundgesetzes eingebracht haben. Damals haben wir an dieser Stelle darüber diskutiert, ob es einer Ergänzung im Grundgesetz bedarf; denn dort ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bereits verankert. Aus der Zusammenschau von Art. 5, dem Recht auf Demokratie und den Normierungen zum Rechtsstaat gibt es Ansprüche, die der Bürger geltend machen kann. Darüber hinaus haben wir etwas ganz Starkes, das die Kollegin Pau gerade zu Recht angesprochen hat: das Informationsfreiheitsgesetz, und zwar auf Bundesebene und auf Landesebene, leider mit Ausnahme bestimmter Bundesländer. Vor diesem Hintergrund ist Ihre Forderung nach Überarbeitung von Art. 5 des Grundgesetzes reine Schaufensterpolitik. Ich habe Ihnen damals schon gesagt: Formulieren Sie doch einmal einen aus Ihrer Sicht tauglichen Art. 5! Sie machen das zu Recht nicht. Sie stellen einen Forderungskatalog auf; aber es gelingt Ihnen nicht, eine eigene Formulierung zu finden. Daran zeigt sich: Sie fordern, um sich gut zu verkaufen; aber inhaltlich kommt nichts. ({2}) Viel sinniger wäre das, was die Kollegin Lühmann eben angesprochen hat, nämlich einmal zu schauen, wie viele Gesetze wir eigentlich haben, in denen Informationsrechte für Bürger verborgen sind und die die Bürger stets daraufhin durchsuchen müssen, ob sie nun einen Informationsanspruch haben oder nicht. Frau Kollegin Lühmann, wir haben das einmal in Nordrhein-Westfalen zu Zeiten der CDU/FDP-Regierung unter Innenminister Wolf untersucht und festgestellt, dass es dort 50 solcher Gesetze gibt. Wir wollten die verschiedenen Informationsrechte in einem allgemeinen Informationsfreiheitsgesetz bündeln. Dann kam der Regierungswechsel. Was aber macht der neue Innenminister Jäger? Er legt diese Pläne ad acta und sagt: Das brauchen wir nicht; das machen wir nicht. - Gehen Sie doch einmal auf Ihre Parteifreunde in den Bundesländern zu, und bringen Sie die Reformierung in Bezug auf die weitverstreuten Informationsrechte, wie wir es uns gewünscht haben, voran. Das wäre eine weise Entwicklung. Die entsprechende Untersuchung haben übrigens zwei Kollegen und ich für die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung gemacht. Ich kann Ihnen die Unterlagen dazu gerne geben. Wenn man sich Ihren heute vorliegenden Antrag einmal intensiv anschaut, dann stellt man fest: Sie drehen alles, was mit Datenschutz und Freiheitsrechten verbunden ist, um. Das ist schon der zweite sehr weise Punkt der Kollegin Pau. ({3}) - Es kommt nicht oft vor, dass ich die Linke loben kann; aber das, was Frau Pau sagte, war gut. Da kann man auch einmal über seinen Schatten springen. - Die Kombination von Datenschutz und Freiheitsrechten, die Abwägung von Grundrechten, von im Grundgesetz verankerten Rechten ist genau das, worauf das öffentliche Recht basiert, und genau das, was sich in §§ 3 bis 6 des Informationsfreiheitsgesetzes wiederfindet. Schauen Sie einmal in § 5 des Informationsfreiheitsgesetzes! ({4}) Sie wollen die Abwägung abschaffen. Sie sagen, den Teil des Datenschutzes soll es gar nicht mehr geben. Im öffentlichen Recht haben wir es aber immer - das verkennen Sie anscheinend, weil Sie der Außenwelt gerne eine bestimmte Nachricht übermitteln wollen - mit einer Abwägung von Gütern zu tun. ({5}) Der Union und mir ist besonders wichtig, dass wir auf der einen Seite den Schutz personenbezogener Daten haben und auf der anderen Seite die Freiheitsrechte. Ich stelle mit Grauen fest, dass Sie in Ihrem Antrag fordern, dass Daten von Bürgern demnächst auf Internetportalen frei zur Verfügung stehen sollen, etwa wenn es um den Anschluss- und Benutzungszwang, wenn es um Abfallbeseitigung oder Bauanträge geht. Wenn es darum geht, all das demnächst im Internet veröffentlicht zu sehen, dann kann ich nur hoffen, dass es eine Bundesregierung gibt, die Datenschutz und Informationsrechte weise abwägt und nicht nur eine Seite sieht wie Sie in Ihrem Antrag. ({6}) Lieber Konstantin von Notz, ich glaube, dass Sie es gut meinen. Ich glaube aber auch, dass Sie selbst gemerkt haben, dass Sie mit Bündnis 90/Die Grünen nicht im Stande waren, zu formulieren, was Sie wollen. Sonst hätten Sie sicher mehrere Paragrafen in einem Gesetzentwurf zur Änderung des Informationsfreiheitsgesetzes formuliert. Sie haben wieder nur einen Antrag formuliert mit dem, was Sie sich gerne wünschen. Das lässt sich nicht unterlegen. Es spricht im Grunde schon genau das aus dem Informationsfreiheitsgesetz, was Sie einfordern. ({7}) Von daher hoffe ich, dass Ihr Antrag nicht weiterverfolgt wird. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13097 mit dem Titel „Informationsfreiheit weiter entwickeln“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes ({0}). Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12490, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9724 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2012 ({1}) - Drucksache 17/12050 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({2}) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus. Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich bin dem Deutschen Bundestag sehr dankbar, dass er meinen Jahresbericht in diesem Jahr so zeitnah berät, sogar noch bei Tageslicht an einem Freitag. Diese Aktualität ist wichtig, weil es nicht zuletzt um die Aufarbeitung von Missständen, Mängeln und gelegentlich auch Defiziten geht. Davon handelt auch dieser Bericht. Ich musste in den letzten beiden Jahren von einer tiefgreifenden Verunsicherung und einer hohen Belastung der Soldatinnen und Soldaten berichten. Leider kann ich insoweit noch keine Besserung feststellen. Ich bin in der Beurteilung, glaube ich, einig mit dem BundeswehrVerband, der hier durch seinen Vorsitzenden, Oberst Kirsch, vertreten ist. Die Einsatzbelastungen sind weiterhin sehr hoch, und es ist noch keine wirksame Abhilfe in Sicht. Immerhin kann man eines feststellen: Ausrüstung und Ausstattung im Auslandseinsatz, insbesondere in Afghanistan, sind nun auf einem zufriedenstellenden Stand. Wir merken das auch, wenn wir die Zahlen betrachten, den Rückgang der Opferzahlen und den Rückgang auch der Zahl der Verwundungen. Für viele Soldatinnen und Soldaten konkretisieren sich jetzt die individuellen Auswirkungen der Neuausrichtung der Bundeswehr. Sie wissen nun, ob und, wenn ja, wie sehr sie und ihre Familien davon jeweils selbst betroffen sind. Die Betroffenheit - das können wir feststellen - ist groß. Das belegt nicht zuletzt der Anstieg der Zahl der in den ersten Monaten des Jahres 2013 eingegangenen Eingaben. Versetzungen, Umzüge und enttäuschte Laufbahnerwartungen trüben vielerorts die Stimmung an den Standorten. Aber das ist es nicht allein. Auch die konkrete Umsetzung der Reform schlägt oftmals weitere - vermeidbare - Wunden. Wenn beispielsweise Soldaten im Einsatz an einem Freitagnachmittag angerufen werden, ihnen mitgeteilt wird, was ihr Dienstherr mit ihnen vorhat, und ihnen eine Stellungnahme bis zum Montag abgefordert wird, dann hebt das natürlich nicht die Stimmung. Zu Recht sind die Betroffenen darüber verärgert; denn natürlich müssen auch sie, obgleich fern der Heimat, die Möglichkeit haben, solche Entscheidungen, die Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus tiefgreifende Wirkungen für sie selbst und für ihre Familien haben, seriös mit den Angehörigen zu besprechen. Das, meine Damen und Herren, ist kein Vorwurf an die Personalführer. Wer in Zeiten solch fundamentaler Umbrüche im Personalgefüge der Streitkräfte 650 Soldaten und mehr führen muss - das müssen die Personalführer -, der kann solche Zumutungen nicht immer vermeiden; ich weiß das. Es ist eben ein strukturelles Problem, das durch angemessene Personalverstärkung schnellstmöglich behoben werden muss. Dies verschärft zugleich eines der brennendsten Grundprobleme der Bundeswehr: die noch immer völlig unzureichende Vereinbarkeit von Familie und Dienst, die den Soldatinnen und Soldaten zu Recht immer wichtiger wird. Die Vereinbarkeit ist auch einer der Schlüssel für die Attraktivität des Dienstes und damit für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird die Bundeswehr durchaus zwingen, die Belastungen durch Pendelei - über 70 Prozent aller Soldatinnen und Soldaten müssen pendeln -, Kommandierungen und vor allem auch durch die Auslandseinsätze auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Darauf sind die Strukturen der Bundeswehr aber noch lange nicht ausgerichtet. So muss der Dienstherr Rahmenbedingungen schaffen, die es den Soldatinnen und Soldaten auch tatsächlich ermöglichen, und zwar, ohne dass sie ein schlechtes Gewissen gegenüber den Kameradinnen und Kameraden haben müssen, die dann die Arbeit für sie mitmachen oder einmal mehr in den Einsatz gehen müssen, auch Rechte wie Elternzeit in Anspruch zu nehmen. Dazu muss der Dienstherr Vertretungsreserven bereithalten, wie übrigens jeder andere Arbeitgeber auch. Davon ist nur nichts zu sehen. Ich würde mich im Übrigen auch sehr freuen, wenn ich noch in meiner Amtszeit - das wäre bis 2015 - den ersten bundeswehreigenen Kindergarten außerhalb des Ministeriums besuchen könnte und nicht immer nur von Grundsteinlegungen höre. ({3}) Ich kann in diesem Bereich faktisch noch keine wirklichen Fortschritte erkennen. Meine Damen und Herren, mehr denn je ziehen Soldatinnen und Soldaten auch in Zweifel, dass die Bundeswehr durch die Neuausrichtung wirklich leistungsstärker und effizienter werde. Sie registrieren vielmehr, dass die Ressourcen in den Mangelverwendungen weiter verknappt werden; ich nenne Spezialpioniere, ABCisten und andere. Die zeitliche Belastung der Soldatinnen und Soldaten durch die Auslandseinsätze liegt weiterhin deutlich über dem angestrebten Rhythmus von vier Monaten Einsatz und 20 Monaten einsatzfreier Zeit - jedenfalls in der Regel. Die Soldatinnen und Soldaten sehen, dass erfahrene, motivierte und gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten, die gern bei der Bundeswehr bleiben möchten, die Bundeswehr verlassen müssen, und das, obwohl es erhebliche Unterbesetzungen gerade bei den Mannschaften gibt. Die Nachwuchslage hat in einzelnen Bereichen kritische Grenzen erreicht. Es fehlt an Mannschaften, insbesondere in der Marine. - Diese Probleme werden von Tag zu Tag brisanter. Wenn nicht schnell und wirksam gegengesteuert wird, dann haben wir ein dauerhaftes Problem. Der Bericht, den ich hier natürlich nicht vollständig vortragen kann, macht dies anhand konkreter Beispiele deutlich. Der Bericht räumt auch in diesem Jahr den Themen Betreuung und Versorgung breiten Raum ein. Ohne Frage hat sich die Versorgung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und ihrer Familien im Falle von Verwundung und Tod mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, dem Einsatzversorgungs- und dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz deutlich verbessert. Das ist etwas, wofür ich dem Deutschen Bundestag sehr dankbar bin. Ich weiß, wie sehr insbesondere die Soldatinnen und Soldaten, aber auch die Berufsverbände es begrüßen, dass das Parlament, dass die Abgeordneten hier initiativ geworden und weit über das hinausgegangen sind, was der Dienstherr ursprünglich vorhatte. Ungeachtet dessen besteht die Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Weiterverwendung und der Zahlung einer Entschädigung im Falle einer Verwundung fort. Darauf hatte der Abgeordnete Hellmich bereits in der Beratung des vorangegangenen Jahresberichtes nachdrücklich hingewiesen, und zwar zu Recht. Während das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz auch die Einsätze auf dem Balkan in den 90er-Jahren erfasst, gilt die Einmalentschädigung erst für Fälle, die sich seit dem 1. Dezember 2002 ereignet haben. Es liegt jetzt in der Hand des Gesetzgebers, diese Lücke zu schließen. Der Minister sollte, wie von mir bereits angeregt, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Auf erhebliche Probleme stößt im Zuge der Verschlankung der Strukturen auch die Beurteilungspraxis. Abgesehen von dem noch immer ungelösten Problem der Vergleichsgruppen, zeichnet sich durch die Neustrukturierung ab, dass zukünftig ein Kommandeur für die Beurteilung von mehreren Hundert Soldatinnen und Soldaten zuständig wird, ohne dass er diese alle persönlich kennt, ja, überhaupt kennen kann. Das wird im Falle einer gerichtlichen Überprüfung sicherlich keinen Bestand haben. Höchstrichterlich beanstandet wurde schon die jahrgangsmäßige Betrachtung der Laufbahnentscheidungen. Die Entscheidung des Bundesministeriums der Verteidigung, deshalb die Auswahlkonferenzen in diesem Jahr auszusetzen, ist verständlich, befördert aber die Unruhe in der Truppe weiter. Meine Damen und Herren, der Dienst in den Streitkräften war im vergangenen Jahr einmal mehr von den Einsätzen geprägt. Das hat in dem Bericht, aber auch in meiner kontinuierlichen Berichterstattung an den Verteidigungsausschuss Niederschlag gefunden. Dies stieß auf hoher politischer und militärischer Ebene auf Kritik. Davon lasse ich mich aber nicht beeindrucken. ({4}) Meine Damen und Herren, die Rechte der Soldatinnen und Soldaten und die Prinzipien der Inneren Führung Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus gelten auch im Auslandseinsatz und enden nicht an unseren Außengrenzen. Daher werde ich auch weiterhin, wenn dazu Anlass besteht oder wenn ich durch Sie, meine Auftraggeber, hierzu beauftragt werde, dem