Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere
Tagesordnung eintreten, möchte ich an ein historisches
Ereignis erinnern, das für die Geschichte unseres Landes
und für die Parlamentsgeschichte im Besonderen zweifellos von herausragender Bedeutung ist.
Morgen, am 23. März 2013, jährt sich der 80. Jahrestag der Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes. In der Krolloper, wo der Reichstag nach
dem verheerenden Brand vom 27. Februar zusammentrat, beschlossen am 23. März 1933 die Abgeordneten
das sogenannte Gesetz zur Behebung der Not von Volk
und Reich - mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit,
allein gegen die Stimmen der Sozialdemokraten unter ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Otto Wels. Dessen denkwürdige und heldenhafte Rede war, in den Worten seines Kollegen Wilhelm Hoegner, ein - ich zitiere „letzter Gruß an das verblichene Zeitalter der Menschlichkeit und des Menschenrechts“. Bei der Abstimmung
im Reichstag fehlten damals bereits 107 Abgeordnete:
neben 26 Sozialdemokraten die 81 Fraktionsmitglieder
der KPD, die bereits in Haft genommen waren oder sich
aus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht befanden.
Mit der Übertragung der gesetzgebenden Gewalt vom
Parlament auf die Exekutive wurde die Gewaltenteilung
aufgehoben, die parlamentarische Demokratie aufgegeben und der Weg in die Diktatur zementiert, der seit dem
30. Januar 1933 mit beispiellosem politischem Terror
eingeschlagen worden war.
Siegestrunken, aber in der Sache leider nicht einmal
falsch triumphierte der Völkische Beobachter über die,
so wörtlich, „Kapitulation des parlamentarischen Systems“. Richtig ist: Der 23. März steht für die mutwillige
Zerstörung einer Demokratie, die freilich nicht erst an
diesem Tag begonnen hat. Das Ermächtigungsgesetz bedeutete nach der Auslieferung des Staates durch die konservativ-reaktionären Machteliten Ende Januar die
Selbstaufgabe des Parlamentes, dessen verfassungsrechtliche Kompetenz und Verantwortung am Ende nur
noch von einer einzigen Partei hochgehalten wurde. Begleitet wurde dies, wie Sebastian Haffner im bitteren
Rückblick festhielt, von einem in der Gesellschaft - ich
zitiere - „sehr weit verbreiteten Gefühl der Erlösung und
Befreiung von der Demokratie“.
Tatsächlich litt die politische Kultur der Weimarer
Republik von Beginn an unter der Skepsis gegenüber
dem parlamentarischen System, den Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und dem Misstrauen in die pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Zur historischen Wahrheit gehört
deshalb: Die Republik ging keineswegs nur an ihren vielen Gegnern zugrunde, die es zweifellos gab, sondern
auch und gerade durch das Versagen der Demokraten.
Die Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und
der nationalsozialistischen Diktatur prägt den Geist unseres Grundgesetzes; aus ihr folgt der Gedanke einer
wehrhaften Demokratie. Der Parlamentarismus in
Deutschland ist auch heute nicht völlig unangefochten,
aber er erweist sich auch und gerade bei Herausforderungen als robust und vital, getragen von der Einsicht von
Demokraten, dass sie eine gemeinsame Verantwortung
haben, die noch wichtiger ist als der legitime jeweilige
politische Ehrgeiz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erheben. - Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur und erinnern uns dankbar
all derer, die während und nach der brutalen Zerstörung
der ersten deutschen Demokratie durch ihren Mut und
ihre Tatkraft den politischen, sozialen und moralischen
Wiederaufbau unseres Landes ermöglicht haben. - Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie darauf
aufmerksam machen, dass die für heute ursprünglich
beantragte Aktuelle Stunde zum Thema „Umverteilungspläne der Koalition und Auswirkungen auf Durch29004
Präsident Dr. Norbert Lammert
schnittsverdiener und sozial Benachteiligte - Schuldenfinanzierte Steuersenkungen und Rente mit 69“ nicht
stattfindet. Der entsprechende Antrag ist zurückgezogen
worden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Aufarbeitung der SED-Diktatur
- Drucksache 17/12115 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Staatsminister bei der Bundeskanzlerin,
Bernd Neumann.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
nächsten Jahr feiern wir den 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin, der eine entscheidende Wegmarke am
Ende der unseligen kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland war. 40 Jahre lang hatten 17 Millionen
Deutsche in der DDR unter der SED-Diktatur gelitten,
waren ihrer Freiheit beraubt; Menschenrechte wurden
mit Füßen getreten, Hunderttausende von Bürgern wurden bespitzelt, Andersdenkende und Regimekritiker waren inhaftiert und wurden drangsaliert - auch dann,
wenn sie nur die DDR verlassen wollten. Millionen von
Menschen wurden also ihrer Zukunft beraubt.
Auch über 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist die
Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der SBZ
und in der DDR eine für Staat und Gesellschaft notwendige und herausragende Aufgabe. Einen Schlussstrich
unter das begangene Unrecht kann und wird es nicht geben.
({0})
Die 40-jährige DDR-Diktatur darf nicht verdrängt,
nicht vergessen und schon gar nicht verharmlost und
verniedlicht werden. Dies sind wir nicht nur den Opfern
schuldig, sondern auch den Werten unserer Demokratie,
aber auch den Menschen, die die friedliche Revolution
1989 erst möglich machten.
Die Regierungsparteien hatten sich daher für die
17. Wahlperiode vorgenommen, die Aufarbeitung weiter
zu verstärken, um einer Verklärung und Verharmlosung
der SED-Diktatur entgegenzuwirken. Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur, der heute erstmals Gegenstand der Debatte ist, dokumentiert in umfassender und
eindrucksvoller Weise auf fast 300 Seiten, was in den
letzten Jahren an Aufarbeitung geleistet wurde.
Beigetragen haben verschiedene Bundesressorts und
zentrale Einrichtungen des Bundes für die Aufarbeitung
der SED-Diktatur, die zu meinem Geschäftsbereich gehören, so etwa die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur, der Bundesbeauftragte für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, das
Haus der Geschichte, das Deutsche Historische Museum
sowie das Bundesarchiv, aber auch alle 16 Länder,
Opferverbände wie auch Einrichtungen von Gedenkstätten. Der Bericht belegt, dass die Bundesregierung dem
Auftrag des Koalitionsvertrags, die Aufarbeitung zu verstärken, umfänglich nachgekommen ist.
Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich jetzt nur die
Aktivitäten des Bundes kurz darlege:
Grundlage dafür bildet die 2008 vorgelegte Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Ich habe in meiner Amtszeit bewusst die Mittel für die Aufarbeitung beider deutscher Diktaturen um 50 Prozent erhöht. Fast alle in
dieser Konzeption thematisierten Maßnahmen sind bereits abgeschlossen oder befinden sich in der Umsetzung.
So wurden - um nur einige Beispiele zu nennen - die
Gedenkstätten Berliner Mauer, Deutsche Teilung
Marienborn, Leistikowstraße - also das ehemalige sowjetische Untersuchungsgefängnis - wie auch die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in die institutionelle Förderung des Bundes aufgenommen. An der
Bernauer Straße öffnete 2009 das Besucherzentrum
seine Pforten. 2010 konnte der erste Abschnitt der OpenAir-Ausstellung auf dem ehemaligen Mauerstreifen folgen. Im September 2011 eröffnete die Bundeskanzlerin
die Dauerausstellung zum Alltag der deutschen Teilung
im „Tränenpalast“ am Bahnhof Friedrichstraße. Im Januar 2012 konnte Haus 1 in der Normannenstraße, die
ehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit, nach denkmalgerechter Instandsetzung der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus wurden unter anderem Sanierungsmaßnahmen mit
Kosten in Millionenhöhe wie auch Projekte finanziert,
etwa beim ehemaligen Stasiknast in Hohenschönhausen,
im Zuchthaus Cottbus, in der „Runden Ecke“ in Leipzig
wie im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau.
Auch an der ehemaligen Zonengrenze bzw. am sogenannten Todesstreifen, der die DDR abtrennte, finden
mit Mitteln des Bundes wichtige Aktivitäten statt. Ich
nenne nur Beispiele wie das Grenzlandmuseum Eichsfeld, das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth und
Point Alpha.
Meine Damen und Herren, alle genannten Einrichtungen arbeiten dagegen an, die Verbrechen vergessen zu
machen und das System der DDR schönzureden. Zeitzeugen können dem am eindrucksvollsten etwas entgegensetzen. Daher haben wir im Juni 2011 das Koordinierende Zeitzeugenbüro eingerichtet - eine Anregung der
FDP, die in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden
ist -, bei dem die Gedenkstätte Hohenschönhausen, die
Bundesstiftung Aufarbeitung und die Stiftung Berliner
Mauer zusammenarbeiten. Allein im letzten Jahr gab es
bundesweit 514 Zeitzeugeneinsätze. Insgesamt wurden
über 22 000 Teilnehmer erreicht. Dieses werden wir dauerhaft fortsetzen.
({1})
Insgesamt gibt der Bund für die geschichtliche Aufarbeitung der SED-Diktatur jährlich etwa 100 Millionen
Euro aus. Aber, meine Damen und Herren, trotz aller
Aktivitäten des Bundes, aber auch der Länder haben wir
beunruhigende Befunde in verschiedenen Studien zum
historischen Wissen von Jugendlichen. Das muss alle
Verantwortlichen in Deutschland wachrütteln, die Anstrengungen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, insbesondere in den Schulen, noch weiter zu verstärken. Beitragen können dazu auch Schülerprojekte wie das, das
Roland Jahn im Januar unter dem Titel „Stasi - Was geht
mich das an?“ durchgeführt hat und an dem sich über
300 Schülerinnen und Schüler aus vier Bundesländern
beteiligt haben. Das Gelände des ehemaligen Stasiquartiers auf diese Weise auch als authentischen außerschulischen Lernort zu nutzen, finde ich unterstützenswert.
({2})
Das Ziel eines „Campus der Demokratie“, das Roland
Jahn hat, finde ich dem Grundsatz nach eine gute Idee.
Ob der Name optimal ist, können wir ja noch einmal in
Ruhe diskutieren.
Lieber Kollege Thierse, laut Zeitungsberichten haben
Sie zu dieser Idee des Campus kritisch gesagt - ich zitiere -:
Es kam ja auch niemand auf die Idee, ein NS-Konzentrationslager in einen Campus der Demokratie
umzuwandeln.
Finden Sie nicht, dass Ihr Vergleich inkorrekt und geschmacklos ist, Konzentrationslager und Stasizentrale
gleichzusetzen? Ich finde das unmöglich.
({3})
Erlauben Sie mir an dieser Stelle auch eine Anmerkung zur sogenannten Perspektivkommission für den
BStU, die die SPD ja wieder für sich entdeckt zu haben
scheint. Ihre Argumentation, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist doch - ja - etwas scheinheilig.
Warum? In der Großen Koalition waren es - zugegeben einige Politiker der Union, die sich auf eine alsbaldige
Überführung der Behörde in die Zuständigkeit des Bundesarchivs verständigen wollten. Sie, die SPD, und die
Grünen waren damals einstimmig dagegen. Nun haben
wir in der christlich-liberalen Koalition das Stasiunterlagengesetz novelliert und alle entsprechenden Überprüfungsfristen bis 2019 verlängert. Wir sind uns mittlerweile alle einig, dass vor diesem Datum eine Integration
ins Bundesarchiv auf keinen Fall infrage kommt. Aber
unabhängig davon steht doch fest, dass, ob integriert
oder nicht integriert, die Aufarbeitung auch darüber hinaus weitergeht.
({4})
Deshalb unser Vorschlag: Wir sollten in der nächsten Legislaturperiode in Ruhe über die Zukunft der Behörde
beraten.
Meine Damen und Herren, die Aufarbeitung der
dunklen Kapitel unserer Geschichte ist uns Verpflichtung. Das gilt im besonderen Maße für die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und ihrer singulären
Verbrechen.
({5})
Aber auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist aller
Anstrengungen wert. Der Bericht zeigt: Die Bundesregierung hat sich dieser Aufgabe umfassend und auf hohem Niveau gestellt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Um an dieser Stelle unnötige Missverständnisse zu
vermeiden: Ich hatte keine Informationen, dass die Sitzung der FDP-Fraktion, die etwas später als die der
CDU/CSU-Fraktion unter Beteiligung der Bundeskanzlerin stattgefunden hat, noch nicht beendet war, als wir
das Plenum pünktlich eröffnet haben. Insofern ist es abwegig, aus der Nichtanwesenheit der FDP-Fraktion zu
Beginn der Sitzung irgendeine Schlussfolgerung auf die
Relevanz der vorgenommenen historischen Erinnerung
herzuleiten.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Thierse für die SPDFraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erlaube mir trotzdem eine Bemerkung: Es bleibt ein bedauerlicher Umstand, dass während der Worte der Erinnerung des Bundestagspräsidenten an den Untergang der
Weimarer Demokratie und an den Mut von Otto Wels
und anderen Sozialdemokraten kein Minister anwesend
war.
({0})
- Dann sage ich also: Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung so gut wie gar nicht durch Minister vertreten war. Dies bleibt ein bedauerlicher Umstand.
({1})
Sie können zumindest so viel Respekt erweisen, dass Sie
dieses Gefühl der sozialdemokratischen Fraktion und der
anderen Fraktionen der Opposition entgegennehmen.
({2})
Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen
haben in ihrem Koalitionsvertrag einen Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur angekündigt; jetzt liegt er endlich vor. Diese Aufarbeitung - das will ich betonen - bleibt eine wichtige
gesellschaftliche Herausforderung, auch 23 Jahre nach
dem Ende der DDR. Sie gehört zum verpflichtenden
Erbe der friedlichen Revolution. Ein Schlussstrich ist
weder möglich noch überhaupt sinnvoll.
Der Titel des Berichts lässt Großes erwarten, Antworten auf grundsätzliche Fragen: Welche Aufgaben hat die
Politik zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übernommen? Was wurde erreicht? Was bleibt zu tun? - Zunächst einmal ist Erfreuliches zu berichten: Es passiert
wirklich viel. Es ist in den vergangenen 23 Jahren eine
vielfältige Aufarbeitungslandschaft - wie man das nennt entstanden: Unzählige Forschungsarbeiten wurden publiziert. Gedenkorte und Museen tragen zur Aufklärung
über die SED-Diktatur bei. Hier hat der Bund, Bundesregierung und Bundestag, bei der Unterstützung und
Finanzierung viel geleistet. Ebenso viele ehrenamtliche
und private Initiativen sind aktiv. Aufarbeitung - das
wird deutlich - ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe im
weiten und vernünftigen Sinn dieses Wortes, die in ihrer
ganzen Breite nur gelingt, weil engagierte Bürgerinnen
und Bürger sich dafür einsetzen.
