Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir die
Wahl eines Vertreters der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates durchführen. Die FDP-Fraktion schlägt vor,
dass für den aus diesem Gremium ausscheidenden Kollegen Dr. Stefan Ruppert der Kollege Manuel Höferlin
als stellvertretendes Mitglied benannt wird. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. - Das ist offenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Höferlin als
stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung gewählt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße heute
Morgen besonders herzlich den polnischen Botschafter,
der auf der Ehrentribüne Platz genommen hat.
({0})
Denn wir gedenken heute in Polen wie in Deutschland
des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto, der vor
70 Jahren, am 19. April 1943, begonnen hat.
Hinter den drei Meter hohen Mauern des hermetisch
abgeriegelten Viertels lebten zu dieser Zeit noch Zehntausende verzweifelte, größtenteils längst entkräftete
Menschen. Sie sollten - wie seit 1942 schon rund
300 000 Frauen und Männer, Kinder und Greise - in den
Tod deportiert werden. Im Morgengrauen des jüdischen
Passahfestes zur Erinnerung an den im Buch Mose beschriebenen Auszug aus der ägyptischen Sklaverei marschierten SS-Einheiten in das Ghetto ein.
Das Datum für die endgültige Vernichtungsaktion war
sicher nicht zufällig gewählt. Schon der Beschluss über
die Schaffung des Warschauer Ghettos wurde auf zynische Art am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur,
am 12. Oktober 1940, per Straßenlautsprecher bekannt
gegeben. Auch die großen Deportationen begannen am
Vorabend eines jüdischen Feiertages, am 22. Juli 1942.
Wir werden alle fallen, manche mit der Waffe in der
Hand, andere als vergebliche Opfer. Aber es ist
wichtig, dass das Gedenken um uns nicht verloren
geht, dass die ganze Welt wissen soll, wie hoffnungslos, schwer und blutig dieser Kampf war.
Diese Worte stammen von Leon Rodal, einem der Kommandanten des Aufstandes.
Die Juden im Warschauer Ghetto wussten, dass sie
keine Chance gegen den übermächtigen Angreifer hatten. Sie wollten aber kämpfen - einen aussichtslosen,
verzweifelten Kampf um die Würde ihres Volkes. „Der
Kampf war ein Zeichen des Protestes gegen die Gleichgültigkeit der Welt angesichts des Holocaust und eines
heroischen Widerstandes“, heißt es in einer Entschließung des Sejm der Republik Polen zum 70. Jahrestag des
Aufstandes.
Nur spärlich mit Pistolen, Handgranaten, selbst gemachten Molotowcocktails und Gewehren bewaffnet,
kämpften die etwa 750 Aufständischen fast vier Wochen
lang gegen mehr als 2 000 schwer bewaffnete Deutsche,
die durch Panzer, Artillerie und Luftwaffe unterstützt
wurden. Am Ende war das Ghetto völlig vernichtet.
Haus für Haus wurde von den Deutschen in Brand gesteckt und gesprengt. Die Große Synagoge von Warschau hatte der fanatische SS-General Jürgen Stroop eigenhändig gesprengt. In seinem Bericht liefert er die
präzise Zahl der Opfer: 56 065 Tote.
Nur wenigen Aufständischen gelang die Flucht durch
unterirdische Kanäle. Der Aufstand war militärisch gescheitert; er war dennoch nicht vergeblich. Dieser
Kampf wurde in den nachfolgenden Monaten zum Vorbild für Juden in anderen Ghettos und Lagern. Und er
steht stellvertretend für den vielfältigen jüdischen Widerstand, den es während des Nationalsozialismus gegeben hat.
Denn nicht „wie die Lämmer zur Schlachtbank“ haben sich die Juden Europas führen lassen - im Gegenteil, wo immer sie die Möglichkeit dazu fanden,
haben sich jüdische Männer und Frauen gegen die
Mörder zur Wehr gesetzt.
Das unterstrich der im vergangenen Jahr verstorbene
Historiker Arno Lustiger, selbst KZ-Überlebender und,
wie sich viele von uns erinnern werden, 2005 Redner bei
Präsident Dr. Norbert Lammert
der Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus
hier im Deutschen Bundestag.
Ich möchte Sie bitten, sich für einen Augenblick von
den Plätzen zu erheben.
({1})
Wir verneigen uns heute vor den mutigen Frauen und
Männern und allen Opfern des Warschauer Ghettos. Ihr
Kampf um die Menschenwürde ist und bleibt ein Ver-
mächtnis für die nachfolgenden Generationen.
Vielen Dank.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Prävention
- Drucksache 17/13080 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Sicherstellung des
Notdienstes von Apotheken ({3})
- Drucksache 17/13081 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr.
({5})
Guten Morgen, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Koalition legt Ihnen heute zwei Gesetzentwürfe vor, die die Versorgung der Versicherten in
Deutschland verbessern werden.
Das erste Gesetz, das Ihnen vorliegt, ist das Gesetz
zur Förderung der Prävention. Wie viele Jahre haben wir
hier im Deutschen Bundestag im Rahmen der Debatte
über die Gesundheitspolitik überlegt, wie wir ein Präventionsgesetz gestalten und auf den Weg bringen können? Die Koalition hat ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag gehalten und in dieser Legislaturperiode ein
Gesetz zur Stärkung der Prävention vorgelegt, das endlich auch in den parlamentarischen Beratungen diskutiert
werden kann.
({0})
Solidarität und Eigenverantwortung gehören für die
christlich-liberale Koalition untrennbar zusammen, weil
wir wissen, dass die Solidargemeinschaft die großen Risiken teilt, weil wir wissen, dass sich die Versicherten
darauf verlassen wollen, dass für die großen Risiken die
Solidargemeinschaft eintritt. Wir wissen aber auch, dass
die Solidargemeinschaft sich darauf verlassen möchte,
dass jeder Einzelne in Eigenverantwortung für seine Gesundheit tut, was der Einzelne in Eigenverantwortung
für seine Gesundheit tun kann. Durch gesunde Ernährung, durch mehr Bewegung, durch das Beschäftigen mit
der eigenen Gesundheit können wir selbst bestimmte
Krankheitsrisiken minimieren. In einer alternden Bevölkerung, in der die Kosten für Gesundheit eher steigen
werden, ist es umso wichtiger, in die Gesunderhaltung
der Menschen zu investieren, einen Schwerpunkt auf
den Bereich Prävention zu legen. Das genau leistet der
Entwurf eines Präventionsgesetzes für den Bereich des
Gesundheitswesens.
Wir haben viele Maßnahmen vorgeschlagen, wie wir
davon wegkommen können, dass die Krankenkassen ihre
Präventionsmaßnahmen allein nach Marketing- und Vertriebsgesichtspunkten ausrichten; denn das ist offenbar
der Fall. Wir wollen, dass die Krankenkassen endlich verpflichtet werden, mehr Gelder für Präventionsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Dieser Gesetzentwurf sieht
vor, dass die Ausgaben für die betriebliche Gesundheitsförderung verdreifacht werden. Dieser Gesetzentwurf
sieht vor, dass auch die Ausgaben der Krankenkassen für
Lebensweltenprogramme, das heißt für Programme in sozialen Brennpunkten, für sogenannte Settingmaßnahmen,
mit denen wir Menschen in ihrer Lebenswelt abholen, um
sie für das Thema Prävention zu gewinnen, verdreifacht
werden. Das heißt, wir nehmen bei den Krankenkassen
eine neue Schwerpunktsetzung im Bereich Prävention
vor.
({1})
Wir haben zwar festgestellt, dass es schon heute viele
Menschen gibt, die sich mit ihrer Gesundheit beschäftigen, wir haben aber auch festgestellt, dass wir diejenigen
Menschen erreichen müssen, die sich bisher noch nicht
mit ihrer Gesundheit beschäftigen. Die Idee, diese Menschen über den Betrieb zu erreichen, ist sehr erfolgversprechend. Es gibt Studien, die belegen: 1 Euro, investiert in betriebliche Gesundheitsförderung, bringt einen
sogenannten Return on Prevention von über 2 Euro. Das
zeigt: Diese Investitionen lohnen sich sowohl für die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für den Betrieb. Wir wissen, dass es viele Großunternehmen gibt,
die sehr gute Projekte im Bereich betriebliche Gesundheitsförderung anbieten. Aber gerade bei den kleinen
und mittelständischen Betrieben haben wir Nachholbedarf. Deswegen ist es richtig, dass mit diesem Gesetzentwurf ein klarer Schwerpunkt gelegt wird: Mit diesem
Gesetzentwurf wird insbesondere das Ziel verfolgt, kleinen und mittleren Betrieben, in denen die meisten Menschen in Deutschland arbeiten und in denen viele Ausbildungsplätze geschaffen werden, gezielt einen Anreiz zu
bieten, um Maßnahmen im Bereich der betrieblichen
Prävention zu starten.
Zu der Kritik, das sei zu wenig, man müsse hier und
dort noch mehr machen - das werden wir gleich vonseiten der Opposition hören -, sage ich: Am Ende werden
Sie von Rot-Grün und von den Linken die Frage beantworten müssen, ob Sie diese Maßnahmen für falsch halten; denn nur wenn Sie sie für falsch halten, können Sie
sie ablehnen. Diese Maßnahmen, diese Investitionen in
Lebensweltenprogramme und betriebliche Gesundheitsförderung, die auch Sie im Kern für richtig halten - das
werden Sie nicht bestreiten können -, die brauchen wir.
Daher sollten Sie das nicht ablehnen. Wir müssen diese
Dinge voranbringen.
Gerade die Lebensweltenprogramme sind wichtig.
Wir stellen fest, dass immer mehr Kinder in die Schule
gehen, ohne zu Hause ein Frühstück bekommen zu haben, dass sie in den Familien offenbar nicht mehr lernen,
was gesunde Ernährung ist, dass sich das Freizeitverhalten offenbar verändert hat, dass Bewegung nicht mehr
das typische Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen ist. Deswegen müssen wir in die Kitas, in die
Grundschulen, in die weiterführenden Schulen und in
die Sportvereine gehen, um Kinder und Jugendliche für
das Thema Prävention, für gesunde Ernährung, für mehr
Bewegung, für ein gesundheitsbewusstes Verhalten zu
begeistern. Wenn wir nicht in Kinder und Jugendliche
investieren und nicht frühzeitig durch Lebensweltenprogramme mehr tun zur Förderung der Gesundheit, wird
sich das später rächen, weil die Kosten für das Gesundwerden viel höher sind. Deswegen ist dies ein kluger Gesetzentwurf. Wir investieren in Kinder und Jugendliche.
({2})
Der Gesetzentwurf sieht die Schaffung einer ständigen Präventionskonferenz vor. Als Gesundheitsminister
habe ich die Verantwortung für die Gesundheitspolitik.
Es wird gesagt - das ist die Kritik -, auch bei den Kommunen und Ländern müsse mehr gemacht werden. Dieser Entwurf eines Präventionsgesetzes ist doch eine Einladung an die Länder, mehr zu tun und sich mit weiteren
Projekten zu beteiligen. Es wird ja auch schon viel getan; das wollen wir doch gar nicht in Abrede stellen. Mit
der ständigen Präventionskonferenz schaffen wir jetzt
aber endlich ein Gremium, in dem sich alle austauschen
können, sodass sie abgestimmt agieren und überprüfen
können, welche Fortschritte wir machen. Erstmals werden die Gesundheitsziele aus dem Gesundheitsziele.deProzess in ein Gesetz geschrieben und damit verpflichtend für die Krankenversicherungen, damit wir alle wissen, welche Ziele wir erreichen wollen, was wir voranbringen wollen.
({3})
Wir sehen ferner vor, dass die Versicherten durch einen Check-up die Gelegenheit erhalten, konkrete Präventionsempfehlungen zu erhalten, damit sie wissen,
was sie besser machen können. Wir sehen vor, dass die
Lücke bei den Grundschulkindern durch eine zusätzliche
Kindervorsorgeuntersuchung, eine zusätzliche U-Untersuchung, geschlossen wird. In diesem Bereich haben wir
nämlich eine Lücke. Der Gesetzentwurf schafft die Voraussetzung zur Schließung dieser Lücke.
Dies sind viele gute Maßnahmen, die Sie, glaube ich,
inhaltlich auch gar nicht ablehnen, weil Sie sie für richtig halten. Wir können gerne darüber streiten, was man
in anderen Bereichen noch tun kann; das sollten wir machen. Aber wir müssen auch diese Maßnahmen, um die
es heute geht, in den verbleibenden Monaten noch auf
den Weg bringen.
Ein zweiter Gesetzentwurf beschäftigt sich mit der
Versorgung der Menschen insbesondere im ländlichen
Raum. Wir haben mit dem Versorgungsstrukturgesetz,
mit dem sogenannten Landärztegesetz, einen ganz wichtigen Beitrag geleistet, dass die Menschen in Deutschland sich weiterhin darauf verlassen können, dass sie einen Arzt vor Ort haben. Wer den Landarzt nicht nur aus
einer idyllischen Vorabendserie kennen will und auch
noch eine Landapotheke vor Ort haben möchte, der muss
auch einen Beitrag dazu leisten, dass dies finanziell
möglich ist.
({4})
Wir wissen, dass gerade die Apotheken in der Fläche
viel häufiger einen Notdienst machen müssen, es aber
für sie schwierig ist, das kostendeckend zu machen, weil
diese Apotheken nicht so häufig aufgesucht werden.
Deswegen wollen wir mit dem Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz für eine Anerkennung dieser Gemeinwohlpflicht der Apotheker sorgen. Ja, wir als christlich-liberale Koalition stehen zu der inhabergeführten
Apotheke. Wir wissen, dass der Apotheker Gemeinwohlpflichten wie Nacht- und Wochenenddienst zu leisten hat. Weil er unabhängig beraten soll, sind wir auch
weiterhin für den Erhalt des Fremd- und Mehrbesitzverbotes. Wir wollen die inhabergeführte Apotheke vor Ort
erhalten. Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einen
Beitrag dazu, dass diese Gemeinwohlpflichten auch finanziell anerkannt werden.
Sie von Rot-Grün wollen das Fremd- und Mehrbesitzverbot abschaffen. Das ist die Beschlusslage bei den
Grünen, und das ist die Beschlusslage vom letzten Parteitag der SPD.
({5})
- Wir haben sie ja gar nicht geändert. - Sie wollen Apothekenketten. Sie wollen, dass die Menschen sich nicht
mehr darauf verlassen können, von einem unabhängigen
Apotheker vor Ort versorgt zu werden, der rund um die
Uhr diese Gemeinwohlpflichten erfüllt. Das macht die
Unterschiede zwischen uns deutlich. Wir setzen uns dafür ein, dass durch die freiberuflich tätigen Apotheker
die gute Versorgung mit Arzneimitteln auch in der Flä29482
che erhalten bleibt. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag dazu.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Lauterbach erhält nun das Wort für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal: Diese unwahre, aber auch
völlig überflüssige Wahlkampfverbeugung vor den Apothekern in Richtung Fremd- und Mehrbesitzverbot hätten Sie sich sparen können. Darum geht es heute nicht,
und es war auch noch falsch.
({0})
Wir sprechen heute über zwei Gesetzentwürfe. Ich
fange einmal mit dem Präventionsgesetz an. Dies hat
sehr viel Ähnlichkeit mit dem, was wir gestern bei der
Quote gesehen haben. Wir beschließen de facto nichts.
Das ist im Prinzip die Verschiebung eines Gesetzes.
Denn worum geht es hier? Insgesamt sollen etwa
180 Millionen Euro für die Vorbeugung zur Verfügung
gestellt werden. Das sind etwa 12 Cent pro Versichertem
pro Monat. Ich bitte Sie: Mit zusätzlichen 12 Cent pro
Versichertem pro Monat - das reicht kaum für einen
Brief alle paar Monate - werden Sie auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung keinen Einfluss nehmen.
Das wissen Sie genauso wie ich. Das Gesetz ist ein Etikettenschwindel, mehr nicht.
({1})
Sie werden hier auch unglaubwürdig, wenn man die
beiden Gesetzentwürfe, über die Sie vorgetragen haben,
im Zusammenhang betrachtet. Insgesamt werden für
70 Millionen Versicherte für die Vorbeugung aller Erkrankungen etwa 180 Millionen Euro in die Hand genommen, und für die Landapotheker - es gibt etwa
10 000 Landapotheker - werden 100 Millionen Euro in
die Hand genommen. Somit sind Ihnen die 10 000 Apotheker ungefähr so viel wert wie die 70 Millionen Versicherten. In Wirklichkeit geht es hier um eine Wahlkampfaktion.
({2})
Sie verbeugen sich noch einmal vor dem Apotheker,
dem wir übrigens diese Zuschläge gönnen. Das erwähne
ich, damit wir uns nicht falsch verstehen.
({3})
Die Landzuschläge sind nicht falsch, aber die Förderung
der Vorbeugemedizin sind Sie schuldig geblieben. Ich
will dies gleich näher erläutern.
Sie schaffen mit der Präventionskonferenz eine weitere Gruppe, die Sie selbst leiten, verbunden mit bürokratischem Aufwand; Sie haben darauf hingewiesen.
Man wird sich beim Gesundheitsminister treffen, und
man wird Runde Tische veranstalten. Dies wird eine
weitere große Runde, in deren Rahmen Sie sich vor der
Presse zeigen und die 12 Cent pro Monat verteilen können. Machen Sie sich doch nichts vor, dabei wird nichts
herauskommen. Das ist doch nur das, was Sie bisher immer bekämpft haben: eine weitere Runde Bürokratie. In
diesem Fall gehört es zur Wahlkampfhilfe der FDP.
({4})
Eine regionale und konkrete Gesundheitsförderung,
bei der man Geld in die Hand nimmt und unbürokratisch
vor Ort hilft, funktioniert. Sie funktioniert beispielsweise
in Schweden. Gesundheitsvorsorge muss regional und
konkret sein. Man muss Geld in die Hand nehmen,
({5})
und die Förderung muss unbürokratisch sein. Was Sie
uns hier und heute vorlegen, ist national, es ist abstrakt,
es wird dabei wenig Geld zur Verfügung gestellt
- 12 Cent pro Versichertem pro Monat -, und es ist bürokratisch. Von daher: Dieser Gesetzentwurf scheitert aus
meiner Sicht auf der ganzen Linie. Er ist nichts anderes
als ein Etikettenschwindel. Es wird eine neue Vorsorgebürokratie geschaffen, die wir nicht brauchen. Stattdessen hätten Sie das beschließen müssen, was anderswo
funktioniert: regionale, konkrete Gesundheitsarbeit mit
den Menschen, die sie benötigen, und zwar in Schulen,
in Kitas und in den Problembereichen, also im Hinblick
auf Drogenabhängige, Menschen, die arbeitslos sind,
und Menschen, die große soziale Probleme haben.
Nichts zur Verbesserung der Gesundheitschancen und
zur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich
kam in Ihrer Rede vor - das scheint Sie schlicht nicht zu
interessieren -, geschweige denn kommt dazu etwas in
Ihrem Gesetzentwurf vor, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({6})
Sie lassen aus meiner Sicht erneut die Einkommensschwachen, die Benachteiligten im Stich. Ich will das
konkret begründen. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts
vorgesehen, was das Rauchen in den Hauptschulen und
in den Förderschulen, wo wir derzeit die größten Probleme haben, beseitigen würde. In Ihrem Gesetzentwurf
ist nichts vorgesehen, was in irgendeiner Weise gezielt
arbeitslosen Menschen oder psychisch Kranken zugutekäme. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts vorgesehen, um
das, was Sie vorhaben, in irgendeiner Weise zu integrieren in Ihre Politik zur Bekämpfung der Armut, so selbige
überhaupt vorhanden ist, oder in Ihre Drogenpolitik. Sie
richten nur eine abstrakte Präventionskonferenz ein, die,
wenn sie sich große Ziele setzt, nicht das erforderliche
Geld hat, um sie zu erreichen, und die, wenn sie sich
kleine Ziele setzt, nicht über die notwendige Ahnung,
die man vor Ort haben muss, verfügt. Damit scheitern
Sie entweder an Ahnungslosigkeit oder am nicht vorhandenen Geld. Das ist alles, was Sie heute liefern.
({7})
Es ist nicht gelungen, auch nur eine einzige große
Studie zur Gesundheitsförderung aufzulegen. Es gibt in
Deutschland keine Gesundheitsforschung im Hinblick
auf die Vorbeugemedizin. Sie wissen überhaupt nicht,
was gemacht werden sollte. Sie sind im Blindflug unterwegs. Es gibt keine einzige nationale Studie - wie dies
zum Beispiel in den skandinavischen Ländern oder in
Amerika der Fall ist -, in der es konkret um den Gesundheitszustand unserer Kinder geht. Die traurige Wahrheit
ist, dass wir über die Gesundheit unserer Kinder zum jetzigen Zeitpunkt nicht viel wissen. Eine solche Studie
wäre noch nicht einmal teuer gewesen. Dazu, eine solche
Studie durchführen zu lassen, fehlte Ihnen aber schlicht
die Fantasie oder das Engagement. Da wäre das wenige
Geld besser investiert gewesen als in Kaffee und Kuchen
im Büro des Ministers.
({8})
Die Vision, die nötig gewesen wäre, haben Sie nicht.
Sie versprechen, dass Kinder- und Jugendärzte die dringend benötigte bessere Unterstützung endlich bekommen. Sie machen aber nichts, um dafür zu sorgen, dass
es in den Problemgebieten mehr Kinder- und Jugendärzte gibt. Von Ihnen gibt es keine einzige Initiative, um
sicherzustellen, dass es in den Brennpunkten demnächst
überhaupt noch Kinderärzte gibt. Was soll denn ein Gesetz, in dessen Rahmen man ein paar Cent mehr für nicht
vorhandene Kinder- und Jugendärzte in die Hand nimmt,
damit diese die Prävention verbessern? Wie soll das
funktionieren? Derjenige, der vor Ort nicht arbeitet,
kann davon nicht profitieren. Hätten Sie sich darüber so
viele Gedanken gemacht, wie Sie sie sich offenbar über
die Notfallversorgung der Apotheker auf dem Land gemacht haben, hätten Sie also auch Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Kinderärzte vorgeschlagen,
dann würde ich sagen: Das ist ein Ansatz, den man verfolgen kann. - Aber de facto waren Ihnen die Kinderund Jugendärzte diese Mühe nicht wert. Zumindest lässt
Ihr Gesetzentwurf dies nicht erkennen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Zum Schluss will ich sagen: Man merkt Ihrem Gesetzentwurf an, dass in der Präventionspolitik über Jahre
hinweg in diesem Hause wenig passiert ist. Das beklagen Sie. Sie vergessen aber, zu erwähnen, dass es die
FDP und auf Länderebene immer auch die Union waren,
die ein Präventionsgesetz verhindert haben. Jetzt legen
Sie einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, sozusagen
in den Vorwehen der bevorstehenden Bundestagswahl.
Wenn es um diesen Gesetzentwurf geht, muss man die
Umfrageergebnisse der FDP vor Augen haben. Sie haben sich zur Jagd tragen lassen und wollen nun diesen
lieblosen Gesetzentwurf beschließen, um sagen zu können: Wir regieren noch. Wir sind noch da.
({9})
Wir machen in der Gesundheitspolitik noch bis zum
Schluss etwas. - Aber dieser Gesetzentwurf ist nichts
anderes als ein Etikettenschwindel. Er enttäuscht die
Menschen. Er lässt diejenigen zurück, die es am nötigsten gehabt hätten, die Einkommensschwachen, die sozial
Schwachen und unsere Kinder. Das ist die Wahrheit zu
diesem Gesetzentwurf.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes
Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In die Gesundheit zu investieren, ist tausendmal
besser, als für die Behandlung von Krankheiten teuer zu
bezahlen. In einem haben Sie recht, Herr Kollege
Lauterbach: Seit vielen Jahren, seit nahezu zehn Jahren
wird über Präventionsmaßnahmen diskutiert.
({0})
Aber eines steht fest: Wir haben jetzt ein umfassendes
Konzept vorgelegt. Wir liefern. Das ist ein gutes Konzept, und dies wird erfolgreich sein.
Was heißt Prävention? Prävention - vereinfacht ausgesprochen - heißt: gesund essen und möglichst viel bewegen.
({1})
Wir wollen niemanden gängeln, niemanden in seiner
Freiheit beschneiden oder gar mit finanziellen Nachteilen bedrohen. Für welche Art der Lebensführung sich jemand entscheidet, ist seine Sache. Aber wir wollen
schon mit Nachdruck Anreize setzen, werben und überzeugen, dass sich gesund leben lohnt, einfach weil man
sich besser fühlt und weil es solidarisch ist. Wer aber
Anreize setzen will, der muss Geld in die Hand nehmen.
Nur mit guten Worten geht es nicht.
({2})
Die gesundheitspolitische Debatte der letzten Jahrzehnte war maßgeblich geprägt von finanziell knappen
Kassen und roten Zahlen. Das hat sich geändert. Das haben wir in der christlich-liberalen Koalition verändert.
Jetzt wird nicht darüber diskutiert, wie rote Zahlen beseitigt werden können, sondern darüber, wie Überschüsse im Fonds und bei einem Teil der gesetzlichen
Krankenkassen richtig angelegt werden können.
({3})
Da sage ich Ihnen: Es gibt nichts besseres, als das Geld
- das sind rund 200 Millionen Euro zusätzlich - in die
Zukunft, in die Gesunderhaltung der Menschen, vor allem der jungen Menschen, der Jugendlichen in Deutschland zu investieren.
({4})
Wir setzen klare Schwerpunkte bei den Präventionszielen: Diabetes mellitus, Brustkrebs, depressive
Erkrankungen bekämpfen, die Gesundheitskompetenz
erhöhen und vor allem bei der Gesundheit der jungen
Menschen ansetzen. Denn eines macht uns Sorge: wenn
eine wachsende Zahl von jungen Menschen praktisch
eine persönliche Karriere startet, die nicht ins Glück
führt, sondern die Krankheit bedeutet: durch Bewegungsmangel, durch Übergewicht. Zu nennen sind hoher
Blutdruck, die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zum Schlaganfall, Zuckerkrankheit und
möglicherweise zum Schluss die Notwendigkeit einer
Organtransplantation. Das alles kann man vermeiden, indem man Überzeugungsarbeit leistet
({5})
und alles bündelt, was an Exzellenzinitiativen bei uns im
Land schon da ist.
Deshalb schaffen wir eine ständige Präventionskonferenz. Wir brauchen sie, weil der Bund nicht alle Kompetenzen hat, die notwendig sind, um zu bündeln. Wir wollen all diejenigen, die Verantwortung tragen, und all
diejenigen, die Exzellenz einbringen, in dieser Konferenz auf gleicher Augenhöhe zusammenführen. Wir
brauchen natürlich die Länder, die Kommunen, die Kassen, die Krankenversicherungen, die Ärzte, die Zahnärzte, die Apotheker, die Patientenorganisationen, die
Gewerkschaften, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeberverbände, die Sportverbände, das Kur- und Bäderwesen.
Alle, die da mitmachen, brauchen wir. Diese müssen
sich auf gleicher Augenhöhe begegnen. Das ist das Ziel
dieser Konferenz.
Ich glaube, es kann gelingen, wenn alle mitmachen.
Das beginnt damit, dass bereits im Kindergarten Wert
auf eine gesunde Ernährung gelegt wird und nicht nur
auf Pommes und Hamburger.
({6})
Das fällt in die Kompetenz der Kommunen. Deshalb
müssen die Kommunen dabei sein. Wir wollen die
Sportvereine einbinden, damit mehr Kooperation stattfindet.
({7})
Wir brauchen eine große öffentliche Aktion; denn wir
brauchen ein Umdenken in den Köpfen, einen Bewusstseinswandel. Deshalb haben wir bestimmte Kompetenzen bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gebündelt. Wir wollen den finanziellen Rahmen für
viele Bereiche erhöhen. Wir wollen die Qualität von Präventionsangeboten verbessern. Bei der betrieblichen Gesundheitsförderung machen wir eine kleine Revolution.
({8})
- Hören Sie genau zu! - Bisher sind die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung in den meisten Fällen
starr. Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, den Beitragssatz zu verändern, wenn Unternehmensleitung, Betriebsrat und Krankenkasse zusammen bestimmte Präventionsziele vereinbaren. Der Beitragssatz wird natürlich
nicht nach oben verändert werden, sondern nach unten,
damit alle einen starken Anreiz haben, mitzumachen.
Diesen Anreiz brauchen wir, und wir schaffen ihn damit.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass dies erfolgreich sein
wird.
({9})
Wir wollen auch diejenigen einbinden, die in der Kur
Verantwortung tragen. Ich denke, es ist wichtig, dass der
Einzelne ermuntert wird, etwas für sich zu tun. Dabei
können höhere Anreize zur Teilnahme an Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten
({10})
und Anreize zur Inanspruchnahme geeigneter Präventions- und Vorsorgeleistungen helfen. Wir haben ein
fantastisches Kurwesen in Deutschland, das wir nutzen
sollten, um Anreize zu setzen, diese Präventionsmöglichkeiten wahrzunehmen.
({11})
Ich bitte alle hier im Deutschen Bundestag, diesen
Gesetzentwurf zügig zu beraten und zu beschließen. Ich
hoffe - und bitte auch darum -, dass dieser Gesetzentwurf im Bundesrat nicht auf die lange Bank geschoben
wird. Wir können uns das in Deutschland nicht leisten.
Wenn es uns nicht gelingt, in der Prävention entscheidende Fortschritte zu machen, wird uns der große Überschuss, den wir jetzt im Gesundheitswesen haben, nicht
dauerhaft nützen; denn es wird eine Explosion der Ausgaben auf uns zukommen. Dieses Präventionskonzept ist
geradezu überlebenswichtig, nicht nur für die Finanzen,
sondern vor allem für die Menschen, um die es geht.
({12})
Wir beraten heute noch einen zweiten Gesetzentwurf.
Wer krank geworden ist und ein Arzneimittel braucht,
der braucht dieses Arzneimittel meistens schnell. Er
muss sich auf eine gute Versorgung verlassen können.
Für uns ist es ein Anliegen, dass die Gesundheitsversorgung in den städtischen Ballungsräumen und in den
ländlichen Regionen gleichwertig bleibt, ohne Unterschiede, ohne Differenzierung. Die Patientenfrequenz einer Bahnhofsapotheke in München wird sich nachtsüber,
im Notdienst, nur wenig von tagsüber unterscheiden: Da
wird immer eine Menge Nachfrage sein. In ländlichen
Regionen, in dünn besiedelten Gegenden kann es dagegen schon vorkommen, dass am Wochenende nur zwei
oder drei Patientenkontakte stattfinden. Das lohnt sich
für den Apotheker nicht. Wir wollen aber die Versorgungsstruktur erhalten. Deshalb setzen wir, Herr
Lauterbach, ganz gezielt Geld ein - 120 Millionen Euro -,
um einen Ausgleich zu schaffen. Wir wollen gleiche
Verhältnisse in Stadt und Land. Wer das nicht will, soll
das hier laut sagen.
({13})
- Sie brauchen da nicht herumzukritisieren.
Herr Kollege, das ist in einem Parlament allerdings
nicht gänzlich unüblich.
({0})
Dann darf ich noch etwas erläutern; vielleicht wird
die Kritik dann noch weiter schrumpfen.
Wir brauchen für die ländlichen Regionen gute Verkehrsverbindungen. Das ist eine Banalität. Auch eine
schnelle Internetverbindung ist von großem Vorteil.
Wenn aber die Gesundheitsversorgung von Ärzten,
Krankenhäusern und Apotheken nicht mehr gewährleistet ist, dann werden alle anderen Infrastrukturmaßnahmen nichts nutzen; denn die Attraktivität der ländlichen
Regionen wird dann nicht zunehmen.
({0})
Deshalb tun wir das alles, und wir werden noch mehr
tun. Wir werden auch ein Krankenhausfinanzierungsgesetz vorlegen, das genau diesen Zweck hat, die ländlichen Regionen zu stärken. Wir sind die Partei der richtigen und gerechten Strukturen.
Danke schön.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Bunge für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute haben wir wieder zwei Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung
der Prävention und den Entwurf eines Apothekennotdienstsicherstellungsgesetzes. Dieses Zusammenwürfeln zeigt deutlich: Sie wollen kurz vor der Wahl noch
ein paar Gesetzentwürfe verabschieden, um zu zeigen,
was Sie alles gemacht haben und wie toll Sie hier sind.
({0})
Wenn man aber dahinterschaut, dann stellt man fest:
Das sind keine guten Gesetzentwürfe. Hier geht es um
schicke Verpackungen, um für den künftigen Wahlkampf
etwas ins Schaufenster legen zu können.
({1})
Seit Beginn der Legislaturperiode drängen die Oppositionsfraktionen mit eigenen Vorschlägen darauf, dass
diese Regierung endlich ein Präventionsgesetz vorlegt,
weil das mehr als überfällig ist.
({2})
Unzählige Engagierte und Enthusiasten vor Ort warten
sehnsüchtig darauf, dass die vielen Aktivitäten zur Gesundheitsförderung und Prävention endlich flächendeckend und dauerhaft gesichert werden.
({3})
In den letzten Tagen dieser Wahlperiode legen Sie etwas vor. Doch dieser Gesetzentwurf ist eine Fehlanzeige.
({4})
Als die CDU/CSU-Fraktion unlängst die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung kommentierte und dabei
glatt die Ansichten der PKV abkupferte, hat sie dem
Ganzen die Überschrift „Gut ist nur der Name“ gegeben.
Ich bin geneigt, bei Ihnen abzukupfern und zu sagen: Bei
diesem Präventionsgesetz ist der Name gut, aber die
Substanz ist mies.
({5})
Sie benutzen - das ist ja das Perverse daran ({6})
Vokabeln der modernen Forschung zur Gesundheitsförderung - Lebenswelten, Ressourcenstärkung und Setting -,
verpacken im Detail aber veraltete und verstaubte Ansätze wie Informationskampagnen oder Verhaltensansätze. Es geht Ihnen darum, den Namen „Präventionsgesetz“ zu verbrennen. Das Vorgelegte ist in Wahrheit der
Entwurf eines Anti-Präventionsgesetzes.
({7})
Mit dieser Einschätzung stehe ich und steht die Linksfraktion nicht allein. Sie, Herr Präsident, erlauben sicher,
dass ich im Weiteren einige Expertinnen und Experten
zitiere, die mir für diese Debatte ausdrücklich ihre Zustimmung dazu gegeben haben.
Die Deutsche Gesellschaft für Public Health schrieb
zu Ihrer Präventionsstrategie - das gilt nach Auskunft
von Frau Professor Birgit Babitsch, Professor Dr. Nico
Dragano und Dr. Dr. Burkhard Gusy auch für Ihren Gesetzentwurf -:
({8})
Der vorgelegte Referentenentwurf und die Eckpunkte … lassen … eine nachhaltige Verbesserung
der Gesundheit der Bevölkerung und eine Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit nicht erwarten. Dies liegt insbesondere an einer verengten
und veralteten, nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Perspektive auf Gesundheitsförderung und Prävention.
Ja, Ihre Vorstellungen von Gesundheitsförderung und
Prävention sind aus dem letzten, wenn nicht gar aus dem
vorletzten Jahrhundert und haben keinen wissenschaftlichen Hintergrund.
({9})
Es ist überhaupt nicht leicht, ein Beispiel zu nennen
bzw. eine besonders schlechte Passage herauszugreifen,
weil man nur die Wahl zwischen schlecht und sehr
schlecht hat. Das, was Prävention und Gesundheitsförderung eigentlich ausmacht, fehlt schlicht und ergreifend.
Ein Präventionsgesetz sollte der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Gesunderhaltung der Menschen dadurch Rechnung tragen, dass auch die Finanzierung breit angelegt ist und nicht nur durch die
gesetzliche Krankenversicherung erfolgt. Die Linke fordert, dass sich neben der Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung auch der Bund an diesem wichtigen
Thema beteiligt, statt hier eine kostenneutrale Schmalspurversion auf den Weg zu bringen. Die Linke fordert
deshalb, dass die Bundesregierung aus dem Bundeshaushalt zum Start jährlich 1 Milliarde Euro in einen Präventionsfonds einzahlt.
({10})
- Das klingt sehr viel. Aber wenn Sie einmal bedenken,
dass das ein reichliches halbes Prozent dessen ist, was
die Versicherten über die Beiträge für die Leistungen
aufbringen müssen, die dazu führen, wieder gesund zu
werden, dann ist das, glaube ich, nicht zu viel.
Eines der zentralen Probleme in dieser Gesellschaft
ist doch, dass Menschen, die ärmer sind oder schlechter
gebildet sind, durchschnittlich kränker sind und deutlich
früher sterben. Menschen mit niedrigem Sozialstatus haben in Deutschland in etwa die Lebenserwartung von
Menschen in Entwicklungsländern. Das kann weder hier
noch dort hingenommen werden.
({11})
Diese Regierung tut mit diesem Gesetzentwurf nichts
dagegen, rein gar nichts. Kein Wunder, dass einer der
größten Experten in Deutschland für soziale Ungleichheit, Dr. Andreas Mielck, vom Helmholtz-Zentrum in
München, diesen Entwurf wie folgt kommentiert - ich
darf zitieren -:
Glauben Sie im Ernst, dass so den Personen geholfen wird, die am stärksten belastet sind? Können so
die Personen erreicht werden, die geringe Bildung
und/oder niedriges Einkommen haben? Es ist doch
offensichtlich: Dieses Gesetz wird die gesundheitliche Ungleichheit eher vergrößern als verkleinern.
Sind Sie so naiv oder handeln Sie wider besseres
Wissen?
Wie der soziale Status die Gesundheit beeinflusst, ist
gut untersucht, ebenso, dass Ihr vielbeschworenes Gesundheitsverhalten nur einen ganz geringen Anteil an der
gesundheitlichen Ungleichheit hat. Dennoch tun Sie
nichts, um sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit
zu verringern, und setzen stattdessen auf Verhaltensprävention bis hin zu Prämien für die Teilnahme an Kursen
zu Verhaltenspräventionsansätzen.
Daher bewertet Professor Ullrich Bauer, Hochschule
Duisburg, Ihren Gesetzentwurf so - ich darf zitieren -:
Dass diese zentralen wissenschaftlichen Erkenntnisse hierzulande nicht wahrgenommen werden und
wider besseres Wissen Entscheidungen getroffen
werden, die gesundheitliche Ungleichheiten nur
noch vergrößern und nicht verringern, ist fahrlässig
und in Prozessen der seriösen politischen Entscheidungsfindung nicht mehr tolerierbar.
Ich denke, dieser Aussage stimmen wir einmütig zu.
({12})
Bei dieser Bundesregierung werden Ärztinnen und
Ärzte zu den Fachleuten für Prävention. Dazu sagt Professor Rolf Rosenbrock, vormaliges Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen und hochangesehener Präventionsfachmann - ich darf wiederum zitieren -:
Ärzte haben in der Regel weder Einblick in die
Gründe, die Menschen an gesundheitsförderlichem
Verhalten hindern, noch verfügen sie über Interventionsmöglichkeiten, die Gründe zu überwinden.
Professor Raimund Geene, Hochschule MagdeburgStendal, ergänzt:
Präventive Beratung für junge Familien muss in ihren Lebenswelten ansetzen und durch diejenigen,
die sich dort auskennen - z. B. Hebammen in den
Familien, Gesundheitsförderer in den Kitas und
Schulen.
Vernünftige Gesundheitsförderung und Prävention
schauen auf die Gesundheit.
Gesundheit ist in den Worten der Weltgesundheitsorganisation - das wissen Sie alle ein Zustand des … körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit …
Dieser notwendige Perspektivenwechsel fehlt hier vollständig.
({13})
Noch ein paar Worte zu dem Entwurf eines Gesetzes
zu den Apothekennotdiensten. Die Linke begrüßt, dass
die bessere Finanzierung von Notdiensten endlich angepackt wird. Dies leistet einen Beitrag zur Sicherung der
medizinischen Versorgung durch Apotheken vor allem
in den ländlichen Regionen; der Minister hat das bereits
gesagt.
({14})
- Jubeln Sie nicht zu früh. - Allerdings lassen Sie Teildienste außer Acht, die in vielen Regionen ein lange bewährtes, ausgeklügeltes System der Bereitschaftsdienste
je nach Bedarf bilden.
Wer hat sich bloß dieses Verfahren, dieses bürokratische, komplizierte Monstrum ausgedacht? Ähnliche Kritik erfahren Sie auch von den Ländern im Bundesrat.
Wieso müssen von jedem Medikament 16 Cent mühsam
von den Apothekerinnen und Apothekern in einen Topf
abgeführt werden, um so 120 Millionen Euro für die bessere Vergütung von Notdiensten zusammenzusammeln?
({15})
Diese 16 Cent zahlen letztlich sowieso die gesetzlichen
wie die privaten Krankenkassen. Warum können diese
nicht gleich gemeinsam diese Summe Monat für Monat
in den Topf abführen?
({16})
Auch in ordnungspolitischer Hinsicht macht es wenig
Sinn, die Notdienstvergütungen quasi an die Medikamente zu hängen, die Menschen mit plötzlichen Beschwerden brauchen. In die Situation, Medikamente zu
benötigen, kann jede und jeder von uns in jedem Augenblick geraten. Warum stellen Sie dann einen Zusammenhang mit den Medikamenten her? Nacht- und Wochenenddienste sind doch eine öffentliche Daseinsvorsorge
für alle Versicherten. Herr Minister, lassen Sie sich unseren Vorschlag, die Kassen direkt zahlen zu lassen, noch
einmal durch den Kopf gehen! Das ist bürokratieärmer.
Angesichts des Anspruchs Ihrer Partei, Bürokratie abzubauen, stünde Ihnen das gut zu Gesicht.
Insgesamt ist der Gesetzentwurf zu den Apothekennotdiensten wenigstens ein Lichtblick, im Gegensatz
zum Entwurf eines Präventionsgesetzes. Dieses Präventionsgesetz werden wir nie und nimmer kritik- und widerstandslos hinnehmen. Das kann ich Ihnen versprechen.
({17})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Klein-Schmeink das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Minister hat gerade mit großen Worten
den Entwurf eines in unseren Augen sehr kleinen Gesetzes vorgelegt, eines Gesetzes, das eben schon zutreffend
als Etikettenschwindel, sehr durchsichtiges Wahlkampfmanöver und Armutszeugnis bezeichnet wurde.
({0})
Schauen wir uns einmal genau an, was hier passiert. Sie
tun so, als würden Sie heute die Prävention im SGB V
neu erfinden. Das alles ist Quatsch; denn es gibt sie
schon seit vielen Jahren. Wir haben in den letzten zwölf
Jahren mehrfach über die notwendige Weiterentwicklung gesprochen. Was machen Sie? Sie stellen kleine
Schräubchen neu, um verschiedensten Gruppen, die für
den Ausgang der Bundestagswahl bedeutsam sein werden, etwas vorzeigen zu können; darum geht es.
({1})
Wenn Sie es wirklich ernst gemeint hätten und der
Prävention einen neuen Stellenwert hätten geben wollen,
dann hätten Sie nicht drei Jahre lang einen Gesetzentwurf angekündigt und ihn erst jetzt, drei Monate vor
Ende der Legislaturperiode, quasi auf den letzten Metern, in den Bundestag eingebracht.
({2})
Sie sind weit entfernt von dem, was Sie selber im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Sie wollten ohnehin
nicht allzu viel machen, aber Sie wollten zumindest alles
auf den Prüfstand stellen und bündeln. Dann haben Sie
im Laufe des Diskussionsprozesses gesagt, dass Sie eine
Präventionsstrategie erarbeiten wollen. Richtig, das
könnten Sie tun. Sie kündigen sie seit drei Jahren an.
Aber nichts ist passiert. Jetzt kommen Sie mit einem
kleinen Gesetz daher, das mehrere große Webfehler hat.
Der erste Fehler ist: Die Themenkomplexe „Armut
und Gesundheit“ sowie „soziale Benachteiligung bei den
Gesundheitschancen“ bleiben vollständig ausgeklammert.
({3})
Dabei wissen wir, dass genau in diesen Bereichen das
größte Potenzial besteht, um mit Prävention und Gesundheitsförderung gegenzusteuern. Das ist der erste
Punkt.
({4})
Zweiter Punkt. Sie sind weit von einem Gesamtansatz
entfernt, mit dem Sie die Präventionsmöglichkeiten der
verschiedenen Ressorts, der verschiedenen politischen
Ebenen, der vielen Organisationen der Zivilgesellschaft,
der Ärzteschaft, des Sports und der Vereinigungen, die
sich mit gesunder Ernährung beschäftigen, sowie vieler
anderer mehr zusammenführen können. Sie sind weit davon entfernt, mit diesen gemeinsam vor Ort regional gebündelte, vernünftige, zielgruppenbezogene und sehr genau auf verschiedene Themenstellungen hin orientierte
Programme realisieren zu können.
({5})
Genau dieser Ansatz wurde ja schon in der Diskussion um das Kinderschutzgesetz verfolgt. Auch in diesem Fall hat sich der Minister erfolgreich geweigert, seinen Anteil, den er als Gesundheitspolitiker zu dieser
Strategie hätte beitragen müssen, einzubringen. Genau
das ist damals schon passiert und setzt sich heute fort.
Dritter Punkt. Sie machen die BZgA, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zu dem Dienstleister und Leistungserbringer im Bereich der Prävention
und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten. Wie
kann man eigentlich einen solchen Denkansatz verfolgen, wo es doch darum geht, ganz gezielt vor Ort, in den
sozialen Brennpunkten, in den Schulen, in den Kitas, in
den Altenheimen, Projekte und Maßnahmen zu verwirklichen?
({6})
Da kann es doch nicht angehen, dass Sie die Hälfte
der Mittel, die Sie dafür vorsehen wollen, der BZgA zuweisen und diese dann im Auftrag des Spitzenverbandes
der GKV dort tätig werden soll. Wie sollen wir uns das
vorstellen? Haben Sie keine Ahnung von kommunaler
Selbstverwaltung? Haben Sie keine Ahnung von Länderund Bundeszuständigkeit? Haben Sie keine Ahnung, wie
eine Zivilgesellschaft eigentlich funktioniert? Ein vollkommen verfehlter Ansatz!
({7})
Insofern muss man tatsächlich sagen: Sie geben mit
180 Millionen Euro zusätzlich auf der einen Seite zu wenig aus, auf der anderen Seite ist es aber gemessen an
dem, was Sie damit politisch umsetzen wollen, eigentlich zu viel. Es ist ein verfehlter Gesamtansatz.
({8})
Weiterhin frage ich mich: Wie wollen Sie das denn eigentlich organisieren? Sie haben ja durchaus richtig erkannt, dass Sie in den Lebenswelten tätig werden müssen. Nun haben Sie ein Problem: Mit wem wollen Sie
das denn absprechen? Wie wollen Sie sicherstellen, dass
die Landesprogramme, die es bereits im Bereich der Gesundheitsförderung und Gesundheitsprävention gibt,
sich mit Ihren Ansätzen zusammenführen lassen? Wie
wollen Sie denn sicherstellen, dass der große Verbund
„Gesundheitliche Chancengleicheit“ auch tatsächlich
mit einbezogen werden kann?
Es gibt 58 große Organisationen, die seit Jahr und Tag
versuchen, in diesem Bereich gemeinsame, gebündelte
Aktionen durchzuführen. Was ihnen fehlt, ist Nachhaltigkeit, ist eine dauerhafte finanzielle Basis, ist die Möglichkeit, alle Akteure, die dort zusammenkommen, zu
diesem Verhalten und vor allen Dingen unsere verschiedenen Sozialleistungsträger zu gemeinschaftlichen Aktionen zu verpflichten. Hierfür hätten Sie einen Gesamtansatz finden müssen. Das konnten Sie nicht, weil
der Minister viel zu spät auf den Trichter gekommen ist,
dass man in diesem Bereich endlich tätig werden müsste.
Das ist doch der Punkt.
({9})
Diesen Notstand hat die CDU genauso gesehen. Deshalb musste sie ja im letzten Jahr mit eigenen Eckpunkten Druck machen, damit überhaupt etwas passierte.
Viele in Ihren Reihen wissen ja auch, dass der jetzige
Ansatz, mit dem lediglich versucht wird, über die Mittel
des SGB V ein klein wenig umzusteuern, verfehlt ist und
so nicht funktionieren kann. Viele von Ihnen wissen das
haargenau.
({10})
Das hat doch zu diesem großen Dilemma geführt. Sie
wollen im Wahlkampf etwas vorweisen können. Sie wollen sagen können: Ja, wir haben beim Thema Prävention
etwas getan. - Aber im Kern machen Sie das Falsche. So
werden wir diesen Gesetzentwurf auf keinen Fall mittragen können. Es ist ein Entwurf, der entweder grundlegend überarbeitet werden müsste oder besser in den Papierkorb geschoben werden sollte.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem, Frau Klein-Schmeink, haben Sie recht: Es wurde
über Prävention auch hier im Deutschen Bundestag seit
15 Jahren viel geredet, aber wenig gemacht. Was Sie
doch am meisten wurmt - das wird ja in allen Ihren Reden deutlich -, ist, dass wir als christlich-liberale Koalition über Prävention nicht nur reden; vielmehr haben wir
endlich ein Präventionsgesetz vorgelegt. Wir sorgen
ganz konkret für eine verbesserte präventive Gesundheitsförderung im deutschen Gesundheitswesen. Das ist
ein wichtiger Schritt nach vorne.
({0})
Lieber Kollege Spahn, möchten Sie gleich zu Beginn
Ihrer Rede eine Zwischenfrage beantworten?
Gerne.
Bitte schön, Frau Bender.
Werter Herr Kollege Spahn, Sie haben gesagt, seit
15 Jahren werde in diesem Haus über Prävention nur geBirgitt Bender
redet. Darf ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen? Trifft es zu, dass die rot-grüne Regierung ein Präventionsgesetz in diesem Hause vorgelegt hatte, das von
Ihnen abgelehnt wurde und das die Länder - die unionsgeführten Länder, wohlgemerkt - nachher aus wahltaktischen Gründen haben scheitern lassen?
({0})
Das Problem aller bisherigen Ansätze - sie sind im
Übrigen auch in diesen Reden wieder deutlich geworden ist, dass die Spannbreite zwischen all den Sonntagsreden
und den tollen Zielen, die man da formuliert, und der
Absicht, den Bund - am liebsten auch Brüssel -, die
Kommunen, die Länder, alle Sozialversicherungsträger,
jede einzelne Stadt, jede kleine Kiezberatungsstelle in
ein Gesetz einzubinden, dazu geführt hat, dass Sie sich
immer, wenn Sie darüber gesprochen haben und wenn
Sie irgendetwas vorgeschlagen haben, an dieser Stelle
völlig verheddert haben. Sie sind im ganzen Gefüge des
Föderalismus untergegangen, weil Sie immer zu viel
wollten.
Wir sagen an dieser Stelle: Wir schaffen eine konkrete
und vernünftige Regelung. Wir setzen beim Sozialgesetzbuch V, bei der gesetzlichen Krankenversicherung
an. Wir wollen lieber etwas, was am Ende auch funktioniert. Wir wollen nicht so überambitioniert starten, wie
Sie es in den früheren Debatten immer getan haben, um
am Ende ganz schlapp zu landen.
({0})
Was machen wir da genau? Das eine ist eine Verdreifachung der für die Gesundheitsförderung in Deutschland zur Verfügung stehenden Summe. Das ist übrigens
die Summe, die für die Primärprävention, also für die
allgemeine Gesundheitsaufklärung, zur Verfügung steht.
Natürlich betreiben Krankenkassen bei denjenigen, die
Diabetes, Bluthochdruck oder andere Erkrankungen haben, auch Prävention, damit diese Erkrankungen nicht
fortschreiten. Hier geht es aber vor allem um die grundsätzliche allgemeine Gesundheitsförderung in der Bevölkerung.
Natürlich wollen wir die Menschen in ihrem Lebensumfeld erreichen, in den Betrieben, in den Kindergärten,
in den Schulen. Gesundheitsförderung soll Thema werden, am besten in der Kantine bei gesundem Essen. Deswegen sollen die Krankenkassen mit den Partnern vor
Ort kooperieren. Über Einzelheiten der Gesundheitsförderung soll niemand aus Berlin und auch nicht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln für
alle in Deutschland entscheiden; vielmehr soll Prävention mit den Kooperationspartnern vor Ort betrieben
werden.
Wir wollen Qualitätsorientierung in der Prävention.
Wir haben heute das Problem, dass wir sehr oft eher
marketinggetriebene Aktionen erleben, bei denen es
etwa darum geht, einen Fitnessgutschein groß zu bewerben. Damit werden am Ende aber nicht diejenigen erreicht, die wirklich eine präventive Gesundheitsförderung brauchen, sondern eher diejenigen, die sich sowieso
schon bewegen wollten. Wir müssen weg von diesen individuellen Marketingansätzen, hin zu konkreten Ansätzen in den Betrieben, in den Schulen, in den Kindergärten, um auch diejenigen Menschen zu erreichen, die bis
jetzt vielleicht nicht erreicht wurden.
({1})
Dazu gehören auch Angebote zu Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag vor einigen Wochen das Krebsfrüherkennungs- und Krebsregistergesetz beschlossen. Das
gehört für uns zusammen: Vorsorge, Früherkennung.
Wir wollen eine informierte Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger, ob sie ein solches Angebot zur Vorsorge, zur Früherkennung annehmen. Wir wollen sie
nicht gängeln, wir wollen es ihnen nicht vorschreiben;
aber wir wollen sie darüber informieren. Wir wollen,
dass jeder angeschrieben wird. Wir wollen jedem das
Angebot machen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten,
Vorsorge zu betreiben, Krankheiten früh zu erkennen.
Wir sind sehr sicher, dass die allermeisten Bürgerinnen
und Bürger mit dieser informierten Entscheidung sehr
gesundheitsbewusst umgehen werden.
Dazu kommen Gesundheitsziele, die wir erstmals
- auch das hat es bis jetzt noch nicht gegeben; auch das
ist ein großer Schritt nach vorne - verbindlich gesetzlich
festschreiben und damit zur Handlungsmaxime machen
werden, auch für die Krankenkassen. Das zielt etwa auf
die Bereiche Diabetes, Bluthochdruck, Brustkrebs und
auf die Frage: Wie bleibt man im Alter gesund? Das ist
angesichts des demografischen Wandels ein wichtiges
Thema. Die Bevölkerung in Deutschland wird kleiner,
und gleichzeitig werden die Menschen älter als früher.
Wir definieren ganz konkrete Gesundheitsziele und
schaffen einen Leitfaden für das Handeln der Krankenkassen und aller, die im Gesundheitswesen tätig sind.
Da können Sie von der Opposition sagen, das sei alles
zu wenig, es müsse mehr sein, es müsse größer sein, es
müsse mehr Geld sein. Das ist ja das, was Sie immer
gern tun: bei allem mehr Geld fordern. Was wir machen,
sind konkrete Maßnahmen: mehr Geld für Prävention
ausgeben, den Mindestwert verdreifachen, eine Qualitätsorientierung bei dem betreiben, was schon da ist, Gesundheitsziele definieren, eine Stärkung bei den Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen vornehmen.
Sie wissen genauso gut wie wir, dass das die richtigen
Maßnahmen sind. Man kann immer mehr wollen, aber,
ich finde, an dieser Stelle könnte man auch einmal anerkennen, dass wir hier konkrete gute Vorschläge machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Kollege Spahn, eine bestimmte Fraktion möchte
heute Ihre Redezeit gleich mehrfach verlängern.
Immer gern.
Herr Spahn, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die Aktivitäten verdoppeln und ausweiten wollen und dass das
ja nicht falsch sein kann. Das kann man erst einmal so
sehen. Wie erklären Sie dann, dass in den letzten Jahren,
in denen Sie hier die Regierung gestellt haben, das Volumen für Prävention massiv rückläufig war? Wir haben
2008 noch 340 Millionen Euro dafür ausgegeben, und
heute liegt das bei 270 Millionen. Wie erklären Sie sich
diesen Rückgang? Womit hat das zu tun? Kann man
nicht auch sagen, dass Sie die Bedeutung der Prävention
in den letzten Jahren deutlich unterschätzt haben?
Das kann man natürlich nicht sagen,
({0})
weil wir überall gesagt haben - ich bin noch beim Antworten; bleiben Sie bitte stehen -, wie wichtig Prävention und Gesundheitsförderung sind. Die Mindestsumme
von gut 2 Euro pro Versicherten pro Kasse pro Jahr, die
einmal festgeschrieben worden ist, verdreifachen wir
fast; deswegen verstehe ich Ihre Kritik bezüglich der
Centbeträge nicht. Gerade weil die Tendenz der Kassen
ist, im Zweifel nicht genug in Prävention zu investieren,
sagen wir: Wir schreiben es euch gesetzlich vor. Wir
schreiben euch vor, mindestens 6 Euro pro Versicherten
pro Jahr in Prävention zu investieren. - Wir sagen auch
ganz klar: Ihr sollt es nicht in Marketingansätze und Gutscheine investieren, sondern ihr sollt die Menschen in
den Betrieben, in den Kindergärten, in den Schulen erreichen. - Genau deswegen machen wir dieses Gesetz.
Insofern war Ihre Frage eine gute Gelegenheit, das
noch einmal ausdrücklich darzustellen, Frau Kollegin
Klein-Schmeink.
({1})
Das zweite Gesetz, das wir hier heute einbringen, ist
schon angesprochen worden. Darin geht es um den Apothekennotdienst. Wir müssen das in einer Gesamtschau
sehen. Was haben wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz begonnen? Dabei ging es vor allem um die flächendeckende Versorgung im ländlichen Raum mit Ärzten
- ein Thema, das viele Menschen in Deutschland - ich
selbst komme aus dem Münsterland; das gilt hier, aber
auch in anderen Regionen - im Moment sehr bewegt.
Sie fragen nämlich: Ist dann, wenn ein Hausarzt aufhört,
noch ein Nachfolger da?
Wir müssen natürlich auch schauen: Wie sieht es in
den anderen Gesundheitsberufen aus? Hier nehmen wir
die Apotheker mit in den Blick, weil im ländlichen
Raum, aber übrigens auch in manchen Stadtteilen in
Berlin oder in München oder anderswo wenige Apothekerschultern den Notdienst tragen müssen, die Apotheker also relativ häufig nachts und am Wochenende mit
dem Notdienst dran sind, häufiger jedenfalls als in der
Stadt allgemein. Das wollen wir finanziell honorieren.
Wir werden im Gesetzgebungsprozess das, was wir
hier eingebracht haben, noch ergänzen, und zwar um Regelungen zur Krankenhausfinanzierung, um auch insofern eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen.
Das heißt, das, was wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz begonnen haben, setzen wir mit den Regelungen zu
den Apothekern, Krankenhäusern und anderen Bereichen fort, weil wir eine flächendeckende Versorgung für
die Menschen wollen, nicht nur Spitzenmedizin in den
großen Städten, sondern auch ein breites Angebot im
ländlichen Raum. Dafür ist das vorgelegte Gesetz ein
wichtiger weiterer Schritt.