Verteidigungsausschuss über meine Erkenntnisse zur Situation in den Einsatzgebieten berichten. Es gehört dabei zu meinen originären Aufgaben, mich nicht allein mit den Schokoladenseiten zufriedenzugeben. Dass dies manchen nervt, wie man lesen konnte, ist wohl nicht zu vermeiden. Aber das sollte niemanden, erst recht niemanden im Umfeld des Ministers, zu dem Versuch veranlassen, mit leichtfertigen oder gar bewusst falschen Darstellungen einen Keil zwischen den Wehrbeauftragten und die Soldatinnen und Soldaten oder das Parlament zu treiben. Lassen Sie mich damit schließen, allerdings nicht, ohne Ihnen, dem Deutschen Bundestag, insbesondere den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, für Ihre Unterstützung meiner Arbeit zu danken. In diesen Dank schließe ich die Partner meines Amtes im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung ein. Ganz besonders danke ich natürlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Amtes für ihren Einsatz und ihr Engagement im Rahmen der Bewältigung meiner Aufgaben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich meinerseits im Namen des ganzen Hauses dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichtes sehr herzlich danken und für die weitere Arbeit alles Gute wünschen. ({0}) Das Wort hat jetzt Bundesminister Thomas de Maizière. ({1})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, dem Dank an Sie und Ihre Mitarbeiter für das große Engagement, die Kraft und die Entschlossenheit, mit der Sie sich für die Bundeswehr und die Soldaten einsetzen, schließe ich mich an. Ihr Bericht nennt Mängel, aber verschweigt auch die Verbesserungen nicht. Sie haben die Verbesserung der Ausrüstung, insbesondere in Afghanistan, erwähnt. Schon Ihre Vorgänger, aber auch Sie selbst und Ihre Mitarbeiter haben stets darauf hingewiesen. Dass es dort besser geworden ist, ist auch ein Verdienst des Wehrbeauftragten. Sie haben in Ihrem Bericht - ich habe jetzt nicht die Gelegenheit, alle Themen zu diskutieren - aus meiner Sicht drei Punkte in besonderer Weise in den Mittelpunkt gestellt: die innere und soziale Lage der Streitkräfte im Zusammenhang mit der Neuausrichtung, die Soldaten im Auslandseinsatz und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deswegen will ich zu diesen drei Punkten kurz etwas sagen. Zunächst zur inneren und sozialen Lage. Natürlich ist sie geprägt von dem Wandel, den die Neuausrichtung unverkennbar und unabänderlich mit sich bringt. Die Unsicherheit von Betroffenen ist nachvollziehbar. Sie ändert aber nichts an den grundsätzlich guten Bedingungen, die Bundeswehrsoldaten und zivile Mitarbeiter der Bundeswehr bei uns vorfinden, und auch nichts an der Richtung der Neuausrichtung. Sie ist richtig. Sie schreiben: Erwartungen, dass die Bundeswehr durch die Neuausrichtung leistungsstärker und effizienter wird, bestätigten sich im Berichtsjahr nicht … Diese Aussage ist sicher richtig; denn wir sind mitten in der Neuausrichtung. Das Ergebnis der Neuausrichtung soll sein, dass die Bundeswehr leistungsstärker und effizienter ist, für den Prozess bis dahin kann dies noch nicht gelten. Ein Wort zur Unterbesetzung. Dies ist ein wichtiger Punkt, den ich auch oft höre. Der Generalinspekteur sagt so schön, wir stehen in zu großen Schuhen. Das heißt, die Fehlbesetzung ergibt sich auch daraus, dass wir in alten Strukturen mit weniger Menschen arbeiten. Die Antwort kann aber nicht sein, die jetzigen Strukturen zu befüllen, sondern die Antwort kann nur sein, schnell zu neuen Strukturen zu kommen. Wir werden im Deutschen Bundestag noch in dieser Legislaturperiode, etwa bei der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD oder auch an anderer Stelle, darüber ausführlicher diskutieren. Ein Wort zum Auslandseinsatz. Ich bin selbst viel vor Ort, wie auch Sie. Natürlich kann in der Phase eines Aufbaus eines Einsatzes nicht alles so rund laufen wie dann, wenn man schon länger da ist. Da gibt es Verbesserungsbedarf, und viele Mängel sind abzustellen. Es gibt aber einen Unterschied zwischen uns. Sie haben in einem Interview mit Radio Andernach vor zwei Wochen gesagt: Bei Verpflegung und Kommunikation muss es unser Anspruch sein, im Ausland inländische Bedingungen zu schaffen. - Nun mag es diesen Anspruch geben. Ich sage Ihnen nur realistischerweise: Das wird nicht immer gehen. In Mali, im Sudan, in der Türkei und anderswo ist das nicht immer möglich. Für die Soldatinnen und Soldaten und für uns ist eines ganz klar: Die Auftragserfüllung steht immer an erster Stelle. Ziel muss es aus meiner Sicht deshalb sein, akzeptable Bedingungen für unsere Soldatinnen und Soldaten zu schaffen. Die Besonderheiten des jeweiligen Einsatzes dürfen nicht aus dem Auge verloren werden. Wir können nicht in der ganzen Welt inländische Bedingungen schaffen. Das geht nun einmal nicht. Ihnen liegt genau wie mir der Umgang mit den Soldatinnen und Soldaten nach dem Einsatz am Herzen. Das spielt in Ihrem Bericht eine große Rolle. Ich will darauf ganz kurz eingehen. Der Generalinspekteur hat am 31. Oktober 2012 das Rahmenkonzept „Erhalt und Steigerung der psychischen Fitness von Soldatinnen und Soldaten“ erlassen. Damit stellen wir die Betreuung der Einsatzrückkehrer auf eine solide Basis. Ich lasse mir quartalsweise von der Umsetzung berichten. Durch eine Vielzahl aufeinander abgestimmter und sich ergänzender Maßnahmen wollen wir Erkrankungen verhindern oder diese rechtzeitig erkennen, um entsprechende Hilfsangebote erarbeiten zu können. Ja, da gab es Verbesserungsbedarf. Wir sind auf dem Weg, gemeinsam Mängel abzustellen. Zum Schluss noch ein Wort zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Ja, auch hier gibt es einen immensen Verbesserungsbedarf in vielerlei Hinsicht. Das ist auch mehr als der Ausbau der Kinderbetreuung. Dazu gehört die Gewährleistung möglichst heimatnaher Verwendung, dazu gehören flexible Einsatzzeiten, Teilzeitregelungen, dazu gehört - das haben wir jetzt gemacht - die Schaffung einer besonderen Beauftragten für die Vereinbarkeit von Familie und Dienst als Ansprechpartner, und dazu gehört vor allem kluges Handeln vor Ort. Wir investieren 10,5 Millionen Euro in den Bau von eigenen Kindertagesstätten. Das ist richtig, allerdings wollen und können wir nicht überall eigene Kindertagesstätten organisieren. Wichtig ist, dass wir Betreuung vor Ort organisieren. ({0}) Das können Belegplätze sein, das können andere originelle Lösungen sein, die oft viel familiengerechter sind als der Bau eigener Kindertagesstätten. Ich kann Sie aber beruhigen, wenn Ihre Amtszeit bis 2015 geht. In der ersten Jahreshälfte 2014 sollen auf dem Campus in Neubiberg die ersten Kinder einziehen. Vielleicht können wir es hinbekommen, dass wir gemeinsam diesen Kindergarten eröffnen. ({1}) Ich will zum Schluss sagen, weil immer viel über das Verhältnis des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiter zum Ministerium und dessen Mitarbeitern geschrieben und gemutmaßt wird: Es ist ganz klar, der Wehrbeauftragte beschäftigt sich insbesondere mit Mängeln. Das ist seine gesetzliche Aufgabe. Der Minister und seine Mitarbeiter beschäftigen sich auch mit Mängeln, aber nicht nur mit Mängeln. Wir sehen auch die Stärken, wir sehen Entwicklungen, und wir wollen die Bundeswehr als solche auch schützen. Eines eint uns aber: Egal wie man auf die Dinge schaut, wir arbeiten sicher mit unterschiedlicher Methode, in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlicher Art beide daran, dass es den Soldatinnen und Soldaten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Bundeswehr im Ganzen so gut geht, dass sie ihren Auftrag erfüllt, dass sie in unserer Gesellschaft verankert ist und dass die Arbeits- und Lebensbedingungen so sind, dass die Soldaten gerne Soldaten sind und bleiben. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Wehrbeauftragter, Ende Januar haben Sie Ihren Jahresbericht 2012 vorgelegt. Ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Arbeit und - das muss man sagen - für die erneut schnelle Vorlage des Berichts. ({0}) Für die Tagesschau ist der Wehrbeauftragte „eine Mischung aus Kummerkasten und Seismograph für die Stimmung in der Truppe“. Für mich sind Sie dazu noch ein geschätzter Kollege mit einem Stab von engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Wertschätzung hier in der Debatte über den Bericht des Wehrbeauftragten scheint die Bundesregierung noch nicht ganz erreicht zu haben. Denn einen ungünstigeren Zeitpunkt als den Freitagnachmittag gibt es dafür wohl kaum. ({1}) Wahrscheinlich hätten die Kollegen von CDU/CSU und FDP die Debatte am liebsten auf den 1. Mai verschoben, um der sehr berechtigten Kritik in diesem Bericht aus dem Weg zu gehen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion hätten es jedenfalls sehr begrüßt, wenn für die Debatte über den Bericht eine prominentere Zeit angesetzt worden wäre; ({2}) denn viele Kollegen sind schon auf dem Weg in die Wahlkreise, um die Veranstaltungen heute Abend rechtzeitig zu erreichen. Es sind nicht nur wir hier im Bundestag, die sich die Feststellungen dieses Berichtes genau anhören sollten. Es gibt auch viele Soldatinnen und Soldaten, die unsere Debatte mit Interesse verfolgen. Es wäre meines Erachtens eine angemessene Geste, dafür einen Platz in der Primetime zu suchen. ({3}) Dass wir uns nun also hier am Freitagnachmittag treffen, ist gleichzeitig Ursache und Symptom der zurzeit schlechten Stimmung in der Truppe. Ich wundere mich nicht darüber, dass im Bericht des Wehrbeauftragten festgestellt wird, dass sich die Soldaten und Soldatinnen bei den Veränderungen durch die Neuausrichtung der Bundeswehr nur unzureichend mitgenommen fühlen. Viele haben das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird und sie bei Verän29554 derungen und Neuerungen unzureichend eingebunden werden. Das führt zwangsläufig zur Verunsicherung. Das bestätigt auch der vorliegende Bericht; wir haben es auch gerade gehört. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Gott sei Dank sind im vergangenen Jahr kein deutscher Soldat und keine Soldatin gefallen. Auch die Anzahl und Schwere von Verwundungen haben erheblich abgenommen. Das ist gut; aber es entbindet uns nicht von unserer Verantwortung. Der Soldatenberuf ist gefährlich, manchmal sogar lebensgefährlich. Allen Soldatinnen und Soldaten danke ich für ihren Einsatz und ihre Bereitschaft, für Frieden und Sicherheit ein großes Risiko auf sich zu nehmen. ({4}) Wir haben wirklich eine großartige Bundeswehr, wir haben großartige Männer und Frauen in der Truppe, die auf der ganzen Welt für ihr Können und ihre Verlässlichkeit geschätzt werden. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit und den Einsatz. Meine verehrten Damen und Herren, in dieses Bild passt es natürlich nicht, dass einige wenige dieses Ansehen mit ihrem Verhalten schädigen. Wir akzeptieren nicht, dass es in der Truppe unter der Überschrift „Alte Schule“ offensichtlich immer wieder zu verbalen Entgleisungen kommt, die zum Teil von den Vorgesetzten geduldet werden. Die Bundeswehr ist kein Ort für eine imaginäre Heldenromantik. Die Bundeswehr ist eine offene, moderne, transparente Truppe, in der Respekt, Toleranz und gegenseitige Achtung den Stoff für die Geschichten liefern sollten, nichts anderes. Erniedrigungen und Beleidigungen haben da keinen Platz. Solche Dinge schaden dem Ansehen der Soldatinnen und Soldaten, aber auch dem Ruf unseres Landes. Die kritischen Hinweise des Wehrbeauftragten richten sich zu Recht nicht allein an die Truppe selbst; auch der Bundesverteidigungsminister gerät erneut direkt in die Kritik. Seine Standortentscheidungen treffen in weiten Teilen der Truppe auf Unverständnis. Es wird eine nachvollziehbare Begründung vermisst. Wir von der SPDBundestagsfraktion teilen dieses Unverständnis. Es ist dringend notwendig, den Dialog mit den Soldatinnen und Soldaten zu vertiefen; das erfahren wir in jedem Gespräch vor Ort. Das persönliche Wort ist immer noch das Beste. Solange Sie das nicht tun, werden Ihre zumindest teilweise durchaus ehrenhaften Bemühungen nicht fruchten. Das gilt übrigens auch für die Frage der ungebremsten Entwicklung bei der Einsatzbelastung unserer Soldatinnen und Soldaten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie schon Anträge der SPD nicht zur Kenntnis nehmen oder verstehen, dann sollten Sie wenigstens die Ausführungen dazu im Bericht des Wehrbeauftragten mit der gebotenen Sorgfalt lesen; denn die Belastungskurve darf nicht weiter steigen, wir haben hier schon überreizt. Wir haben bei zahllosen Gelegenheiten auf die Belastungen der Truppe hingewiesen und gefordert, in diesem Bereich Abhilfe zu schaffen. Tun Sie etwas, und tun Sie bitte auch endlich etwas für die bessere Vereinbarkeit von Soldatenberuf und Familie! Dass es nun 2014 an einem Ort etwas geben soll, darüber kann man sich kaum noch freuen. Über Wilhelmshaven reden wir, glaube ich, schon seit sechs Jahren, und es ist immer noch nichts erfolgt. In diesem Bereich fordern wir weiterhin mehr Anstrengungen. Es ist mir in diesem Zusammenhang wichtig, dem Wehrbeauftragten für die Klarheit in seinen Ausführungen ausdrücklich zu danken. Liebe Kolleginnen von der CDU, nehmen Sie sich daran ein Beispiel und sorgen Sie in Ihren eigenen Reihen für Klarheit! Gerade auf den hinteren Plätzen schien mir in den letzten Wochen etwas Unklarheit zu herrschen. Deswegen formuliere ich es heute noch einmal und so, dass es hoffentlich alle Abgeordnete der Union - vom Süden Deutschlands bis Friesland - verstehen: Hören Sie auf, den Soldaten Lügen zu erzählen und sie für den Wahlkampf zu instrumentalisieren! Hören Sie vor allen Dingen auf, zu behaupten, die SPD wolle die deutsche Marine abschaffen! Das Gegenteil ist der Fall, und das wissen Sie auch. ({5}) Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unserer Marine. ({6}) Das muss hier einmal gesagt werden; denn Sie sagen das völlig ungeschützt. Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unserer Marine. Wir wollen, dass sie innerhalb Europas eine starke Rolle in Bezug auf Sicherheit und Verteidigung einnimmt. Eine Abschaffung der deutschen Marine ist das Hirngespinst aus Ihren Reihen, verehrte Damen und Herren von der CDU. ({7}) Solche Lügen sind unverantwortlich und verunsichern die Soldaten noch mehr als die Unwägbarkeiten der Bundeswehrreform. Das musste ich hier einmal deutlich aussprechen, weil mir das aus Ihren Reihen und aus interessierten Marinekreisen immer wieder erzählt wird. ({8}) Man sollte sich überlegen, ob es nicht besser wäre, wenn wir vernünftiger zusammenarbeiten und die Bundeswehr aus dem Wahlkampf herauslassen. ({9}) - Herr Müller-Sönksen, beruhigen Sie sich! Ich fahre jetzt mit harmloseren Themen fort. Es geht um Frauen in der Bundeswehr. ({10}) Zum Ende des Jahres 2012 dienten knapp 18 500 Frauen in der Bundeswehr. Das ist eine Quote von 9,65 Prozent. ({11}) Die im Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vorgegebene Quote wird weder im Sanitätsdienst noch in den übrigen Laufbahnen erreicht. Ich finde, das ist ein vernichtendes Urteil. ({12}) Noch eins: Der von der Bundesregierung geplante Gesetzentwurf zur Änderung des Soldatinnen-und-Soldaten-Gleichstellungsgesetzes berücksichtigt in keiner Weise die grundlegend geänderten Organisations- und Personalstrukturen der Bundeswehr. Gleichstellungsbeauftragte werden nach dem Bundesgleichstellungsgesetz in Dienststellen ab 100 Beschäftigten gewählt. Die militärischen Gleichstellungsbeauftragten sollen nun auf der Ebene der Division oder vergleichbar gewählt werden. Sie sind somit für bis zu 18 000 Soldatinnen und Soldaten zuständig. Damit ist eine angemessene Ausübung des Amtes und die Vertretung der Interessen der Wahlberechtigten schon allein wegen der hohen Anzahl der zu betreuenden Fälle gar nicht möglich. Dieser Ansatz kann nicht zu einer wirksamen Gleichstellung führen. Wie wir hören, ist das Kind noch nicht ganz in den Brunnen gefallen, aber - so sagen wir in Norddeutschland - es ist mit dem Eimer in der Hand auf dem Weg dahin. ({13}) Die Bilanz, die der Wehrbeauftragte vorgelegt hat, sieht nicht so gut aus: Es fehlen Tausende Stellen im Sanitätsdienst, es wird eine mangelnde Durchhaltefähigkeit der Truppe beklagt, wir haben einen dramatischen Nachwuchsmangel zu verzeichnen, eine unzulängliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine Truppe, die sich nicht mitgenommen und unzureichend eingebunden fühlt, und dazu noch einen Anstieg von Rechtsextremismus in der Armee. Wäre der Bericht des Wehrbeauftragten ein Zeugnis für die Bundesregierung, dann wäre die Versetzung im Herbst gefährdet. Danke. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christoph Schnurr für die FDPFraktion. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen, Herr Königshaus, für Ihre Arbeit, aber auch Ihren Mitarbeitern ganz herzlich für diesen Bericht danken. Wir beraten heute den 54. Jahresbericht des Wehrbeauftragten. In diesem sehr umfassenden Bericht werden gleich mehrere Themenfelder aufgegriffen: die Auslandseinsätze, die einsatzvorbereitende Ausbildung, die persönliche Ausstattung und Ausrüstung ebenso wie die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, um nur ein paar Themen zu nennen. Besonders erfreulich ist, dass diejenigen Passagen im Bericht besonders gerne gelesen werden, in denen Sie, Herr Wehrbeauftragter, von einer deutlichen Verbesserung sprechen. Sie erkennen die stetig verbesserte Einsatzvorausbildung ebenso an wie Verbesserungen bei der persönlichen Ausstattung und Ausrüstung. Wir als FDP-Fraktion können uns Ihrem Urteil nur anschließen. ({0}) In der jüngsten Vergangenheit hat sich wieder einmal erwiesen, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatz ist. Auf der einen Seite hat die Übergabe der Verantwortung in Afghanistan begonnen, auf der anderen Seite haben wir neue Auslandseinsätze wie in Mali und in der Türkei mandatiert. Die Einsatzszenarien bleiben also vielfältig. Deshalb sind wir Parlamentarier mehr denn je in der Pflicht, unsere Soldatinnen und Soldaten für ihre äußerst schwierigen Aufgaben bestmöglich auszustatten. Außenminister Dr. Westerwelle und Verteidigungsminister de Maizière haben gestern ihre Überlegungen zu einem deutschen Engagement in Afghanistan nach 2014 vorgestellt. Es ist absolut richtig, dass die internationale Gemeinschaft auch nach 2014 durch Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte einen Beitrag leisten wird. Es ist auch begrüßenswert, dass die Bundesregierung hierzu erste Eckpunkte für eine deutsche Beteiligung vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf die dringend benötigten Light Utility Helicopter zu verweisen. Wir müssen sicherstellen, dass wir, wenn notwendig, unsere Soldatinnen und Soldaten, aber auch zivile Entwicklungshelfer binnen kürzester Zeit retten und befreien können. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind durch die Auslandseinsätze stark beansprucht. Hinzu kommen Lehrgänge und Übungen in Deutschland. Die langen Abwesenheitszeiten der Soldaten von ihren Familien sind schlichtweg belastend und dienen nicht gerade einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Wie im Bericht erkenntlich, ist die Zahl der Eingaben, in denen eine mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Dienst beanstandet wird, erneut angestiegen. Hier besteht weiterer Handlungsbedarf. Die Einrichtung von ElternKind-Zimmern sowie die Belegrechte zur Kinderbetreuung sind sicherlich ein guter Anfang. Ebenso begrüßenswert ist die Tatsache, dass Soldaten bei Aus- und Fortbildungsmaßnahmen die Kosten für eine Kinderbetreuung erstattet bekommen. Dennoch muss es uns gelingen, auch an Bundeswehrstandorten Kinderbetreuungsplätze einzurichten. Der vorliegende Bericht beschäftigt sich natürlich auch mit der Personallage. In Spezialverwendungen, aber auch im Sanitätsdienst gibt es nach wie vor erhebliche Engpässe. Die Problematik wurde erkannt, und Maßnahmen zur Personalgewinnung befinden sich in der Umsetzung. Es liegt auf der Hand, dass diese Herausforderungen nicht quasi über Nacht gelöst werden. Auch hier werden wir die Entwicklung genau betrachten. In den letzten Wochen wurde einem Zwischenbericht des Wehrbeauftragten viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe nicht vor, an dieser Stelle jeden einzelnen Aspekt des Berichts bzw. der medialen Berichterstattung aufzugreifen. Festhalten möchte ich an dieser Stelle jedoch, dass wir im Deutschen Bundestag der Bitte unserer türkischen Freunde selbstverständlich nachgekommen sind und den deutschen Beitrag zur integrierten Luftverteidigung mandatiert haben. Dass zu Beginn des Auslandseinsatzes diverse Probleme entstanden sind und es in diesem konkreten Fall zu unglücklichen Situationen kam, ist uns bekannt. Ich möchte jedoch festhalten, dass diese Herausforderungen zu meistern sind und meines Wissens auch bereits bewältigt wurden. ({1}) Wir unterstützen unsere türkischen Verbündeten im Rahmen von Active Fence, und die Türkei ist uns eine enorme Hilfe beim geordneten Abzug unseres Materials aus dem Afghanistan-Einsatz. Deutschland ist und bleibt ein verlässlicher Partner in der NATO. Daher werden wir auch die Mission Active Fence erfolgreich zu Ende führen. Auch in der 18. Wahlperiode wird diese Regierungskoalition weiterhin alles daransetzen, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber bleibt und so ausgestattet wird, dass sie die Aufgaben bestmöglich erfüllen kann. Ich möchte die Gelegenheit heute nutzen, um mich bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für die gute Zusammenarbeit herzlich zu bedanken. Wir haben in dieser Wahlperiode einiges für die Bundeswehr tun können. Beispielhaft seien hier nur die Neuausrichtung, die Aussetzung der Wehrpflicht, das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz wie auch das EinsatzversorgungsVerbesserungsgesetz genannt. Zum Schluss möchte ich unseren Soldatinnen und Soldaten und ihren Familien, den Reservisten und den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr meine Anerkennung aussprechen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, dies kam mir in den Sinn, als ich den Jahresbericht 2012 des Wehrbeauftragten las. Zum einen möchte ich Herrn Königshaus und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Bericht herzlich danken, vor allem dafür, dass in dem Bericht Missstände und Baustellen in der Bundeswehr aufgezeigt werden. ({0}) Dies zu tun, ist die zentrale Funktion des Wehrbeauftragten. Die Linke stimmt überein in der Kritik an der Art und Weise, wie den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigten die Lasten der Neuausrichtung der Bundeswehr aufgebürdet werden. In der Tat, manche Probleme stinken zum Himmel. Ich will nur drei herausgreifen. PTBS-Fälle wurden auch 2012 weiter unter den Teppich gekehrt. Statistiken werden nur widerwilligst berichtigt. Die Opfer der Auslandseinsätze werden alleingelassen, sobald sie der Bundeswehr den Rücken kehren. Bei der Prävention psychischer Erkrankungen klafft eine große Lücke. Von der Bundeswehr in Auftrag gegebene Forschungen zu PTBS lassen sehr zu wünschen übrig bzw. liefern schlichtweg falsche Ergebnisse. Soldaten, die in den Ruhestand gehen oder aufgrund ihres Dienstes bei der Bundeswehr eine Schädigung erlitten haben, werden auseinanderdividiert. PTBS-Opfer von vor 2002 erhalten null Komma null null Euro Entschädigung. Bundeswehrsoldaten mit Dienstzeiten aus der DDR sind weiter schlechter gestellt als ihre Westkameraden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. ({1}) Schließlich: Rechtsradikale Vorfälle werden bagatellisiert und nicht entschlossen genug bekämpft. Die Zahl der sogenannten besonderen Vorfälle mit rechtsradikalem Hintergrund steigt wieder an. Auch Sie selbst, Herr Königshaus, wiegeln ab. Angesichts unserer Geschichte wäre hier eine gehörige Portion mehr Aufmerksamkeit gefragt. ({2}) Der Bericht zeigt insgesamt deutlich, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr für die Soldatinnen und Soldaten sowie für deren Familien Unsicherheit und Belastungen gebracht hat. Es reicht nicht aus, wenn die Damen und Herren von der Regierungsbank den Bericht brav zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt weiter ignorieren. Viele Baustellen sind schon seit Jahren bekannt; auch ich habe schon öfter auf diese hingewiesen. Es muss nun endlich entschieden zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten gehandelt werden. ({3}) Aber viele der Probleme sind eben ein Resultat Ihres generellen Kurses in der Verteidigungspolitik und damit hausgemacht. Hier muss ich nun zum anderen auch an Ihnen, Herr Königshaus, Kritik üben. Wenn Sie schon politische Äußerungen abgeben, warum ziehen Sie dann nicht zwingende Schlussfolgerungen aus all den Kritikpunkten? Die Bundesregierung ist blind für die Sorgen und Nöte der Soldatinnen und Soldaten, ({4}) weil alles rücksichtslos der weltweiten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr untergeordnet werden soll. ({5}) Im Gegenteil: Sie beschwören ja geradezu neue Probleme und Unsicherheitsfaktoren herbei. Zum Beispiel halte ich es für mehr als unglücklich, wenn Sie sich, Herr Königshaus, im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr zu Beschaffungsmaßnahmen äußern. Mehr will ich jetzt dazu nicht sagen. ({6}) Glauben Sie mir, beim An-Land-Ziehen von Aufträgen ist die Rüstungslobby gewiss nicht auf Ihre Hilfe angewiesen. Kurzum: Der Wehrbeauftragte sollte sich auf seine Kernaufgaben besinnen, und die Bundesregierung sollte endlich entsprechend den Bedürfnissen der Soldaten handeln. ({7}) Dafür brauchen wir eine Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik, die die Bundeswehr wieder auf ihren grundgesetzlichen Auftrag zurückführt: die Landesverteidigung. ({8}) Auch deshalb haben wir, die Linke im Bundestag, nun schon den 8. Runden Tisch der Friedensbewegung organisiert, der gerade in diesem Augenblick drüben im Jakob-Kaiser-Haus stattfindet. Deshalb möchte ich auch meine Fraktionskolleginnen und -kollegen aus dem Verteidigungsausschuss entschuldigen. ({9}) Die Linke sagt Nein zum Krieg und zur Aufrüstung der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz. Es sind mehr zivile Ausbildungs- und Arbeitsplätze nötig. Wir lehnen Auslandseinsätze ab und fordern ein Verbot von Waffenexporten. Wir sind die einzige Friedenspartei hier im Deutschen Bundestag. ({10}) Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wehrbeauftragter, es ist eine gute Tradition - ich will sie auch dieses Mal nicht missen -, nicht nur Ihnen persönlich und Ihrem Stab für die gute Arbeit in den letzten zwölf Monaten zu danken, sondern auch uns allen dazu zu gratulieren, dass wir diese Institution haben. ({0}) Der Wehrbeauftragte ist eine Institution, die wirklich einmalig ist und um die uns viele Parlamentarier auf der Welt zu Recht beneiden können. ({1}) Ich möchte kurz etwas zu den drei Themen sagen, die gerade vom Herrn Minister genannt worden sind. Beginnen möchte ich mit dem Thema Familie. Ja, Sie haben völlig zu Recht gesagt: Das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ ist sehr wichtig. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass die Bundeswehr auch nach Abschaffung der Wehrpflicht genug Menschen aus der Breite der Gesellschaft gewinnen kann. Das ist ein Attraktivitätsthema. Aber das ist auch ein Fürsorgethema. Herr Kollege Schnurr, Ihnen kann ich leider nicht beipflichten. Ich habe mir sehr viele Eltern-Kind-Arbeitszimmer angeschaut. Ihre Einrichtung ist kein Schritt in die richtige Richtung. Sie können nicht davon ausgehen, dass ein Kind betreut ist, wenn es hinter Ihnen in der Ecke des Zimmers, in dem Sie arbeiten wollen, spielt. Das ist kein Ersatz für Kinderbetreuung. Das ist ein Placebo. Ich bin dankbar, Herr Minister, dass Sie die Einrichtung von Eltern-Kind-Arbeitszimmern dieses Mal nicht als einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnet haben und dass Sie nicht gesagt haben, dies sei eine große Errungenschaft. Ich habe noch keine Kaserne gesehen, in der diese Arbeitszimmer von Leuten, die Kinder haben, tatsächlich genutzt werden. ({2}) Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet viel mehr. Das Stichwort „Pendlerarmee“ ist schon genannt worden. Natürlich müssen wir die Familien im Blick haben. Ja, auch die Lebenspartner brauchen so manche Unterstützung; da ist noch sehr viel zu tun. Ich befürchte, dass dieses Thema auch im nächsten Bericht des Wehrbeauftragten einen Schwerpunkt darstellen wird. Was die Einsätze angeht, will ich nur auf einen einzigen Punkt hinaus: Die Belastung ist völlig zu Recht angesprochen worden. Es ist bekannt, dass es glasklare Studienergebnisse zum Thema „Posttraumatische Belastungsstörungen“ gibt, die belegen, dass die Anfälligkeit für diese Krankheit mit zunehmender Dauer eines Einsatzes steigt, dass es aber auch einen Zusammenhang mit verkürzten Regenerationszeiten gibt. Wenn man anpeilt, dass die Regenerationszeit zwischen zwei Einsätzen 20 Monate dauert, aber die Hälfte der Soldatinnen und Soldaten diese 20 Monate Regenerationszeit nicht be29558 kommt, dann ist das schlicht unverantwortlich und indiskutabel. Da kann man nur sagen: Hier ist nicht richtig geplant worden. Hier muss deutlich mehr geschehen. Auf das Thema Einsätze legen wir daher zu Recht einen besonderen Fokus. Ich will noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Es ist immer wieder davon die Rede, dass im Zusammenhang mit der Reform der Bundeswehr eine große Verunsicherung in der Truppe herrscht. Auch wenn ich diese Reform gar nicht als solche bezeichnen würde, glaube ich, dass die bestehende Verunsicherung tiefer gehende Gründe hat. Es geht schlicht und ergreifend um die Spezifika des Soldatenberufes. Es gibt nicht viele Berufe, in denen die Lebensgefahr so groß ist. Es gibt auch nicht viele Berufe, in denen Gehorsam eine solch große Rolle spielt. Aber Soldatinnen und Soldaten haben, gerade im 21. Jahrhundert, natürlich auch das Recht, als Arbeitnehmer angesehen zu werden. Sie haben daher Arbeitnehmerrechte. Ich bin mir nicht sicher, dass das auch von der Spitze des Hauses so gesehen wird. ({3}) Herr Minister, ich will nicht alle Zitate, die genannt wurden, wiederholen - Ihre Aussage bezüglich der Gier hat übrigens ebenfalls zu dieser Verunsicherung beigetragen -, sondern aus Ihrem Diskussionspapier zur Veteranenpolitik zitieren. Dort schreiben Sie: In Deutschland sind die Sozialleistungen für aktive wie für ehemalige Bundeswehrangehörige, einschließlich ihrer medizinischen Betreuung, bereits auf hohem Niveau gewährleistet. Es gibt 1 500 Anträge im Jahr zur Begutachtung der PTBS und zwei Gutachter. Angesichts dessen kann man eine solche Aussage nicht treffen, wie Sie es getan haben. Das zeugt von einem Bild der Bundeswehr aus dem Jahre 1965, als es hieß: Der Soldat ist ein Indianer, und ein Indianer kennt keinen Schmerz. - Darum geht es aber nicht. Wir haben heutzutage eine andere Truppe, und wir müssen auch ein anderes Bild von den Soldatinnen und Soldaten haben. Das sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich sehe nicht, dass deren Rechte hier berücksichtigt werden. Ich erkenne auch nicht, dass grundsätzliche Probleme angegangen werden. Ein Viertel aller IT-Spezialisten fehlt; 4 000 Stellen sind unbesetzt. Wenn man nachfragt, wie man den Mangel beseitigen will, dann lautet die Antwort: Dann müssen wir halt die Sollstärke verkleinern. - Beim Sanitätsdienst ist es auch im Inland so, dass Sanitätseinheiten eigentlich nur noch pendeln, weil die Zahl dieser Einheiten nicht mehr ausreicht, auch wenn sich bereits vieles in dem Bereich gebessert hat. Der Bericht des Wehrbeauftragten ist sehr wichtig und muss hier diskutiert werden. Aber es gibt einige Fixpunkte, bei denen man das Gefühl bekommt, hier grüßt täglich das Murmeltier; denn wir diskutieren seit Jahren immer dasselbe. Das Murmeltier ist in dem Fall der Wehrbeauftragte. Das ist für alle, für ihn wahrscheinlich am allermeisten, frustrierend. Aber ich kann Hoffnung machen: Wenn wir den nächsten Bericht diskutieren, ist das alles besser. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt ist Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Namens der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen und allen Mitarbeitern danken, die an der Erstellung des Jahresberichts 2012 beteiligt waren. Erneut waren zahlreiche Eingaben von Soldaten zu überprüfen und für den Bericht zu berücksichtigen. Erfreulicherweise ist deren Zahl im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr zum dritten Mal in Folge gesunken, und das, obwohl Zeiten des Umbruchs wie die jetzige Strukturreform zu immer mehr Eingaben geführt haben. Doch letztlich wissen unsere Soldaten recht gut, dass etwa in Auslandseinsätzen auch mit schwierigen Bedingungen zu rechnen ist, die der Dienstherr nur bedingt beeinflussen kann. Sie nehmen diese Herausforderungen auf professionelle Art an. So waren die betroffenen Soldaten selbst nicht glücklich über die jüngste öffentliche Aufregung um den Türkei-Einsatz. Da sollten wir uns bemühen, eine Wiederholung zu vermeiden. Dieser Einsatz ist natürlich nicht vergleichbar mit dem Einsatz in Afghanistan, wenn auch bündnispolitisch wichtig und keinesfalls frei von potenziellen Gefahren. Mit dem bevorstehenden Ende von ISAF verringert sich zudem nach über einem Jahrzehnt auf absehbare Weise unser militärisches Engagement am Hindukusch. Nach 2014 werden wir dort voraussichtlich nur noch höchstens 800 Soldaten haben, die vor allem Ausbildung und Beratung fortführen werden. Gerade der Afghanistan-Einsatz hat zu wesentlichen Verbesserungen in Ausstattung, Ausbildung und Fürsorge für die Soldaten geführt. Ich erinnere an das Thema der geschützten Fahrzeuge, das wir hier auf Grundlage der Berichte des Wehrbeauftragten oft diskutiert haben. Mittlerweile ist diese Lücke weitgehend geschlossen. Wir beschaffen aber auch weiterhin Fahrzeuge, um den einsatzbedingten Verschleiß auszugleichen. Bereits in der kommenden Woche werden die Fachausschüsse über eine weitere Tranche entscheiden. Denn weitere Einsätze werden kommen, wie die gerade angelaufenen Missionen in Mali zeigen. In Zukunft sollten unsere Soldaten von vornherein mit dem bestmöglichen Schutz ausgestattet sein. Es bleiben nach wie vor weitere Vorhaben offen, die es trotz angespannter Haushaltslage unbedingt umzusetzen gilt. Ich nenne beispielhaft die Fähigkeit zur Route Anita Schäfer ({0}) Clearance von Sprengfallen, den Ausbau der Nachtkampffähigkeit, aber auch die Beschaffung eines leichten Unterstützungshubschraubers für die Spezialkräfte. Ich hoffe, dass gerade der letzte Punkt im Gefolge der kürzlichen Einigung mit der Industrie über die Stückzahlen beim Kampfhubschrauber Tiger und dem NH-90 nun auch recht bald abgeschlossen werden kann. Mittlerweile sind sowohl der Tiger als auch der NH-90 in den Einsatz nach Afghanistan verlegt worden und verbessern damit die Fähigkeit und die Sicherheit der deutschen Soldaten dort. Meine Damen und Herren, zuhause bleibt unsere größte Herausforderung die weitere Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht dankenswerterweise noch einmal besonders auf die Pendlerproblematik hingewiesen und hierfür den Begriff der „Pendlerarmee“ gebraucht. Um es klar zu sagen: Wir werden das Problem niemals vollständig lösen können, weil Versetzungen und Einsätze zum Soldatenberuf gehören. Wenn wir die Bundeswehr in der Fläche und in der Gesellschaft präsent halten wollen, können wir sie nicht in wenigen Großstandorten konzentrieren. Aber wir können die Maßnahmen, die wir eingeleitet haben - etwa zur Verbesserung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten -, fortsetzen. An Großstandorten mit entsprechendem Bedarf spricht aus meiner Sicht auch nichts gegen eigene Kindergärten in der Kaserne. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch einmal betonen, dass sich die Vorgesetzten nach meiner Erfahrung in der Regel außerordentlich bemühen, den familiären Belangen ihrer Soldaten gerecht zu werden - ganz im Sinne der 2008 neu gefassten Zentralen Dienstvorschrift Innere Führung. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr. In spezialisierten Truppengattungen mit hoher Einsatzrelevanz muss es allerdings weiterhin besondere Maßnahmen geben. Ein Beispiel dafür ist nach wie vor der Sanitätsdienst. Die in dieser Legislaturperiode umgesetzten Änderungen gerade für Bundeswehrärzte im gesetzlichen, finanziellen und Weiterbildungsbereich haben die dramatischen Personalverluste, die es in den Vorjahren gab, zwar gestoppt; aber noch immer besteht eine deutliche Lücke zum Soll. Derzeit wird überprüft, in welchem Umfang Musterungsärzte aus den aufgelösten Kreiswehrersatzämtern nach entsprechender Weiterbildung möglicherweise die Vakanzen bei Truppenarztposten füllen können. Die Erhöhung der Anzahl der Studienplätze für Humanmedizin ab 2015 wird zu einer Steigerung des jährlichen Zuwachses führen. Hier sind wir also auf einem guten Weg. Meine Damen und Herren, da die öffentliche Berichterstattung anlässlich der Veröffentlichung des Jahresberichtes des Wehrbeauftragten gerne Schreckensbilder malt, möchte ich zum Abschluss feststellen: Die Bundeswehr ist viel besser, als gängige Stereotype es glauben machen wollen. Das gilt auch und gerade für sensible Bereiche, in denen jeder Fall einer zu viel ist. Ja, es gibt sexuelle Belästigung, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Bundeswehr, und wenn so etwas auftritt, ist energisches Handeln gefordert. Die Bundeswehr ist und bleibt ein Spiegelbild der Gesellschaft, und das spricht für ihre Verankerung in unserem demokratischen Gemeinwesen. Nimmt man alles zusammen, so stellt man fest, dass die Bundeswehr gerade in den angesprochenen kritischen Bereichen besser dasteht als der Durchschnitt der Gesellschaft. Allen Soldaten, die in diesen besten aller bisherigen deutschen Streitkräfte dienen - ob im Inland oder im Ausland -, möchte ich meine Anerkennung und meinen herzlichen Dank dafür aussprechen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12050 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Visafreiheit für Inhaber russischer Dienstpässe - Keine Visumspflicht für Menschen aus dem Westbalkan Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Marieluise Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche konnte niemandem entgehen, dass das Regime Putin die russische Zivilgesellschaft flächendeckend mit Repressalien überzieht. Ausgeführt werden diese Repressionen von Beamten der russischen Staatsanwaltschaft und der Justiz sowie von Beamten des Innenministeriums. Im Gepäck haben sie immer gleich noch das Staatsfernsehen. Diese Aktionen zielen ganz offensichtlich auf die Zerschlagung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die für ein freies und demokratisches Russland eintreten, wie wir es alle wollen. Zeitgleich nun erklären der Außenminister und der Innenminister der schwarz-gelben Bundesregierung gegenüber der EU-Kommission, dass einer Visumsfreiheit für russische Dienstpassinhaber - also für ebendiese hohen Beamten - nichts mehr im Wege stehen soll. Im Klartext heißt das: Reisefreiheit für den Repressionsapparat des russischen Staates, während russische Studierende, Verwandte und andere sogenannte Normalbür29560 Marieluise Beck ({0}) ger weiterhin vor deutschen Konsulaten anstehen müssen und sich hochnotpeinlichen Befragungen unterziehen müssen. Nicht von ungefähr gehen russische Studierende inzwischen nicht mehr zu deutschen, sondern eher zu estnischen oder finnischen Konsulaten. Wir wollen visumsfreies Reisen. Dies ist - ich betone das - ein starkes Mittel für die innere Demokratisierung insbesondere von Transformationsländern. Es ist auch ein starkes Mittel, um die Begegnung mit offenen Gesellschaften herzustellen, und damit ein wirkungsvolles Mittel für den Widerstand gegen repressive Regimes. Aber was ist nun passiert? Wegen einer absurden Selbstverpflichtung auf ein Gegenseitigkeitsprinzip in Visafragen lässt sich die EU von Russland erpressen. Der Kreml verlangt Visaprivilegien für seinen