({3})
Detailliert zählt der Bericht Gedenkstätten und Mahnmale, Initiativen und Einrichtungen auf. Er leuchtet viele
Aspekte der Aufarbeitung aus, von der Rehabilitierungsgesetzgebung, der Wiedergutmachung über Archive und
Forschung bis hin zu Bildungsprojekten. Er bildet das
breite Spektrum der Gruppen ab, für die Aufklärung und
Aufarbeitung von besonderer Bedeutung sind, nicht nur
im Bund, sondern auch in den Ländern. Man wird immer
auch sagen können - ich weiß das von mancherlei Auslandsreisen -, dass Deutschland hier durchaus vorbildlich mit der Hinterlassenschaft einer Diktatur oder, wenn
man so will, sogar zweier Diktaturen umgeht. All dies ist
lobenswert. Jedem, der sich einen Überblick über bestehende Einrichtungen verschaffen will, sei der Bericht
deshalb empfohlen, auch wenn die Gewichtungen nicht
immer stimmen: Man hat gelegentlich den Eindruck,
dass die Berichte der aufgeforderten Institutionen einfach zusammengeheftet worden sind.
({4})
Diesem Bericht fehlt - so bewerte ich es nach meiner
Lektüre - etwas Entscheidendes, leider: Dieser Bericht
kennt und nennt keine Kriterien, um den Stand der Aufarbeitung zu bewerten. Aktuelle und länger bekannte
Probleme blenden Sie einfach aus. Doch Probleme zu
ignorieren, bringt keine Lösung; das wissen Sie, und das
zeigen die vergangenen vier Jahre Ihrer Regierungszeit.
Ich will zwei Beispiele nennen; das eine betrifft die
Rehabilitierung von Haftopfern, das andere die Entwicklung der Stasiunterlagenbehörde.
Kürzlich traf ich mich mit Frauen des Süddeutschen
Freundeskreises „Hoheneckerinnen“, eines Zusammenschlusses ehemaliger politischer Häftlinge - eine sehr
beeindruckende, mich bewegende Begegnung. Diese
Frauen erzählten mir von ihren Erlebnissen. Im Gefängnis Hoheneck erfuhren sie die ganze Härte des Unrechts,
dessen der Justizapparat der DDR fähig war. Die Haft
wirkt bis heute nach; die Frauen leiden unter schlimmen
Spätfolgen, unter schweren Traumata, Schlafstörungen
und physischen Folgeerscheinungen, die behandelt werden müssen.
Diese Frauen haben einen Forderungskatalog aufgestellt. Eine der Forderungen lautet: Sie wollen für ihre
Rehabilitierung und Opferrente nicht jahrelang mit einer
Bürokratie kämpfen müssen, die ihnen mit peinlichen
Hürden zusetzt. Sie wollen nicht um jeden Cent, der ihnen zusteht, kämpfen.
({5})
Sie fordern deshalb eine Professionalisierung, Vereinfachung und Vereinheitlichung des behördlichen Umgangs
mit den Opfern. Ich finde, darüber sollten wir nachdenken. Der vorgelegte Bericht liefert dafür keinerlei nützliche Informationen.
Auch bei der Stasiunterlagenbehörde scheint nach
diesem Bericht alles in Ordnung zu sein. Der Bericht
spart die zentrale Frage völlig aus: Wie geht es weiter
mit dieser Behörde und ihren Aufgaben? Der Staatsminister für Kultur und Medien sagt dazu nichts, während sich öffentlich besorgte Stimmen mehren: Kommt
die Behörde ihrem eigentlichen Hauptauftrag angemessen nach, nämlich Bürgerinnen und Bürgern Einsicht in
ihre Akten zu gewähren? Reagieren Politik und Behörden angemessen und rechtzeitig auf die Veränderungen,
die mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Gegenstand der DDR-Geschichte für Aufklärung und Aufarbeitung entstehen?
Der jüngst vorgelegte 11. Tätigkeitsbericht des Beauftragten für die Stasiunterlagen ist da sehr deutlich. Dezidiert beklagt er personelle Schwierigkeiten bei der Aktenbereitstellung. Die Wartezeiten für Antragsteller
verlängern sich. Das ist nicht akzeptabel, und da läuft
doch etwas falsch. Im Bericht findet sich dazu nichts.
Das Personalproblem aber ist nicht isoliert zu sehen.
Der gegenwärtige Bundesbeauftragte, Roland Jahn, legte
kürzlich erste Pläne vor, den einstigen Sitz der Stasizentrale in der Normannenstraße zu einem „Campus der Demokratie“ umzugestalten. Er forderte richtigerweise eine
öffentliche Debatte darüber. Diese Debatte versagt ihm
die Regierungskoalition.
({6})
Das entsprechende Debattengremium, eine Expertenkommission, die die Koalition für diese Legislaturperiode angekündigt hatte, ist bis heute nicht eingesetzt.
({7})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich fordere Sie auf: Setzen Sie diese Kommission endlich ein!
Sie muss Vorschläge erarbeiten und öffentlich diskutieren, wie und in welcher Form die verschiedenen Aufgaben dieser Behörde mittel- und langfristig zu erfüllen
sind. Darum geht es.
({8})
Dies haben Sie schließlich selbst in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt. Dies steht auch in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, auf die Sie sich beziehen.
Nur nebenbei: Wenn ich in dem Bericht lese, alle in
der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption beschlossenen Maßnahmen wurden - wörtlich - „erfolgreich umgesetzt oder befinden sich in der Schlussphase
ihrer Realisierung“, dann trifft dies eben auf dieses
Thema gewiss nicht zu.
Die Debatte über die Zukunft der BStU ist aber unbedingt zu führen, und sie ist jetzt zu führen. Die Idee des
„Campus der Demokratie“ führt nämlich nach meiner
Überzeugung in die Irre. Es ist ein Irrtum, zu glauben,
die bloße Anschauung der Diktatur bringe Demokraten
hervor.
({9})
Dies geschieht ebenso wenig, wie die Betrachtung des
Lasters die Tugend mehrt, um hier Richard Schröder zu
zitieren.
({10})
Der Titel ist nicht der entscheidende Punkt. Viel
wichtiger noch ist: Die Idee des „Campus der Demokratie“ beinhaltet grundlegende und langfristige Weichenstellungen weg von der zentralen Aufgabe der Gewährung von Akteneinsicht und hin zur Etablierung der
Stasiunterlagenbehörde als dauerhafter Bildungseinrichtung. Die Frage ist aber doch: Wollen und brauchen wir
genau dies? Das sollte uns beschäftigen, gerade auch mit
Blick auf die anderen politischen Bildungseinrichtungen
im Lande und auf die vielfältige Landschaft der Aufarbeitung.
Indem die Regierungskoalition schweigt statt zu handeln, stiehlt sie sich - das meine ich schon ernst - aus ihrer politischen Verantwortung. Sie verschleppt die notwendige Diskussion zur Perspektive der BStU,
({11})
sie missachtet die Gestaltungspflicht und Gestaltungsfreiheit des Parlaments.
({12})
Dieses Vakuum kann der Behördenleiter nicht adäquat
füllen.
Die BStU-Behörde war und ist aus gutem Grunde
eine Institution des Bundestages, über deren Zuschnitt
und Aufgaben sich das Parlament zu verständigen hat.
Weil strukturelle Veränderungen der Behörde notwendigerweise auch personelle Konsequenzen nach sich ziehen, lassen sich langfristige Planungen einerseits und der
Umgang mit heute auftretenden personellen Problemen
andererseits nicht voneinander isolieren.
({13})
Die Untätigkeit der Regierungskoalition im Bundestag führt zu einer weiteren Schieflage, nämlich zur Verunsicherung in der Öffentlichkeit. Wer es wagt, öffentlich die Tatsache auszusprechen, dass die Behörde des
Beauftragten für die Stasiunterlagen vor über 20 Jahren
- ich war dabei, als wir sie gefordert und erfunden haben - aus guten Gründen als befristetes, also endliches
Projekt geplant war, wer daran erinnert, dass sie eine
Ausnahmeinstitution in unserem Rechtsstaat ist, der
setzt sich dem Vorwurf aus, die BStU-Behörde zerschlagen und die SED- und Stasiaufarbeitung in toto beenden
und einen Schlussstrich ziehen zu wollen. Das Gegenteil
ist der Fall. Jedenfalls ist das ganz und gar nicht meine
Absicht.
({14})
- Nein; im Unterschied zu Ihnen, Kollege Vaatz.
({15})
Ich erinnere mich noch sehr gut an Vorschläge aus Ihren
Reihen, bestimmte Dinge zu beenden.
({16})
Die BStU-Behörde leistet - ich betone es noch einmal wichtige Arbeit und verfügt zu Recht über hohes Ansehen.
({17})
Damit dies in Zukunft so bleibt, müssen wir sie weiterentwickeln. Ich will vier Dinge nennen, über deren zukünftige Verwirklichung wir diskutieren müssen:
Erstens. Die Stasiüberprüfungen werden im Jahr 2019
enden. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es weder
politisch noch menschlich angemessen, dass dann weit
zurückliegende Stasiverwicklungen noch ein Hinderungsgrund für Anstellungen und Berufungen darstellen
sollen.
Zweitens wird der Bedarf schwinden, eine behördeneigene Spezialforschung zu unterhalten. Sukzessive erschließt die Behörde ihre Archivbestände mit dem Ziel,
externen Wissenschaftlern den Zugang zu den Akten zu
erleichtern. Über kurz oder lang werden deshalb einschlägige zeitgeschichtliche Institute diese Forschungen
weiterführen können.
Bei allen Veränderungen muss drittens die Möglichkeit der Akteneinsicht für Betroffene unbedingt erhalten
bleiben. Diese Kernaufgabe ist dauerhaft sicherzustellen,
auch für die Zeit nach 2019. Der Aktenzugang bleibt für
die Aufarbeitung elementar, auch wenn das Stasiarchiv,
in welcher Weise auch immer, dem Bundesarchiv angegliedert werden sollte.
Viertens. Auch die historische und politische Aufarbeitung wird selbstverständlich nicht abgeschlossen
sein. Allerdings ist ernsthaft darüber nachzudenken, welche der bestehenden Einrichtungen diese Aufgabe übernehmen können. Ich denke an die Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur oder die Bundeszentrale
und die Landeszentralen für politische Bildung. Der Bericht der Bundesregierung breitet übrigens die ganze
Fülle der bereits existierenden kompetenten Einrichtungen sehr schön aus.
Über all diese Punkte müssen wir sprechen. Doch anstatt Fachleute und Interessierte einzuladen und zur Diskussion zu ermuntern, damit in diesen Fragen ein öffentlicher Konsens erreicht wird, herrscht koalitionäres
Schweigen. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte
über Zuschnitt, Qualität und Zukunft der Aufarbeitung
und nicht eine Tabuisierung einer solchen Debatte. Sonst
verlieren wir uns in kleinteiligen finanziellen Verteilungskämpfen. Der Bericht der Bundesregierung ist dafür nur begrenzt hilfreich.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Thierse, niemand wirft hier irgendjemandem etwas vor. Wir werfen Ihnen nicht vor, dass bei dieser
wichtigen Debatte, die wir gerade führen, der Spitzenkandidat der SPD nicht anwesend ist, der Parteivorsitzende
der SPD nicht anwesend ist, der Fraktionsvorsitzende der
SPD nicht anwesend ist.
({0})
- Er telefoniert hinten in der Ecke. Herr Gabriel, telefonieren Sie bitte draußen! Hier ist der Deutsche Bundestag und nicht irgendein Kindergarten. Wir führen hier
eine wichtige Debatte.
({1})
Außerdem, Herr Thierse: Wir alle haben die Hoheneckerinnen getroffen, jede einzelne Fraktion, nicht
nur Sie. Der Deutsche Bundestag, die Verwaltung, hatte
zu einer entsprechenden Veranstaltung eingeladen. Eingeladen waren SPD, Linke, Grüne, CDU/CSU und FDP.
Alle Fraktionen des Hauses haben diese Veranstaltung
begleitet. Ich persönlich kam hinzu, als der Vertreter der
Linken seine Ausführungen gerade beendet hatte. Durch
seine Einlassungen hatte er bei den Hoheneckerinnen besondere Emotionen hinterlassen. Ich konnte dann einiges
wiedergutmachen.
({2})
Die Veranstaltung hat mir gezeigt, dass Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit keine selbstverständlichen Werte sind. Darauf wird auch im Bericht der
Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SEDDiktatur in aller Deutlichkeit hingewiesen. Wir leben
heute in Freiheit und Wohlstand. Die tristen Zustände
der DDR und der SED-Mief erscheinen sehr fern. Sie
sind - auch das muss man deutlich sagen - für viele aber
auch nicht mehr greifbar; denn die Mauer ist vor immerhin 24 Jahren und 4 Monaten eingerissen worden. Viele
haben aufgrund ihres biologischen Alters gar nicht mehr
die Möglichkeit, sich ein Bild davon zu machen, wie es
in der DDR ausgesehen hat, wie es dort gerochen hat,
wie dort die Umstände waren usw. usf. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Aufarbeitung. Es geht
heute nicht mehr um juristische Aufarbeitung, sondern
darum, dass junge Menschen urteilsfähig bleiben gegenüber Unrecht und Unfreiheit, den Wert der Freiheit als
solchen erkennen und die Freiheit auch verteidigen wollen. Darum geht es: Die Menschen müssen urteilsfähig
bleiben.
({3})
Auch eine zivilisierte Gesellschaft kann durch Unfreiheit
erdrückt werden.
Insofern können wir stolz darauf sein, was die DDRAufarbeitung bei uns darstellt. Wir hatten im Osten
Deutschlands die Kraft, uns der eigenen Aufarbeitung zu
stellen. Das ist nicht die Regel; es ist die Ausnahme, und
zwar weltweit. Andere postkommunistische Diktaturen
haben eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt.
Aber auch innerhalb Deutschlands müssen wir genau
hinschauen, inwiefern manche Dinge bei der Aufarbeitung schiefgelaufen sind.