({2})
Etwas überrascht, Herr Kollege Lauterbach, bin ich
davon, dass Sie das Gesetz eine Verbeugung vor den
Apothekern nennen.
({3})
Ich finde, das, was Sie hier betreiben, ist, ehrlich gesagt,
ein Stück weit Hohn. Wir wissen jedenfalls, dass wir
eine flächendeckende Versorgung der Menschen in
Deutschland, eine gute gesundheitliche Versorgung der
Menschen in Deutschland nur mit den Ärzten, nur mit
den Apothekern, nur mit den Pflegekräften, nur mit denjenigen hinbekommen, die im Gesundheitswesen tätig
sind, und nicht gegen sie.
({4})
Was Sie hier rhetorisch immer machen: Sie bauen Gegensätze auf zwischen Patienten auf der einen Seite und
Ärzten, Apothekern und anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind, auf der anderen Seite. Wir sehen da keine
Gegensätze. Es geht um die Zusammenarbeit. Die Menschen vertrauen ja zu Recht ihrem Arzt, ihrem Apotheker, ihrer Hebamme, ihrem Physiotherapeuten, denjenigen, die sie behandeln. Deswegen wollen wir gerade
diese im ländlichen Raum stärken.
({5})
Ich will einmal das in einer Gesamtschau betrachten,
was wir in den letzten dreieinhalb Jahren gesundheitspolitisch gemacht haben, und das einordnen, was wir tun.
({6})
Denn Sie fragen ja: Warum jetzt?
Wir haben zuerst gesagt: Wir wollen in der gesetzlichen Krankenversicherung eine solide finanzielle Basis
herstellen. Denn wir sind gestartet mit einem drohenden
großen Defizit, das uns bevorstand. Wir haben es mit
Sparmaßnahmen, mit einer Erhöhung des Beitrags, aber
vor allem durch die gute wirtschaftliche Entwicklung, zu
der auch Politik beigetragen hat, hinbekommen, dass wir
heute eine solide finanzielle Basis in der gesetzlichen
Krankenversicherung mit Rücklagen haben, wie wir sie
seit mindestens 20, 25 Jahren nicht gekannt haben.
({7})
Dann haben wir gesagt: Nachdem die finanzielle Basis hergestellt ist, wollen wir stärker als bisher die Frage
in den Blick nehmen: Wie nehmen die Menschen in
Deutschland Versorgung wahr? Wo gibt es in der Versorgung Probleme? Etwa bei der flächendeckenden Versorgung mit Ärzten, mit Apothekern, mit Krankenhäusern.
Daran anschließend die Frage: Wie können wir die Versorgung im ländlichen Raum sicherstellen? Bei Medikamenten, die jemand bekommt, wäre zu fragen: Nutzen
die tatsächlich auch etwas, bringen die auch etwas, oder
werden hier etwa unnötig hohe Preise gezahlt? Deswegen haben wir mit einem entsprechenden Gesetz auch
eine Nutzenbewertung möglich gemacht. Weiter weise
ich hin auf die Krankenhaushygiene und viele andere
Themen, die wir aufgegriffen haben.
Jetzt geht es in einem weiteren Schritt um die Perspektive, die noch über die akute Versorgung hinausgeht.
Wir sagen im Präventionsgesetz: Wir legen zum einen
die Basis dafür, dass man in Deutschland, wenn man
krank wird, darauf vertrauen kann, dass eines der besten
Gesundheitswesen der Welt zur Verfügung steht, einen
in der Not unterstützt und einem hilft, und wir wollen
zum anderen gemeinsam daran arbeiten - hier sind auch
die Krankenkassen und diejenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind, zu nennen -, Krankheiten möglichst zu
vermeiden, damit es erst gar nicht zu Krankheiten
kommt. Ich denke da insbesondere an die Volkskrankheiten: Diabetes, Bluthochdruck und viele andere sind
schon genannt worden. Die wichtigsten Mittel sind und
bleiben ja eine gesunde Ernährung und Bewegung. Es
gilt in diesen Bereichen Akzente zu setzen. Auch jeder
für sich sollte überlegen: Wie kann ich das in meinem
Leben besser gestalten? - Dazu wollen wir anregen.
Mir sagte vor einigen Tagen jemand in einer Veranstaltung, er würde drei Mal in der Woche joggen - für
seine Krankenkasse. Da habe ich ihm gesagt: Ich hoffe,
Sie joggen nicht für Ihre Krankenkasse, sondern weil Sie
sich jedes Mal besser fühlen, wenn Sie vom Joggen nach
Hause gekommen sind, weil es Ihnen also besser geht,
weil es Ihnen guttut und weil es am Ende Ihnen in Ihrem
Leben etwas gibt. - Dahin wollen wir kommen: dass
Menschen für sich die Entscheidung treffen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten. Wir wollen sie nicht gängeln, sondern sie informieren, sie aufklären, sie erreichen. Das ist der Ansatz, den wir fortsetzen werden auch und gern über den 22. September hinaus.
({8})
Angelika Graf ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst etwas richtigstellen, Herr Lanfermann
- die Kollegin Klein-Schmeink hat das ja auch schon angesprochen -: Es hat sehr wohl - ich bitte Sie, doch einmal in die Dokumente des Bundestages zu schauen - einen Gesetzentwurf von Rot-Grün gegeben; der wurde im
Bundesrat unter anderem auch mit Ihrer Mithilfe gestoppt. Und es hat eine zweite Anstrengung vonseiten
der SPD gegeben - die leider in der Großen Koalition
gescheitert ist -, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
({0})
Also, bitte schön, stellen Sie keine so dreisten Behauptungen auf!
({1})
Dieser zweite Gesetzentwurf ist übrigens daran gescheitert, dass unser damaliger Koalitionspartner, Ihr jetziger Koalitionspartner, einen solchen Gesetzentwurf
nicht wollte.
({2})
Wir haben hier schon jahrelang auf Maßnahmen der
Regierung im Bereich der Prävention gewartet. Ich
denke, das Warten hat sich definitiv nicht gelohnt. Sie
haben erst drei Jahre lang die Vorlage eines Präventionsgesetzes abgelehnt, Herr Minister - alle Anträge dazu
wurden im Bundestag ebenfalls abgelehnt -, und man
hat drei Jahre lang wolkig über eine Präventionsstrategie
gesprochen. Jetzt, wo die Diskontinuität in Reichweite
ist, wo es zu spät für einen solchen Gesetzentwurf ist, da
legen Sie einen solchen Rohrkrepierer vor.
({3})
Ich denke, der Entwurf hat nur einen Zweck - Herr
Lauterbach hat es auch schon angesprochen -: Er ist ein
Feigenblatt für Ihren Wahlkampf. Und, bitte schön, es
liegt nicht an uns, dass die Zeit so knapp ist, sondern es
liegt an Ihnen.
({4})
Wie so oft bei Ihnen, gibt es dazu ein nahezu leeres Glas
- das ist schon angesprochen worden - mit einem irreführenden Etikett darauf. Das haben diejenigen, die im
Bereich der Prävention arbeiten und dort gut arbeiten
und die erwartet haben, dass die Regierung vernünftig
tätig wird, nicht verdient.
Wir haben Ihnen in unseren Anträgen vor zwei Jahren
aufgeschrieben, was ein vernünftiges Präventionsgesetz
beinhalten muss. Auf zwei Hauptprobleme möchte ich
heute eingehen; es sind übrigens Hauptprobleme, die
alle Oppositionsparteien gleichermaßen so identifiziert
Angelika Graf ({5})
haben. Der erste Punkt: Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland erreichen nur die bereits Gesundheitsbewussten. Der zweite Punkt: Prävention ist in
Deutschland sehr fragmentiert, wenig nachhaltig, nicht
aufeinander abgestimmt und häufig ineffektiv.
({6})
Wir von der SPD haben damals einen sehr konkreten
Antrag vorgelegt, abgestimmt mit Praktikern, Experten
und Expertinnen. Vor diesem Hintergrund habe ich mir
Ihren Gesetzentwurf angesehen. Ich muss Ihnen sagen:
Bis auf vereinzelte Vorschläge zur Verbesserung der betrieblichen Prävention ist das Gesetz aus meiner Sicht
völlig ungeeignet, die oben angesprochenen Hauptprobleme der Prävention in Deutschland zu beheben.
({7})
Der Gesetzentwurf ist Murks, wie auch Ihre Regierungsbilanz im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren.
Problem eins: Wie erreichen wir Menschen, die bisher kaum an Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung teilgenommen haben? Der sogenannte
Setting-Ansatz, der die Menschen in ihrem Lebensumfeld abholt, wird bislang vollkommen unzureichend verfolgt.
({8})
- Sie können sich darauf verlassen, ich habe den Gesetzentwurf gelesen.
Wir wollten mit unserem Antrag diesen Ansatz maßgeblich stärken, die begrenzten Mittel auf diesen Ansatz
konzentrieren. Und was wollen Sie in Ihrem Gesetzentwurf? Sie wollen 1 Euro pro Versicherten in den Bereich
generelles Setting geben. Und die Kassen sollen noch
einmal die Hälfte dieser Mittel der BZgA zur Verfügung
stellen.
({9})
Sie belassen es damit dabei, dass der Großteil der Kassenausgaben für die Prävention in wenig effektive individuelle Präventionsmaßnahmen gesteckt wird, obwohl
wir wissen, dass wir damit vor allem diejenigen erreichen, die, wie gesagt, sowieso schon etwas tun. Wenn
man diesen Ansatz in Richtung nicht individuelle Präventionsmaßnahme verfolgen will, geht das nur mithilfe
der Kommunen, der Länder und der Player vor Ort.
Vor diesem Hintergrund würden Sie mit diesem Gesetzentwurf wohl ein zweites Problem schaffen. Mit der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben
Sie sich meiner Ansicht nach nicht den besten Akteur im
Bereich des Setting ausgesucht.
({10})
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- damit wir uns nicht falsch verstehen - macht eine hervorragende Arbeit im Bereich der Aufklärung. Deswegen heißt sie ja auch so. Aber für den Bereich der Lebenswelten, in der konkreten Arbeit mit bildungs- und
einkommensschwachen Menschen gibt es bessere Kooperationspartner. Schauen Sie sich einmal die Stellungnahme der Caritas an, die Sie sicher auch bekommen haben!
({11})
Der Gesetzentwurf wird also nichts daran ändern, dass
diejenigen, die am stärksten von Präventionsmaßnahmen
profitieren könnten, am wenigsten erreicht werden. Ein
Beispiel hierfür ist die alleinerziehende, psychisch labile
arbeitslose Mutter.
Auch das zweite Problem, die Projektitis in der Prävention, wird mit diesem Gesetzentwurf nicht gestoppt.
Kaum ein Programm oder Projekt hat eine längere Laufzeit als 18 Monate. Modellruinen, wohin man sieht. Daran ändert auch Ihr Gesetzentwurf nichts.
({12})
Wer soll denn die Qualität der Präventionsmaßnahmen systematisch überprüfen und gewährleisten? Wer
sorgt für ein Ineinandergreifen der Programme? Wie soll
Nachhaltigkeit gesichert werden? Auf all diese Fragen
gibt dieser Entwurf definitiv keine Antwort. Die Ständige Präventionskonferenz, die alle vier Jahre einen Bericht schreiben soll, wird daran auch nichts ändern.
({13})
Es ist keine Überraschung, dass sich die privaten
Krankenversicherungen mit Ihrem Gesetzentwurf weiter
aus dem Staub machen können. Gönnerisch weisen Sie
im Entwurf lediglich darauf hin, dass die PKV die Prävention fördern kann, es aber nicht muss. Ihre Versicherten werden eventuell von den Maßnahmen profitieren.
Die private Kasse wird aber nicht gezwungen, dort einzuzahlen.
Prävention und Gesundheitsförderung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es müssen sich alle,
auch finanziell, an diesem Gesamtprojekt beteiligen.
({14})
Deswegen möchte ich in der letzten Minute kurz den
Blick darauf lenken, was Sie denn eigentlich in den letzten drei Jahren zur Verbesserung der Prävention konkret
gemacht haben. Das kann man am besten am Etat feststellen.
Ich habe mir den Haushalt dazu angeschaut. Sie haben die Haushaltsmittel im Bereich Prävention für das
Jahr 2011 um 2 Prozent gekürzt und für das Jahr 2012
noch einmal um rund 9 Prozent. Die Mittel für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Bekämpfung
von Aids und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten sind für 2011 um 25 Prozent gekürzt worden. Die
Mittel für nationale Aufklärungsmaßnahmen zu sexuell
übertragbaren Krankheiten kürzte die Koalition für 2012
um knapp 10 Prozent. Der Aktionsplan für Ernährung
Angelika Graf ({15})
und Bewegung, IN FORM, wurde an das Verbraucherschutzministerium übergeben und dort im Jahre 2013
komplett eingestellt.
({16})
Im Jahr 2013 sind dann die Haushaltsmittel für Aufklärungsmaßnahmen zu sexuell übertragbaren Krankheiten noch einmal um 10 Prozent gekürzt worden, die
Mittel zur Bekämpfung von Drogen- und Suchtmittelmissbrauch noch einmal um 4 Prozent.
Ich fasse zusammen: Seit Ihrem Amtsantritt im
Jahre 2009 sind die Mittel im Bereich der Prävention
trotz aufwachsender Mittel im Gesundheitswesen um
10 Prozent gekürzt worden. Das sagt mehr aus als jede
generelle Aussage über die Wertigkeit von Prävention in
Ihrer Politik.
({17})
Täuschen Sie sich nicht: Die Menschen werden sehr
genau auf das Präventionsgesetz und das, was Sie im Bereich der Prävention gemacht haben, schauen. Die Bürgerinnen und Bürger und die Wählerinnen und Wähler
sind nicht dumm. Sie sehen, dass Sie die Mittel auf der
einen Seite gekürzt haben, sich aber auf der anderen
Seite jetzt mit einem Feigenblatt in Form des Präventionsgesetzes bedecken wollen. Das wird durchschaut
werden. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der
Wahl.
({18})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Erwin
Lotter das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegen von der Sozialdemokratie, bevor Sie hier unterstellen, der Minister
würde die Unwahrheit darüber sagen, wie Sie sich zu
den Apotheken positionieren, empfehle ich Ihnen, den
Leitantrag Ihres eigenen Parteivorstandes zur Gesundheitspolitik zu lesen, wo es wörtlich heißt:
Den Arzneimittelvertrieb werden wir liberalisieren,
um Preisvorteile von größeren Vertriebsstrukturen
zu erreichen.
({0})
Sie sollten vielleicht auch lesen, wie sich Ihr Kanzlerkandidat geäußert hat. In einem Brief an die Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz spricht er sich nämlich
ausdrücklich für den Versandhandel aus.
Überhaupt ist ja die Abstimmung über das Präventionsgesetz für die Opposition die Stunde der Wahrheit.
Viele Jahre haben wir miterlebt, wie SPD und Bündnis 90/Die Grünen lautstark ein solches Gesetz gefordert
haben: Das umfangreiche Präventionsangebot, das wir in
Deutschland seit Jahrzehnten entwickelt haben, genüge
nicht. Die Prävention stehe nicht im politischen Fokus.
Die bestehenden Maßnahmen seien unkoordiniert.
Nicht, dass etwa die Sozialdemokraten, die erst mit
den Grünen und dann mit der CDU/CSU elf Jahre lang
an der Regierung waren, tatsächlich etwas unternommen
hätten; es ist vielmehr die schwarz-gelbe Bundesregierung, die nach umfangreichen Vorarbeiten endlich einen
Gesetzentwurf vorlegt, der umfassend und zukunftsgerichtet ist.
({1})
Und was hören wir von SPD und Grünen? Zu wenig,
zu spät, zu bürokratisch. Überhaupt hätten Sie alles besser gemacht. Ganz offen drohen Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, das Gesetz im Bundesrat
scheitern zu lassen.
Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Das
wäre ein Affront gegen die zahlreichen Verbände, gegen
die Vertreter der medizinischen Berufe, gegen die Krankenkassen und gegen die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
({2})
- Und gegen die Menschen. - Denn all diese Institutionen haben dazu beigetragen, den aktuellen Gesetzentwurf zu schaffen. All diese Institutionen erwarten, dass
nun das lange erwartete Präventionsgesetz endlich verabschiedet wird. Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern mit
Unterstützung einer Vielzahl von Akteuren aus dem Gesundheitswesen.
({3})
Ihnen allen schulden wir Politiker, endlich tätig zu werden.
({4})
Ich denke, dass der vorliegende Entwurf wichtig ist,
um das Bewusstsein in der Bevölkerung für gesundheitsförderndes Verhalten zu stärken. Es sind nicht nur die
Krankenkassen und Ärzte angesprochen, die sich bemühen, auf die Menschen zuzugehen, um bereits im Vorfeld
die Zahl insbesondere chronischer Krankheiten zu senken. Auch jeder Einzelne selbst ist gefordert, sich Gedanken über sein persönliches Verhalten zu machen. Die
entscheidende Frage ist und bleibt: Wie können wir jeden Einzelnen tatsächlich erreichen? - Es reicht doch
nicht, die Fahrradwege zu verbreitern; ich muss die
Menschen aufs Fahrrad bekommen.
({5})
Nach unserer Überzeugung ist es die beste Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger in den gesellschaftlichen Strukturen anzusprechen, wo eine große Resonanz
möglich ist: Dazu gehören Schulen, Kommunen, Betriebe, aber auch Sportvereine, Alters- und Pflegeheime
oder Orte, an denen sich viele Migranten aufhalten. Eine
weitere Facette dieser Herangehensweise ist es, die herausgehobene Bedeutung der Familien anzuerkennen, zumal im Bereich der Migranten. Kinder und Jugendliche
werden die Notwendigkeit eines gesunden Lebens nicht
erkennen, wenn es ihnen in der Familie nicht vorgelebt
wird.
({6})
Aus meiner langjährigen Praxis als Arzt weiß ich um
die entscheidende Bedeutung von Vorbildern. Dies gilt
vor allem für Kinder, aber nicht nur für sie. Wenn ich als
Arbeitnehmer in meinem Betrieb Strukturen vorfinde,
die mir sportliche Betätigung ermöglichen und ein hochwertiges Essen in der Kantine anbieten, so kann das für
mich auch im privaten Bereich ein Ansporn sein. Wenn
ich als älterer Mensch miterlebe, wie andere Senioren
ihre Lebensqualität durch Bewegung und gesundes
Essen erhöhen, kann das auch für mich eine Ermutigung
darstellen. Wenn meine Ärzte und die Ärzte meiner Kinder stets aufs Neue Maßnahmen zur Vorbeugung vorstellen, dann werde ich die Bedeutung der Prävention persönlich ganz anders einschätzen.
({7})
Dies beginnt bei der Ernährungsberatung und hört bei
Untersuchungen zur Früherkennung nicht auf. Diese
Strategie wird umso effektiver, wenn sie mit Anreizen,
mit Boni verbunden wird, die die präventiven Maßnahmen ihrem Wesen nach begleiten.
All die relevanten Lebenswelten zu identifizieren und
miteinander zu verzahnen - dies ist die Aufgabe des Präventionsgesetzes. Natürlich werden wir die Ergebnisse
nicht sofort, in zwei oder drei Jahren, sehen können; die
Reduktion von Krankheiten ist erst nach Jahrzehnten
messbar. Der Gesetzentwurf verfolgt einen langfristigen
Ansatz. Diese Nachhaltigkeit ist Kern und Zielvorstellung liberaler Gesundheitspolitik.
({8})
Meine Damen und Herren, wir wollen nichts unversucht lassen, um die Menschen vor vermeidbaren Krankheiten zu bewahren. Damit werden langfristig auch
Krankheitskosten reduziert - im Interesse der finanziellen Stabilisierung des Gesundheitswesens. Hiermit müssen wir jetzt anfangen, nicht erst übermorgen. Ich appelliere daher ausdrücklich an die Opposition, dem
Präventionsgesetz zuzustimmen und nicht unnötig Zeit
verstreichen zu lassen - im Interesse der Gesundheit unserer Bürger.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war voraussichtlich meine letzte Rede hier an dieser Stelle, weil ich
aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren werde. Ich möchte mich an
dieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit
mit den gesundheitspolitischen Sprechern aller Fraktionen bedanken.
({10})
Man erlebt als Parlamentarier nicht unbedingt immer
nur Glücksmomente. Aber es gab Momente, in denen
man jenseits der parlamentarischen Rituale und des Aufeinander-Eindreschens doch bei allen Kollegen das Ringen um die beste Lösung gespürt hat. Es gab auch Momente, in denen man das Gefühl hatte: Ja, die
menschliche Basis stimmt. Da möchte ich mich - das
wird Sie jetzt vielleicht wundern - stellvertretend für alle
anderen beim Kollegen Lauterbach bedanken, weil ich
ihn trotz der politischen Meinungsverschiedenheiten, die
wir haben, immer als sehr kollegial empfunden habe und
weil er in menschlicher Hinsicht hochanständig war gerade in dem Moment, als ich krank geworden bin. Dafür
herzlichen Dank. Ich wünsche mir und dem nächsten
Deutschen Bundestag, dass dieser menschliche Aspekt
erhalten bleibt.
Vielen Dank.
({11})
Lieber Kollege Lotter, ich möchte den Dank, den Sie
gerade insbesondere an Ihre Kolleginnen und Kollegen
aus dem Bereich der Gesundheitspolitik ausgesprochen
haben, im Namen des ganzen Hauses gerne zurückgeben. Die allermeisten von uns haben mit großem Respekt registriert, unter welchen erschwerten Bedingungen
Sie Ihr Mandat in den letzten Monaten wahrgenommen
haben. Deswegen gilt Ihnen unser Dank und Respekt mit
allen guten Wünschen für die Zeit nach Ende dieser Legislaturperiode.
({0})
Birgitt Bender erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Lotter, ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich den Worten des Präsidenten anzuschließen.
({0})
Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zeit nach der Arbeit im Parlament.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zur Sache. Der zweite Gesetzentwurf, den wir heute
beraten, heißt „Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz“. Sichergestellt wird da aber gar nichts. Es gibt
120 Millionen Euro mehr für die Apothekerinnen und
Apotheker - das wird sie gewiss freuen, und es sei ihnen
auch gegönnt -, aber die Belastung für die Apotheken
bleibt die gleiche. Die Wege für die Patienten und PaBirgitt Bender
tientinnen bleiben genau gleich lang; das heißt, es ändert
sich überhaupt gar nichts.
Man müsste doch an die Struktur herangehen. Die
Notdienstbezirke sind historisch gewachsen. Deswegen
ist die Belastung der Apotheker und Apothekerinnen außerordentlich unterschiedlich, und zwar nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen verschiedenen ländlichen Räumen; ich habe mir das für BadenWürttemberg schildern lassen. Dementsprechend sind
die Wege für Patientinnen und Patienten unterschiedlich
lang. Sie erleben es zum Beispiel, dass es die ärztliche
Notfallversorgung am Wochenende in der einen Ecke
des Landkreises gibt, dass sie dann aber weit in eine andere Ecke des Landkreises fahren müssen, um die Medikamente zu bekommen. Was wird denn da sichergestellt,
wenn die Struktur weiterhin so bleibt? Das ist doch eine
Farce.
({1})
Man müsste sich dafür interessieren, wie die Strukturen verbessert werden könnten, wie man die Notdienstbezirke neu zuschneiden kann,
({2})
wie man die ärztliche Notfallversorgung und den apothekerischen Notdienst besser aufeinander abstimmen kann.
({3})
Das würde Apotheker und Apothekerinnen entlasten.
({4})
Es würde für die Patientinnen und Patienten weniger
lange Wege mit sich bringen und damit eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung bedeuten.
Aber den Minister interessiert das alles leider gar
nicht. Das Einzige, was Sie wollen, ist: Ruhe an der
Apothekerfront vor der Wahl. Ja, Sie werden von der
Apothekerlobby Zuspruch bekommen, aber ich sage Ihnen: Die Apotheker und Apothekerinnen an der Basis
werden weiterhin unzufrieden sein, auch wenn sie das
Geld begrüßen. Es ist gut, dass es wenigstens innerhalb
der Apothekerschaft eine neue Diskussion darüber gibt,
welches Leitbild in Zukunft für Apothekerinnen und
Apotheker gelten soll. Ich hoffe, dass da auch diese
Strukturfragen eine wichtige Rolle spielen werden.
({5})
In einem Kommentar in der Deutschen Apotheker
Zeitung heißt es, es stehe ein Umbruch bevor hin zu anderen Dienstleistungen, der ähnlich tiefgreifend sein
werde wie der Wandel vom Hersteller zum Verkäufer
von Arzneimitteln: Nicht mehr das Arzneimittel, sondern die Patienten und Patientinnen sollten im Mittelpunkt stehen. - Das können wir als Grüne nur unterstützen.
Mehr Patientenorientierung würde im Übrigen auch
heißen: mehr Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen. Ich hoffe sehr, dass sich auch
Ärztinnen und Ärzte solchen Kooperationen - Stichwort
„Medikamentenmanagement“ - öffnen. Wir werden das
unterstützen.
({6})
In der Anhörung werden wir nicht zuletzt thematisieren, welch hoher bürokratischer Aufwand mit Ihrem angeblichen Sicherstellungsgesetz verbunden ist. Überzeugende Reformvorschläge sehen anders aus.
({7})
Stefanie Vogelsang ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit November 2009 findet vor jeder wichtigen Landtagswahl alle
zwei bis drei Monate eine Debatte über das Gesundheitswesen in unserer Republik statt, häufig unterlegt mit Anträgen der Linken, der SPD oder der Grünen, in denen
immer von einer katastrophalen Versorgungssituation
und dem Untergang der Gesundheitsversorgung in der
Bundesrepublik Deutschland die Rede ist.
Am Anfang ging es um die finanzielle Situation der
gesetzlichen Krankenversicherung: Die gesetzliche
Krankenversicherung geht pleite; wir bekommen dieses
und jenes nicht gelöst. Ich erinnere mich an überbordende Debatten, die wir hier geführt haben, und an sehr
massive Anschuldigungen von Ihrer Seite. Die Koalition
hat das Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenkassen, zur Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung, das GKV-Finanzierungsgesetz, verabschiedet.
Heute spricht kaum jemand mehr über dieses Thema.
Ein zweiter Bereich, in dem es immer wieder massive
Angriffe gibt: die Pharmaindustrie. Es wird behauptet,
die Pharmaindustrie würde sich das Geld der gesetzlichen Krankenkassen in die Tasche stecken, wir hätten
eine überbordende Finanzierung im Pharmabereich, wir
hätten eine viel zu starke Finanzierung in diesem Bereich. Wir haben das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz verabschiedet.
({0})
Vor Landtagswahlen haben Sie behauptet, dass wir
die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung nicht
sicherstellen könnten.
({1})
Wir haben uns mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz
darum gekümmert. Immer wieder wurde auch behauptet,
dass der Bereich Prävention nicht thematisiert werde.
Wenn ich die Leistungen dieser Koalition im Bereich
der gesundheitlichen Versorgung der Menschen in den
letzten Jahren richtig bewerte, dann war das, was Sie
hier geschildert haben, nur Popanz und nicht Realität. Es
gab Schwierigkeiten und Probleme. Um diese Probleme
hat man sich gekümmert. Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, egal ob jung oder alt, arm oder
reich, kräftig oder schwächer, haben den bestmöglichen
Zugang zu medizinischer Versorgung. Das ist in kaum
einem anderen Land - ich möchte sogar behaupten: in
keinem anderen Land - dieser Welt so der Fall.
({2})
Das ist eine ganz enorme Leistung unserer Gesellschaft. Ich finde, das ist es wert, deutlich gemacht zu
werden. Das sollte man immer wieder sagen. Selbstverständlich entwickeln sich die Dinge. Selbstverständlich
gibt es an der einen oder anderen Stelle Justierungsbedarf. Darum kümmern wir uns intensiv. Im Großen und
Ganzen hat das, was Sie hier vorgetragen haben, aber
nicht gestimmt. Die Menschen empfinden die Situation
im Großen und Ganzen auch so. Die Bürgerinnen und
Bürger wissen das, sie sehen das.
Frau Volkmer, Sie haben in Ihrer Rede formuliert - ({3})
- Entschuldigung, Sie haben recht. Ich meine Frau
Bunge.
({4})
- Ja. Frau Graf, zu Ihnen komme ich gleich auch noch.
Aber jetzt ist erst einmal Frau Bunge dran. - Frau
Bunge, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie an dem
jetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Förderung
der Prävention nichts gut finden außer der Überschrift.
Ich möchte ganz klar sagen: Ich finde, dass der Inhalt einen riesengroßen Schritt darstellt. Ich werde gleich auf
die Details eingehen. Das Einzige, was ich persönlich
nicht so gelungen und gut finde, weil ich es langweilig
und bürokratisch finde, ist die Überschrift.
({5})
- Vielleicht haben Sie Experten zitiert, weil Sie nichts
Eigenes zu sagen hatten. Ich kann das nicht so genau beurteilen, Frau Kollegin.
({6})
Herr Lauterbach hat vorgetragen, dass er es als sehr
schlimm erachtet, dass wir ein nationales Gesetz vorgelegt haben. Ich glaube, Sie wollten ausdrücken, dass wir
ein zentrales Gesetz formuliert haben.
({7})
Das wäre jedenfalls stimmig mit der Kritik, die Sie formuliert haben. Aber genau das ist es ja nicht; das sehen
Sie, wenn Sie in den Gesetzentwurf schauen.
In diesem Gesetzentwurf werden das erste Mal im
Deutschen Bundestag nationale Gesundheitsziele festgeschrieben. Es ist das erste Mal, dass sich das deutsche
Parlament damit beschäftigt. Dabei geht es nicht um die
Projekte A, B und C einer Kommune. Wir alle wissen,
dass wir eine breite Projektlandschaft haben. Diese Projektlandschaft wollen wir aber nicht einfach nur vor sich
hinwirken lassen. Vielmehr haben wir gesagt: Wir müssen die Kräfte, die wir in unserer Republik haben, im Interesse der Menschen, die in Deutschland leben, bündeln
und auf bestimmte Ziele ausrichten. Deswegen bin ich
sehr froh darüber, dass wir bei dieser nationalen Zielfestlegung fünf, sechs konkrete Ziele im Gesetzentwurf
benannt haben und im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung einen verpflichtenden Orientierungsrahmen formulieren.
({8})
Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn sich die privaten Krankenversicherungen im Rahmen ihrer Arbeit
diesen Zielen bei der Förderung und Finanzierung anschließen würden.
Ich glaube, dass wir uns in unserem Land ganz intensiv mit diesen Themen beschäftigen und in den Städten,
in den Gemeinden, in den Landkreisen darüber diskutieren müssen. Wir müssen diese Ziele wirklich als nationale Ziele begreifen. In den Schulen oder aber auch in
anderen Bereichen, zum Beispiel in Settings, wo Menschen mit einem relativ niedrigen Bildungsstand vielleicht eine besonders intensive Versorgung und Aufklärung brauchen, könnten wir - unterstützt durch die
gesetzliche Krankenversicherung oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - daran arbeiten und
große Fortschritte machen.
Ich denke, dass wir durch die Qualitätssicherung, die
Qualitätsprüfung und durch den Orientierungsrahmen in
der gesetzlichen Krankenversicherung davon abkommen
werden, dass zum Beispiel der Besuch einer Muckibude
für einen 20-jährigen jungen kräftigen Mann bezahlt
wird. Das alles sind schöne Leistungen, und junge kräftige Männer sollten ruhig auch in ein Bodybuilding-Studio gehen - ich habe überhaupt nichts dagegen -,
({9})
aber es muss ja nicht auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung geschehen. Deswegen, denke ich, ist es
richtig, dass wir diese Qualitätsprüfung, diese Qualitätssicherung haben. Dadurch wird gewährleistet, dass
durch die gesetzliche Krankenversicherung nur solche
Maßnahmen finanziert werden, die auch den nationalen
Zielen, die wir formuliert haben, entsprechen.
Ich glaube, lieber Herr Minister, dass Sie uns etwas
sehr Gutes vorgelegt haben. Aber es gibt ja nichts, was
man nicht noch besser machen kann. Ich freue mich darüber, dass wir diesen Entwurf von Ihnen jetzt in der parlamentarischen Beratung haben. Ich werde noch einmal
anregen - man kann es ja versuchen -, dass im Zusammenhang mit den Zielen auch konkrete Gesundheitsbereiche in den Gesetzentwurf geschrieben werden. Vielleicht können wir darüber noch einmal diskutieren. Ich
glaube, wir kämen ein Stück weiter, wenn wir zum Beispiel in den Gesetzentwurf schreiben würden: Wir alle
verpflichten uns, die Zahl der Diabetes-mellitus-Erkrankungen bis zum Jahr 2020 um 10 Prozent zu senken. Das
wäre etwas sehr Konkretes und Fassbares. Alle könnten
sich daran ausrichten.
Ich glaube, dass man im gesetzgeberischen Verfahren
im Deutschen Bundestag noch einmal über die nationalen Ziele diskutieren sollte, könnte, müsste, und dies
wird man auch tun. Ich freue mich auf die Beratungen
im Ausschuss und bin gespannt, was wir bei der zweiten
und dritten Lesung hier vortragen und gemeinsam, lieber
Herr Minister, feiern können.
({10})
Nun ist, wie angekündigt, die Kollegin Marlies
Volkmer für die SPD-Fraktion dran.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Lotter, ich spreche im Namen der Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion, wenn ich sage,
dass wir Ihnen für die Zusammenarbeit danken, die wir
immer als kollegial empfunden haben. Wir würden uns
natürlich freuen, wenn wir Sie außerhalb des Parlaments
wiedersehen. Wir hoffen, dass Sie noch öfter nach Berlin
kommen werden. Wir wünschen Ihnen alles Gute für
Ihre Gesundheit und Stabilität!
({0})
Im Laufe der Debatte ist mir klar geworden, warum
wir diese beiden so unterschiedlichen Gesetzentwürfe,
den zur Förderung der Prävention und den zur Förderung
der Sicherstellung des Notdienstes von Apotheken, gemeinsam unter demselben Tagesordnungspunkt behandeln: weil es über das Präventionsgesetz im Grunde genommen nichts zu sagen gibt; es ist auch nichts gesagt
worden.
({1})
Mit Freude habe ich vernommen, wie viel Angst Sie
vor der SPD haben,
({2})
weil die SPD bei den Apothekern viel an Boden gewonnen und Sie bei den Apothekern viel an Boden verloren
haben.
({3})
Aus diesem Grunde betreiben Sie hier billigste Wahlkampfrhetorik.
({4})
Schauen Sie in unser Regierungsprogramm! Da steht
kein Wort von Fremdbesitz und Mehrbesitz.
({5})
Jetzt werde ich die Gelegenheit nutzen, unsere Meinung zum Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz darzustellen. Wir haben schon immer gesagt, dass die Finanzierung des Apothekennotdienstes nicht sachgerecht
und ungerecht ist, weil sie einzig und allein an die Inanspruchnahme des Notdienstes gebunden ist. Da liegt es
auf der Hand, dass eine Apotheke in einem strukturschwachen Raum schlechter bezahlt wird als eine Apotheke in einem Ballungsgebiet. Hier muss es eine Änderung geben. Aber was haben Sie vorgelegt? Es bleibt erst
einmal bei dem Betrag von 2,50 Euro für die Inanspruchnahme; an dieser Ungerechtigkeit wird nichts geändert. Obendrauf kommt nun eine Pauschale. Sie ist
- mit Ihren Worten - „eine Anerkennung für die Leistungen der Apotheker für die Allgemeinheit im Notdienst“.
Ja, das ist doch keine sachgerechte Finanzierung! Das ist
eine kleine Anerkennungsprämie.
Wie bringen Sie das Geld dafür auf? Die 120 Millionen Euro sollen aufgebracht werden durch einen Zuschlag auf alle verschreibungspflichtigen Medikamente,
die von der Apotheke abgegeben werden. Es stellen sich
viele Fragen, warum man das so macht. Man kann allgemein sagen: Sie haben das gut gemeint. Aber das, was
herausgekommen ist, ist Murks.
({6})
Das liegt sicherlich auch daran, dass Sie zuerst viel zu
lange gewartet haben. Jetzt, im Wahlkampf, kurz vor Toresschluss, möchten Sie etwas vorweisen können.
({7})
Um die Fristen einhalten zu können, wird alles übers
Knie gebrochen. Sie haben den Verbänden und dem Nationalen Normenkontrollrat für ihre Stellungnahmen
ganze zwei Tage Zeit eingeräumt. Dass Sie sich selbst
auf diese Weise der Möglichkeit eines unabhängigen
Feedbacks berauben, ist Ihnen doch hoffentlich bewusst.
Wir haben begründete Zweifel, dass der Deutsche
Apothekerverband die richtige Instanz für das Management des Fonds ist. Außerdem muss ja mindestens eine
neue Stelle im Bundesgesundheitsministerium geschaffen werden, um diese Arbeit zu überwachen. Auch der
Normenkontrollrat kritisiert den von Ihnen gewählten
Ansatz. Aufwand und Kosten sind zu hoch, und Sie ha29498
ben es versäumt, Alternativen, zum Beispiel ein steuerfinanziertes Zuschussmodell, zu prüfen.
Der Apothekennotdienst ist die eine Sache. Die SPD
fordert schon seit längerem - wir setzen uns auch weiterhin dafür ein -, dass auch andere Leistungen, die allein
von öffentlichen Apotheken erbracht werden, besser vergütet werden müssen. Dabei geht es zum Beispiel um die
Abgabe von Betäubungsmitteln und den Aufwand für
die Zubereitung von Rezepturen. Das wird viel zu
schlecht bezahlt. Auch hier muss es Veränderungen geben. Es muss also nicht nur der Notdienst, sondern es
müssen auch viele andere Bereiche unter die Lupe genommen werden, wenn wir wollen - und das wollen
wir -, dass auch in strukturschwachen Regionen der Bestand der Apotheken und der Apothekennotdienst gesichert sind.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir als Regierungskoalition legen heute zwei Gesetzentwürfe vor, die
dringliche Probleme angehen und durch politische Steuerung die Lebenswirklichkeit der Menschen aufgreifen
und entscheidend verbessern sollen.
Im Rahmen dieser Debatte wurden schon sehr viele
richtige Dinge angesprochen. Von herausragender Bedeutung bei der Befassung mit dem Ansatz der Prävention und diesem Präventionsgesetz ist die Vermeidung
chronischer Erkrankungen und für mich persönlich das
Thema Diabetes mellitus. Als selbst Betroffener, als
Typ-2-Diabetiker, verfolge ich die Entwicklung der Zahl
der an Diabetes Erkrankten und der Neuerkrankungen
seit langem mit großer Sorge. Auch die Wissenschaft bestätigt Erschreckendes: Tendenz steigend, gerade auch
bei jungen Menschen.
In Deutschland leben circa 7,5 Millionen Menschen,
die an Diabetes erkrankt sind, also circa 10 Prozent der
Bevölkerung, davon 90 Prozent mit dem vermeidbaren
Typ 2. Etwa 3 Millionen wissen noch nicht von ihrer Erkrankung. Jeder vierte Bewohner in Pflegeheimen hat
Diabetes. Bis 2020 wird eine Verdoppelung der Anzahl
erkrankter Kinder unter fünf Jahren mit Typ-1-Diabetes
erwartet. Die Ursache bei dem häufigen Typ 2 sind familiäre Veranlagung, zu wenig Bewegung, Übergewicht.
Auch Rauchen verdoppelt das Diabetesrisiko.
Nicht nur dass die Menschen unter ihrer Erkrankung
leiden, auch der Kostenfaktor für die sozialen Sicherungssysteme ist hoch. Allein im Jahre 2009 verursachten Diabeteserkrankungen Kosten von circa 48 Milliarden Euro.
Jeden Tag gibt es rund 100 Neuerkrankungen in
Deutschland. Meine Damen und Herren, ich übertreibe
nicht, wenn ich sage: Auf Deutschland bewegt sich im
Hinblick auf die gesundheitspolitischen Auswirkungen
ein Tsunami zu.
({0})
Der übergeordnete Ansatz der Prävention gibt hier die
Möglichkeit, gegenzusteuern.
({1})
Die Ursachen von Diabetes und anderen Erkrankungen
sind ebenso wenig krankheitsspezifisch, wie ihre Vorbeugemaßnahmen es sein dürfen. Zu wenig Sport, Übergewicht, Rauchen und falsche Ernährung lösen genauso
Herz-Kreislauf-Erkrankungen aus, wie sie Diabetes verursachen.
Was tun wir konkret, um Präventionsansätze im Allgemeinen wie im Speziellen zu stärken? Wir nehmen
eine zielgerichtete Ausgestaltung der Leistungen der
Krankenkassen zur primären Prävention und Früherkennung sowie zum Aufbau gesundheitsfördernder Verhaltensweisen vor. Die Reduktion von Diabetes Typ 1 und 2
wird als konkretes Ziel ins Sozialgesetzbuch aufgenommen. Beim Bundesministerium für Gesundheit wird eine
ständige Präventionskonferenz eingerichtet. Die Checkup-35-Untersuchungen werden auf bevölkerungsmedizinisch relevante Krankheiten umgestellt. Wir stärken die
betrieblichen Leistungen zur Gesundheitsförderung. Insgesamt werden 35 Millionen Euro zusätzlich für die Versorgung der Versicherten zur Verfügung gestellt. Das
kommt gerade jungen Menschen zugute. Wir sind hier
sicher noch nicht am Ziel, aber schon auf einem sehr guten Weg.
Erlauben Sie mir, als Abgeordneter eines ländlichen
und eher schwach strukturierten Wahlkreises auf ein
weiteres wichtiges Thema dieses Gesetzespaketes einzugehen. Das Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz
halte ich für die Region, die ich vertrete, für ausgesprochen wichtig.
({2})
Ein Apotheker in Deutschland ist generell verpflichtet,
Not- und Nachtdienste wahrzunehmen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten außerhalb normaler Geschäftszeiten zu gewährleisten. Wie viele Notund Nachtdienste ein Apotheker übernehmen muss, legt
seine Kammer je nach Bedarf in den Verwaltungsgebieten fest. In meinem Wahlkreis im Westen MecklenburgVorpommerns ist die Zahl der Apotheken vergleichsweise gering. Hier sind deutlich weniger Menschen zu
versorgen. So muss beispielsweise eine Apotheke in Hagenow und Wittenburg einmal pro Woche einen 24-Stunden-Notdienst anbieten, da es in diesem Verwaltungsgebiet nur sieben Apotheken gibt, die für den Notdienst zur
Verfügung stehen. In anderen Bereichen MecklenburgVorpommerns muss gar alle fünf Tage ein 24-Stunden-Notdienst durchgeführt werden. Finanzieren kann die Apotheke diese Nachtdienste bisher nur aus den 2,50 Euro,
die ein Kunde zusätzlich zum Abgabepreis zahlen muss,
wenn er in der Zeit von 20 Uhr bis 6 Uhr ein Arzneimittel
im Notdienst bezieht. Es dürfte jedem einleuchten, dass
die Personal- und Betriebskosten über eine Gebühr von
2,50 Euro Nachtzuschlag wirtschaftlich nicht abbildbar
sind. Die teilweise hohe Häufigkeit der Not- und Nachtdienste, die auch am Wochenende anfallen, ist außerdem
eine enorme Belastung für Apotheker, Angestellte und
deren Familien.
Deshalb legt die christlich-liberale Regierungskoalition ein Gesetz vor, um die Apotheken in den ländlichen
Regionen zu unterstützen. Die zusätzliche Vergütung
von circa 120 Millionen Euro - nicht aus Steuermitteln,
sondern über eine Fondslösung - hilft, die Standortnachteile der Apotheken im ländlichen Raum auszugleichen.
Herr Dr. Lauterbach, um in Ihrem Bild zu bleiben: Lieber vorbeugen als sich gar nicht bewegen. - Das übergeordnete Ziel der Regierungskoalition aus CDU/CSU und
FDP ist, die flächendeckende, bedarfsgerechte und
wohnortnahe medizinische Versorgung der Bevölkerung
weiterhin sicherzustellen, auch in ländlichen Räumen.
Diesem Ziel kommen wir heute ein Stück näher.
Herr Dr. Lotter, auch meine Fraktion und ich wünschen Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Werdegang.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der angesprochenen Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/13080
und 17/13081 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. - Darüber gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 37:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Lambrecht, Burkhard Lischka, Ingo Egloff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirtschaftskriminalität effektiv bekämpfen
- Drucksache 17/13087 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine 90-minütige Aussprache stattfinden. - Da
ich dazu keinen Widerspruch höre, können wir offenkundig so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wird
von vielen Bürgerinnen und Bürgern als nicht ausreichend gesehen. Oftmals heißt es: Die Kleinen hängt
man, und die Großen lässt man laufen. - Ich glaube, es
ist ein untragbarer Zustand, wenn wir so eine Wahrnehmung, so eine Einschätzung akzeptieren und nicht gegensteuern. Deswegen legen wir heute als SPD-Fraktion
einen umfassenden Antrag zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität vor.
({0})
Warum entsteht der Eindruck: Die Kleinen hängt
man, und die Großen lässt man laufen? Ich will nur zwei
Beispiele nennen: Auf der einen Seite ist da die Kassiererin, der gekündigt wurde, weil sie unberechtigterweise
einen Pfandbon eingelöst hat; also klare Konsequenzen
für dieses Vorgehen. Auf der anderen Seite hat uns der
BGH ganz klar ins Stammbuch geschrieben, dass es in
dem Fall, dass sich niedergelassene Ärzte Prämien für
die Verschreibung bestimmter Medikamente zahlen lassen, eine Strafbarkeitslücke gibt. Seit diesem Urteil
mussten wegen dieser Strafbarkeitslücke immerhin
3 400 Verfahren gegen solche Ärzte eingestellt werden.
Das verstärkt den Eindruck: Die Kleinen hängt man, und
die Großen lässt man laufen. Meine Damen und Herren,
wir müssen diesem Eindruck engagiert entgegentreten.
Nicht nur Korruptions- und Schmiergeldaffären gehören zur Wirtschaftskriminalität, sondern auch die zahlreichen Lebensmittelskandale; ich erinnere nur an die
Umetikettierung von Gammelfleisch und die Falschetikettierung von Pferdefleisch.
All das läuft unter der Überschrift Wirtschaftskriminalität. Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik macht
die Wirtschaftskriminalität zwar nur 2 Prozent der Kriminalität aus. Durch diese Kriminalität entsteht jedoch
ein wirtschaftlicher Schaden von 4 Milliarden Euro. Dieser wirtschaftliche Schaden sollte Anlass genug sein, engagierter gegen Wirtschaftskriminalität vorzugehen.
Schlimmer als der wirtschaftliche Schaden ist jedoch der
Schaden beim Vertrauen in Wirtschaft, Justiz und Politik. Daher muss Wirtschaftskriminalität entschieden bekämpft werden.
({1})
Zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität haben
wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorgelegt. Diese
Maßnahmen betreffen, weil wir einen ganzheitlichen
Ansatz wählen, die unterschiedlichsten Bereiche: Rechtspolitik, Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik. Wir wollen überall da eingreifen, wo wir Lücken
feststellen und wo wir Möglichkeiten sehen, als Gesetzgeber tätig zu werden.
Zunächst einmal geht es um die Frage, wie wir überhaupt von solchen Skandalen wie dem Gammelfleischskandal erfahren. Davon erfahren wir doch nicht
etwa, weil irgendeiner der Verantwortlichen sagt: „Oje,
jetzt bekomme ich aber doch ein schlechtes Gewissen,
weil ich den Verbrauchern so etwas zumute und damit
auch noch einen Reibach machen möchte“, sondern wir
erfahren von solchen Skandalen in der Regel, weil ganz
mutige Mitarbeiter irgendwann sagen: „Jetzt reicht es
mir aber; so etwas unterstütze ich nicht länger“, und
dann damit an die Öffentlichkeit gehen.
Durch einen sehr couragierten Lkw-Fahrer haben wir
erfahren, dass Gammelfleisch umetikettiert wurde, wodurch es den Verbraucherinnen und Verbrauchern erspart
wurde, immerhin 11,5 Tonnen solchen Fleisches zu verzehren. Das hat dieser Mann bewirkt, nicht etwa die Verantwortlichen.
Jetzt müssen wir uns überlegen, was mit diesem Mitarbeiter passiert oder auch mit der Mitarbeiterin eines
Pflegeheims, die sich über die unzumutbaren Zustände
so geärgert hat, dass sie an die Öffentlichkeit gegangen
ist, weil sie diese Zustände nicht mehr mittragen wollte.
In der Regel erhalten sie dafür keine Zustimmung im Betrieb; denn der Arbeitgeber wird das nicht mit einem lauten Hurra begleiten. Eher erleben sie Mobbing und erhalten gegebenenfalls auch die Kündigung.
Deswegen ist es an der Zeit und dringend notwendig,
dass wir einen Schutz für die Personen regeln, die auf
untragbare Zustände in Unternehmen hinweisen.
({2})
Die Bundesregierung hat lautstark angekündigt, bis
Ende 2012 wolle man einen solchen Schutz auch gesetzlich verankern. Whistleblower sollen entsprechend geschützt werden. Was ist passiert? Bisher nichts!
Dieses Untätigsein der Regierung und auch der Koalition hat dazu geführt, dass die Unternehmen mittlerweile
selbst solche Regeln aufstellen. Wir konnten vor zwei Tagen lesen, dass ThyssenKrupp, ein Unternehmen, das
durch Schmiergeldaffären sehr gebeutelt ist, an die eigenen Mitarbeiter appelliert, sich vertrauensvoll zu melden,
wenn sie solche Vorgänge erkennen, und ihnen versichert, dass sie mit keinen Konsequenzen rechnen müssen.
Es ist richtig, dass ThyssenKrupp so etwas macht,
auch im eigenen Interesse, um sich dadurch vielleicht
auch von den schwarzen Schafen distanzieren zu können; aber das ist der falsche Ansatz. Es kann nicht sein,
dass Mitarbeiter nur in den Unternehmen geschützt sind,
die ihre Mitarbeiter freiwillig zu solchen Hinweisen auffordern, während Mitarbeiter in anderen Unternehmen
mit Konsequenzen zu rechnen haben.
({3})
Deswegen brauchen wir endlich eine gesetzliche Regelung dafür, dass Hinweisgeber nicht mit Konsequenzen
zu rechnen haben.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der
ebenfalls in diesem Antrag enthalten ist. Es geht um die
Frage, wie wir mit der öffentlichen Auftragsvergabe umgehen. Ganz oft erfahren wir nämlich auch hier von
Skandalen.
In irgendeiner Stadt XY wird zum Beispiel ein neues
Hallenbad gebaut - wenn so etwas in Zeiten von knappen Kassen überhaupt noch möglich ist -, oder es werden sonstige Aufträge der öffentlichen Hand vergeben.
Am Ende des Tages stellt sich dann heraus, dass die Unternehmen, an die Aufträge vergeben wurden, entweder
korrupt sind oder schon als Steuerbetrüger oder auch dafür bekannt sind, dass sie Sozialabgaben nicht abgeführt
haben. Diese Erkenntnisse liegen aber eben nicht der
Kommune vor, die den Auftrag vergeben hat, sondern
sie liegen irgendwo sonst vor. Deswegen brauchen wir
ganz dringend ein Korruptionsregister, in dem all die
Unternehmen, die für solche Vorgänge bereits bekannt
sind, entsprechend aufgeführt werden.
Das wird in vielen Bundesländern schon so gehandhabt, aber das nützt nichts, wenn sich zum Beispiel eine
Stadt in Hessen erkundigen möchte, ob es in Bezug auf ein
Unternehmen, das bundesweit tätig, aber eben nicht im
örtlichen Register enthalten ist, entsprechende Erkenntnisse gibt. Deswegen brauchen wir für jede Kommune
und jeden öffentlichen Auftraggeber endlich ein bundesweites Korruptionsregister, damit Klarheit herrscht, wie
mit öffentlichen Geldern umgegangen wird - und zwar
auch im Interesse des Steuerzahlers, der das Ganze hinterher ja zu verantworten hat, wenn etwas schiefgeht.
({4})
Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen. Es
geht um eine Frage, die, wie ich finde, längst hätte beantwortet werden können.
Uns liegt ein Urteil des Bundesgerichtshofs vor, in
dem ganz klar geregelt ist, dass die Möglichkeiten der
Korruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen in Bezug
auf Ärzte, die in Krankenhäusern beschäftigt sind, nicht
auf niedergelassene Ärztinnen und Ärzte anzuwenden
sind. Durch diese Strafbarkeitslücke besteht hier ein
massives Problem. § 299 StGB - Korruptionsstrafbarkeit - greift hier eben nicht.
Es ist einfach unglaublich, dass es weiterhin möglich
ist, dass niedergelassene Ärzte aufgrund von Prämien,
die sie von den Pharmaunternehmen bekommen, nicht
Medikamente verschreiben, die medizinisch indiziert
sind, sondern Medikamente, die für sie lukrativ sind.
Das ist zum einen ein unverantwortlicher Umgang mit
den Patientinnen und Patienten. Ich verlasse mich doch
als Patient darauf, dass mir der Arzt das Medikament
verschreibt, das für mich am besten ist, und nicht das,
das ihm die höchste Prämie einbringt. Zum anderen aber
wird dadurch auch Schindluder mit den Krankenkassen
getrieben, denn auch da gilt natürlich die Ansage, dass
das Geld für das medizinisch sinnvollste und nicht das
für den Arzt lukrativste Medikament ausgegeben werden
soll. Wir brauchen also ganz dringend die Schließung
dieser Strafbarkeitslücke. Es kann nicht länger angehen,
dass Verfahren eingestellt werden müssen, weil es hier
keine Möglichkeit der Strafverfolgung gibt. Das ist untragbar.
({5})
Wir haben viele Vorschläge in unserem Antrag schon
eingebracht. Sie haben, wie so oft, in dem einen oder anderen Bereich, zu den Whistleblowern, zur Schließung
der Strafbarkeitslücke, Ankündigungen gemacht; aber
bis heute ist nichts passiert. Jetzt hätten Sie die Möglichkeit, die klare Ansage zu machen: Wir legen hier die
Hände nicht in den Schoß, sondern bekämpfen Wirtschaftskriminalität ganz konsequent - darin sind wir uns
einig -, damit sich der Eindruck „Die Kleinen hängt
man, und die Großen lässt man laufen“ nicht weiter verfestigt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Ansgar Heveling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Und nun? Diese Frage habe nicht nur ich mir gestellt, als
mir am Dienstag die 23 Seiten des SPD-Antrags auf den
Tisch flatterten. Offen gestanden sind wir auch nach dem
Beitrag von Kollegin Lambrecht bei der Beantwortung
dieser Frage nicht wesentlich weiter gekommen.
({0})
Handelt es sich bei dem Antrag um einen Beitrag zum
heraufziehenden Wahlkampf oder um eine Fleißarbeit?
({1})
Ohne Frage sind viele Punkte, die in dem Antrag zusammengetragen worden sind, im Einzelnen sogar durchaus
bedenkenswert.
({2})
Aber so ganz im Klaren darüber, wohin die Reise gehen
soll, ist sich die SPD wohl selbst nicht;
({3})
denn man liest durchaus Widersprüchliches.
So zitiert der vorliegende Antrag der SPD eine Studie,
laut der jedes zweite Unternehmen von mindestens einem Schadensfall in Sachen Wirtschaftskriminalität betroffen sei. Das erweckt zunächst den Eindruck, als
wolle man etwas für den Schutz von Unternehmen tun.
({4})
Dann aber lenkt die SPD den Fokus auf große Unternehmen und versucht, dort einseitig den Schwarzen Peter zu
sehen. Mit dem Hinweis auf den Satz: „Die Kleinen
hängt man, die Großen lässt man laufen“, der in dem
Beitrag ständig wiederholt wurde,
({5})
wird reflexartig tief in die Populismuskiste gegriffen.
Was also will die SPD?
({6})
Ich denke, wir sollten das Thema differenzierter sehen.
Auch Unternehmen selbst können Opfer von Wirtschaftskriminalität werden, auch große Unternehmen.
Hier sollte man niemanden unter Generalverdacht stellen. Natürlich muss Justitia blind sein in dem Sinne, dass
nicht zwischen groß und klein, bedeutend und unbedeutend oder kompliziert und einfach unterschieden wird.
Damit sich die SPD nicht selbst entscheiden muss, wohin es gehen soll, fordert sie kraftvoll von anderen die
Vorlage eines schlüssigen Konzepts.
({7})
Das spricht vielleicht dafür, dass sie ihren Antrag nicht
als solches ansieht. Gerade deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen und zu fragen: Brauchen wir wirklich
ein weiteres Konzept, oder sind wir nicht schon viel weiter und handlungsfähiger, als es uns die SPD an dieser
Stelle weismachen will?
Ich will mit einem generellen Punkt beginnen. Bei einem Großteil der in dem Antrag formulierten Punkte
- Steuerstraftaten, Geldwäsche, Sicherstellung und Einziehung sowie Cybercrime seien stichwortartig genannt wird gefordert, sich stärker für europäische Lösungen
einzusetzen oder europäische Regelungen im Strafrecht
stärker als bisher in deutsches Recht zu übernehmen.
Generell verwundert das zunächst ein wenig; denn im
Unterausschuss „Europarecht“ sitzen wir jeden Freitagmorgen zusammen und beraten vor allem über solche
EU-Richtlinien besonders intensiv, die die Harmonisierung des europäischen Strafrechts zum Gegenstand haben. Es wird dort in fraktionsübergreifender Einmütigkeit jeder Schritt einer strafrechtlichen Harmonisierung
kritisch auf Herz und Nieren und seine Notwendigkeit
insbesondere im Hinblick auf die Subsidiarität geprüft.
Alle Fraktionen vertreten dabei die Auffassung, dass die
strafrechtliche Harmonisierung, die im sogenannten
Stockholm-Programm der EU niedergelegt ist, äußerst
sensibel und sehr zurückhaltend zu handhaben ist; denn
das Strafrecht ist und bleibt der Kernbereich staatlicher
Souveränität. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hat uns hier eine Reihe von Grenzlinien gesetzt.
Das heißt nicht, dass die Zusammenarbeit nicht ausgeweitet werden kann; in vielen Fällen geschieht das auch.
Aber es ist zu einfach, in einem Antrag an verschiedenen
Stellen immer nur „Europa, Europa“ zu rufen, vor allem
wenn gleichzeitig im Einzelnen die zurückhaltende Positionierung gegenüber einer strafrechtlichen Harmonisierung durchaus von allen geteilt wird, so wie es im Unterausschuss „Europarecht“ geschieht.
Ein weiterer Punkt, der ebenfalls angesprochen werden muss, ist die Frage: Brauchen wir ein Unternehmensstrafrecht? Das ist ein Evergreen in der politischen
Diskussion.
({8})
Ein Beitrag in der Zeitschrift für Rechtspolitik brachte es
kürzlich auf den Punkt:
Nicht zuletzt wegen der ausgerufenen diversen Finanz- und Wirtschaftskrisen ist es derzeit politisch
populär, Sanktionen gegen die mächtigen Banken
oder auch Unternehmen bzw. deren Entscheidungsträger zu fordern.
Außen vor bleibt dann aber die Frage, ob man mit einem
reinen Unternehmensstrafrecht wirklich etwas erreichen
kann.