Repressionsapparat - dazu gehören unter anderem die, die verhandeln, und zwar in eigener Sache - für seine Zustimmung, dass russische Studierende, Geschäftsleute usw. bei uns vielleicht ein Mehrfachvisum bekommen. Sehen Sie, was für eine absurde Idee das ist? Diese Reziprozität, die verlangt wird, bedeutet, dass nicht wir sagen: „Wir halten es für richtig, dass Studierende und Familienangehörige ohne Visum zu uns kommen; wir wollen sie bei uns haben“, sondern dass Regimes, auch autoritäre Regimes, sozusagen den Schlüssel in der Hand halten. Das ist wirklich eine absurde Figur. Wir hätten doch von EU-Seite die Möglichkeit, zu sagen: Unsere Visumspolitik bestimmen wir selbst. ({1}) Wir wissen, dass Beamte des russischen Staatsapparates tief in Korruption verwickelt sind und dass sie dringend gerne in den Westen reisen wollen, um dort ihre Assets zu pflegen. So finden sich zum Beispiel auf dem Schweizer Konto des Gatten der Steuerbeamtin, die in den Magnitzki-Deal verwickelt war, Millionenbeträge. Es ist bekannt: Diese Steuerbeamtin, die stark in den Tod von Anwalt Magnitzki verwickelt ist, würde mit zu den Dienstpassinhabern gehören. Wie freundlich, dass sie nunmehr die Erlaubnis bekommt, mit ihrem Gatten den Ertrag ihres Tuns im Westen verjubeln zu können. Dieser Deal, der dort angeboten wird, ist ein Sieg des FSB auf der ganzen Linie. Das muss man einfach sagen. Gibt es in diesem Fall Sicherheitsbedenken des Bundesinnenministeriums, mit denen Sie ja gerne eine restriktive Visumspolitik betreiben? Fehlanzeige! Die allerdings haben Sie beim Balkan. Im Jahre 2010 erhielten die Bürgerinnen und Bürger des Westbalkans endlich Visumsfreiheit, die sie als jugoslawische Staatsbürger schon immer gehabt haben. Endlich waren die jungen Menschen nicht mehr eingesperrt und konnten bei uns sehen, wie attraktiv demokratische und offene Gesellschaften sind. Ja, es gab eine Winterwanderung. Ja, das war eine Herausforderung für die Kommunen. Aber statt mit den Kommunen nach Möglichkeiten zu suchen, sie bei der Winterunterbringung zu unterstützen, wird von Innenpolitikern jetzt darüber nachgedacht, wie man die Visaliberalisierung auf EU-Seite wieder einschränken kann, und das wegen einer Erhöhung der Asylbewerberzahlen von 2011 bis 2012 um - ich möchte die Zahlen nennen 2 800 aus Mazedonien und 1 400 aus Serbien. Das sind minimale Zahlen verglichen mit einer Bevölkerung von 82 Millionen Menschen. Überlegen Sie einmal, was Jordanien und die Türkei im Augenblick für eine Aufgabe mit der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen schultern! Meine Damen und Herren Innenpolitiker, Sie machen mit dieser Art von Regulierung Außenpolitik. Darüber müssen wir hier sprechen. Diese Art von Kleinkariertheit schließt die betroffenen Länder und ihre Bevölkerungen wieder aus und gibt Aufwind für nationalistische Tendenzen, die es in diesen Ländern leider gibt. Dass die Roma sowieso dafür verantwortlich gemacht würden, wenn es zu einer Verschlechterung für die anderen Bürger käme, ist vollkommen klar. Ich fordere Sie deswegen auf: Beenden Sie dieses Chaos! Ziehen Sie die Visumspolitik wirklich an sich, in dem Wissen, dass Sicherheitspolitik nicht über Visumspolitik zu betreiben ist. Die jetzige Visumspraxis gehört in die Amtsstuben des vergangenen oder vorvergangenen Jahrhunderts. Eine moderne Visumspraxis ist auch Teil einer klugen Außenpolitik und führt zu einer Öffnung für Bürgerinnen und Bürger. Wenn dann zum Schluss die Dienstpassinhaber kommen, will ich auch damit zufrieden sein. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ole Schröder.

Dr. Ole Schröder (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003628

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen Aktuellen Stunde, beantragt von den Grünen, werden zwei Themen im Bereich der Visumspolitik miteinander vermengt, die nichts miteinander zu tun haben. Wir sollten uns gerade im Bereich der Visumspolitik vor zu starken Vereinfachungen hüten. Lassen Sie mich deshalb gleich zu Beginn festhalten: Die Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Politik der russischen Regierung, gerade im Hinblick auf Menschenrechte sowie auf Presse- und Meinungsfreiheit, ist eindeutig. Die Bundeskanzlerin hat erst vor wenigen Tagen im Beisein von Präsident Putin nochmals unterstrichen, dass Deutschland - ich zitiere - „für eine starke zivilgesellschaftliche Entwicklung durch viele Nichtregierungsorganisationen“ in Russland eintritt. Meine Damen und Herren, so klare Worte hätte ich mir von der damaligen rot-grünen Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder gewünscht. ({0}) Ich möchte Ihnen an dieser Stelle Schröders Zitat vom „lupenreinen Demokraten“ und dergleichen ersparen. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Bundesregierung größtes Engagement an den Tag legt, wenn es darum geht, die Westbalkanstaaten an Europa heranzuführen, ({1}) sowohl auf europäischer Ebene als auch im bilateralen Bereich. Aber der Reihe nach: Die Europäische Kommission verhandelt momentan die Weiterentwicklung des 2007 verabschiedeten Visumserleichterungsabkommens mit Russland. Ziel solcher Abkommen ist es, insbesondere - ich zitiere aus dem aktuellen Abkommen mit Russland zwischenmenschliche Kontakte als wichtige Voraussetzung für einen steten Ausbau der wirtschaftlichen, humanitären, kulturellen, wissenschaftlichen und sonstigen Beziehungen zu fördern … Bei aller Diskussion um die Dienstpassinhaber sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass es bei dieser Weiterentwicklung des Visumserleichterungsabkommens vor allen Dingen darum geht, das Reisen für Schüler, für Studenten, für Wissenschaftler, für Sportler, für Journalisten zu erleichtern und vor allem Verwandtenbesuche zu ermöglichen. ({2}) Letztendlich geht es um die Stärkung der russischen Zivilgesellschaft. Auf diesem Wege trägt die EU dann zur weiteren Demokratisierung in Russland bei. Wenn Sie so wollen, handelt es sich dabei um eine aktuelle Form des Prinzips „Wandel durch Annäherung“. ({3}) Eine Visumsbefreiung für Dienstpassinhaber ist bei der Weiterentwicklung derartiger EU-Abkommen völlig üblich. Eine solche Regelung ist auch im Zuge der Verhandlungen als Zugeständnis gegenüber Russland schlichtweg notwendig, um dann im Gegenzug die erwünschten Erleichterungen für die Zivilgesellschaft zu erreichen. ({4}) - Da haben Sie völlig recht. Gerade in Bezug auf Russland muss man das Für und Wider eines solchen Zugeständnisses sehr genau abwägen. Das tun wir auch. Die Bundesregierung hat sich deshalb gegenüber der Kommission für eine deutliche Reduzierung der Privilegien für diese Dienstpassinhaber ausgesprochen. Im Falle von Missbrauch einer solchen Regelung muss ein Widerruf oder eine Aussetzung möglich sein. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Russland stellt sich auch die Frage, ob zum jetzigen Zeitpunkt eine solche Regelung wirklich angebracht ist. Das wird von der Kommission im Zuge der Beratungen zu berücksichtigen sein. Nun zu dem zweiten Thema: keine Visumspflicht für Menschen aus dem Westbalkan. Auch hier sollte man die Realität sehr genau in den Blick nehmen. Seit 2009 sind alle Staatsangehörigen aus den Staaten Serbien, Montenegro und Mazedonien, die einen biometrischen Pass besitzen, visumsfrei. Das Gleiche gilt seit 2010 für Albanien sowie Bosnien und Herzegowina. Die Visumsfreiheit ist für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder der greifbarste Vorteil, wenn es um die Annäherung an Europa geht. ({5}) Sie ist auch ein wichtiger Anreiz, wenn es darum geht, Reformen in diesen Ländern voranzubringen. Auf der anderen Seite müssen sich diese Länder natürlich an die bestehenden Regelungen halten. Es kann nicht sein, dass die Gewährung von Visumsfreiheit vor allem dazu führt, dass massenweise unbegründete Asylanträge in Deutschland oder in anderen EU-Staaten, zum Beispiel in Frankreich, Schweden und Luxemburg, gestellt werden. Wir alle kennen die Zahlen. Dennoch sei mir gestattet, sie am Beispiel von Serbien zu nennen. Im Dezember 2009, also in dem Jahr, als die Visumsfreiheit geschaffen wurde, gab es lediglich 900 Asylanträge. Im Jahr 2012 waren es bereits rund 13 000 Erst- und Folgeanträge, und das vor dem Hintergrund, dass Serbien ein Beitrittskandidat ist. Nach Einschätzung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und des Europäischen Asylunterstützungsbüros haben wir in diesem Jahr mit weiteren Steigerungen zu rechnen. Mir ist wichtig, zu betonen: Bei alledem liegt die Anerkennungsquote in Deutschland nahe null. Wenn überhaupt, gibt es subsidiären Schutz in ganz wenigen Fällen, in denen zum Beispiel eine bestimmte medizinische Behandlung nur in Deutschland und nicht im Herkunftsland durchgeführt werden kann. Es ist nicht hilfreich, wenn einige SPD-Landesinnenminister öffentlich verkünden, dass es über die Wintermonate ein Bleiberecht für Menschen aus diesen Staaten gibt. Das führt natürlich zu einer zusätzlichen Sogwirkung und setzt Anreize, unser Asylsystem zu missbrauchen. Das ist nicht gut. Solche Aussagen sollte man zumindest nicht öffentlich machen. Die Probleme der Staaten des Westbalkans lassen sich nicht dadurch lösen, dass wir eine unkontrollierte Migration in die EU ermöglichen. Unsere Nachbarstaaten auf dem Westbalkan können sich auf unsere Solidarität und Unterstützung verlassen. Sie müssen aber auch selbst ihre Probleme insbesondere in Bezug auf Minderheiten lösen. Die Lebensbedingungen für diese Menschen müssen sich vor Ort verbessern. Wir können das nicht dadurch lösen, indem wir es ihnen ermöglichen, Asylanträge in Deutschland zu stellen. ({6}) Um auf mögliche Fehlentwicklungen zu reagieren - das gilt nicht nur in Bezug auf die Staaten des Westbalkan -, sind wir gerade dabei, als Ultima Ratio eine Regelung wieder einzuführen, die es ermöglicht, die Visumsfreiheit für eine gewisse Zeit auszusetzen. Das ist ein deutliches Signal, dass die betreffenden Staaten alles daransetzen müssen, um die Situation der Minderheiten bei sich zu verbessern und so Asylmissbrauch zu begegnen. Deshalb haben wir von Anfang an die Initiative der Niederlande und Frankreichs zur Schaffung eines Aussetzungsmechanismus unterstützt. Wie gesagt, es handelt sich um eine Ultima Ratio, die für alle Länder gilt, gegenüber denen Visumsfreiheit besteht. Man kann natürlich die Augen vor der Realität verschließen. Wer aber den Erfolg eines Europas der Bürgerinnen und Bürger möchte, der sollte die Probleme lösen. Das hat sich die Bundesregierung zur Aufgabe gemacht. Ich möchte Sie bitten, uns dabei zu unterstützen. Wir haben es hier mit sehr sensiblen Themen zu tun. Wir sollten deshalb nicht pauschal unterschiedliche Themen einfach vermengen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Das ist nicht hilfreich bei der Lösung der Probleme. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Franz Thönnes für die SPD-Fraktion.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bedauere, dass diese beiden so unterschiedlichen Themen im Rahmen einer Aktuellen Stunde behandelt werden; denn diese kann dem Beratungsbedarf beider Themen nicht gerecht werden. Deshalb gleich zu Anfang: Keine Visapflicht für Menschen aus dem Westbalkan - das ist unsere Position. Denn wir haben mit den europapolitischen Entscheidungen, die getroffen worden sind, den Menschen eine Perspektive im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union gegeben und mit den Annäherungsverabredungen diesen Ländern auch eine Beitrittsperspektive eröffnet. Ich glaube, wir müssen realisieren, vor welchem Hintergrund das Ganze stattfindet und wie stark Deutschland früher betroffen gewesen ist. Im Jahr 1992 betrug die Zahl der Asylbewerber 438 000. Es war eine schwierige Zeit. Im vergangenen Jahr waren es nur noch knapp 77 000 Asylbewerber, also gegenüber 1992 knapp 17 Prozent. Ich will damit nichts beschönigen. Ich will gleichzeitig aber sagen, dass das Ganze nicht dramatisiert werden darf. Es ist sachlich zu diskutieren. ({0}) Es darf auch nicht hektisch reagiert werden, wie das der Bundesinnenminister teilweise getan hat, indem er eine Verkürzung der Asylverfahren, eine schnelle Rückführung, die Wiedereinführung der Visapflicht und sogar eine Einschränkung und Reduzierung des Asylbewerberleistungsrechts verkündet hat. Das sind nicht die richtigen Antworten, die die Probleme lösen. Das ist auch nicht der Weg zu einem geeinten Europa. Wenn man - so wie bei der Finanzkrise - Missstände bekämpfen will, ist es, denke ich, notwendig, auch gemeinsam Armut in Europa zu bekämpfen. Auch das soziale Gesicht Europas muss entwickelt werden. Beim Asylbewerberrecht geht es dann darum, auch das Einzelfallrecht im Auge zu behalten und nicht zu pauschalieren. ({1}) Deswegen ist die Abschaffung der Visafreiheit völlig falsch. Sie ist genauso falsch wie eine öffentliche Dramatisierung, die großen Schaden anrichtet. Mit der öffentlichen Dramatisierung verhält es sich bei dem anderen Thema genauso - da sollte man auch sehr sensibel sein -: Keine Visafreiheit für Inhaber von russischen Dienstpässen. Der ursprüngliche Titel lautete ja ganz anders: ({2}) Keine Visafreiheit für den Repressionsapparat. Russland hat in den letzten Jahren eine bewegte Entwicklung durchgemacht: von der Diktatur, vom Kalten Krieg, vom kalten Kapitalismus mit ersten demokratischen Schritten, die als solche auf die Menschen anders gewirkt haben, hin zum blanken Kapitalismus ohne Schutz und ohne Rechte und schließlich zu einem starken Staat, bei dem wir zunehmend wahrnehmen, dass für Demokratie nach oben noch viel Spielraum besteht. Wenn wir darüber diskutieren, wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen stattfinden, geht es darum, dies zu berücksichtigen. Deutschland hat ganz enge Beziehungen zu Russland. 