Wir haben vor 20 Jahren gewissermaßen auf Druck
der Linken sehr intensiv über Stasiunrecht gesprochen.
Die Linke hat es geschafft, den Fokus weg vom DDRUnrechtsstaat sozusagen hin zu einer staatsterroristischen Einheit, nämlich der Stasi, zu verschieben und
sich damit selber aus der Verantwortung zu nehmen, die
Patrick Kurth ({4})
SED ein wenig reinzuwaschen und die gesamte Verantwortung der Stasi zuzuschreiben.
({5})
Die DDR war ein SED-Unrechtsstaat, und die SED war
überall und hat dieses Unrecht begangen. Das müssen
wir auch heute deutlich sagen.
({6})
Auch das will ich Ihnen sagen, Herr Thierse: Unter
Rot-Grün ist die Erinnerungsarbeit erlahmt. Sie ist gebremst worden. Sie wurde akademisiert und ist dadurch
nicht mehr greifbar - ich sage nicht: angreifbar -; das ist
das Entscheidende. Bei der Aufarbeitung ist es entscheidend, verstanden zu werden, und das ist Ihnen nicht gelungen. Die FDP nimmt für sich in Anspruch - ich hoffe,
die Union spricht uns da weiterhin zu -, dass wir 2009 in
die gesamte SED-Aufarbeitung neuen Schwung hineingebracht haben, nicht aus Rachegelüsten oder Ähnlichem, was Sie uns manchmal unterstellen, sondern um
nach vorne zu zeigen und Zukunftsfähigkeit zu beweisen.
({7})
- Da braucht man nicht abzuwinken, Herr Lenkert. Sie
kommen aus Jena. Wissen Sie, wie schwierig es ist, in
Jena politische Überzeugungsarbeit zu leisten, was Freiheit ist usw.?
({8})
- Der Oberbürgermeister von Jena a. D. sitzt in unseren
Reihen und weiß genau, wie schwierig es im Osten ist,
mit Demokratie und Freiheit umzugehen.
({9})
Das sind besondere Herausforderungen. Das ist letztlich
Ihr Erbe.
Herr Staatsminister, Sie haben noch einmal überzeugend deutlich gemacht, welche Erfolge wir hatten. Wir
von der FDP sind große Optimisten, aber dass das Koordinierende Zeitzeugenbüro ein solcher Erfolg wird, hatten wir nicht geglaubt. Es ist ein ungeheuer erfolgreiches
Projekt. Weiter so! Wir haben die Stasiopferrente gleich
am Anfang verbessert. Wir haben 40 Millionen Euro für
einen Fonds für DDR-Heimkinder bereitgestellt. Wir haben mehrere Stasiunrecht-Gedenkstätten und auch kommunistische Gedenkstätten saniert wie das Haus 1 in der
Normannenstraße und das ehemalige KGB-Untersuchungsgefängnis - das letzte sowjetische KGB-Untersuchungsgefängnis überhaupt in Osteuropa - in Potsdam in
der Leistikowstraße. Das kennt kaum jemand, weil die
Brandenburger Landesregierung alles getan hat, damit
das Kapitel einigermaßen unter der Decke bleibt.
({10})
Wir haben das behoben. Jetzt ist die Leistikowstraße saniert und im Rahmen der Möglichkeiten wieder offen für
die Bevölkerung. Es ist wichtig, zu zeigen, wohin Kommunismus bzw. Diktatur führen kann.
({11})
Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, haben
sehr bedauert, dass die Opposition an der Stelle im Bundestag nicht zugestimmt hat: Wir haben das Stasiunterlagengesetz noch einmal verlängert. Wir sagen: Solange es
biologisch möglich ist, dass sich Opfer und Täter im Arbeitsleben begegnen, befördern oder behindern können,
muss es nach unserer Auffassung möglich sein, dass
man in die Stasiakten Einblick nehmen und nachlesen
kann, ob jemand Opfer oder Täter war. Das ist ausgesprochen wichtig.
({12})
Ich habe nicht verstanden, warum ostdeutsche Bundesländer der Novelle zum Stasiunterlagengesetz nicht
zugestimmt haben. Letztlich ist es dem SPD-regierten
Hamburg und dem grün-rot regierten Baden-Württemberg, die im Bundesrat zugestimmt haben, zu verdanken,
dass diesem wichtigen Gesetz die Freigabe erteilt wurde.
In diesen beiden Bundesländern ist die Weitsicht zumindest in der Frage offensichtlich angekommen. Herr Ministerpräsident, trotzdem herzlichen Dank, dass Sie
heute hier sind. Es ist nicht üblich, dass die Bundesratsbank bei solchen Themen besetzt ist. Meistens geht es
um Geld, wenn dort jemand sitzt. Heute sind Sie bei einem solchen Thema anwesend. Insofern sage ich: Herzlich willkommen bei uns hier im Deutschen Bundestag!
({13})
Wir als Koalition haben Roland Jahn zum Behördenleiter gemacht. Das ist ein ungeheurer Fortschritt. Herr
Thierse, ich möchte daran erinnern, dass Sie, als Frau
Birthler die Behördenleitung innehatte, die Behörde unbegrenzt erhalten wollten. Sie haben gesagt: Die Behörde kann bis in alle Ewigkeit bestehen. - Jetzt herrscht
dort ein anderer Wind. Frau Birthler hat nicht alles
schlecht gemacht; aber Roland Jahn fasst die Dinge eben
anders an. Er hat eine andere Biografie und geht mit dem
Thema anders um. Plötzlich gibt es bei Ihnen einen Meinungsumschwung. Plötzlich sagen Sie: Schluss mit dem
ganzen Stasiunterlagen-Behördensystem! Wir müssen
jetzt eine Trennung herbeiführen; wir wollen das auslaufen lassen. - Was gilt denn nun? Wollen wir wieder Frau
Birthler ins Amt holen? Sind Sie dann wieder dafür, dass
es weitergeht? Wie machen wir das? Diese Koalition
sorgt dafür, dass an der Stelle Rechtssicherheit herrscht
und wir die Dinge politisch in ihrer ganzen Tragweite
begutachten können.
({14})
Patrick Kurth ({15})
Leider bleibt mir nicht genügend Zeit, um darauf einzugehen, dass wir auch heute für Freiheit und Ähnliches
einstehen müssen. Ich habe es außerordentlich bedauert,
dass der Kollege Steinbrück von Herrn Kuhn von den
Grünen zum Neujahrsempfang der SPD in Stuttgart eine
Mao-Zedong-Fibel bekommen hat, eine rote Bibel, wie
man sie auch nennt. Ich finde es unglaublich, dass jemand, der Deutschland regieren will, dieses Geschenk
überhaupt angenommen hat.
({16})
So geht das nicht. Wir müssen in der täglichen Arbeit für
Freiheit und gegen Unfreiheit einstehen. Das macht sich
auch bei solchen Dingen bemerkbar.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({17})
Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um das
klar und deutlich vorweg zu sagen: Natürlich wollen
auch wir eine seriöse, eine wissenschaftliche Aufarbeitung; natürlich bleibt das auch weiterhin eine gesellschaftliche Aufgabe. Deshalb ist parteipolitische Instrumentalisierung in dieser Frage wirklich fehl am Platz,
Herr Kurth.
({0})
Sonst muss man auch einen Halbsatz zu den Blockparteien sagen. Wenn es eine Frage der Aufarbeitung sein
soll, wenn jemand eine Mao-Fibel geschenkt bekommt,
dann sind wir wirklich nicht sehr weit gekommen.
({1})
Ich will - das ist ganz klar - sowohl zum Bericht als
auch zur Rede des Herrn Staatsministers Widerspruch
anmelden. Zunächst einmal will ich darauf hinweisen
- und das hat nichts mit Verklärung zu tun -, dass die
DDR-Geschichte natürlich zuallererst auch eine Geschichte der deutschen Teilung und ein Teil der deutschen Geschichte ist. Die DDR ist doch nicht vom Himmel gefallen. Der Bundestagspräsident hat heute auf das
Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 hingewiesen.
Die DDR ist eben auch ein Ergebnis der größten Katastrophe, die wir in Deutschland hatten. Hitler-Deutschland, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust - das alles
hat dazu geführt, dass es eine sowjetische Besatzung und
im Ergebnis die Gründung der DDR gegeben hat. Auch
deshalb lehnen wir als Linke jeden Versuch der Delegitimierung der DDR von Anbeginn ab, und das wird auch
so bleiben.
({2})
Wer, wie es auch im Bericht steht, von kommunistischer Diktatur in der SBZ und in der DDR redet, der beweist sowohl, dass er vom Kommunismus wenig Ahnung hat, als auch, dass er die damaligen Abläufe nicht
verstanden hat. Es ist doch kein Zufall, dass viele Intellektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg ebendiesen Staat
ausgewählt haben.
({3})
Das ist kein Zufall; dafür gab es Gründe. Thomas Mann,
Stefan Heym, Friedrich Wolf - ich kann Ihnen ganz viele
Namen nennen -, die sind alle dorthingekommen, und
sie hatten Gründe dafür.
({4})
Ich will auch daran erinnern, dass nach der Zerschlagung Hitler-Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone die SPD, die KPD und die CDU als Parteien
zugelassen worden sind. Eine Lehre aus der Geschichte
war der Auftrag: Nie wieder Faschismus! Nie wieder
Krieg! - Das war das Motto aller Parteien dort. Wer dies
bei der Geschichtsaufarbeitung nicht zur Kenntnis
nimmt, der kommt nicht ans Ziel.
({5})
Ich will daran erinnern, dass die DDR schon 1949 den
8. Mai 1945 als Tag der Befreiung angesehen hat. In der
Bundesrepublik hat dies Richard von Weizsäcker 1985
zur Staatsräson gemacht. Auch das gehört mit zur Wahrheit.
({6})
Ein zweiter Punkt: Es ist ganz klar und eindeutig, dass
kein Mensch einen Schlussstrich will. Auch wir wollen
die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Keine Partei hat das so kritisch, so selbstkritisch wie die damalige
PDS gemacht.
({7})
- Herr Kurth, da geht es nicht um Reinwaschen. Das ist
doch einfach nur dummes Zeug. - Ich will vom außerordentlichen Parteitag 1989 - er war die Wiege der damaligen PDS - zitieren:
Die Delegierten des Sonderparteitages sehen es als
ihre Pflicht an, sich im Namen der Partei gegenüber
dem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, dass
die ehemalige Führung der SED unser Land in
diese existenzgefährdende Krise geführt hat.
({8})
Wir sind willens, diese Schuld abzutragen. … Der
außerordentliche Parteitag hat den Bruch mit der
machtpolitischen Überhebung der Partei über das
Volk, mit der Diktatur der Führung … vollzogen.
({9})
Diesen Weg sind einige gegangen, viele nicht. Bei Ihnen ist das ganz einfach: Diejenigen, die am Tag danach
wussten, dass alles falsch war, und sich sofort woanders
engagiert haben, sind die Guten. Diejenigen, die sich auf
den schwierigen Weg gemacht haben, persönlich die Geschichte und Verantwortung selbstkritisch aufzuarbeiten
und Schlussfolgerungen zu ziehen, sind für Sie die Bösen, weil Sie das parteipolitisch instrumentalisieren.
Ich werfe Ihnen das überhaupt nicht vor; aber Sie wissen gar nicht, unter welchen Auseinandersetzungen
diese Aufarbeitung in der PDS bzw. in der Linken stattgefunden hat. Das ist eine sehr, sehr kritische, schmerzhafte Auseinandersetzung - auch unter Tränen - gewesen.
({10})
Es ist das Kuriose, dass teilweise selbst diejenigen, die
nach 1989 geboren wurden, für alles zuständig sein sollen, was die Vergangenheit - seit dem Bauernkrieg - betrifft. Das nehmen wir gerne an; das ist in Ordnung. Wir
wollen auch diese Zuständigkeit und diese Auseinandersetzung. Nehmen Sie aber zur Kenntnis: Die SED hatte
2,3 Millionen Mitglieder. Weniger als 1 Prozent davon
sind heute in der Linken, und es ist so, dass diese die
Auseinandersetzung vorangetrieben haben.
({11})
Ein dritter Punkt: Wir setzen uns nicht Ihretwegen mit
der Geschichte auseinander, sondern um unserer selbst
willen.
({12})
Wir wollen sie aus unserem Interesse, und zwar um der
Zukunft einer demokratisch-sozialistischen Partei willen. Nichts anderes kann der Maßstab sein.
Ich will noch ein Zitat anführen, weil das Thema
„Mauer“ da eine Schlüsselfrage ist. Wir haben zum
40. Jahrestag des Mauerbaus erklärt:
An der bitteren Erkenntnis, dass der Staatssozialismus in der DDR am Ende war, als die Mauer gebaut
wurde und es kein Konzept zu ihrer Überwindung
gab, führt kein Weg vorbei.
({13})
Und weiter:
Ein Staat, der sein Volk einsperrt, ist weder demokratisch noch sozialistisch.
({14})
Was immer die konkreten … Umstände waren, die
zu dem Ereignis … führten - diese Lehre ist … unumstößlich.
Ich möchte noch zwei Bemerkungen machen. Erstens. Es ist wirklich inakzeptabel, wenn, wie im Bericht
geschehen, eine Gleichsetzung der DDR mit dem faschistischen Hitler-Regime erfolgt.
({15})
Das ist wirklich inakzeptabel. Ich will dazu Egon Bahr
zitieren, der sagte: Die Millionen Leichen sind eben
nicht mit Millionen von Aktenbergen zu vergleichen. Mögen wir doch bitte gemeinsam dabei bleiben. Diese
Gleichsetzung ist in keiner Weise zu akzeptieren.
({16})
Wer die DDR-Geschichte nicht als Teil der deutschen
Geschichte und als Teil der Geschichte der deutschen
Einheit sieht, der begreift nicht,
({17})
dass es andere Ursachen für diese Entwicklung gegeben
hat. Wer nicht bereit ist, zu verstehen, dass Menschen
aus der DDR Erfahrungen und Lebensleistung in die
deutsche Einheit einbringen, auf die sie stolz sein dürfen
und auf die sie stolz sind, der wird Geschichte nie verstehen und leistet keinen Beitrag zur deutschen Einheit.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den
SED-Millionen sage ich diesmal nichts, da darf ich Sie
beruhigen.
({0})
Der Kollege Bartsch hat leider Stichworte genug geliefert.