Immer wieder sehen sich Unternehmen mit strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert. Deswegen aber gleich
die Einführung eines Unternehmensstrafrechts in
Deutschland zu fordern, geht möglicherweise zu weit.
Nur weil es gerade politisch attraktiv erscheint, hat es
noch nicht eine sachliche Berechtigung; denn das geltende Recht lässt bereits eine hinreichende Bestrafung
von Entscheidungsträgern zu, denen Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Durch das Strafrecht werden
Auflagen, Geldstrafen oder gar Freiheitsstrafen gegen
diese Personen verhängt. Das hängt damit zusammen,
dass wir ein Schuldstrafrecht haben, das an das persönliche Fehlverhalten anknüpft. Wenn wir ein Unternehmensstrafrecht einführen wollten, müssten wir die gesamte Dogmatik unseres Strafrechtssystems auf den
Kopf stellen bzw. stark überarbeiten.
Schauen wir uns einmal Länder an, die ein Unternehmensstrafrecht haben, wie Frankreich und Großbritannien. Es zeigt sich, dass die Verfolgung von Unternehmensstraftaten dort mit einem viel größeren Aufwand
verbunden ist, als es bei der persönlichen Inhaftungnahme der Fall ist. Bisher ist nicht der Nachweis erbracht worden, dass damit tatsächlich das Problem effektiver und besser bekämpft werden kann.
({9})
Im Antrag werden Punkte aufgeführt, die sich auf den
ersten Blick gut lesen lassen, bei denen sich aber entweder die Frage stellt, was daran neu oder noch nicht ausdiskutiert ist, oder bei denen festgestellt werden muss,
dass es schon längst angepackt wird.
Thema „Sicherstellung und Einziehung“. Der Vorschlag für eine Richtlinie über die Sicherstellung und
Einziehung von Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union wurde bereits im April 2012 im Bundestag
sowie anschließend im Bundesrat beraten. Es gibt also
auf europäischer Ebene Bestrebungen, diese Frage EUeinheitlich zu regeln. Das Verfahren läuft aber noch auf
europäischer Ebene. Sobald es abgeschlossen ist, werden
wir selbstverständlich die Richtlinie in nationales Recht
umsetzen. Fazit: Es läuft.
Thema „Reverse Charge im Steuerstrafrecht“. Die
Möglichkeiten des Reverse-Charge-Verfahrens wollen
wir innerhalb des Steuerstrafrechts ausdehnen, weil es
als effizientes Instrumentarium angesehen wird.
Deutschland hat sich in der Vergangenheit an vorderster
Front dafür starkgemacht. Es war die Große Koalition,
die dort sehr aktiv gewesen ist; darauf wird im Antrag
hingewiesen, und das soll auch nicht kleingeredet werden. Wir waren alle zusammen vorneweg. Aber wir sind
in Europa an Grenzen gestoßen und müssen nun zusammen mit den Partnern schauen, wie wir in diesem Verfahren weiterkommen. Derzeit befindet sich ein Vorschlag der Kommission, im Zuge eines Quick Reaction
Mechanism Reverse-Charge-Verfahren vorzusehen, im
europäischen Gesetzgebungsprozess. Also auch hier
wird etwas getan. Fazit: Es läuft.
Thema „Geldwäsche“. Bereits Ende 2011 haben wir
das Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention
beschlossen. Damit haben wir die dritte EU-Richtlinie
zur Geldwäsche umgesetzt. Es ist also erkennbar, dass
auch auf europäischer Ebene die Geldwäsche einheitlich
besser bekämpft werden soll. Fazit: Es läuft; wir haben
es umgesetzt.
Alle diese Punkte zeigen: Es tut sich etwas. Es bedarf
dieses Antrages überhaupt nicht.
({10})
Wir haben ein Konzept. Es wird engagiert gegen die
Wirtschaftskriminalität vorgegangen.
({11})
Wir als christlich-liberale Koalition nehmen uns der Probleme an. Den Antrag der SPD benötigen wir dazu nicht.
Wir werden ihn ablehnen.
Vielen Dank.
({12})
Für die Fraktion Die Linke erteile ich jetzt dem Kollegen Richard Pitterle das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um die Bekämpfung
der Wirtschaftskriminalität. Ich frage mich: Warum
steigt sie weiterhin so stark an?
({0})
Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Korruption, Geldwäsche, Internetkriminalität, Wirtschafts- und Industriespionage sind an der Tagesordnung. Das Geld für Schulen, Straßen und Brücken fehlt. Unsere Infrastruktur
wird immer maroder; denn die Kommunen und Bundesländer sind klamm. Allein durch die Steuerhinterziehung
verliert Deutschland jährlich Steuereinnahmen in Höhe
von ungefähr 100 Milliarden Euro. Gravierend ist auch
die Internetkriminalität: Viren- und Spionageprogramme, Computerhacking und Phishing, also das Stehlen von Passwörtern. Jede und jeder kann ein Opfer
werden. Allein die Wirtschaftskriminalität - ohne BeRichard Pitterle
rücksichtigung der Steuerausfälle - verursacht Schäden
bis zu 50 Milliarden Euro jährlich.
Wie ist das möglich? Zum einen liegt dies an den
technischen Möglichkeiten. Stichworte sind hier die
Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere das Internet, und die Globalisierung, die wirtschaftliche Aktivitäten von überall her erlaubt. Zum anderen gibt es auch
hausgemachte Ursachen, die die Bundesregierung bekämpfen könnte, wenn sie denn wollte. Es fehlt jedoch
am entsprechenden politischen Willen. Ich nenne als
Beispiel nur den Personalabbau in den Behörden und
Unternehmen. Die Stammbelegschaften werden ausgedünnt, Leiharbeiter eingesetzt, Werkverträge abgeschlossen. Sparen ist die Devise. Da darf man sich nicht
wundern, dass die Sicherheit in Unternehmen und Behörden abnimmt. Darauf ist die Bundesregierung auch
noch stolz; Hauptsache, die Schuldenbremse ist eingehalten. Wir sagen: Das ist der falsche Weg.
({1})
Wie sieht es mit den Steuereinnahmen aus? Es fehlen
schlicht Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer und
Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder. Dadurch ist die
Steuerhinterziehung vorprogrammiert. Steuererklärungen insbesondere von reichen Selbstständigen und Unternehmen können nicht ausreichend geprüft werden.
Und, Herr Brüderle, wer hat das gemacht? Das haben
FDP und CDU/CSU gemacht.
({2})
- Herr van Essen, ich weiß, dass Sie nicht Herr Brüderle
sind.
Jetzt kommt die Krönung. Statt die Behörden personell und finanziell so auszustatten, dass sie effektiv arbeiten können, verlassen sich einige Bundesländer auf
Deals mit Kriminellen. Das geht sogar so weit, dass den
Datendieben Aufträge erteilt werden, welche Daten aus
Schweizer Banken gestohlen werden sollen. Der Zweck
heiligt aber nicht die Mittel. Wohin das führt, sehen wir
bei den Geheimdiensten, Stichwort „NSU“. Das ist ein
Spiel mit dem Feuer. Die Linke warnt davor.
Einige Bundesländer hingegen handeln inzwischen
richtig. Sie schaffen neue Stellen für Steuerfahnderinnen
und Steuerfahnder und für Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer. Die von der Union regierten Bundesländer
wollen dagegen die Stellenzahlen auf dem niedrigen
Niveau halten. Finanzminister Markus Söder von der
CSU musste sich im letzten Monat vom Bayerischen
Obersten Rechnungshof vorhalten lassen, dass jede
fünfte Stelle bei den Betriebsprüfern unbesetzt ist.
({3})
Söder möchte, dass sich die Unternehmen nicht zu oft
durch Steuerforderungen gestört fühlen.
({4})
Wir sind der Meinung, dass Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Zoll anders organisiert und ausgerichtet
werden müssen, wenn sie die Wirtschaftskriminalität effektiv bekämpfen sollen. Wir brauchen dringend eine
Bundesfinanzpolizei; das fordert die Linke, das fordert
auch die Gewerkschaft der Polizei.
({5})
Diese Bundesfinanzpolizei soll zielgerichtet und effektiv
organisierte Geldwäsche, Außenwirtschaftskriminalität,
Subventionsbetrug, organisierten Schmuggel - zum Beispiel von Waffen, geschützten Tieren oder Pflanzen - und
Verstöße beim Verbraucherschutz - zum Beispiel hinsichtlich kontaminierter Lebensmittel - bekämpfen.
({6})
Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD geht
in die richtige Richtung. Die meisten Positionen kann
die Linke im Grunde - ich betone: im Grunde - unterstützen. Unterschiede sehen wir in einigen Details, zum
Beispiel bei der Ausweitung des Strafrechts und der Verfolgungskompetenzen, der Umkehr der Beweislast bei
Vermögenswerten von Beschuldigten und Verurteilten.
Wir sind entschieden gegen den Einsatz von Geheimdiensten.
({7})
Trotzdem werden wir dem Antrag zustimmen, weil er
die richtigen Themen aufgreift.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Jörg van Essen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich mir diesen Antrag der SPD-Fraktion angesehen habe,
habe ich mich gefragt: Was soll er eigentlich?
({0})
- Frau Lambrecht, Sie sagen: „Wirtschaftskriminalität
bekämpfen“. - Ich erwarte aber von einer großen Fraktion im Deutschen Bundestag, dass man Klartext redet
und keinen Gesinnungsaufsatz schreibt.
({1})
Da soll betrachtet werden. Da soll geprüft werden. Da
soll nachgedacht werden. Nein, das ist einfach zu wenig.
Von einer großen Fraktion im Deutschen Bundestag erwartet man klare Vorstellungen.
({2})
Genau das ist in Ihrem Antrag nicht enthalten. Das ist
die erste Feststellung, die ich treffen möchte.
Meine zweite Feststellung: Es wundert mich überhaupt nicht, dass der Vertreter der Linken gerade deutlich gemacht hat, dass er Ihren Überlegungen weitgehend zustimmt. Es ist nämlich genau der Sinn dieses
Antrages, die SPD links zu positionieren:
({3})
Wirtschaft ist nichts, was unser Land voranbringt. Wirtschaft vollzieht sich in einem Sumpf von Kriminalität. Dabei haben Sie sich selbst verraten, Frau Kollegin
Lambrecht.
({4})
Sie haben den Anteil der Wirtschaftskriminalität mit
2 Prozent beziffert. Richtig ist nicht einmal das; denn im
Jahre 2010 lag dieser Anteil bei 1,7 Prozent, so schreiben Sie es jedenfalls selbst in Ihrem Antrag.
({5})
Im Jahre 2011 ist er aber zurückgegangen, Herr Kollege
Pitterle.
({6})
Sie haben von steigender Wirtschaftskriminalität gesprochen. Tatsächlich ist dieser Anteil auf 1,3 Prozent zurückgegangen.
({7})
Das macht deutlich, dass das Bild, das hier gezeichnet
wird - die Wirtschaft ist von Kriminalität geprägt -, völlig falsch ist.
({8})
Was mich als jemanden, der lange Angehöriger der
Staatsanwaltschaft war, auch sehr gewundert hat, ist,
dass Sie den Fortschritt, den wir in der Bekämpfung der
Wirtschaftskriminalität erzielt haben - die Stärkung der
Wirtschaftsabteilungen der Staatsanwaltschaften, aber
auch die Stärkung der entsprechenden Spezialkammern
der Landgerichte - überhaupt nicht erwähnen. Viele der
Verfahren, die wir erlebt haben, wären vor 10, 15 oder
20 Jahren noch nicht möglich gewesen, weil sich die
Staatsanwaltschaft mangels Sachwissen daran nicht herangetraut hätte. Ich bin froh, dass sich das geändert hat,
dass jetzt auch Vorstandsvorsitzende, Vorstandsmitglieder großer Firmen damit rechnen können, wegen Wirtschaftskriminalität verfolgt zu werden.
({9})
Aber eigentlich wundert es mich nicht, dass Sie diesen
Fortschritt nur zurückhaltend ansprechen; denn zur Motivation der dort eingesetzten Staatsanwältinnen und
Staatsanwälte, Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten gehört auch eine angemessene Bezahlung. Es
ist typisch, dass gerade in Nordrhein-Westfalen die Ergebnisse der Lohnrunde im öffentlichen Dienst auf diese
Personen eben nicht übertragen werden.
({10})
Wenn man engagierte Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, engagierte Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten will, dann müssen sie auch entsprechend
entlohnt werden. Es ist auffällig, dass ausschließlich in
rot-grün regierten Ländern eine solche Übertragung auf
den höheren Dienst nicht stattfindet.
({11})
Deshalb wundert es mich überhaupt nicht, dass Sie davon so wenig reden.
({12})
Die Wirtschaft funktioniert in unserem Land. Die
schwarz-gelbe Bundesregierung hat für vier gute Jahre
in Deutschland gesorgt.
({13})
Dazu gehört auch, dass die Bundesjustizministerin für
vier gute Jahre in der Rechtspolitik in Deutschland gesorgt hat.
({14})
Deshalb sind viele der Dinge, die Sie angesprochen haben, auf einem guten Weg.
({15})
Zur Frage der Korruption im Gesundheitswesen beispielsweise - Frau Lambrecht hat sie angesprochen finden im Augenblick Berichterstattergespräche statt.
({16})
Das geht also voran, und ich bin froh, dass es so ist.
({17})
Ich sage ein ganz klares Nein, und zwar auch als langjähriger Angehöriger der Staatsanwaltschaft, zu der Datenhehlerei, die wir im Zusammenhang mit der Schweiz
pflegen. Das kann nicht sein. Strafverfolgung kann nur
rechtmäßig erfolgen.
({18})
Es ist einfach auch die Ehre eines Staatsanwalts, dass sie
nur rechtmäßig erfolgen kann.
({19})
- Nein, das tut sie nicht, Herr Kollege. - Das, was wir
dort machen, ist aus meiner Sicht eine klare Datenhehlerei,
({20})
und deshalb wird es von uns keine Zustimmung dazu geben.
({21})
Der rechtmäßige Weg ist der, den wir vorgeschlagen
haben, nämlich beispielsweise ein Abkommen mit der
Schweiz.
({22})
Wir hätten schon Milliardenbeträge in unseren Haushalten, wenn das von SPD und Grünen im Vermittlungsausschuss nicht verhindert worden wäre.
({23})
Damit bin ich bei einem zweiten Thema im Zusammenhang mit dem Vermittlungsausschuss. Einer der
Punkte, die Sie angesprochen haben, ist die Erhöhung der
Geldbuße bei Verstößen von Unternehmen. In der GWBNovelle, die wir im Vermittlungsausschuss hatten, ist eine
Erhöhung von 1 Million Euro auf 10 Millionen Euro vorgesehen. Das hätten wir haben können. Gestern sind die
Verhandlungen über die GWB-Novelle in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses an
Rot-Grün und niemandem sonst gescheitert.
Es ärgert mich, wenn Sie uns hier vorwerfen, dass bestimmte Dinge nicht kommen, Sie selbst aber dafür sorgen, dass die entsprechende Novellierung, die die gute
Bundesregierung vorgeschlagen hat, nicht stattfindet.
({24})
Von daher erwarte ich von Ihnen nicht einen Besinnungsaufsatz, sondern eine klare Ansage, was Sie wollen, was Sie nicht wollen, wie Sie es ausgestalten wollen. Darüber kann man reden. Aber über einen solchen
Besinnungsaufsatz, wie wir ihn vorgelegt bekommen haben, werden wir - das Gefühl habe ich - nicht zu einem
gemeinsamen Ergebnis kommen, obwohl die eine oder
andere Anregung sicherlich einer vertieften Betrachtung
wert wäre.
Vielen Dank.
({25})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wirtschaftskriminalität ist im Kern Bereicherungskriminalität rund um die Erzeugung und Verteilung von Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen. Sie ist
meist verflochten mit Firmen, mit Unternehmen, mit anderen juristischen Personen, und sie umfasst auch alle
Formen der organisierten Steuerhinterziehung. Für die
Wirtschaftskriminalität ist bezeichnend: Einige wenige
Täter schädigen viele Opfer und verursachen hohe Schäden. - So steht es jedenfalls im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung. Man kann es auch
anders sagen: Auf nicht mehr als circa 1,4 Prozent aller
registrierten Straftaten entfällt mehr als die Hälfte des
materiellen Gesamtschadens durch diese Straftaten.
({0})
Dabei sind diese 4 bis 5 Milliarden Euro an jährlichem
Schaden sicherlich nur die Spitze des Eisbergs, weil das
Dunkelfeld im Bereich der Wirtschaftskriminalität weit
überdurchschnittlich groß ist.
Aber nicht nur wegen des hohen materiellen Schadens, sondern auch wegen der mit der Wirtschaftskriminalität einhergehenden Entsolidarisierung der Gesellschaft und der Zersetzung demokratischer Werte und
Strukturen sind wir Grüne jedenfalls überzeugt, dass
Wirtschaftskriminalität sowohl in ihren personalen wie
auch in ihren unternehmerischen Strukturen konsequent
bekämpft werden muss.
({1})
Dabei spielt das Strafrecht eine wichtige Rolle, wenn es
auch nicht das einzige staatliche Mittel ist, um Korruption zu bekämpfen. Meine Fraktion hat hierzu vielfältige
Vorschläge gemacht, konkrete Gesetzentwürfe vorgelegt; meine Kollegin Hönlinger wird auf einige noch eingehen.
Die Fleißarbeit der Kolleginnen und Kollegen der
SPD, die eine Zusammenfassung vieler sinnvoller und
nötiger Maßnahmen vorgelegt haben, begrüßen wir ausdrücklich. Ob es aber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, Sinn macht, diese schwarz-gelbe Bundesregierung aufzufordern, gegen Wirtschaftskriminalität
jetzt, kurz vor der Wahl, vorzugehen,
({2})
bezweifele ich. Wir sollten dies nach dem 22. September
zu unserer Aufgabe machen.
({3})
Die vielen positiven Maßnahmen zu würdigen, dafür
fehlt mir die Zeit. Dass mir jedenfalls einige Punkte kritisch erscheinen, will ich aber nicht verschweigen. Dazu
gehören zum Beispiel die Beweislastumkehr
({4})
bei der strafrechtlichen Sicherstellung von Vermögenswerten, deren strafbare Herkunft unbekannt bleibt, eine
weitere Aufblähung des Geldwäscheparagrafen - schon
jetzt mit zehn Absätzen und 701 Wörtern ein Ungetüm
im Strafgesetzbuch -, die Streichung der rechtsstaatlich
wohl gebotenen Straflosigkeit der Selbstbegünstigung,
besonders aber - das hat mich wirklich gewundert - das
neue Betätigungsfeld für den Bundesnachrichtendienst
und die Verfassungsschutzämter im Bereich der sogenannten Konkurrentenausspähung und der Verletzung
von wirtschaftlichen Geheimnissen. Dieser letzte Punkt
- so jedenfalls die Auffassung der Grünen - verbietet
sich geradezu, bevor die Geheimdienste nicht einer Ge29506
neralreform an Haupt und Gliedern unterzogen worden
sind.
({5})
Einen wirklich zentralen Ansatz im Antrag der SPD
will ich näher beleuchten: die Einführung eines Unternehmensstrafrechts. Sollen juristische Personen, Unternehmen, vertreten durch ihre Organe, also letztlich vertreten durch natürliche Personen, verteidigt von Wahloder Pflichtverteidigern, vor Strafgerichten angeklagt
werden können? Wir sagen: Wer schon bei dieser Frage
abblockt, wie wir das vonseiten der CDU/CSU gehört
haben, und sich hinter dem Schuldprinzip verbarrikadiert, der verkennt die Brisanz dieser Debatte, der verkennt die Entwicklungen in der Europäischen Union und
der verkennt die Notwendigkeit, sich bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität neuen Gedanken und
neuen Instrumenten zu öffnen. Wir Grünen sagen ganz
klar: Wir wollen ein Unternehmensstrafrecht, das über
das heutige Ordnungswidrigkeitenrecht hinausgeht.
({6})
Uns ist bewusst, dass letztlich immer nur Menschen
handeln können. Deshalb wird ein Unternehmensstrafrecht kein Schuldrecht im klassischen Sinne, sondern
immer ein Recht der strafrechtlich relevanten Zurechnung des Handelns oder Unterlassens von Menschen zur
jeweiligen juristischen Person sein können. Selbstverständlich können Unternehmen auch nicht zu Haftstrafen
verurteilt werden; aber im Unternehmensstrafrecht ist
viel mehr denkbar als nur die Verhängung von Geldstrafen. Auch Betätigungsverbote, zeitlich befristet und sektoriert, sind denkbar.
({7})
Überwachung bestimmter Tätigkeitsfelder und besondere Berichtspflichten dazu sind möglich. Wiedergutmachung und ein Täter-Opfer-Ausgleich gehören auch zum
Ahndungskasten von Strafgerichten im Unternehmensstrafrecht. Wir werden über den Zaun des deutschen
Rechts schauen und sorgfältig studieren müssen, zu welchen Mitteln viele andere Rechtsstaaten greifen, bei denen ein Unternehmensstrafrecht längst eingeführt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU arbeitet
längst an Modellen eines supranationalen Unternehmensstrafrechts. Die Abwehrreflexe in Deutschland vonseiten
der schwarz-gelben Koalition sind längst auf dem Radarschirm der Europäischen Kommission. Deshalb sind wir
gut beraten, uns dieses Themas in der nächsten Legislaturperiode beherzt anzunehmen.
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Matthias Heider das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal muss man auch eine anerkennende Anmerkung
an dieser Stelle machen: Sie haben mit Ihrem Antrag
eine lange Sammlung denkbarer Änderungen im Strafgesetzbuch und in vielen Nebengesetzen vorgelegt. Darin sind durchaus detaillierte Befunde zu Delikten im
Sektor der geschäftsmäßigen Tätigkeit von Unternehmen, die eine kriminelle Energie aufweisen, zu finden.
Spätestens bei einem Satz in Ihrer Einleitung bin ich allerdings skeptisch geworden. Ich zitiere:
Vom Staat nicht effektiv verfolgte oder sogar geduldete Wirtschaftskriminalität verletzt das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen.
Hätten Sie nicht eigentlich von Handlungen oder einem vorwerfbaren Verhalten sprechen müssen? Taten,
die unsere Rechtsordnung mit Strafe bedrohen, knüpfen
an Handlungen an. Deshalb wird auch bei Wirtschaftsstraftaten das strafrechtlich vorwerfbare Verhalten einer
natürlichen Person angeklagt. Ermittlungen richten sich
zuvor an das verantwortliche Handeln von Vertretern
oder Personen in einem Unternehmen. In dem gerade zitierten Satz wird einmal eben so der Eindruck erweckt,
der Staat schaut zur Seite, Tausende von Polizisten,
Staatsanwälten und Richtern schauen tatenlos zu, wenn
wirtschaftskriminelle Machenschaften auffällig werden,
und Bürgerinnen und Bürger werden dadurch ungerecht
behandelt. Das ist nicht in Ordnung.
({0})
Zur Sache: Der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ ist
ein Auffangbecken vieler Straftaten, die wirtschaftliche
Bezüge aufweisen. Wir sprechen von Formen des Diebstahls, des Betrugs, der Untreue, der Korruption, der
Wirtschaftsspionage und der Verletzung geistigen Eigentums. Findet ein Teil dieser Taten im World Wide Web
statt, spricht man auch von Cybercrime. Wirtschaftskriminalität als Ganzes verursacht hohe materielle Schäden. Nach einer Studie der KPMG aus dem letzten Jahr
reichte die Bezifferung des Schadens aus wirtschaftskriminellen Handlungen im Jahr 2011 von 4 Milliarden
Euro bis hin zu 20 Milliarden Euro. Jedes vierte deutsche Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten war
in den vergangen zwei Jahren Opfer von Wirtschaftskriminalität. Jeder dieser Fälle hat durchschnittlich einen
Schaden von 30 000 Euro verursacht. Dabei stammt die
Hälfte der Täter aus den Unternehmen selbst.
Diese Differenzierung vermisse ich in Ihrem Antrag.
Es gibt zwei große Gruppen von Wirtschaftskriminellen.
Es gibt zum einen Wirtschaftskriminalität, die zum
Nachteil des Staates, seiner Bürger, wenn Sie so wollen,
begangen wird. Auf der anderen Seite wird die Masse an
Straftaten zum Nachteil von Unternehmen und Personen
begangen. Wichtigstes Mittel jedenfalls in Bezug auf
Unternehmen ist die Vermeidung von Wirtschaftskriminalität, die Prävention. Auf seinen 23 Seiten enthält Ihr
Antrag leider nur sehr wenig über Prävention, aber viel
mehr über Abschreckung und die Erweiterung von
Straftatbeständen, über ein Gesetz für Whistleblower.
Aktionismus in Sachen Cybercrime und Wirtschaftsspionage steht im Vordergrund. So verwundert es nicht wirkDr. Matthias Heider
lich, dass in diesem Antrag in Robin-Hood-Manier unzählige Forderungen zusammengekommen sind, die
durchgängig eine soziale Ungerechtigkeit suggerieren
und dem Staat als solchem vorwirft, Wirtschaftskriminalität zu dulden.
Es wäre schön gewesen, wenn in den Antrag nicht
einfach alles geschrieben worden wäre, was einem vor
einem Wahlkampf einfällt, weil dadurch der Eindruck
entsteht, dass Unternehmer, Managerinnen und Manager,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die lediglich eine
Ordnungswidrigkeit begangen haben, in Bausch und Bogen mit Kriminellen und Steuerhinterziehern in einen
Topf geworfen werden. Auch das ist nicht in Ordnung.
({1})
Im Kern der Debatte sind wir uns bei einer Reihe von
Fragen einig. Wirtschaftskriminalität muss bekämpft
werden. Es gibt eine Reihe von diskussionswürdigen
Ansätzen in Ihrem Antrag, die wir schon an anderer
Stelle besprochen haben, zum Beispiel im Wirtschaftsausschuss das Korruptionsregister.
Leider schafft es der Antrag nicht, an vielen Stellen
der Versuchung zu widerstehen, unter dem Deckmantel
der Ernsthaftigkeit eines sehr wichtigen Themas Wahlkampf zu betreiben. Ich könnte beispielsweise eingehen
auf die Solidaritätsadresse an Ihren Kanzlerkandidaten
auf der Seite 16.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, auf den
fatalen Irrglauben einzugehen, dass der Ankauf illegal
erworbener Steuerdaten
({2})
ein angemessenes finanz- und strafpolitisches Instrument zur Verfolgung von Steueransprüchen sei.
({3})
Dass Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, kein Problem damit haben, zeigt das
jüngste Beispiel des Ankaufs von Steuer-CDs durch das
Land Rheinland-Pfalz. Eines möchte ich an dieser Stelle
einmal deutlich machen:
({4})
Das Bundesverfassungsgericht geht, anders als Sie in Ihrem Antrag suggerieren, in seinem Beschluss zur Verwertung illegal erworbener Steuerdaten
({5})
nicht auf die Frage ein, ob illegal erworbene Daten einem Beweisverwertungsverbot im Strafverfahren unterliegen. Das Gericht macht lediglich deutlich, dass sich
der Anfangsverdacht für eine Wohnungsdurchsuchung
auf diese Daten stützen darf. Das ist der entscheidende
Unterschied. Im Übrigen lässt es offen, inwieweit sich
die Amtsträger bei der Beschaffung der Daten nach innerstaatlichem Recht strafbar gemacht haben. Das ist ein
dezidierter Unterschied.
({6})
Warum Sie auf der einen Seite rechtliche Grauzonen
präferieren
({7})
und davon profitieren wollen, auf der anderen Seite aber
einen völkerrechtlich sauberen Vertrag ablehnen und ihn
im Bundesrat blockieren, das ist mir schleierhaft.
({8})
Ich sage Ihnen im Anschluss an das, was der Kollege
van Essen schon gesagt hat: Die Hehlerei mit gestohlenen Steuerdaten ist ein mühsamer Weg, um Steuersündern auf die Spur zu kommen.
({9})
Abschließend vielleicht noch ein Satz zum Gesundheitswesen; auch diesen Bereich hatten Sie angesprochen. Es ist unumstritten, dass sich die überwältigende
Mehrheit der Ärzte und der Leistungserbringer in
Deutschland korrekt verhält.
({10})
Genauso klar ist, dass wir bei einem Fehlverhalten tätig
werden müssen. Der richtige Ansatz ist aber nicht, eine
Berufsgruppe mit Straftatbeständen zu diskreditieren;
der richtige Weg ist, dass wir uns an den einzelnen Stellen der Sonderstrafnormen Gedanken machen müssen,
wie wir das dolose Verhalten mit einer Reaktion belegen.
({11})
Richtig ist, dass eine Weiterentwicklung auch in der ärztlichen Selbstverwaltung möglich ist. Aber ob es dazu
das Instrument des Strafrechts braucht, das ist die Frage.
Es gibt einige wenige positive Anregungen in Ihrem
Antrag, die wir durchaus aufnehmen und in der Diskussion sowohl im Wirtschaftsausschuss als auch im
Rechtsausschuss weiter behandeln sollten. Ich bin der
Auffassung, dass einige Beratungen sicherlich erforderlich sein werden. Aber beanspruchen Sie bitte nicht mit
dem unterschwelligen Wahlkampfgetöse, das Sie mit Ihrem Antrag verbreiten, die Aufmerksamkeit für die Veränderung strafrechtlicher Normen.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Lothar
Binding das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr van Essen erwartet klare Vorstellungen. Das ist immer ein schöner Satz.
Den will ich ein bisschen genauer reflektieren; denn bezogen auf das von Ihnen erwähnte Abkommen bzw. den
Ankauf der Steuer-CDs haben wir von der FDP und der
CDU oft gehört, es sei verfassungswidrig, die CDs anzukaufen.
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht nach meinem
Verständnis erklärt, dass der Ankauf verfassungsgemäß
ist. Das wurde eben ein bisschen bestritten. Allerdings
stütze ich meine Interpretation auf Aussagen im Finanzausschuss. Dort haben sich der Kollege Koschyk und,
soweit ich mich erinnere, auch der Minister Schäuble darauf berufen und den Ankauf der CDs begrüßt, mit den
notwendigen Konsequenzen.
({0})
Jetzt wissen wir: Nach dieser Interpretation ist der Ankauf verfassungsgemäß. Nun sagt die FDP-Ministerin
Leutheusser-Schnarrenberger plötzlich: Dann verbieten
wir es halt. - Nun ist die Frage, ob das der richtige Reflex auf diesen Vorgang ist, ob das eine klare Position ist
({1})
und ob das zu kraftvollem Handeln führt. Ich wiederhole: Ein Minister erklärt unter Berufung auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts den Ankauf für
verfassungsgemäß, während sich die Ministerin für ein
Verbot ausspricht. Wenn Sie das eine klare Handlungsoption nennen, dann ist mir unklar, was Sie unter „klar“
verstehen.
({2})
Sie haben noch einen beliebten, ich möchte sagen:
Trick angewandt, um ganz bestimmte Überlegungen zu
diskreditieren. Sie haben nämlich gesagt, dass wir mit
unserem Antrag der Wirtschaft allgemein unterstellten,
sie sei von Kriminalität geprägt. Genau das ist aber nicht
der Fall. Herr Heider hat das auf die Arbeitnehmer erweitert, als ob wir allen Arbeitnehmern und Unternehmern unterstellen würden, sie seien kriminell. Nein, das
Gegenteil ist der Fall. Erinnern Sie sich einmal, was unter der rot-grünen Koalition hier im Saal für ein Theater
war, wenn man das Bankgeheimnis auch nur angesprochen hat. Was war da hier los! Das Bankgeheimnis war
ein Heiligtum. Ähnliches gilt für das Wort „Steuerbetrug“: Wenn wir uns um Steuerbetrug kümmerten, hieß
es plötzlich, in unseren Augen seien doch alle Steuerbetrüger; die ganze Wirtschaft, alle seien böse. - Nein, das
Gegenteil ist der Fall: Wenn wir von Steuergestaltung,
von Geldwäsche, von Schlupflöchern, vom Bankgeheimnis, von Steuerbetrug reden, dann wollen wir immer
die Betrüger und die Kriminellen fangen, und zwar zum
Schutz der Ehrlichen und der Fairen. Dann wird ein
Schuh daraus.
({3})
Sie haben noch einmal das Abkommen mit der
Schweiz erwähnt. Wir erwähnen es jeden Tag ungefähr
dreimal. Das will ich jetzt auch machen. Sie haben recht:
Bezogen auf die Vergangenheit geht durch die Ablehnung des Abkommens mit der Schweiz Geld verloren,
und zwar aufgrund der Verjährung.
({4})
Das stimmt; das ist völlig klar. Wer wollte das bestreiten? Aber für die Zukunft hätte das Abkommen eine Anonymisierung für alle Zeit bedeutet. Sie hätten überhaupt
niemanden mehr erwischt. Sie wollen auch keine SteuerCDs kaufen. Auf wen wollen Sie sich dann überhaupt
verlassen, wenn es keinen automatischen Informationsaustausch gibt? Wie hätten Sie denn bei vollständiger
Anonymität jemals zu Steuereinnahmen kommen wollen? Jetzt werden Sie natürlich sagen: Wenn ich unterstelle, da seien Leute anonym, dann unterstelle ich allen
Menschen, dass sie anonym bleiben wollen. - Nein, ich
unterstelle nur denjenigen, die anonym bleiben wollen,
sie seien anonym. Da stimmt es auch. Gegen sie wollen
wir vorgehen. Das ist eine sehr zielgenaue Überlegung.
({5})
Es war zu der Zeit besonders schlimm, mit der
Schweiz über ein Abkommen zu verhandeln. Denn Sie
sind damit im Grunde den USA in den Rücken gefallen,
die ein besseres Abkommen ausgehandelt haben, das
nicht auf bilateralen Überlegungen beruhte, nämlich das
FATCA-Abkommen, den Foreign Account Tax Compliance Act. Wir sind froh, dass inzwischen auch die
Schweiz eine neue Stufe der Erkenntnis erlangt hat und
jetzt selber sagt: Der Weg der bilateralen Abkommen
war ein Irrweg. - Die Schweiz verlässt diesen Pfad. Insofern konterkariert jetzt sogar die Schweizer Regierung
das Anliegen Ihres Abkommens, das Sie hier immer
noch rückwärtsgewandt verteidigen.
({6})
Ich will darauf hinweisen, wie nah einem manchmal
Probleme kommen können. Ich kann überhaupt nicht abschätzen, welche rechtliche Bedeutung das hat. Mich interessiert natürlich schon, wie die Koalition bestimmte
Vorgänge reflektiert, zum Beispiel, wenn ein Mitglied
des Finanzausschusses einen Praktikanten hat, über den
dann in der Zeitung steht, er heiße Bushido und habe
Kontakte zur Mafia, es gehe um Fragen rund um Korruption und Geldwäsche. So nah können einem die Probleme kommen. Da meine ich auch nicht alle und jeden,
sondern nur die, die unmittelbar davon betroffen sind.
Gemäß der neuerlichen Rhetorik will die Regierung
Steueroasen aktiv bekämpfen. Jetzt ist es aber so: Wenn
Sie die Offshore-Leak-Daten wirklich auswerten wollten, dann müssten Sie eigentlich in der G-8-Runde und
im Zusammenhang mit der EU-Geldwäscherichtlinie
Lothar Binding ({7})
viel aktiver ein verpflichtendes Onlineregister der Briefkastenfirmen fordern. Davon haben wir aber noch nicht
gehört. Es wäre aber wichtig. Dazu gibt es gute Vorschläge vom Tax Justice Network. Es wäre eine gute Sache.
Sie reden auch davon, dass Steueroasen ausgetrocknet
werden müssen, übersehen aber ganz, dass möglicherweise auch Deutschland in diesem Kontext eine Rolle
spielt. Denn wollten wir ausschließen, dass in den weltweiten Netzwerken von Geheimhaltung und Intransparenz nicht auch Deutschland eine große Rolle spielt? Sie
wissen, dass die Steuerfreiheit vieler Finanzanlagen internationaler Anleger in Deutschland in Kombination
mit den fehlenden Berichtspflichten der Banken gegenüber den Finanzämtern ein großes Problem darstellt,
wenn es darum geht, illegale Vorgänge aufzudecken. Wir
können sicher nicht garantieren, dass von den von der
Weltbank geschätzten 1,6 Billionen US-Dollar Schwarzgeld nicht ein großer Teil in Deutschland zu finden ist.
Ich glaube, wir sollten den Blick darauf lenken. Wenn
Sie sich überlegen, wie spät wir erst die Gaddafi-Konten
gesperrt haben, dann wissen Sie: Man muss über solche
Dinge nachdenken. Wenn man auf die anderen zeigt, ist
es immer gut, bei sich selbst nachzuschauen. Denn diejenigen, über die wir reden, sind so gut vernetzt, dass auch
Deutschland fast automatisch eine unrühmliche Rolle
spielt.
Wir brauchen also ein Onlineregister für Briefkastenfirmen. Wir sind uns alle einig, dass wir uns mit der
Frage beschäftigen müssen, in welcher Form das gestaltet werden soll. Wir müssen uns überlegen, wie wir einen ernsthaften Informationsaustausch innerhalb der
OECD gewährleisten können; denn nicht nur die ehrlichen Konzerne, sondern speziell auch die Gauner sind
international organisiert. Ihnen können wir mit nationaler Gesetzgebung natürlich nicht beikommen.
Wenn wir dieses Thema behandeln, dann stoßen wir
immer auf einen weiteren Argumentationspfad. Das betrifft die Internationalisierung, die Globalisierung und
Europa. Wann immer wir einen Vorschlag machen, der
ernsthafte Konsequenzen nach sich zu ziehen droht und
der möglicherweise den Gaunern sehr nahe kommt, dann
wird hier argumentiert: Das geht nur, wenn man eine Lösung auf internationaler Ebene hat, das geht nur global,
das geht nur in Europa. - Ich glaube, dass damit eine bestimmte Entscheidungsschwäche kaschiert werden soll.
Wenn wir wissen, was wir wollen, wenn wir wissen,
was für die Welt gut ist, dann können wir, denke ich, in
Deutschland damit anfangen. Das wäre ein wichtiger
erster Schritt. Wir sind in vielen Fällen beispielgebend,
und so könnten wir dafür sorgen, dass unser gutes Modell auch international fortgesetzt wird. Aber auf diesem
guten Pfad sind Sie noch nicht. Ich finde, Sie könnten in
Ihren Entscheidungen etwas mutiger sein, um auch auf
internationaler Ebene etwas durchzusetzen.
Das wirft auch ein Schlaglicht auf die Schwäche unserer Außenpolitik; denn das, worüber ich spreche, muss
außenpolitisch vorbereitet werden. Können Sie mir sagen, wer in dieser Regierung außenpolitisch vorbereitet,
was man finanzpolitisch erreichen will? Ich kann da
nichts erkennen. Das wäre aber ein ganz wichtiger Pfeiler für die internationale Finanzpolitik.
({8})
Lassen Sie mich ein, zwei Beispiele nennen, die belegen, wie schwer Sie sich tun. Trotz langer Diskussion
haben wir immer noch die Cash-GmbH, obwohl wir
- das ganze Haus - derartige erbschaftsteuerliche Gestaltungen vermeiden wollen. Trotzdem haben Sie das
Verfahren erst einmal verzögert, dann zusammengefaltet. Jetzt kommt es zu einem weiteren Gesetzgebungsverfahren. Hier liegt die Schwierigkeit, die Sie haben.
Ich will noch einen Schritt weitergehen: Sie haben die
RETT-Blocker-Strukturen in Ihrem neuen Gesetzgebungsverfahren noch gar nicht aufgegriffen. Sie merken:
Sie helfen denjenigen, die Steuergestaltung betreiben
wollen, immer wieder bei ihren Problemen. Helfen Sie
doch lieber demjenigen, der seine Steuern ehrlich und
fair bezahlt. Für Gauner muss das Gegenteil gelten.
({9})
Wer solche Steuergestaltungen im eigenen Land erkennt, der muss eilig und entschieden handeln. Auch die
CDU hat das eigentlich erkannt. In einem Flugblatt
schreibt sie: „Die CDU handelt, die SPD redet nur“. Darüber steht etwas ganz Interessantes, nämlich: „Strafen
für Steuersünder“. Wie harmlos das doch klingt. Steuerhinterziehung ist aber keine Sünde. Ein Kollege sagte zu
mir: Wenn eine Partei das C im Namen führt, dann
müsste sie eigentlich wissen, dass das eine Straftat ist.
({10})
Da besteht schon ein Unterschied. Man sollte sich gut
überlegen, was man schreibt.
Jetzt steht hier: „Rot-Grün hat seine Regierungszeit
nicht für eigene Initiativen genutzt“. Das kann sein. Es
ist natürlich zehn Jahre her, dass Rot-Grün regiert hat,
und man muss sagen: Das war eine andere Zeit und immer begleitet von dem, was ich vorhin sagte, dass nämlich Sie gegen eine Verbesserung der Kriminalitätsbekämpfung waren.
({11})
- Wir haben eine Mehrheit im Bundesrat gehabt? Wenn
Sie das einmal prüfen, merken Sie, dass Ihre Aussage
falsch ist. Außerdem schreiben Sie: Die Braunschweiger
Erklärung ist reiner Populismus. Dabei ist es umgekehrt.
Ich glaube, Sie haben Angst vor Peer Steinbrück, weil
er nämlich anpackt. Er redet nicht nur Klartext, sondern
Sie müssen auch damit rechnen, dass er tut, was er sagt.
({12})
Deshalb reagieren Sie so empfindlich auf seine Vorschläge. Ich freue mich sehr darauf, ihn eines Tages in
einer Regierung zu sehen, was möglicherweise schon
bald eintreten wird.
Alles Gute.
({13})
Jetzt hat das Wort der Kollege Marco Buschmann für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verbraucher und der ehrbare Kaufmann müssen vor
schwarzen Schafen geschützt werden. Das ist hier Konsens. Wir als schwarz-gelbe Regierung tun auch etwas.
Erst gestern haben wir hier im Hause ein breites Maßnahmenbündel gegen unseriöse Geschäftspraktiken auf
unterschiedlichen Ebenen des Rechts beschlossen.
({0})
Aber zum Schutz der Verbraucher und des ehrbaren
Kaufmanns vor schwarzen Schafen gehört natürlich
auch das Strafrecht.
Der Kollege Montag hat den Antrag der SPD vorhin
mit dem etwas zweifelhaften Titel einer „Fleißarbeit“
geadelt. Fakt ist, dass die Fleißarbeit insbesondere im
Abschreiben bestand, weil fast alle diese Maßnahmen
seit der Justizministerkonferenz vom 9. November 2011
bekannt sind. Dort ist dieses Maßnahmenbündel nicht
beschlossen worden, weil es eine ganze Reihe sachlicher
Bedenken dagegen gab. Sie wissen, der Deutsche Anwaltverein hat dieses Paket gerügt, weil es den Eindruck
erweckt, dass man allein mit der Androhung höherer
Strafen zu einer besseren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität kommt. Fakt ist - alle Kriminologen bestätigen uns das -: Nicht der Strafrahmen ist das Entscheidende, sondern die Aufklärungsquote.
({1})
Die Aufklärungsquote - das hat das Bundeslagebild
Wirtschaftskriminalität der JuMiKo bestätigt - ist im
Bereich der Wirtschaftskriminalität besser als in den übrigen Kriminalitätsbereichen. Das heißt, das Bild, das
versucht wird zu zeichnen, man täte hier nichts, man
könne Wirtschaftskriminalität betreiben, ohne sich Sorgen vor Strafverfolgung zu machen, ist falsch. Das
Ganze ist allein dem Umstand geschuldet - das hat der
Kollege van Essen hier schon herausgearbeitet -, dass
kurz vor Ende der Legislaturperiode versucht wird,
Stimmung zu machen, und zwar gegen die Fakten.
({2})
Die absolute Krönung dieses Unterfangens findet sich
in dem einzigen originellen Teil des SPD-Antrags, dem
Vorwort. Dort hat sie nicht abgeschrieben, aber da wird
tatsächlich die These aufgestellt - Sie müssen das einmal
lesen -, am Unterrichtsausfall in Deutschland sei die
fehlende, wenig konsequente Verfolgung von Wirtschaftskriminalität schuld. Meine Damen und Herren,
schuld am Unterrichtsausfall ist, dass die rot-grüne Regierung in Rheinland-Pfalz 2 000 Lehrerstellen gestrichen hat, dass in Schleswig-Holstein 3 700 Lehrerstellen
gestrichen wurden, dass in Baden-Württemberg 12 000
Lehrerstellen gestrichen wurden und in Nordrhein-Westfalen 25 Millionen Euro aus dem Etat für die Vertretungslehrer gestrichen wurden. Das ist der Grund, warum wir Unterrichtsausfall haben. Sie zeichnen hier ein
Zerrbild.
({3})
Jetzt möchte ich zu dem Maßnahmenbündel kommen.
Es gibt viele Punkte, über die zu diskutieren sich lohnen
würde. Viele Bedenken, die der Kollege Jerzy Montag
hier vorgetragen hat, teile ich, insbesondere hinsichtlich
des Einsatzes der Geheimdienste. In einem Punkt bin ich
aber ganz anderer Meinung, Herr Montag. Das möchte
ich hier beleuchten. Es geht um das Unternehmensstrafrecht. Hier wird der Eindruck erweckt, wir hätten in
Deutschland keine Sanktionsmöglichkeiten gegen das
Unternehmen, die juristische Person, den Verband. Das
ist aber schlichtweg falsch. Wir nennen das in Deutschland zwar nicht Strafrecht - wir haben das Ordnungswidrigkeitenrecht -, aber mit den §§ 30 und 130 des
Ordnungswidrigkeitengesetzes stehen uns scharfe Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Ihrem Wesen nach
unterscheiden sie sich gar nicht von dem, was andere
Rechtsordnungen machen. In der Schweiz, die in diesem
Zusammenhang immer genannt wird, steht die Rechtsfolge in der Tat im Strafgesetzbuch - deswegen sagt man
immer, sie hätte ein Unternehmensstrafrecht -, tatsächlich ist die Rechtsfolge dort aber eine Geldbuße. Das ist
das Gleiche wie in Deutschland. Wir haben sogar schärfere Mechanismen: Die Schweizer beispielsweise betreiben die Abschöpfung des aus dem kriminellen Tun Erlangten nur bis zu einer Obergrenze von 5 Millionen
Franken. In Deutschland können wir unbegrenzt abschöpfen. Es ist schlichtweg falsch, wenn behauptet
wird, wir hätten in Deutschland keine Sanktionen oder
nur schwächere Sanktionen als in anderen Rechtsordnungen. Das muss man bitte schön einmal zur Kenntnis
nehmen.
({4})
Herr Kollege Buschmann, das löst eine Frage des
Kollegen Montag aus.
Ich glaube, dass ich diese Frage schon vorweggenommen habe und in meinen weiteren Ausführungen noch
beantworten werde.
Also lassen Sie die Frage nicht zu?
Das war damit konkludent zum Ausdruck gebracht.
({0})
Herr Kollege Montag, jetzt könnten Sie ja sagen, wir
brauchten noch andere Arten von Sanktionen, wir
brauchten zum Beispiel die Unternehmensliquidation
wie in den USA. Es gibt Leute, die das die „Todesstrafe
für Unternehmen“ nennen und sie auch für Deutschland
fordern. Was hat das denn mit dem Gedanken die Großen lässt man laufen, und die Kleinen hängt man zu tun?
Das ist das Gegenteil davon. Die Liquidation als Rechtsfolge im Unternehmensstrafrecht führt doch zu Folgendem: Vorstände und mittleres Management sind korrupt,
verstoßen gegen das Recht, am Ende wird das Unternehmen aufgelöst, und die Arbeitnehmer stehen auf der
Straße. Das kann doch keine vernünftige Rechtsfolge
sein. Das ist doch gerade der Inbegriff dessen, gegen das
die SPD vorzugehen vorgibt, nämlich dass die Kleinen
am Ende unter dem leiden, was oben möglicherweise
falsch gemacht worden ist. Auch deshalb haben wir hier
keinen Anpassungsbedarf.
Jetzt hat Herr Montag wieder den Wunsch, eine Frage
zu stellen.
Ja, okay.
Die Zeit wird angehalten.
Danke schön, Herr Kollege Buschmann. - Sie haben
geglaubt, meine Frage zu antizipieren, deswegen habe
ich Ihnen weiter gelauscht und darauf gewartet, was daraus werden würde, aber Sie haben danebengegriffen.
Weil Sie danebengegriffen haben, erlaube ich mir, Ihnen
jetzt meine Frage zu stellen.
Niemand bezweifelt, dass wir in Deutschland ein
Ordnungswidrigkeitenrecht haben. Niemand bezweifelt,
dass mit den §§ 30 und 130 Ordnungswidrigkeitengesetz
natürlich auch Möglichkeiten bestehen, Geldbußen gegen Unternehmen zu verhängen. Ich selber habe in meiner Rede von einer Ausweitung des Rechts der Ordnungswidrigkeiten gesprochen.
Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, hier auch Ausführungen dazu zu machen und zu bestätigen, dass es, obwohl
das Ordnungswidrigkeitenrecht im weiteren Sinne bei
uns unter das Dach des Strafrechts fällt, doch eklatante
Unterschiede gibt.
Ein Unterschied - dieser ist ganz wichtig - ist: Im
Ordnungswidrigkeitenrecht gibt es den Legalitätsgrundsatz nicht, sondern nur den Opportunitätsgrundsatz. Es
ist ein riesiger Unterschied, ob es lediglich opportun ist,
gegen ein Unternehmen vorzugehen, oder ob die Verfolgungsorgane verpflichtet sind, es zu tun. Beim Ordnungswidrigkeitenrecht werden das Erkenntnisverfahren
und die Ahndung von einer Behörde durchgeführt, und
nur auf Einspruch oder Widerspruch entscheidet dann
ein Gericht, während wir beim Strafrecht ein unabhängiges Gericht haben, das über eine Ahndung entscheidet.
Es gibt also entscheidende strukturelle Unterschiede
zwischen dem Ordnungswidrigkeitenrecht und dem
Strafrecht. Deswegen ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, unser materielles Unternehmensstrafrecht auszuweiten.
Herr Kollege Montag, ich bedanke mich für diese
Zwischenfrage, weil sie mir die notwendige Zeit einräumt, meinen letzten Punkt noch zu erläutern, warum es
sinnvoll ist, zwischen Ordnungswidrigkeitenrecht und
Strafrecht zu unterscheiden. Sie haben vorhin etwas
flapsig gesagt, wir würden uns hinter dem Schuldprinzip
verschanzen.
({0})
Das Schuldprinzip ist - anders als es zum Beispiel die
Kollegen der SPD auf Seite 13 ihres Antrags beschreiben - nicht nur ein strafrechtsdogmatischer Lehrsatz.
({1})
- Ja, das schreiben die tatsächlich.
({2})
Sie sagen, das sei von der Verfassung nicht gedeckt. - In
Wahrheit ist der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“
seit dem 20. Band der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Teil des
Rechtsstaatsprinzips, Ausfluss des Gedankens der materiellen Gerechtigkeit. Wenn dieser Grundsatz nicht eingehalten wird, dann ist der betroffene Bürger in seinem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 verletzt.
({3})
So geht der Antragsteller hier mit Grundrechtssubstanz
um.
Deshalb ist das, Herr Montag, nicht etwas, hinter dem
wir uns verschanzen. Es handelt sich um einen strukturellen Unterschied: Im Strafrecht geht es um personale
Schuld und im Ordnungswidrigkeitenrecht um Strukturen, die sozusagen auch einen Unwertgehalt, einen Unrechtsgehalt produzieren. Dass wir auf diese Strukturen
mit eigenen Behörden, mit eigenen Instrumenten reagieren, ist nicht Willkür und auch kein Versuch, hier irgendjemanden oder irgendwelche Strukturen zu decken, sondern direkt Ausfluss unseres Verfassungsrechts, und dies
sollten wir achten und wahren.
Herzlichen Dank.
({4})
Jetzt konnten wir bei einer anspruchsvollen strafrechtsjuristischen Seminardiskussion anwesend sein. Für
einen schlichten Ökonomen war das spannend. Vielen
Dank.
({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der nächste Redner ist der Kollege Raju Sharma von
der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine
Sorge, ich werde Sie hier nicht überfordern. - Im SPDAntrag wird ein schwerwiegendes Problem angesprochen. Durch Finanz- und Wirtschaftskriminalität entstehen für die Wirtschaft und den Staat jährlich finanzielle
Schäden in Milliardenhöhe. Je nach Erfassungskriterien
und Berechnungsgrundlagen sprechen manche von 4 Milliarden Euro, andere von 50 Milliarden Euro. Leidtragende sind nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem
auch die Bürgerinnen und Bürger. Wirtschaftskriminalität
und Korruption verhindern Einnahmen für die öffentlichen Haushalte und schaden somit direkt unserer sozialen
Infrastruktur.
({0})
Die traurige Konsequenz ist, dass im sozialen Bereich
oder auch bei Kultur- und Bildungsangeboten gekürzt
wird. Deshalb ist es gut, dass dieses Thema heute aufgeworfen wird, und es ist gut, dass dieser Antrag vorliegt.
Da müssen wir tatsächlich etwas machen.
({1})
Nun hat die SPD den Bogen möglicher Maßnahmen
zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität weit gespannt: von Verbesserungen im Strafrecht und Maßnahmen zur Erhöhung der Verfahrenseffizienz bis hin zu
Strategien zur Bekämpfung von Cybercrime oder Wirtschaftsspionage. Wir begrüßen es, dass die SPD hier Initiative zeigt. Dem Kernproblem im Zusammenhang mit
der Erhellung des Dunkelfelds wird man mit diesem Antrag und seinen Maßnahmen jedoch nicht beikommen
können.
Meine Vorredner haben schon viel gesagt. Deshalb
will ich mich hier nur auf drei konkrete Aspekte beschränken:
Erstens. Was Whistleblower betrifft, sind wir uns mit
der SPD anscheinend einig. Die Linke hat dazu bereits
im Jahr 2011 einen Antrag in den Bundestag eingebracht. In diesem Antrag ging es vor allem darum, die
Whistleblower vom Ruch des Denunziantentums zu befreien. Denn wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter illegale Praktiken ihrer Unternehmen bemerken und den
Mut haben, diese aufzudecken, dann verdient das Anerkennung und Respekt.
({2})
Niemand, kein Staat und kein privater Unternehmer, hat
das Recht, Loyalität einzufordern, wenn er sich selbst
strafbar macht und sich auf Kosten der Allgemeinheit
bereichert.
({3})
Es ist schön, dass sich die SPD in ihrem Antrag dazu
bekennt. Allerdings stellt sich dann auch die Frage: Warum konnten Sie unserem Antrag damals nicht zustimmen? So sieht das tatsächlich wie ein billiges Wahlkampfmanöver aus.
({4})
Sei es drum; das ist jetzt vergossene Milch. Aber ich
sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD: Die Linke wird Sie bis zum 22. September dieses
Jahres und darüber hinaus an Ihren jetzt vorliegenden
Antrag erinnern und auch daran messen.
({5})
Zweitens. Wir unterstützen ausdrücklich die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit von Polizei,
Staatsanwaltschaft und Finanzbehörden. Ich habe in
meiner Zeit beim Landesrechnungshof in SchleswigHolstein im Rahmen einer Querschnittsprüfung die unterschiedliche Praxis der Behörden untersucht. Das Ergebnis war eindeutig: Überall dort, wo sich Polizei,
Staatsanwaltschaften und Finanzbehörden intensiv abgestimmt haben, sich über Ermittlungsstrategien verständigt haben und am besten sogar in denselben Räumlichkeiten zusammengearbeitet haben, wurden bessere
Ergebnisse bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität erzielt. Einige Länder haben diese Erkenntnisse in
die Praxis umgesetzt. Deswegen ist es richtig, dass die
SPD dies in ihrem Antrag als vorbildlich darstellt.
({6})
Dieselben Überlegungen gelten aber nicht nur für die
Landesebene; sie gelten auch für die Bundesebene. Auch
hier brauchen wir ressortübergreifende Konzepte zur
Vorbeugung, Ermittlung und Strafverfolgung im Hinblick auf Wirtschaftskriminalität. Wir haben in der Vergangenheit oft genug erleben müssen, dass die aktuellen
Instrumente zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität beim BKA, bei der Bundespolizei und beim Zoll der
Entwicklung und den jetzigen Herausforderungen nicht
mehr gewachsen sind. Genau das ist der Grund, warum
die Linke die Schaffung einer Bundesfinanzpolizei vorgeschlagen hat. Ich fordere Sie alle auf: Gehen Sie diesen Weg mit uns gemeinsam, und unterstützen Sie unseren Antrag!
({7})
Drittens. Eine engere Zusammenarbeit der Behörden
ist nicht alles. Wenn wir wirklich Waffengleichheit mit
den Wirtschaftskriminellen herstellen wollen, dann müssen wir Polizei, Staatsanwaltschaft und Finanzbehörden
nicht nur organisatorisch, sondern auch personell und
technisch besser ausstatten. Jeder Euro, den Sie hier investieren, ist gut angelegt und zahlt sich mehrfach wieder aus.
({8})
Dazu gehört auch ein Umdenken. Es gibt Landesfürsten, die beispielsweise eine schlechte Ausstattung der
Steuerfahndung als Standortvorteil ansehen. In Hessen
eskalierte das bis hin zu dem bekannten Fall der Ausschaltung einer hochkompetenten Steuerfahndungsgruppe unter fadenscheinigen Vorwänden. Ich bin sicher,
in den Hochhäusern der Banken wird man sich damals
vor Lachen die Bäuche gehalten haben. Ich wünschte
mir, in den Reihen der Union würde man Wirtschaftskriminelle eher ins Visier nehmen als harmlose Kiffer,
Sprayer oder Schwarzfahrer. Auch da ist ein Umdenken
nötig.
({9})
Zu guter Letzt noch ein Wort in eigener Sache. Wenn
wir hier im Bundestag über Korruptionsbekämpfung diskutieren, müssen wir auch vor unserer eigenen Haustür
kehren. Noch immer ist die Abgeordnetenbestechung in
Deutschland nicht strafbar, und noch immer kann deshalb die UN-Konvention gegen Korruption in Deutschland nicht ratifiziert werden. Ich weiß, dass Sie von der
Koalition davon nichts mehr hören wollen; aber Sie
müssen damit leben, bis Sie endlich Ihre Blockadehaltung aufgeben. Bis dahin wird die Linke Ihnen das bei
jeder passenden Gelegenheit immer wieder aufs Butterbrot schmieren.
({10})
Nachdem Sie die Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen - wir hatten drei davon - abgelehnt haben,
liegt nun ein gemeinsamer Gesetzentwurf von Abgeordneten von CDU, SPD, Grünen und Linken vor.
({11})
Es ist ein Gesetzentwurf, der einen Kompromiss darstellt
und der von unabhängigen Organisationen wie Transparency International unterstützt wird. Ich bitte Sie alle,
auch Sie von der FDP und der CDU/CSU: Geben Sie
sich endlich einen Ruck! Es ist erbärmlich, dass wir in
Deutschland immer noch darüber reden, ob wir die Abgeordnetenbestechung unter Strafe stellen. Es wird
höchste Zeit, dass wir darüber reden, wie wir sie unter
Strafe stellen.