7 000 deutsche Unternehmen sind in Russland tätig. 2 Millionen Menschen in Russland lernen Deutsch. Es gibt 90 Städtepartnerschaften. Im Austausch von Wirtschaft, Jugend, Kultur und Wissenschaft gibt es ein enges Geflecht. Das alles wäre unter einem durch und durch strukturierten Repressionsapparat gar nicht möglich. ({3}) Es geht dabei auch um eine Differenzierung im Hinblick auf die Menschen in diesem Apparat. Wir haben das Thema nun zum dritten Mal auf der Tagesordnung. Es ist die dritte Russland-Debatte innerhalb eines halben Jahres. Schon in der ersten Debatte haben wir deutlich gemacht, dass uns die Zurückdrängung von Freiheiten, das Gesetz gegen die Nichtregierungsorganisationen, die Verfolgung von Menschen, die versuchen, sich demokratisch zu betätigen, die Einschränkung der Versammlungs- und der Demonstrationsrechte, die Gesetze gegen die sexuellen Minderheiten, das intensive Vorgehen der Sicherheitskräfte in Form von Hausdurchsuchungen bzw. Verhaftungen derjenigen, die ihre demokratischen Freiheiten wahrnehmen wollen, genauso wenig gefallen wie der Ausschluss von Parlamentariern aus dem Parlament oder die Durchsuchungen, die vorhin hier genannt worden sind, ob das nun bei Golos Svobody, Amnesty International, der Konrad-Adenauer-Stiftung oder der Friedrich-Ebert-Stiftung der Fall war. Das alles ist völlig inakzeptabel. ({4}) Aber man wird dem nicht gerecht, wenn die Antwort jetzt darin gesucht wird, all diejenigen, die im Staatsdienst sind, unter den gleichen Verdacht zu stellen, und genauso pauschalisiert wird. Das hilft überhaupt nicht weiter, insbesondere dann nicht, wenn man sich in diesem Haus in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe und in allen Reden und Anträgen permanent für Visafreiheit einsetzt und die Bundesregierung kritisiert, weil sie im Kern mit dem Fuß auf der Bremse steht. Hier geht es um ein kleines Stück Visaliberalisierung, einen kleinen Schritt, bei dem wir deutlich sagen sollten: Lasst ihn uns gehen, und lasst auch hier die Einzelfallprüfung zur Anwendung kommen. Wenn klar ist, dass einige versuchen, sich missbräuchlich oder trotz nachgewiesener Straftaten und Repression Zutritt zu verschaffen, dann haben sie keinen Zutritt. Dann muss das zu spüren sein. Aber wir sollten nicht generalisieren. Deswegen ist das, was die Bundesregierung jetzt unternimmt, ein Schritt in die richtige Richtung. Er ist aber völlig unzureichend, weil alles andere, was gesagt worden ist, dazugehört. Wir müssen über Wissenschaft reden. Wir müssen über Jugend reden. Wir müssen über Studenten, über Sport und über Wirtschaft reden. Hier brauchen wir mehr Freiheiten. Hier brauchen wir mehr Liberalisierung. Es ist wichtig, jetzt nicht ein Spiel nach dem Motto zu betreiben „Wer legt die nächste Sprosse auf der Leiter höher?“, sodass man sich nachher in Höhen befindet, aus denen man nicht mehr hinunterkommt und nicht zur Deeskalation beigetragen kann. Denn sonst wäre Willy Brandts Ostpolitik mit der Strategie vom Wandel durch Annäherung nie so erfolgreich gewesen, wie sie es denn am Ende war. ({5}) Die Fortschritte, die wir zwischen Sankt Petersburg und Helsinki, zwischen Kaliningrad und Danzig und in den Häfen an der Ostsee im Rahmen der Visaliberalisierung beobachten können, sind Beispiele dafür, dass es geht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Diese Werte müssen in die Praxis umgesetzt werden. Daran werden wir Russland messen. Aber ein gemeinsames Werteverständnis werden wir nur dadurch erreichen, dass wir die Kooperation auf allen Ebenen vertiefen und im Zusammenhang mit diesen Werten die Kooperation miteinander lernen. Das Fazit dieser Debatte kann eigentlich nur sein - das sage ich ganz klar und deutlich -: bestehende Visafreiheit erhalten, Armut in Europa genauso ernsthaft bekämpfen wie die Finanzkrise und Schritt für Schritt zu mehr Visafreiheit in Europa gelangen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion. ({0})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tatsache ist, dass es mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer immer noch nicht gelungen ist, die Visaschranken zwischen dem Schengen-Raum und den Nachbarstaaten im Osten und Südosten Europas abzubauen. Wie wichtig gerade in der jetzigen Zeit Fragen von Visa und Aufenthalt sind, zeigt, dass der Innenausschuss bereits am Montag bei einer Anhörung über den Status von Türken in Deutschland und ihre Aufenthaltsrechte debattiert hat. Heute sprechen wir über Visaabkommen mit Russland und dem Westbalkan. Anstoß dieser Aktuellen Stunde sind die aktuellen Verhandlungen der EU mit Russland über ein erweitertes Visaabkommen, sicherlich auch die jüngsten Durchsuchungen bei ausländischen NGOs, darunter auch der Konrad-Adenauer-Stiftung, durch russische Behörden. Ohne diese Maßnahmen rechtlich bewerten zu wollen: Das entspricht natürlich nicht der Art und Weise des Umgangs unter Freunden. ({0}) Wie immer macht auch hier der Ton die Musik, und solche Töne gefallen uns ganz und gar nicht. Andererseits müssen wir ab und an auch den Blick nach Deutschland richten und uns an die eigene Nase fassen. Wenn die Bundespolizei, wie der Spiegel aktuell berichtet, zum Beispiel eine russische Studentin mit, wohlgemerkt, gültigem Visum in einer unerträglichen Weise aus einem ICE befördert, da nach den AGBs der Bahn der russische Ausweis nicht bei Onlinebuchungen zulässig ist, dann sollte uns das ebenfalls zu denken geben. Bilder werden nämlich auf beiden Seiten aufgegriffen. ({1}) Die Grünen fordern jedenfalls die Verhinderung der Visafreiheit für Inhaber russischer Dienstpässe innerhalb der Europäischen Union und anderseits die Verhinderung der Visumpflicht für den Westbalkan. Ich bin der Meinung, dass wir die unterschiedliche Situation auf dem Westbalkan und in Russland nicht miteinander vermischen und vergleichen sollten. Hier wird aus populistischen Gründen mit zweierlei Maß gemessen. Eine solche undifferenzierte Betrachtungsweise ist pure Schwarz-Weiß-Malerei. Mit dem zwischen der Europäischen Union und Russland derzeit verhandelten neuen Visumerleichterungsabkommen sollen Reisen in den Schengen-Raum für russische Staatsangehörige weiter vereinfacht werden. Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, regelmäßig Studierende, Teilnehmer grenzüberschreitender Kooperationsprogramme, Transitreisende sollen in dieses Abkommen einbezogen werden. Das ist zwar gut, aber nur ein weiterer Schritt in Richtung Visumfreiheit. ({2}) Wollen Sie wirklich, dass wir auf Visaerleichterungen für russische Jugendgruppen verzichten? Der Ansatz muss daher sein, bei der konkreten Ausgestaltung der Visumfreiheit für Dienstpassinhaber genauer hinzuschauen. Da gibt es durchaus Spielraum. Die Bundesregierung hat sich in Brüssel dafür starkgemacht, dass die EU hier mit Augenmaß vorgeht; denn die Frage, welchen Gruppen von Dienstpassinhabern es möglich sein soll, visumfrei einzureisen, ist in den laufenden Verhandlungen noch im Detail zu klären. Es ist zudem ein ganz normaler Ablauf, dass zunächst Personen mit Dienstausweisen Visumfreiheit bekommen; denn sie sind sozial verankert und die Rückreisewilligkeit ist sehr hoch. Auch wenn die innenpolitische Situation in Russland unbestritten kritisch ist, sollte es doch gerade den Menschen in Russland erleichtert werden, ({3}) durch Reisen Erfahrungen mit freien, demokratischen und marktwirtschaftlichen Gesellschaften wie jenen in der EU zu machen. ({4}) Sie haben das beim Thema Westbalkan erwähnt. Dann sollten wir das den Russen erst recht zugestehen. ({5}) Wie wollen wir es sonst schaffen, eine starke Zivilgesellschaft zu erreichen? Am stärksten werden von den Neuregelungen des Abkommens daher Vertreter der russischen Zivilgesellschaft profitieren, also Staatsangehörige gerade ohne Dienstpässe. Ein solcher Gedanken- und Kulturaustausch kommt der Zivilbevölkerung, den Studenten oder auch den NGOs zugute. Das liegt in unserem ureigenen Interesse und im Interesse der russischen Bürger. Visaschranken bremsen den Austausch von Ideen und Wertvorstellungen in Europa und bremsen auch Wachstum. Ein neues Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland ist zudem aus russischer Sicht als Zwischenschritt auf dem Weg zur Abschaffung der allgemeinen Visumpflicht für Reisen in den Schengen-Raum zu sehen. Aber auch für unsere Wirtschaftsbeziehungen ist es sinnvoll, die Einreise für Geschäftsleute zu erleichtern. Fast die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts wird durch Exporte von Waren und Dienstleistungen erwirtschaftet. Mehr als jede andere Volkswirtschaft in Europa ist Deutschland deshalb auf internationale Geschäftskontakte und auf einen reibungslosen Reiseverkehr angewiesen. Das Visaverfahren ist Deutschlands Aushängeschild im internationalen Standortwettbewerb. ({6}) Als Abgeordneter aus der Küstenregion in Mecklenburg-Vorpommern weiß ich, dass dies für unsere Geschäftsleute vor Ort von besonderer Bedeutung ist. Denn wer mit dem Schiff von Russland nach Deutschland fährt, fährt am besten über Mecklenburg-Vorpommern. Dabei ist die Visabürokratie ein erheblicher Zeit- und Kostenfaktor für deutsche und russische Unternehmen. Die Visumpflicht behindert Geschäftskontakte und gegenseitige Investitionen, erschwert den Austausch von Fachkräften und verursacht Wettbewerbsnachteile im internationalen Konkurrenzkampf. Als Folge der demografischen Entwicklung in Deutschland wird die Zahl ausländischer Fachkräfte in den kommenden Jahren gesteigert werden müssen. Deutschland benötigt daher eine echte Willkommenskultur. ({7}) Die schnelle Liberalisierung des Visasystems im Hinblick auf die östlichen Nachbarstaaten der EU ist dafür eine Grundvoraussetzung - genau wie auf dem Westbalkan. Tatsache ist jedoch, dass wir ein Problem mit Zuwanderern aus dieser Region haben. Aber das ist meiner Meinung nach zum größten Teil ein deutsches Verwaltungsproblem in Bezug auf die Behandlung der Asylanträge. Deswegen sollte man noch nicht voreilig die Visumpflicht wieder einführen; ({8}) das wäre eine viel zu harsche Reaktion. Bei der KostenNutzen-Rechnung überwiegt weiterhin der Nutzen der Visumfreiheit. Die Sorge der Grünen, dass die Annäherung junger Menschen vom Westbalkan an die EU durch eine zeitweilige Visumpflicht verhindert werde, ist angesichts des Beitritts Kroatiens in diesem Sommer jedoch völlig unbegründet. ({9}) Als mögliche Reaktion auf künftige Fälle eines besonders starken Anstiegs der Asylbewerberzahlen diskutiert die EU die vorübergehende Suspendierung der Visumfreiheit - ein Gedanke, über den diskutiert werden muss. Dabei wird die Bundesregierung in den Verhandlungen durchsetzen, dass genau das nur auf Vorschlag der EU-Kommission möglich ist. Eine dauerhafte Aufhebung der Visumfreiheit für Staatsangehörige vom Westbalkan, egal woher dort, ist deshalb völlig indiskutabel. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, dies war Ihre erste Rede; Sie sind Nachrücker. Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute. ({0}) Das Wort hat jetzt Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({1})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst zu dem einen Thema, dem geplanten EU-Mechanismus zur Wiedereinführung der Visumpflicht, unter anderem bei angeblichem Asylmissbrauch. Ich muss darauf hinweisen: Die Linke hat schon vor einem Jahr in parlamentarischen Anfragen auf den Skandal aufmerksam gemacht, dass die Abschottungspolitik der Europäischen Union dazu führt, dass die Reisefreiheit von Menschen aus den Westbalkan-Ländern eingeschränkt wird, insbesondere im Hinblick auf Roma aus Serbien und Mazedonien. Damals hatte die EU-Kommission gerade ihren ersten Vorschlag für einen Aussetzungsmechanismus in Bezug auf die Visafreiheit vorgelegt. Inzwischen ist die politische Entscheidung auf der EU-Ebene leider längst gefallen. Dass heute eine Aktuelle Stunde dazu angesetzt wurde, zeigt, dass es Ihnen - damit meine ich die CDU/ CSU, aber auch die Grünen - um etwas anderes geht. Darauf komme ich etwas später noch einmal zu sprechen. Ich muss sagen, dass man an rassistischer Hetze in diesem Land mittlerweile einiges gewohnt ist. Mein Vorredner sprach von einer nötigen Willkommenskultur. Ich möchte Sie bitten, eine solche Forderung einmal an Ihren Bundesinnenminister Friedrich zu richten. ({0}) Wie zum Beispiel im Fall des SPD-Mitglieds Sarrazin muss erst die UNO diesem Land den Spiegel vorhalten, was Rassismus ist. Aber das, was wir von Innenminister Friedrich an Hetze gegen Roma vom Balkan gehört haben, übertrifft wirklich alles. Roma werden von Ihnen mit saloppen Sprüchen pauschal als Asyl- und Sozialhilfemissbraucher verleumdet. Sie leisten damit in Deutschland einem Klima Vorschub, in dem ein lebensgefährlicher - tatsächlich lebensgefährlicher - Rassismus möglich ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Auch ein Herr Bundesminister Friedrich ist ein Fall für den UN-AntirassismusAusschuss. ({1}) Dieser Bundesinnenminister spannt auch noch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit einer bislang beispiellosen Mobilmachung dafür ein, dass Asylsuchende aus Serbien und Mazedonien in einem zuletzt nur siebentägigen Schnellverfahren abgelehnt wurden. 