Ich beginne mit dem Stichwort „inakzeptabel“, das er
hier einige Male gebraucht hat. Es ist völlig inakzeptabel, dass der Vertreter einer Partei, die das alles angerichtet hat - SED-Diktatur -, sich hier hinstellt und sagt:
Wir machen die Aufarbeitung primär um unserer selbst,
um unserer Partei willen.
({1})
Ja, wenn es denn eine Aufarbeitung wäre! Sie haben sich
von Anfang an gegen die Delegitimierung der DDR gewandt. Was soll das denn heißen? Die Gruppe Ulbricht
kam, und von Ulbricht, Ihrem früheren Parteivorsitzenden, kennen wir den Satz:
({2})
Genossen, es muss alles schön demokratisch aussehen. Es sollte so aussehen, aber das war es nie. Wer widersprach, wer Widerstand leistete, landete in den Kerkern
des KGB; so war es.
({3})
Die DDR war von der ersten Minute an ein Unterdrückungsstaat, Herr Kollege Bartsch.
({4})
Da Sie gesagt haben: „Wir haben den 8. Mai als Tag
der Befreiung gefeiert, bevor es die alte Bundesrepublik
tat“ - als sei das sozusagen ein historischer Vorsprung -,
frage ich Sie: Auf was für einen Geschichtsrevisionismus haben Sie sich da eigentlich eingelassen?
({5})
Mich macht das wütend.
Als der Kollege Kurth geredet hat, kam der Zwischenruf „LDPD!“. Die Staffage der Blockparteien haben Sie aufgebaut. Das war Ihre Staffage.
({6})
Welches Gefängnis hat denn die LDPD betrieben? Welchen Geheimdienst hat denn die Ost-CDU gehabt? Sagen Sie mir das einmal! Das hat alles Ihre Partei gemacht. Nach viermaliger Umbenennung sitzen Sie hier
wie Forscher, wie Wissenschaftler, die sich irgendein
Gebilde ansehen, mit dem sie gar nichts zu tun haben.
({7})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen!
({8})
Ihr Lothar Bisky hat Ulbricht einen großen Patrioten
genannt; Ihr Ehrenvorsitzender Hans Modrow, Genosse
Hans, hat den 17. Juni einen konterrevolutionären
Putsch genannt - das alles im vereinten Deutschland,
nicht zu DDR-Zeiten. Das sind Ihre Erkenntnisprozesse.
Ein Wort zu Sahra Wagenknecht. Sie mag in jede
Talkshow gehen, sie mag von der Liebe ihres Lebens reden,
({9})
vom Turbokapitalismus und von der Euro-Krise; das alles ist ihr gutes Recht. Aber sie sollte auch einmal etwas
zu folgenden Sätzen sagen - ich zitiere -:
({10})
- die ist nie hier; aber sie äußert sich Die DDR war das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschen
im Gesamt ihrer bisherigen Geschichte geschaffen
haben.
({11})
Erich Honecker gebühre deshalb „unser bleibender Respekt“.
({12})
Die Mauer ist für sie eine Maßnahme „zur Grenzbefestigung …, die dem lästigen Einwirken des feindlichen
Nachbarn ein längst fälliges Ende setzte“. Das ist Ihre
historische Aufarbeitung!
({13})
- Diese Sätze hat sie als Erwachsene bei klarem Verstand im wiedervereinigten Deutschland geschrieben.
({14})
Dazu würde ich von ihr gerne etwas hören.
Ich möchte nicht von Ihnen, Herr Bartsch, hören: Unser Parteitag hat 1989 beschlossen, dass wir Fehler gemacht haben. Wir entschuldigen uns. Damit ist es ein für
alle Mal gut.
({15})
Das ist doch lächerlich! Das ist doch kein Eingeständnis.
({16})
Das ist doch keine Reue. Das ist doch nichts, was den
Opfern je geholfen hätte. Keine müde Mark, keinen müden Euro haben Sie selber je dafür ausgegeben.
({17})
Sie haben das Geld beiseitegeschafft.
({18})
Wenn man von Opferentschädigung redet, muss man
auch einmal die Frage stellen: Wer wäre denn primär dafür zuständig gewesen? Sie wären primär dafür zuständig gewesen. - Es tut mir leid; aber nach diesem Redebeitrag musste das sein.
({19})
- Es sind die Getroffenen, die bellen; das wissen wir.
Das ist auch gut. Aber Sie sollten solche Auseinandersetzungen auch einmal öffentlich führen.
({20})
- Hallo? Uns hier zu erzählen, die DDR sei irgendwie
vom Himmel gefallen und nicht ohne die deutsche Geschichte verstehbar, das ist doch keine Auseinandersetzung mit dem Unrecht, das Sie begangen haben!
Der Bericht - das wurde gesagt - ist vielfältig; das
war eine Fleißarbeit. Er stellt eine gute Diskussionsgrundlage dar; das muss man sagen. Er sollte ursprünglich jedes Jahr erscheinen. Nun erscheint er ein Mal in
jeder Legislaturperiode; auch das ist so akzeptabel. Damit kann man leben. Der Bericht zeigt, dass die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit so vielfältig ist, wie
das Leben in der DDR war. Im Mittelpunkt steht natürlich die Unterdrückung, stehen authentische Orte des
Zerstörens von Menschen wie Berlin-Hohenschönhausen, wie Bautzen, wie Hoheneck, wie Torgau - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. In dieser Aufzählung
fehlen immer noch Orte; ich denke an das Militärgefängnis in Schwedt. „Wer in Schwedt war, schweigt“, hieß es
in der DDR. Das zeigt: Bei so vielen Orten der Unterdrückung braucht man wirklich einen langen Atem. Ich
denke, wir haben ihn.
Es ist richtig, dass auch die Alltagskultur in der DDR
in Museen ausgestellt wird, dass man sich damit auseinandersetzt. Es gab in der DDR nämlich auch das, wofür sich der Begriff „gelebtes Leben“ herausgebildet hat.
Wir dürfen nicht den Fehler machen, das zu übersehen.
Niemand akzeptiert, wenn seine Biografie nur negativ
gesehen wird, nur abgewertet wird. Von daher sehe ich
mich mit Roland Jahn durchaus auf einer Linie, wenn er
sagt: Wir müssen die ganzen Kreisläufe erklären. Wir
müssen erklären, wer die Stasi warum eingerichtet hat,
was sie bewirkt hat und wie sie sich auf das Leben der
Menschen ausgewirkt hat. - Es wurde schon gesagt: Die
heute 20-Jährigen kennen das alles nicht mehr. Sie wollen auch wissen: Wie habt ihr in der DDR gelebt? Was
waren eure Ängste? Was waren eure Träume? - Auch
das gehört zur Aufarbeitung. Da sind wir, denke ich, tatsächlich auf einem guten Weg.
Andere Dinge - das kann ich Ihnen nicht ersparen,
Herr Staatsminister - müssen noch geklärt werden: Die
Expertenkommission zur Entwicklung der Stasiunterlagenbehörde sollte kommen; das steht ohne jede Bedingung in der Koalitionsvereinbarung. Sie ist nicht gekommen. Vier Jahre wurden nicht genutzt. Das ist schlecht.
Wir Grüne haben immer gesagt: Wir weisen die Mäkelei,
die es bei Marianne Birthler gab, zurück. Wir können
auch nicht verstehen, warum man Roland Jahn nun ähnlich behandelt. Das mag zum Teil auch Gründe haben,
die in den Personen liegen.
Für uns steht im Vordergrund: Die Stasiunterlagenbehörde ist eine großartige Einrichtung: Das erste Mal hat
sich ein Volk der Akten seiner Unterdrücker bemächtigt.
({21})
Wir müssen das Beispielgebende dieser Institution betonen. Wir müssen diskutieren: „Welchen Weg soll sie gehen?“, aber doch bitte schön nicht in ganz kleiner
Münze; das findet nicht unsere Zustimmung. Wir Grüne
wissen: Den Königsweg wollen wir nicht, können wir
gar nicht vorzeichnen. Deswegen muss diese Expertenkommission jetzt eingesetzt werden. Hier gibt es eine
klare Reihenfolge. Zuerst muss geklärt werden: „Wie
lange und in welcher Form hat sie die Aufgaben zu erfüllen?“, dann: „Was kommt danach?“ - wenn denn danach
etwas kommt. Danach erst kann man überlegen: Was
machen wir mit den Gebäuden? - „Campus der Demokratie“, dieser Begriff wird nicht gehen. Man kann einen
Ort der Täter nicht in „Campus der Demokratie“ umbenennen. Aber die Idee von Roland Jahn finden wir richtig. Die Errichtung einer Jugend- und Begegnungsstätte
war auch ein Prüfauftrag in der Koalitionsvereinbarung.
In Roland Jahns Konzept ist das enthalten.
Kollege Wieland, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen Sharma?
Ja, bitte.
Herr Kollege Wieland, Sie hatten freundlicherweise
gesagt, dass Sie nichts zu den SED-Millionen sagen werden - das fand ich schon einmal sehr sympathisch -, haben dann trotzdem entsprechende Andeutungen gemacht.
Bei uns reden Kolleginnen und Kollegen, die im Osten geboren und groß geworden und politisiert sind. Ich
selber bin im Westen geboren und zwölf Jahre lang Mitglied der SPD gewesen. Ich war auch nicht - anders als
andere hier - Maoist oder Pol-Pot-Anhänger, wie Sie
möglicherweise, sondern immer ein ordentlicher Demokrat. Weil ich insoweit unverdächtig bin,
({0})
will ich sagen: Man kann vieles kritisieren, was die damalige Parteiführung der SED gemacht hat.
({1})
Ich selber gehöre zu denen, die auch vieles kritisieren,
was unsere jetzige Parteiführung macht; ich nehme eigentlich kein Blatt vor den Mund. Aber was man den
Menschen in der SED und den Mitgliedern der Linken
nicht vorwerfen kann, ist, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit nicht auseinandergesetzt hätten. Der Kollege
Bartsch hat nicht umsonst auf den Sonderparteitag 1989
hingewiesen. Herr Wieland, Sie fordern eine öffentliche
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein. Ich kann
Ihnen sagen: Diese Auseinandersetzung läuft permanent.
Auch bei dem Grundsatzprogramm, das wir in Erfurt beschlossen haben, haben wir uns auseinandergesetzt mit
der Vergangenheit und mit dem Unrecht gegenüber den
Menschen in der DDR, was auch von unserer Partei zu
verantworten gewesen ist.
({2})
Das alles haben wir getan.
Ich bitte Sie einfach einmal, das nicht permanent zu
ignorieren, weil das einfach komplett falsch ist und weil
Sie dadurch hier diese Selbstkritik und diese enorme
menschliche Leistung auch derjenigen, die durch diesen
tiefen Tunnel gegangen sind und den Mut aufgebracht
haben, sich damit auseinandersetzen, negieren.
({3})
Damit negieren Sie eine wirklich große Leistung von
Menschen.
({4})
Das ist eine Verachtung, die nicht angemessen ist.
({5})
Herr Kollege Sharma, ich sehe diese Leistung nicht;
das tut mir leid.
({0})
Der Kollege Bartsch hat hier vorgetragen: Es war ein
Fehler, die Mauer zu bauen; das war nicht demokratisch. Meine Güte, was heißt das denn?
({1})
Heißt das: Wir werden nie wieder eine Mauer bauen? Soll das als richtige Kritik der Partei durchgehen, die
diese Mauer gebaut hat? Soll das als Verbeugung vor den
Opfern durchgehen?
({2})
- Ich habe sehr genau zugehört und habe das gelesen. Das ist nicht ausreichend; das sage ich Ihnen hiermit.
({3})
Gerade wenn man in seiner Vergangenheit Fehler gemacht hat, muss es einen radikalen Bruch geben. Auch
ich habe welche gemacht.
({4})
- Ja, gar keine Frage. Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht. - Es gibt dann immer zwei notwendige Dinge:
Erstens. Man muss der Vergangenheit gegenüber ehrlich sein und darf nichts beschönigen.
Zweitens. Man muss es radikal anders und besser machen.
Das ist wichtig.
({5})
- Das machen Sie nicht.
({6})
Passen Sie auf: Der Herr Sharma als Schatzmeister
sagte ja - nun hat er mich doch auf die Milliarden gebracht -,
({7})
da seien Milliarden verschwunden. - Wenn ich gefragt
werde, dann antworte ich. - Trotz Einsetzens einer unabhängigen Kommission und trotz der Beauftragung von
Detektiven ist dieses Geld, das Sie beiseite gebracht haben, nicht gefunden worden. Dieses Geld hätte den Opfern und nicht in Ihre dunklen Kanäle gehört.
({8})
Schließlich und endlich: In Bezug auf die Entschädigung der Opfer gab es Fortschritte, die die Große Koalition erreicht hat, zum Beispiel durch die Opferrente. Das
kann aber noch nicht das letzte Wort sein. Wir müssen
auch zu einer Ehrenpension und zu einer Anerkennung
von Verfolgungsschicksalen kommen. Das wäre eine
Weiterentwicklung. Es kann nicht sein, dass es nur eine
bessere Haftentschädigung gibt, die auch noch von einer
Bedürftigkeit abhängig ist. Das ist noch unzureichend.
({9})
Es gibt viele Opfergruppen, zum Beispiel zwangsversetzte Schüler und Zwangsumgesiedelte, die noch immer
auf eine entsprechende Entschädigung warten. Auch da
kann es keinen Schlussstrich geben. Auch da sind wir
noch mitten in der Umgestaltung und dabei, das zu leisten, was notwendig ist.
({10})
Abschließend ein Satz von Willy Brandt, den er unmittelbar nach der friedlichen Revolution gesagt hat:
Nichts vergeben, nichts vergessen. - Das war sehr
apodiktisch. Vergessen dürfen wir tatsächlich nicht. Das
Vergeben hängt davon ab, ob die Opfer dazu bereit sind.
Nur sie können es. Das kann man nicht einfordern.
({11})
Die Bereitschaft der Opfer dazu setzt voraus, dass die
Täter Einsicht zeigen, und da, Freundinnen und Freunde,
müsst ihr noch ganz gewaltig wachsen.
({12})
Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt,
Reiner Haseloff, hat das Wort.
({0})
Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren
Abgeordnete! Wie wir gerade gehört haben, werden uns
die Debatten um den Charakter des SED-Staates und um
seine Hinterlassenschaften noch sehr lange beschäftigen.
Die untergegangene DDR hat tiefe Spuren hinterlassen.
Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben.