Herzlichen Dank.
({12})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin
Ingrid Hönlinger das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
wenigen Jahren hat der Korruptionsskandal bei Siemens
das Unternehmen nachhaltig erschüttert. Andere Unternehmen, die in diesem Zusammenhang genannt werden,
sind: MAN, Ferrostaal, Daimler, Infineon, EADS, Thyssenkrupp und Rheinmetall. Das beschreibt die FAZ unter
dem prägnanten Titel „Bestechende Großunternehmen“.
Korruption ist fast immer ein Element von Wirtschaftskriminalität. Korruption begünstigt sie. Korruption kostet den deutschen Staat und den deutschen Steuerzahler
Geld, sehr viel Geld. Wissenschaftliche Schätzungen gehen von einem Schaden von 250 Milliarden Euro jährlich aus. Noch viel schlimmer ist, dass Korruption das
Vertrauen der Bevölkerung in Wirtschaft und Staat infrage stellt. Das zeigt: Hier besteht großer Handlungsbedarf. Wirtschaftskriminalität ist kein Kavaliersdelikt.
({0})
Ich möchte Ihnen heute drei Punkte nennen, die aus
meiner Sicht zentral sind. Immer wieder gibt es einzelne
Menschen, mutige Insider, die ihr Wissen nach außen
tragen und Korruptionsskandale aufdecken. Diese Menschen müssen wir ermutigen, rechtswidriges Handeln
anzuzeigen. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima,
das es diesen Mitarbeitern ermöglicht, Fehler offen anzusprechen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie
nicht den Makel des Verpfeifens oder des Petzens tragen.
Diese Menschen verdienen den Respekt unseres Staates
und der Gesellschaft.
({1})
Wir müssen eine sichere rechtliche Grundlage für den
Schutz von Whistleblowern schaffen. Wir müssen sie
vor Mobbing und Kündigung schützen. Das zeigt das
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall von Brigitte Heinisch sehr deutlich. Wir
Grüne haben in dieser Wahlperiode ebenso wie die beiden anderen Oppositionsfraktionen Initiativen zum
Schutz von Whistleblowern in den Bundestag eingebracht. Nun stehen wir am Ende dieser Legislaturperiode, und diese Bundesregierung bleibt weiter untätig.
Die Bundesregierung hält sich auch nicht an ihre eigenen politischen Zusagen. Bereits im Herbst 2010 haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, in dem Antikorruptions-Aktionsplan der G-20Staaten vollmundig erklärt, Sie würden bis Ende 2012
Regeln zum Whistleblower-Schutz erlassen und umsetzen.
Was haben Sie bisher getan? - Nichts. Damit werden
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, unglaubwürdig - national und auch international
gegenüber unseren Partnerländern.
({2})
Wir können noch ein weiteres Instrument schaffen,
um Wirtschaftskriminalität effektiv zu bekämpfen. Lassen Sie uns endlich über die Einführung eines bundesweiten Korruptionsregisters nachdenken. Hintergrund ist
folgender: Länder und Gemeinden vergeben jährlich
Aufträge im Wert von mehreren Hundert Milliarden
Euro an private Unternehmen. Sie müssen auf ein bundesweites Register zugreifen können, um festzustellen,
ob ein Unternehmen, das sich um einen Auftrag bewirbt,
bereits in Korruptionsfälle verwickelt war oder nicht.
Die Bundesländer haben damit auf Landesebene gute Erfahrungen gemacht. Diese Korruptionsregister schaden
auch nicht den Unternehmen. Ganz im Gegenteil! Sie
helfen den Unternehmen, weil sie nämlich die integeren
Unternehmen vor den schwarzen Schafen schützen, und
sie ermöglichen fairen Wettbewerb. Mit Korruptionsregistern tragen wir dazu bei, dass die ehrlichen Unternehmen einen Vorteil haben und bei einer öffentlichen
Auftragsvergabe nicht die Verlierer sind. Es wird
höchste Zeit, dass wir hier im Bund endlich einheitliche
Regeln treffen.
({3})
Es gibt noch ein drittes Thema, auf das ich zum
Schluss eingehen möchte - Kollege Sharma hat es bereits genannt -, nämlich das Thema „UN-Konvention
gegen Korruption“. Es gibt auf dieser Welt 165 Staaten,
die diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert haben.
Sogar Myanmar und Swasiland gehören zu diesen
165 Staaten.
({4})
Führende Vertreter aus der Wirtschaft, liebe FDP, fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln, weil
hier die Glaubwürdigkeit Deutschlands international auf
dem Spiel steht. Die Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir weiter auf einer Stufe stehen mit Ländern wie dem Sudan, Somalia, Tschad, Syrien oder
Nordkorea.
({5})
Sie reklamieren nach außen Wirtschaftskompetenz für
sich, Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-gelben
Koalition; doch bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität gibt es bei Ihnen noch erhebliche Defizite.
Wir Grünen haben hier die besseren Konzepte: Wir
fordern den Schutz von Whistleblowern, wir fordern die
Einführung eines bundesweiten Korruptionsregisters,
und wir fordern eine Ausweitung der strafrechtlichen
Regelung für den Tatbestand der Abgeordnetenbestechung,
({6})
damit wir die UN-Konvention gegen Korruption endlich
ratifizieren können. Erst eine rot-grüne Koalition wird
die Kraft haben, sich eindeutig gegen Korruption zu
positionieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Geis für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Antrag der SPD ist eine ganze Reihe von gesetzlichen Änderungen und neuen Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen, die wir in dieser Legislaturperiode mit
Sicherheit nicht mehr durchdiskutieren können, geschweige denn, dass wir zu einer weitergehenden Beratung dieses Antrags kommen können. Da entsteht schon
ein bisschen der Eindruck, dass es hier weniger um die
Sache und mehr um Wahlkampf geht. Mich wundert
auch, dass von der SPD so wenige Vertreter hier sind. Es
sind, wenn ich richtig zählen kann, nur drei Personen anwesend. Das ist zu wenig für die Diskussion eines Antrags, der von der SPD gestellt worden ist.
({0})
- Entschuldigung, ich nehme das zurück: Es sind vier
Kolleginnen und Kollegen der SPD anwesend. Ich kann
nur bis drei zählen.
({1})
Aber lassen Sie mich etwas zur Sache sagen: Sie machen Vorschläge zur Vermögensabschöpfung. Ich halte
die Vermögensabschöpfung in der Tat für ein exzellentes
Instrument. Wir kennen die Vermögensabschöpfung aus
der Diskussion über die Bekämpfung der organisierten
Kriminalität. Auch zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, zum Beispiel von Geldwäsche, ist die Vermögensabschöpfung ein exzellentes Mittel. Dieses Mittel
ist jedoch nur wirksam, wenn es länderübergreifend gehandhabt wird. Nicht nur in der organisierten Kriminalität, auch in der Wirtschaftskriminalität sind die Akteure
länderübergreifend tätig. Deswegen wird dieses Thema
auch auf der europäischen Ebene diskutiert. Es scheint
sich eine Einigung abzuzeichnen. Deswegen bin ich der
Meinung, dass wir dieses Thema hier nicht gesondert
diskutieren sollten, sondern erst einmal diese Einigung
abwarten sollten. Eventuell kommt eine Richtlinie heraus, die wir dann umsetzen werden. Warten wir so
lange!
Es werden der Schutz von Whistleblowern und die
Einrichtung eines bundesweiten Korruptionsregisters gefordert. Diese Diskussionen haben wir hier doch schon
geführt, sie sind doch längst abgeschlossen.
({2})
Darüber ist hier schon abgestimmt worden, und der entsprechende Gesetzentwurf ist, wie Herr van Essen eben
richtig dazwischengerufen hat, krachend durchgefallen.
Warum sollen wir denn neu über alte Vorschläge debattieren? Lassen wir das! Dennoch will ich durchaus zugeben, dass hier Ansätze sind, über die nachzudenken und
zu diskutieren sich lohnt.
Eine zentrale Forderung oder überhaupt der Kern des
Antrages - so habe ich ihn jedenfalls verstanden - dreht
sich darum, ob man zusätzlich zum Ordnungswidrigkeitenrecht nun ein Unternehmensstrafrecht einführt. Das
würde bedeuten, dass man also nicht nur im Verwaltungsrecht entsprechende Vorschriften vorsieht, sondern
auch im Strafrecht. Das hat Herr Buschmann schon gut
dargestellt; deswegen will ich das nicht ausführlich wiederholen.
Ich will an dieser Stelle nur kurz meine Auffassung
kundtun: Ein Unternehmen kann sich nach unserem
Rechtsverständnis nicht strafbar machen. Es gilt der altrömische Grundsatz: Societas delinquere non potest eine Gemeinschaft kann sich nicht strafbar verhalten.
Strafbar verhalten können sich immer nur Personen: der
Prokurist, der Abteilungsleiter, der Geschäftsführer, das
Mitglied des Vorstands, das Mitglied des Aufsichtsrats.
Das Unternehmen selbst, die juristische Person, kann
aber nicht selbstständig handeln. Handeln können immer
nur Personen. Weil man der juristischen Person keine
Schuld zuweisen kann, kann sie sich auch nicht strafbar
machen. Ich bin schon der Meinung, dass wir an dem
Prinzip festhalten müssen, dass nur bestraft werden
kann, wer sich schuldig gemacht hat,
({3})
und schuldig kann sich nur eine Person machen, ein Individuum.
({4})
Es gibt keine Kollektivschuld. Die Auffassung, dass
es sie gibt, haben wir doch in anderen Diskussionsbereichen immer und immer wieder zurückgewiesen, und wir
wollen daran festhalten.
Es gibt eine gemeinsame Verantwortung; das ist richtig. Es gibt eine Verantwortung für unsere Geschichte.
Es gibt eine Verantwortung für die Zeit von 1933 bis
1945, die das deutsche Volk zu tragen hat, aber es gibt
keine Kollektivschuld. Daran möchte ich doch schon
festhalten. Lassen wir deswegen den Gedanken weg,
dass wir jetzt ein Unternehmensstrafrecht einführen wollen.
Ich weiß - da haben Sie recht -, in anderen europäischen Ländern gibt es ein solches Unternehmensstrafrecht. In Ihrem Antrag - ich habe das zusammengezählt haben Sie zehn Länder aufgeführt, darunter England und
Frankreich, also bedeutende Staaten innerhalb Europas.
Das heißt aber doch nicht, dass der Kampf gegen die
Wirtschaftskriminalität in diesen Ländern besser läuft
als bei uns.
Wir haben andere Möglichkeiten, zum Beispiel durch
das - das ist von Herrn van Essen gesagt worden - Ordnungswidrigkeitenrecht. Es gibt die §§ 30 und 130 Ordnungswidrigkeitengesetz. § 30 bezieht sich auf die handelnde Person selbst, während es bei § 130 um die
Aufsichtspflichtverletzung geht. Wenn also eine untergeordnete Person eine Maßnahme trifft, die beispielsweise
umweltgefährdend ist, dann ist auch die aufsichtshabende Person mit heranzuziehen.
Wir haben jetzt vorgesehen, die Geldbuße nach § 30
Abs. 2 Ordnungswidrigkeitengesetz bei einer vorsätzlichen Straftat von 1 Million Euro auf 10 Millionen Euro
und bei einer fahrlässigen Straftat von 500 000 Euro auf
5 Millionen Euro zu erhöhen. Das Gleiche sollten wir im
Übrigen auch in Bezug auf § 130 Ordnungswidrigkeitengesetz vorsehen, was von uns aber noch nicht aufgegriffen wurde.
Das ist eine wirkungsvolle Maßnahme, die Sie allerdings blockieren. Das muss man deutlich sagen und ist
auch schon gesagt worden. Sie wird im Vermittlungsausschuss jetzt schon zum dritten Mal blockiert. Es ist nicht
ganz korrekt, wie Sie sich hier verhalten. Sie verlangen
von der Bundesregierung Maßnahmen gegen Wirtschaftskriminalität, blockieren aber gleichzeitig eine
wichtige Maßnahme,
({5})
die die Bundesregierung schon im Oktober 2012 im
Bundestag hat verabschieden lassen. Das geht so nicht;
das ist nicht redlich.
({6})
Ich will Ihnen aber auch einmal zwei Beispiele dafür
nennen, wie so etwas wirken kann - hinzu kommt nämlich die Vermögensabschöpfung -: Aufgrund eines Bußgeldes verbunden mit einer Vermögensabschöpfung hat
Siemens immerhin 350 Millionen Euro zahlen müssen,
und MAN hat zweimal 75 Millionen Euro zahlen müssen. Das ist nicht wenig. Das heißt, hier sind Möglichkeiten geboten, die andere Länder nicht haben.
Im angloamerikanischen Raum ist das Verwaltungsrecht nicht mit unserem vergleichbar. Dort werden
Straftatbestände festgestellt, die wir mit dem Verwaltungsrecht bekämpfen, wobei hier sehr viel differenzierter, sehr viel einschneidender und sehr viel effektiver
vorgegangen werden kann als beispielsweise in England,
in den USA oder in Frankreich. Unser Verwaltungsrecht
bietet uns sehr viel größere Reaktionsmöglichkeiten in
Bezug auf die Wirtschaftskriminalität. Es wird kein Bußgeld gegen ein Unternehmen erlassen, ohne dass es
gleichzeitig zu einer Vermögensabschöpfung kommt.
Die Strafe beinhaltet also immer ein Bußgeld plus Vermögensabschöpfung. Das ist schon ein gewaltiger Eingriff.
Aber es gibt auch in anderen Bereichen wirkungsvolle Vorschriften: Ich nenne zunächst die Gewerbeordnung. Nach § 35 Gewerbeordnung gibt es die Möglichkeit, ein Gewerbe zu untersagen. Es gibt das BundesImmissionsschutzgesetz. Die Genehmigung beispielsweise zum Betrieb eines Kraftwerks, in dem Strom erzeugt wird, kann entzogen und das Werk kann geschlossen werden, wenn dort nicht Biomasse, sondern
irgendwelche anderen brennbaren Stoffe verbrannt werden. Diese Maßnahme ist möglich. Auch im Bereich
Kreditwesen haben wir die Möglichkeit, entsprechende
Maßnahmen zu treffen. Daneben gibt es die sogenannte
Mehrerlösabführung im Wirtschaftsstrafgesetz.
Man könnte vielleicht noch über weitere Maßnahmen
nachdenken. Aber innerhalb des Verwaltungsrechtes haben wir sehr viele Möglichkeiten, einzugreifen. Diese
Möglichkeiten brauchen wir, und diese sollten wir auch
nicht verstecken. Wir sollten den Unternehmen deutlich
machen, dass von diesen Maßnahmen des Verwaltungsrechts häufig Gebrauch gemacht wird. Es ergehen oft genug entsprechende Bescheide an die Unternehmen.
Wir werden diesen Antrag, wie ich schon gesagt habe,
wohl nicht nach eingehender Beratung hier verabschieden können. Aber er bietet doch - das will ich Ihnen sagen, auch wenn nur sehr wenige Kolleginnen und Kollegen von der SPD da sind; inzwischen sind es nur noch
drei - die Möglichkeit,
({7})
darüber nachzudenken. Ich hoffe, dass wir zu vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn auch nicht in Form ei29516
nes solch umfänglichen Antrags, wie er hier vorgelegt
worden ist.
Ich danke Ihnen.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. Mathias Middelberg von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon betont worden, dass in diesem Antrag
der Sozialdemokraten, die sich hier im Plenum leider
immer weiter verflüssigen,
({0})
durchaus Sinnvolles vorhanden ist und auch solches, an
das man anknüpfen kann.
Wenn man sich den Antrag allerdings aufmerksam
ansieht, stellt man fest, dass er eine ganze Menge an Widersprüchen enthält. So fordern Sie in Ihrem Antrag beispielsweise ein bundesweit gleichmäßiges Vorgehen der
Finanzbehörden gegen Steuerhinterziehung. Diese Einschätzung teilen wir uneingeschränkt. Jetzt kam in der
Diskussion um die Steueroasen der Vorschlag - unter anderem von unserem Staatssekretär Kampeter -, ein einheitliches Steuer-FBI ins Leben zu rufen, also eine Art
Bundespolizei für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das wurde von den SPD-Länderchefs sogleich abgelehnt.
({1})
Das Interessante daran ist, dass die sozialdemokratischen Länderchefs damit auch ihrem Kanzlerkandidaten
widersprochen haben; denn Peer Steinbrück hat in seinem Acht-Punkte-Plan Anfang dieses Monats gefordert,
eine bundesweite Steuerfahndung einzuführen. - Da
müssen wir uns ganz generell fragen: Wie verlässlich
sind in Zukunft die Klartextaussagen von Peer
Steinbrück, der offensichtlich in Ihren eigenen Reihen
nur noch wenig Beinfreiheit zur Verfügung hat?
({2})
Der nächste Punkt, auf den ich gerne eingehen
möchte, ist das Thema Ankauf von Steuer-CDs. Ich habe
damit grundsätzlich gar keine Probleme und teile in diesem Fall die Einschätzung des Kollegen Binding. Aber
ich sage doch: Der Ankauf dieser CDs - das muss man
festhalten - beschert uns in der Regel nur Einzelerfolge
aufgrund von Einzelmaßnahmen. Es geht nicht um eine
rechtsstaatlich fundierte, wie der Kollege van Essen das
zu Recht bemerkt hat, Ermittlungsmaßnahme, die systematische Erfolge und eine wirkliche Austrocknung dieses Sumpfes Steuerhinterziehung ermöglicht. Darüber
müssen wir uns doch einig sein. Eine gescheitere Maßnahme wäre die Unterzeichnung des Steuerabkommens
mit der Schweiz gewesen, was aber ohne Ihre Zustimmung nicht möglich war.
({3})
Herr Kühl aus Rheinland-Pfalz rennt herum und sagt:
Ich habe diese tolle Steuer-CD erworben. Sie bringt mir
später 500 Millionen Euro ein. - Der Kollege WalterBorjans aus Nordrhein-Westfalen war überhaupt nicht in
der Lage, auf Anfrage der CDU-Opposition darüber
Auskunft zu geben, wie viel denn der bisherige Ankauf
von Steuer-CDs erbracht habe. Also: Was kommt dabei
nachher wirklich an Erträgen heraus? Darüber haben wir
bisher überhaupt keine verifizierten Zahlen vorliegen.
Die Zahl von 500 Millionen Euro steht im Raum. Ob wir
diese Summe jemals sehen werden, ist reine Spekulation. Auch unter diesem Gesichtspunkt muss man die Effizienz dieser Maßnahme hinterfragen.
Ich gehe noch einmal auf das Thema Schweiz ein. Ich
mache das, weil hier eben nicht zutreffende Behauptungen verbreitet wurden. Es wird immer gesagt, die USA
hätten mit ihrem Musterabkommen mit der Schweiz,
dem FATCA-Abkommen, viel mehr erreicht. Die USA
haben mit diesem Abkommen für die Vergangenheit gar
nichts geregelt. Es bleibt also ungeklärt, wer früher einmal in der Schweiz Geld angelegt hat; da bekommen die
USA keinen Cent. Das ist die Wahrheit. Bei unserem
Steuerabkommen dagegen würden nicht nur die Zinserträge aus der Vergangenheit, sondern auch das gesamte
Kapital der Anleger pauschal nachversteuert werden,
und zwar mit einem Zinssatz von 21 bis 41 Prozent. Im
Schnitt müssten die Steuerzahler ungefähr 26,5 Prozent
nachzahlen, und zwar nicht nur auf die dort anfallenden
Zinserträge, sondern auf das gesamte schwarze Kapital,
das dort angelegt ist. Das vergessen viele, insbesondere
allzu gerne in Ihren Reihen, Kollege Binding.
({4})
Wir hätten damit einige Milliarden an zusätzlichen Einnahmen zur Verfügung gehabt. Auf diese müssen wir
jetzt bedauerlicherweise verzichten. Insoweit ist Ihre
Kritik, an dieser oder jener Stelle stehe nicht genügend
Geld zur Verfügung, nicht viel wert.
({5})
Eben wurde gesagt, wir hinkten der Entwicklung im
internationalen Kontext, wenn es um die Bekämpfung
von Steuerhinterziehung gehe, etwas hinterher. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sind natürlich im internationalen Kontext auf die Zusammenarbeit mit anderen
Ländern angewiesen. Bisher wurden Doppelbesteuerungsabkommen, also Verträge zwischen Deutschland
und den jeweiligen Partnerländern, abgeschlossen. Dass
Sie damit ein Problem haben, verwundert mich; denn
bisher haben Sie allen Doppelbesteuerungsabkommen,
die die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat,
zugestimmt, und zwar uneingeschränkt.
({6})
Ich könnte in diesem Zusammenhang noch mehrere
Initiativen nennen. FATCA ist eben genannt worden.
Deutschland ist mit einem Musterabkommen mit den
USA führend. Wir haben als treibende Kraft dafür gesorgt, dass die G 5, die fünf großen europäischen Staaten, nun dieses Musterabkommen als Maßstab für den
automatischen Informationsaustausch untereinander
festlegen. Ähnliches gilt für die Revision der EU-Zinsrichtlinie. Hier geht es um den automatischen Informationsaustausch, diesmal auf Ebene der EU. Auch hier ist
Deutschland führend. Wir haben dafür gesorgt, dass
diese Richtlinie nun auf Lebensversicherungen, strukturierte Finanzprodukte, die berühmt-berüchtigten Trusts,
private Stiftungen und alle Arten von Investmentfonds
ausgedehnt wird. In Zukunft wollen wir nicht nur Zinserträge, sondern auch Dividenden und Veräußerungsgewinne erfassen. Die ersten Erfolge können Sie bereits
sehen. Luxemburg hat eingelenkt und seine Blockadehaltung in diesem Punkt aufgegeben. Es wird im Rahmen der EU-Zinsrichtlinie ab 2015 am internationalen
Informationsaustausch teilnehmen.
Ich könnte noch auf die BEPS-Initiative eingehen, die
in Zukunft den zunehmenden Steuerabfluss durch den
Internethandel - beispielsweise bei Amazon und
Google - verhindern wird. Hier ist unser Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble an erster Stelle zu nennen.
Deutschland ist federführend und leitet eine der drei Arbeitsgruppen, die die Details für ein entsprechendes Abkommen in diesem Bereich erarbeiten. Wir werden im
Juni dieses Jahres einen Aktionsplan auf G-20- und
OECD-Ebene vorlegen. Es gibt hier also konkrete
Schritte, und Deutschland ist führend, wenn es um die
Bekämpfung von Steuerhinterziehung auf internationaler Ebene geht.
({7})
Da Sie unsere Maßnahmen kritisieren und behaupten,
wir seien nicht vorne dabei, wenn es um die Bekämpfung von Steuerhinterziehung gehe, möchte ich Sie daran erinnern, dass bis 2009 der Bundesfinanzminister
Peer Steinbrück hieß. Ich kann mich nicht erinnern, dass
Herr Steinbrück als Finanzminister in den eben genannten Punkten - ich habe bereits FATCA und die EU-Zinsrichtlinie angeführt; die Regelungen betreffend die
Selbstanzeigepflicht bei Steuerhinterziehung haben wir
verschärft - irgendetwas Brauchbares umgesetzt hätte.
({8})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Unsere Steuerpolitik
kann sich sehen lassen. Wir kommen mit der Kavallerie
gerade auf internationaler Ebene nicht so gut voran, insbesondere dann nicht, wenn sie wie bei Steinbrück auf
toten Pferden unterwegs ist. Wir bleiben unserem Stil
treu, verhandeln nachhaltig und setzen auf Diplomatie,
Transparenz und Konsequenz.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13087 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften
- Drucksache 17/13082 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Dann eröffne ich auch schon die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Olav
Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Warum bringen wir heute einen Gesetzentwurf ein, dessen wesentliche Inhalte wir bereits vor sechs Monaten
hier in diesem Hause beschlossen haben?
({0})
Die Antwort ist einfach: Seit Monaten nutzt die rotgrüne Opposition im Bundestag ihre Mehrheit im Bundesrat als Blockadeinstrument.
({1})
Seit Monaten geht es der Opposition und der Mehrheit
im Bundesrat nur noch um Machtpolitik und nicht mehr
um Sachpolitik.
({2})
Ob beim Abbau der kalten Progression, womit wir
gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
mittleren Einkommen entlasten wollten, ob bei der steuerlichen Absetzbarkeit der energetischen Sanierungsleis29518
tungen: überall Blockade. Das vorhin angesprochene
Schweizer Steuerabkommen wurde ebenfalls im Bundesrat blockiert - leider.
({3})
Denn für Bund, Länder und Kommunen ist damit, bezogen auf die Vergangenheit, sehr viel Geld unwiederbringlich verloren gegangen, und für die Zukunft - das
muss man noch einmal betonen - hätten wir damit für
die in der Schweiz angelegten Vermögen die gleiche Besteuerung wie in Deutschland durchgesetzt.
({4})
Auch das Jahressteuergesetz 2013, das ja wichtige
Entlastungsregeln für die Bürgerinnen und Bürger, für
die Unternehmen und für die Verwaltung beinhaltete, haben Sie im Bundesrat gegen die Wand gefahren. Nach
diesem Crash stehen wir jetzt wieder hier und versuchen,
die Teile des auseinandergeflogenen Gesetzes wieder zusammenzusetzen und zusammenzubasteln.
Wir haben hier vor wenigen Wochen mit dem Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz schon Maßnahmen aus
diesem gescheiterten Jahressteuergesetz beschlossen und
auf den Weg gebracht. Jetzt sollen, wie von uns versprochen und vorhergesagt, weitere Maßnahmen folgen, darunter auch eine Änderung bei der Erbschaftsteuer. In
diesem Haus herrscht ja wohl Konsens darüber, dass der
Missbrauch, den es bei den sogenannten Cash-Gesellschaften gibt, nicht tolerierbar ist. Ich habe an dieser
Stelle vor wenigen Wochen gesagt, dass wir zeitnah einen Vorschlag auf den Tisch legen werden, wie wir diesen Missbrauch im Zusammenhang mit Cash-Gesellschaften verhindern. Das haben wir versprochen, und
heute liefern wir.
({5})
Wie versprochen unternehmen wir einen nächsten
Versuch, um rechtliche Betreuer wie auch die Leistungen von Bühnenregisseuren und -choreografen von der
Umsatzsteuer zu befreien. Wir hatten das schon einmal
hier beschlossen. Das Gleiche gilt für den besonderen
Gewerbesteuerzerlegungsmaßstab bei der Photovoltaik.
Aber ich fürchte, dass auch dieser Gesetzentwurf - obwohl das etwas ist, was Sie selbst fordern - im Bundesrat von der rot-rot-grünen Mehrheit aufgehalten werden
wird.
Sie werden dies dann den Menschen erklären müssen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({6})
Sie werden erklären müssen, warum Sie sich gegen die
Verkürzung der Aufbewahrungsfristen wenden, warum
Sie unseren Mittelstand und die Industrie in Deutschland
nicht von zusätzlichen Bürokratiekosten in Höhe von
2,5 Milliarden Euro entlasten.
({7})
Sie fallen damit - das ist ganz interessant - auch Ihrem
Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück in den Rücken; denn
er hat vor wenigen Wochen bei einer Mittelstandsveranstaltung gefordert, unnötige, für den Mittelstand kostenintensive Regelungen abzuschaffen. Dabei hat er explizit
auch die Aufbewahrungsfristen angesprochen. Heute
hätten Sie die Möglichkeit, Ihren Kanzlerkandidaten hier
zu unterstützen. Sie werden diesen Gesetzentwurf aber,
wie Sie schon angekündigt haben, wahrscheinlich ablehnen und auch im Bundesrat blockieren.
Sie werden auch erklären müssen, warum Sie diesen
Gesetzentwurf, mit dem wir eine längere Geltungsdauer
der Freibeträge im Lohnsteuerabzugsverfahren einführen wollen, aufhalten. Sie werden das auch gegenüber
der Verwaltung erklären müssen. Das, was geplant ist,
wäre nicht nur eine Erleichterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land, sondern es
wäre auch eine Verfahrensvereinfachung für die Finanzverwaltung.
Die rot-grün regierten Bundesländer müssen sich jetzt
ihrer Verantwortung stellen, und sie müssen diese Blockade aufgeben. Hören Sie auf, wichtige Maßnahmen,
die wir hier im Bundestag beschließen, immer wieder
ausschließlich mit dem Blick auf die Bundestagswahl im
September zu blockieren und zu verhindern. Glauben
Sie, dass diejenigen, die zivilen Freiwilligendienst leisten, Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün die Steuerbefreiung ihres Taschengeldes verhindert? Glauben Sie,
dass die von Ihnen im Bundesrat aufgehaltenen Steuerbefreiungsvorschriften für freiwillig Wehrdienstleistende und Reservisten bei diesen auf Verständnis stößt?
Die Menschen interessieren sich doch nicht für diese
taktischen Spielchen.
({8})
Die Menschen wollen, dass gehandelt wird.
({9})
Sie haben diese Regelungen verdient. Sie könnten längst
Gesetz sein. Wir haben sie hier bereits vor sechs Monaten beschlossen.
({10})
Ich kann nur sagen - das ist eine Bitte an Sie und auch
ein Appell an das Verantwortungsbewusstsein von RotGrün -: Hören Sie mit dieser Blockadepolitik im Bundesrat auf.
({11})
Alles andere ist unredlich. Es schadet unserem Land. Es
schadet den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land.
Seien Sie kooperativ. Arbeiten Sie mit bei diesen wichtigen Regelungen, die den Menschen in unserem Land
helfen und sie voranbringen.
Herzlichen Dank.
({12})
Jetzt hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege
Lothar Binding.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch etwas
zum Kollegen Middelberg sagen, der, fast vorwurfsvoll,
festgestellt hat, die SPD-Fraktion stimme den Doppelbesteuerungsabkommen immer zu. Das stimmt: Wir haben
mehr als 90, also fast allen, Doppelbesteuerungsabkommen zugestimmt. Denn wir haben das für einen richtigen
Schritt gehalten. Aber allein mit diesen Abkommen erreichen wir nicht unser Ziel.
Es gab auf der langen Strecke der DBA-Entwicklung
in den letzten 15 Jahren einen Fortschritt, der jetzt neue
Schritte erforderlich macht. Die neuen Schritte in Richtung automatischer Informationsaustausch sind Sie noch
nicht gegangen. Deshalb haben wir schon oft angeregt,
bei der OECD ein neues Musterabkommen zu erwirken,
wodurch der berühmte Art. 26 OECD-Musterabkommen
in genau diese Richtung geändert wird.
Insofern ist es sinnvoll, richtigen Schritten zuzustimmen, auch wenn man möglicherweise nicht alle Ziele erreicht.
Sie haben noch etwas, wie ich finde, Richtiges zu den
Steuer-CD-Ankäufen gesagt: dass die Höhe der zu erwartenden Beträge spekulativ ist. Das stimmt.
({0})
- Ich weiß, welcher Tagesordnungspunkt an der Reihe
ist. Keine Panik! - Allerdings haben Sie behauptet, dass
10 Milliarden Euro in die Staatskasse fließen könnten,
wenn das von Ihnen bevorzugte Abkommen mit der
Schweiz geschlossen worden wäre. Frage: Wie haben
Sie das berechnet? Liegt dem nicht viel mehr Spekulation zugrunde? Als Herr Koschyk im Ausschuss diesen
Betrag nannte, habe ich ihn in einem Zwischenruf gefragt: Würden Sie das unterschreiben? Darauf hat er klugerweise keine Antwort gegeben. Das ist klar; denn die
Höhe dieses Betrages lässt sich nicht berechnen, sondern
ist Spekulation. In der Zukunft könnte das ein großes
Problem sein.
Zum eigentlichen Thema. Wir sind natürlich für die
Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer, für Bühnenregisseure und -choreografen, für die Steuerbefreiung
des - da merkt man auch, wie kleinmütig man manchmal
sein kann - Taschengeldes für diejenigen, die zivilen
Freiwilligendienst leisten. Wir sind für die längere Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerabzugsverfahren. Wir sind für die neuen Regeln für freiwillig Wehrdienstleistende. Das sind alles gute Maßnahmen.
Der Kollege Gutting hat gefragt: Warum diskutieren
wir darüber eigentlich erst heute? Er hat dann gesagt:
Das ist im Bundesrat alles blockiert worden. - Nein,
Olav; das ist eine Selbstblockade der Regierungskoalition.
({1})
Wie kommt das zustande? Die Sache ist ganz einfach:
Es passiert immer wieder, dass Dinge, die im Koalitionsvertrag dieser Regierung stehen, im Bundestag plötzlich
abgelehnt werden. Gestern wurde hier sogar ein CDUParteitagsbeschluss eingebracht und von den CDU-Kollegen einstimmig abgelehnt. Was das für eine Politik ist,
bei der man gewissermaßen hier antäuscht und dort dagegen stimmt? Ist doch klar: Bei diesem Widerspruch
gibt es Probleme.
So war das hier auch. Es gab ein zu 99 Prozent abgestimmtes Jahressteuergesetz. Es gab in diesem Gesetz einen einzigen strittigen Punkt, nämlich die steuerliche
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften. Dazu steht
etwas in Ihrem Koalitionsvertrag. Indem Sie sogar gegen
Ihren Koalitionsvertrag verstoßen, haben Sie die anderen
99 Prozent des Gesetzes zu Fall gebracht. Deshalb gibt
es hier keine Blockade durch den Bundesrat, sondern
eine Selbstblockade dieser Koalition.
({2})
Dass dies alles relativ chaotisch abläuft, kann jeder
nachvollziehen; denn man kann einfach nicht erklären,
dass man gegen sich selbst stimmt. Sie benutzen die Opposition nur, um zu begründen, warum Sie gegen sich
selbst stimmen müssen. Das ist eine relativ komplizierte
Angelegenheit.
({3})
Im Vermittlungsergebnis zum Jahressteuergesetz waren gute Regeln enthalten. Jetzt frage ich mich: Warum
sind diese guten Regeln, auf die wir uns schon verständigt hatten, in dem heute vorliegenden Entwurf nicht
mehr enthalten?
({4})
Bei der Einkommensteuer geht es um Goldfinger-Modelle. Das ist jetzt gut geregelt; da gibt es keine Kritik.
Bei der Erbschaftsteuer muss man ein bisschen genauer nachschauen. Was die Gestaltung über CashGmbHs angeht, waren wir uns einig. Mit dem heute vorliegenden Entwurf schaffen Sie erneut ein Schlupfloch.
({5})
Warum? Warum dieser Rückschritt? Wir hatten heute
schon eine Diskussion über Steuerkriminalität und
Schlupflöcher. Jetzt gehen Sie schon wieder in diese
Richtung, und das ist natürlich schlecht.
Zu den Real-Estate-Transfer-Tax-Blockern, den
RETT-Blockern, zur Steuergestaltung bei Grundstückskäufen. Letztlich fehlt dieser Bereich jetzt ganz. Oder
Lothar Binding ({6})
habe ich da etwas überlesen? Wenn Sie mir zeigen, wo
das steht, nehme ich die Aussage zurück. - Ich sage: Es
fehlt im Gesetz. Warum fehlt es?
Eben hieß es noch, der Bundesrat blockiere etwas.
Hier blockiert keiner! Hier lässt die Regierungskoalition
einfach wichtige Dinge aus, verzichtet auf gute Regelungen, weil sie intern vielleicht doch ein bisschen dagegen
ist. Da wird es natürlich schwierig. Wenn man ein bisschen dagegen ist, aber so tun will, als ob man dafür ist,
dann gibt es Widersprüche, und das führt zu Selbstblockaden der eben beschriebenen Form.
Die Anti-Missbrauchs-Regelungen, über die wir gesprochen haben, finden sich zum Teil - ich habe das erwähnt - im Zusammenhang mit der Cash-GmbH wieder.
Jetzt will ich einen Punkt ganz genau vortragen, damit
Sie möglicherweise einen Änderungsantrag formulieren
können: Ein vom Steuerpflichtigen über fünf Jahre im
Unternehmen gehaltenes hohes Barvermögen gilt als unschädliches Verwaltungsvermögen, unabhängig von seiner betrieblichen Erforderlichkeit. Wird dagegen im letzten Jahr vor dem Besteuerungszeitpunkt ein hohes und
betrieblich erforderliches Vermögen eingelegt, gilt der
den Durchschnittswert übersteigende Betrag als schädliches Verwaltungsvermögen. Die Abgrenzung des schädlichen Verwaltungsvermögens anhand des durchschnittlichen Vermögens der letzten Jahre geht somit an den
betrieblichen Erfordernissen vorbei.
Jetzt frage ich Sie, ob Sie dieses Abgrenzungsproblem nicht doch aus dem Gesetz entfernen und die alte
Fassung nehmen können; denn für die alte Fassung,
denke ich, bekommen Sie hier eine Mehrheit. Ich will
sogar ein bisschen forsch sagen: Wenn Sie zu dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zurückfinden, dann
bekommen Sie unsere Zustimmung.
({7})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Daniel Volk.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Binding, Sie haben gerade im Wesentlichen vorgetragen, was in diesem Gesetz
nicht steht, von dem Sie aber meinen, dass es im Gesetz
stehen müsste. Man sollte vielleicht eher einmal darüber
diskutieren, welche Änderungen die Koalitionsfraktionen in diesem Gesetzentwurf vorlegen und welche positiven Auswirkungen diese Änderungen haben,
({0})
sodass wir in diesem Hause am Ende gemeinsam einen
positiven Beschluss, eine gute Steuergesetzgebung für
die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande, fassen.
Wir werden zum Beispiel die Gewerbesteuerzerlegung
bei Windkraftanlagen neu regeln. Das ist ein wichtiger
Punkt; ich denke, insbesondere auch für die Grünenfraktion. Ich kann Sie nur auffordern, dem zuzustimmen, und
zwar nicht aus irgendwelchen Gründen. Sie sollten formulieren, dass es eine wirklich gute Regelung ist, und
sich nicht hinter vorgeschobenen Argumenten verstecken. Sie sollten nicht wegen irgendwelcher fehlenden
Regelungen eine Ablehnung konstruieren.
({1})
Wenn wir die freiwillig Wehrdienstleistenden entlasten, sie bei ihrem Dienst an der Gesellschaft, bei ihrem
Dienst für dieses Land unterstützen, wenn wir diejenigen, die zivilen Freiwilligendienst leisten, entlasten
({2})
und sie bei ihrem Dienst an der Gesellschaft unterstützen, dann müssen doch auch Sie das positiv aufnehmen
und müssen dem doch zustimmen können.
({3})
Also insofern: Lehnen Sie dieses Gesetz nicht ab, sondern machen Sie mit uns eine gute Steuerpolitik!
({4})
Letztendlich muss man sich ja fragen: Was haben Ihnen
denn diejenigen, die freiwillig Wehrdienst oder einen zivilen Dienst leisten, getan, dass Sie Verbesserungen in
diesem Bereich immer wieder mit vorgeschobenen
Gründen ablehnen?
({5})
Die Umsatzsteuerfreiheit für Betreuer ist ein ganz wesentlicher Punkt in einer Gesellschaft,
({6})
in der immer mehr Betreuungsleistungen nötig werden.
Das ist eine wichtige steuerpolitische Entscheidung.
Stimmen Sie dem zu!
({7})
Wenn wir mit diesem Gesetz den Mittelstand durch
die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen von Bürokratie entlasten, was zu einer Entlastung in der Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro führt - übrigens ausdrücklich begrüßt vom Nationalen Normenkontrollrat -, dann
müssen Sie dem doch auch zustimmen können. Denn
auch dort muss man sich fragen: Was haben Ihnen denn
die mittelständischen Unternehmer getan, dass Sie auch
dieses ablehnen wollen?
({8})
Also insofern: Sie können diesem Gesetz mit gutem Gewissen, aus gutem Grund zustimmen.
Sie können diesem Gesetz insbesondere vor dem Hintergrund zustimmen, dass wir ein weiteres Steuerschlupfloch schließen werden, nämlich mit der Regelung
zu den sogenannten Cash-GmbH, womit wir eine missbräuchliche Steuergestaltung verhindern bzw. vermeiden
wollen, und zwar im Interesse einer gerechten Besteuerung aller Steuerpflichtigen. Der Sinn ist ja, dass wir hier
Steuerschlupflöcher schließen wollen.
({9})
Auch da können Sie zustimmen, auch da können Sie ein
positives Votum abgeben. Aber bitte lassen Sie es, sich
hinter vorgeschobenen Argumenten zu verstecken.
Wissen Sie, das Entscheidende an der Sache ist ja,
dass all diese Regelungen schon einmal auf dem Tisch
waren, nämlich vor ungefähr einem halben Jahr hier im
Bundestag.
({10})
Auch da haben Sie Ihre Zustimmung verweigert.
({11})
Im Bundesrat haben auch Ihre Parteifreunde aus den
Landesregierungen, die rot-grün regierten Länder, diese
Regelungen abgelehnt.
Sie können jetzt noch einmal die Chance ergreifen,
diesem Kurs einer vernünftigen Steuerpolitik, einer
Steuerpolitik aus einem Guss zuzustimmen, um auf der
einen Seite diejenigen, bei denen wir Entlastungen vornehmen müssen, auch wirklich zu entlasten und auf der
anderen Seite durch das Schließen von Steuerschlupflöchern eine gerechte Besteuerung aller Steuerpflichtigen
zu gewährleisten. Dem können Sie zustimmen.
({12})
Dementsprechend kann ich Sie nur auffordern: Geben
Sie die Blockadehaltung auf. Machen Sie eine Steuerpolitik für die Bürgerinnen und Bürger,
({13})
für die Steuerpflichtigen in diesem Land. Folgen Sie unserer vernünftigen Finanzpolitik.
({14})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gute Steuerpolitik und FDP, das schließt sich
schon per se aus. Also, diese Grundlage gibt es leider
nicht.
Ich habe in Vorbereitung der heutigen Rede gedacht:
Wo ist die gute alte Zeit hin?
({0})
Früher hießen Jahressteuergesetze auch wirklich Jahressteuergesetz. Da gab es jährlich ein Jahressteuergesetz,
und in das wurde alles hineingepackt, was anzupassen
ist, was notwendig ist. Das wurde diskutiert - auch im
Bundesrat, eventuell im Vermittlungsausschuss - und
verabschiedet.
Diesmal ist es so: Es gab ein Jahressteuergesetz 2013.
Herr Kollege Binding sagte es schon: Aus dem Koalitionsvertrag wurde die steuerliche Gleichstellung der
Eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe - dies
wäre eine Umsetzung Ihrer Positionierung im Koalitionsvertrag - aufgenommen. Deswegen haben Sie alles
platzen lassen. Ich habe im Ausschuss nachgefragt: Herr
Staatssekretär Koschyk, wie ist es, kommt ein neues Jahressteuergesetz? - Nein.
Dann kommt ein Gesetz zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Das ist aber nicht der erste Versuch.
Es gab in der Zwischenzeit schon ein Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz. Das alles sind kleine Jahressteuergesetze 2013.
Also, es findet sich niemand mehr zurecht. Das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz liegt derzeit im Vermittlungsausschuss. Es herrscht ein riesiges Hin und
Her. Den heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sie
ganz schnell durch den Bundestag bringen. Wir haben
uns natürlich die Mühe gemacht, das alles richtig zu bewerten; mein Kollege Binding war sich nicht sicher, ob
er etwas übersehen hat. Interessant ist, dass die Diskussion über das Jahressteuergesetz 2013 im Vermittlungsausschuss eigentlich erfolgreich war.
({1})
Es wurden Kompromisse gefunden. Diese Kompromisse
wurden getragen von der CDU/CSU, der FDP, der SPD,
den Linken und den Grünen. Diese haben Sie abgelehnt.
Nun könnte man den einen Punkt, den Sie nicht haben
wollten, der aber im Koalitionsvertrag steht, herauslassen. Aber die anderen könnte man so verabschieden.
Nein! Im Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz steht
wiederum nur ein Teil davon. Auch im heute vorliegenden Gesetzentwurf steht nur ein Teil. Man versteht nicht,
was. Ich habe mir das einmal farblich gekennzeichnet.
Hier finde ich vier völlig neue Vorschläge, die wir ganz
schnell bewerten müssen. Das ist alles andere als eine
seriöse Steuerpolitik.
({2})
Wir haben schon im Vermittlungsausschuss gesagt,
dass wir natürlich bei den Fragen in Bezug auf die Bühnenchoreografen und Bühnenregisseure übereinstimmen. Auch hinsichtlich der Kindergeldregelung bei Auslandseinsätzen besteht kein Problem.
Aber warum kommen Sie jetzt wieder mit dem
Thema der Verkürzung von Aufbewahrungsfristen? Dies
ist doch durchsichtig. Es geht Ihnen dabei nur darum,
Herrn Steinbrück vorzuführen. Ob es Ihnen gelingt oder
nicht, wird man sehen. Das Thema der Verkürzung von
Aufbewahrungsfristen wurde im Ausschuss länger diskutiert. Ich habe immer wieder nachgefragt, warum Sie
die Verkürzung von Aufbewahrungsfristen wollen. Es
kommt von Ihnen immer wieder das Argument des Bürokratieabbaus. Es geht doch nicht allein um Bürokratieabbau. Das ist doch Quatsch.
({3})
Das meiste wird doch heute elektronisch gespeichert. Ob
Sie die Unterlagen zehn Jahre oder sieben Jahre elektronisch speichern, ist kein Unterschied. Der Computer
bleibt der gleiche; vielleicht brauchen Sie 3 oder 20 CDs
mehr. Diese nehmen nicht sehr viel Platz in Anspruch.
Es stellt sich aber die Frage: Was geht verloren, wenn
die Aufbewahrungsfrist verkürzt wird? Die Prüfmöglichkeit verkürzt sich um drei Jahre. Wenn wir in den
nächsten Jahren mit Steuerausfällen und Mindereinnahmen von bis zu 3 Milliarden Euro - das ergibt sich aus
Ihrem Finanztableau - rechnen müssen, dann nehmen
Sie bewusst, sehenden Auges, in Kauf, dass aufgrund
der fehlenden Prüfmöglichkeiten Steuervermeidung oder
ungerechte Steuerzahlung die Folge sein können.
Mich ärgert besonders - das bezieht sich auch auf die
Debatte zur Wirtschaftskriminalität -: Warum nehmen
Sie hier nicht, wie es im ursprünglichen Jahressteuergesetz 2013 der Fall war, die Regelungen zu Familienstiftungen und Trusts auf? Die fallen einfach weg, und zwar
ohne jegliche Begründung. Bei diesem Gesetzentwurf,
den Sie vorlegen, zeigt sich der Unterschied zwischen
Worten - Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung - und Taten.
Danke.
({4})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Die Linke - Entschuldigung, für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Gerade noch die Kurve gekriegt, Herr Präsident. - Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Am 12. Dezember
hatten wir ein hundertprozentiges Vermittlungsergebnis - ohne die Gleichstellungsfrage. Nur um von dem
Koalitionsstreit um die steuerliche Gleichstellung von
Lebenspartnerschaften, die tatsächlich im Koalitionsvertrag verankert war - darauf wurde schon hingewiesen -,
abzulenken, machen Sie mit der heutigen Vorlage wieder
zwei thematische Fässer auf und legen einen Gesetzentwurf mit Positionen vor, die bereits von Ihren eigenen
schwarz-gelben Landesregierungen beim letzten Durchlauf im Bundesrat abgelehnt worden sind.
({0})
Nur um ein Signal an die eigene Klientel zu senden, nerven Sie uns hier. Ich sage dazu nur: Jeder macht sich so
lächerlich, wie er selber kann.
({1})
Erstes Fass: Aufbewahrungsfristen. Die Aufbewahrungsfristen wollen Sie wieder von zehn auf acht und
später auf sieben Jahre verkürzen. Dadurch entgehen
dem Fiskus jährlich Mehrergebnisse aus Betriebs- und
Außenprüfungen in der Größenordnung von mehreren
Millionen Euro. Das ist auch in der Anhörung, die wir
dazu im Deutschen Bundestag durchgeführt haben, deutlich geworden.
({2})
Außerdem leisten Sie der Verfolgung von Steuerstraftaten einen Bärendienst. Wenn Gesetzeslage ist, dass
Steuerhinterziehung erst nach zehn Jahren verjährt, die
Unterlagen aber nur sieben Jahre aufbewahrt werden
müssen, dann offenbart das Ihr Verhältnis zum Rechtsstaat in Fragen der Steuerhinterziehung. Was soll denn
der Steuerfahnder im neunten Jahr machen? Welche Unterlagen soll er denn prüfen, wenn sie geschreddert sind,
meine Damen und Herren von der Koalition?
({3})
Das zweite Fass sind die Cash-GmbH. Sie legen hier
einen Änderungsvorschlag vor, der die Cash-GmbH wieder verfassungskonform machen soll. Cash-GmbH sind
Gesellschaften, deren einziger Zweck es ist, Steuervorteile zu sichern. Der Bundesfinanzhof hat Ihnen die geltende Regelung um die Ohren gehauen. Deswegen
braucht es eine Änderung. Bisher gab es einen Konsens
dahin gehend, dass dies tatsächlich ein Problem ist und
dass alle gemeinsam dieses Steuerschlupfloch schließen
wollen. Entsprechend hat man sich auf einen Vorschlag
im Vermittlungsausschuss geeinigt. Sie machen hier
wieder ein Fass auf. Wenn man sich Ihre Regelung anschaut, dann stellt man fest: Sie wollen das Steuerschlupfloch gar nicht schließen, sondern Sie wollen es
weit auflassen, Sie wollen es nur gesetzeskonform machen. Kommen Sie zu der alten Regelung zurück!
({4})
Was haben Sie vor? Wenn es im Unternehmensverbund irgendwo mehr als 20 Arbeitskräfte gibt, dann
kann noch so viel Privatvermögen umgeschichtet werden, aber eine Cash-GmbH wäre es nach Ihrer Formulierung nicht mehr.
Aber das reicht Ihnen noch nicht einmal aus. Sie setzen noch eins drauf, und zwar richtig. Sie wollen auch
noch Finanzdienstleistungsinstitute von der Regelung
ausnehmen. Ich verstehe das nicht. Das kann doch nicht
wirklich Ihr Ernst sein. Finanzdienstleistungen sind glasklar nicht begünstigtes Verwaltungsvermögen. Jetzt
muss der Cash-GmbH nur noch der Hauptzweck Finanzdienstleistung angepinnt werden - das wäre noch nicht
einmal gelogen -, und schon fällt deren Vermögen aus
der Besteuerung heraus, wenigstens zu 50 Prozent. Mit
Ihrer Regelung schaffen Sie neue Umgehungswege. Da
ist das nächste BFH-Urteil vorprogrammiert. Ihre Regelung retten Sie höchstens bis zur Bundestagswahl, aber
definitiv keinen Tag darüber hinaus.
({5})
Deswegen fordere ich Sie noch einmal auf: Kehren
Sie zu dem Ergebnis, auf das man sich im Vermittlungsausschuss zu 100 Prozent geeinigt hat, zurück. Dann,
Herr Gutting, wird es auch von uns hier und im Bundesrat eine Zustimmung dazu geben.
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich erneut dem Kollegen Dr. Mathias Middelberg
das Wort.
({0})
Herr Präsident, herzlichen Dank. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Ich will mir ganz kurz erlauben, auf den Kollegen Binding und das schöne Schweizer Steuerabkommen einzugehen. Ich will gerne noch
einmal erklären, wie man auf eine Schätzung von
10 Milliarden Euro kommen kann; man kann den Betrag
natürlich nicht exakt berechnen. 2 Milliarden Euro wären ohnehin von den Schweizer Banken garantiert gewesen. Die wären in jedem Fall geflossen; auf die haben
wir jetzt definitiv verzichtet.
Wir hätten in jedem Fall mehr erlangt. Selbst wenn
wir durch den Ankauf aller möglichen Steuer-CDs alle
Steuersünder in der Schweiz hätten identifizieren und
nachträglich besteuern können, wäre diese Besteuerung
immer nur auf die Zinserträge fällig gewesen. Bei unserer Regelung und laut unserem Steuerabkommen wäre
immer das gesamte Kapital, also das ganze Geld, das die
Leute in die Schweiz geschafft haben, besteuert worden,
der gesamte Haufen, nicht nur die Erträge daraus, die
über die Jahre erzielt worden wären.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, natürlich,
denklogisch - das ist für den Grundschüler, der in der
ersten Klasse Mathematik hat, einfach auszurechnen erlangt man dabei deutlich höhere Steuererträge, als
wenn man nur die Zinsen besteuert. - Das vorweg.
({1})
Nachdem wir die Dinge so weit berichtigt hätten,
würde ich gerne zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf etwas sagen. Zum Thema Cash-GmbH ist das Zutreffende vom Kollegen Volk ausgeführt worden. Ich
würde gerne auf das Thema Aufbewahrungsfristen eingehen. Die Kollegin Höll hat eben gesagt, es gehe uns
hier nur darum, den Kanzlerkandidaten der SPD vorzuführen.
({2})
- Das macht er selbst; das ist völlig richtig. - Aber an diesem Punkt bin ich einmal ganz präzise. Ich finde, dass sich
die Widersprüchlichkeiten summieren. Herr Steinbrück
sagt das eine, die SPD sagt etwas anderes; Herr
Steinbrück sagt etwas, die SPD rudert zurück. Ich habe
das eben anhand der bundesweiten Steuerfahndung erklärt: Steinbrück will die bundesweite Steuerfahndung.
Wir sind einverstanden und sagen zu, das zu machen;
aber eure Länder sagen: Nein, das machen wir doch
nicht. Es geht nicht darum, ihn vorzuführen. Man stellt
sich bei alldem die Frage - darum geht es -: Inwieweit
ist Steinbrück, inwieweit sind die Aussagen dieses Mannes überhaupt noch glaubwürdig? ({3})
Das ist die entscheidende Frage. Die Wähler wollen
doch im September wissen, wen sie wählen können, und
wollen im Vorfeld verlässliche Aussagen erhalten. Es
kann nicht so sein wie 2005, als ihr Wahlkampf gegen
die „Merkel-Steuer“ gemacht habt. Ihr habt polemisiert
und gesagt, es sei ganz furchtbar, wenn die „MerkelSteuer“, also eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte komme. Nachher, als ihr mitregiert habt, kam
es dann zu einer Erhöhung um 3 Prozentpunkte. Sagen
wir es doch ganz offen: Ihr habt die Leute getäuscht; das
war nicht sauber.
({4})
- Der Unterschied ist: Wir haben vorher gesagt, was wir
machen wollen; ihr habt genau das Gegenteil gesagt,
habt damit eine Wahlentscheidung für euch erreicht und
habt euch nachher umentschieden. Solch ein Verhalten
ist nicht korrekt.
({5})
Jetzt kommen wir zu den Aufbewahrungsfristen und
schauen einmal ganz genau hin. Am 4. März hat euer
Kanzlerkandidat Peer Steinbrück
({6})
in den Siegener Thesen für den Mittelstand, also für die
kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland,
({7})
verkündet:
Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kostenträchtige Regelungen abgeschafft werden …
({8})
Das hat Steinbrück gesagt. Dann nennt er ausdrücklich
die „Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rechnungen und Belege“.
({9})
- Aha! - Exakt das ist Gegenstand unseres Gesetzentwurfs.
({10})
Sie haben uns eben beredt erklärt, warum das alles
furchtbar ist und zu Missbrauch führe. Sie sagten, es
würde die Steuerhinterziehung erleichtern.
({11})
Der Gesetzentwurf setzt aber die Forderung von Peer
Steinbrück, dem Kanzlerkandidaten der SPD, um; genau
das legen wir euch jetzt hier vor. Wir sagen: Das ist
heute die Stunde der Wahrheit für Peer Steinbrück und
die SPD.
({12})
Ihr müsst euch heute dazu bekennen. Was gilt denn jetzt:
die Aussagen des Kanzlerkandidaten zur „Fußfessel“
oder die Aussagen, die die SPD von Woche zu Woche
mal so oder mal wieder anders trifft? - Hier geht es um
Glaubwürdigkeit.
({13})
Ich sage es ganz nett und freundlich: Euch kann am
22. September einfach keiner wählen, weil man gar nicht
weiß, was am Ende herauskommt.
({14})
Steinbrück wollte keine Vermögensteuer, weil er genau
wusste, dass der unternehmerische Mittelstand und die
kleinen Unternehmen die Vermögensteuer in schlechten
Jahren aus der Substanz zahlen müssten. Ich sage es einmal ganz deutlich: Es geht da nicht nur um reiche, faule
Säcke, die irgendwo auf Mallorca im Cayenne - oder
was weiß ich - herumfahren. Das ist das Bild, das immer
erzeugt wird, wenn von der Vermögensteuer die Rede
ist. Da hätte ich gar nichts dagegen: Wenn die mehr bezahlen würden, wäre das in Ordnung. Aber man kann bei
der Vermögensteuer gar nicht zwischen betrieblichem
und privatem Vermögen differenzieren. Das bekommt
man gar nicht hin; da machen das Bundesverfassungsgericht und der Bundesfinanzhof nicht mit. Man bekommt
eine solche Differenzierung nicht hin.
Euer eigener Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Herr Kretschmann, und sein Finanzminister, Herr
Schmid, weisen darauf hin, dass eine solche Unterscheidung gar nicht möglich ist. Ihr suggeriert den Leuten, da
käme etwas; aber das ist gar nicht zu schaffen. Es ist
Schwachsinn hoch zehn. Die Leute werden wieder getäuscht.
({15})
Steinbrück war klug genug, vorher zu sagen, dass die
Einführung einer solchen Vermögensteuer nicht möglich
ist. Aber ihr verkauft den Leuten jetzt diesen Popanz, damit sie euch wählen. Nach der Wahl sagt ihr dann: Das
ist jetzt aber ganz schwer umzusetzen; jetzt machen wir
es doch anders und erhöhen einfach pauschal die Steuern.
({16})
Was ihr macht, ist ein Katastrophenprogramm: Wir
würden eine riesige Steuererhöhungsorgie erleben, die
alle Steuerarten betrifft. Wahrscheinlich würde doch
noch eine neue Vermögensteuer eingeführt.
({17})
Dann hätten wir die gleichen Verhältnisse wie in Frankreich: Da gibt es schon hohe Steuersätze, da gibt es eine
Vermögensteuer. In Europa gibt es die Vermögensteuer
nur in Spanien und Frankreich.
({18})
Das sind die beiden Länder, die in Europa leider am Boden liegen. Die Franzosen fahren im Moment wirtschaftlich vor die Wand. Sie haben mit dem Steuerrecht, das
ihr erreichen wollt,
({19})
heute eine zweimal so hohe Arbeitslosenquote und eine
dreimal so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie wir. Das ist
nicht unser Ziel.
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13082 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Recht auf ein Guthabenkonto einführen Kontopfändungsschutz sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verbraucherrecht auf ein kostenloses Girokonto für alle gesetzlich verankern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherrecht auf Basisgirokonto für
jedermann gesetzlich verankern
- Drucksachen, 17/7823, 17/8141, 17/7954,
17/9798 Buchstabe b bis d Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Holger Krestel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ralph Brinkhaus für die Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um
noch einmal die vorausgegangene Debatte und den Beitrag von Herrn Kollegen Middelberg aufzugreifen: Es ist
schon erstaunlich, dass die SPD im Wahlkampf durch
die Gegend rennt und sagt „Von Frankreich lernen heißt
siegen lernen“, dabei ist genau das Gegenteil der Fall.