98 Prozent aller Asylablehnungen bei serbischen Flüchtlingen im letzten Quartal des Jahres 2012 lauteten auf „offensichtlich unbegründet“, und das trotz der erheblichen Diskriminierung und auch Ausgrenzung von Roma in Serbien. Das ist Ihnen offensichtlich gleichgültig. Ich muss mutmaßen: Aber hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel wieder einmal gelogen, als sie im Oktober 2012 bei der Enthüllung des Denkmals für die vom Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma vorgab, „wo auch immer und innerhalb welcher Staatsgrenzen auch immer sie leben“, für die Rechte von Roma und Sinti kämpfen zu wollen? Einerseits sagt sie das, andererseits schickt sie im Jahr 2012 ihren Innenminister los, um gegen nicht einmal 12 000 Roma aus Serbien und Mazedonien - die Hälfte von ihnen Kinder - zu hetzen. Da fragt man sich: Warum nur? Die Antwort kann nur sein: Die Bundesregierung will ihren Wahlkampf auf dem Rücken der Migrantinnen und Migranten austragen. ({2}) Das ist unerträglich. Die Linke ist gegen diese rassistische Hetze. Ich sage Ihnen, Herr Kollege: Sie werden damit nicht durchkommen. ({3}) Was aber die Fraktion der Grünen angeht, bin ich nicht minder erschüttert. Ich finde es völlig daneben, wenn Sie die Visapolitik ({4}) für außen- und innenpolitische Anliegen instrumentalisieren. Sie tun der Visafreiheit einen Bärendienst, wenn Sie hier lauthals gegen Visaerleichterungen schreien und brüllen. Was ist das nur für ein Signal, wenn Sie auf der einen Seite gegen Visaerleichterungen sind und auf der anderen Seite sagen, Sie sind für die Visafreiheit für die Menschen aus dem Westbalkan! ({5}) Dabei fabulieren Sie auch noch pauschal von einem Repressionsapparat. Dass man eine Außenpolitik macht, indem sich gegenseitig potenzielle Menschenrechtsverletzer auf eine Einreiseverbotsliste setzen - wie derzeit die USA und Russland -, das kann doch kein Vorbild sein. Ich hoffte eigentlich, dass das auch kein Vorbild für die grüne Partei ist. ({6}) Sie sollten endlich mit Ihren antirussischen Reflexen aufhören. Wir - um es klarzustellen - sind gegen eine Visaliberalisierung nur für Dienstpassinhaber. Wir fordern Reiseerleichterungen für alle. Ich denke, wir brauchen Visafreiheit für alle, und auf dem Weg dorthin brauchen wir auf jeden Fall Erleichterungen auf allen Ebenen. Deshalb bitte ich Sie, doch Ihre antirussischen Reflexe ad acta zu legen ({7}) und dabei mitzumachen, Reisefreiheit für wirklich alle Menschen möglich zu machen. Sie sollten die Flüchtlinge nicht für Ihre konfliktverschärfende Außenpolitik instrumentalisieren. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rita Pawelski für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, nach Ihrem Beitrag frage ich mich wirklich, ob wir im selben Land leben. ({0}) Es ist skandalös, wenn Sie in Ihrem Beitrag von Hetze usw. sprechen. Es erschüttert mich direkt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde, wie es hier schon kritisiert wurde, die beiden Themen dieser Aktuellen Stunde nicht vermischen, sondern konzentriere mich auf den Teil eins. Frau Beck, Ihre Einschätzung der Lage in Russland teile ich. Meine Sorgen spiegeln sich in Ihrem Beitrag wider: die Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschaftswahl, die Durchsuchungen bei deutschen Stiftungen, die unerhört harten Strafen gegenüber der Mädchen-Punkband, die Verschärfung des Demonstrationsgesetzes usw. Da haben Sie sicher recht. Das alles zeigt: Russland kontrolliert aktive Bürger, kriminalisiert kritische Engagements und stellt langjährige Partner unter Generalverdacht. ({2}) Ich bin unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel daher sehr dankbar, dass sie auf der Hannover Messe sehr klare und kritische Worte gegenüber Wladimir Putin gefunden hat und eine starke Zivilgesellschaft angemahnt hat. Ich wäre sehr dankbar, wenn der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der ja ein Männerfreund von Wladimir Putin ist, auch einmal sehr deutliche Worte sprechen würde. Aber ich komme aus Hannover und lese dort in den Zeitungen, wie sich die beiden herzen, wie sie sich treffen, wie sie ein Bier oder einen Wein trinken. Dazu gehört auch einmal ein deutliches Wort der Kritik. Das vermisse ich sehr. ({3}) Ein kritischer Umgang und Dialog mit Russland ist dringend notwendig. Wir wollen ein Russland, das durch Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Transparenz geprägt ist. Darauf werden wir weiter intensiv hinwirken. Aber Russland ist auch und vor allem für die deutsche Wirtschaft ein sehr wichtiger Partner. ({4}) In Russland sind mittlerweile 6 300 deutsche Unternehmen mit Tochterfirmen und Repräsentanzen aktiv. Deutschland ist der zweitgrößte Handelspartner Russlands nach China. Vom Handel mit Russland hängen bei uns 300 000 Arbeitsplätze ab. Ihre Reden sollten Sie einmal vor den Firmen halten, die einen starken Export nach Russland haben. Darum: Statt auf Isolation müssen wir auf Kooperation setzen. Hier spielt die Visafrage grundsätzlich eine wichtige Rolle. Wir werden weiterhin für Erleichterungen gegenüber Russland eintreten. Es ist deshalb auch folgerichtig, dass sich Deutschland auf EU-Ebene kompromissbereit zeigt. Damit der Ball für den Abschluss der Verhandlungen endlich wieder ins Rollen kommt, müssen wir weiter verhandeln; denn ohne eine Zusage würde es keine weiteren Erleichterungen für Journalisten, Schüler, Studenten, Familien oder Geschäftsleute geben; das ist klar. Fest steht, dass Russland nun in der Pflicht ist. Die Dienstpässe müssen biometrisch sein. Gleichzeitig ist die Zahl der Personen, für die die Visafreiheit gelten soll, strikt einzugrenzen. Das sind sehr wichtige Bedingungen für uns. Gleichzeitig erwarten wir aber auch von Russland Erleichterungen bei der Einreise von EU-Bürgern. Ich denke hier beispielsweise an den Abbau von Registrierungspflichten. Meine Damen und Herren, es steht außer Frage, dass Visaerleichterungen erforderlich sind. Sie helfen - das wurde schon mehrmals gesagt -, die Zivilgesellschaft zu stärken. Sie sind gut für die politischen Beziehungen, und sie verbessern wirtschaftliche Kontakte. Eine UnterRita Pawelski suchung des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft ergab, dass Visa Investitionen hemmen, Wettbewerbsnachteile verursachen und Kosten hervorrufen. ({5}) Ein Beispiel: Deutsche und Russen kosten die gegenseitigen Beantragungen von Visa jährlich geschätzte 162 Millionen Euro. Rechnet man die Bürokratiekosten der Unternehmen, die Verluste durch geplatzte Geschäfte, verhinderte Investitionen sowie Verwaltungskosten in den Konsulaten und an den Grenzen hinzu, ({6}) so kommt man ganz schnell auf mehrere Hundert Millionen Euro. Da wundert es nicht, dass 80 Prozent der deutschen Unternehmen, die im Ost-Ausschuss organisiert sind, eine Abschaffung der Visapflicht gegenüber Russland befürworten. 56 Prozent der Unternehmen würden im Falle vollkommener Visafreiheit mehr investieren. Mehr Investitionen vor Ort, also in Russland, heißt, dort neue Arbeitsplätze und neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Das wiederum fördert und stärkt die Zivilgesellschaft. Wir alle wollen doch in Russland die Zivilgesellschaft stärken. ({7}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in der Visafrage weiterhin mit kritischer Vernunft und viel Augenmaß handeln - im Sinne der deutsch-russischen Partnerschaft, aber vor allem im Sinne der Menschen in Russland. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion.

Hans Werner Ehrenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004227, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist verschiedentlich angesprochen worden - ich kann mich dem nur anschließen -: Hier werden unter dem Oberbegriff „Visapolitik“ zwei völlig unterschiedliche Situationen miteinander verknüpft. Das wirkt außerordentlich befremdlich, und ich finde, das riecht nach grünem Populismus. ({0}) Ich will deshalb zunächst einmal auf die Situation auf dem Westbalkan eingehen. Die EU-Innenminister hatten der Visafreiheit damals unter der Bedingung zugestimmt, dass die neuen Einreisemöglichkeiten nicht für unbegründete Asylanträge missbraucht würden. Seit einigen Monaten steht jedoch genau dieser Vorwurf im Raum. Der Herr Staatssekretär hat vorhin Zahlen dazu genannt. Ich möchte die einzelnen Anträge hier nicht bewerten; das steht mir auch gar nicht zu. Ich glaube, das ist Sache des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, und dieses Bundesamt macht eine gute Arbeit. Hier sind wir allerdings auch schon genau bei dem Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte. Missbrauch von Asylanträgen ist zunächst einmal ein deutsches Verwaltungsproblem, kein politisches. Wenn nun die EU-Kommission in Brüssel die Aufhebung der Visumfreiheit für eine bestimmte Zeit festlegen möchte oder sollte, dann wird die Bundesregierung alles daransetzen - da bin ich mir sicher -, dass dies nur kurzzeitig, also für eine Übergangszeit, und nur bei Überschreitung bestimmter, strenger Kriterien der Fall ist. Eine endgültige und allgemeine Aufhebung der Visafreiheit für den Westbalkan wäre eine viel zu harsche Reaktion, die, nebenbei bemerkt, auch gar nicht den Kern des Problems trifft; auch das ist hier verschiedentlich in der Debatte angesprochen worden. Die Länder des Westbalkan müssen sich selbst darum kümmern, die Lebensbedingungen ihrer Bürger zu verbessern, und dabei sollten wir sie unterstützen. Nun zu dem zweiten Thema, das in dieser Aktuellen Stunde angesprochen wird. Wir von der FDP sehen in der Visafreiheit einen Hebel für Gedankenaustausch und kulturellen Dialog. ({1}) Natürlich sehen auch wir die innenpolitische Situation in Russland sehr kritisch. Frau Merkel ist in diesem Zusammenhang erwähnt worden. Auch unser Bundesaußenminister Westerwelle hat klare Worte mit Vertretern der russischen Regierung gesprochen, als es zum Beispiel um unsere Stiftungen ging. Wer sich aber jedem Dialog verweigert und bei jedem aufkommenden Problem gleich reflexartig Abstrafung fordert, der denkt einseitig. Gerade weil wir mit Russland in vielen Dingen nicht einer Meinung sind, weil wir wissen, dass Russland zum Teil willkürlich handelt, müssen wir den Austausch fördern und den Dialog intensivieren. Eine Visafreiheit stärkt genau jenen zivilgesellschaftlichen Dialog, den wir so dringend mit Russland benötigen; denn sie käme vor allem der Zivilbevölkerung zugute. Die EU verhandelt jetzt mit Russland über Visaerleichterungen - für Jugendgruppen, für NGOs, für die Zivilgesellschaft. Ich kann Ihnen versichern, dass wir exzellente, äußerst erfahrene Diplomaten haben, die es nicht zulassen, dass am Ende des Tages womöglich fragwürdige Personengruppen von der Ausgestaltung der Visafreiheit für Dienstpassinhaber in Russland profitieren werden. Wir respektieren unseren Partner Russland; aber wir werden ihm auch nichts schenken, sondern sehr genau darauf achten, worauf wir uns hier einlassen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen, Ihnen geht es - das muss ich Ihnen leider vorwerfen - einzig und allein darum, jede Gelegenheit aus29568 zunutzen, um gegen Russland vorzugehen, weil das Ihre Klientel so von Ihnen verlangt. ({2}) Das ist keine Außenpolitik, das ist Populismus in Wahlkampfzeiten. Wir von der FDP sind in beiden Fällen für eine möglichst weitreichende Visapolitik; denn wir sind der Überzeugung, dass bei einer Kosten-Nutzen-Rechnung der Nutzen der Freiheit immer überwiegt. Schönen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Ehrenberg, Sie haben einiges von dem, was wir hier diskutiert haben, nicht verstanden. Sie unterstellen uns, dass wir im Titel der Aktuellen Stunde zwei unterschiedliche Themen vermischen und in einen Topf werfen, die nichts miteinander zu tun haben. Sie irren sich. Beim Westbalkan geht es darum, bereits gewährte Visumfreiheiten nicht zurückzunehmen. Bei Russland geht es darum, dass wir den russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern Visumfreiheit einräumen wollen, und darum, wie wir das gestalten. ({0}) Das ist der Zusammenhang; das sollten Sie sich merken. Wir gehen nicht gegen die russischen Bürgerinnen und Bürger, unsere Freundinnen und Freunde, vor, sondern legen den Finger auf die Wunde. Wenn es irgendwo einen Repressionsapparat gibt, dann ist es die Pflicht von Bündnis 90/Die Grünen, in aller Welt darauf hinzuweisen. Das tun wir auch. ({1}) - Liebe Frau Kollegin Dağdelen, da Sie sich gerade hier melden, darf ich erwähnen: Auch Sie haben einiges durcheinandergebracht. Sie haben uns beschimpft, weil wir die Visumerleichterungen der Bundesregierung nicht gutfinden. Gleichzeitig haben Sie selbst diese Visumerleichterungen kritisiert. Da müssen Sie sich bitte entscheiden. Sie müssen Ihre Rede noch einmal lesen. Es ist wirklich widersprüchlich. ({2}) Ihre Haltung ist ein bisschen komisch. Lesen Sie Ihre Rede noch einmal. Dann werden Sie merken, dass Sie einiges durcheinandergebracht haben. ({3}) Als Jurist und Obmann im Petitionsausschuss erfahre ich viel über die Praxis der Visavergabe. Viele Petitionen zu Problemen in der Praxis werden eingereicht. Ebenso landen viele Klagen in den Kanzleien und Gerichten. Die Unzufriedenheit ist groß und kein Einzelfall. Sowohl im In- als auch im Ausland beschweren sich sehr viele Menschen darüber. Nehmen wir als Beispiel die Visaregeln für Russland, einem der wichtigsten Handelspartner von Deutschland. Mit einem so wichtigen Handelspartner bedarf es eines umfangreichen Reiseverkehrs und eines ausgezeichneten Austauschs. Nicht nur wirtschaftlichen Austausch, sondern auch Austausch zwischen Schulen, Universitäten und Vereinen sollte es geben. Doch leider scheitern viele Begegnungen an der Visapflicht und der restriktiven Vergabepraxis. In der Praxis gibt es viele Hürden: zum Beispiel der große Umfang an geforderten Unterlagen, die Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens bei den Konsulaten, der hohe Zeit- und Kostenaufwand und die lange Bearbeitungszeit. Allzu oft stellt sich heraus, dass das ganze Engagement umsonst gewesen ist, weil man am Ende nur eine Ablehnung erhält. Die Bundesregierung hat vor einem Monat ein neues Visaabkommen mit Russland verkündet. Viele haben eine generelle Visafreiheit für russische Staatsbürger erwartet und wurden enttäuscht. Denn die Visafreiheit gilt nur für Inhaber russischer Dienstpässe. Das sind - sage und schreibe - etwa 15 000 Staatsbedienstete. ({4}) Also erhalten vor allem die Leute Visafreiheit, die für die Unterdrückung gegenüber der Zivilgesellschaft verantwortlich sind. Möchte man damit genau diese Leute für Ihre Unterdrückungspolitik in Russland auch gegenüber ausländischen Stiftungen belohnen, liebe Freundinnen und Freunde? ({5}) Warum soll es keine Visafreiheit für die ganze Bevölkerung geben? Warum fürchtet man sich so sehr vor visafreiem Besuch aus Russland? Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein falsches Signal an die russische Bevölkerung. Aufgrund zahlreicher Erfahrungen beurteile ich die Visapolitik der Bundesregierung als sehr engstirnig und nicht gerade tolerant. Wenn das Auswärtige Amt die Visitenkarte unseres Landes in der Welt ist, dann haben wir zurzeit eine sehr abweisende Visitenkarte. Das muss sich dringend ändern, meine Damen und Herren. ({6}) Am schlimmsten an dieser Debatte finde ich die Haltung der Bundesregierung zur Einreise von Serben und Mazedoniern. ({7}) Ich fasse es nicht, dass das Innenministerium diesen Ländern damit droht, die Visafreiheit für deren Staatsbürger wieder zu entziehen. Die Visumbefreiung war eine der wichtigsten Errungenschaften der vergangenen Jahre für den Westbalkan. Durch das freie Reisen kann die Identifikation mit Europa gestärkt werden und können Ideen von Pluralismus und Demokratie verbreitet werden. Das Innenministerium dagegen möchte sich vor den Roma aus Serbien abschotten. Die Lage der Roma in Serbien ist sehr schlecht. Die Drohung aus Deutschland, Serben die Visafreiheit zu entziehen, entfacht dort einen Hass auf die Roma. Dort werden die Roma als Bedrohung für die Reisefreiheit aller Serben gesehen. Das kann zu fatalen Folgen führen, die man nicht wiedergutmachen kann. Statt die Lebensbedingungen in den Heimatländern der Roma zu verbessern, wird dadurch genau das Gegenteil erreicht. Das ist schäbig, meine Damen und Herren. ({8}) In einer solchen Debatte dann auch noch von Asylmissbrauch und Asylflut zu sprechen und mit den Zahlen gnadenlos zu übertreiben, ist wieder einmal typisch für die Union. Das ist ausländerfeindliche Stimmungsmache im Wahljahr. Das werden wir nicht tolerieren. Die Roma müssen in ganz Europa geschützt werden. Gerade Deutschland hat dabei eine historische Verantwortung. Ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma zu errichten, anschließend aber für eine ernste Bedrohung für die Roma in Serbien zu sorgen, ist ein riesiger Widerspruch und deshalb beschämend. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, den Menschen aus Serbien und Mazedonien die Visafreiheit nicht zu entziehen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karl-Georg Wellmann für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die Grünen am Montag diese Aktuelle Stunde beantragt haben, hat ihr Geschäftsführer Volker Beck eine Presseerklärung veröffentlicht, die so infam ist, dass ich kurz darauf eingehen möchte. Herr Beck schreibt: Die Bundesregierung würde Menschen gegen die Roma aufstacheln, der Innenminister selbst würde die Fluchtgründe dieser Menschen schaffen, ({0}) die Bundesregierung würde Repressionsapparate unterstützen. - Das sprengt wirklich jeden Rahmen, selbst im Wahlkampf, Frau Kollegin Beck. ({1}) Besonders die Behauptung, wir würden die deutsche Bevölkerung gegen die Roma aufstacheln und damit Hetze gegen Ausländer betreiben, ist bodenlos. Sie verlassen damit die gemeinsame Basis der Demokraten in diesem Land. ({2}) Herr Beck schreibt noch: Die Visapolitik der Bundesregierung „nähert sich ihrem historischen Tiefpunkt an“. Das Gegenteil ist richtig. Seit Dezember 2010 können Menschen aus Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien und Bosnien-Herzegowina visafrei in die EU einreisen. Daran hat die Bundesregierung im Rahmen der EU aktiv mitgewirkt. Sie haben während Ihrer Regierungszeit nichts dergleichen bewirkt, Frau Beck. Auch für Osteuropa gilt, dass wir Grenzen überwinden müssen, statt neue Barrieren zu errichten. Das heutige Visaregime ist für uns aus vielen Gründen selbstschädigend; einige Vorredner haben bereits darauf hingewiesen. Aber mit Ihrem Gerede, man solle jetzt wieder Visaeinschränkungen vornehmen, Frau Beck, spielen Sie denen in die Hände, die die Europäische Union nach außen abschotten wollen. ({3}) Das ist rückwärtsgewandt wie vieles, was von den Grünen jetzt kommt. ({4}) Die Menschen in West- und vor allem in Osteuropa wollen eines: Sie wollen Arbeit und Wohlstand. Gerade in Osteuropa haben sie einen Anspruch darauf, dass es vorwärtsgeht. Dazu brauchen wir Handel und Wandel, und das geht eben nicht mit einem strengen Visaregime. ({5}) - Sie sagen: So ist es. Aber Arbeitsplätze werden nicht in Ihren esoterischen Parteizirkeln geschaffen, Frau Beck, sondern draußen an der Front. ({6}) Wir müssen den Unternehmen die Luft zum Atmen geben, damit sie diese Arbeitsplätze in West und vor allem in Ost schaffen können. ({7}) Meine Damen und Herren, Frau Beck, ich habe keine Angst vor Inhabern von Dienstpässen. Lassen wir sie doch kommen, und argumentieren wir mit ihnen. Übrigens sind viele, die wir beide kennen, dabei, die viel für ihr Land tun wollen und nach Europa wollen. Die wollen wir nicht draußen halten. ({8}) Es ist und bleibt richtig, dass wir vordemokratische Gesellschaften weder mit einer penetranten Wertepädagogik noch durch Sanktionen und Verbote ändern. Frau Beck, im Umgang mit dem Ausland ist mir bei Ihnen zu viel Betroffenheitsrhetorik und zu wenig praktische Außenpolitik im Spiel. ({9}) Marieluise und Volker Beck, was wir wirklich nicht brauchen, ist Ihre Oberlehrerattitüde, die sich fatal danach anhört: An deutschem Wesen soll die Welt genesen. ({10}) Aus dieser muffigen Ecke sollten Sie möglichst schnell rauskommen. ({11}) Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in dieser Debatte und des heutigen Tages ist Kollege Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren im Plenum, aber insbesondere auf den Zuschauerrängen! ({0}) - „Das Volk hat die Mehrheit“, Herr Thönnes, Sie haben recht, und das ist auch gut so. Als Wladimir Putin im März des vergangenen Jahres erneut zum Präsidenten gewählt wurde, haben sicherlich viele von uns gehofft, dass er unter Beweis stellt, dass die Einschätzung des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder - Herr Staatssekretär Schröder hat eben darauf verzichtet, das auszuführen, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen -, er sei ein lupenreiner Demokrat, zutrifft. Doch statt mehr Nachsicht und Toleranz wurden in kürzester Zeit gesetzgeberische und juristische Maßnahmen ergriffen, die auf eine wachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen und kritisches Engagement bestrafen. So weit, denke ich, sind wir alle einer Meinung. Dennoch verwundert Ihr Antrag auf Begrenzung der Visafreiheit, Frau Beck; ({1}) denn im Grunde genommen steht er in Widerspruch zu Ihrem Antrag vom 13. Juni 2012, in dem Sie die Liberalisierung der Visapolitik fordern. ({2}) Wenn Sie aber fordern, dass alle visafrei einreisen können sollen, dann wären auch die von Ihnen nicht so sehr Gewünschten mit dabei. Das ist ein Widerspruch in sich. ({3}) Bei zwischenstaatlichen Beziehungen - Frau Beck, das ist Ihnen von mehreren zu Recht gesagt worden; auch Herrn Thönnes kann ich insofern nur beipflichten macht der Ton die Musik. Sie werden wohl nicht bestreiten wollen, dass der Dialog zwischen Russland und der EU hinsichtlich der weiteren Visapraxis von erheblicher Bedeutung ist. Da stört schon die sonst nur bei den Linken gängige Formulierung „Repressionsapparat“. Das ist kein Ansatz für eine sachliche Auseinandersetzung. Eine Visafreiheit für Inhaber biometrischer Dienstpässe gibt es im Übrigen derzeit nicht; das wissen Sie. Sie kann und sollte allenfalls nur als Zwischenschritt zu der auch von Ihnen angestrebten Visumfreiheit ins Auge gefasst werden. Ein solcher Zwischenschritt wäre allerdings nach unserer Auffassung dann nicht kritikwürdig. Unstreitig sollte im Übrigen auch sein, dass bei den weiteren Verhandlungen alles unternommen werden soll, eine Angleichung bei Fragen gemeinsamer Wertvorstellungen und rechtsstaatlicher Standards zu erreichen. Die jetzigen Repressalien gegen die Konrad-Adenauer-Stiftung, gegen die Friedrich-Ebert-Stiftung und andere erfüllen uns natürlich mit Sorge. Dennoch ist Russland für Deutschland der wichtigste strategische Partner jenseits der östlichen Grenzen der EU. Wir sind in vielen Bereichen aufeinander angewiesen: beim Klimaschutz, in Energiefragen, in Fragen der gemeinsamen europäischen Sicherheit, bei der Abrüstung oder bei der Lösung internationaler Konflikte wie beispielsweise mit dem Iran. Teil dieser Partnerschaft mit Russland ist natürlich auch die Erwartung von Respekt und einer fairen Behandlung von Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen. Wir als Koalition sind dafür, den Visadialog mit Russland mit dem Ziel fortzuführen, zu VisumerleichterunHelmut Brandt gen zu kommen. Konzertierte Aktionen, die die Handlungsfreiheit von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft einschränken, sind dabei aus unserer Sicht nicht hilfreich, sondern kontraproduktiv. Aber das Thema Visafreiheit beschäftigt uns ja auch - das ist von allen Rednern bisher hier erwähnt worden in einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich der Frage des Umgangs mit den Balkanstaaten. Wir alle haben schon mehrfach gehört - das wissen wir auch -, dass die Staatsangehörigen Serbiens, Montenegros und Mazedoniens seit 2009 visafrei in den EU-Raum einreisen können. Seit Dezember 2010 sind weitere Mitgliedstaaten hinzugekommen. Mit der Einführung dieser Visumfreiheit ist bedauerlicherweise auch die Zahl der hier gestellten Asylanträge sprunghaft gestiegen. Wenn Sie es als eine Art Winterhilfe bezeichnen, wenn das Asylrecht dazu missbraucht wird, sich in Deutschland illegal aufzuhalten, dann muss ich diese Formulierung genauso zurückweisen wie die bewusst von Frau Dağdelen genutzte Formulierung einer „Mobilmachung“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Lassen Sie solche Formulierungen doch einfach sein. ({4}) Ich will einmal die wirklichen Zahlen nennen. 2012 gab es immerhin - nur aus Serbien - 12 812 Asylbewerber. Damit wird Ihre Behauptung, Frau Beck, und die Ihres Kollegen gleichen Namens Lügen gestraft, dass dies alles angeblich nicht der Fall sei. Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Zahl im Jahr 2013 noch weiter ansteigen wird. Vor dem Hintergrund der Bedingungen, die diese Menschen, die mit dem Wunsch nach einem besseren Leben hierherkommen, in ihren Heimatländern vorfinden, ist der rasche Anstieg natürlich nicht verwunderlich. Aber ausgerechnet die sozialdemokratisch geführten Kommunen in meinem Heimatland NordrheinWestfalen sind es gewesen, die nach Hilfe gerufen haben. ({5}) Sie erkennen diese Gefahren des Missbrauchs sehr wohl. Deshalb kann man doch nicht sagen, wir hätten es hier mit einer Situation zu tun, die man einfach durch Ignorieren beseitigt bekäme. Dass der Bundesinnenminister aufgrund der eingetretenen Situation zu Recht prüft, ob in der Visum-Verordnung die Grundlage für eine Klausel geschaffen werden kann - denn nur darüber wird im Augenblick überhaupt diskutiert -, mit der die Visafreiheit über einen Zeitraum von sechs Monaten ausgesetzt werden kann, ist in diesem Zusammenhang nur zu begrüßen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, es wird auch Zeit, dass wir nach Hause kommen. - Zur Klarstellung zum Schluss: Entgegen dem von Ihnen erzeugten Eindruck gibt es derzeit einen solchen Antrag nicht. Das hat im Übrigen aber auch mit Asylrecht überhaupt nichts zu tun. Die Kritik von Bündnis 90/Die Grünen, dass mit einer solchen Regelung das Recht auf Asyl diskreditiert würde, überzeugt schon deshalb nicht, weil die Anerkennungsquote, wie mehrfach gesagt, gleich null ist. Sie hätten uns diese Aktuelle Stunde besser erspart. Schönes Wochenende. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. April 2013, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein heiteres Wochenende.