({2})
Sicherlich hat manch einer ein großes Interesse an einem schnellen Vergessen. Wer mittel- oder unmittelbar
für den Überwachungs- und Unterdrückungsstaat Verantwortung trug, stellt sich nicht gerne kritischen Fragen. Andere wiederum plädieren für ein Ende der Debatten, weil sie der Konfrontation mit dem Unbequemen
ausweichen wollen.
Bei aller Dringlichkeit unserer alltäglichen Aufgaben
dürfen wir die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen. Vergessen stiftet keinen dauerhaften Frieden. Die
Errichtung der Stasiunterlagenbehörde war wichtig, und
ihre Arbeit muss fortgesetzt werden. Sie schützt vor der
Gefahr, den SED-Staat nostalgisch zu verklären und seinen diktatorischen Charakter auszublenden.
Ich habe die DDR-Wirklichkeit tagtäglich erlebt. Ich
habe mich in einem atheistischen Staat zum Christentum
bekannt. Deshalb weiß ich: Der SED-Staat und sein Apparat waren alles andere als harmlos. Die Debatte um die
Aufarbeitung der DDR-Geschichte darf sich nicht ausschließlich auf die Rolle der Stasi fokussieren.
({3})
Das MfS war ein konstitutives Herrschaftsinstrument
der SED, ihr „Schild und Schwert“. Die SED prägte die
DDR: von der Gründung bis zum Untergang. Der Führungsanspruch dieser Partei erstreckte sich auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft. Die DDR war ihr
Staat. Jeder SED-Kreissekretär war mächtiger als ein
Kreisdienststellenleiter der Staatssicherheit. Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung war der erste Sekretär der
SED-Bezirksleitung. Für den Ernstfall waren Isolierungslager für mehr als 84 000 unliebsame DDR-Bürger
geplant. Mit den Vorbereitungen waren zwar MfS-Mitarbeiter befasst. Sie erfüllten aber als Schild und Schwert
der Partei nur einen Auftrag der SED.
Das wahre Ausmaß von Überwachung und Unterdrückung wurde erst nach Öffnung der Archive allmählich
sichtbar. Noch längst sind nicht alle Fragen gestellt, geschweige denn beantwortet. Insbesondere die Opfer des
Regimes haben einen Anspruch auf umfassende Aufklärung. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur bleibt eine
notwendige Aufgabe.
({4})
Schließung oder Vernichtung der Akten würde wenig
zum inneren Frieden beitragen, aber sehr viel zu einer
Verdrängung und Verharmlosung dieser Diktatur.
Die Geschichte der DDR ist auch die Geschichte der
SED und ihrer Versuche, das Leben der Menschen bis
weit in ihre Privatsphäre hinein zu kontrollieren und zu
bestimmen. In diesem Zusammenhang ist zu Recht von
der DDR als einer „Erziehungsdiktatur“ gesprochen
worden. Wer weiß das heute von den Heranwachsenden?
Eine 2008 durchgeführte Befragung von Schülerinnen
und Schülern aus Bayern, Nordrhein-Westfalen, Berlin
und Brandenburg hat gravierende Wissenslücken offenbart. Je geringer das Wissen über die DDR war, desto
positiver wurde sie beurteilt. Deshalb ist Aufklärung
wichtig.
({5})
Deshalb sind Symbole, Gesten und Jahrestage wichtig. Unter ihnen hat der 17. Juni sein eigenes Gewicht
und seine eigene Symbolik. Deshalb sind Orte wichtig,
die die Gegenwart der Vergangenheit deutlich machen.
Wir müssen uns der Geschichte stellen, vorbehaltlos und
aufrichtig. Zur Aufrichtigkeit gehört vor allem, die Perspektive der Opfer nicht auszublenden. Ihre Schicksale
dürfen uns nicht gleichgültig sein oder gleichgültig werden.
Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff ({6})
Wie viele Menschen Opfer der SED-Diktatur wurden,
wissen wir bis heute nicht genau. Wir kennen nur ungefähre Zahlen. Was wir aber mit Sicherheit wissen: Die
SED-Diktatur schreckte vor Mord nicht zurück. Sie ließ
Lebensentwürfe scheitern, stellte Identitäten infrage und
zerstörte Beziehungen.
Die Aufarbeitung dieser Diktatur schützt vor Legendenbildung. Die DDR war keine Nischengesellschaft.
Sie ließ keine autonomen Gesellschaftsmodelle zu. Die
DDR war ein totalitärer Staat. Er kannte weder Gewaltenteilung noch politischen Pluralismus. Die Macht der
SED gründete auf Zwang und Gewalt. Das von der SEDFührung installierte und perfektionierte Grenzregime
versinnbildlichte die fehlende Legitimation des Staates
und war Symbol für eine Menschen- und Freiheitsrechte
verachtende Politik.
Im Innern herrschte der Verdacht. Die SED misstraute
dem eigenen Volk. Nur mittels eines gigantischen Sicherheitsapparates konnte die SED ihre Herrschaft aufrechterhalten. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl
sind Geschichte. Sie müssen aber einen Platz in unserer
Erinnerungskultur behalten. Einen Schlussstrich darf es
deshalb nicht geben.
({7})
Er wäre nämlich eine unverantwortliche Flucht aus der
Geschichte. Geschichte endet nicht mit einer neuen Generation, und Unrecht bleibt Unrecht; es verjährt nicht.
Unsere Vergangenheit bürdet uns eine große Verantwortung auf. Sie macht vor niemandem halt, weder vor
der Erlebnisgeneration noch vor den später Geborenen;
denn neben die unmittelbare Zeitzeugenschaft tritt die
moralische. Sie erfordert Engagement und Empathie.
Engagement und Empathie sind wir vor allem den Opfern der SED-Diktatur schuldig, deren Schicksale wir
immer wieder persönlich erleben. Wir sind es aber auch
uns selbst und den kommenden Generationen schuldig;
denn eine gemeinsame Zukunft lässt sich nicht auf Irrtümern, Legenden und Beschönigungen aufbauen. Ebenso
wenig eignet sich politisch-historische Gleichgültigkeit
für eine gute Zukunftsgestaltung. Vergessen wir nicht:
Wir alle tragen Verantwortung für unsere gesamte Geschichte. Wir haben die Pflicht, zu erinnern. Wir haben
die Pflicht, aus unserer Geschichte zu lernen, und wir haben die Pflicht, dem Vergessen zu wehren.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ministerpräsident Haseloff, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht: Diese Aufgabenstellung, dieses Thema
bedarf des Engagements und der Empathie. Im Gegensatz dazu steht das, was Herr Kurth hier abgeliefert hat.
Es ist auf keinen Fall ein Thema, an das man als Eiferer
mit einer selbstgerechten Haltung herangehen kann. Das
war total daneben, Herr Kurth.
({0})
Das macht es unheimlich schwer, eine Linie fortzuführen, die seit 1989/90 in einem breiten Konsens in diesem
Haus immer wieder gefunden wird. Das erschweren Sie
durch eine derartige Haltung.
In der Sache selbst einen kleinen Hinweis: Da Sie
dargelegt haben, unter Rot-Grün sei die Erinnerungspolitik erlahmt, gebe ich Ihnen nur das Stichwort „Gedenkstättenkonzept“ oder erinnere an die Änderungen im
Bundesvertriebenengesetz. Setzen Sie sich bitte einmal
damit auseinander! Dann werden Sie zu anderen Ergebnissen kommen.
Ich finde es ausgesprochen hilfreich, dass uns dieser
Bericht vorliegt. Er bietet eine sehr gute Gesamtschau.
Problematisch ist es allerdings, wenn der Bericht den
Eindruck erweckt, als sei die Aufarbeitung der SED-Geschichte als abgeschlossener Prozess zu bewerten. Ich
leite das deshalb ab, weil der Bericht an einer Stelle
extrem schwächelt. Er enthält nämlich relativ wenige,
nahezu keine Empfehlungen und keinen Blick in die Zukunft, der deutlich macht, was zu tun ist. Da gibt es enormen Handlungsbedarf. Gleichwohl ist sehr beeindruckend, wie viele Einrichtungen und Initiativen in Bund
und Ländern sich der Aufarbeitung widmen. Doch die
Anzahl der Institutionen allein gibt keine Auskunft darüber, ob unsere Gesellschaft das Erbe der DDR in all ihren Facetten wirklich verarbeitet hat. Insofern bleibt die
Aufarbeitung des begangenen Unrechts eine fortwährende Aufgabe, die sich allein durch Zeitablauf auf keinen Fall erledigt.
Eine viel beachtete Studie des Forschungsverbundes
„SED-Staat“ der Freien Universität Berlin hat unter dem
Titel Später Sieg der Diktaturen? festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler in ganz Deutschland insgesamt ein
sehr geringes historisches und politisches Wissen haben.
Das gilt gleichermaßen für die Geschichte der DDR wie
für die Geschichte des Nationalsozialismus. Insofern
lautet die zentrale Frage: Wie kann es in Zukunft besser
gelingen, Wissen und Erfahrungen so zu vermitteln, dass
sie auch nachfolgenden Generationen präsent sind? Das
erreicht man eben nicht allein durch große Aufarbeitungsinstitutionen, sondern durch eine Fülle kleinteiliger, qualitativ guter Angebote im Bereich der politischhistorischen Bildung. Beispielhaft möchte ich an dieser
Stelle die Bundesstiftung Aufarbeitung nennen, die
deutschlandweit zahllose Ausstellungen, Konferenzen
und Veranstaltungen organisiert, unermüdlich Publikationen und Dokumentarfilme fördert und erstellt und auf
diese Art und Weise zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in Deutschland und in Europa anregt.
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich an die wichtigen Vorarbeiten erinnern, die in einer Enquete-Kommission in den Jahren 1992 bis 1997 geleistet wurden. Eine
zentrale Forderung dieser Enquete-Kommission war
1997, ebendiese Stiftung zu gründen und sie langfristig
mit der Auseinandersetzung mit den Folgen der DDRund SED-Diktatur zu beauftragen.
Natürlich haben wir daneben weitere wichtige Institutionen. Sie sind hier genannt worden: die Bundeszentrale
für politische Bildung und die jeweiligen Landeszentralen, aber auch der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen. Überall wird gute Arbeit geleistet. Daneben dürfen wir allerdings die vielen kleinteiligen, ehrenamtlich
getragenen Einrichtungen im ganzen Land nicht vergessen. Deren Engagement möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen und anerkennen.
({2})
Was es aber jetzt braucht, ist gewissermaßen ein Boxenstopp. Wir müssen danach fragen, wie wir all diese
Akteure noch effektiver vernetzen und die Angebote
vielleicht noch genauer aufeinander abstimmen können,
damit sie besser wirken. Darüber hinaus gibt es Finanzierungsprobleme. Gerade was die politische Bildung in
den Schulen anbelangt, gibt es einen enormen Bedarf,
authentische Orte zu besuchen. Aber die Finanzierung
solcher Aktivitäten leidet Not. Dabei fällt enorm ins Gewicht, dass gerade die Bundesstiftung Aufarbeitung aufgrund der aktuell niedrigen Zinsrate eine Schrumpfung
ihrer Projektmittel um rund 1,3 Millionen Euro erwarten
muss. Hier wünschte ich mir seitens der Bundesregierung ein deutlicheres Bekenntnis, das aufzufangen.
Einen weiteren Anhaltspunkt möchte ich nennen, warum die Aufarbeitung eine fortwährende Aufgabe bleibt:
der Umgang mit dem politischen Erbe der friedlichen
Revolution von 1989. Diesen Umbruch habe ich persönlich damals sehr intensiv beobachten und begleiten können aufgrund meiner Kontakte zu unserer Partnergemeinde in Falkenhagen in Brandenburg. Der unbändige
Wille der Menschen, der aufgebracht wurde, um das Leben und die neue Zeit zu gestalten und die Verfehlungen
des Systems und seiner Akteure offenzulegen, hat mich
tief beeindruckt. Selbstverständlich geschah damals das
eine oder andere überstürzt - eine Revolution kennt eben
keine Blaupause. Umso erfreulicher, beinahe wundersam ist es, dass ein Großteil der Akten des ehemaligen
Staatssicherheitsdienstes gesichert werden konnte.
Aus diesem Gefühl von Aufbruch und Aufbrechen
heraus hat sich eine Vielzahl von Vereinen und Initiativen entwickelt, die sich des historischen Erbes an authentischen Orten, in Gedenkstätten und anderswo angenommen haben. Aus den ganz aktuellen Protesten für
den Erhalt der East Side Gallery hier in Berlin spricht
auch eine Aneignung des politischen Erbes durch die
Bevölkerung. Zugleich wird aber auch deutlich, dass
sich mit der Zeit die Bedürfnisse verändern und sich die
Betrachtungsweisen des Erbes, also bestimmter Institutionen und Ereignisse, ein Stück weit wandeln.
Wurde nach 1990 zunächst viel über die Repression
und ihre Instrumente in der DDR-Diktatur diskutiert,
sind mittlerweile auch andere Aspekte der Aufarbeitung
wichtig geworden. Ich erwähne die Sabrow-Kommission, deren Ergebnisse in dem vorliegenden Bericht
überhaupt nicht erwähnt werden, obwohl sie eine sehr
grundlegende und wichtige Arbeit erbracht hat. Die Dimensionen von Aufarbeitung - Alltag, Widerstand und
Opposition, Ideologie, Teilung und Grenze - sind vielfältig. Aufarbeitung ist folglich deutlich mehr als nur die
Beschäftigung mit der Stasi. Insofern erinnere ich noch
einmal an die Bundesstiftung Aufarbeitung, die einen
sehr breiten Auftrag hat, der weit über die Betrachtung
der Stasiunterlagenbehörde hinausgeht.
Ich habe beispielhaft zwei Bereiche von Aufarbeitung
genannt, die einer konzeptionellen Weiterentwicklung
bedürfen. Zudem hängen damit auch Fragen der besseren Vernetzung der Akteure und Einrichtungen, der weiteren Professionalisierung und natürlich der Finanzierung ihrer Aufgaben zusammen. Umso wichtiger ist es
deshalb - hier erinnere ich an die Einlassungen von
Wolfgang Thierse -, dass wir eine nach vorne gerichtete
Debatte über die Zukunft und den Anspruch der Aufarbeitung in Deutschland organisieren.