Jetzt geht es um das Girokonto. Das ist in der Tat ein
ernstes Thema. Wir alle wissen, dass man heutzutage das
meiste, was man erledigen muss, nicht mehr bar, sondern
nur noch unbar erledigen kann. Das bedeutet, dass jemand, der kein Konto hat, von wesentlichen Teilen des
Lebens ausgeschlossen ist, dass die Teilhabe nicht möglich ist.
Es ist gut und wichtig, dass wir dieses Thema immer
wieder analysieren, dass wir uns damit beschäftigen.
Deswegen hat die Unionsfraktion zusammen mit der
FDP schon im letzten Jahr einen Antrag auf den Weg gebracht, der auch im Bundestag verabschiedet worden ist.
In diesem Antrag wurde die Bundesregierung aufgefordert, sich bei den anstehenden europäischen Verhandlungen, die im Übrigen hoffentlich in den nächsten Wochen
durch einen guten Vorschlag vorangebracht werden, einzusetzen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, auf ein Girokonto zuzugreifen, dass sich die
Kosten für dieses Konto in einem angemessenen Rahmen bewegen und dass, wenn irgendetwas schiefläuft,
ein Schlichtungsverfahren stattfinden kann.
Noch etwas zum Thema Schieflaufen. Wir können
- auch wenn das von der linken Seite hin und wieder gefordert wird - nicht jede Bank verpflichten, jeden Kunden anzunehmen. Es gibt auch Fälle, in denen das
schlichtweg nicht geht, in denen es Konflikte gibt. Deswegen ist es durchaus legitim, dass eine Bank sagt: Nein,
diesen Kunden kann ich nicht aufnehmen, ich will ihn
nicht haben. Für einen solchen Fall gibt es dann das
Schlichtungsverfahren.
Nach der Verabschiedung des Antrages ist Folgendes
passiert: Die Sparkassen haben sich bereit erklärt, ein
Bürgerkonto einzurichten. Dieses Bürgerkonto soll genau das, was wir auf europäischer Ebene fordern, umfassen. Dieses Bürgerkonto soll flächendeckend angeboten
werden; Sparkassen sind mit über 420 Instituten bis ins
kleinste Dorf in Deutschland vertreten. Das Bürgerkonto
soll Menschen, die kein oder wenig Einkommen haben,
den Zugang zur Teilhabe sichern. Die Kosten für das
Bürgerkonto sollen sich in einem angemessenen Rahmen bewegen. Es soll auch einen Schlichtungsmechanismus geben, falls irgendetwas schiefläuft.
Man muss feststellen, dass ein Großteil der Problematik, zumindest hier in Deutschland, damit erst einmal
ausgeräumt ist.
({0})
Sparkassen sind öffentlich-rechtliche Kreditinstitute, die
den Auftrag haben, so etwas zu machen; teilweise sind
sie durch Landesgesetze verpflichtet, so etwas zu machen. Sie haben sich dieser Aufgabe auch über den gesetzlichen Rahmen hinaus angenommen. Man kann den
Sparkassen wirklich nur Dank und Lob zollen. Sie haben
sich nicht nur bereit erklärt, das zu tun. Sie haben durch
intensive Zusammenarbeit mit der Presse darauf aufmerksam gemacht, dass es diese Möglichkeit gibt. Das
ist gut und richtig. Ich würde mir wünschen, dass die anderen Säulen der deutschen Kreditwirtschaft den Sparkassen an dieser Stelle nachfolgen, weil dadurch eine signifikante Verbesserung für die Verbraucher in unserem
Land erreicht werden kann.
Das Tolle an dieser Sache ist: Das, was wir von der
Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag wollten, nämlich dass ein Schlichtungsverfahren gesetzlich
auf den Weg gebracht wird, ist gar nicht mehr nötig. Es
ist immer besser, wenn die Dinge durch eine freiwillige
Selbstverpflichtung geregelt werden, als wenn wir als
Gesetzgeber agieren müssen.
({1})
Bezüglich unserer Forderungen auf europäischer
Ebene ist festzustellen: Die Kommission wird in den
nächsten Wochen Vorschläge unterbreiten. Wir werden
auf europäischer Ebene eine Regelung finden. Da die
Problematik zum großen Teil gelöst ist, besteht unseres
Erachtens keine Notwendigkeit, jetzt im Sinne Ihrer Anträge weiter zu handeln, insbesondere nicht im Sinne des
Antrags der Linken, die sogar ein kostenloses Konto für
jedermann fordern. Es gibt kein Menschenrecht auf ein
Girokonto.
({2})
Dementsprechend halte ich diese Forderung für recht anspruchsvoll.
Man könnte die Debatte an dieser Stelle abschließen.
Aber es geht nicht nur um das Girokonto, sondern um
den Verbraucherschutz im Allgemeinen. Die Opposition
liefert uns immer wieder Steilvorlagen, wenn sie Debatten zum finanziellen Verbraucherschutz fordert. Ich
möchte die Gelegenheit gerne nutzen und an dieser
Stelle erklären: Keine Bundesregierung hat so viel für
den finanziellen Verbraucherschutz getan wie diese Bundesregierung.
({3})
Diese Bundesregierung hat angefangen mit dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, mit
dem die Qualität der Wertpapierberatung durch die Einführung von Produktinformationsblättern verbessert
worden ist. Wir haben uns auch mit den offenen Immobilienfonds beschäftigt.
Diese Bundesregierung hat die europäische OGAWIV-Richtlinie so umgesetzt, dass es zu einem qualitativ
besseren Verbraucherschutz im Investmentbereich gekommen ist. Zum Beispiel wurde ein Key-Investor-Information-Document eingeführt.
Diese Bundesregierung hat den Bereich der Finanzanlagevermittler reguliert. Sie hat damit einen bisher
grauen Bereich des Kapitalmarktes in die Regulierungszuständigkeit geholt und dafür gesorgt, dass es auch in
diesem Bereich eine qualitativ gute, sachkundige Beratung und auch eine Haftung gibt.
Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass die
Provisionen im Bereich der privaten Krankenversicherungen gedeckelt worden sind. Im Übrigen wurden auch
neue Provisionsregeln im Bereich der Lebensversicherungen auf den Weg gebracht.
Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass das
Verbraucherschutzelement zum ersten Mal überhaupt
Thema der Aufsicht wurde. Jetzt gibt es Beiräte und
Richtlinien.
Diese Bundesregierung hat in den letzten Wochen das
AIFM-Umsetzungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit
machen wir einen riesigen Sprung hinsichtlich der Qualität des Verbraucherschutzes im Bereich der geschlossenen Fonds, aber auch im Bereich der offenen Fonds.
Diese Bundesregierung evaluiert momentan die Beratungsprotokolle. Diesbezüglich läuft es noch nicht so
gut. Als wir, Schwarz-Rot, das damals eingeführt haben,
haben wir gedacht, das würde besser laufen. Das evaluieren wir momentan. Auch diese Regelungen werden wir
anpassen.
({4})
Diese Bundesregierung hat ganz viele kleine Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich nenne die Haftungsfristen und die Gebühren für die Nutzung von Geldautomaten.
Diese Bundesregierung hat vor allen Dingen eines für
den Verbraucherschutz getan: Sie hat mit über 25 Gesetzen und Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Finanzmärkte sicher und stabil sind.
({5})
Meine Damen und Herren, wir sind Ihnen sehr, sehr
dankbar, dass Sie uns durch Ihre Anträge immer wieder
eine Vorlage bieten, uns immer wieder die Möglichkeit
geben, auch hier im Plenum darauf hinzuweisen, welch
großartige Arbeit in Bezug auf den sogenannten finanziellen Verbraucherschutz vom Finanzministerium
- Staatssekretär Koschyk ist anwesend - und natürlich
auch von der Verbraucherschutzministerin, Frau Aigner,
erbracht worden ist. Jüngstes Beispiel ist das Gesetz zur
Honoraranlageberatung, das wir in der nächsten Woche
hier im Deutschen Bundestag verabschieden werden.
({6})
Ich fasse das Ganze einmal zusammen: Das Girokonto ist ein ernstes Thema. Dank der Sparkassen ist das
zunächst einmal abgeräumt. Auf europäischer Ebene
wird das Ganze institutionell verankert. Auch das wird
gut laufen. Zum Verbraucherschutz insgesamt: Keine
Bundesregierung hat eine derart gute Bilanz hinsichtlich
des Verbraucherschutzes vorzuweisen wie diese Bundesregierung. Ich kann Ihnen eines versichern: Auch in der
nächsten Legislaturperiode wird der finanzielle Verbraucherschutz eines der Kernelemente unseres politischen
Bemühens sein, um die Finanzmärkte stabiler und sicherer zu machen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
hier gerade angesprochene Bilanz der Bundesregierung
im Bereich der Verbraucherpolitik ist leider überhaupt
nicht so, wie sie hier dargestellt wurde.
({0})
Sie haben nicht viel mehr geleistet, als eine ganze
Reihe dicker Papierberge auf den Weg zu bringen. Sie
haben nicht mehr geleistet, als in vielen Sektoren Verfahren auf den Weg zu bringen, die nicht funktionieren.
Ich verweise nur auf die verschiedenen Protokolle. Sie
haben die Aufsicht so organisiert, dass die schlimmsten
und schwierigsten Bereiche unten durchrutschen können. Ich verweise nur darauf, dass die Gewerbeaufsichtsämter für einen gefährlichen Bereich zuständig sind, für
den Bereich der freien Berater. Das war eine Folge des
Lobbydrucks. Das ist, was Sie hinbekommen haben. Auf
dem Gebiet des Verbraucherschutzes ist man in dieser
Republik nicht so weit gekommen, wie man hätte kommen können. Dafür hat die schwarz-gelbe Regierung die
Verantwortung.
({1})
Hier singen Sie nun wieder dasselbe Lied: Sie predigen die Selbstverpflichtung der Branche. Ich will hier
ausdrücklich sagen: Ich begrüße es, dass die Sparkassen
darauf reagiert haben und versuchen, ein erweitertes
freiwilliges Angebot zu unterbreiten. Aber wir alle hier
wissen doch, dass dieser Weg nicht zu einer Lösung führen wird. Erstens kann es nicht sein, dass sich nur ein
Bereich des Finanzsektors ernsthaft dieses Problems annimmt. Wir müssen den gesamten Finanzsektor heranziehen. Zweitens gibt es Selbstverpflichtungen in diesem
Bereich seit 1995. Seit 18 Jahren ist nichts passiert.
Trotzdem gehen Sie diesen Weg weiter. Das zeigt, dass
Sie nicht wollen, dass etwas passiert, dass die Menschen
Angebote bekommen.
({2})
Ich will noch einmal sagen, warum das ein wichtiges
und dringendes Thema ist: In Deutschland haben nach
wie vor etwa 670 000 Bürgerinnen und Bürger keinen
Zugang zu einem Girokonto, weil der Appell an die Freiwilligkeit nicht gereicht bzw. nichts genützt hat. Das
heißt, man hat keine Möglichkeit, per EC-Karte Geld am
Automaten abzuheben, man hat keine Möglichkeit, verschiedene Geldfunktionen wahrzunehmen oder eine Zeitung zu abonnieren; denn dies läuft über Daueraufträge.
Dies gilt vor allem auch für Mietzahlungen. Nein, man
muss ständig zum Bankschalter und Einzelüberweisungen machen, und das kostet Geld. Dies trifft gerade die
Menschen, die nicht genug Geld haben, um sich das erlauben zu können. In der Regel kostet es 10 Euro pro
Fall.
({3})
Das sorgt für tiefgreifende Unsicherheit und Ungerechtigkeit, die Sie festschreiben wollen, indem Sie diese
Zweiklassengesellschaft nicht beseitigen.
({4})
Ich will Ihnen übrigens auch den Hinweis nicht ersparen, den uns in den Beratungen bzw. in der Anhörung,
die wir dazu durchgeführt haben, die Bundesagentur für
Arbeit vorgetragen hat. Das Fehlen eines Girokontos bedeutet eben auch, dass Bürokratiekosten erzeugt werden.
Die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass die dadurch entstehenden Gebühren wie Mahngebühren und anderes sie
jährlich etwa 10 Millionen Euro kosten.
Darum schlagen wir vor, nicht auf eine Brüsseler Regelung zu warten - Sie haben ja zugestanden, dass Sie
deshalb noch keine Regelung wollen -, sondern jetzt
hier zu handeln, wie es in anderen Bereichen ja auch gemacht wurde. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die vorsieht,
dass ein solches Girokonto eingeführt wird; natürlich
würde das eine Verpflichtung für den Sektor bedeuten.
Für den Umgang mit Härtefällen wird man eine entsprechende Regelung ins Gesetz aufnehmen können. Das ist
kein Argument gegen eine verbindliche Regelung.
Wir wollen ein solches Gesetz in Deutschland, wie es
schon viele andere Länder in Europa haben. Warum
muss Deutschland immer der Letzte im Geleitzug sein?
({5})
Das liegt in der Tat an Schwarz-Gelb. Wir wollen, dass
es in Deutschland an der Stelle Gleichberechtigung und
gleiche Möglichkeiten gibt.
({6})
- Weil sie das vernünftig gesetzlich auf Bundesebene
machen müssen. Das wissen auch Sie. Sie müssen einen
vernünftigen Rahmen dafür schaffen; das geht nicht mit
Einzelvorgängen.
({7})
Wir sind übrigens auch entschieden dafür, dass man
das Ganze mit einem Ausbau der Schuldnerberatung und
mit einem Ausbau der Verbraucherberatung begleitet.
Denn auch das brauchen wir in diesem Land.
({8})
Das ist konkreter Verbraucherschutz. Wenn Ordnung auf
den Märkten herrscht, führt das auch zu einer Stabilisierung der Finanzmärkte. Das ist etwas anderes als das
Werfen von Nebelkerzen, wie Sie es seit dreieinhalb Jahren im Verbraucherschutz machen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Holger Krestel
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Sieling, bei diesem bunten Strauß von Forderungen, den Sie hier eben ansprachen,
({0})
müssen Sie dazu sagen, dass an jeder dieser Forderungen
ein Preisschild klebt. Sagen Sie den Menschen bitte
auch, wer das am Schluss bezahlen muss. Die ganz
große Mehrheit der Menschen in diesem Land, die ihren
Verpflichtungen regelmäßig nachkommt, muss die
kleine Minderheit, die dazu nicht gewillt ist, mitfinanzieren.
Ich komme zum Inhalt der Anträge. Nachdem wir uns
ja nun schon vor circa einem Jahr intensiv mit diesem
Thema auseinandergesetzt haben, hat sich eine Menge
getan. Das Girokonto ist zur vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherlich notwendig, und wem dies
verwehrt bleibt, der erleidet durchaus Nachteile. Wir
müssen aber auch da nach den Ursachen fragen.
Diese Problematik haben die Regierung und die Koalitionsfraktionen erkannt. Wir haben im September
2012 mit Freude zur Kenntnis genommen, dass alle öffentlich-rechtlichen Sparkassen eine bindende Selbstverpflichtung zur Einrichtung eines Bürgerkontos abgegeben haben.
({1})
Sie umfasst die Zusage, dass die von der Schlichtungsstelle des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes getroffenen Entscheidungen stets von den Instituten als
verbindlich anerkannt werden. Dieser Beschluss geht sogar über unsere Forderungen hinaus und erfüllt die Forderungen der Bundesregierung aus dem Bericht zum Girokonto für jedermann. Diese Verfahren sind gerade für
den Verbraucher bürokratieärmer und viel leichter zugänglich als der Gang über die ordentlichen Gerichte.
({2})
Übrigens: Sie tun ja immer so, als ob diese Probleme
erst in den letzten Jahren entstanden seien. Aber es gibt
sie schon viel länger. Die Regelung, die wir jetzt erreicht
haben, auch durch unser Handeln, ist etwas, was kein sozialdemokratischer Finanzminister in elf Jahren und
keine grüne Verbraucherschutzministerin in vier Jahren
geschafft haben.
({3})
Aufgrund der bindenden Selbstverpflichtung der
Sparkassen ist hier derzeit kein Handlungsbedarf mehr
erkennbar. Die schon seit 1995 existierende, jedoch nicht
bindende Empfehlung des Verbandes der deutschen Kreditwirtschaft hat zwar Erfolge gezeigt, konnte jedoch nie
die lückenlose Deckung erzielen, die die Sparkasse nun
zweifellos erreichen wird.
({4})
Unter uns allen ist es sicher Konsens, dass sich langfristig auch die privaten Institute stärker an der Kontogrundversorgung der Bevölkerung beteiligen müssen.
Ein zentraler Punkt des Antrags der Koalitionsfraktionen vom letzten Jahr war schließlich, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, sich bei der Kommission für
eine einheitliche Lösung auf EU-Ebene starkzumachen.
In Zeiten von SEPA mit einem gesamteuropäischen Zahlungsraum brauchen wir keine nationalen Alleingänge,
sondern klare und einfache Regelungen über Grenzen
hinweg.
({5})
Deshalb ist die Bundesregierung unserem Antrag gefolgt. Die Kommission hat bereits für das Frühjahr dieses Jahres eine Richtlinie im Hinblick auf den Zugang zu
einem sogenannten Basiskonto angekündigt. Auch wenn
das Frühjahr erst diese Woche wirklich angekommen ist,
müssten wir Ihre Anträge theoretisch jetzt schon wieder
an die europäischen Vorgaben anpassen, bevor irgendwelche Regelungen überhaupt in Kraft treten könnten.
({6})
Deswegen lehnen wir diese ab.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sage und schreibe 30 Millionen EU-Bürger besitzen kein Girokonto. Alleine in Deutschland sind
schätzungsweise 700 000 Menschen ohne ein Konto.
Wir sprechen also beileibe nicht über ein Randphänomen, sondern über eine wichtige Frage sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Für uns als Linke
ist seit langem klar, dass hier endlich etwas passieren
muss.
Kein Girokonto zu haben, schränkt jeden Menschen
im Alltag stark ein. Weil ich manchmal das Gefühl habe,
dass es noch nicht alle wirklich begriffen haben, möchte
ich Ihnen einige Beispiele nennen: Wer kein Girokonto
hat, der kann eben nicht bequem per Bankeinzug und
Dauerauftrag Miete, Strom- oder Telefonrechnungen bezahlen. Mal eben im Supermarkt mit der EC-Karte zu
bezahlen, geht nicht. Und am Geldautomaten Geld abzuheben, funktioniert auch nicht. Man kann auch niemandem Geld überweisen.
Welche Menschen sind davon betroffen? - Es sind
oftmals diejenigen, die überschuldet sind, die erwerbslos
sind oder gleich beides sind, denen die Banken ein
Konto verweigern.
Kein Girokonto zu haben, wird für sie dann zu einem
doppelten Problem. Sie sind dadurch, dass sie keine
Kontoverbindung angeben können, benachteiligt, wenn
es darum geht, eine Wohnung anzumieten oder eine Arbeit aufzunehmen. Zusätzlich wird es auch noch richtig
teuer, denn Barein- und Barauszahlungen lassen sich die
Banken mit bis zu 15 Euro pro Überweisung bezahlen.
({0})
Das heißt, die Banken verdienen an der sozialen Notlage
dieser Menschen kräftig mit. Hier dürfen wir nicht länger zusehen.
({1})
Genau deswegen setzen wir uns als Linke seit vielen
Jahren für ein kostenloses Girokonto für alle ein. Das
vertreten inzwischen auch die Sozialverbände. Ich freue
mich, dass es mittlerweile Anträge von allen Oppositionsfraktionen, also von Linken, SPD und Grünen, gibt,
die im Kern das gleiche Anliegen, nämlich das Recht auf
ein Girokonto, verfolgen.
Man muss der Ehrlichkeit halber schon sagen - das ist
schon erwähnt worden -, dass auch die rot-grüne Bundesregierung hier nichts Wesentliches geändert hat.
Auch SPD-Kollegen haben vor einigen Jahren in Plenardebatten noch gesagt: Lasst uns mal auf die freiwilligen
Selbstverpflichtungen setzen. Dann wird es schon irgendwann etwas werden. - Unter Schwarz-Rot wurde es
nicht besser. Auch unter Schwarz-Gelb, wie wir heute
gehört haben, gibt es keine ernsthaften Bestrebungen,
ein Girokonto für alle einzuführen. Alle setzen auf die
Selbstverpflichtung der Banken. Das Ergebnis ist, dass
Hunderttausende immer noch kein Konto haben. Deswegen sagen wir als Linke: Selbstverpflichtungen bringen
es nicht. Wir brauchen endlich eine gesetzliche Regelung.
({2})
Es kann ja sein, dass es bisher kein Recht auf ein Girokonto gibt, Herr Brinkhaus, aber wir als Linke wollen es
einführen. Ich finde, das wird höchste Zeit.
({3})
Es gibt immer wieder das eine oder andere Argument,
mit dem das Recht auf ein Girokonto abgelehnt wird.
Sehr abenteuerlich fand ich das Argument der FDP, dass
es irgendjemand bezahlen muss. Da sage ich als Bankkundin ganz ehrlich: Ich sorge mit meinen Kontoführungsgebühren lieber dafür, dass arme Menschen ein Girokonto erhalten, als für die Boni der Bankmanager. Ich
würde mich freuen, wenn Sie das auch endlich so sehen
würden.
({4})
- Das ist keine marxistische Mottenkiste. Ich wiederhole
diesen Zwischenruf, damit es alle hören. Ich finde, es ist
ein Grundrecht, dass jeder Mensch am gesellschaftlichen
Leben teilhaben kann. Dass die FDP dies nicht genauso
sieht, haben jetzt alle hier noch einmal gehört.
({5})
Folgendes kann ich ebenfalls nicht akzeptieren: Es ist
schön, dass die Sparkassen jetzt Basiskonten anbieten
werden - das ist gut so -, aber was wir als Linke nicht
akzeptieren, ist, dass es wieder die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Banken ist, den armen Kunden ein
Bankkonto anzubieten, und sich die privaten Banken die
besseren Kunden, die zahlungskräftigen Kunden heraussuchen. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit wirklich
nichts zu tun.
({6})
Meine Damen und Herren, wer heute kein Girokonto
hat, der kann am sozialen Leben nicht teilnehmen. Wir
freuen uns sehr, dass von der EU jetzt endlich eine Initiative kommt. Was ich aber nicht durchgehen lassen kann,
ist, dass Sie sagen: Irgendwie ist es doch ganz schlimm,
aber warten wir doch mal ab, was von der EU kommt. Ich finde, man kann sich hier nicht hinter der EU verstecken. Man kann auch hier im Deutschen Bundestag endlich das Recht auf ein Girokonto einführen. Das wird
höchste Zeit.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kontolosigkeit in Deutschland ist ein ernstzunehmendes
Problem; so steht es im mittlerweile sechsten Bericht der
Bundesregierung zur Umsetzung der freiwilligen Selbstverpflichtung.
({0})
Da finde ich es schon sehr interessant, dass die Kollegen
Brinkhaus und Krestel mit ihren prophetischen Gaben
vorhergesehen haben wollen, dass eine weitere Selbstverpflichtung, nämlich der Sparkassen, das Problem in
absehbarer Zeit lösen wird. Ich finde, diese Argumentation hat logische Schwächen; aber das müssen Sie unter
sich abklären.
({1})
Im Antrag von Schwarz-Gelb zum Basiskonto stehen
gute Analysen. Dort steht zu Recht:
Die Führung eines Kontos für die Bürgerinnen und
Bürger … ist daher Bindeglied zum Wirtschaftskreislauf und Teil der gewöhnlichen Lebensführung.
Diese Analyse stimmt; aber eine Analyse ist in der Politik immer nur so gut wie die Taten, die aus ihr folgen,
und da haben wir von Ihnen bisher sehr wenig gesehen.
({2})
Immer noch haben schätzungsweise 670 000 Menschen
in Deutschland kein Konto und können damit ihr soziales Grundrecht auf Teilhabe am Markt nicht umsetzen.
Diese Menschen warten darauf, dass etwas getan wird,
dass sie nicht länger vom bargeldlosen Zahlungsverkehr
ausgeschlossen bleiben und damit von Verträgen wie bei
Telekommunikation, Miete, Strom und anderen Dingen,
überhaupt vom Geschäftsverkehr im Netz. Noch immer
sind sie gezwungen, ihre Bankgeschäfte hart an der
Grenze zur Illegalität abzuwickeln: über Konten von
Freunden oder Verwandten. Scham und peinliche Situationen bleiben ihnen damit nicht erspart.
Einige Kolleginnen und Kollegen sind schon auf das
Thema Baranweisungen eingegangen. Das ist ein lebenspraktisches Beispiel, mit dem Sie sich einmal in die
Situation eines Menschen ohne Konto hineinversetzen
können, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP. Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten für jede
Transaktion von Ihrem Konto aus zwischen 3 und 7 Euro
Gebühren zahlen: wenn Sie den Beitrag zum Fußballverein Ihres Sohnes zahlen, wenn Sie die Miete zahlen,
wenn Sie für den Strom zahlen, wenn Sie fürs Wasser
zahlen, wenn Sie Ihrer Tochter, die auswärts studiert,
50 Euro überweisen - jedes Mal zwischen 3 und 7 Euro
Gebühren. Da bleibt gerade bei armen Menschen am
Ende des Monats nichts übrig.
({3})
- Herr Krestel, wenn Sie sagen: „Die Leute sind selbst
schuld, sie wollen sich in der Hängematte ausruhen“,
dann sagt das mehr über die FDP aus als über die Menschen ohne Konto.
({4})
Die Menschen, die kein Konto haben, brauchen die
Hilfe des Gesetzgebers. Ich finde die Wurstigkeit, mit
der Sie dieses Thema hier behandeln, schwer erträglich.
({5})
- Wenn Ihnen die Moral nicht sympathisch ist, dann
schauen Sie sich die Zahlen an: Auch die öffentliche
Hand erwartet sich eine Entlastung von Bürokratie und,
wie die Vorredner angesprochen haben, von Kosten in
Höhe von 10 Millionen Euro.
Wir fordern Sie auf: Sparen Sie dem Steuersäckel und
den Betroffenen Ärger und unnötige Ausgaben!
({6})
Schaffen Sie einen Rechtsanspruch auf ein Girokonto
auf Guthabenbasis! Verstecken Sie sich nicht länger hinter Europa! - Das ist auch in anderen Bereichen nicht
sinnvoll. - Schaffen Sie den Rechtsanspruch, machen
Sie noch etwas Sinnvolles mit dem Rest dieser Legislatur!
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer
kennt ihn nicht, den Hauptmann von Köpenick? Ein arbeitsloser Schuster befindet sich in einem Teufelskreis:
ohne Arbeit keine Wohnung, und ohne Wohnung keine
Arbeit. - Die Geschichte mit dem Girokonto für jedermann erinnert an diesen Teufelskreis: Die Betroffenen,
die Verbraucher ohne Konto, stecken darin. Sie sind häufig gebrandmarkt durch einen Schufa-Eintrag. Dabei
beginnt der Weg in die Schuldenfalle häufig harmlos:
erster Handyvertrag, Bestellungen im Internet, gegebenenfalls mit einer Kreditkarte, die Schulden häufen sich,
irgendwann wird das Konto geschlossen.
Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass eine
Teilnahme am Wirtschaftsleben in Deutschland ohne Girokonto kaum möglich ist: Lohn, Wasser, Strom, nahezu
alle Geschäfte des Alltags werden über die Bank abgewickelt.
Ganz im Ernst: Haben Sie schon einmal versucht,
eine Wasserrechnung bar zu bezahlen, oder mussten jeden Monat beim Vermieter anklopfen, um einen Geldumschlag zu überreichen? Sollten Sie das tun, werden
Sie mehr als schräge Blicke erhalten und müssen mit kritischen Fragen und auch Nachforschungen rechnen. Ich
glaube, in dieser Analyse sind sich alle Fraktionen in
diesem Haus absolut einig.
({0})
Kontolosigkeit führt also nicht nur dazu, dass Betroffene in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden, sondern tatsächlich auch zu Ansehensverlust und damit zu sozialer Ausgrenzung.
Natürlich ist das für die meisten Bürgerinnen und
Bürger in diesem Land kein Thema; denn in diesem
Land werden mehr als 94,5 Millionen Girokonten geführt. Aber es gibt eben auch Menschen ohne Girokonto,
und zwar unfreiwillig, und diese brauchen unsere Hilfe
und unseren Schutz.
Dafür haben wir uns als CDU/CSU-Fraktion in den
letzten Jahren aktiv eingesetzt; denn wir sind der Überzeugung, dass in Deutschland jeder Bürger und jede
Bürgerin ein solches Girokonto haben können muss.
Deshalb hatten wir im letzten Juni einen Antrag eingebracht, der gemeinsam mit der FDP-Fraktion hier beschlossen wurde, und zwar mit Erfolg; denn es ist zu
Recht darauf hingewiesen worden, dass die Sparkassen
reagiert haben
({1})
und seit Oktober letzten Jahres für jede Privatperson ein
Guthabenkonto einrichten, die dies wünscht.
({2})
Lieber Herr Sieling, ich habe mich nach Ihrer Wortmeldung an eine Sparkasse gewandt und gefragt, ob gar
keine Daueraufträge eingerichtet werden. - Nein, das ist
falsch. Es werden nach Vereinbarung Daueraufträge eingerichtet, und es werden - hier ist eine gewisse Fehldeutung entstanden - keine anderen Gebühren als von jedem
anderen Bankkunden erhoben.
({3})
Ich finde, das ist nur gerecht. Bitte überzerren Sie an dieser Stelle also nicht.
({4})
Ich glaube, es steht uns gut an, den Sparkassen an dieser Stelle auch einmal Danke zu sagen; denn sie tun damit etliches für das Gemeinwohl. Ihre Situation ist etwas
anders als die der Privatinstitute; denn es sind öffentlichrechtliche Sparkassen, die übrigens auch durch Landesgesetze geprägt sind.
Ich frage mich deshalb schon, wie das eigentlich in
Brandenburg oder auch in Nordrhein-Westfalen aussieht,
wo Sie Regierungsverantwortung tragen. Haben Sie
eigentlich dafür gesorgt, dass eine entsprechende Verpflichtung in die Landesgesetze aufgenommen wird? Ich
glaube, nicht. Damit sage ich: Fangen Sie doch auch einmal vor der eigenen Haustür an!
({5})
Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Sieling?
Ja, natürlich, sehr gerne.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, Sie haben jetzt, wie
auch andere Rednerinnen und Redner der Koalition, die
Leistung der Sparkassen angesprochen. Meine Frage ist:
Für wie viele der geschätzten 670 000 Menschen ohne
Girokonto ist aufgrund Ihres Vorgehens, für das Sie sich
so loben, ein Girokonto konkret eingerichtet worden?
Wie viele Menschen mehr haben bei den Sparkassen ein
Girokonto bekommen?
({0})
- Da Sie sich hier so loben, werden Sie dazu ja eine Zahl
nennen können.
Ich kann vieles sagen, allerdings bin ich keine Hellseherin. Das Bürgerkonto ist am 1. Oktober 2012 eingeführt worden. Die Sparkassen haben bis dato keine Zahlen zur Verfügung gestellt; denn auch für die Kunden,
um die es heute geht, gilt das Bankgeheimnis, auf das
Sie sonst übrigens immer sehr viel Wert legen.
({0})
Ich finde, dass hier tatsächlich eine Zweiklassengesellschaft entstehen würde, wenn die Sparkassen gezwungen würden, genau das zur Kenntnis zu geben. Vor
diesem Hintergrund kann ich Ihnen heute keine Zahlen
nennen. Ich bin aber auch nicht so unseriös, das tun zu
wollen.
Noch einmal: Seit dem 1. Oktober 2012 werden diese
Konten eingerichtet. Sie können bei Ihren Sparkassen
vor Ort nachfragen. Ich habe dies getan - auch in Vorbereitung dieser Debatte. Dabei wurde mir gesagt: Bislang
ist niemand abgewiesen worden.
({1})
Damit entsteht sicherlich ein Dilemma: Wie sieht es
mit Informationen für die Betroffenen aus? Lieber Herr
Sieling, Sie haben die Verbraucher- und Schuldnerberatung zu Recht angesprochen. Das war Ihr entsprechender
Beitrag. Deswegen bekümmert es mich natürlich besonders, dass gerade die Mittel für die Verbraucher- und
Schuldnerberatung in den von Ihnen geführten Ländern
dramatisch zusammengestutzt worden sind.
({2})
Wenn Ihnen wirklich daran gelegen wäre, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Rechte kennen,
dann würden Sie nicht genau an dieser Stelle kürzen.
({3})
Das ist nur Verbraucherschutz auf dem Papier, der aber
mit der Realität nichts zu tun hat.
Jetzt kommen wir zu Ihren Anträgen, die übrigens
über ein Jahr in der Schublade gelegen haben; denn diese
Anträge datieren aus dem Jahr 2012. Auf einmal kommt
die Forderung: Wir wollen einen nationalen Alleingang
machen. - Klar können wir das als Gesetzgeber entscheiden. In der Sache sind wir für ein solches Basiskonto für jedermann.
({4})
Aber macht ein solcher Alleingang, wie die Opposition ihn fordert, jetzt Sinn? Nein, denn der akute Handlungsbedarf ist durch das Angebot der Sparkassen entschärft worden. In den kommenden Wochen, nicht in
einigen Jahren, wird die Europäische Kommission dazu
einen Richtlinienvorschlag vorlegen. Die Richtlinie ist
dann automatisch in nationales Recht umzusetzen. Es
bringt wirklich überhaupt nichts, wenn wir jetzt in
Deutschland Regelungen treffen, die vielleicht schon in
einem Jahr wieder hinfällig sind.
({5})
Das ist Aktionismus. Damit nutzen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern in keiner Weise.
({6})
Ihnen nützt jede europäische Regelung, die ihnen die
Möglichkeit eröffnet, ein Konto zu eröffnen, und zwar
zu einem angemessenen Preis. Aber es braucht mehr.
Das beste Recht nützt nämlich niemandem, wenn er
nichts davon weiß. Deswegen brauchen wir auf europäischer Ebene Informationspflichten und Regelungen. Wir
müssen auch über den Zugang zu Schlichtungsverfahren
sprechen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wissen nach wie vor nicht, dass es ein solches Verfahren
gibt, und zwar kostenlos.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
hängen Sie Ihr Herz nicht an veraltete und überholte Anträge. Unterstützen Sie uns doch lieber, uns und die Bundesregierung, und zwar dabei, Brüssel zu überzeugen.
Dort liegt jetzt der Ball. Entsprechend einem Motto unseres Altbundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer, dessen
Todestag heute ist, sage ich Ihnen: „Jede Partei ist für
das Volk da und nicht für sich selbst.“
({7})
Die Kollegin Kerstin Tack hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was sagen wir
den Verbraucherinnen und Verbrauchern? Wir sagen seit
vielen Jahren: Auch wir finden es alle nicht gut, dass es
kein Konto für jedermann gibt. - Aber was ist die Lösung für dieses Problem? Die Antwort ist: Wir sehen
keinen Regelungsbedarf in Deutschland.
Die Bundesregierung sagt dazu, dass sie nicht zuständig ist und nichts regeln will. Sie will nicht aktiv eingreifen, um die Situation der 670 000 Betroffenen zu verbessern; das soll Brüssel regeln. Die Bundesregierung weiß
nicht, ob, aber sie hofft, dass irgendwann in Brüssel eine
Richtlinie dazu auf den Weg gebracht wird, diese will sie
dann ratifizieren. Bis dahin nimmt sie die Lage, die wir
bitterlich beklagen, einfach hin.
Frau Connemann hat mit großer Herzenswärme dargestellt, wie schwierig die Situation der Menschen in
Deutschland ist, die kein Konto haben. Dennoch werden
die Betroffenen mit dem Problem alleingelassen, da die
Angelegenheit in Deutschland nicht geregelt wird. - Ich
finde das skandalös. Ich finde das deshalb skandalös,
weil wir uns doch in der Analyse, das nicht zulassen zu
wollen, einig sind. Dann verstehe ich nicht, wie man hier
sagen kann: Die Lösung dieses Problems schieben wir
auf die europäische Ebene, und irgendwann, wenn wir
dann ratifizieren dürfen - wir wissen gar nicht, in welchem Jahr das ist -, werden wir uns auch in Deutschland
bewegen. - Ich halte das für nicht in Ordnung.
({0})
Ich will es mit den Worten des Soziologen Ulrich
Beck sagen: „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“. - Genau so gehen Sie mit einem
Thema um, das für die betroffenen Menschen existenziell ist. Es stellt sich die Frage: Was wollen wir in
Deutschland für die Leute tun? Nur durch unser Handeln
kann sich ihre Situation verändern.
({1})
Es ist gut, wenn die Sparkassen die Einrichtung eines
entsprechenden Kontos anbieten; natürlich. Aber es ist
doch unsere Verantwortung, da politischen Handlungsbedarf zu formulieren.
Warum sträuben wir uns, hier zu handeln, wenn wir
uns einig sind, dass wir die Situation der 670 000 Betroffenen so schnell wie möglich verändern wollen? Es gibt
doch keinen Grund mehr, die Sache nicht heute schon zu
regeln: zuerst in Deutschland und dann hoffentlich bald
auch in Europa. Wir freuen uns, wenn es in ganz Europa
einen Rechtsanspruch auf ein Girokonto gibt. Aber heute
können wir auf nationaler Ebene regeln. Das wollen wir,
und dafür werben wir mit unseren Anträgen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9798.
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7823 mit dem Titel
„Recht auf ein Guthabenkonto einführen - Kontopfändungsschutz sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8141 mit dem Titel „Verbraucherrecht auf ein kostenloses Girokonto für
alle gesetzlich verankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7954 mit dem Titel „Verbraucherrecht auf Basisgirokonto für jedermann gesetzlich verankern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Förderung Deutscher Auslandsschulen ({0})
- Drucksache 17/13058 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staatsministerin Cornelia Pieper.
({2})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der heutige Tag, an dem die erste Lesung
des Auslandsschulgesetzes stattfindet, ist ein schöner
Tag für die deutschen Auslandsschulen. Für mich ist das
sogar ein historischer Moment; denn es ist lange her,
dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern
eine gesetzliche Regelung für Schulen - in diesem Fall
den Entwurf eines Auslandsschulgesetzes - auf den Weg
gebracht hat. Ich habe mich, ehrlich gesagt, selbst ein
bisschen gewundert, dass es bisher kein politisches Anliegen einer Bundesregierung oder eines Parlaments gewesen ist, für die deutschen Auslandsschulen ein Gesetz
einschließlich eines Förderanspruchs entsprechend den
Privatschulgesetzen der Länder zu erlassen.
Was habe ich vorgefunden, als die Bundesregierung
2009 ihre Arbeit aufnahm? Ich habe 132 verwirrte und
verunsicherte Auslandsschulen, denen die Mittel gerade
gekürzt worden waren, sowie ein angedachtes Reformkonzept vorgefunden, das zunächst allein auf Einsparungen setzte. Nach kurzer Zeit zogen sich dann die Bundesländer sogar teilweise aus ihrer bis dahin
übernommenen Finanzverantwortung zurück. Plötzlich
sollte der Bund auch noch die Hälfte des Versorgungszuschlages der von den Ländern beurlaubten Beamten
übernehmen.
Wir sind uns, glaube ich, einig: Die Deutschen Auslandsschulen sind Visitenkarten der deutschen Bildung
und Kultur in der Welt. Sie tragen wesentlich zum Ansehen Deutschlands und zur Vermittlung europäischer
Werte bei. Sie sind für uns alle Leuchttürme der interkulturellen Begegnung und des friedlichen, demokratischen
Miteinanders.
({0})
Deswegen freue ich mich, dass wir diesen Gesetzentwurf heute gemeinsam beraten können. Für mich ist es
immer wieder schön, zu sehen - das geht Ihnen sicher
nicht anders, wenn Sie die Deutschen Auslandsschulen
besuchen -, mit welchem Eifer, mit welcher Leidenschaft nicht nur die Lehrer, sondern eben auch die Schüler an diesen Schulen bei der Sache sind. Investitionen in
die Köpfe dieser jungen Generation, insbesondere auch
in Krisenregionen dieser Welt, sind für mich die beste
Form der Friedenspolitik dieser Bundesregierung.
({1})
Die Stärkung der Deutschen Auslandsschulen war mir
ebenso wichtig wie eine Qualitätsoffensive. Ich möchte
dafür auch meinen Mitstreitern im Unterausschuss für
Auswärtige Kulturpolitik und allen Fraktionen, die immer wieder darauf gedrängt haben und mich ermuntert
haben, diesen Gesetzentwurf voranzubringen, danken.
Diese Regierung hat sich darüber hinaus zum Ziel gesetzt, das Netz der PASCH-Schulen bis zum Ende des
Jahres 2014 auf 2 000 Schulen auszuweiten. Bis Ende
des Jahres werden es bereits 1 700 Schulen sein. Klar ist:
Qualität und Ausbau sichert man nicht mit dem Rotstift,
sondern durch eine angemessene finanzielle Grundlage.
Dieses Argument ist angekommen. Noch nie hat eine
Bundesregierung so viel in die Deutschen Auslandsschulen und das PASCH-Netzwerk investiert. 2012 waren es
238 Millionen Euro, 2013 waren es 244 Millionen Euro.
Das ist ein Höchststand in der Auswärtigen Kulturpolitik.
({2})
Wie Sie wissen, hat der Bund die Deutschen Auslandsschulen seit ihrem Bestehen durch die Vermittlung
von deutschen Lehrkräften und über die Schulbeihilfe in
jeweils unterschiedlicher Höhe gefördert. Diese Förderung erfolgt nach dem Zuwendungsrecht - das sind Leistungen ohne Rechtsanspruch - und ist jedes Jahr erneut
vom Haushaltsgesetz abhängig. Schulen sind aber keine
kurzfristigen Projekte, über die je nach Haushaltslage
entschieden werden sollte. Sie sind Institutionen, in denen entscheidende Weichen für das Leben junger Menschen gestellt werden. Schulen brauchen Planungssicherheit; das ist der Kernpunkt des Gesetzes. Wir
wollten Planungssicherheit schaffen. Das Gesetz definiert klare Kriterien, nach denen jede Deutsche Auslandsschule einen gesetzlichen Anspruch auf Förderung
erlangen kann.
Erstens. Hat eine Schule es geschafft, sich zu etablieren, und gezeigt, dass sie konsequent Schüler zu Abschlüssen führen kann, dann wird ihr die weitere Förderung garantiert.
Zweitens. Dadurch, dass der gesetzliche Förderanspruch an die vergebenen Abschlüsse gebunden wird,
setzen wir zudem Anreize für die Vermittlung deutscher
und deutschsprachig geprägter internationaler Abschlüsse.
Diese klaren Kriterien bedeuten natürlich nicht, dass
Schulen im Aufbau oder kleine Schulen an wichtigen
Standorten, die die Kriterien nicht erfüllen können, zukünftig nicht mehr gefördert werden. Für ihre Bedürfnisse ist das flexible Zuwendungsrecht weiterhin das
richtige Instrument. Mein Ziel ist es aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihnen gemeinsam zukünftig möglichst vielen Schulen diesen gesetzlichen Rechtsanspruch zu ermöglichen.
Die bisherige Förderung erfolgte als Fehlbedarfsfinanzierung. Das heißt: Geht es einer Schule wirtschaftlich gut, so wird ihre Förderung reduziert. Das klingt im
ersten Augenblick nicht falsch. Es bedeutet aber am
Ende, dass gutes Wirtschaften an den Auslandsschulen
nicht belohnt wird. Das kann aber nicht richtig sein. Deshalb fördern die Bundesländer ihre freien Schulen nach
Schülerzahl bzw. Unterrichtsbedarf und nicht nach Fehlbedarf. In Zukunft soll daher die finanzielle Förderung
der Schulen anhand des Unterrichtsbedarfs für die angestrebten Abschlüsse berechnet werden. Für einen bestimmten Umfang an Unterrichtsaufwand bekommt eine
Schule künftig unabhängig von ihren Eigenmitteln einen
festen Förderbetrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch das Reformkonzept geben wir den Deutschen Auslandsschulen, die
ohnehin den größeren Teil ihres Budgets selbst erwirtschaften müssen, mehr Autonomie. Das heißt, sie haben
ein Budget, über das sie selbst verfügen können, und sie
können darüber hinaus selbst Lehrkräfte einstellen. Für
die Deutschen Auslandsschulen bedeutet die neue Förderstruktur Planungssicherheit und neue Planungsmöglichkeiten.
({3})
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich
noch einmal allen danksagen, die mitgearbeitet haben.
Ich möchte anfangen bei den Fördervereinen, bei den Elternvereinen, die die Träger der Schulen sind. Das sind
verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger, die unsere
Deutschen Auslandsschulen unterstützen. Mein Dank
gilt aber auch dem Weltverband Deutscher Auslandsschulen für seine konstruktiv-kritische Haltung bei der
Vorbereitung des Gesetzentwurfs und des Reformkonzeptes. Mein Dank geht an die Zentralstelle für Deutsche
Auslandsschulen, an die Vertreterinnen und Vertreter der
Länder, des BLASchA, des Bund-Länder-Ausschusses
für Schulische Arbeit im Ausland, und natürlich auch an
Sie für Ihr Interesse an der Beratung.
In einer Zeit, in der sich diese Bundesregierung intensiv um einen strukturell ausgeglichenen Haushalt bemüht, zeigt die Schaffung eines gesetzlichen Förderanspruchs für Deutsche Auslandsschulen, dass Bildung für
diese Regierung höchste Priorität hat.
({4})
Deswegen - last, but not least - noch einmal herzlichen
Dank an das Bundesfinanzministerium in personam
Steffen Kampeter. Es hat uns geholfen, den Streit mit
den Ländern über die Versorgungsrückstellungen für die
vermittelten Lehrkräfte zu lösen. Wir, der Bund, werden
jetzt den hälftigen Versorgungszuschlag übernehmen.
Meine Damen und Herren, ich kann mir die Spitze nicht
verkneifen: Wenn Bund und Länder in der Bildung kooperieren, kommt immer etwas Gutes dabei heraus. Das
sollten wir uns auch in Zukunft zum Ziel machen.
Als Allerletztes will ich noch sagen: Als altgediente
Parlamentarierin bin ich mir bewusst, dass, wie es Peter
Struck schon gesagt hat, kein Gesetz aus dem Deutschen
Bundestag so herauskommt, wie es hineingegangen ist.
Ich freue mich auf die konstruktive Diskussion mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und habe lediglich
noch den Wunsch, dass wir diesen Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode verabschieden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gerade die Debatte in dieser
Woche hat gezeigt, dass die Notwendigkeit globaler Zusammenarbeit über nationale und kulturelle Grenzen
hinweg für uns heute dringender denn je ist. Das ist keineswegs nur aus wirtschaftlichen Gründen so. Auch
politisch ist es von eminenter Bedeutung, das DeutschAngelika Krüger-Leißner
landbild in der Welt zu stärken und dazu beizutragen,
dass es keinen Schaden nimmt.
Die Krise der Europäischen Union führt uns vor Augen, wie anfällig die Meinungsbildung unserer europäischen Nachbarvölker ist. Noch vor wenigen Jahren gab
es für die Deutschen hohe Beliebtheitswerte. Inzwischen
sind sie massiv eingebrochen. Das ist festzustellen, wenn
wir nach Südeuropa schauen. Ich denke, Sie stimmen
mit mir überein, wenn ich sage: Im Falle einer Krisenverschärfung läge darin eine Gefahr für ein einiges und
friedliches Europa.
Die deutsche Außenpolitik insgesamt sieht sich gerade in diesen Zeiten vor die große Herausforderung gestellt, dagegenzusteuern und Vertrauen zurückzugewinnen. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass die Pflege
kultureller Beziehungen zum Ausland ein Schwerpunkt
der deutschen Außenpolitik ist.
Seit Jahrzehnten arbeiten die deutschen Mittlerorganisationen in aller Welt mit großem Erfolg daran, ein positives Bild von Deutschland in der Welt zu vermitteln.
Neben dem Goethe-Institut, dem DAAD und weiteren
Institutionen sind es vor allem die Deutschen Auslandsschulen, die hier eine ganz hervorragende Arbeit leisten.
Das sind die 140 anerkannten Auslandsschulen mit ihren
unterschiedlichen Abschlüssen und die 870 ausländischen Schulen, die das deutsche Sprachdiplom als Abschluss anbieten. Im globalen Maßstab knüpfen sie
Netze internationaler Zusammenarbeit über alle kulturellen Grenzen hinweg, und sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für eine friedliche Zukunft in unserer Welt. Zugleich schaffen sie die Voraussetzung für
eine gute wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Gastländern, die beiden Seiten nützt und die Staaten und Gesellschaften über Kontinente hinweg einander näherbringt.
Die Deutschen Auslandsschulen vermitteln gerade
den jungen Menschen der Gastländer deutsche Sprache
und Kultur und schaffen somit nachhaltige Bindungen
zu Deutschland, die auch erkennbar in die Gesellschaft
der Gastländer hineinwirken. Zugleich erwerben Kinder
von Deutschen, die im Ausland tätig sind, an diesen
Schulen nicht nur einen deutschen Schulabschluss; vielmehr erwerben sie in der Begegnung mit den Jugendlichen der Gastländer auch ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz. Das ist genau die Qualität, die in
unserer Welt immer stärker gefragt ist, im Ökonomischen genauso wie im Politischen.
Interkulturelle Kompetenz erwerben natürlich genauso die einheimischen Schüler, die sich an unseren
Auslandsschulen ausbilden lassen. Viele von ihnen lassen sich für die deutsche Kultur begeistern und finden
nach ihrem Schulabschluss den Weg an die deutschen
Universitäten. Sie entscheiden sich, wenn wir großes
Glück haben, auch dafür, ihre berufliche Laufbahn bei
uns aufzunehmen. Ich brauche, glaube ich, nicht breit
auszuführen, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung in unserer Gesellschaft auf diese in jeder Hinsicht hochqualifizierten jungen Menschen angewiesen
sind. Das sind genau die Fachkräfte, an denen es uns in
naher Zukunft stark mangeln wird.
Um diese Menschen für uns zu gewinnen, müssen wir
allerdings noch stärker an einer ausgeprägten Willkommenskultur in unserem Land arbeiten.
({0})
Dazu brauchen wir auch einen Mentalitätswandel.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können unmittelbar nachvollziehen, wie wertvoll das deutsche Auslandsschulwesen für die deutsche Außenpolitik
ist. Es ist das älteste Instrument der Auswärtigen Kulturpolitik und zugleich ihr stärkster Pfeiler. Wir sollten alles
dafür tun, diesen Mittler deutscher Sprache und Kultur
in der Welt zu stärken. Mehr denn je sind wir auf seine
Arbeit angewiesen.
Das hat sich wohl auch die Bundesregierung gedacht,
als sie sich vor drei Jahren das Ziel steckte, endlich Planungs- und Finanzierungssicherheit für die deutschen
Schulen im Ausland zu schaffen. Genau drei Jahre ist es
her, dass uns die Vorlage eines Gesetzes für die Auslandsschulen versprochen wurde. Damals war sogar
noch die Rede von einem Auslandsschulfinanzierungsgesetz, später dann von einem Auslandsschulwesengesetz. Wir haben das von Anfang an begrüßt, Frau Staatsministerin, und haben gesagt: Wir unterstützen das.
Was uns nun vorliegt, ist ein ganz mageres und dürftiges Ergebnis. Viel zu lange hat es gedauert. Ich denke
nur an das Gezerre mit den Ländern um den Versorgungszuschlag.
({1})
Ich begrüße es nun ausdrücklich, dass wir endlich auf einem guten Weg sind, dazu eine vernünftige Verwaltungsvereinbarung in der nächsten Woche unter Dach
und Fach zu bringen.
({2})
Dann ist endlich Klarheit in dieser Frage. Wir haben aber
auch immer gesagt: Am Versorgungszuschlag darf dieses Gesetz nicht scheitern.
Große Erwartungen waren mit der Ankündigung dieses Gesetzes geweckt worden. Umso größer ist bei allen
Beteiligten die Enttäuschung, zuallererst bei den Schulen selbst, aber auch bei den Mitgliedern des Unterausschusses.
Der erste Entwurf, den wir im Frühjahr letzten Jahres
gesehen haben, hatte noch die Intention der Kolleginnen
und Kollegen getroffen. Darin war erstens die gesetzliche Finanzierung für alle Auslandsschulen vorgesehen,
und zweitens waren auch die Sprachdiplomschulen einbezogen. Bezeichnenderweise war dieser Entwurf mit
„Auslandsschulwesengesetz“ überschrieben. Jetzt ist es
ein Auslandsschulgesetz, und es ist ein Rumpfgesetz.
Da sind die 870 Schulen ausgeschlossen, die das
Deutsche Sprachdiplom anbieten. Sie sind noch nicht
einmal erwähnt. Das Deutsche Sprachdiplom ist ein Abschluss, dessen Bedeutung künftig weiter zunehmen
wird. Darum gehören aus unserer Sicht die DSD-Schulen ins Gesetz.
({3})
Es soll bei der freiwilligen Förderung bleiben. Daran
wollen wir nichts ändern. Wir müssen davon ausgehen:
Was nicht im Auslandsschulgesetz vorkommt, ist einfach zur Disposition gestellt. - Wir dürfen uns nichts
vormachen: Im nächsten Jahr, wenn die Schuldenbremse
zu wirken beginnt, wird es ein böses Erwachen geben.
Wir dürfen die DSD-Schulen nicht aufs Spiel setzen;
denn das Deutsche Sprachdiplom ist ein von der Kultusministerkonferenz geschaffener Abschluss und basiert
auf einem umfassenden Unterricht. Das kann man nicht
ersetzen durch irgendwelche Sprachprüfungen oder
Kurse. Hier geht es um Qualität und Nachhaltigkeit von
Bildungsabschlüssen.
Fakt ist, dass wir uns alle - alle Fraktionen - im Unterausschuss dafür eingesetzt haben, dass die DSDSchulen im Gesetz bleiben. Der Bundesrat fordert es und
auch die GEW. Auch der WDA, der ja eigentlich in einer
gewissen Finanzierungskonkurrenz zu den DSD-Schulen steht, befürwortet die Berücksichtigung dieses Abschlusses im Gesetz.
Wenn wir unseren Blick jetzt einmal auf die 140 Auslandsschulen richten, dann müssen wir leider feststellen,
dass gemäß den Kennziffern und Kriterien leider nicht
alle 140 anerkannten Auslandsschulen die gesetzlich garantierte Förderung erhalten sollen, sondern nur 45. Nur
diese 45 sind im Gesetz enthalten. Und die anderen? Die
anderen wären weiterhin angewiesen auf die Kassenlage
des Bundes.
({4})
So, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das einfach
nicht.
({5})
Planungssicherheit und Finanzierungssicherheit sehen
doch anders aus.
Die Förderfähigkeit soll an 20 gleiche Abschlüsse in
einem Jahr gebunden werden, und das können eben nur
45 Schulen vorweisen. Denn die Zahl der Abschlüsse
hängt ja mit dem Standort und den äußeren Bedingungen
zusammen. Ich will Beispiele nennen: Man kann doch
nicht so eine große Schule wie die Deutsche Schule in
Schanghai oder die Deutsche Schule Alexander von
Humboldt in Lima mit 1 400 Schülern nach den gleichen
Maßstäben bewerten wie etwa die Deutsche Schule in
Changchun in China mit 66 Schülern oder die Deutsche
Schule Tripolis mit 49 Schülern.
Alle Standorte sind wichtig.
Ich will kurz hinzufügen, dass in Teheran eine besondere Situation vorliegt. Die Schule in Teheran wäre,
wenn wir das Gesetz so beschließen würden, heraus. Sie
hatte im letzten Jahr 13 Abschlüsse, und in diesem Jahr
werden es wahrscheinlich auch nur vier sein. Damit
würde sie natürlich nicht die Kriterien des Gesetzes erfüllen. Wir sehen gerade an diesem Schulstandort, welche Fehler und welchen Mangel dieses Gesetz hat. Wir
dürfen das nicht zulassen. Deutsche Außenpolitik sieht
einfach anders aus.
({6})
Ich kann übrigens auch alle Haushälter beruhigen.
Die gesetzliche Förderzusage für alle anerkannten Auslandsschulen ist haushaltsneutral. Darüber ist sich auch
der WDA im Klaren. Es wird nicht mehr Geld geben.
Jetzt - das hat, glaube ich, Frau Staatsministerin in ihren letzten Worten anklingen lassen - ist das Parlament
gefordert, für die notwendigen Nachbesserungen zu sorgen, damit das Gesetz seinen Namen auch verdient. Wir,
alle Fraktionen im Unterausschuss, haben in den letzten
drei Jahren einen Großteil unserer Arbeit den Deutschen
Auslandsschulen gewidmet. Viele von uns waren vor
Ort, haben sich die Schulstandorte angeschaut, haben
Gespräche geführt, und die Ergebnisse sind in unsere
Beratungen eingeflossen. Vor allen Dingen dem Vorsitzenden, der ja auch noch zu Wort kommt, gebührt hier
großer Dank für sein besonderes Engagement.
({7})
Unsere gemeinsame Position - ich wiederhole nur,
was wir letztens beraten haben - ist zum einen, die Förderfähigkeit für alle anerkannten Auslandsschulen gelten
zu lassen, und zum anderen, die DSD-Schulen im Gesetz
zu verankern. Das ist für mich das Allerwichtigste. Dann
erfüllen wir, glaube ich, auch das, was wir versprochen
haben, nämlich mit diesem Gesetz Planungssicherheit zu
geben.
Wir haben vereinbart, dass wir einen Änderungsantrag gemeinsam erarbeiten. Ich hoffe, dass alle entschlossen dabei bleiben und für die notwendigen Nachbesserungen kämpfen. Dieses Gesetz wäre, wenn es so
bliebe und verabschiedet würde, noch nicht einmal ein
erster Schritt. Wir würden Schulen erster und zweiter
Klasse schaffen,
({8})
und das wollen wir nicht.
({9})
Als Letztes will ich nur noch die Zusage -
Das geht eigentlich nicht mehr, Kollegin KrügerLeißner. Sie haben es ja gesagt: Sie haben noch Beratungsbedarf und haben auch die Chance, in den Ausschüssen darüber zu reden. Vertagen Sie das bitte.
Aber ich sage: Wir stehen zu unserem Wort.
({0})
Das war das Einzige, was ich noch sagen wollte.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es wäre ganz wichtig gewesen, was Frau
Krüger-Leißner noch sagen wollte. Ich spreche für sie.
({0})
Wir haben uns schon überlegt, wie wir der Bundesregierung gemeinsam über die Hürden helfen können.
Meine Vorrednerin hat einen ganz wichtigen Punkt
angesprochen, nämlich dass in Zeiten, in denen es mit
der Beliebtheit Deutschlands nicht ganz so gut bestellt
ist - als Beispiel nenne ich die Debatten im Mittelmeerraum -, die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eine
zusätzliche Bedeutung bekommt. Es ist an dieser Stelle
gut, darauf hinzuweisen, dass Griechenland, das oft als
Beispiel genannt wird, zurzeit den größten Anstieg an
Deutschkursen weltweit zu verzeichnen hat. Eine unserer erfolgreichsten deutschen Schulen im Ausland ist das
Gymnasium in Thessaloniki. Ganz nebenbei darf man
auch darauf hinweisen, dass das erste Goethe-Institut,
das nach dem Krieg eröffnet worden ist, auf Einladung
der griechischen Regierung in Athen eröffnet worden ist,
wofür wir alle sehr dankbar sind.
({1})
In dem Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ bemühen wir uns um eine substanzielle
und auf die Kraft des Arguments gegründete Willensbildung. Auch beim heutigen Gesetzentwurf gibt es den alten Streit - wie immer bei Regierung und Opposition -:
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Zumindest ist es
gut, dass wir schon einmal ein Glas auf dem Tisch haben. Darüber sollten wir uns einig sein. Insofern verdienen die Bundesregierung und Frau Pieper unsere Anerkennung, dass nach all den Schwierigkeiten dieses
gesetzliche Gefäß auf dem Tisch steht. Das Parlament
hat die Aufgabe, es zu füllen. Es ist gut, dass es den Gesetzentwurf gibt. Der Gesetzentwurf, Frau Staatsministerin Pieper, geht letztlich zurück auf eine Entschließung
des Bundestages vom 30. Mai 2008. Dort haben wir die
Grundprinzipien formuliert. Herr Kampeter, der hier im
Saal sitzt, hat gemeinsam mit der Kollegin Monika
Griefahn, an die ich ebenfalls in Dankbarkeit denke, großen Anteil daran, dass die Grundzüge dieser Entschließung festgelegt werden konnten, die der Bundestag dann
einstimmig angenommen hat. Das sollte hier schon Erwähnung finden.
Die Koalition hat danach die Forderung nach einem
Auslandsschulgesetz ausdrücklich in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Der diesbezügliche Teil der
Koalitionsvereinbarung ist klar und gut formuliert, nämlich von mir.
({2})
Das sei nur nebenbei erwähnt. - Der zuständige Unterausschuss hat am 5. April 2011 die Bundesregierung
noch einmal gebeten, diesen Gesetzentwurf vorzulegen.
Es ist gut, dass wir nun zum ersten Mal einen Rechtsrahmen haben, in dem sich die Deutschen Auslandsschulen - wenn wir die Sprachdiplomschulen mitzählen, handelt es sich um fast 400 000 Schülerinnen und Schüler in Zukunft bewegen können.
Natürlich gibt es Dinge, die wir noch ergänzen müssen. Nach dem jetzigen Entwurf erhalten nicht alle klassischen Auslandsschulen die Garantie der Sicherheit,
was wir aber wollen. Es soll für sie alle ein Leistungsanspruch bestehen. Es fehlt - wir werden das gemeinsam
ergänzen; mit dem Kollegen Leibrecht habe ich schon
Formulierungsvorschläge ausgearbeitet - die Einbeziehung der PASCH-Sprachdiplomschulen. Diese müssen
einbezogen sein. Ferner müssen wir eine Regelung über
die Aufgabenwahrnehmung treffen. Hierbei sollten wir
die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen wesentlich
berücksichtigen. Ich bin froh, dass die Bundesregierung
heute bei der Einbringung des Gesetzes die Arbeit der
Zentralstelle, die seit 50 Jahren das deutsche Auslandsschulwesen prägt, gewürdigt hat. Ich denke, dass dies einer gesetzlichen Erwähnung wert ist.
({3})
Wir sind insofern an einem positiven Wendepunkt.
Wir stehen, schon wegen der Verzahnung des Bundes
mit den Ländern, vor der Aufgabe, dieses Gesetz entweder scheitern zu lassen oder gemeinsam durchzubringen.
Ich bin aufgrund der guten Zusammenarbeit in unserem
Gremium ziemlich überzeugt, dass wir Letzteres schaffen werden.
Ich habe ein bisschen in den Archiven gekramt.
Deutschland hatte zwischen 1870 und 1914 900 Auslandsschulen. Heute sind wir, wenn wir die Sprachdiplomschulen dazu zählen, bei etwas über 1 000. Das
ist gut, aber die Zahl ist auch nicht so, dass wir deswegen gleich ohnmächtig werden müssten. Das Bessere ist
der Feind des Guten. Wir können hier noch einiges zulegen, lieber Deutscher Bundestag, liebe Regierung und
liebe Regierungen der Länder.
Die Schule der Nation ist die Schule; sie ist auch das
Ansehen der Nation, und wir können damit die beste Reklame machen.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Dr. Jochimsen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Bemerkung vorweg: Immer wenn ich in den vergangenen Jahren eine Deutsche Auslandsschule besucht
habe, sei es als Journalistin oder als Parlamentarierin,
war ich tief beeindruckt vom Engagement der Lehrer,
Schüler und auch der Eltern für ihre Schule - Frau
Staatsministerin hat das vorhin auch erwähnt - und besonders von der pädagogischen Atmosphäre in diesen
Schulen. Ich habe dabei gelernt, dass diese Schulen für
Kinder und Jugendliche in der Fremde eine besondere
Bedeutung haben, sie ihr oft nicht einfaches Heranwachsen positiv unterstützen und schützen, auch die Beziehung zu ihrer Heimat übrigens. Schüler in Schanghai haben das einmal so ausgedrückt: Deutschland, das sind
die Großeltern und die Schule hier.
Dass es um so etwas Kostbares wie Kindheit und Jugend geht, wenn wir heute das Gesetz über die Förderung der Auslandsschulen diskutieren, sollten wir bedenken, und wir sollten das auch in den Mittelpunkt unserer
Überlegungen stellen, nicht nur unser Image nach außen
und wirtschaftliche Standortfaktoren in aller Welt.
Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden, Lernbegierigen in einer internationalen Welt, Begegnungen mit
Gleichaltrigen anderer Kulturen und Traditionen Suchenden soll dieses Gesetz dienen, ihren Lehrerinnen
und Lehrern und - nicht zu vergessen - den Kindern und
Jugendlichen aus den Gastländern ebenfalls, die sich auf
deutsche Kultur und auch auf Begegnung mit Gleichaltrigen anderer Herkunft einlassen. Das bitte ich zu bedenken.
({0})
Insofern: Ja, es ist gut, dass dieser Gesetzentwurf der
Regierung jetzt endlich vorliegt. Der Unterausschuss
„Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ hat seit Jahren fraktionsübergreifend - die Linke war stets dabei darauf gedrungen, dass die Deutschen Auslandsschulen
gesetzlich abgesichert werden und nicht länger mit der
auf ein Jahr begrenzten Förderung nach Zuwendungsrecht arbeiten müssen.
Aber was erleben wir nun, in dem Moment, in dem
das schon so lange als dringend notwendig erachtete Gesetz vorliegt? Von 141 bisher geförderten Auslandsschulen soll nur ein Drittel gesetzlich abgesichert werden.
Für alle anderen soll es so weitergehen wie bisher. Nur
die großen Schulen mit 20 Abiturabsolventen pro Jahr
oder mehr fallen unter das neue Gesetz. Gut für sie, aber
ganz und gar schlecht, weil das nun auch für die große
Mehrheit der anderen gesetzlich festgeschrieben wird.
Man kann es eigentlich kaum glauben, Frau Staatsministerin, aber in dieser großen Gruppe der vom Gesetz
ausgeschlossenen befinden sich traditionsreiche deutsche Schulen wie zum Beispiel die Schule in Neu-Delhi,
tapfere Neugründungen im früheren Ostblock wie die
Schule in Bratislava und tapfere Einrichtungen, mehrfach erwähnt, die gegen Unwägbarkeiten jahrzehntelanger Diktatur angehen wie die Schule in Teheran.
Die Schule in Neu-Delhi gibt es seit 1961. 2007 erhielt sie die Genehmigung zur Einrichtung einer Oberstufe. 2012 haben sieben Schüler das Abitur bestanden.
Diese Zahl aber reicht nicht für die gesetzliche Absicherung. Deshalb müssen 180 Kinder und Jugendliche sowie 22 Lehrer weiter wurschteln wie bisher.
Die Schule in Bratislava: eine neue Schule, gegründet
2005, die einzige deutsche Schule in der Slowakei, eine
Begegnungsschule, auf der sowohl deutsche wie auch
einheimische Abschlüsse abgelegt werden können, über
200 Kinder und Jugendliche, 26 Lehrer. Der Ausbau erfolgt schrittweise; ab 2015/16 soll es einen vollständigen
Gymnasialzug geben. Bis die Schule in Bratislava den
Kriterien des vorliegenden Gesetzes genügt, wird es
Jahre dauern. Wollen wir diesem Unsinn wirklich zustimmen?
({1})
Das waren nur zwei Beispiele von ungefähr 100. Ich
finde, wenn man schon nach jahrelangen Forderungen
endlich ein Gesetz macht, dann muss es doch einen Nutzen haben und nicht wenige Privilegierte und viele Leidtragende schaffen. Was ist dann der Nutzen dieses Gesetzes?
({2})
Wie gesagt: Es geht überall gleichermaßen um Kinder, Jugendliche, Heranwachsende und ihre Bildungschancen, ihre Lernverhältnisse, die gerade in der Fremde
die Lebensverhältnisse stark prägen. Wird das Gesetz in
der jetzigen Fassung umgesetzt, konterkariert es sein angegebenes, laut gepriesenes Ziel, den deutschen Schulen
im Ausland endlich eine bessere Finanzierungs- und Planungssicherheit zu verschaffen. Ein Auslandsschulgesetz muss für alle bisher geförderten und anerkannten
Schulen gleichermaßen gelten.
({3})
Nur dann wird es seinem Namen und seiner Zielsetzung
gerecht. Insofern war der hoffnungsvollste Satz in Ihrer
Rede, Frau Staatsministerin, der letzte: Sie haben uns
mehr oder weniger versprochen: So wie wir das Gesetz
heute beraten, wird es hoffentlich am Ende nicht aussehen.
Ich danke.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Claudia Roth das Wort.
({0})
Ja, ganz ruhig. Ich bin ganz moderat. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es
schon öfter erlebt, dass die Auslandsschulen wunderbare
Brücken in die Welt sind, sprachlich, kulturell und auch
wirtschaftlich. Wir wollen Kindern dort die Möglichkeit
geben, Deutsch zu lernen, aber auch eine offene, tolerante, integrative Bildungskultur zu entdecken und Demokratie im Dialog der Schule praktisch zu erleben.
Deswegen begrüßen wir es sehr, dass das Auslandsschulwesen nun endlich auf eine gesetzliche Grundlage
gestellt werden soll. Denn eine solche Grundlage schafft
Vertrauen und Sicherheit für eine nachhaltige Arbeit an
den Schulen, die oft über gemeinnützige Trägervereine
organisiert sind - verbunden mit den entsprechenden
Haftungsrisiken für die jeweiligen Vereinsvorstände.
Im Laufe der Beratungen hat die Regierung den Entwurf leider immer wieder abgespeckt. Zwischenzeitlich
war es sogar fraglich, ob wir es in dieser Legislaturperiode überhaupt schaffen, das Gesetz auf den Weg zu
bringen. Die vorliegende Fassung hat gravierende Mängel; meine Vorrednerinnen und Vorredner haben darauf
hingewiesen. Deswegen werben wir, die Mitglieder des
Unterausschusses, gemeinsam - über alle Fraktionen
hinweg - für deutliche Nachbesserungen. Denn es reicht
nun wirklich nicht aus - Luc hat es gerade angesprochen -, wenn überhaupt nur ein knappes Drittel der bisher geförderten 141 Schulen von der vorgesehenen gesetzlichen Regelung erfasst wird
({0})
und die anderen Schulen auf der alten, unverbindlicheren Grundlage weiterarbeiten müssen, vor allem, weil sie
die vorgesehene Mindestzahl bei den Abschlüssen nicht
erreichen. Wir haben es doch erlebt - wir waren mit dem
Ausschuss dort -, was das für die Schule in Teheran,
eine Schule mit so engagierten Lehrern und einem wunderbaren Direktor, bedeuten würde. Diese Schule ist für
viele, für Lehrer, Kinder und Eltern, eine Art Insel für
Demokratie, für Menschenrechte, eine Insel der Hoffnung auf eine bessere, eine andere Zukunft. Das müssen
wir fördern. Wir dürfen das nicht ausschließen, indem
wir hierarchisieren, sodass die Schule in Teheran zu einer zweiten Klasse gehören würde, nur weil sie noch
nicht genügend Abschlüsse verzeichnen kann.
({1})
Ein zweites Beispiel. Rund um Ostern war ich in Erbil
in Irakisch-Kurdistan. Es handelt sich um eine Schule im
Aufbau, die mit unglaublicher Begeisterung von den
Lehrerinnen und Lehrern, von Eltern und nicht zuletzt
von den Schülerinnen und Schülern angenommen wird.
Ich habe mit Mädchen aus Mönchengladbach und aus
Kassel gesprochen, für die diese Schule, auf der sie
Deutsch sprechen und lernen können, ein Stück weit
eine Verbindung in ihre Auch-Heimat Deutschland ist.
Auch solche Schulen brauchen dringend eine klare und
nachhaltige Unterstützung.
({2})
Dass die PASCH-Schulen, ein sehr erfolgreiches Projekt, das 1 500 Schulen mit Deutschangeboten weltweit
vernetzt, überhaupt nicht vorkommen, das ist nicht nachzuvollziehen. Das ist ein wirklicher Makel. Bitte helfen
Sie alle mit - vor allem die Bundesregierung! -, dass
diese Lücken und diese Mängel im Gesetz überwunden
werden.
Ich will aber darauf hinweisen - Frau Pieper hat sich
ja echt eingesetzt -, dass es schon ein Problem war, was
die Länder in dieser ganzen Zeit getrieben haben. Wenn
sie ihre Kompetenzen für Kultur und Bildung betonen,
hinterher aber die Beiträge für die Versorgungszulagen
der Lehrkräfte einseitig kürzen, dann ist das ein Trauerspiel. Ich sage das an die Adresse aller Länder, ich
nehme keines aus.
({3})
Gut ist, dass jetzt ein Modus Vivendi gefunden werden konnte und der Bund einspringt; denn sonst wäre die
Lage für die Pädagogen und Pädagoginnen, die mit großer Empathie ihre Arbeit machen, absolut demotivierend.
Mit Verlaub, lieber Peter Gauweiler, ein bisschen
skurril finde ich es schon, wenn die bayerische Staatskanzlei dem Gesetzentwurf eifrigst hinterherprotokolliert, dass - ich zitiere -:
der Bund … auch in Zukunft die im Rahmen der
deutschen Auslandsschularbeit notwendigen Kosten für die erforderlichen Reisen der Beauftragten
der Kulturministerkonferenz der Länder übernehmen
wird. Ich wünsche den Vertretern der Länder eine gute
Auslandsreise.
({4})
Ein letztes großes Anliegen will ich noch ansprechen,
das für uns wirklich sehr wichtig ist: die Stipendien für
talentierte Kinder aus Familien, die die Schulgelder
nicht aufbringen können. Wir sollten darauf achten, dass
das deutsche System, nämlich dass bei uns der Zugang
zu den Schulen eben nicht nur für die Geldeliten möglich
ist, stärker gefördert wird und dass eine größere soziale
Claudia Roth ({5})
Offenheit in die Gastländer hineingetragen wird. Diese
gute Tradition sollte beibehalten werden.
Ich hätte mir schon gewünscht, dass mehr Mittel aus
dem groß angekündigten 12-Milliarden-Sonderprogramm für Bildung der Bundesregierung in diesen Bereich geflossen wären. Die hat man aber für anderes,
zum Beispiel für das Stopfen von Haushaltslöchern, genutzt. Das ist eine verpasste Chance für mehr soziale Inklusion im Auslandsschulwesen, die wir dringend brauchen. Hier unterscheidet sich die deutsche Kultur
tatsächlich deutlich positiv von den anderen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeder von uns ist im Ausland oder bei Besuchen ausländischer Delegationen, mit denen wir hier in Berlin
sprechen, auf Politikerkolleginnen oder -kollegen aus
anderen Ländern gestoßen, die uns im Verlauf des Gespräches stolz berichten, dass sie auf einer Deutschen
Auslandsschule gewesen sind.
({0})
Gerade in diesen Gesprächen kann man förmlich mit
Händen greifen, wie aus dieser Erinnerung an den Schulbesuch eine besondere Verbundenheit mit Deutschland
geworden ist.
Man muss sich einmal anschauen, wer alles auf einer
Deutschen Auslandschule war - es gibt entsprechende
Übersichten -: Das ist beispielsweise die frühere griechische Außenministerin Dora Bakojannis, Patricia Expinosa
Cantellano, die ehemalige mexikanische Außenministerin, oder Tarek Kamel, der ehemalige ägyptische Minister für Kommunikation und Informationstechnologie.
Ich wollte auf diesen Aspekt Deutscher Auslandsschulen eingehen, weil dadurch deutlich wird, dass die
Menschen, die auf diese Schulen gehen, später in ihren
Ländern zur Elite gehören, jedenfalls in vielen Fällen,
und sich ihre Verbundenheit mit Deutschland, die sie
durch den Besuch dieser Schulen in ihrer Kindheit erfahren haben, weiter auswirkt, weil sie sich auch später,
wenn sie eine Funktion in der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Politik ihres Landes innehaben, mit
Deutschland besonders verbunden fühlen. In der Zeit der
Globalisierung zählen genau diese persönlichen internationalen Netzwerke. Sie zählen in der Wirtschaft, in der
Wissenschaft und auch in der Politik. Deshalb gibt es
kaum etwas Besseres oder Nachhaltigeres, um die Stellung Deutschlands in der Welt, unseren Einfluss in den
Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, hier insbesondere in der Außenpolitik, zu stärken, als in das
deutsche Auslandsschulwesen zu investieren.
Aus diesem Grunde ist ein Gesetz, mit dem das deutsche Auslandsschulwesen auf eine rechtliche Grundlage
gestellt wird, sicherlich eine gute Sache. Dass der Gesetzentwurf verbessert werden soll, haben die Fachleute
hier vorgetragen. Ich hoffe, dass wir zuversichtlich sein
können, dass der Unterausschuss „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik“ dazu gemeinsame Vorschläge unterbreiten wird.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich beim Unterausschuss für die geleistete Arbeit bedanken. Selbstverständlich bedanke ich mich auch bei Ihnen, Frau Staatsministerin, als Vertreterin der Bundesregierung. Ich will
auch nicht unerwähnt lassen, dass in den schwierigen
Verhandlungsgesprächen mit den Ländern - wir haben
einiges darüber gehört - Kanzleramtsminister Pofalla
eine wichtige Rolle gespielt hat, um die Kühe vom Eis
zu bekommen.
({1})
Steffen Kampeter, ich glaube, auch ohne die Hilfe des
Finanzministeriums beim Geradeziehen und Querschreiben wäre es nicht gegangen. Deshalb freuen wir uns
heute, dass wir so weit sind.
80 000 Schüler besuchen 141 Deutsche Auslandsschulen. 60 000 davon sind nicht deutsche Schüler. Sie
kommen entweder aus den Partnerländern oder aus
Drittländern. Ich beziehe mich dabei allein auf die Schulen, die von diesem Gesetz erfasst werden.
Ich möchte mich auch bei den Lehrerinnen und Lehrern bedanken - das sind etwa 2 000 -, die sich in einem
solchen Auslandseinsatz befinden. Das ist für manche
nicht einfach. Die Länder sind auch nicht gleichermaßen
attraktiv, um das einmal deutlich zu sagen. Die Lehrerinnen und Lehrer sind diejenigen, die das Ganze mit Leben
erfüllen. Leider wird nicht immer - das habe ich in Gesprächen mit manchen, die aus dem Ausland zurückgekommen und in den Schuldienst in Deutschland zurückgekehrt sind, erfahren - das, was sie in der Zwischenzeit
gemacht haben, so anerkannt, wie ich mir das wünschen
würde. Ich glaube, wir müssen in den Gesprächen mit
den Ländern deutlich machen, dass der Einsatz als Lehrer oder Lehrerin an einer Deutschen Auslandsschule
nicht karriereschädlich sein darf. Im Gegenteil: Man
sollte sich darüber freuen, dass jemand diese Aufgabe
wahrgenommen hat und internationale Erfahrung an die
heimische Schule mitbringt, vielleicht auch Schulkontakte. An dieser Stelle liegt, glaube ich, noch manches
im Argen.
({2})
Ich will zum Schluss noch auf einen Punkt hinweisen.
Ich glaube aufgrund meiner Reisetätigkeit, dass wir in
diesem Bereich so etwas Ähnliches brauchen wie das
Gesetz, über das wir heute diskutieren. Dabei geht es um
die deutschen Universitäten im Ausland. In Oman, in
Amman, in Kairo und in Vietnam, wo ich gerade war,
haben wir Universitäten, die sich „Deutsche Universität“
nennen. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass
das ganz unterschiedliche Konstrukte mit ganz unterschiedlichen Trägerschaften, Einflussmöglichkeiten usw.
sind; aber bei allen steht auf dem Türschild „Deutsche
Universität“. In Kasachstan - dort habe ich mir das noch
nicht angeschaut - soll das auch so sein. Ich weiß von
deutschen Professoren, die dort tätig sind, dass das Markenlabel „Deutsche Universität“ dort schon ziemlich angekratzt ist, einfach weil die Finanzierung und vieles andere nicht stimmen. Meine Empfehlung und Bitte an den
nächsten Bundestag ist, dass man sich das einmal anschaut und sich fragt, ob man nicht Grundsätze vorgeben
will, die erfüllt sein müssen, damit sich eine Hochschule
„Deutsche Universität XY“ nennen kann. Wir müssen
dann eben auch den Rahmen abstecken, in dem die notwendigen Kooperationen mit Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland mit allem, was dazugehört,
organisiert werden.
Mit dem Auslandsschulgesetz machen wir jedenfalls
einen wichtigen Schritt. Ich hoffe, dass es noch in dieser
Legislaturperiode verabschiedet wird.
({3})
Abschließend hat ebenfalls für die Unionsfraktion der
Kollege Dr. Thomas Feist das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
muss noch einmal gesagt werden: Obwohl wir als Parlament Druck gemacht haben und obwohl die Staatsministerin von Anfang an gesagt hat, dass wir hier ein Gesetz
brauchen, lagen viele Schwierigkeiten im Weg. Diese
sind jetzt weitgehend ausgeräumt. Das ist wirklich toll.
Frau Staatsministerin, da haben Sie etwas Tolles auf den
Weg gebracht.
({0})
Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf. Der Name macht schon deutlich, worum es geht.
Im parlamentarischen Verfahren werden wir uns natürlich genau den Fragen widmen, die jetzt noch zu klären
sind. Sicher ist es für die Auslandsschulen nicht befriedigend, wenn nur ein Drittel von ihnen momentan in den
Geltungsbereich des Gesetzes fällt. Deswegen empfehle
ich für unsere parlamentarischen Beratungen, darüber
nachzudenken, wo wir die Auslandsschulen wirklich als
Mittel unserer auswärtigen Bildungspolitik, also als auswärtige Politik mit verstehen. Denn es macht natürlich
einen Unterschied, ob wir mit großen Schulen an bestimmten Standorten präsent sind, oder ob wir sagen:
Gerade in Krisengebieten müssen wir Bildungsangebote
Deutschlands vorhalten. Darüber müssen wir noch beraten.
({1})
In 71 Ländern sind wir mit den Deutschen Auslandsschulen präsent. Es ist von Ihnen, Kollege Polenz, schon
angesprochen worden: 60 000 von den 80 000 Schülerinnen und Schülern kommen nicht aus Deutschland. Ich
denke, das ist eine Besonderheit der Deutschen Auslandsschulen. Denn dort können wir unterhalb der diplomatischen Ebene, die normalerweise Kinder und Jugendliche überhaupt nicht in angemessener Weise in den
Blick nimmt, junge Botschafter einer deutschen Bildungs- und Kulturrepublik in den Ländern ausbilden. Ich
denke, das müssen wir noch verstärken.
Ich freue mich ganz besonders, dass heute zwei leibhaftige Vertreter hier anwesend sind. Auf der Tribüne
- so ist mir gesagt worden - sitzen zwei junge Damen
aus Kolumbien, die dort an der Deutschen Auslandsschule lernen. Sie sind genau die Hoffnungsträger, die
wir in späteren Netzwerken brauchen. Vielen Dank.
({2})
Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, den die Redner vor mir noch nicht angesprochen haben, nämlich
dass wir an den Deutschen Auslandsschulen selbstverständlich neben den allgemeinbildenden Abschlüssen
auch berufsbildende Abschlüsse vergeben, dass wir teilweise auch die Funktion von Berufsschulen übernehmen. Diese Aufwertung einer dualen Bildung, wie wir
sie hier in Deutschland kennen, ist ein ganz wichtiges
Segment, das es auszubauen gilt.
({3})
Deswegen bin ich froh, dass ich mit meinem Kollegen
Schummer, aber natürlich auch mit anderen Kollegen
aus der Koalition momentan an einem Antrag arbeite, in
dem wir genau dieses Potenzial der Deutschen Auslandsschulen aufgreifen, um duale Bildung genau dorthin zu exportieren, wo es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit gibt und wo wir mit unseren Bildungsangeboten
eine echte Alternative bieten können.
Ich möchte noch einmal den Fokus zurück aufs Inland
legen. Ich bin nicht so oft im Ausland unterwegs, aber
man kann sich ja auch mit Menschen in seinem Wahlkreis unterhalten. In Leipzig habe ich mich mit Leuten
unterhalten, die als Pädagogen an Deutschen Auslandsschulen waren. Sie haben mir von dem Problem berichtet, dass dies in der späteren Karriere ein Nachteil ist. Ich
habe dann mit den Vertretern der Bildungsagentur darüber gesprochen, warum das so ist. Das hängt damit zusammen, dass oftmals im Inland der falsche Eindruck
entsteht, dass die Deutschen Auslandsschulen eine Art
Eliteschulen sind, die mit Deutschland überhaupt nichts
zu tun haben. Das ist natürlich völliger Quatsch. Wir
müssen genau diese interkulturellen Kompetenzen, die
die Lehrer mitbringen, wenn sie aus dem Ausland nach
Deutschland zurückkehren, aufgreifen und verstärken,
und wir müssen im Inland deutlich machen, wie wichtig
die Deutschen Auslandsschulen auch und gerade für die
deutsche Bildung sind.
({4})
Abschließend möchte ich den Lehrerinnen und Lehrern an den Deutschen Auslandsschulen danken. Es ist
schon angesprochen worden: Es gibt Länder, in die man
als Lehrer gern geht. Es gibt aber auch Länder, für die
das nicht unbedingt gilt. Indem die Lehrerinnen und
Lehrer an den Deutschen Auslandsschulen Deutschland
oftmals für eine lange Zeit im Ausland vertreten, prägen
sie ganz wesentlich auch das Bild unserer Außenpolitik
im Ausland. Das ist ihr Verdienst. Vielen Dank an dieser
Stelle!
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/13058 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({0}),
Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Informationsfreiheit weiter entwickeln
- Drucksache 17/13097 -
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck
({1}), Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 17/9724 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 17/12490 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({4})
Gisela Piltz
Jan Korte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir legen
heute nochmals einen Antrag vor, die Informationsfreiheit endlich entschlossen weiterzuentwickeln. Informationsfreiheit und Transparenz waren und sind ein zentrales demokratiepolitisches Anliegen meiner Fraktion. Bei
der Informationsfreiheit geht es uns darum, ein Recht
der Bürgerinnen und Bürger auf Zugang zu Informationen festzusetzen, vor allem gegenüber der Verwaltung,
zum Beispiel den Ministerien.
Hier gibt es großen Handlungsbedarf. Das haben
jüngst die Diskussionen über das Abendessen von Herrn
Ackermann im Bundeskanzleramt,
({0})
die wichtige Debatte um die Nichtoffenlegung der Medaillenvorgaben für Olympia 2012 und die Verwendung
der öffentlichen Mittel in diesem Bereich noch einmal
ganz deutlich gezeigt.
({1})
Auch das bestätigt: Informationsfreiheit ist Voraussetzung für die notwendige Transparenz in einer modernen
Demokratie. Transparenz aber ist kein Selbstzweck, kein
Allheilmittel; vielmehr ist die Nachvollziehbarkeit und
Verständlichkeit von politischen Entscheidungen und
Verwaltungshandeln die Grundlage einer modernen demokratischen Gesellschaft.
({2})
Sie ist Voraussetzung für Partizipation und Mitbestimmung, für das Suchen und Finden ausgewogener Entscheidungen nach einem offenen Diskurs. Transparenz
ist die Vorbeugung gegen Korruption und Misswirtschaft
mit öffentlichen Mitteln. Sie ist Voraussetzung für öffentliche Kontrolle durch Politik und Zivilgesellschaft.
Letztlich erhöht die Transparenz auch die Legitimation
und die Akzeptanz von politischen Entscheidungen. Das
ist eine gute Sache.
({3})
All das gewährleistet mehr Transparenz. Deswegen ist
ihre Stärkung ein Gebot der Stunde, Kollegin Piltz.
Gleichzeitig ist uns völlig klar, dass natürlich - Achtung, dieser Punkt wird Ihnen gefallen - berechtigte Interessen der Öffentlichkeit, zum Beispiel die Sicherheit
und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung, oder Privater, zum Beispiel der Datenschutz und die Wahrung von
Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, geschützt werden
müssen. Aber Geheimhaltung muss die Ausnahme sein.
Dafür bedarf es einer wirklichen Abwägung der InteresDr. Konstantin von Notz
sen, die nicht ausschließlich, wie heute praktisch immer
der Fall, zulasten der Informationsfreiheit ausfallen darf.
({4})
Deswegen, Herr Kollege Sensburg, brauchen wir eine
Reform der Informationsfreiheit in Deutschland.
Andere Länder, auch die EU selbst, sind weiter; sie
haben bereits ein Grundrecht auf Informationszugang.
Wir haben hier Nachholbedarf, meine Damen und Herren, und das trotz des Erfolgs auf Bundesebene, dass es
2006 zur Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes
kam - als Ergebnis jahrelanger, beständiger grüner
Überzeugungsarbeit und sehr guter rot-grüner Regierungsarbeit.
({5})
- Geben Sie sich einen Ruck und klatschen Sie! Ich habe
praktisch die SPD gelobt.
({6})
Trotzdem gibt es noch immer keinen Paradigmenwechsel in der Verwaltung. Transparenz als Grundlage
für Partizipation wird viel zu häufig überwiegend als Bedrohung wahrgenommen. Hier müssen wir alle gemeinsam mehr Überzeugungsarbeit leisten, aber das allein
reicht eben nicht. Interessierte kritische Bürger sind
keine Last, sie sind ein Glücksfall für unsere Demokratie.
({7})
Deswegen appelliere ich an Sie alle, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Lassen Sie uns jetzt gemeinsam handeln.
Wir haben ja auch an anderer Stelle schon Kompromisse gefunden. Zur Informationsfreiheit haben wir in
Speyer gemeinsam einen Bericht in Auftrag gegeben.
Das Ergebnis ist ein 500 Seiten starker Bericht. Auf
15 Seiten stehen sehr konkrete Handlungsempfehlungen,
zum Beispiel die Einführung einer Abwägungsklausel
zur Stärkung des Informationsanspruchs, die Ausgestaltung des Rechtsweges, Open Data und die Stärkung der
Rolle des Bundesbeauftragten für die Informationsfreiheit, um nur einige Punkte zu nennen. Die Reaktion darauf war bislang - leider keine. Schwarz-Gelb schweigt
erschrocken, verdrängt und sitzt aus. Sie haben in Sachen Informationsfreiheit und Transparenz, einem der
drängendsten Themen bei der Modernisierung unserer
Demokratie, nichts unternommen. Das lang angekündigte Open-Data-Portal der Bundesregierung ist ein
Flop. Es bietet nur Zugang zu Informationen, die vorher
bereits anderswo öffentlich waren. Die Daten sind mangels offener Lizenzen nicht kommerziell nutzbar. Und es
ist derzeit - hoffe ich - wegen technischer Mängel nicht
erreichbar.
Es lässt sich nicht vertuschen: Schwarz-Gelb hat in
puncto Informationsfreiheit und Transparenz komplett
versagt. Open Data, Open Government, Transparenz,
Mitbestimmung scheinen von dieser Bundesregierung
leider nicht erwünscht. Aber wir müssen jetzt ernst machen, Informationsfreiheit weiterentwickeln, ein Grundrecht schaffen. Denn nur damit können wir die Informationsrechte wirklich stärken.
Ganz herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir beschäftigen uns
heute zum wiederholten Male mit einem Lieblingskind
der Grünen, mit der Informationsfreiheit. Schon im letzten Jahr haben wir uns in der ersten Lesung ausgiebig
mit dem Gesetzentwurf der Grünen zur Schaffung eines
Informationszugangsgrundrechts beschäftigt. Zwischenzeitlich gab es am 24. September des letzten Jahres die
Sachverständigenanhörung. Ich bitte Sie, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, noch einmal
nachzulesen, was die Sachverständigen aller Fraktionen
ausgeführt haben.
({0})
Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen ist
nämlich der Auffassung, dass es keines Informationszugangsgrundrechts in Deutschland bedarf, dass die bisherigen einfachgesetzlichen Regelungen vollkommen ausreichen.
({1})
Es gibt ein bestehendes, wirksames, einfachgesetzliches Informationsfreiheitsgesetz, das die Verwaltung
und die Rechtsprechung natürlich in vollem Umfang
bindet. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen. Schon
durch das heutige Informationsfreiheitsgesetz aus dem
Jahre 2006 ist sowohl die Rechtsprechung als auch die
gesamte Verwaltung gebunden.
({2})
Ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass durch
eine sehr ausdifferenzierte und mittlerweile sehr umfangreiche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes anerkannt wird, dass es ein grundsätzliches
Interesse der Allgemeinheit an Transparenz und Informationen gibt, zuletzt bestätigt durch ein Urteil aus dem
Jahre 2010. Bereits im Jahr 2001 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals festgelegt, dass der Zugang zu Informationen ein wesentlicher Bestandteil unseres Demokratieprinzips ist. Neben dieser Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts bedarf es also keiner Änderung des Grundgesetzes durch die Aufnahme eines
neuen Informationszugangsgrundrechts.
Stephan Mayer ({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein sehr
wesentlicher rechtspolitischer Fehler liegt aus meiner
Sicht dergestalt in Ihrem Gesetzentwurf, dass, wenn wir
dieses Informationszugangsgrundrecht schaffen würden, wir natürlich die Gesetzgebungskompetenz der
Länder aushöhlen würden. Es gibt ja viele Länder, die
bereits ein Informationsfreiheitsgesetz haben. Manche
Länder haben noch keines. Wenn wir als Bund jetzt ein
generelles Informationszugangsgrundrecht schaffen
würden, dann würden wir natürlich in elementarer Weise
in die Gesetzgebungskompetenz der Länder eingreifen.
({4})
Auch aus dieser Erwägung heraus wäre es falsch, Ihrem
Gesetzentwurf zuzustimmen.
({5})
Ich habe mich natürlich auch mit Ihrem Antrag beschäftigt, der die Weiterentwicklung der Informationsfreiheit zum Inhalt hat. Zunächst war ich sehr hoffnungsvoll. Ich habe gedacht, der Lernprozess bei Ihnen hat
eingesetzt, weil Sie ja durchaus etwas selbstkritisch
schreiben: „Transparenz ist kein Selbstzweck und kein
Allheilmittel.“
({6})
Ich wurde aber - das muss ich offen sagen - sehr schnell
desillusioniert: Als ich weiterlas, musste ich erkennen,
dass das nur ein kleiner Fortschritt war. Im weiteren Verlauf des Antrags sind Sie nämlich sehr schnell wieder in
das bekannte Rollenverhalten zurückgefallen und haben
- meines Erachtens holzschnittartig - festgestellt, dass
die gestiegene Zahl von Informationsersuchen gegenüber vielen Bundesministerien und anderen auskunftspflichtigen Bundeseinrichtungen ein Indiz dafür sei, dass
das Informationsfreiheitsgesetz einer Erweiterung bedürfe.
Sie haben den Evaluierungsbericht der Deutschen
Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer aus
dem letzten Jahr erwähnt, lieber Herr Kollege von Notz.
Dieser umfangreiche Evaluierungsbericht zeigt sehr
schön, dass man die Dinge etwas differenzierter betrachten muss: Wenn man sich anschaut, von wem und aus
welchen Gründen Auskunftsersuchen gestellt werden,
kommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass der Großteil
der Antragsteller Partikularinteressen verfolgt, dass es
eben nicht die Breite der Bürgerschaft ist, die diese Anträge stellt.
({7})
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich möchte Partikularinteressen beileibe nicht diskreditieren. Nur, wenn
man sich das genau ansieht, stellt man fest: Die Auskunftsersuchen an Bundesministerien und andere Behörden stammen von einer kleinen Anzahl von meistens
Anwälten und Journalisten, aber nicht von der Breite der
Bürgerschaft.
({8})
Schade finde ich auch, dass Sie in Ihrem Antrag nicht
darauf eingegangen sind, dass man der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer zufolge
bei allen Erwägungen, den Auskunftsanspruch des Informationsfreiheitsgesetzes zu erweitern, berücksichtigen
muss, dass dadurch in der Verwaltung erhebliche Ressourcen gebunden werden. Diesen Auskunftsersuchen
zu entsprechen, ist kostenintensiv; dafür werden zusätzliche Mitarbeiter benötigt. Es wäre insgesamt ein sehr
ressourcenintensives Unterfangen, den Auskunftsanspruch des Informationsfreiheitsgesetzes auch noch auszuweiten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man muss
auch sehen: Die Entwicklung ist, seit das Informationsfreiheitsgesetz im Jahr 2006 verabschiedet wurde, in den
Behörden, aber auch in den Unternehmen nicht stehen
geblieben. Viele Behörden haben seitdem eigene Informationsbeauftragte benannt, die Bürgerinnen und Bürgern, die berechtigte Auskunftsbegehren an sie richten,
jederzeit zur Verfügung stehen.
Auch viele Unternehmen haben sich hier in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund sehe ich keine Notwendigkeit, Ihrem Antrag zu
folgen, die Ausnahmevorschrift in § 6 des Informationsfreiheitsgesetzes - den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen - einzuschränken. Sie behaupten,
dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse absolut geschützt seien. Das ist nicht so, lieber Herr Kollege von
Notz. Es gibt hier eine ausdifferenzierte Rechtsprechung, darunter ein lesenswertes Urteil aus dem Jahre
2009. In diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht
ganz klar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Unternehmer nachweisen muss, dass er ein berechtigtes
Interesse daran hat, dass ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis nicht weitergegeben wird. Die Abwägungsklausel, die Sie fordern, ist vollkommen überflüssig,
weil eine solche Abwägung bereits stattfindet und, wie
gesagt, eine sehr differenzierte Rechtsprechung existiert.
({9})
Ich möchte, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen, weil dieses Thema im Antrag der Grünen angesprochen wird, noch etwas zum Thema Open Data sagen. Offene Daten sind unstreitig ein sehr kostbares Gut,
und in offenen Daten - das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen - steckt natürlich ein erhebliches Potenzial
zur Weiterentwicklung von Forschung und Wissenschaft, aber auch zur Ankurbelung der Wirtschaft. Deswegen gibt es in vielen Ländern schon entsprechende
Portale und Plattformen. Es gibt - das ist erwähnt worden - seit dem 19. Februar dieses Jahres „GovData Das Datenportal für Deutschland“. In Ihrem Antrag,
Stephan Mayer ({10})
Herr von Notz, waren Sie mit diesem Datenportal noch
etwas gnädiger; da haben Sie es zumindest noch als einen guten Anfang bezeichnet.
({11})
Jetzt haben Sie es als Flop bezeichnet. Dieses Datenportal ist seit Februar dieses Jahres online, die Daten sind
einsehbar. Bis heute sind schon über 4 000 Datensätze
eingestellt worden. Es wird auch entsprechend weiterentwickelt. Ich finde es schade, dass Sie, nur zwei Monate nachdem dieses Datenportal online gegangen ist,
rufen: Das war ein Flop, wir brauchen eine Gesetzesänderung!
({12})
Haben Sie doch ein bisschen Geduld! Es gibt überhaupt
keine Notwendigkeit, an das Informationsfreiheitsgesetz Hand anzulegen. Dieses Gesetz hat sich wirklich bewährt. Ich glaube, man sollte die weitere Entwicklung
jetzt ganz gelassen abwarten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Die Kollegin Kirsten Lühmann hat nun für die SPDFraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Wir Abgeordnete haben vor einigen Wochen einen Brief von ProSiebenSat.1 bekommen, in dem
eine Reportage über den Bundestag angekündigt wurde.
Sie lief im Rahmen der Sendung Abenteuer Leben
Spezial: Geheimnisse Exklusiv.
Ein Bericht über den Alltag des Deutschen Bundestages wird also als exklusive Enthüllungsstory angekündigt. Das hat mich schon ein bisschen erstaunt; denn das,
was ich in meinem Arbeitsalltag, in den Gesprächen mit
den Bürgerinnen und Bürgern, erlebe, wird dem, was
ProSiebenSat.1 hier hochstilisiert, nicht gerecht.
Es liegt natürlich nahe, dass dieser reißerische Titel
einfach nur Zuschauende anlocken sollte; aber meine
Befürchtung ist, dass dahinter auch eine Wahrnehmung
steckt, die ziemlich verbreitet ist, nämlich die Wahrnehmung, dass der Staat, die Politik und die Verwaltung eigentlich eine Art Blackbox ist,
({0})
bei der man überhaupt nicht weiß, was darin vor sich
geht und was man möglicherweise nicht zu hören bekommt.
Diese Wahrnehmung ist aus meiner und, ich denke,
auch aus unserer Sicht nicht richtig, aber sie ist erklärbar, und zwar durch das bestehende Amtsgeheimnis. Unsere darauf beruhende Verschwiegenheitspflicht ist jahrhundertealt und rührt noch aus einem ganz anderen
Verständnis von Staat her. Es ist mit strengen Strafen bedroht, dagegen zu verstoßen. Ein Bewusstseinswandel
ist hier unheimlich schwer, aber er ist notwendig.
({1})
Die SPD hat vor sieben Jahren das Informationsfreiheitsgesetz initiiert und zusammen mit den Grünen, Herr
von Notz, in der rot-grünen Regierung verwirklichen
können.
({2})
Das war ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung.
({3})
Wir haben kürzlich aber einen Bericht auf Zeit Online
gelesen. In diesem Bericht wird dargelegt, wie Behörden
intern Anträge auf Akteneinsicht diskutieren. Wenn man
das gelesen hat, dann konnte man den Eindruck bekommen: Im Vordergrund steht dabei, wie solche Anträge
abgelehnt werden können - ob man sich auf einen zu hohen Aufwand beruft, welche Ausnahmegründe am effektivsten sind -, und es scheint so, als gäbe es regelrechte
Anleitungen dafür, wie das problemlos erfolgen kann.
Wenn das so ist, dann müssen wir das entschieden ablehnen.
({4})
Schauen Sie sich die Zahlen vom letzten Jahr an: Es
sind über 6 000 Anträge auf Information gestellt worden.
Weniger als die Hälfte davon wurde positiv beschieden.
Hier beschleicht einen natürlich die Annahme, dass an
diesem Artikel vielleicht ein bisschen Wahrheit sein
könnte.
Das heißt, wir brauchen eine neue Kultur der Offenheit. Zu dieser neuen Kultur der Offenheit gehört nicht
nur, dass die Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern
grundsätzlich als gerechtfertigt und sinnvoll anzusehen
sind, sondern auch, dass die Behörde von sich aus mehr
Informationen an die Öffentlichkeit gibt, und das nach
klaren Regeln.
Ich denke, Beispiel dafür kann die neue Hamburger
Regelung sein, wonach grundsätzlich alle Akten von den
Behörden im Internet zu veröffentlichen sind. Das ist ein
sehr guter Ansatz, mit dem dort sehr große Erfolge erzielt werden.
Wir haben nun sieben Jahre Erfahrung mit dem Informationsfreiheitsgesetz. Die Evaluation ist mehrfach angesprochen worden. Das Ergebnis war klar. Es lautet aus
unserer Sicht nicht, Kollege Mayer, dass nichts geändert
werden muss, sondern im Gegenteil: Das Ergebnis dieser Evaluation war, dass wir das Informationsfreiheitsrecht weiterentwickeln müssen, und zwar vor allen Dingen in drei Bereichen:
Der erste Punkt ist die Vereinheitlichung des Rechtes.
Es gibt zurzeit diverse Einzelgesetze. Ich will nur ein
paar nennen: Informationsfreiheitsgesetz, Verbraucher29546
informationsgesetz, Umweltinformationsgesetz. Wenn
Sie als Bürger oder Bürgerin Interesse daran haben, eine
Information zu bekommen, dann müssen Sie erst einmal
herausfinden, nach welchem Gesetz Sie Ihren Antrag
stellen müssen. Dafür brauchen Sie im Prinzip schon einen Juristen oder eine Juristin. Das kann so nicht weitergehen; das müssen wir dringend ändern.
({5})
Der zweite Punkt ist die Überarbeitung von Ausnahmetatbeständen. Auch hier, Kollege Mayer, widerspreche ich Ihnen vehement. Noch viel zu viele Anträge auf
Informationszugang werden abgelehnt, teilweise, wie
die Expertenanhörung ergeben hat, aufgrund von Unklarheiten im Gesetz.
Es ist für mich nicht befriedigend, wenn Sie hier mehrere Urteile zitieren. Das bedeutet nämlich, dass die Anträge auf Informationszugang zunächst einmal abgelehnt
wurden.
({6})
Wenn der Bürger bzw. die Bürgerin die Möglichkeit
hatte, vor Gericht zu ziehen, dann konnte es sein, dass
ihm bzw. ihr das legitime Recht zugesprochen wurde
und der Verwaltung gesagt wurde, dass sie nicht richtig
gehandelt hat. Aber all die, die diese Möglichkeit nicht
haben, müssen mit der Ablehnung zufrieden sein und
kommen nicht zu ihrem legitimen Recht. Das müssen
wir ändern. Hier muss es ganz klare Regeln geben.
({7})
Diese Regeln brauchen wir auch für die Beschäftigten
in den Verwaltungen. Ich kann sie verstehen; bei dieser
unklaren Rechtslage würde wahrscheinlich auch ich lieber auf Nummer sicher gehen und sagen: Ehe ich etwas
herausgebe, was ich nicht herausgeben darf, und hinterher Probleme bekomme, verweigere ich lieber erst einmal die Herausgabe und warte darauf, was ein Gericht
dazu sagt. - Aber ist das denn unser Verständnis von einer offenen Verwaltung und von offener Politik? Unser
Verständnis ist das nicht.
({8})
Als dritten Punkt hat die Evaluation ergeben, dass die
Behörden von sich aus mehr Akten ins Internet stellen
sollten. Der Vorteil davon liegt auf der Hand: Alle Akten, die öffentlich einsehbar sind, müssen nicht mehr per
Antrag und mit hohem Aufwand von den Beschäftigten
zusammengesucht werden; dieser Aufwand erübrigt
sich. Man geht ins Internet und zieht sich heraus, was
man braucht. Das vereinfacht das ganze Verfahren.
Die Bundesregierung lässt in ihrer Stellungnahme leider keinerlei Bereitschaft erkennen, die Empfehlungen
aus Wissenschaft und Praxis aufzunehmen. Sie praktiziert die übliche Vogel-Strauß-Politik und handelt wieder einmal gegen die Interessen der Bürger und Bürgerinnen.
Die Stellungnahme der Bundesregierung beinhaltet
mehrere Punkte. So wird behauptet - Herr Mayer, Sie
haben das eben angesprochen -, dass es gar nicht die
Bürger sind, die den Zugang zu Informationen wollen.
Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! 43 Prozent
aller Anfragen kommen von Bürgern und Bürgerinnen,
ganz privat. Sie haben vielleicht Partikularinteressen;
das sei ihnen zugestanden. Aber sie sind die größte Einzelgruppe von Anfragenden. Gut, es gibt sicherlich noch
andere Gruppen, die einen Zugang zu Informationen
wollen. Mir ist es aber völlig egal, ob es ein Bürger, ein
Journalist oder ein Politiker ist - leider müssen auch wir
uns teilweise auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen, weil wir ansonsten keine Auskunft von der Regierung bekommen -;
({9})
sie alle haben ein legitimes Recht auf Zugang zu Informationen. Das können sie im Moment nicht wahrnehmen, und dem müssen wir Rechnung tragen.
({10})
Wir müssen auch über den Arbeitsaufwand, den ich
sehe, reden. Natürlich dürfen Beschäftigte im öffentlichen Dienst diese Aufgabe nicht on top machen, also
quasi nebenbei. Die Frage, die ich mir stelle, ist aber:
Was ist uns echte Transparenz wert? Wir beklagen in
diesem Haus permanent die Demokratieferne, den Umstand, dass sich die Menschen nicht mehr für uns interessieren. Aber wenn wir wirklich die Möglichkeit haben,
Nähe und Akzeptanz herzustellen, dann kommen Sie mit
dem Kostenargument, ohne die Vorschläge, die wir machen, wie man das Ganze vereinfachen kann, zu prüfen.
({11})
Das ist unlauter; das ist nicht unsere Vorstellung.
({12})
Wir nehmen im Gegensatz zur Regierung von Frau
Merkel die Empfehlungen der Experten ernst. Wir wollen sie umsetzen, allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nicht durch eine Änderung des
Grundgesetzes. Wir haben eigene Vorstellungen. Wir
werden einen Entwurf für ein neues Informationsfreiheitsgesetz vorlegen. Wenn er angenommen wird, kann
sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Beschäftigten
in den Ämtern die Akten für die Bürger und Bürgerinnen
nur verwalten und sie nicht vor der Öffentlichkeit schützen müssen.
Danke sehr.
({13})
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Teilnehmer der heutigen Sitzung, die Sie nicht
in die Röhre schauen, sondern Teil der Blackbox sind,
wie die Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagt
haben. Herzlich willkommen im Bundestag, in unserem
transparenten Haus! Wir freuen uns sehr über Ihr Interesse.
Passend zur heutigen Debatte schrieb die Zeit gestern:
„Behörden tun sich mit Informationsfreiheit schwer“.
Auf der Internetseite der Zeit werden dann gleich
142 Seiten interner Vermerke der Bundesregierung veröffentlicht. Es handelt sich um Besprechungsvermerke
zwischen den Ressorts, in denen die unterschiedlichsten
Fragen zum Informationsfreiheitsgesetz behandelt werden.
({0})
Ob es der Informationsfreiheit dient, wenn solche Vermerke an die Öffentlichkeit gelangen, ist fraglich. Ich
glaube, wir sind uns alle darüber einig, dass wir dann
möglicherweise solche Vermerke nicht geschrieben oder
sie anders behandelt hätten. Aber dass man das zum Anlass nimmt, darauf hinzuweisen, dass die Behörden mit
der Informationsfreiheit nicht umgehen können, halte
ich für übertrieben.
Dass Informationsfreit dem demokratischen Prinzip
dient, stellte schon der ehemalige liberale Justizminister
Professor Dr. Schmidt-Jortzig fest. Frau Kollegin
Lühmann, nur zur Erinnerung: Wenn die Liberalen damals nicht dafür gesorgt hätten, dass das Informationsfreiheitsgesetz den Bundesrat passiert, gäbe es dieses
Gesetz heute gar nicht. Ich weiß, dass Sie das gerne vergessen.
({1})
Ich wollte Sie nur noch einmal daran erinnern.
({2})
- Dass wir uns hier treffen, ist immer gut. Da haben Sie
völlig recht, Herr Kollege.
Es kommt immer darauf an, die gesetzliche Entwicklung zu beobachten und festzustellen, was richtig und
was falsch läuft. Dass es manchmal einer Nachjustierung
bedarf, ist keine Frage. Aber es kommt immer darauf an,
was man verändern will. Der Gesetzentwurf der Grünen,
über den wir im Mai letzten Jahres zum ersten Mal diskutiert haben, ist aus unserer Sicht heute nicht anders zu
bewerten als damals. In der Gesetzesbegründung zum
IFG hieß es 2004:
Der Bund erlässt erstmals ein Gesetz zum allgemeinen Zugang zu amtlichen Informationen des Bundes.
Bekanntermaßen lautet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes:
Jeder hat das Recht, … sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.
Ganz offensichtlich haben Sie damals gedacht, dass das
im Einklang mit dem Grundgesetz stünde, und wollten
keine entsprechende Änderung vornehmen. Ich glaube
nicht, dass Ihr Gesetz etwas an den Problemen, die wir
haben, ändern würde, weder rechtlich noch politisch.
({3})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das, was Sie
hier machen, aus meiner Sicht absolut populistisch ist.
({4})
Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, dass bei den Bürgerinnen und Bürgern „berechtigte Wut“ entstehe,
„wenn einmal gewählte Volksvertreter über ihren Kopf
hinweg intransparente Entscheidungen treffen“. Das fördert Ressentiments, und zwar unberechtigte Ressentiments, und hat nichts mit unserer Arbeit im Deutschen
Bundestag zu tun. Wenn Sie so arbeiten, ist das Ihr Problem. Wir tun es nicht.
({5})
Ich muss Sie ernsthaft fragen, welches Selbstverständnis Sie als Parlamentarier haben. Das, was Sie sagen, ist nicht haltbar. Das sind bloße Behauptungen, die
weder dem Haus noch unserem Ansehen helfen. Vielleicht noch als kleine Nachhilfe für die Kolleginnen und
Kollegen von Rot-Grün: Das Informationsfreiheitsgesetz
betrifft ausdrücklich die Exekutive und ihre Handlungen
und nicht unsere Arbeit als Parlamentarier. So gesehen
sind all die von Ihnen genannten Beispiele aus dem Parlament daneben. Wir arbeiten transparent und beraten
hier öffentlich. Alle Ihre Vergleiche betreffend das Parlament, die Abgeordneten und das Informationsfreiheitsgesetz zeigen, dass Sie es nicht verstanden haben. Ich
bin froh, dass wir öffentlich tagen, damit es jeder versteht.
({6})
Herr Kollege von Notz, Sie warten jetzt sicherlich darauf, welche intransparenten Entscheidungen aus der rotgrünen Regierungszeit ich Ihnen vorwerfen werde.
({7})
Es ist viel schlimmer.
({8})
- Nein, es ist noch viel schlimmer. - Sie müssen nur auf
das grün-rot regierte Baden-Württemberg schauen.
({9})
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ein Blick auf die
grün-rote Wirklichkeit: Im Koalitionsvertrag für BadenWürttemberg von 2011 wurde die sofortige Schaffung
eines Informationsfreiheitsgesetzes versprochen. Jetzt
bin ich dummerweise Juristin und weiß deshalb: „Sofort“ heißt „ohne schuldhaftes Zögern“. Was hat sich
nach zwei Jahren getan? - Nichts! Das ist interessant.
Seit zwei Jahren fehlt jede Spur von einer Initiative der
Grünen. Auf Anfragen nach Information zum Stand des
Gesetzgebungsverfahrens war, wie Lars Sobiraj auf
www.gulli.com schreibt, aus dem zuständigen Ressort in
der Landesregierung zu erfahren - das ist besonders
hübsch -: „Haben Sie bitte Verständnis, dass wir Ihnen
über Einzelheiten vorab keine Auskünfte erteilen“. Willkommen in der Wirklichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist der Unterschied: Sie reden darüber, wir
tun es.
({10})
Es gibt einen Gesetzentwurf der baden-württembergischen FDP-Landtagsfraktion. Dem können Sie zustimmen.
({11})
Wenn Sie das machen, Herr Kollege von Notz, können
wir hier im Haus gerne wieder über Ihre Haltung zum Informationsfreiheitsgesetz sprechen.
Mein Vorredner von der Union hat bereits viel zu den
übrigen inhaltlichen Punkten gesagt. Darauf beziehe ich
mich vollumfänglich; das ist an einem Freitagnachmittag
auch einmal schön.
({12})
Ich danke Ihnen und freue mich auf die Initiative der
Grünen in Baden-Württemberg. Ich bin gespannt, ob sie
da ihre Versprechungen in die Wirklichkeit umsetzen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kennen Sie Herrn Schaar?
({0})
Landläufig wird er als Datenschutzbeauftragter bezeichnet. Korrekt heißt es aber: Bundesbeauftragter für den
Datenschutz und die Informationsfreiheit - zu Recht;
denn Datenschutz und Informationsfreiheit sind Zwillinge, wenn es um Bürgerrechte und Demokratie, um
souveräne Bürgerinnen und Bürger geht. Der Datenschutz soll verhindern, dass Bürgerinnen und Bürger gläsern und damit beherrschbar werden. Die Informationsfreiheit soll garantieren, dass Bürgerinnen und Bürger
mündig selbst entscheiden können. Kurz gesagt: Der
Staat soll über Bürgerinnen und Bürger möglichst wenig
wissen. Bürgerinnen und Bürger sollen über den Staat
möglichst viel wissen. Es geht also um ein Kernthema
der demokratischen Gesellschaft. Damit rennen Sie bei
der Linken offene Türen ein.
({1})
Das geltende Informationsfreiheitsgesetz wurde 2005
beschlossen. Deutschland war damit im internationalen
Vergleich spät, sehr spät dran. Die Initiative ging von
den damals regierenden Parteien SPD und Bündnis 90/
Die Grünen aus. Ich habe das als Linke begrüßt. Zugleich wies ich seinerzeit auf ein rot-grünes Dilemma
hin. Ich sagte nämlich: Machen Sie das Gesetz trotz Ihres Bundesinnenministers Schily, dann kann es gut werden. Machen Sie es mit Otto Schily, dann wird es
schlecht. - Es wurde mit ihm gemacht. Übrigens erntete
ich damals von der SPD den Zwischenruf: Warten Sie
doch erst einmal die Praxis ab! - Das habe ich, und siehe
da: Die Praxis gab und gibt mir recht, ebenso wie übrigens alle Experten, auf die sich Bündnis 90/Die Grünen
heute berufen.
Die beiden Hauptmängel des Informationsfreiheitsgesetzes schlagen durch: Erstens. Es gibt zu viele Ausnahmen, nach denen Behörden keine Auskunft erteilen müssen und Bürgerinnen und Bürger mithin unmündig
halten können. Zweitens. Auskunftsrechte werden mit
hohen Gebühren belastet. Die einen können sich das
leisten und die anderen nicht. So entstehen Bürgerrechte
erster und zweiter Klasse. Als Linke sage ich: Beide Defizite müssen endlich behoben werden.
({2})
Längst kommt eine dritte Herausforderung hinzu. Das
Internet bietet uns vordem nie gekannte Möglichkeiten
für die Informationsfreiheit. Dem wurde weder das Gesetz von 2005 gerecht, noch wird es die Praxis heute.
Dieses Manko gilt übrigens wieder für beide Seiten der
Medaille: für Datenschutz und Informationsfreiheit. Weder das Recht auf Datenschutz noch die Informationsfreiheit sind hierzulande im Internetzeitalter angekommen; sie sind antiquiert.