Die im Gedenkstättenkonzept und im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierung verankerte Expertenkommission, die sich mit genau diesem Thema auseinandersetzen soll, ist bis heute nicht realisiert. Das ist
angesprochen worden. Das fordern wir massiv ein. Ich
hoffe, dass wir auf Grundlage eines solchen Diskurses
zu einer Neujustierung der Erinnerungspolitik, auch im
Zusammenhang mit dem SED-Staat, kommen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt eine Debatte hier im Haus, die sozusagen auf einer Ebene stattfindet. In dieser Debatte setzen
wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion
Die Linke auseinander. Dazu haben Herr Wieland, aber
auch andere Redner das Notwendige, wie ich finde, sehr
treffend gesagt. Sie, liebe Kollegen von der Linken, verpassen leider eine Chance, wenn Sie in diese Debatten
immer diejenigen senden, die es durchaus schaffen, mit
wohlabgewogenen Worten einen gewissen Eindruck zu
erwecken - ich denke dabei an Herrn Sharma, den ich
persönlich in der Tat für sehr glaubhaft halte, aber auch
an Herrn Bartsch, den viele hier im Hause schätzen -,
während diejenigen, die sich immer wieder Punkten ihrer eigenen Vergangenheit nicht stellen, in diesen Debat29018
ten nie ein öffentliches Bekenntnis zum Ausdruck bringen, obwohl ihnen das Glaubwürdigkeit verschaffen
würde.
({0})
- Wo ist denn Frau Wagenknecht? Wo sind denn diejenigen, die Urheber der Zitate sind, die Herr Wieland den
Linken vorgehalten hat? Von ihnen hören wir in diesen
Debatten leider nie irgendeinen Ton. Gesprochen haben
vielmehr immer diejenigen, die durchaus eine gewisse
Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vergangenheit
pflegen. Das war meine erste Bemerkung.
({1})
Zweite Bemerkung. Herr Ehrmann, gerade weil ich
Ihren Beitrag in vielen einzelnen Punkten sehr geschätzt
habe: Wenn jemand, der in der ehemaligen DDR gelebt
hat, über ein solches Thema redet, ist die Herangehensweise natürlich anders, als wenn Sie oder ich als Mensch
aus Westdeutschland es tun. Es ist für mich immer sehr
glaubwürdig, wenn ich jemanden wie Herrn Kurth hier
reden höre, der einfach aus eigener Erfahrung berichtet
hat. Reden von Menschen mit einem entsprechenden familiären Hintergrund, Reden von Menschen, die die Art
und Weise kennen, wie man mit Christen umgegangen
ist, mit Personen, die einen Glauben hatten, Reden von
Menschen, die erfahren mussten, dass es die Trennung
zwischen Privatem und Öffentlichem in einem solchen
Unrechtsstaat eben nicht gegeben hat, sind - das gehört
zur Aufarbeitung der Geschichte - von anderer Emotionalität geprägt, als wenn wir beide darüber reden. Ich
glaube, wir erleben hier kein Eiferertum, sondern einfach eine andere Form des Umgangs mit der Vergangenheit.
({2})
Ich will zwei weitere Punkte nennen:
Erster Punkt. Herr Bartsch hat sich hier zur frühen
DDR geäußert. Ich erinnere mich an Abende mit unserem verstorbenen Kollegen Wolfgang Mischnick, in denen er über die frühen Jahre der DDR geredet hat. Ich erinnere mich auch an Gespräche mit Wolfgang Knoll.
Auch in der Sozialdemokratie und in der Christdemokratie gibt es Menschen, die in Dresden und andernorts lebten und die DDR aus Angst, politisch verfolgt zu werden, schon in den allerersten Jahren verlassen haben.
Insofern ist Ihr Versuch, Verständnis für den Anfang der
DDR zu wecken, glaube ich, zutiefst misslungen.
({3})
Zweiter und letzter Punkt. Mir ist wieder deutlich geworden, dass es nicht nur um die großen Themen gehen
kann. Ich habe neulich das Buch von Inga Markovits Gerechtigkeit in Lüritz gelesen. Darin sind einfach einmal
die Akten eines Gerichts in der ehemaligen DDR, die
alltäglichen Fragen des Umgangs mit Gerechtigkeit, beispielsweise mit dem Christentum, mit Menschen, die etwas glauben, aufgearbeitet worden. Dieses Dokument ist
so frappant und so beängstigend, dass man immer wieder daran erinnern muss. Es ist eine weitere Aufgabe von
uns allen, auch in Zukunft in der Bundesrepublik
Deutschland das Verständnis für Unrecht im Kleinen wie
im Großen nicht nur wissenschaftlich aufzuarbeiten,
sondern auch durch Pädagogik zu fördern. Ich gestehe:
Einzelne von Ihnen sind daran durchaus beteiligt. Leider
verpassen Sie regelmäßig die Chance einer Debatte wie
der heutigen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Alterspräsident des 13. Deutschen Bundestages,
Stefan Heym, dessen 100. Geburtstag wir in wenigen Tagen begehen, schrieb in seinem Buch 5 Tage im Juni:
({0})
Die Arbeiterklasse, sagen wir, sei die führende
Klasse und die Partei die führende Kraft der Klasse.
Offensichtlich muß es Menschen geben, die stellvertretend auftreten für die führende Klasse und deren führende Kraft. Aber wer verhindert, daß sie,
stellvertretend, nur noch sich selbst vertreten?
Dieses Buch von Stefan Heym wurde 1965 in der
DDR von Erich Honecker kritisiert und durfte bis zum
Ende der DDR dort nicht erscheinen.
Ich finde es gut, dass wir uns heute mit der Vergangenheit eines Teils unseres Landes befassen. Und natürlich richten sich in dieser Debatte viele Augen auf unsere
Fraktion - wie könnte es anders sein. Ich verstehe das.
Unsere Partei Die Linke ist Rechtsnachfolgerin der PDS,
und diese ist aus der SED hervorgegangen.
({1})
Wir leugnen das nicht. Wir sind vor unserer Vergangenheit nicht einfach davongelaufen, und wir tun das auch
heute nicht.
({2})
Der Vorwurf allerdings, wir würden uns mit unserer
Vergangenheit nicht auseinandersetzen, ist nun wirklich
nachweisbar falsch.
({3})
In unserem Parteiprogramm, das wir im Oktober 2011
beschlossen haben, heißt es:
Ein Sozialismusversuch, der nicht von der großen
Mehrheit des Volkes demokratisch gestaltet, sondern von einer Staats- und Parteiführung autoritär
gesteuert wird, muss früher oder später scheitern.
Ohne Demokratie kein Sozialismus.
({4})
Deshalb formulierten die Mitglieder der SED/PDS
…: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System.“
({5})
Dieser Bruch mit dem Stalinismus gilt für DIE
LINKE ebenso.
({6})
So weit unser Grundsatzprogramm.
Ja, unsere Partei kommt aus der SED. Aber eines muss
auch gesagt werden, Herr Wieland, Herr Kurth: Wir sind
nicht mehr die SED. Über 90 Prozent der SED-Mitglieder
haben die Partei bereits 1989/90 verlassen. Und schon
damals kamen neue hinzu: Halina Wawzyniak, Angela
Marquardt oder auch ich selbst seien hier erwähnt.
Und auch wenn es eher die Ausnahme als die Regel
war - ich will es an dieser Stelle erwähnen -: Auch Vertreter der DDR-Opposition stritten seit der Wende an unserer Seite,
({7})
Marion Seelig zum Beispiel, unsere langjährige Abgeordnete im Abgeordnetenhaus von Berlin, deren Tod wir
erst kürzlich beklagen mussten. Herr Wieland, Ihre Rede
war deshalb für mich so erstaunlich, weil Sie es besser
wissen.
({8})
Sie, Herr Wieland, haben mit Marion Seelig viele Jahre
im Abgeordnetenhaus von Berlin im Innenausschuss zusammengearbeitet. Sie wissen ganz genau, welche Debatten Marion Seelig bei uns in der Partei und in der
Fraktion angestoßen hat. Trotzdem bauen Sie hier so einen Pappkameraden auf.
({9})
Marion Seelig hat in der DDR in der „Kirche von Unten“ gearbeitet und war Teilnehmerin am Zentralen Runden Tisch. Sie war sowohl in der DDR als auch in der
Bundesrepublik eine wirkliche Bürgerrechtlerin - ohne
das heute so gern verwendete „ehemalig“ davor. Aber
nicht nur wegen Menschen wie Marion Seelig ist uns der
Blick zurück wichtig und schätzen wir die Arbeit jener,
die hierzu ernsthaft forschen, dokumentieren und informieren.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bericht, über
den wir hier sprechen, enthält allerdings auch Leerstellen. Über die Blockparteien der DDR erfährt man, anders als über die Rolle der SED, die sehr ausführlich dargestellt wird, fast nichts.
({10})
Richtig ist, Herr Kauder, dass die SED die führende
Rolle in der DDR innehatte; falsch ist hingegen die Annahme, dass es sich bei der CDU der DDR und der Demokratischen Bauernpartei der DDR, mit der sich die
CDU am 2. Oktober 1990 vereinigt hat, oder bei der
LDPD und der NDPD der DDR, Herr Kurth, mit denen
sich die FDP vereinigt hat, um Oppositionsbewegungen
handelte. Das ist falsch.
({11})
Alle vier Parteien - Herr Ministerpräsident Haseloff,
ich möchte es an dieser Stelle sagen - waren bis zum bitteren Ende der DDR 1990 mit 208 von 500 Abgeordneten in der Volkskammer vertreten. Alle Parteien, Herr
Haseloff - Sie sind 1976 der Ost-CDU beigetreten, als
ich vier Jahre alt war -,
({12})
stellten bis zum Schluss Minister in der DDR - ganz am
Schluss die Minister für Umwelt, Post und Justiz. Insofern möchte ich Roland Jahn recht geben, der sagte, die
Union könnte mehr zur Erforschung ihrer Vergangenheit, der DDR-Blockpartei CDU, beitragen.
({13})
Apropos Roland Jahn: Wir sind natürlich dafür, dass
die Einsicht in die Akten des ehemaligen Ministeriums
für Staatssicherheit gewährleistet bleibt. Unter welchem
Namensschild dies passiert, ist hierbei nicht das Entscheidende.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir Linke ducken
uns vor den Debatten über die Vergangenheit nicht weg,
({14})
auch wenn Sie hier wider besseres Wissen immer wieder
etwas anderes behaupten. Der Sozialismus, für den wir
streiten, der liegt nicht hinter uns, der liegt vor uns. Und
es kann nur ein demokratischer Sozialismus sein.
({15})
Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist nicht ganz einfach, nach so einem Ausfall an das
Rednerpult zu treten. Ich will mich auch nicht an dieser
Art von Geschichtsklitterung beteiligen.
({0})
Ich habe an der Stelle nämlich den Eindruck, dass Unbelehrbarkeit herrscht. Eine Unterrichtung durch die Bundesregierung sollte man eigentlich als Unterricht nutzen,
statt sich hier hinzustellen und zu sagen - Sie wissen es
doch besser als jeder andere in diesem Raum; ich meine
da auch die Kollegen aus der CDU/CSU und der FDP -,
dass erst dieses System eigentlich demokratische Parteien zu seinem Bestandteil gemacht hat, indem sie unterwandert und missbraucht wurden.
({1})
Das als Argument in die Debatte einzuführen, ist eigentlich pure kommunistische Dialektik.
({2})
Das sollten Sie besser wissen. Das entbehrt auch jeder
Grundlage.
Und, Herr Liebich, in dieser Art und Weise mit dem
Wort „Pappkamerad“ zu operieren ({3})
Kollege Wieland, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze;
ich nehme Sie da auch in Schutz -, zeigt, wes Geistes
Kind Sie sind,
({4})
wenn es um die Art und Weise der Auseinandersetzung
geht.
({5})
Wer wie die Linke in der Tradition der PDS und der SED
steht und die Verantwortung für Tod und Stacheldraht
und Mauer hat, der sollte sich nicht hinstellen und anderen, die kritisieren, das Wort „Pappkamerad“ vorhalten.
Ich glaube, da wäre eine Entschuldigung notwendig.
({6})
Herr Staatsminister, was untergeht, ist die Auseinandersetzung über die Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der Bericht ist eine Bestandsaufnahme; zugleich geht er weit darüber hinaus. Ich bedanke mich für
die CSU innerhalb der CDU/CSU herzlich für diesen
Bericht. Ich will deutlich machen, dass es sich bei diesem Bericht - manchmal habe ich den Eindruck: die
SPD agiert mittlerweile sehr obsessiv, wenn es um die
Frage der Kritik geht - um ein Kompendium handelt, in
dem wirklich ein kollektiver Bewusstwerdungsprozess
deutlich wird. Auf der einen Seite handelt es sich um
eine Chronik; es wird ein chronologischer Fortgang beschrieben. Auf der anderen Seite handelt es sich um einen Katalog des politisch Möglichen und des politisch
Machbaren. Wir wissen, dass die Beispiele aus der Praxis die Voraussetzung dafür sind, dass ein Gesamtprozess in der Bundesrepublik stattfinden kann, in dem die
Aufarbeitung das Wesentliche ist. Es handelt sich um einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, und genau das
bildet dieser Bericht ab.
Wie schon zu Recht betont wurde, ist eine Aufarbeitung weder allein durch den Staat möglich, noch ist sie
zu verordnen.
({7})
Wir brauchen die Menschen, und wir brauchen die Bereitschaft der Menschen, diesen Weg mitzugehen.
({8})
Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Opferverbände,
UOKG natürlich, Forschung und Lehre in die Darstellung eingebunden wurden. Auch die Gedenkstättenkonzeption wird angesprochen. Dass Politik, Verwaltung
und Enquete-Kommissionen dafür den Boden bereiten,
die Rahmenbedingungen setzen, ist das eigentlich Entscheidende, das Wesentliche.
Die CDU/CSU hat ihren Beitrag geleistet und ihren
Stempel mit aufgedrückt bei all den Entscheidungen, die
getroffen wurden, etwa zum Stasi-Unterlagen-Gesetz,
zur Opferrente und zur Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur.