Überhaupt muss die Demokratie im 21. Jahrhundert
neu fundiert werden. Wir sollten uns endlich gemeinsam
dieser Herkulesaufgabe annehmen. Allerdings glaube
ich nicht, dass ein simpler Verweis im Grundgesetz etwas bewirkt. Deshalb wird die Linke diesem Antrag
nicht zustimmen. Gleichwohl brauchen wir ein modernes Gesetz. Deshalb wird die Linke den Sachauftrag für
mehr Informationsfreiheit mit Ja bekräftigen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Kollege von Notz fordert eine
neue Meinung von unserer Fraktion. Ich glaube, dass unsere Meinung nicht neu sein muss. Entscheidend ist vielmehr, dass wir auf der Basis des Grundgesetzes agieren,
und das fehlt mir bei Ihrem Gesetzentwurf zur Ausweitung des Art. 5 des Grundgesetzes und bei Ihrem Antrag
zur Überarbeitung des Informationsfreiheitsgesetzes.
Wenn man sich Ihre letzten Vorlagen anschaut, dann
muss man schon sagen, dass Sie sich hier als Partei der
Bürger- und Informationsrechte aufführen wollen.
({0})
Dann müssen Sie aber auch einmal inhaltlich nachlegen.
({1})
Die hohe Geschwindigkeit, mit der Sie Vorlagen einbringen, wird mitnichten von inhaltlicher Substanz begleitet.
Das war schon der Fall, als Sie den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 5 des Grundgesetzes eingebracht haben. Damals haben wir an dieser Stelle darüber
diskutiert, ob es einer Ergänzung im Grundgesetz bedarf; denn dort ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bereits verankert. Aus der Zusammenschau
von Art. 5, dem Recht auf Demokratie und den Normierungen zum Rechtsstaat gibt es Ansprüche, die der Bürger geltend machen kann.
Darüber hinaus haben wir etwas ganz Starkes, das die
Kollegin Pau gerade zu Recht angesprochen hat: das Informationsfreiheitsgesetz, und zwar auf Bundesebene
und auf Landesebene, leider mit Ausnahme bestimmter
Bundesländer. Vor diesem Hintergrund ist Ihre Forderung nach Überarbeitung von Art. 5 des Grundgesetzes
reine Schaufensterpolitik. Ich habe Ihnen damals schon
gesagt: Formulieren Sie doch einmal einen aus Ihrer
Sicht tauglichen Art. 5! Sie machen das zu Recht nicht.
Sie stellen einen Forderungskatalog auf; aber es gelingt
Ihnen nicht, eine eigene Formulierung zu finden. Daran
zeigt sich: Sie fordern, um sich gut zu verkaufen; aber
inhaltlich kommt nichts.
({2})
Viel sinniger wäre das, was die Kollegin Lühmann
eben angesprochen hat, nämlich einmal zu schauen, wie
viele Gesetze wir eigentlich haben, in denen Informationsrechte für Bürger verborgen sind und die die Bürger
stets daraufhin durchsuchen müssen, ob sie nun einen Informationsanspruch haben oder nicht. Frau Kollegin
Lühmann, wir haben das einmal in Nordrhein-Westfalen
zu Zeiten der CDU/FDP-Regierung unter Innenminister
Wolf untersucht und festgestellt, dass es dort 50 solcher
Gesetze gibt. Wir wollten die verschiedenen Informationsrechte in einem allgemeinen Informationsfreiheitsgesetz bündeln. Dann kam der Regierungswechsel. Was
aber macht der neue Innenminister Jäger? Er legt diese
Pläne ad acta und sagt: Das brauchen wir nicht; das machen wir nicht. - Gehen Sie doch einmal auf Ihre Parteifreunde in den Bundesländern zu, und bringen Sie die
Reformierung in Bezug auf die weitverstreuten Informationsrechte, wie wir es uns gewünscht haben, voran. Das
wäre eine weise Entwicklung. Die entsprechende Untersuchung haben übrigens zwei Kollegen und ich für die
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung gemacht. Ich
kann Ihnen die Unterlagen dazu gerne geben.
Wenn man sich Ihren heute vorliegenden Antrag einmal intensiv anschaut, dann stellt man fest: Sie drehen
alles, was mit Datenschutz und Freiheitsrechten verbunden ist, um. Das ist schon der zweite sehr weise Punkt
der Kollegin Pau.
({3})
- Es kommt nicht oft vor, dass ich die Linke loben kann;
aber das, was Frau Pau sagte, war gut. Da kann man
auch einmal über seinen Schatten springen. - Die Kombination von Datenschutz und Freiheitsrechten, die Abwägung von Grundrechten, von im Grundgesetz verankerten Rechten ist genau das, worauf das öffentliche
Recht basiert, und genau das, was sich in §§ 3 bis 6 des
Informationsfreiheitsgesetzes wiederfindet. Schauen Sie
einmal in § 5 des Informationsfreiheitsgesetzes!
({4})
Sie wollen die Abwägung abschaffen. Sie sagen, den
Teil des Datenschutzes soll es gar nicht mehr geben. Im
öffentlichen Recht haben wir es aber immer - das verkennen Sie anscheinend, weil Sie der Außenwelt gerne
eine bestimmte Nachricht übermitteln wollen - mit einer
Abwägung von Gütern zu tun.
({5})
Der Union und mir ist besonders wichtig, dass wir auf
der einen Seite den Schutz personenbezogener Daten haben und auf der anderen Seite die Freiheitsrechte.
Ich stelle mit Grauen fest, dass Sie in Ihrem Antrag
fordern, dass Daten von Bürgern demnächst auf Internetportalen frei zur Verfügung stehen sollen, etwa wenn es
um den Anschluss- und Benutzungszwang, wenn es um
Abfallbeseitigung oder Bauanträge geht. Wenn es darum
geht, all das demnächst im Internet veröffentlicht zu sehen, dann kann ich nur hoffen, dass es eine Bundesregierung gibt, die Datenschutz und Informationsrechte weise
abwägt und nicht nur eine Seite sieht wie Sie in Ihrem
Antrag.
({6})
Lieber Konstantin von Notz, ich glaube, dass Sie es
gut meinen. Ich glaube aber auch, dass Sie selbst gemerkt haben, dass Sie mit Bündnis 90/Die Grünen nicht
im Stande waren, zu formulieren, was Sie wollen. Sonst
hätten Sie sicher mehrere Paragrafen in einem Gesetzentwurf zur Änderung des Informationsfreiheitsgesetzes
formuliert. Sie haben wieder nur einen Antrag formuliert
mit dem, was Sie sich gerne wünschen. Das lässt sich
nicht unterlegen. Es spricht im Grunde schon genau das
aus dem Informationsfreiheitsgesetz, was Sie einfordern.
({7})
Von daher hoffe ich, dass Ihr Antrag nicht weiterverfolgt
wird.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13097
mit dem Titel „Informationsfreiheit weiter entwickeln“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes ({0}). Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12490, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9724
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Grünen bei
Enthaltung der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2012 ({1})
- Drucksache 17/12050 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Ich bin dem Deutschen Bundestag
sehr dankbar, dass er meinen Jahresbericht in diesem
Jahr so zeitnah berät, sogar noch bei Tageslicht an einem
Freitag. Diese Aktualität ist wichtig, weil es nicht zuletzt
um die Aufarbeitung von Missständen, Mängeln und gelegentlich auch Defiziten geht. Davon handelt auch dieser Bericht.
Ich musste in den letzten beiden Jahren von einer tiefgreifenden Verunsicherung und einer hohen Belastung
der Soldatinnen und Soldaten berichten. Leider kann ich
insoweit noch keine Besserung feststellen. Ich bin in der
Beurteilung, glaube ich, einig mit dem BundeswehrVerband, der hier durch seinen Vorsitzenden, Oberst Kirsch,
vertreten ist. Die Einsatzbelastungen sind weiterhin sehr
hoch, und es ist noch keine wirksame Abhilfe in Sicht.
Immerhin kann man eines feststellen: Ausrüstung und
Ausstattung im Auslandseinsatz, insbesondere in Afghanistan, sind nun auf einem zufriedenstellenden Stand.
Wir merken das auch, wenn wir die Zahlen betrachten,
den Rückgang der Opferzahlen und den Rückgang auch
der Zahl der Verwundungen.
Für viele Soldatinnen und Soldaten konkretisieren
sich jetzt die individuellen Auswirkungen der Neuausrichtung der Bundeswehr. Sie wissen nun, ob und, wenn
ja, wie sehr sie und ihre Familien davon jeweils selbst
betroffen sind. Die Betroffenheit - das können wir feststellen - ist groß. Das belegt nicht zuletzt der Anstieg
der Zahl der in den ersten Monaten des Jahres 2013 eingegangenen Eingaben. Versetzungen, Umzüge und enttäuschte Laufbahnerwartungen trüben vielerorts die
Stimmung an den Standorten.
Aber das ist es nicht allein. Auch die konkrete Umsetzung der Reform schlägt oftmals weitere - vermeidbare - Wunden. Wenn beispielsweise Soldaten im Einsatz an einem Freitagnachmittag angerufen werden,
ihnen mitgeteilt wird, was ihr Dienstherr mit ihnen vorhat, und ihnen eine Stellungnahme bis zum Montag abgefordert wird, dann hebt das natürlich nicht die Stimmung. Zu Recht sind die Betroffenen darüber verärgert;
denn natürlich müssen auch sie, obgleich fern der Heimat, die Möglichkeit haben, solche Entscheidungen, die
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
tiefgreifende Wirkungen für sie selbst und für ihre Familien haben, seriös mit den Angehörigen zu besprechen.
Das, meine Damen und Herren, ist kein Vorwurf an
die Personalführer. Wer in Zeiten solch fundamentaler
Umbrüche im Personalgefüge der Streitkräfte 650 Soldaten und mehr führen muss - das müssen die Personalführer -, der kann solche Zumutungen nicht immer vermeiden; ich weiß das. Es ist eben ein strukturelles Problem,
das durch angemessene Personalverstärkung schnellstmöglich behoben werden muss.
Dies verschärft zugleich eines der brennendsten
Grundprobleme der Bundeswehr: die noch immer völlig
unzureichende Vereinbarkeit von Familie und Dienst,
die den Soldatinnen und Soldaten zu Recht immer wichtiger wird. Die Vereinbarkeit ist auch einer der Schlüssel
für die Attraktivität des Dienstes und damit für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr. Die Konkurrenz auf
dem Arbeitsmarkt wird die Bundeswehr durchaus zwingen, die Belastungen durch Pendelei - über 70 Prozent
aller Soldatinnen und Soldaten müssen pendeln -, Kommandierungen und vor allem auch durch die Auslandseinsätze auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Darauf
sind die Strukturen der Bundeswehr aber noch lange
nicht ausgerichtet. So muss der Dienstherr Rahmenbedingungen schaffen, die es den Soldatinnen und Soldaten auch tatsächlich ermöglichen, und zwar, ohne dass
sie ein schlechtes Gewissen gegenüber den Kameradinnen und Kameraden haben müssen, die dann die Arbeit
für sie mitmachen oder einmal mehr in den Einsatz gehen müssen, auch Rechte wie Elternzeit in Anspruch zu
nehmen. Dazu muss der Dienstherr Vertretungsreserven
bereithalten, wie übrigens jeder andere Arbeitgeber
auch. Davon ist nur nichts zu sehen.
Ich würde mich im Übrigen auch sehr freuen, wenn
ich noch in meiner Amtszeit - das wäre bis 2015 - den
ersten bundeswehreigenen Kindergarten außerhalb des
Ministeriums besuchen könnte und nicht immer nur von
Grundsteinlegungen höre.
({3})
Ich kann in diesem Bereich faktisch noch keine wirklichen Fortschritte erkennen.
Meine Damen und Herren, mehr denn je ziehen Soldatinnen und Soldaten auch in Zweifel, dass die Bundeswehr durch die Neuausrichtung wirklich leistungsstärker
und effizienter werde. Sie registrieren vielmehr, dass die
Ressourcen in den Mangelverwendungen weiter verknappt werden; ich nenne Spezialpioniere, ABCisten
und andere. Die zeitliche Belastung der Soldatinnen und
Soldaten durch die Auslandseinsätze liegt weiterhin
deutlich über dem angestrebten Rhythmus von vier Monaten Einsatz und 20 Monaten einsatzfreier Zeit - jedenfalls in der Regel. Die Soldatinnen und Soldaten sehen,
dass erfahrene, motivierte und gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten, die gern bei der Bundeswehr bleiben
möchten, die Bundeswehr verlassen müssen, und das,
obwohl es erhebliche Unterbesetzungen gerade bei den
Mannschaften gibt. Die Nachwuchslage hat in einzelnen
Bereichen kritische Grenzen erreicht. Es fehlt an Mannschaften, insbesondere in der Marine. - Diese Probleme
werden von Tag zu Tag brisanter. Wenn nicht schnell
und wirksam gegengesteuert wird, dann haben wir ein
dauerhaftes Problem. Der Bericht, den ich hier natürlich
nicht vollständig vortragen kann, macht dies anhand
konkreter Beispiele deutlich.
Der Bericht räumt auch in diesem Jahr den Themen
Betreuung und Versorgung breiten Raum ein. Ohne
Frage hat sich die Versorgung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und ihrer Familien im Falle von
Verwundung und Tod mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, dem Einsatzversorgungs- und dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz deutlich verbessert.
Das ist etwas, wofür ich dem Deutschen Bundestag sehr
dankbar bin. Ich weiß, wie sehr insbesondere die Soldatinnen und Soldaten, aber auch die Berufsverbände es
begrüßen, dass das Parlament, dass die Abgeordneten
hier initiativ geworden und weit über das hinausgegangen sind, was der Dienstherr ursprünglich vorhatte.
Ungeachtet dessen besteht die Diskrepanz zwischen
dem Anspruch auf Weiterverwendung und der Zahlung
einer Entschädigung im Falle einer Verwundung fort.
Darauf hatte der Abgeordnete Hellmich bereits in der
Beratung des vorangegangenen Jahresberichtes nachdrücklich hingewiesen, und zwar zu Recht. Während das
Einsatz-Weiterverwendungsgesetz auch die Einsätze auf
dem Balkan in den 90er-Jahren erfasst, gilt die Einmalentschädigung erst für Fälle, die sich seit dem 1. Dezember 2002 ereignet haben. Es liegt jetzt in der Hand des
Gesetzgebers, diese Lücke zu schließen. Der Minister
sollte, wie von mir bereits angeregt, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen.
Auf erhebliche Probleme stößt im Zuge der Verschlankung der Strukturen auch die Beurteilungspraxis.
Abgesehen von dem noch immer ungelösten Problem
der Vergleichsgruppen, zeichnet sich durch die Neustrukturierung ab, dass zukünftig ein Kommandeur für
die Beurteilung von mehreren Hundert Soldatinnen und
Soldaten zuständig wird, ohne dass er diese alle persönlich kennt, ja, überhaupt kennen kann. Das wird im Falle
einer gerichtlichen Überprüfung sicherlich keinen Bestand haben. Höchstrichterlich beanstandet wurde schon
die jahrgangsmäßige Betrachtung der Laufbahnentscheidungen.
Die Entscheidung des Bundesministeriums der Verteidigung, deshalb die Auswahlkonferenzen in diesem
Jahr auszusetzen, ist verständlich, befördert aber die Unruhe in der Truppe weiter.
Meine Damen und Herren, der Dienst in den Streitkräften war im vergangenen Jahr einmal mehr von den
Einsätzen geprägt. Das hat in dem Bericht, aber auch in
meiner kontinuierlichen Berichterstattung an den Verteidigungsausschuss Niederschlag gefunden. Dies stieß auf
hoher politischer und militärischer Ebene auf Kritik. Davon lasse ich mich aber nicht beeindrucken.
({4})
Meine Damen und Herren, die Rechte der Soldatinnen
und Soldaten und die Prinzipien der Inneren Führung
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
gelten auch im Auslandseinsatz und enden nicht an unseren Außengrenzen. Daher werde ich auch weiterhin,
wenn dazu Anlass besteht oder wenn ich durch Sie,
meine Auftraggeber, hierzu beauftragt werde, dem Verteidigungsausschuss über meine Erkenntnisse zur Situation in den Einsatzgebieten berichten. Es gehört dabei zu
meinen originären Aufgaben, mich nicht allein mit den
Schokoladenseiten zufriedenzugeben. Dass dies manchen nervt, wie man lesen konnte, ist wohl nicht zu vermeiden. Aber das sollte niemanden, erst recht niemanden
im Umfeld des Ministers, zu dem Versuch veranlassen,
mit leichtfertigen oder gar bewusst falschen Darstellungen einen Keil zwischen den Wehrbeauftragten und die
Soldatinnen und Soldaten oder das Parlament zu treiben.
Lassen Sie mich damit schließen, allerdings nicht,
ohne Ihnen, dem Deutschen Bundestag, insbesondere
den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, für Ihre
Unterstützung meiner Arbeit zu danken. In diesen Dank
schließe ich die Partner meines Amtes im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung ein. Ganz
besonders danke ich natürlich den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern meines Amtes für ihren Einsatz und ihr Engagement im Rahmen der Bewältigung meiner Aufgaben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich meinerseits im Namen des ganzen Hauses
dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die
Vorlage des Jahresberichtes sehr herzlich danken und für
die weitere Arbeit alles Gute wünschen.
({0})
Das Wort hat jetzt Bundesminister Thomas de
Maizière.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wehrbeauftragter, dem Dank an Sie und Ihre Mitarbeiter für das große Engagement, die Kraft und die Entschlossenheit, mit der Sie sich für die Bundeswehr und
die Soldaten einsetzen, schließe ich mich an.
Ihr Bericht nennt Mängel, aber verschweigt auch die
Verbesserungen nicht. Sie haben die Verbesserung der
Ausrüstung, insbesondere in Afghanistan, erwähnt.
Schon Ihre Vorgänger, aber auch Sie selbst und Ihre Mitarbeiter haben stets darauf hingewiesen. Dass es dort
besser geworden ist, ist auch ein Verdienst des Wehrbeauftragten.
Sie haben in Ihrem Bericht - ich habe jetzt nicht die
Gelegenheit, alle Themen zu diskutieren - aus meiner
Sicht drei Punkte in besonderer Weise in den Mittelpunkt gestellt: die innere und soziale Lage der Streitkräfte im Zusammenhang mit der Neuausrichtung, die
Soldaten im Auslandseinsatz und die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Deswegen will ich zu diesen drei
Punkten kurz etwas sagen.
Zunächst zur inneren und sozialen Lage. Natürlich ist
sie geprägt von dem Wandel, den die Neuausrichtung
unverkennbar und unabänderlich mit sich bringt. Die
Unsicherheit von Betroffenen ist nachvollziehbar. Sie
ändert aber nichts an den grundsätzlich guten Bedingungen, die Bundeswehrsoldaten und zivile Mitarbeiter der
Bundeswehr bei uns vorfinden, und auch nichts an der
Richtung der Neuausrichtung. Sie ist richtig. Sie schreiben:
Erwartungen, dass die Bundeswehr durch die Neuausrichtung leistungsstärker und effizienter wird,
bestätigten sich im Berichtsjahr nicht …
Diese Aussage ist sicher richtig; denn wir sind mitten in
der Neuausrichtung. Das Ergebnis der Neuausrichtung
soll sein, dass die Bundeswehr leistungsstärker und effizienter ist, für den Prozess bis dahin kann dies noch
nicht gelten.
Ein Wort zur Unterbesetzung. Dies ist ein wichtiger
Punkt, den ich auch oft höre. Der Generalinspekteur sagt
so schön, wir stehen in zu großen Schuhen. Das heißt,
die Fehlbesetzung ergibt sich auch daraus, dass wir in alten Strukturen mit weniger Menschen arbeiten. Die Antwort kann aber nicht sein, die jetzigen Strukturen zu befüllen, sondern die Antwort kann nur sein, schnell zu
neuen Strukturen zu kommen. Wir werden im Deutschen
Bundestag noch in dieser Legislaturperiode, etwa bei der
Beantwortung der Großen Anfrage der SPD oder auch
an anderer Stelle, darüber ausführlicher diskutieren.
Ein Wort zum Auslandseinsatz. Ich bin selbst viel vor
Ort, wie auch Sie. Natürlich kann in der Phase eines
Aufbaus eines Einsatzes nicht alles so rund laufen wie
dann, wenn man schon länger da ist. Da gibt es Verbesserungsbedarf, und viele Mängel sind abzustellen. Es
gibt aber einen Unterschied zwischen uns. Sie haben in
einem Interview mit Radio Andernach vor zwei Wochen
gesagt: Bei Verpflegung und Kommunikation muss es
unser Anspruch sein, im Ausland inländische Bedingungen zu schaffen. - Nun mag es diesen Anspruch geben.
Ich sage Ihnen nur realistischerweise: Das wird nicht immer gehen.
In Mali, im Sudan, in der Türkei und anderswo ist das
nicht immer möglich. Für die Soldatinnen und Soldaten
und für uns ist eines ganz klar: Die Auftragserfüllung
steht immer an erster Stelle. Ziel muss es aus meiner
Sicht deshalb sein, akzeptable Bedingungen für unsere
Soldatinnen und Soldaten zu schaffen. Die Besonderheiten des jeweiligen Einsatzes dürfen nicht aus dem Auge
verloren werden. Wir können nicht in der ganzen Welt
inländische Bedingungen schaffen. Das geht nun einmal
nicht.
Ihnen liegt genau wie mir der Umgang mit den Soldatinnen und Soldaten nach dem Einsatz am Herzen. Das
spielt in Ihrem Bericht eine große Rolle. Ich will darauf
ganz kurz eingehen. Der Generalinspekteur hat am
31. Oktober 2012 das Rahmenkonzept „Erhalt und Steigerung der psychischen Fitness von Soldatinnen und
Soldaten“ erlassen. Damit stellen wir die Betreuung der
Einsatzrückkehrer auf eine solide Basis. Ich lasse mir
quartalsweise von der Umsetzung berichten. Durch eine
Vielzahl aufeinander abgestimmter und sich ergänzender
Maßnahmen wollen wir Erkrankungen verhindern oder
diese rechtzeitig erkennen, um entsprechende Hilfsangebote erarbeiten zu können. Ja, da gab es Verbesserungsbedarf. Wir sind auf dem Weg, gemeinsam Mängel abzustellen.
Zum Schluss noch ein Wort zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Ja, auch hier gibt es einen immensen
Verbesserungsbedarf in vielerlei Hinsicht. Das ist auch
mehr als der Ausbau der Kinderbetreuung. Dazu gehört
die Gewährleistung möglichst heimatnaher Verwendung,
dazu gehören flexible Einsatzzeiten, Teilzeitregelungen,
dazu gehört - das haben wir jetzt gemacht - die Schaffung einer besonderen Beauftragten für die Vereinbarkeit
von Familie und Dienst als Ansprechpartner, und dazu
gehört vor allem kluges Handeln vor Ort.
Wir investieren 10,5 Millionen Euro in den Bau von
eigenen Kindertagesstätten. Das ist richtig, allerdings
wollen und können wir nicht überall eigene Kindertagesstätten organisieren. Wichtig ist, dass wir Betreuung vor
Ort organisieren.
({0})
Das können Belegplätze sein, das können andere originelle Lösungen sein, die oft viel familiengerechter sind
als der Bau eigener Kindertagesstätten. Ich kann Sie aber
beruhigen, wenn Ihre Amtszeit bis 2015 geht. In der ersten Jahreshälfte 2014 sollen auf dem Campus in Neubiberg die ersten Kinder einziehen. Vielleicht können wir
es hinbekommen, dass wir gemeinsam diesen Kindergarten eröffnen.
({1})
Ich will zum Schluss sagen, weil immer viel über das
Verhältnis des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiter
zum Ministerium und dessen Mitarbeitern geschrieben
und gemutmaßt wird: Es ist ganz klar, der Wehrbeauftragte beschäftigt sich insbesondere mit Mängeln. Das
ist seine gesetzliche Aufgabe. Der Minister und seine
Mitarbeiter beschäftigen sich auch mit Mängeln, aber
nicht nur mit Mängeln. Wir sehen auch die Stärken, wir
sehen Entwicklungen, und wir wollen die Bundeswehr
als solche auch schützen. Eines eint uns aber: Egal wie
man auf die Dinge schaut, wir arbeiten sicher mit unterschiedlicher Methode, in unterschiedlicher Weise und in
unterschiedlicher Art beide daran, dass es den Soldatinnen und Soldaten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Bundeswehr im Ganzen so gut geht, dass sie
ihren Auftrag erfüllt, dass sie in unserer Gesellschaft
verankert ist und dass die Arbeits- und Lebensbedingungen so sind, dass die Soldaten gerne Soldaten sind und
bleiben.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Wehrbeauftragter, Ende Januar haben Sie Ihren Jahresbericht 2012 vorgelegt. Ich danke Ihnen und
Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Arbeit und - das muss man sagen - für die erneut schnelle
Vorlage des Berichts.
({0})
Für die Tagesschau ist der Wehrbeauftragte „eine Mischung aus Kummerkasten und Seismograph für die
Stimmung in der Truppe“. Für mich sind Sie dazu noch
ein geschätzter Kollege mit einem Stab von engagierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Wertschätzung
hier in der Debatte über den Bericht des Wehrbeauftragten scheint die Bundesregierung noch nicht ganz erreicht
zu haben. Denn einen ungünstigeren Zeitpunkt als den
Freitagnachmittag gibt es dafür wohl kaum.
({1})
Wahrscheinlich hätten die Kollegen von CDU/CSU und
FDP die Debatte am liebsten auf den 1. Mai verschoben,
um der sehr berechtigten Kritik in diesem Bericht aus
dem Weg zu gehen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion hätten es jedenfalls sehr begrüßt, wenn für die Debatte über den Bericht eine prominentere Zeit angesetzt
worden wäre;
({2})
denn viele Kollegen sind schon auf dem Weg in die
Wahlkreise, um die Veranstaltungen heute Abend rechtzeitig zu erreichen.
Es sind nicht nur wir hier im Bundestag, die sich die
Feststellungen dieses Berichtes genau anhören sollten.
Es gibt auch viele Soldatinnen und Soldaten, die unsere
Debatte mit Interesse verfolgen. Es wäre meines Erachtens eine angemessene Geste, dafür einen Platz in der
Primetime zu suchen.
({3})
Dass wir uns nun also hier am Freitagnachmittag treffen,
ist gleichzeitig Ursache und Symptom der zurzeit
schlechten Stimmung in der Truppe.
Ich wundere mich nicht darüber, dass im Bericht des
Wehrbeauftragten festgestellt wird, dass sich die Soldaten und Soldatinnen bei den Veränderungen durch die
Neuausrichtung der Bundeswehr nur unzureichend mitgenommen fühlen. Viele haben das Gefühl, dass über
ihre Köpfe hinweg entschieden wird und sie bei Verän29554
derungen und Neuerungen unzureichend eingebunden
werden. Das führt zwangsläufig zur Verunsicherung.
Das bestätigt auch der vorliegende Bericht; wir haben es
auch gerade gehört.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Gott sei Dank
sind im vergangenen Jahr kein deutscher Soldat und
keine Soldatin gefallen. Auch die Anzahl und Schwere
von Verwundungen haben erheblich abgenommen. Das
ist gut; aber es entbindet uns nicht von unserer Verantwortung. Der Soldatenberuf ist gefährlich, manchmal sogar lebensgefährlich.
Allen Soldatinnen und Soldaten danke ich für ihren
Einsatz und ihre Bereitschaft, für Frieden und Sicherheit
ein großes Risiko auf sich zu nehmen.
({4})
Wir haben wirklich eine großartige Bundeswehr, wir haben großartige Männer und Frauen in der Truppe, die auf
der ganzen Welt für ihr Können und ihre Verlässlichkeit
geschätzt werden. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit und
den Einsatz.
Meine verehrten Damen und Herren, in dieses Bild
passt es natürlich nicht, dass einige wenige dieses Ansehen mit ihrem Verhalten schädigen. Wir akzeptieren
nicht, dass es in der Truppe unter der Überschrift „Alte
Schule“ offensichtlich immer wieder zu verbalen Entgleisungen kommt, die zum Teil von den Vorgesetzten
geduldet werden. Die Bundeswehr ist kein Ort für eine
imaginäre Heldenromantik. Die Bundeswehr ist eine offene, moderne, transparente Truppe, in der Respekt, Toleranz und gegenseitige Achtung den Stoff für die Geschichten liefern sollten, nichts anderes. Erniedrigungen
und Beleidigungen haben da keinen Platz. Solche Dinge
schaden dem Ansehen der Soldatinnen und Soldaten,
aber auch dem Ruf unseres Landes.
Die kritischen Hinweise des Wehrbeauftragten richten
sich zu Recht nicht allein an die Truppe selbst; auch der
Bundesverteidigungsminister gerät erneut direkt in die
Kritik. Seine Standortentscheidungen treffen in weiten
Teilen der Truppe auf Unverständnis. Es wird eine nachvollziehbare Begründung vermisst. Wir von der SPDBundestagsfraktion teilen dieses Unverständnis. Es ist
dringend notwendig, den Dialog mit den Soldatinnen
und Soldaten zu vertiefen; das erfahren wir in jedem Gespräch vor Ort. Das persönliche Wort ist immer noch das
Beste. Solange Sie das nicht tun, werden Ihre zumindest
teilweise durchaus ehrenhaften Bemühungen nicht
fruchten.
Das gilt übrigens auch für die Frage der ungebremsten Entwicklung bei der Einsatzbelastung unserer Soldatinnen und Soldaten. Meine sehr geehrten Damen und
Herren, wenn Sie schon Anträge der SPD nicht zur
Kenntnis nehmen oder verstehen, dann sollten Sie wenigstens die Ausführungen dazu im Bericht des Wehrbeauftragten mit der gebotenen Sorgfalt lesen; denn die
Belastungskurve darf nicht weiter steigen, wir haben
hier schon überreizt. Wir haben bei zahllosen Gelegenheiten auf die Belastungen der Truppe hingewiesen und
gefordert, in diesem Bereich Abhilfe zu schaffen. Tun
Sie etwas, und tun Sie bitte auch endlich etwas für die
bessere Vereinbarkeit von Soldatenberuf und Familie!
Dass es nun 2014 an einem Ort etwas geben soll, darüber
kann man sich kaum noch freuen. Über Wilhelmshaven
reden wir, glaube ich, schon seit sechs Jahren, und es ist
immer noch nichts erfolgt. In diesem Bereich fordern
wir weiterhin mehr Anstrengungen.
Es ist mir in diesem Zusammenhang wichtig, dem
Wehrbeauftragten für die Klarheit in seinen Ausführungen ausdrücklich zu danken. Liebe Kolleginnen von der
CDU, nehmen Sie sich daran ein Beispiel und sorgen Sie
in Ihren eigenen Reihen für Klarheit! Gerade auf den
hinteren Plätzen schien mir in den letzten Wochen etwas
Unklarheit zu herrschen. Deswegen formuliere ich es
heute noch einmal und so, dass es hoffentlich alle Abgeordnete der Union - vom Süden Deutschlands bis Friesland - verstehen: Hören Sie auf, den Soldaten Lügen zu
erzählen und sie für den Wahlkampf zu instrumentalisieren! Hören Sie vor allen Dingen auf, zu behaupten, die
SPD wolle die deutsche Marine abschaffen! Das Gegenteil ist der Fall, und das wissen Sie auch.
({5})
Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unserer Marine.
({6})
Das muss hier einmal gesagt werden; denn Sie sagen das
völlig ungeschützt.
Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unserer Marine.
Wir wollen, dass sie innerhalb Europas eine starke Rolle
in Bezug auf Sicherheit und Verteidigung einnimmt.
Eine Abschaffung der deutschen Marine ist das Hirngespinst aus Ihren Reihen, verehrte Damen und Herren von
der CDU.
({7})
Solche Lügen sind unverantwortlich und verunsichern
die Soldaten noch mehr als die Unwägbarkeiten der
Bundeswehrreform. Das musste ich hier einmal deutlich
aussprechen, weil mir das aus Ihren Reihen und aus interessierten Marinekreisen immer wieder erzählt wird.
({8})
Man sollte sich überlegen, ob es nicht besser wäre, wenn
wir vernünftiger zusammenarbeiten und die Bundeswehr
aus dem Wahlkampf herauslassen.
({9})
- Herr Müller-Sönksen, beruhigen Sie sich! Ich fahre
jetzt mit harmloseren Themen fort. Es geht um Frauen in
der Bundeswehr.
({10})
Zum Ende des Jahres 2012 dienten knapp
18 500 Frauen in der Bundeswehr. Das ist eine Quote
von 9,65 Prozent.
({11})
Die im Gesetz zur Gleichstellung von Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr vorgegebene Quote wird weder im Sanitätsdienst noch in den übrigen Laufbahnen
erreicht. Ich finde, das ist ein vernichtendes Urteil.
({12})
Noch eins: Der von der Bundesregierung geplante
Gesetzentwurf zur Änderung des Soldatinnen-und-Soldaten-Gleichstellungsgesetzes berücksichtigt in keiner
Weise die grundlegend geänderten Organisations- und
Personalstrukturen der Bundeswehr. Gleichstellungsbeauftragte werden nach dem Bundesgleichstellungsgesetz
in Dienststellen ab 100 Beschäftigten gewählt. Die militärischen Gleichstellungsbeauftragten sollen nun auf der
Ebene der Division oder vergleichbar gewählt werden.
Sie sind somit für bis zu 18 000 Soldatinnen und Soldaten zuständig. Damit ist eine angemessene Ausübung
des Amtes und die Vertretung der Interessen der Wahlberechtigten schon allein wegen der hohen Anzahl der zu
betreuenden Fälle gar nicht möglich. Dieser Ansatz kann
nicht zu einer wirksamen Gleichstellung führen. Wie wir
hören, ist das Kind noch nicht ganz in den Brunnen gefallen, aber - so sagen wir in Norddeutschland - es ist
mit dem Eimer in der Hand auf dem Weg dahin.
({13})
Die Bilanz, die der Wehrbeauftragte vorgelegt hat,
sieht nicht so gut aus: Es fehlen Tausende Stellen im Sanitätsdienst, es wird eine mangelnde Durchhaltefähigkeit
der Truppe beklagt, wir haben einen dramatischen Nachwuchsmangel zu verzeichnen, eine unzulängliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine Truppe, die sich
nicht mitgenommen und unzureichend eingebunden
fühlt, und dazu noch einen Anstieg von Rechtsextremismus in der Armee. Wäre der Bericht des Wehrbeauftragten ein Zeugnis für die Bundesregierung, dann wäre die
Versetzung im Herbst gefährdet.
Danke.
({14})
Das Wort hat nun Christoph Schnurr für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen, Herr
Königshaus, für Ihre Arbeit, aber auch Ihren Mitarbeitern ganz herzlich für diesen Bericht danken.
Wir beraten heute den 54. Jahresbericht des Wehrbeauftragten. In diesem sehr umfassenden Bericht werden
gleich mehrere Themenfelder aufgegriffen: die Auslandseinsätze, die einsatzvorbereitende Ausbildung, die
persönliche Ausstattung und Ausrüstung ebenso wie die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst, um nur ein paar
Themen zu nennen. Besonders erfreulich ist, dass diejenigen Passagen im Bericht besonders gerne gelesen werden, in denen Sie, Herr Wehrbeauftragter, von einer
deutlichen Verbesserung sprechen. Sie erkennen die stetig verbesserte Einsatzvorausbildung ebenso an wie Verbesserungen bei der persönlichen Ausstattung und Ausrüstung. Wir als FDP-Fraktion können uns Ihrem Urteil
nur anschließen.
({0})
In der jüngsten Vergangenheit hat sich wieder einmal
erwiesen, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatz
ist. Auf der einen Seite hat die Übergabe der Verantwortung in Afghanistan begonnen, auf der anderen Seite haben wir neue Auslandseinsätze wie in Mali und in der
Türkei mandatiert. Die Einsatzszenarien bleiben also
vielfältig. Deshalb sind wir Parlamentarier mehr denn je
in der Pflicht, unsere Soldatinnen und Soldaten für ihre
äußerst schwierigen Aufgaben bestmöglich auszustatten.
Außenminister Dr. Westerwelle und Verteidigungsminister de Maizière haben gestern ihre Überlegungen zu
einem deutschen Engagement in Afghanistan nach 2014
vorgestellt. Es ist absolut richtig, dass die internationale
Gemeinschaft auch nach 2014 durch Ausbildung und
Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte einen
Beitrag leisten wird. Es ist auch begrüßenswert, dass die
Bundesregierung hierzu erste Eckpunkte für eine deutsche Beteiligung vorgelegt hat.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf die dringend benötigten Light Utility
Helicopter zu verweisen. Wir müssen sicherstellen, dass
wir, wenn notwendig, unsere Soldatinnen und Soldaten,
aber auch zivile Entwicklungshelfer binnen kürzester
Zeit retten und befreien können.
Unsere Soldatinnen und Soldaten sind durch die Auslandseinsätze stark beansprucht. Hinzu kommen Lehrgänge und Übungen in Deutschland. Die langen Abwesenheitszeiten der Soldaten von ihren Familien sind
schlichtweg belastend und dienen nicht gerade einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Wie im Bericht erkenntlich, ist die Zahl der Eingaben, in denen
eine mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Dienst
beanstandet wird, erneut angestiegen. Hier besteht weiterer Handlungsbedarf. Die Einrichtung von ElternKind-Zimmern sowie die Belegrechte zur Kinderbetreuung sind sicherlich ein guter Anfang. Ebenso begrüßenswert ist die Tatsache, dass Soldaten bei Aus- und Fortbildungsmaßnahmen die Kosten für eine Kinderbetreuung
erstattet bekommen. Dennoch muss es uns gelingen,
auch an Bundeswehrstandorten Kinderbetreuungsplätze
einzurichten.
Der vorliegende Bericht beschäftigt sich natürlich
auch mit der Personallage. In Spezialverwendungen,
aber auch im Sanitätsdienst gibt es nach wie vor erhebliche Engpässe. Die Problematik wurde erkannt, und
Maßnahmen zur Personalgewinnung befinden sich in der
Umsetzung. Es liegt auf der Hand, dass diese Herausforderungen nicht quasi über Nacht gelöst werden. Auch
hier werden wir die Entwicklung genau betrachten.
In den letzten Wochen wurde einem Zwischenbericht
des Wehrbeauftragten viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Ich habe nicht vor, an dieser Stelle jeden einzelnen Aspekt des Berichts bzw. der medialen Berichterstattung
aufzugreifen. Festhalten möchte ich an dieser Stelle jedoch, dass wir im Deutschen Bundestag der Bitte unserer türkischen Freunde selbstverständlich nachgekommen sind und den deutschen Beitrag zur integrierten
Luftverteidigung mandatiert haben. Dass zu Beginn des
Auslandseinsatzes diverse Probleme entstanden sind und
es in diesem konkreten Fall zu unglücklichen Situationen kam, ist uns bekannt. Ich möchte jedoch festhalten,
dass diese Herausforderungen zu meistern sind und meines Wissens auch bereits bewältigt wurden.
({1})
Wir unterstützen unsere türkischen Verbündeten im
Rahmen von Active Fence, und die Türkei ist uns eine
enorme Hilfe beim geordneten Abzug unseres Materials
aus dem Afghanistan-Einsatz. Deutschland ist und bleibt
ein verlässlicher Partner in der NATO. Daher werden wir
auch die Mission Active Fence erfolgreich zu Ende führen.
Auch in der 18. Wahlperiode wird diese Regierungskoalition weiterhin alles daransetzen, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber bleibt und so ausgestattet wird, dass sie die Aufgaben bestmöglich erfüllen
kann.
Ich möchte die Gelegenheit heute nutzen, um mich
bei den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für
die gute Zusammenarbeit herzlich zu bedanken. Wir haben in dieser Wahlperiode einiges für die Bundeswehr
tun können. Beispielhaft seien hier nur die Neuausrichtung, die Aussetzung der Wehrpflicht, das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz wie auch das EinsatzversorgungsVerbesserungsgesetz genannt.
Zum Schluss möchte ich unseren Soldatinnen und
Soldaten und ihren Familien, den Reservisten und den
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr meine Anerkennung aussprechen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus! „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, dies kam mir in den Sinn, als
ich den Jahresbericht 2012 des Wehrbeauftragten las.
Zum einen möchte ich Herrn Königshaus und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Bericht herzlich danken, vor allem dafür, dass in dem Bericht Missstände und Baustellen in der Bundeswehr aufgezeigt
werden.
({0})
Dies zu tun, ist die zentrale Funktion des Wehrbeauftragten.
Die Linke stimmt überein in der Kritik an der Art und
Weise, wie den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigten die Lasten der Neuausrichtung der Bundeswehr aufgebürdet werden. In der Tat, manche Probleme stinken zum Himmel. Ich will nur drei
herausgreifen.
PTBS-Fälle wurden auch 2012 weiter unter den Teppich gekehrt. Statistiken werden nur widerwilligst berichtigt. Die Opfer der Auslandseinsätze werden alleingelassen, sobald sie der Bundeswehr den Rücken kehren.
Bei der Prävention psychischer Erkrankungen klafft eine
große Lücke. Von der Bundeswehr in Auftrag gegebene
Forschungen zu PTBS lassen sehr zu wünschen übrig
bzw. liefern schlichtweg falsche Ergebnisse.
Soldaten, die in den Ruhestand gehen oder aufgrund
ihres Dienstes bei der Bundeswehr eine Schädigung erlitten haben, werden auseinanderdividiert. PTBS-Opfer
von vor 2002 erhalten null Komma null null Euro Entschädigung. Bundeswehrsoldaten mit Dienstzeiten aus
der DDR sind weiter schlechter gestellt als ihre Westkameraden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
({1})
Schließlich: Rechtsradikale Vorfälle werden bagatellisiert und nicht entschlossen genug bekämpft. Die Zahl
der sogenannten besonderen Vorfälle mit rechtsradikalem Hintergrund steigt wieder an. Auch Sie selbst, Herr
Königshaus, wiegeln ab. Angesichts unserer Geschichte
wäre hier eine gehörige Portion mehr Aufmerksamkeit
gefragt.
({2})
Der Bericht zeigt insgesamt deutlich, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr für die Soldatinnen und
Soldaten sowie für deren Familien Unsicherheit und Belastungen gebracht hat. Es reicht nicht aus, wenn die Damen und Herren von der Regierungsbank den Bericht
brav zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt weiter ignorieren. Viele Baustellen sind schon seit Jahren bekannt;
auch ich habe schon öfter auf diese hingewiesen. Es
muss nun endlich entschieden zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten gehandelt werden.
({3})
Aber viele der Probleme sind eben ein Resultat Ihres
generellen Kurses in der Verteidigungspolitik und damit
hausgemacht. Hier muss ich nun zum anderen auch an
Ihnen, Herr Königshaus, Kritik üben. Wenn Sie schon
politische Äußerungen abgeben, warum ziehen Sie dann
nicht zwingende Schlussfolgerungen aus all den Kritikpunkten? Die Bundesregierung ist blind für die Sorgen
und Nöte der Soldatinnen und Soldaten,
({4})
weil alles rücksichtslos der weltweiten Einsatzfähigkeit
der Bundeswehr untergeordnet werden soll.
({5})
Im Gegenteil: Sie beschwören ja geradezu neue Probleme und Unsicherheitsfaktoren herbei. Zum Beispiel
halte ich es für mehr als unglücklich, wenn Sie sich,
Herr Königshaus, im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr zu Beschaffungsmaßnahmen äußern. Mehr will
ich jetzt dazu nicht sagen.
({6})
Glauben Sie mir, beim An-Land-Ziehen von Aufträgen
ist die Rüstungslobby gewiss nicht auf Ihre Hilfe angewiesen.
Kurzum: Der Wehrbeauftragte sollte sich auf seine
Kernaufgaben besinnen, und die Bundesregierung sollte
endlich entsprechend den Bedürfnissen der Soldaten
handeln.
({7})
Dafür brauchen wir eine Neuausrichtung der deutschen
Sicherheitspolitik, die die Bundeswehr wieder auf ihren
grundgesetzlichen Auftrag zurückführt: die Landesverteidigung.
({8})
Auch deshalb haben wir, die Linke im Bundestag, nun
schon den 8. Runden Tisch der Friedensbewegung organisiert, der gerade in diesem Augenblick drüben im Jakob-Kaiser-Haus stattfindet. Deshalb möchte ich auch
meine Fraktionskolleginnen und -kollegen aus dem Verteidigungsausschuss entschuldigen.
({9})
Die Linke sagt Nein zum Krieg und zur Aufrüstung
der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz. Es sind
mehr zivile Ausbildungs- und Arbeitsplätze nötig. Wir
lehnen Auslandseinsätze ab und fordern ein Verbot von
Waffenexporten. Wir sind die einzige Friedenspartei hier
im Deutschen Bundestag.
({10})
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Wehrbeauftragter, es ist eine gute Tradition - ich will sie
auch dieses Mal nicht missen -, nicht nur Ihnen persönlich und Ihrem Stab für die gute Arbeit in den letzten
zwölf Monaten zu danken, sondern auch uns allen dazu
zu gratulieren, dass wir diese Institution haben.
({0})
Der Wehrbeauftragte ist eine Institution, die wirklich
einmalig ist und um die uns viele Parlamentarier auf der
Welt zu Recht beneiden können.
({1})
Ich möchte kurz etwas zu den drei Themen sagen, die
gerade vom Herrn Minister genannt worden sind.
Beginnen möchte ich mit dem Thema Familie. Ja, Sie
haben völlig zu Recht gesagt: Das Thema „Vereinbarkeit
von Familie und Beruf“ ist sehr wichtig. Es geht darum,
dafür zu sorgen, dass die Bundeswehr auch nach Abschaffung der Wehrpflicht genug Menschen aus der
Breite der Gesellschaft gewinnen kann. Das ist ein Attraktivitätsthema. Aber das ist auch ein Fürsorgethema.
Herr Kollege Schnurr, Ihnen kann ich leider nicht beipflichten. Ich habe mir sehr viele Eltern-Kind-Arbeitszimmer angeschaut. Ihre Einrichtung ist kein Schritt in
die richtige Richtung. Sie können nicht davon ausgehen,
dass ein Kind betreut ist, wenn es hinter Ihnen in der
Ecke des Zimmers, in dem Sie arbeiten wollen, spielt.
Das ist kein Ersatz für Kinderbetreuung. Das ist ein Placebo. Ich bin dankbar, Herr Minister, dass Sie die Einrichtung von Eltern-Kind-Arbeitszimmern dieses Mal
nicht als einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnet haben und dass Sie nicht gesagt haben, dies sei eine
große Errungenschaft. Ich habe noch keine Kaserne gesehen, in der diese Arbeitszimmer von Leuten, die Kinder haben, tatsächlich genutzt werden.
({2})
Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet viel
mehr. Das Stichwort „Pendlerarmee“ ist schon genannt
worden. Natürlich müssen wir die Familien im Blick haben. Ja, auch die Lebenspartner brauchen so manche Unterstützung; da ist noch sehr viel zu tun. Ich befürchte,
dass dieses Thema auch im nächsten Bericht des Wehrbeauftragten einen Schwerpunkt darstellen wird.
Was die Einsätze angeht, will ich nur auf einen einzigen Punkt hinaus: Die Belastung ist völlig zu Recht angesprochen worden. Es ist bekannt, dass es glasklare
Studienergebnisse zum Thema „Posttraumatische Belastungsstörungen“ gibt, die belegen, dass die Anfälligkeit
für diese Krankheit mit zunehmender Dauer eines Einsatzes steigt, dass es aber auch einen Zusammenhang mit
verkürzten Regenerationszeiten gibt. Wenn man anpeilt,
dass die Regenerationszeit zwischen zwei Einsätzen
20 Monate dauert, aber die Hälfte der Soldatinnen und
Soldaten diese 20 Monate Regenerationszeit nicht be29558
kommt, dann ist das schlicht unverantwortlich und indiskutabel. Da kann man nur sagen: Hier ist nicht richtig
geplant worden. Hier muss deutlich mehr geschehen. Auf das Thema Einsätze legen wir daher zu Recht einen
besonderen Fokus.
Ich will noch auf ein anderes Thema zu sprechen
kommen. Es ist immer wieder davon die Rede, dass im
Zusammenhang mit der Reform der Bundeswehr eine
große Verunsicherung in der Truppe herrscht. Auch
wenn ich diese Reform gar nicht als solche bezeichnen
würde, glaube ich, dass die bestehende Verunsicherung
tiefer gehende Gründe hat. Es geht schlicht und ergreifend um die Spezifika des Soldatenberufes. Es gibt nicht
viele Berufe, in denen die Lebensgefahr so groß ist. Es
gibt auch nicht viele Berufe, in denen Gehorsam eine
solch große Rolle spielt. Aber Soldatinnen und Soldaten
haben, gerade im 21. Jahrhundert, natürlich auch das
Recht, als Arbeitnehmer angesehen zu werden. Sie haben daher Arbeitnehmerrechte. Ich bin mir nicht sicher,
dass das auch von der Spitze des Hauses so gesehen
wird.
({3})
Herr Minister, ich will nicht alle Zitate, die genannt
wurden, wiederholen - Ihre Aussage bezüglich der Gier
hat übrigens ebenfalls zu dieser Verunsicherung beigetragen -, sondern aus Ihrem Diskussionspapier zur Veteranenpolitik zitieren. Dort schreiben Sie:
In Deutschland sind die Sozialleistungen für aktive
wie für ehemalige Bundeswehrangehörige, einschließlich ihrer medizinischen Betreuung, bereits
auf hohem Niveau gewährleistet.
Es gibt 1 500 Anträge im Jahr zur Begutachtung der
PTBS und zwei Gutachter. Angesichts dessen kann man
eine solche Aussage nicht treffen, wie Sie es getan haben. Das zeugt von einem Bild der Bundeswehr aus dem
Jahre 1965, als es hieß: Der Soldat ist ein Indianer, und
ein Indianer kennt keinen Schmerz. - Darum geht es
aber nicht. Wir haben heutzutage eine andere Truppe,
und wir müssen auch ein anderes Bild von den Soldatinnen und Soldaten haben. Das sind Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Ich sehe nicht, dass deren Rechte hier
berücksichtigt werden.
Ich erkenne auch nicht, dass grundsätzliche Probleme
angegangen werden. Ein Viertel aller IT-Spezialisten
fehlt; 4 000 Stellen sind unbesetzt. Wenn man nachfragt,
wie man den Mangel beseitigen will, dann lautet die
Antwort: Dann müssen wir halt die Sollstärke verkleinern. - Beim Sanitätsdienst ist es auch im Inland so, dass
Sanitätseinheiten eigentlich nur noch pendeln, weil die
Zahl dieser Einheiten nicht mehr ausreicht, auch wenn
sich bereits vieles in dem Bereich gebessert hat.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist sehr wichtig
und muss hier diskutiert werden. Aber es gibt einige Fixpunkte, bei denen man das Gefühl bekommt, hier grüßt
täglich das Murmeltier; denn wir diskutieren seit Jahren
immer dasselbe. Das Murmeltier ist in dem Fall der
Wehrbeauftragte. Das ist für alle, für ihn wahrscheinlich
am allermeisten, frustrierend. Aber ich kann Hoffnung
machen: Wenn wir den nächsten Bericht diskutieren, ist
das alles besser.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt ist Anita
Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Namens der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen und allen Mitarbeitern danken, die an der Erstellung des Jahresberichts 2012 beteiligt waren.
Erneut waren zahlreiche Eingaben von Soldaten zu
überprüfen und für den Bericht zu berücksichtigen. Erfreulicherweise ist deren Zahl im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr zum dritten Mal in Folge gesunken, und das,
obwohl Zeiten des Umbruchs wie die jetzige Strukturreform zu immer mehr Eingaben geführt haben. Doch
letztlich wissen unsere Soldaten recht gut, dass etwa in
Auslandseinsätzen auch mit schwierigen Bedingungen
zu rechnen ist, die der Dienstherr nur bedingt beeinflussen kann. Sie nehmen diese Herausforderungen auf professionelle Art an.
So waren die betroffenen Soldaten selbst nicht glücklich über die jüngste öffentliche Aufregung um den Türkei-Einsatz. Da sollten wir uns bemühen, eine Wiederholung zu vermeiden. Dieser Einsatz ist natürlich nicht
vergleichbar mit dem Einsatz in Afghanistan, wenn auch
bündnispolitisch wichtig und keinesfalls frei von potenziellen Gefahren.
Mit dem bevorstehenden Ende von ISAF verringert
sich zudem nach über einem Jahrzehnt auf absehbare
Weise unser militärisches Engagement am Hindukusch.
Nach 2014 werden wir dort voraussichtlich nur noch
höchstens 800 Soldaten haben, die vor allem Ausbildung
und Beratung fortführen werden.
Gerade der Afghanistan-Einsatz hat zu wesentlichen
Verbesserungen in Ausstattung, Ausbildung und Fürsorge für die Soldaten geführt. Ich erinnere an das
Thema der geschützten Fahrzeuge, das wir hier auf
Grundlage der Berichte des Wehrbeauftragten oft diskutiert haben. Mittlerweile ist diese Lücke weitgehend
geschlossen. Wir beschaffen aber auch weiterhin Fahrzeuge, um den einsatzbedingten Verschleiß auszugleichen. Bereits in der kommenden Woche werden die
Fachausschüsse über eine weitere Tranche entscheiden.
Denn weitere Einsätze werden kommen, wie die gerade
angelaufenen Missionen in Mali zeigen. In Zukunft sollten unsere Soldaten von vornherein mit dem bestmöglichen Schutz ausgestattet sein.
Es bleiben nach wie vor weitere Vorhaben offen, die
es trotz angespannter Haushaltslage unbedingt umzusetzen gilt. Ich nenne beispielhaft die Fähigkeit zur Route
Anita Schäfer ({0})
Clearance von Sprengfallen, den Ausbau der Nachtkampffähigkeit, aber auch die Beschaffung eines leichten Unterstützungshubschraubers für die Spezialkräfte.
Ich hoffe, dass gerade der letzte Punkt im Gefolge der
kürzlichen Einigung mit der Industrie über die Stückzahlen beim Kampfhubschrauber Tiger und dem NH-90 nun
auch recht bald abgeschlossen werden kann. Mittlerweile sind sowohl der Tiger als auch der NH-90 in den
Einsatz nach Afghanistan verlegt worden und verbessern
damit die Fähigkeit und die Sicherheit der deutschen
Soldaten dort.
Meine Damen und Herren, zuhause bleibt unsere
größte Herausforderung die weitere Verbesserung der
Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht dankenswerterweise noch
einmal besonders auf die Pendlerproblematik hingewiesen und hierfür den Begriff der „Pendlerarmee“ gebraucht. Um es klar zu sagen: Wir werden das Problem
niemals vollständig lösen können, weil Versetzungen
und Einsätze zum Soldatenberuf gehören. Wenn wir die
Bundeswehr in der Fläche und in der Gesellschaft präsent halten wollen, können wir sie nicht in wenigen
Großstandorten konzentrieren. Aber wir können die
Maßnahmen, die wir eingeleitet haben - etwa zur Verbesserung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten -, fortsetzen. An Großstandorten mit entsprechendem Bedarf
spricht aus meiner Sicht auch nichts gegen eigene Kindergärten in der Kaserne.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch einmal betonen, dass sich die Vorgesetzten nach meiner Erfahrung
in der Regel außerordentlich bemühen, den familiären
Belangen ihrer Soldaten gerecht zu werden - ganz im
Sinne der 2008 neu gefassten Zentralen Dienstvorschrift
Innere Führung. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr.
In spezialisierten Truppengattungen mit hoher Einsatzrelevanz muss es allerdings weiterhin besondere
Maßnahmen geben. Ein Beispiel dafür ist nach wie vor
der Sanitätsdienst. Die in dieser Legislaturperiode umgesetzten Änderungen gerade für Bundeswehrärzte im gesetzlichen, finanziellen und Weiterbildungsbereich haben die dramatischen Personalverluste, die es in den
Vorjahren gab, zwar gestoppt; aber noch immer besteht
eine deutliche Lücke zum Soll. Derzeit wird überprüft,
in welchem Umfang Musterungsärzte aus den aufgelösten Kreiswehrersatzämtern nach entsprechender Weiterbildung möglicherweise die Vakanzen bei Truppenarztposten füllen können. Die Erhöhung der Anzahl der
Studienplätze für Humanmedizin ab 2015 wird zu einer
Steigerung des jährlichen Zuwachses führen. Hier sind
wir also auf einem guten Weg.
Meine Damen und Herren, da die öffentliche Berichterstattung anlässlich der Veröffentlichung des Jahresberichtes des Wehrbeauftragten gerne Schreckensbilder
malt, möchte ich zum Abschluss feststellen: Die Bundeswehr ist viel besser, als gängige Stereotype es glauben machen wollen. Das gilt auch und gerade für sensible Bereiche, in denen jeder Fall einer zu viel ist. Ja, es
gibt sexuelle Belästigung, Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit in der Bundeswehr, und wenn so
etwas auftritt, ist energisches Handeln gefordert.
Die Bundeswehr ist und bleibt ein Spiegelbild der Gesellschaft, und das spricht für ihre Verankerung in unserem demokratischen Gemeinwesen. Nimmt man alles
zusammen, so stellt man fest, dass die Bundeswehr gerade in den angesprochenen kritischen Bereichen besser
dasteht als der Durchschnitt der Gesellschaft.
Allen Soldaten, die in diesen besten aller bisherigen
deutschen Streitkräfte dienen - ob im Inland oder im
Ausland -, möchte ich meine Anerkennung und meinen
herzlichen Dank dafür aussprechen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12050 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Keine Visafreiheit für Inhaber russischer
Dienstpässe - Keine Visumspflicht für Menschen aus dem Westbalkan
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Marieluise Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der vergangenen Woche konnte niemandem entgehen, dass das Regime Putin die russische Zivilgesellschaft flächendeckend mit Repressalien überzieht. Ausgeführt werden diese Repressionen von
Beamten der russischen Staatsanwaltschaft und der Justiz sowie von Beamten des Innenministeriums. Im Gepäck haben sie immer gleich noch das Staatsfernsehen.
Diese Aktionen zielen ganz offensichtlich auf die Zerschlagung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die für
ein freies und demokratisches Russland eintreten, wie
wir es alle wollen.
Zeitgleich nun erklären der Außenminister und der
Innenminister der schwarz-gelben Bundesregierung gegenüber der EU-Kommission, dass einer Visumsfreiheit
für russische Dienstpassinhaber - also für ebendiese hohen Beamten - nichts mehr im Wege stehen soll. Im
Klartext heißt das: Reisefreiheit für den Repressionsapparat des russischen Staates, während russische Studierende, Verwandte und andere sogenannte Normalbür29560
Marieluise Beck ({0})
ger weiterhin vor deutschen Konsulaten anstehen
müssen und sich hochnotpeinlichen Befragungen unterziehen müssen. Nicht von ungefähr gehen russische Studierende inzwischen nicht mehr zu deutschen, sondern
eher zu estnischen oder finnischen Konsulaten.
Wir wollen visumsfreies Reisen. Dies ist - ich betone
das - ein starkes Mittel für die innere Demokratisierung
insbesondere von Transformationsländern. Es ist auch
ein starkes Mittel, um die Begegnung mit offenen Gesellschaften herzustellen, und damit ein wirkungsvolles
Mittel für den Widerstand gegen repressive Regimes.
Aber was ist nun passiert? Wegen einer absurden
Selbstverpflichtung auf ein Gegenseitigkeitsprinzip in
Visafragen lässt sich die EU von Russland erpressen.
Der Kreml verlangt Visaprivilegien für seinen Repressionsapparat - dazu gehören unter anderem die, die verhandeln, und zwar in eigener Sache - für seine Zustimmung, dass russische Studierende, Geschäftsleute usw.
bei uns vielleicht ein Mehrfachvisum bekommen.
Sehen Sie, was für eine absurde Idee das ist? Diese
Reziprozität, die verlangt wird, bedeutet, dass nicht wir
sagen: „Wir halten es für richtig, dass Studierende und
Familienangehörige ohne Visum zu uns kommen; wir
wollen sie bei uns haben“, sondern dass Regimes, auch
autoritäre Regimes, sozusagen den Schlüssel in der
Hand halten. Das ist wirklich eine absurde Figur. Wir
hätten doch von EU-Seite die Möglichkeit, zu sagen:
Unsere Visumspolitik bestimmen wir selbst.
({1})
Wir wissen, dass Beamte des russischen Staatsapparates tief in Korruption verwickelt sind und dass sie dringend gerne in den Westen reisen wollen, um dort ihre
Assets zu pflegen. So finden sich zum Beispiel auf dem
Schweizer Konto des Gatten der Steuerbeamtin, die in
den Magnitzki-Deal verwickelt war, Millionenbeträge.
Es ist bekannt: Diese Steuerbeamtin, die stark in den Tod
von Anwalt Magnitzki verwickelt ist, würde mit zu den
Dienstpassinhabern gehören. Wie freundlich, dass sie
nunmehr die Erlaubnis bekommt, mit ihrem Gatten den
Ertrag ihres Tuns im Westen verjubeln zu können. Dieser Deal, der dort angeboten wird, ist ein Sieg des FSB
auf der ganzen Linie. Das muss man einfach sagen.
Gibt es in diesem Fall Sicherheitsbedenken des Bundesinnenministeriums, mit denen Sie ja gerne eine restriktive Visumspolitik betreiben? Fehlanzeige! Die allerdings haben Sie beim Balkan. Im Jahre 2010 erhielten
die Bürgerinnen und Bürger des Westbalkans endlich Visumsfreiheit, die sie als jugoslawische Staatsbürger
schon immer gehabt haben. Endlich waren die jungen
Menschen nicht mehr eingesperrt und konnten bei uns
sehen, wie attraktiv demokratische und offene Gesellschaften sind.
Ja, es gab eine Winterwanderung. Ja, das war eine
Herausforderung für die Kommunen. Aber statt mit den
Kommunen nach Möglichkeiten zu suchen, sie bei der
Winterunterbringung zu unterstützen, wird von Innenpolitikern jetzt darüber nachgedacht, wie man die Visaliberalisierung auf EU-Seite wieder einschränken kann, und
das wegen einer Erhöhung der Asylbewerberzahlen von
2011 bis 2012 um - ich möchte die Zahlen nennen 2 800 aus Mazedonien und 1 400 aus Serbien. Das sind
minimale Zahlen verglichen mit einer Bevölkerung von
82 Millionen Menschen. Überlegen Sie einmal, was Jordanien und die Türkei im Augenblick für eine Aufgabe
mit der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen schultern!
Meine Damen und Herren Innenpolitiker, Sie machen
mit dieser Art von Regulierung Außenpolitik. Darüber
müssen wir hier sprechen. Diese Art von Kleinkariertheit schließt die betroffenen Länder und ihre Bevölkerungen wieder aus und gibt Aufwind für nationalistische
Tendenzen, die es in diesen Ländern leider gibt. Dass die
Roma sowieso dafür verantwortlich gemacht würden,
wenn es zu einer Verschlechterung für die anderen Bürger käme, ist vollkommen klar.
Ich fordere Sie deswegen auf: Beenden Sie dieses
Chaos! Ziehen Sie die Visumspolitik wirklich an sich, in
dem Wissen, dass Sicherheitspolitik nicht über Visumspolitik zu betreiben ist. Die jetzige Visumspraxis gehört
in die Amtsstuben des vergangenen oder vorvergangenen Jahrhunderts. Eine moderne Visumspraxis ist auch
Teil einer klugen Außenpolitik und führt zu einer Öffnung für Bürgerinnen und Bürger. Wenn dann zum
Schluss die Dienstpassinhaber kommen, will ich auch
damit zufrieden sein.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ole Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der heutigen Aktuellen Stunde, beantragt von
den Grünen, werden zwei Themen im Bereich der Visumspolitik miteinander vermengt, die nichts miteinander zu tun haben. Wir sollten uns gerade im Bereich der
Visumspolitik vor zu starken Vereinfachungen hüten.
Lassen Sie mich deshalb gleich zu Beginn festhalten:
Die Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Politik
der russischen Regierung, gerade im Hinblick auf Menschenrechte sowie auf Presse- und Meinungsfreiheit, ist
eindeutig. Die Bundeskanzlerin hat erst vor wenigen Tagen im Beisein von Präsident Putin nochmals unterstrichen, dass Deutschland - ich zitiere - „für eine starke
zivilgesellschaftliche Entwicklung durch viele Nichtregierungsorganisationen“ in Russland eintritt. Meine Damen und Herren, so klare Worte hätte ich mir von der damaligen rot-grünen Regierung unter Bundeskanzler
Gerhard Schröder gewünscht.
({0})
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle Schröders Zitat vom
„lupenreinen Demokraten“ und dergleichen ersparen.
Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Bundesregierung größtes Engagement an den Tag legt, wenn es darum geht, die Westbalkanstaaten an Europa heranzuführen,
({1})
sowohl auf europäischer Ebene als auch im bilateralen
Bereich.
Aber der Reihe nach: Die Europäische Kommission
verhandelt momentan die Weiterentwicklung des 2007
verabschiedeten Visumserleichterungsabkommens mit
Russland. Ziel solcher Abkommen ist es, insbesondere
- ich zitiere aus dem aktuellen Abkommen mit Russland zwischenmenschliche Kontakte als wichtige Voraussetzung für einen steten Ausbau der wirtschaftlichen, humanitären, kulturellen, wissenschaftlichen und sonstigen Beziehungen zu fördern …
Bei aller Diskussion um die Dienstpassinhaber sollten
wir nicht aus den Augen verlieren, dass es bei dieser
Weiterentwicklung des Visumserleichterungsabkommens vor allen Dingen darum geht, das Reisen für Schüler, für Studenten, für Wissenschaftler, für Sportler, für
Journalisten zu erleichtern und vor allem Verwandtenbesuche zu ermöglichen.
({2})
Letztendlich geht es um die Stärkung der russischen Zivilgesellschaft. Auf diesem Wege trägt die EU dann zur
weiteren Demokratisierung in Russland bei. Wenn Sie so
wollen, handelt es sich dabei um eine aktuelle Form des
Prinzips „Wandel durch Annäherung“.
({3})
Eine Visumsbefreiung für Dienstpassinhaber ist bei
der Weiterentwicklung derartiger EU-Abkommen völlig
üblich. Eine solche Regelung ist auch im Zuge der Verhandlungen als Zugeständnis gegenüber Russland
schlichtweg notwendig, um dann im Gegenzug die erwünschten Erleichterungen für die Zivilgesellschaft zu
erreichen.
({4})
- Da haben Sie völlig recht. Gerade in Bezug auf Russland muss man das Für und Wider eines solchen Zugeständnisses sehr genau abwägen. Das tun wir auch.
Die Bundesregierung hat sich deshalb gegenüber der
Kommission für eine deutliche Reduzierung der Privilegien für diese Dienstpassinhaber ausgesprochen. Im
Falle von Missbrauch einer solchen Regelung muss ein
Widerruf oder eine Aussetzung möglich sein. Vor dem
Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Russland
stellt sich auch die Frage, ob zum jetzigen Zeitpunkt eine
solche Regelung wirklich angebracht ist. Das wird von
der Kommission im Zuge der Beratungen zu berücksichtigen sein.
Nun zu dem zweiten Thema: keine Visumspflicht für
Menschen aus dem Westbalkan. Auch hier sollte man die
Realität sehr genau in den Blick nehmen. Seit 2009 sind
alle Staatsangehörigen aus den Staaten Serbien, Montenegro und Mazedonien, die einen biometrischen Pass
besitzen, visumsfrei. Das Gleiche gilt seit 2010 für
Albanien sowie Bosnien und Herzegowina. Die Visumsfreiheit ist für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder
der greifbarste Vorteil, wenn es um die Annäherung an
Europa geht.
({5})
Sie ist auch ein wichtiger Anreiz, wenn es darum geht,
Reformen in diesen Ländern voranzubringen.
Auf der anderen Seite müssen sich diese Länder natürlich an die bestehenden Regelungen halten. Es kann
nicht sein, dass die Gewährung von Visumsfreiheit vor
allem dazu führt, dass massenweise unbegründete Asylanträge in Deutschland oder in anderen EU-Staaten, zum
Beispiel in Frankreich, Schweden und Luxemburg, gestellt werden. Wir alle kennen die Zahlen. Dennoch sei
mir gestattet, sie am Beispiel von Serbien zu nennen. Im
Dezember 2009, also in dem Jahr, als die Visumsfreiheit
geschaffen wurde, gab es lediglich 900 Asylanträge. Im
Jahr 2012 waren es bereits rund 13 000 Erst- und Folgeanträge, und das vor dem Hintergrund, dass Serbien
ein Beitrittskandidat ist. Nach Einschätzung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und des Europäischen Asylunterstützungsbüros haben wir in diesem Jahr
mit weiteren Steigerungen zu rechnen.
Mir ist wichtig, zu betonen: Bei alledem liegt die Anerkennungsquote in Deutschland nahe null. Wenn überhaupt, gibt es subsidiären Schutz in ganz wenigen Fällen, in denen zum Beispiel eine bestimmte medizinische
Behandlung nur in Deutschland und nicht im Herkunftsland durchgeführt werden kann.
Es ist nicht hilfreich, wenn einige SPD-Landesinnenminister öffentlich verkünden, dass es über die Wintermonate ein Bleiberecht für Menschen aus diesen Staaten
gibt. Das führt natürlich zu einer zusätzlichen Sogwirkung und setzt Anreize, unser Asylsystem zu missbrauchen. Das ist nicht gut. Solche Aussagen sollte man zumindest nicht öffentlich machen.
Die Probleme der Staaten des Westbalkans lassen sich
nicht dadurch lösen, dass wir eine unkontrollierte Migration in die EU ermöglichen. Unsere Nachbarstaaten auf
dem Westbalkan können sich auf unsere Solidarität und
Unterstützung verlassen. Sie müssen aber auch selbst
ihre Probleme insbesondere in Bezug auf Minderheiten
lösen. Die Lebensbedingungen für diese Menschen müssen sich vor Ort verbessern. Wir können das nicht dadurch lösen, indem wir es ihnen ermöglichen, Asylanträge in Deutschland zu stellen.
({6})
Um auf mögliche Fehlentwicklungen zu reagieren
- das gilt nicht nur in Bezug auf die Staaten des Westbalkan -, sind wir gerade dabei, als Ultima Ratio eine Regelung wieder einzuführen, die es ermöglicht, die
Visumsfreiheit für eine gewisse Zeit auszusetzen. Das ist
ein deutliches Signal, dass die betreffenden Staaten alles
daransetzen müssen, um die Situation der Minderheiten
bei sich zu verbessern und so Asylmissbrauch zu begegnen. Deshalb haben wir von Anfang an die Initiative der
Niederlande und Frankreichs zur Schaffung eines Aussetzungsmechanismus unterstützt. Wie gesagt, es handelt sich um eine Ultima Ratio, die für alle Länder gilt,
gegenüber denen Visumsfreiheit besteht.
Man kann natürlich die Augen vor der Realität verschließen. Wer aber den Erfolg eines Europas der Bürgerinnen und Bürger möchte, der sollte die Probleme lösen.
Das hat sich die Bundesregierung zur Aufgabe gemacht.
Ich möchte Sie bitten, uns dabei zu unterstützen. Wir haben es hier mit sehr sensiblen Themen zu tun. Wir sollten deshalb nicht pauschal unterschiedliche Themen einfach vermengen, die eigentlich nichts miteinander zu tun
haben. Das ist nicht hilfreich bei der Lösung der Probleme.
({7})
Das Wort hat nun Franz Thönnes für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich bedauere, dass diese beiden so unterschiedlichen Themen im Rahmen einer Aktuellen Stunde behandelt werden; denn diese kann dem Beratungsbedarf beider Themen nicht gerecht werden.
Deshalb gleich zu Anfang: Keine Visapflicht für Menschen aus dem Westbalkan - das ist unsere Position. Denn
wir haben mit den europapolitischen Entscheidungen, die
getroffen worden sind, den Menschen eine Perspektive
im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union
gegeben und mit den Annäherungsverabredungen diesen
Ländern auch eine Beitrittsperspektive eröffnet.
Ich glaube, wir müssen realisieren, vor welchem Hintergrund das Ganze stattfindet und wie stark Deutschland früher betroffen gewesen ist. Im Jahr 1992 betrug
die Zahl der Asylbewerber 438 000. Es war eine schwierige Zeit. Im vergangenen Jahr waren es nur noch knapp
77 000 Asylbewerber, also gegenüber 1992 knapp
17 Prozent. Ich will damit nichts beschönigen. Ich will
gleichzeitig aber sagen, dass das Ganze nicht dramatisiert werden darf. Es ist sachlich zu diskutieren.
({0})
Es darf auch nicht hektisch reagiert werden, wie das
der Bundesinnenminister teilweise getan hat, indem er
eine Verkürzung der Asylverfahren, eine schnelle Rückführung, die Wiedereinführung der Visapflicht und sogar
eine Einschränkung und Reduzierung des Asylbewerberleistungsrechts verkündet hat. Das sind nicht die richtigen Antworten, die die Probleme lösen. Das ist auch
nicht der Weg zu einem geeinten Europa. Wenn man - so
wie bei der Finanzkrise - Missstände bekämpfen will, ist
es, denke ich, notwendig, auch gemeinsam Armut in Europa zu bekämpfen. Auch das soziale Gesicht Europas
muss entwickelt werden. Beim Asylbewerberrecht geht
es dann darum, auch das Einzelfallrecht im Auge zu behalten und nicht zu pauschalieren.
({1})
Deswegen ist die Abschaffung der Visafreiheit völlig
falsch. Sie ist genauso falsch wie eine öffentliche Dramatisierung, die großen Schaden anrichtet.
Mit der öffentlichen Dramatisierung verhält es sich
bei dem anderen Thema genauso - da sollte man auch
sehr sensibel sein -: Keine Visafreiheit für Inhaber von
russischen Dienstpässen. Der ursprüngliche Titel lautete
ja ganz anders:
({2})
Keine Visafreiheit für den Repressionsapparat.
Russland hat in den letzten Jahren eine bewegte Entwicklung durchgemacht: von der Diktatur, vom Kalten
Krieg, vom kalten Kapitalismus mit ersten demokratischen Schritten, die als solche auf die Menschen anders
gewirkt haben, hin zum blanken Kapitalismus ohne
Schutz und ohne Rechte und schließlich zu einem starken Staat, bei dem wir zunehmend wahrnehmen, dass für
Demokratie nach oben noch viel Spielraum besteht.
Wenn wir darüber diskutieren, wie wirtschaftliche
und gesellschaftliche Entwicklungen stattfinden, geht es
darum, dies zu berücksichtigen. Deutschland hat ganz
enge Beziehungen zu Russland. 7 000 deutsche Unternehmen sind in Russland tätig. 2 Millionen Menschen in
Russland lernen Deutsch. Es gibt 90 Städtepartnerschaften. Im Austausch von Wirtschaft, Jugend, Kultur und
Wissenschaft gibt es ein enges Geflecht. Das alles wäre
unter einem durch und durch strukturierten Repressionsapparat gar nicht möglich.
({3})
Es geht dabei auch um eine Differenzierung im Hinblick
auf die Menschen in diesem Apparat.
Wir haben das Thema nun zum dritten Mal auf der
Tagesordnung. Es ist die dritte Russland-Debatte innerhalb eines halben Jahres. Schon in der ersten Debatte haben wir deutlich gemacht, dass uns die Zurückdrängung
von Freiheiten, das Gesetz gegen die Nichtregierungsorganisationen, die Verfolgung von Menschen, die versuchen, sich demokratisch zu betätigen, die Einschränkung
der Versammlungs- und der Demonstrationsrechte, die
Gesetze gegen die sexuellen Minderheiten, das intensive
Vorgehen der Sicherheitskräfte in Form von Hausdurchsuchungen bzw. Verhaftungen derjenigen, die ihre demokratischen Freiheiten wahrnehmen wollen, genauso wenig gefallen wie der Ausschluss von Parlamentariern aus
dem Parlament oder die Durchsuchungen, die vorhin
hier genannt worden sind, ob das nun bei Golos Svobody, Amnesty International, der Konrad-Adenauer-Stiftung oder der Friedrich-Ebert-Stiftung der Fall war. Das
alles ist völlig inakzeptabel.
({4})
Aber man wird dem nicht gerecht, wenn die Antwort
jetzt darin gesucht wird, all diejenigen, die im Staatsdienst sind, unter den gleichen Verdacht zu stellen, und
genauso pauschalisiert wird. Das hilft überhaupt nicht
weiter, insbesondere dann nicht, wenn man sich in diesem Haus in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe und in
allen Reden und Anträgen permanent für Visafreiheit
einsetzt und die Bundesregierung kritisiert, weil sie im
Kern mit dem Fuß auf der Bremse steht.
Hier geht es um ein kleines Stück Visaliberalisierung,
einen kleinen Schritt, bei dem wir deutlich sagen sollten:
Lasst ihn uns gehen, und lasst auch hier die Einzelfallprüfung zur Anwendung kommen. Wenn klar ist, dass
einige versuchen, sich missbräuchlich oder trotz nachgewiesener Straftaten und Repression Zutritt zu verschaffen, dann haben sie keinen Zutritt. Dann muss das zu
spüren sein. Aber wir sollten nicht generalisieren.
Deswegen ist das, was die Bundesregierung jetzt unternimmt, ein Schritt in die richtige Richtung. Er ist aber
völlig unzureichend, weil alles andere, was gesagt worden ist, dazugehört. Wir müssen über Wissenschaft reden. Wir müssen über Jugend reden. Wir müssen über
Studenten, über Sport und über Wirtschaft reden. Hier
brauchen wir mehr Freiheiten. Hier brauchen wir mehr
Liberalisierung.
Es ist wichtig, jetzt nicht ein Spiel nach dem Motto zu
betreiben „Wer legt die nächste Sprosse auf der Leiter
höher?“, sodass man sich nachher in Höhen befindet, aus
denen man nicht mehr hinunterkommt und nicht zur Deeskalation beigetragen kann. Denn sonst wäre Willy
Brandts Ostpolitik mit der Strategie vom Wandel durch
Annäherung nie so erfolgreich gewesen, wie sie es denn
am Ende war.
({5})
Die Fortschritte, die wir zwischen Sankt Petersburg
und Helsinki, zwischen Kaliningrad und Danzig und in
den Häfen an der Ostsee im Rahmen der Visaliberalisierung beobachten können, sind Beispiele dafür, dass es
geht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. - Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Diese Werte müssen in die
Praxis umgesetzt werden. Daran werden wir Russland
messen. Aber ein gemeinsames Werteverständnis werden wir nur dadurch erreichen, dass wir die Kooperation
auf allen Ebenen vertiefen und im Zusammenhang mit
diesen Werten die Kooperation miteinander lernen.
Das Fazit dieser Debatte kann eigentlich nur sein
- das sage ich ganz klar und deutlich -: bestehende Visafreiheit erhalten, Armut in Europa genauso ernsthaft bekämpfen wie die Finanzkrise und Schritt für Schritt zu
mehr Visafreiheit in Europa gelangen.
({0})
Das Wort hat Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tatsache ist, dass es mehr als zwei Jahrzehnte nach dem
Fall der Berliner Mauer immer noch nicht gelungen ist,
die Visaschranken zwischen dem Schengen-Raum und
den Nachbarstaaten im Osten und Südosten Europas abzubauen.
Wie wichtig gerade in der jetzigen Zeit Fragen von
Visa und Aufenthalt sind, zeigt, dass der Innenausschuss
bereits am Montag bei einer Anhörung über den Status
von Türken in Deutschland und ihre Aufenthaltsrechte
debattiert hat.
Heute sprechen wir über Visaabkommen mit Russland und dem Westbalkan. Anstoß dieser Aktuellen
Stunde sind die aktuellen Verhandlungen der EU mit
Russland über ein erweitertes Visaabkommen, sicherlich
auch die jüngsten Durchsuchungen bei ausländischen
NGOs, darunter auch der Konrad-Adenauer-Stiftung,
durch russische Behörden. Ohne diese Maßnahmen
rechtlich bewerten zu wollen: Das entspricht natürlich
nicht der Art und Weise des Umgangs unter Freunden.
({0})
Wie immer macht auch hier der Ton die Musik, und solche Töne gefallen uns ganz und gar nicht.
Andererseits müssen wir ab und an auch den Blick
nach Deutschland richten und uns an die eigene Nase
fassen. Wenn die Bundespolizei, wie der Spiegel aktuell
berichtet, zum Beispiel eine russische Studentin mit,
wohlgemerkt, gültigem Visum in einer unerträglichen
Weise aus einem ICE befördert, da nach den AGBs der
Bahn der russische Ausweis nicht bei Onlinebuchungen
zulässig ist, dann sollte uns das ebenfalls zu denken geben. Bilder werden nämlich auf beiden Seiten aufgegriffen.
({1})
Die Grünen fordern jedenfalls die Verhinderung der
Visafreiheit für Inhaber russischer Dienstpässe innerhalb
der Europäischen Union und anderseits die Verhinderung der Visumpflicht für den Westbalkan. Ich bin der
Meinung, dass wir die unterschiedliche Situation auf
dem Westbalkan und in Russland nicht miteinander vermischen und vergleichen sollten. Hier wird aus populistischen Gründen mit zweierlei Maß gemessen. Eine solche undifferenzierte Betrachtungsweise ist pure
Schwarz-Weiß-Malerei.
Mit dem zwischen der Europäischen Union und Russland derzeit verhandelten neuen Visumerleichterungsabkommen sollen Reisen in den Schengen-Raum für russische Staatsangehörige weiter vereinfacht werden.
Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, regelmäßig Studierende, Teilnehmer grenzüberschreitender
Kooperationsprogramme, Transitreisende sollen in dieses Abkommen einbezogen werden. Das ist zwar gut,
aber nur ein weiterer Schritt in Richtung Visumfreiheit.
({2})
Wollen Sie wirklich, dass wir auf Visaerleichterungen
für russische Jugendgruppen verzichten? Der Ansatz
muss daher sein, bei der konkreten Ausgestaltung der
Visumfreiheit für Dienstpassinhaber genauer hinzuschauen. Da gibt es durchaus Spielraum.
Die Bundesregierung hat sich in Brüssel dafür starkgemacht, dass die EU hier mit Augenmaß vorgeht; denn
die Frage, welchen Gruppen von Dienstpassinhabern es
möglich sein soll, visumfrei einzureisen, ist in den laufenden Verhandlungen noch im Detail zu klären. Es ist
zudem ein ganz normaler Ablauf, dass zunächst Personen mit Dienstausweisen Visumfreiheit bekommen;
denn sie sind sozial verankert und die Rückreisewilligkeit ist sehr hoch.
Auch wenn die innenpolitische Situation in Russland
unbestritten kritisch ist, sollte es doch gerade den Menschen in Russland erleichtert werden,
({3})
durch Reisen Erfahrungen mit freien, demokratischen
und marktwirtschaftlichen Gesellschaften wie jenen in
der EU zu machen.
({4})
Sie haben das beim Thema Westbalkan erwähnt. Dann
sollten wir das den Russen erst recht zugestehen.
({5})
Wie wollen wir es sonst schaffen, eine starke Zivilgesellschaft zu erreichen?
Am stärksten werden von den Neuregelungen des Abkommens daher Vertreter der russischen Zivilgesellschaft profitieren, also Staatsangehörige gerade ohne
Dienstpässe. Ein solcher Gedanken- und Kulturaustausch kommt der Zivilbevölkerung, den Studenten oder
auch den NGOs zugute. Das liegt in unserem ureigenen
Interesse und im Interesse der russischen Bürger. Visaschranken bremsen den Austausch von Ideen und Wertvorstellungen in Europa und bremsen auch Wachstum.
Ein neues Visaerleichterungsabkommen zwischen der
EU und Russland ist zudem aus russischer Sicht als Zwischenschritt auf dem Weg zur Abschaffung der allgemeinen Visumpflicht für Reisen in den Schengen-Raum zu
sehen.
Aber auch für unsere Wirtschaftsbeziehungen ist es
sinnvoll, die Einreise für Geschäftsleute zu erleichtern.
Fast die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts wird
durch Exporte von Waren und Dienstleistungen erwirtschaftet. Mehr als jede andere Volkswirtschaft in Europa
ist Deutschland deshalb auf internationale Geschäftskontakte und auf einen reibungslosen Reiseverkehr angewiesen. Das Visaverfahren ist Deutschlands Aushängeschild
im internationalen Standortwettbewerb.
({6})
Als Abgeordneter aus der Küstenregion in Mecklenburg-Vorpommern weiß ich, dass dies für unsere Geschäftsleute vor Ort von besonderer Bedeutung ist. Denn
wer mit dem Schiff von Russland nach Deutschland
fährt, fährt am besten über Mecklenburg-Vorpommern.
Dabei ist die Visabürokratie ein erheblicher Zeit- und
Kostenfaktor für deutsche und russische Unternehmen.
Die Visumpflicht behindert Geschäftskontakte und gegenseitige Investitionen, erschwert den Austausch von
Fachkräften und verursacht Wettbewerbsnachteile im internationalen Konkurrenzkampf.
Als Folge der demografischen Entwicklung in
Deutschland wird die Zahl ausländischer Fachkräfte in
den kommenden Jahren gesteigert werden müssen.
Deutschland benötigt daher eine echte Willkommenskultur.
({7})
Die schnelle Liberalisierung des Visasystems im Hinblick auf die östlichen Nachbarstaaten der EU ist dafür
eine Grundvoraussetzung - genau wie auf dem Westbalkan.
Tatsache ist jedoch, dass wir ein Problem mit Zuwanderern aus dieser Region haben. Aber das ist meiner
Meinung nach zum größten Teil ein deutsches Verwaltungsproblem in Bezug auf die Behandlung der Asylanträge. Deswegen sollte man noch nicht voreilig die Visumpflicht wieder einführen;
({8})
das wäre eine viel zu harsche Reaktion. Bei der KostenNutzen-Rechnung überwiegt weiterhin der Nutzen der
Visumfreiheit.
Die Sorge der Grünen, dass die Annäherung junger
Menschen vom Westbalkan an die EU durch eine zeitweilige Visumpflicht verhindert werde, ist angesichts
des Beitritts Kroatiens in diesem Sommer jedoch völlig
unbegründet.
({9})
Als mögliche Reaktion auf künftige Fälle eines besonders starken Anstiegs der Asylbewerberzahlen diskutiert die EU die vorübergehende Suspendierung der Visumfreiheit - ein Gedanke, über den diskutiert werden
muss. Dabei wird die Bundesregierung in den Verhandlungen durchsetzen, dass genau das nur auf Vorschlag
der EU-Kommission möglich ist. Eine dauerhafte Aufhebung der Visumfreiheit für Staatsangehörige vom
Westbalkan, egal woher dort, ist deshalb völlig indiskutabel.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Herr Kollege, dies war Ihre erste Rede; Sie sind
Nachrücker. Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute.
({0})
Das Wort hat jetzt Sevim Dağdelen für die Fraktion
Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
zu dem einen Thema, dem geplanten EU-Mechanismus
zur Wiedereinführung der Visumpflicht, unter anderem
bei angeblichem Asylmissbrauch. Ich muss darauf hinweisen: Die Linke hat schon vor einem Jahr in parlamentarischen Anfragen auf den Skandal aufmerksam gemacht, dass die Abschottungspolitik der Europäischen
Union dazu führt, dass die Reisefreiheit von Menschen
aus den Westbalkan-Ländern eingeschränkt wird, insbesondere im Hinblick auf Roma aus Serbien und Mazedonien.
Damals hatte die EU-Kommission gerade ihren ersten
Vorschlag für einen Aussetzungsmechanismus in Bezug
auf die Visafreiheit vorgelegt. Inzwischen ist die politische Entscheidung auf der EU-Ebene leider längst gefallen. Dass heute eine Aktuelle Stunde dazu angesetzt
wurde, zeigt, dass es Ihnen - damit meine ich die CDU/
CSU, aber auch die Grünen - um etwas anderes geht.
Darauf komme ich etwas später noch einmal zu sprechen.
Ich muss sagen, dass man an rassistischer Hetze in
diesem Land mittlerweile einiges gewohnt ist. Mein Vorredner sprach von einer nötigen Willkommenskultur. Ich
möchte Sie bitten, eine solche Forderung einmal an Ihren Bundesinnenminister Friedrich zu richten.
({0})
Wie zum Beispiel im Fall des SPD-Mitglieds Sarrazin
muss erst die UNO diesem Land den Spiegel vorhalten,
was Rassismus ist. Aber das, was wir von Innenminister
Friedrich an Hetze gegen Roma vom Balkan gehört
haben, übertrifft wirklich alles. Roma werden von Ihnen
mit saloppen Sprüchen pauschal als Asyl- und Sozialhilfemissbraucher verleumdet. Sie leisten damit in
Deutschland einem Klima Vorschub, in dem ein lebensgefährlicher - tatsächlich lebensgefährlicher - Rassismus möglich ist.
Um es ganz deutlich zu sagen: Auch ein Herr Bundesminister Friedrich ist ein Fall für den UN-AntirassismusAusschuss.
({1})
Dieser Bundesinnenminister spannt auch noch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit einer bislang
beispiellosen Mobilmachung dafür ein, dass Asylsuchende aus Serbien und Mazedonien in einem zuletzt
nur siebentägigen Schnellverfahren abgelehnt wurden.
98 Prozent aller Asylablehnungen bei serbischen Flüchtlingen im letzten Quartal des Jahres 2012 lauteten auf
„offensichtlich unbegründet“, und das trotz der erheblichen Diskriminierung und auch Ausgrenzung von Roma
in Serbien. Das ist Ihnen offensichtlich gleichgültig.
Ich muss mutmaßen: Aber hat die Bundeskanzlerin
Angela Merkel wieder einmal gelogen, als sie im Oktober 2012 bei der Enthüllung des Denkmals für die vom
Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma vorgab,
„wo auch immer und innerhalb welcher Staatsgrenzen
auch immer sie leben“, für die Rechte von Roma und
Sinti kämpfen zu wollen? Einerseits sagt sie das, andererseits schickt sie im Jahr 2012 ihren Innenminister los,
um gegen nicht einmal 12 000 Roma aus Serbien und
Mazedonien - die Hälfte von ihnen Kinder - zu hetzen.
Da fragt man sich: Warum nur?
Die Antwort kann nur sein: Die Bundesregierung will
ihren Wahlkampf auf dem Rücken der Migrantinnen und
Migranten austragen.
({2})
Das ist unerträglich. Die Linke ist gegen diese rassistische Hetze. Ich sage Ihnen, Herr Kollege: Sie werden
damit nicht durchkommen.
({3})
Was aber die Fraktion der Grünen angeht, bin ich
nicht minder erschüttert. Ich finde es völlig daneben,
wenn Sie die Visapolitik
({4})
für außen- und innenpolitische Anliegen instrumentalisieren. Sie tun der Visafreiheit einen Bärendienst, wenn
Sie hier lauthals gegen Visaerleichterungen schreien und
brüllen. Was ist das nur für ein Signal, wenn Sie auf der
einen Seite gegen Visaerleichterungen sind und auf der
anderen Seite sagen, Sie sind für die Visafreiheit für die
Menschen aus dem Westbalkan!
({5})
Dabei fabulieren Sie auch noch pauschal von einem Repressionsapparat. Dass man eine Außenpolitik macht, indem sich gegenseitig potenzielle Menschenrechtsverletzer auf eine Einreiseverbotsliste setzen - wie derzeit die
USA und Russland -, das kann doch kein Vorbild sein.
Ich hoffte eigentlich, dass das auch kein Vorbild für die
grüne Partei ist.
({6})
Sie sollten endlich mit Ihren antirussischen Reflexen
aufhören.
Wir - um es klarzustellen - sind gegen eine Visaliberalisierung nur für Dienstpassinhaber. Wir fordern
Reiseerleichterungen für alle. Ich denke, wir brauchen
Visafreiheit für alle, und auf dem Weg dorthin brauchen
wir auf jeden Fall Erleichterungen auf allen Ebenen.
Deshalb bitte ich Sie, doch Ihre antirussischen Reflexe
ad acta zu legen
({7})
und dabei mitzumachen, Reisefreiheit für wirklich alle
Menschen möglich zu machen. Sie sollten die Flüchtlinge nicht für Ihre konfliktverschärfende Außenpolitik
instrumentalisieren.
({8})
Das Wort hat nun Rita Pawelski für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, nach Ihrem
Beitrag frage ich mich wirklich, ob wir im selben Land
leben.
({0})
Es ist skandalös, wenn Sie in Ihrem Beitrag von Hetze
usw. sprechen. Es erschüttert mich direkt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde, wie es
hier schon kritisiert wurde, die beiden Themen dieser
Aktuellen Stunde nicht vermischen, sondern konzentriere mich auf den Teil eins.
Frau Beck, Ihre Einschätzung der Lage in Russland
teile ich. Meine Sorgen spiegeln sich in Ihrem Beitrag
wider: die Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschaftswahl, die Durchsuchungen bei deutschen Stiftungen, die
unerhört harten Strafen gegenüber der Mädchen-Punkband, die Verschärfung des Demonstrationsgesetzes usw.
Da haben Sie sicher recht. Das alles zeigt: Russland kontrolliert aktive Bürger, kriminalisiert kritische Engagements und stellt langjährige Partner unter Generalverdacht.
({2})
Ich bin unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel daher sehr dankbar, dass sie auf der Hannover Messe sehr
klare und kritische Worte gegenüber Wladimir Putin gefunden hat und eine starke Zivilgesellschaft angemahnt
hat. Ich wäre sehr dankbar, wenn der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der ja ein Männerfreund von
Wladimir Putin ist, auch einmal sehr deutliche Worte
sprechen würde. Aber ich komme aus Hannover und lese
dort in den Zeitungen, wie sich die beiden herzen, wie
sie sich treffen, wie sie ein Bier oder einen Wein trinken.
Dazu gehört auch einmal ein deutliches Wort der Kritik.
Das vermisse ich sehr.
({3})
Ein kritischer Umgang und Dialog mit Russland ist
dringend notwendig. Wir wollen ein Russland, das durch
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Transparenz geprägt ist. Darauf werden wir weiter intensiv hinwirken.
Aber Russland ist auch und vor allem für die deutsche
Wirtschaft ein sehr wichtiger Partner.
({4})
In Russland sind mittlerweile 6 300 deutsche Unternehmen mit Tochterfirmen und Repräsentanzen aktiv.
Deutschland ist der zweitgrößte Handelspartner Russlands nach China. Vom Handel mit Russland hängen bei
uns 300 000 Arbeitsplätze ab. Ihre Reden sollten Sie einmal vor den Firmen halten, die einen starken Export
nach Russland haben.
Darum: Statt auf Isolation müssen wir auf Kooperation setzen. Hier spielt die Visafrage grundsätzlich eine
wichtige Rolle. Wir werden weiterhin für Erleichterungen gegenüber Russland eintreten. Es ist deshalb auch
folgerichtig, dass sich Deutschland auf EU-Ebene kompromissbereit zeigt. Damit der Ball für den Abschluss
der Verhandlungen endlich wieder ins Rollen kommt,
müssen wir weiter verhandeln; denn ohne eine Zusage
würde es keine weiteren Erleichterungen für Journalisten, Schüler, Studenten, Familien oder Geschäftsleute
geben; das ist klar.
Fest steht, dass Russland nun in der Pflicht ist. Die
Dienstpässe müssen biometrisch sein. Gleichzeitig ist
die Zahl der Personen, für die die Visafreiheit gelten soll,
strikt einzugrenzen. Das sind sehr wichtige Bedingungen
für uns. Gleichzeitig erwarten wir aber auch von Russland Erleichterungen bei der Einreise von EU-Bürgern.
Ich denke hier beispielsweise an den Abbau von Registrierungspflichten.
Meine Damen und Herren, es steht außer Frage, dass
Visaerleichterungen erforderlich sind. Sie helfen - das
wurde schon mehrmals gesagt -, die Zivilgesellschaft zu
stärken. Sie sind gut für die politischen Beziehungen,
und sie verbessern wirtschaftliche Kontakte. Eine UnterRita Pawelski
suchung des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft
ergab, dass Visa Investitionen hemmen, Wettbewerbsnachteile verursachen und Kosten hervorrufen.
({5})
Ein Beispiel: Deutsche und Russen kosten die gegenseitigen Beantragungen von Visa jährlich geschätzte
162 Millionen Euro. Rechnet man die Bürokratiekosten
der Unternehmen, die Verluste durch geplatzte Geschäfte,
verhinderte Investitionen sowie Verwaltungskosten in
den Konsulaten und an den Grenzen hinzu,
({6})
so kommt man ganz schnell auf mehrere Hundert Millionen Euro. Da wundert es nicht, dass 80 Prozent der deutschen Unternehmen, die im Ost-Ausschuss organisiert
sind, eine Abschaffung der Visapflicht gegenüber Russland befürworten. 56 Prozent der Unternehmen würden
im Falle vollkommener Visafreiheit mehr investieren.
Mehr Investitionen vor Ort, also in Russland, heißt, dort
neue Arbeitsplätze und neue Ausbildungsplätze zu
schaffen. Das wiederum fördert und stärkt die Zivilgesellschaft. Wir alle wollen doch in Russland die Zivilgesellschaft stärken.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in der Visafrage weiterhin mit kritischer Vernunft und viel Augenmaß handeln - im Sinne der deutsch-russischen Partnerschaft, aber vor allem im Sinne der Menschen in
Russland.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist verschiedentlich angesprochen worden - ich kann
mich dem nur anschließen -: Hier werden unter dem
Oberbegriff „Visapolitik“ zwei völlig unterschiedliche
Situationen miteinander verknüpft. Das wirkt außerordentlich befremdlich, und ich finde, das riecht nach
grünem Populismus.
({0})
Ich will deshalb zunächst einmal auf die Situation auf
dem Westbalkan eingehen. Die EU-Innenminister hatten
der Visafreiheit damals unter der Bedingung zugestimmt, dass die neuen Einreisemöglichkeiten nicht für
unbegründete Asylanträge missbraucht würden. Seit einigen Monaten steht jedoch genau dieser Vorwurf im
Raum. Der Herr Staatssekretär hat vorhin Zahlen dazu
genannt. Ich möchte die einzelnen Anträge hier nicht bewerten; das steht mir auch gar nicht zu. Ich glaube, das
ist Sache des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, und dieses Bundesamt macht eine gute Arbeit.
Hier sind wir allerdings auch schon genau bei dem
Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte. Missbrauch von Asylanträgen ist zunächst einmal ein deutsches Verwaltungsproblem, kein politisches. Wenn nun
die EU-Kommission in Brüssel die Aufhebung der Visumfreiheit für eine bestimmte Zeit festlegen möchte
oder sollte, dann wird die Bundesregierung alles daransetzen - da bin ich mir sicher -, dass dies nur kurzzeitig,
also für eine Übergangszeit, und nur bei Überschreitung
bestimmter, strenger Kriterien der Fall ist.
Eine endgültige und allgemeine Aufhebung der Visafreiheit für den Westbalkan wäre eine viel zu harsche
Reaktion, die, nebenbei bemerkt, auch gar nicht den
Kern des Problems trifft; auch das ist hier verschiedentlich in der Debatte angesprochen worden. Die Länder
des Westbalkan müssen sich selbst darum kümmern, die
Lebensbedingungen ihrer Bürger zu verbessern, und dabei sollten wir sie unterstützen.
Nun zu dem zweiten Thema, das in dieser Aktuellen
Stunde angesprochen wird. Wir von der FDP sehen in
der Visafreiheit einen Hebel für Gedankenaustausch und
kulturellen Dialog.
({1})
Natürlich sehen auch wir die innenpolitische Situation in
Russland sehr kritisch. Frau Merkel ist in diesem Zusammenhang erwähnt worden. Auch unser Bundesaußenminister Westerwelle hat klare Worte mit Vertretern der russischen Regierung gesprochen, als es zum
Beispiel um unsere Stiftungen ging.
Wer sich aber jedem Dialog verweigert und bei jedem
aufkommenden Problem gleich reflexartig Abstrafung
fordert, der denkt einseitig. Gerade weil wir mit Russland in vielen Dingen nicht einer Meinung sind, weil wir
wissen, dass Russland zum Teil willkürlich handelt,
müssen wir den Austausch fördern und den Dialog intensivieren. Eine Visafreiheit stärkt genau jenen zivilgesellschaftlichen Dialog, den wir so dringend mit Russland
benötigen; denn sie käme vor allem der Zivilbevölkerung zugute.
Die EU verhandelt jetzt mit Russland über Visaerleichterungen - für Jugendgruppen, für NGOs, für die
Zivilgesellschaft. Ich kann Ihnen versichern, dass wir
exzellente, äußerst erfahrene Diplomaten haben, die es
nicht zulassen, dass am Ende des Tages womöglich fragwürdige Personengruppen von der Ausgestaltung der Visafreiheit für Dienstpassinhaber in Russland profitieren
werden. Wir respektieren unseren Partner Russland; aber
wir werden ihm auch nichts schenken, sondern sehr genau darauf achten, worauf wir uns hier einlassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Grünen, Ihnen geht es - das muss ich Ihnen leider vorwerfen - einzig und allein darum, jede Gelegenheit aus29568
zunutzen, um gegen Russland vorzugehen, weil das Ihre
Klientel so von Ihnen verlangt.
({2})
Das ist keine Außenpolitik, das ist Populismus in Wahlkampfzeiten. Wir von der FDP sind in beiden Fällen für
eine möglichst weitreichende Visapolitik; denn wir sind
der Überzeugung, dass bei einer Kosten-Nutzen-Rechnung der Nutzen der Freiheit immer überwiegt.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege
Ehrenberg, Sie haben einiges von dem, was wir hier diskutiert haben, nicht verstanden. Sie unterstellen uns,
dass wir im Titel der Aktuellen Stunde zwei unterschiedliche Themen vermischen und in einen Topf werfen, die
nichts miteinander zu tun haben. Sie irren sich. Beim
Westbalkan geht es darum, bereits gewährte Visumfreiheiten nicht zurückzunehmen. Bei Russland geht es darum, dass wir den russischen Staatsbürgerinnen und
Staatsbürgern Visumfreiheit einräumen wollen, und darum, wie wir das gestalten.
({0})
Das ist der Zusammenhang; das sollten Sie sich merken.
Wir gehen nicht gegen die russischen Bürgerinnen
und Bürger, unsere Freundinnen und Freunde, vor, sondern legen den Finger auf die Wunde. Wenn es irgendwo
einen Repressionsapparat gibt, dann ist es die Pflicht von
Bündnis 90/Die Grünen, in aller Welt darauf hinzuweisen. Das tun wir auch.
({1})
- Liebe Frau Kollegin Dağdelen, da Sie sich gerade hier
melden, darf ich erwähnen: Auch Sie haben einiges
durcheinandergebracht. Sie haben uns beschimpft, weil
wir die Visumerleichterungen der Bundesregierung nicht
gutfinden. Gleichzeitig haben Sie selbst diese Visumerleichterungen kritisiert. Da müssen Sie sich bitte entscheiden. Sie müssen Ihre Rede noch einmal lesen. Es ist
wirklich widersprüchlich.
({2})
Ihre Haltung ist ein bisschen komisch. Lesen Sie Ihre
Rede noch einmal. Dann werden Sie merken, dass Sie einiges durcheinandergebracht haben.
({3})
Als Jurist und Obmann im Petitionsausschuss erfahre
ich viel über die Praxis der Visavergabe. Viele Petitionen
zu Problemen in der Praxis werden eingereicht. Ebenso
landen viele Klagen in den Kanzleien und Gerichten.
Die Unzufriedenheit ist groß und kein Einzelfall. Sowohl im In- als auch im Ausland beschweren sich sehr
viele Menschen darüber.
Nehmen wir als Beispiel die Visaregeln für Russland,
einem der wichtigsten Handelspartner von Deutschland.
Mit einem so wichtigen Handelspartner bedarf es eines
umfangreichen Reiseverkehrs und eines ausgezeichneten
Austauschs. Nicht nur wirtschaftlichen Austausch, sondern auch Austausch zwischen Schulen, Universitäten
und Vereinen sollte es geben. Doch leider scheitern viele
Begegnungen an der Visapflicht und der restriktiven
Vergabepraxis. In der Praxis gibt es viele Hürden: zum
Beispiel der große Umfang an geforderten Unterlagen,
die Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens bei den
Konsulaten, der hohe Zeit- und Kostenaufwand und die
lange Bearbeitungszeit. Allzu oft stellt sich heraus, dass
das ganze Engagement umsonst gewesen ist, weil man
am Ende nur eine Ablehnung erhält.
Die Bundesregierung hat vor einem Monat ein neues
Visaabkommen mit Russland verkündet. Viele haben
eine generelle Visafreiheit für russische Staatsbürger erwartet und wurden enttäuscht. Denn die Visafreiheit gilt
nur für Inhaber russischer Dienstpässe. Das sind - sage
und schreibe - etwa 15 000 Staatsbedienstete.
({4})
Also erhalten vor allem die Leute Visafreiheit, die für
die Unterdrückung gegenüber der Zivilgesellschaft verantwortlich sind. Möchte man damit genau diese Leute
für Ihre Unterdrückungspolitik in Russland auch gegenüber ausländischen Stiftungen belohnen, liebe Freundinnen und Freunde?
({5})
Warum soll es keine Visafreiheit für die ganze Bevölkerung geben? Warum fürchtet man sich so sehr vor visafreiem Besuch aus Russland? Liebe Kolleginnen und
Kollegen, das ist ein falsches Signal an die russische Bevölkerung.
Aufgrund zahlreicher Erfahrungen beurteile ich die
Visapolitik der Bundesregierung als sehr engstirnig und
nicht gerade tolerant. Wenn das Auswärtige Amt die Visitenkarte unseres Landes in der Welt ist, dann haben wir
zurzeit eine sehr abweisende Visitenkarte. Das muss sich
dringend ändern, meine Damen und Herren.
({6})
Am schlimmsten an dieser Debatte finde ich die Haltung der Bundesregierung zur Einreise von Serben und
Mazedoniern.
({7})
Ich fasse es nicht, dass das Innenministerium diesen
Ländern damit droht, die Visafreiheit für deren Staatsbürger wieder zu entziehen. Die Visumbefreiung war
eine der wichtigsten Errungenschaften der vergangenen
Jahre für den Westbalkan. Durch das freie Reisen kann
die Identifikation mit Europa gestärkt werden und können Ideen von Pluralismus und Demokratie verbreitet
werden.
Das Innenministerium dagegen möchte sich vor den
Roma aus Serbien abschotten. Die Lage der Roma in
Serbien ist sehr schlecht. Die Drohung aus Deutschland,
Serben die Visafreiheit zu entziehen, entfacht dort einen
Hass auf die Roma. Dort werden die Roma als Bedrohung für die Reisefreiheit aller Serben gesehen. Das
kann zu fatalen Folgen führen, die man nicht wiedergutmachen kann. Statt die Lebensbedingungen in den Heimatländern der Roma zu verbessern, wird dadurch genau
das Gegenteil erreicht. Das ist schäbig, meine Damen
und Herren.
({8})
In einer solchen Debatte dann auch noch von Asylmissbrauch und Asylflut zu sprechen und mit den Zahlen
gnadenlos zu übertreiben, ist wieder einmal typisch für
die Union. Das ist ausländerfeindliche Stimmungsmache
im Wahljahr. Das werden wir nicht tolerieren.
Die Roma müssen in ganz Europa geschützt werden.
Gerade Deutschland hat dabei eine historische Verantwortung. Ein Denkmal für die im Nationalsozialismus
ermordeten Roma zu errichten, anschließend aber für
eine ernste Bedrohung für die Roma in Serbien zu sorgen, ist ein riesiger Widerspruch und deshalb beschämend.
({9})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, den
Menschen aus Serbien und Mazedonien die Visafreiheit
nicht zu entziehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Karl-Georg Wellmann für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die
Grünen am Montag diese Aktuelle Stunde beantragt haben, hat ihr Geschäftsführer Volker Beck eine Presseerklärung veröffentlicht, die so infam ist, dass ich kurz
darauf eingehen möchte. Herr Beck schreibt: Die Bundesregierung würde Menschen gegen die Roma aufstacheln, der Innenminister selbst würde die Fluchtgründe
dieser Menschen schaffen,
({0})
die Bundesregierung würde Repressionsapparate unterstützen. - Das sprengt wirklich jeden Rahmen, selbst im
Wahlkampf, Frau Kollegin Beck.
({1})
Besonders die Behauptung, wir würden die deutsche Bevölkerung gegen die Roma aufstacheln und damit Hetze
gegen Ausländer betreiben, ist bodenlos. Sie verlassen
damit die gemeinsame Basis der Demokraten in diesem
Land.
({2})
Herr Beck schreibt noch: Die Visapolitik der Bundesregierung „nähert sich ihrem historischen Tiefpunkt an“.
Das Gegenteil ist richtig. Seit Dezember 2010 können
Menschen aus Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien und Bosnien-Herzegowina visafrei in die EU einreisen. Daran hat die Bundesregierung im Rahmen der EU
aktiv mitgewirkt. Sie haben während Ihrer Regierungszeit nichts dergleichen bewirkt, Frau Beck.
Auch für Osteuropa gilt, dass wir Grenzen überwinden müssen, statt neue Barrieren zu errichten. Das heutige Visaregime ist für uns aus vielen Gründen selbstschädigend; einige Vorredner haben bereits darauf
hingewiesen. Aber mit Ihrem Gerede, man solle jetzt
wieder Visaeinschränkungen vornehmen, Frau Beck,
spielen Sie denen in die Hände, die die Europäische
Union nach außen abschotten wollen.
({3})
Das ist rückwärtsgewandt wie vieles, was von den Grünen jetzt kommt.
({4})
Die Menschen in West- und vor allem in Osteuropa
wollen eines: Sie wollen Arbeit und Wohlstand. Gerade
in Osteuropa haben sie einen Anspruch darauf, dass es
vorwärtsgeht. Dazu brauchen wir Handel und Wandel,
und das geht eben nicht mit einem strengen Visaregime.
({5})
- Sie sagen: So ist es. Aber Arbeitsplätze werden nicht
in Ihren esoterischen Parteizirkeln geschaffen, Frau
Beck, sondern draußen an der Front.
({6})
Wir müssen den Unternehmen die Luft zum Atmen geben, damit sie diese Arbeitsplätze in West und vor allem
in Ost schaffen können.
({7})
Meine Damen und Herren, Frau Beck, ich habe keine
Angst vor Inhabern von Dienstpässen. Lassen wir sie
doch kommen, und argumentieren wir mit ihnen. Übrigens sind viele, die wir beide kennen, dabei, die viel für
ihr Land tun wollen und nach Europa wollen. Die wollen
wir nicht draußen halten.
({8})
Es ist und bleibt richtig, dass wir vordemokratische Gesellschaften weder mit einer penetranten Wertepädagogik noch durch Sanktionen und Verbote ändern.
Frau Beck, im Umgang mit dem Ausland ist mir bei
Ihnen zu viel Betroffenheitsrhetorik und zu wenig praktische Außenpolitik im Spiel.
({9})
Marieluise und Volker Beck, was wir wirklich nicht
brauchen, ist Ihre Oberlehrerattitüde, die sich fatal danach anhört: An deutschem Wesen soll die Welt genesen.
({10})
Aus dieser muffigen Ecke sollten Sie möglichst schnell
rauskommen.
({11})
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte und des heutigen Tages ist Kollege Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren im Plenum, aber insbesondere auf
den Zuschauerrängen!
({0})
- „Das Volk hat die Mehrheit“, Herr Thönnes, Sie haben
recht, und das ist auch gut so.
Als Wladimir Putin im März des vergangenen Jahres
erneut zum Präsidenten gewählt wurde, haben sicherlich
viele von uns gehofft, dass er unter Beweis stellt, dass
die Einschätzung des früheren Bundeskanzlers Gerhard
Schröder - Herr Staatssekretär Schröder hat eben darauf
verzichtet, das auszuführen, aber ich kann es Ihnen nicht
ersparen -, er sei ein lupenreiner Demokrat, zutrifft.
Doch statt mehr Nachsicht und Toleranz wurden in kürzester Zeit gesetzgeberische und juristische Maßnahmen
ergriffen, die auf eine wachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen und kritisches Engagement bestrafen. So
weit, denke ich, sind wir alle einer Meinung.
Dennoch verwundert Ihr Antrag auf Begrenzung der
Visafreiheit, Frau Beck;
({1})
denn im Grunde genommen steht er in Widerspruch zu
Ihrem Antrag vom 13. Juni 2012, in dem Sie die Liberalisierung der Visapolitik fordern.
({2})
Wenn Sie aber fordern, dass alle visafrei einreisen können sollen, dann wären auch die von Ihnen nicht so sehr
Gewünschten mit dabei. Das ist ein Widerspruch in sich.
({3})
Bei zwischenstaatlichen Beziehungen - Frau Beck,
das ist Ihnen von mehreren zu Recht gesagt worden;
auch Herrn Thönnes kann ich insofern nur beipflichten macht der Ton die Musik. Sie werden wohl nicht bestreiten wollen, dass der Dialog zwischen Russland und der
EU hinsichtlich der weiteren Visapraxis von erheblicher
Bedeutung ist. Da stört schon die sonst nur bei den Linken gängige Formulierung „Repressionsapparat“. Das ist
kein Ansatz für eine sachliche Auseinandersetzung.
Eine Visafreiheit für Inhaber biometrischer Dienstpässe gibt es im Übrigen derzeit nicht; das wissen Sie.
Sie kann und sollte allenfalls nur als Zwischenschritt zu
der auch von Ihnen angestrebten Visumfreiheit ins Auge
gefasst werden. Ein solcher Zwischenschritt wäre allerdings nach unserer Auffassung dann nicht kritikwürdig.
Unstreitig sollte im Übrigen auch sein, dass bei den
weiteren Verhandlungen alles unternommen werden soll,
eine Angleichung bei Fragen gemeinsamer Wertvorstellungen und rechtsstaatlicher Standards zu erreichen. Die
jetzigen Repressalien gegen die Konrad-Adenauer-Stiftung, gegen die Friedrich-Ebert-Stiftung und andere erfüllen uns natürlich mit Sorge. Dennoch ist Russland für
Deutschland der wichtigste strategische Partner jenseits
der östlichen Grenzen der EU. Wir sind in vielen Bereichen aufeinander angewiesen: beim Klimaschutz, in
Energiefragen, in Fragen der gemeinsamen europäischen
Sicherheit, bei der Abrüstung oder bei der Lösung internationaler Konflikte wie beispielsweise mit dem Iran.
Teil dieser Partnerschaft mit Russland ist natürlich auch
die Erwartung von Respekt und einer fairen Behandlung
von Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen.
Wir als Koalition sind dafür, den Visadialog mit Russland mit dem Ziel fortzuführen, zu VisumerleichterunHelmut Brandt
gen zu kommen. Konzertierte Aktionen, die die Handlungsfreiheit von Nichtregierungsorganisationen und der
Zivilgesellschaft einschränken, sind dabei aus unserer
Sicht nicht hilfreich, sondern kontraproduktiv.
Aber das Thema Visafreiheit beschäftigt uns ja auch
- das ist von allen Rednern bisher hier erwähnt worden in einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich der
Frage des Umgangs mit den Balkanstaaten. Wir alle haben schon mehrfach gehört - das wissen wir auch -, dass
die Staatsangehörigen Serbiens, Montenegros und Mazedoniens seit 2009 visafrei in den EU-Raum einreisen
können. Seit Dezember 2010 sind weitere Mitgliedstaaten hinzugekommen. Mit der Einführung dieser Visumfreiheit ist bedauerlicherweise auch die Zahl der hier gestellten Asylanträge sprunghaft gestiegen.
Wenn Sie es als eine Art Winterhilfe bezeichnen,
wenn das Asylrecht dazu missbraucht wird, sich in
Deutschland illegal aufzuhalten, dann muss ich diese
Formulierung genauso zurückweisen wie die bewusst
von Frau Dağdelen genutzte Formulierung einer „Mobilmachung“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Lassen Sie solche Formulierungen doch einfach
sein.
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Ich will einmal die wirklichen Zahlen nennen. 2012
gab es immerhin - nur aus Serbien - 12 812 Asylbewerber. Damit wird Ihre Behauptung, Frau Beck, und die Ihres Kollegen gleichen Namens Lügen gestraft, dass dies
alles angeblich nicht der Fall sei. Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Zahl im Jahr 2013 noch weiter ansteigen wird.
Vor dem Hintergrund der Bedingungen, die diese
Menschen, die mit dem Wunsch nach einem besseren
Leben hierherkommen, in ihren Heimatländern vorfinden, ist der rasche Anstieg natürlich nicht verwunderlich. Aber ausgerechnet die sozialdemokratisch geführten Kommunen in meinem Heimatland NordrheinWestfalen sind es gewesen, die nach Hilfe gerufen haben.
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Sie erkennen diese Gefahren des Missbrauchs sehr wohl.
Deshalb kann man doch nicht sagen, wir hätten es hier
mit einer Situation zu tun, die man einfach durch Ignorieren beseitigt bekäme.
Dass der Bundesinnenminister aufgrund der eingetretenen Situation zu Recht prüft, ob in der Visum-Verordnung die Grundlage für eine Klausel geschaffen werden
kann - denn nur darüber wird im Augenblick überhaupt
diskutiert -, mit der die Visafreiheit über einen Zeitraum
von sechs Monaten ausgesetzt werden kann, ist in diesem Zusammenhang nur zu begrüßen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Jawohl, es wird auch Zeit, dass wir nach Hause kommen. - Zur Klarstellung zum Schluss: Entgegen dem
von Ihnen erzeugten Eindruck gibt es derzeit einen solchen Antrag nicht. Das hat im Übrigen aber auch mit
Asylrecht überhaupt nichts zu tun. Die Kritik von Bündnis 90/Die Grünen, dass mit einer solchen Regelung das
Recht auf Asyl diskreditiert würde, überzeugt schon deshalb nicht, weil die Anerkennungsquote, wie mehrfach
gesagt, gleich null ist.
Sie hätten uns diese Aktuelle Stunde besser erspart.
Schönes Wochenende.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. April 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
heiteres Wochenende.