So exzeptionell der Vorgang einer friedlichen, gewaltfreien Revolution und des damit einhergehenden Umbruchs war, so dramatisch ist natürlich auch die Auseinandersetzung über das Ungewöhnliche dieses Weges.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Jugendlicher an der S-Bahn-Station Friedrichstraße am Grenzübergang stand, nur einen Steinwurf von hier entfernt,
mit dem Gefühl der Überwachung im Genick, der greifbaren Pression. Deshalb verletzt es mich fast, wenn ich
lesen, erfahren und feststellen muss, dass sich gerade
junge Leute in einer erschreckenden Art und Weise
durch Nichtwissen auszeichnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Nichtwissen führt immer zu „nicht wissen“: nicht wissen, wie
man mit Menschen umgeht, nicht wissen, wie man Probleme angeht, nicht wissen, wie man anderen gegenübertritt, um Probleme aus dem Weg zu schaffen, wie
man andere, die Leid und Unrecht erfahren haben, um
Vergebung bitten kann. Das ist etwas, was tatsächlich
fehlt. Das ist der Grund für die Ausbildung von Ostalgie.
Die Zahl der Besucher in Hohenschönhausen aus den alten Bundesländern: gigantisch; aus den neuen Bundesländern: besorgniserregend. Darauf sollten und müssen
wir achten.
Als Integrationsbeauftragter meiner Fraktion wünsche ich mir, dass diese Aufarbeitung im demokratischen
Prozess auch dazu führt, dass - ich sage einmal - demokratische Wurzeln von Menschen mit Migrationshintergrund gestärkt werden, die oftmals selber in ihrer Biografie Unrecht und Willkür eines Landes, eines Staates
erlebt haben. Diese Unterrichtung kann ein beispielgebender Anlass sein, den Menschen deutlich zu machen,
dass man auch so damit umgehen kann.
({9})
Herr Bartsch, ich muss auch deutlich sagen, dass es
nicht angeht, dass man sich unter Berufung auf die Tatsache, dass Unrecht in sich nicht vergleichbar ist, bei
diesem Thema immer wieder vom Acker macht. Die Bezugnahme auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts ist
immer schwierig, dieser Weg führt nur ganz selten zum
Erfolg, weil er entweder das Unrecht des einen relativiert oder das Unrecht des anderen bagatellisiert. Diejenigen, die Verantwortung tragen, müssen aber deutlich
machen, dass man mit diesen Folgen leben muss. Es
wäre jedoch aberwitzig, wenn man Fehler, die bei der
Aufarbeitung dieser Phase des 20. Jahrhunderts begangen wurden, erneut machen würde. Deshalb sage ich an
dieser Stelle: Es war nach dem Zweiten Weltkrieg ein revolutionärer Akt, die Wiege eines modernen Völkerstrafrechtes aus den Nürnberger Prinzipien zu entwickeln. Jetzt könnten wir genauso beispielgebend für die
Welt sein. Der Prozess der Aufarbeitung könnte auch für
andere beispielgebend sein.
({10})
Wenn Hohenschönhausen einlädt, dann kommen
120 Botschafter. Ein Projekt mit Tunesien ist bereits angestoßen. Das kann etwas sein. Das verhindern Sie,
wenn Sie engstirnig immer sagen, es dürfe doch um
Gottes Willen nichts relativiert werden. Wenn Sie sich
der Aufarbeitung stellen, wären wir in der Lage, ein Beispiel zu geben und den Menschen, statt ihnen den Weg
zu verstellen, eine Perspektive zu eröffnen.
Bedeutend in diesem Aufarbeitungsprozess ist immer
die Absicht, dass man den Menschen, denen Unrecht
und Leid geschah und die heute noch daran leiden, eine
Perspektive gibt, aber auch denjenigen, die am Unrecht
beteiligt waren. Das ist die Grundlage für ein Zusammenleben, für ein gedeihliches Morgen, für ein Miteinander in einem demokratischen Staat. Wer immer das
Klischee der Siegerjustiz bedient, wird nichts anderes erreichen als eine Blockade im Kopf, eine Blockade in den
Herzen, die die Menschen voneinander fern hält, sie aber
nicht aufeinander zubewegt. Das sollten Sie bei der Geschichte Ihrer Partei überdenken.
({11})
Auch ich glaube, dass Aufarbeitung immer ein
schwieriger und schmerzvoller Prozess ist. Das liegt im
Wesen der Dinge. Dass dieser Prozess aber möglich ist,
zeigt die vorliegende Unterrichtung durch die Bundesregierung. Deshalb, Herr Staatsminister, vielen herzlichen Dank dafür, dass hier Unterrichtung zum Unterricht
in Geschichte wird.
({12})
Das Wort hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tagesordnung steht: Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ich glaube, sagen zu dürfen, dass
diese Debatte leider zeigt - insbesondere die Debattenbeiträge der Linken -, dass wir dabei noch am Anfang
sind. Das haben Sie sehr klar dargestellt. Es reicht kein
Lippenbekenntnis eines Bundesparteitages, dass Sie sich
von der Vergangenheit abwenden. Das ist ein Prozess
und kein einzelner Beschluss, lieber Herr Bartsch.
({0})
Die Zeit der deutschen Teilung ist Teil des kollektiven
Gedächtnisses unserer Republik. Auch wenn sich der
Fall der Mauer in diesem Jahr zum 24. Mal jährt, sind
wir mit der Aufarbeitung nicht am Ende. Ganz im Gegenteil. Wir sind noch mittendrin, wie diese Diskussion
zeigt. Am 12. Juni 1987 sagte der US-
„Mister Gorbatschow, tear down this wall!“
26 Jahre später, am letzten Sonntag, steht wieder ein
Amerikaner am Rest der Berliner Mauer und wirbt aus
meiner Sicht zu Recht: Das letzte Stück der Mauer sollte
unantastbar sein, damit wir daran erinnert werden. - Die
Geschichte der deutschen Teilung bewegt nicht nur uns,
sondern auch weltweit, wie wir sehen, die Menschen.
Im damaligen Westen waren rund 40 000 Personen
über die Jahre für die Stasi tätig. Vielen von ihnen waren
Bürgerinnen und Bürger der BRD, die keinem sozialen
Druck ausgesetzt waren; sie haben aus freien Stücken
mit der Stasi kooperiert.
({0})
Viel zu lange wurde die Aufarbeitung der SED-Diktatur
im öffentlichen Bewusstsein nur als ostdeutsche Aufgabe begriffen. Es ist endlich an der Zeit, den Blick zu
weiten und auch die gesamtdeutsche Dimension in den
Vordergrund zu stellen.
({1})
So haben auch westdeutsche Unternehmen Waren im
Strafvollzug der DDR fertigen lassen, ohne sich ausreichend über die Arbeitsbedingungen informiert zu haben.
Teilweise wurde sogar auf die Zwangsarbeit politischer
Häftlinge zurückgegriffen. Auch bei diesem Thema stehen wir erst am Anfang. Tiefergehende Forschung ist
notwendig, um die Zusammenhänge aufzudecken. Wir
sind es den Opfern, den Häftlingen schuldig, dass dieses
Thema nicht vergessen wird.
Für uns ist der Bericht der Bundesregierung keinesfalls eine abschließende Bilanz. Die Arbeit der Aufarbeitungsinstitutionen wird sich in den nächsten Jahren
weiterentwickeln, um den Anforderungen einer Gesellschaft, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihres Alters keine eigenen Erfahrungen mehr mit
der deutschen Teilung haben, gerecht zu werden.
Um die junge Generation zu erreichen, braucht es Zeitzeugenarbeit, authentische Erinnerungsorte und - dies ist
mir besonders wichtig - einen offenen und ehrlichen
Umgang mit unserem eigenen Handeln in der Zeit der
deutschen Teilung. Neue Formen der Vermittlung sind
notwendig. Daher ist in meinen Augen die Idee eines
Campus der Demokratie - oder wie immer man es nennen möchte -, in dem Archiv, Forschung und Bildung
unter einem Dach zusammenkommen, besonders zukunftsweisend. Wir unterstützen dieses Projekt.
Abschließend möchte ich sagen: Lieber Herr
Ehrmann, Konsens bei diesem Thema: „Ja, sehr gerne“,
aber Konsenssoße mit der Linken: „Nein!“ Es wäre mir
lieber gewesen, Sie hätten sich den Ausführungen der
Grünen angeschlossen, anstatt sich sehr kleinlich an
Herrn Kurth abzuarbeiten.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal danke ich dem Ältestenrat dafür, dass er diese Debatte heute in die Kernzeit gelegt
hat. Dort gehört sie hin.
({0})
Ich danke auch dem Vorsitzenden meiner Fraktion,
Volker Kauder. Er ist der einzige Fraktionsvorsitzende,
der dieser Debatte von Anfang bis Ende beiwohnt.
({1})
Als Abschlussredner ist es an mir, ein Stück weit auf
meine Vorredner einzugehen. Das will ich gerne tun.
Als Erstes zu Ihnen, lieber Herr Wieland: Sie haben
mir mit jedem Satz, den Sie hier gesagt haben, aus dem
Herzen gesprochen;
({2})
das wird Sie nicht überraschen. Aber vielleicht erlauben
Sie mir eine Frage. Denn es gibt eine Sache, die ich noch
nicht verstehen kann, nämlich wie angesichts der
schrecklichen Geschichte, die seit Hitler auf Deutschland lastet, ausgerechnet in der westdeutschen Linken,
ausgerechnet in den Kreisen, in denen man ein für alle
Mal mit solchen Dingen Schluss machen wollte, ein
Massenmörder wie Mao Zedong, eines der schlimmsten
Ungeheuer der neueren Menschheitsgeschichte,
({3})
zum Idol einer ganzen Jugendbewegung werden konnte.
Das verstehe ich bis heute nicht.
({4})
Die Frage muss beantwortet werden. Man muss meines
Erachtens auch einmal aufarbeiten, warum eine ganze
Reihe von Menschen aus Ihren Kreisen dieses Idol aufgebaut hat. Auch das gehört dazu.
({5})
Zweitens. Verehrter Herr Ehrmann, ich habe Ihnen
aufmerksam zugehört. Ich muss sagen: Ich fasse es
nicht, wie es möglich sein kann, dass Sie, der Sie das
Glück hatten, die DDR nicht am eigenen Leibe erleben
zu müssen, heute zum Kollegen Kurth sagen, er sei hier
selbstgerecht aufgetreten, obwohl er im Grunde nur von
seinen Erlebnissen berichtet hat und dabei selbstverständlich etwas leidenschaftlich und temperamentvoll
geworden ist.
({6})
Wissen Sie, wenn Sie sich in dieser Art und Weise als
Besserwisser von außen hinstellen, werden Sie in Ostdeutschland, jedenfalls unter denjenigen, die die DDRDiktatur abgelehnt haben, niemals Akzeptanz finden;
das ist der Punkt.
({7})
Meine Damen und Herren, hauptsächlich muss ich
mich natürlich mit den Beiträgen der Linken befassen.
({8})
- Selbstverständlich. - Herr Bartsch, Sie haben so eindrucksvoll gesagt, dass Sie eine Delegitimierung der
DDR ablehnen.
({9})
Ich sage für mich und für meine Fraktion: Wir haben
niemals, zu keinem Zeitpunkt, die Legitimitätsbeteuerungen der DDR akzeptiert.
({10})
- Ich gehe auf alle Vorwürfe ein. Sie können sich Ihre
Zwischenrufe sparen.
({11})
- Ja, dürfen können Sie alles, aber Sie können es sich
auch sparen, wenn Sie wollen. Das ist Ihnen anheimgestellt.
({12})
Herr Wieland hat eben den entscheidenden Satz von
Ulbrich genannt: Es muss alles schön demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. Das ist
aus dem Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder von
Wolfgang Leonhard. Hinter diesem Satz verbirgt sich:
Man nutzt die Demokratie, um sie abzuschaffen.
({13})
Das war von der ersten Minute an die Kernbestrebung
der DDR.
Sie haben gesagt, wir sollen vor unserer eigenen Tür
kehren. Die CDU, die LDPD etc. seien alles Blockparteien gewesen, sie hätten das Lied der DDR gesungen
usw. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Es ist richtig, dass
der Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration
vom 1. Juli 1945 gelautet hat, die alten bürgerlichen Parteien wiederherzustellen. Es gab Personen, die dieser
Einladung gefolgt sind und das geglaubt haben.
Einer derjenigen, die den Gründungsaufruf der CDU
unterschrieben haben, war Andreas Hermes; zu Hitlers
Zeiten zum Tode verurteilt, da vom Widerstand als
Landwirtschaftsminister auserkoren. Dieser Mann stellte
sich an die Spitze der CDU. Wissen Sie wie lange? Ein
Jahr! Dann kam die sowjetische Besatzungsmacht in
Kumpanei mit der SED und hat ihn erst einmal abgesetzt. Dann kamen Jakob Kaiser und Ernst Lemmer. Wie
lange haben sie die CDU geführt? Zwei Jahre! Dann passierte dasselbe. So hat die SED nicht locker gelassen, bis
die CDU gleichgeschaltet war. Die CDU ist Opfer und
nicht Täter gewesen.
({14})
Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Ich habe 1990
auch gedacht: Diese CDU ist viel zu nahe an der SED,
hier muss wirklich etwas verändert werden. Nachdem
ich in die CDU eingetreten bin, habe ich allerdings die
Schicksale derjenigen kennengelernt, die 1945 in dieser
CDU gelandet sind und über diese ganze Zeit versucht
haben, ihre Existenz zu retten.
({15})
Sie mussten aber mit ansehen, wie die CDU von oben
herab umgekrempelt wurde, und zwar von Ihnen.
({16})
Es ist nicht so, dass die CDU die SED gleichgeschaltet
hat, sondern die SED hat die CDU vergewaltigt und kaputtgemacht. Das war das Ziel.
({17})
Das ist das, was Sie unter Demokratie verstehen.
({18})
Kollege Vaatz, gestatten Sie eine Bemerkung oder
eine Frage des Kollegen Thierse?
Nein.
({0})
- Ich will noch gerne ein paar Bemerkungen machen.
Lieber Herr Bartsch, Sie haben uns bezichtigt, wir
wollten die DDR und das Hitler-Regime gleichsetzen.
Ich muss Sie auf eine Sache aufmerksam machen: Die
DDR und das Hitler-Regime gleichzusetzen hat hier niemals, in keiner Sekunde, jemand versucht.
({1})
Allerdings gibt es das Recht auf Vergleich mit dem Ziel,
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden
herauszuarbeiten.
Sie fragen sich, weshalb die DDR über lange Jahre relativ ruhig überlebt hat, weshalb die Menschen das immer akzeptiert haben, sich jedenfalls den Anschein gegeben haben. Eine Möglichkeit, um das herauszufinden, ist
in diesem Zusammenhang beispielsweise, einen Vergleich mit Norwegen anzustellen. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name Vidkun Quisling bekannt ist. Dieser Mann
hat bestimmt nicht dieselben Verbrechen wie Hitler begangen, man kann ihn nicht mit Hitler gleichsetzen - um
Gottes Willen. Aber das Schreckensregime, das er in
Norwegen aufgebaut hat, konnte auf dem Abschreckungspotenzial, das Hitler in Deutschland errichtet
hatte, aufbauen.
Oder lesen Sie das Buch von Jörg Baberowski Verbrannte Erde über den Stalinismus in der Sowjetunion.
Da lesen Sie, dass vor dem Krieg Quoten festgelegt wurden, wie viele Menschen ein Parteisekretär in seiner Region umbringen muss. Diese Praxis ist damals auch in
Deutschland nicht verborgen geblieben. Wer als Ausläufer eines solchen Terrorregimes regiert, der verschafft
sich selbstverständlich Respekt, aber nicht mit demokratischen Mitteln, sondern mit Angst und Schrecken. Und
das hat die SED gemacht.
({2})
Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu sagen, aber ich muss leider abbrechen. Zuvor, Frau Präsidentin, muss ich noch eine Kritik loswerden. Die betrifft
im Grunde das ganze Haus. Die Aufarbeitung der DDRVergangenheit darf sich nicht nur auf die Dimension der
Menschenrechte und auf die Dimension der Vergewaltigung der Demokratie beschränken. Wir haben noch
mehr aufzuarbeiten, so zum Beispiel das ganze Kapitel
des wirtschaftlichen Versagens, der Planwirtschaft. Denn
wir sind - das befürchte ich - in einigen Punkten genau
auf dem Weg, auf dem die DDR gescheitert ist.
({3})
Deshalb lohnt auch die Aufarbeitung des wirtschaftlichen Versagens der DDR.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12115 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme,
Josip Juratovic, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer ({0})
- Drucksache 17/9781 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 17/12782 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({2})
Nicole Bracht-Bendt
Cornelia Möhring
Monika Lazar
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus
Grübel, Ingrid Fischbach, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Nicole Bracht-Bendt, Miriam Gruß,
Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP
Entgeltgleichheit für Frauen und Männer verwirklichen - Familienfreundliche Unternehmen als Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter
- Drucksachen 17/12483, 17/12782 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({4})
Nicole Bracht-Bendt
Cornelia Möhring
Monika Lazar
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen verdienen mehr - Entgeltdiskriminierung von Frauen verhindern
- Drucksachen 17/8897, 17/12575 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({6})
- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der folgenden Beratung nicht teilnehmen können, ihre Gespräche doch bitte außerhalb des Plenums zu führen, damit
ich die Aussprache eröffnen kann.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Unionsfraktion
hat die Kollegin Nadine Schön das Wort.
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern, am 21. März, haben wieder zahlreiche Frauen und Männer am Brandenburger Tor eine
Kundgebung abgehalten. Eine Kundgebung, die dazu
diente, auf den nach wie vor vorhandenen Entgeltunterschied zwischen Männern und Frauen aufmerksam zu
machen. Dieser beträgt 22 Prozent. Wenn man die Teile
wegrechnet, die zu erklären sind, dann kommt man auf
Werte zwischen 2 Prozent und 7 Prozent.
Auch unsere Partei hat sich an dieser Kundgebung beteiligt. Ich will mich herzlich bei allen bedanken, die
gestern, aber auch schon in den Tagen und Wochen zuvor in ganz Deutschland auf diese Entgeltunterschiede in
eigenen Veranstaltungen, Kundgebungen und Diskussionsveranstaltungen aufmerksam gemacht haben.
Wir, die Koalitionsfraktionen, haben bereits zum
Weltfrauentag am 8. März einen Antrag vorgelegt, der
Nadine Schön ({0})
sich schwerpunktmäßig mit den Entgeltunterschieden
zwischen Männern und Frauen in Deutschland befasst.
Dabei haben wir aber im Gegensatz zu Ihnen nicht versucht, den Eindruck zu erwecken, man brauche nur ein
einziges Gesetz und schon wäre man den Kampf gegen
die Lohnlücke beherzt angegangen.
({1})
Leider ist die Wirklichkeit komplexer; denn der Entgeltlücke liegen zahlreiche Ursachen zugrunde. Alle muss
man angehen. Und das tun wir.
({2})
Durch den Ausbau der Kinderbetreuung und die Initiativen für familienfreundliche Arbeitszeiten sorgen wir
für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({3})
Dadurch werden die Auszeiten kürzer, die Teilzeitquote
wird geringer, und wer Vollzeit oder vollzeitnah arbeitet,
hat natürlich auch ein höheres Einkommen.
({4})
Wir werben mit zahlreichen Programmen und Projekten für mehr Frauen in technischen Berufen; denn mehr
Frauen in diesen Branchen bedeutet weniger Entgeltunterschiede.
Wir wollen, dass mehr Frauen in Führungspositionen
kommen.
({5})
Da gilt es schon einmal festzuhalten: Seit die CDU/
CSU-Frauen dieses Thema lautstark aufgegriffen haben,
hat sich in den Führungsetagen der deutschen Unternehmen einiges bewegt. Da ist wirklich Bewegung hineingekommen. Daran hat auch unser Engagement seinen
Anteil. Höhere Positionen bedeuten auch höhere Einkommen.
Das alles sind strukturelle Maßnahmen, die dazu beitragen werden, dass die Entgeltlücke kleiner werden
wird. Und es sind gute Maßnahmen; denn sie sind nachhaltig.
({6})
Nachhaltig heißt in der Konsequenz, dass sie sich auch
positiv auf die Rentenlücke auswirken. Denn die Entgeltlücke ist nicht das einzige Problem. Ein viel größeres
Problem, das in meinen Augen noch viel dramatischer
ist, ist die Rentenlücke. Sie liegt teilweise bei über
50 Prozent, und das ist wirklich dramatisch.
({7})
Deshalb sagen wir: Man muss gezielt etwas dafür tun,
dass Frauen sich eine eigene Altersvorsorge aufbauen
können.
Genau aus diesem Grund kämpfen wir auch dafür,
({8})
dass die Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben,
mehr Rentenpunkte bekommen.
({9})
Das ist ein wichtiger Punkt, liebe Kollegen von der Opposition. Zu diesem Thema habe ich von Ihnen noch nie
etwas gehört. Wir sind fest entschlossen, in der nächsten
Legislaturperiode dafür zu sorgen, dass die Frauen, die
vor 1992 Kinder bekommen haben, mehr Rentenpunkte
bekommen. Denn es ist nicht einzusehen, dass hier so
ein großer Unterschied gemacht wird.
Ich würde mich freuen, Sie würden uns bei diesen
ganz konkreten Vorschlägen unterstützen. Das würde
den Frauen mehr bringen als solche Placebogesetze wie
der Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben.
({10})
Außerdem haben wir durch den Bonus beim Betreuungsgeld nun die Möglichkeit, dass diejenigen, die ihr
Kind betreuen und deshalb ihre Berufstätigkeit reduzieren, mit 115 bzw. 165 Euro monatlich privat vorsorgen
können. Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Mehr als die
Hälfte der Frauen reduziert ihre Berufstätigkeit, wenn
das Kind noch im zweiten oder dritten Lebensjahr ist.
Diesen Frauen haben wir die ganze Zeit gesagt - Sie sagen es nach wie vor -: Da habt ihr halt Pech gehabt;
dann fehlen halt diese Punkte bei der Rente. - Genau das
wollen wir nicht. Deshalb haben wir beschlossen, dass
ab Sommer diese Frauen 115 bzw. 165 Euro für die private Altersvorsorge anlegen und somit einiges für die
Rente tun können.
({11})
Das ist gut; das ist richtig; das ist ein ganz wichtiger
Schritt beim Thema Entgeltungleichheit und Rentenlücke im Alter.
({12})
Sie, liebe Kollegen der Opposition, versuchen allerdings mit Ihren heute vorgelegten Gesetzentwürfen, den
Eindruck zu erwecken, man brauche nur ein kleines Gesetz zu machen und schon wären Rentenlücke und Entgeltlücke bekämpft. Ein Entgeltungleichheitsgesetz haben Sie vorgelegt. Ich dachte zunächst: Das ist vielleicht
ganz interessant; denn alles, was uns hilft, diese Lücke
zu bekämpfen, ist erst einmal gut. Aber wenn man sich
anschaut, was Sie genau vorschlagen, kriegt man wirklich das kalte Grausen.
({13})
Nadine Schön ({14})
Nach Ihren Vorstellungen sollen Unternehmen ab 15 Beschäftigten regelmäßig detailliert über ihre Lohnstrukturen Rechenschaft ablegen. Das heißt, alle Unternehmen
ab 15 Mitarbeitern müssen einen eigenen Bericht fertigen und die komplette Lohnstruktur ihres Unternehmens
offenlegen. Zum obersten Sittenwächter wird dann die
Antidiskriminierungsstelle. Sie soll prüfen, ob es in Tausenden von Betrieben gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit gibt.
In der Anhörung ist schon deutlich geworden, dass es
sehr schwer ist, gleichwertige Arbeit zu definieren.
({15})
Ihr Gesetzentwurf gibt auf diese Frage auch überhaupt
keine Antwort. Sie schreiben, die Antidiskriminierungsstelle soll das bewerten. Letzte Instanz soll nicht etwa
ein Gericht sein, sondern die Antidiskriminierungsstelle.
Sie soll als letzte Instanz darüber entscheiden, ob Unternehmen bestraft und Sanktionen verhängt werden. Auch
das wurde in der Anhörung kritisiert. Das alles zusammengenommen ist nicht nur rechtlich äußerst bedenklich, sondern es ist auch gar nicht umsetzbar.
({16})
Fakt ist: Was Sie vorschlagen, bringt eine ganze
Menge Bürokratie für die Unternehmen. Jedes Unternehmen ab 15 Mitarbeitern muss künftig Berichte fertigen. Seien wir ehrlich: Wer fertigt diese Berichte? Meistens die Frauen, die in den Büros sitzen. Sie dürfen das
noch zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit machen.
({17})
Das bringt nur Mehrbelastung. Es ist zugleich aber nicht
erwiesen, dass uns das beim Bekämpfen der Entgeltungleichheit auch nur einen Schritt weiterbringt.
Ich bin mir sicher, dass die Frauen in Deutschland
nicht auf dieses durchschaubare Manöver hereinfallen
werden. Das ist der Versuch, Ihren Spitzenkandidaten,
der offensichtlich einige Probleme mit Frauen hat, etwas
aufzuhübschen.
({18})
Er ist leider heute auch nicht anwesend. Das ist sehr
schade. Die Kehrtwende, die jetzt versucht wird, wird
aber nicht einmal von den eigenen Frauen aufgenommen. In der Presseberichterstattung der letzten Tage ist
nachzulesen, dass, als er das Thema auf einer Veranstaltung angesprochen hat und eine Frau kritisch nachgefragt hat, sie gefragt wurde, ob sie denn wirklich in der
richtigen Partei sei. - So geht man mit Kritik in Ihren
Reihen um. So geht man mit Frauen in Ihren Reihen um,
wenn sie einmal kritische Nachfragen stellen.
({19})
Das ist ein wirklich sehr durchschaubares Wahlkampfmanöver. Darauf werden die Frauen in diesem Land
nicht hereinfallen. Wir wollen gemeinsam erfolgreich
daran arbeiten, dass die Entgeltlücke kleiner wird und
vor allem auch die Rentenlücke im Alter kleiner wird.
({20})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Schön, Lesen hätte geholfen.
({0})
Über dem Gesetzentwurf steht nicht „Gesetz zur Entgeltungleichheit“, sondern „Engeltgleichheitsgesetz“; das
Gesetz soll nämlich zur Entgeltgleichheit führen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zehn Wochen bzw. 57 Arbeitstage innerhalb dieser zehn Wochen so lange müssen Frauen dieses Jahr länger arbeiten, um
auf den gleichen Lohn zu kommen wie die Männer. Bis
gestern, bis zum Equal Pay Day, waren alle erwerbstätigen Frauen in Deutschland allein damit beschäftigt, den
Lohnrückstand aus dem letzten Jahr aufzuholen. Ich
hoffe, dass wir uns bei allen Unterschieden wenigstens
über eines einig sind: Jeder Tag dieser zehn Wochen ist
einer zu viel, und deshalb muss das aufhören.
({1})
Wenn wir uns darüber einig sind, dann müssen wir auch
etwas tun. Lamentieren allein - das stellen wir gelegentlich auch auf anderen Feldern fest - hilft nicht. In den
letzten Jahren hat sich nur leider kaum etwas bewegt.
Sie haben es zitiert, allerdings falsch ausgewertet: Immer noch verdienen erwerbstätige Frauen 22 Prozent
weniger Lohn als die Männer. Das sind pro Stunde immerhin 4 Euro weniger Lohn. Damit sind wir europaweit
Schlusslicht bei der Entgeltgleichheit. Das darf doch
nicht so bleiben.
({2})
Es geht hier nicht um die Probleme Einzelner. Schuld
sind nicht die Frauen, die - das liest man gelegentlich bei Lohnverhandlungen entweder zu bescheiden sind
oder nicht genügend streng verhandeln können. Die
Lohnlücke zwischen Männern und Frauen - das wissen
wir doch alle - ist kein individuelles Problem. Da gibt es
systematische Benachteiligungen:
Erstens werden typische Frauenberufe nach wie vor
schlechter vergütet als klassische Männerberufe, obwohl
verdammt noch mal in der Altenpflege viel und hart gearbeitet wird.
({3})
Zweitens sind es eben vor allen Dingen Frauen, die
die Erwerbstätigkeit gelegentlich unterbrechen, entweder um die Kinder zu erziehen oder um die Pflege von
Angehörigen zu leisten. Je länger die Auszeit ist - auch
das zeigt die Erfahrung -, desto höher sind anschließend
die Einbußen beim Lohn.
Drittens sitzen Frauen zu oft in der Teilzeitfalle.
Viertens sind die Führungsetagen immer noch Männerdomänen.
Und selbst da, wo es Frauen geschafft haben, gleiche
Tätigkeiten auszuüben, ist bei gleicher Qualifikation und
gleicher Tätigkeit immer noch schlechterer Lohn für die
Frauen an der Tagesordnung. Wenn wir nichts tun, dann
wird das so bleiben, und genau das darf nicht sein.
({4})
Nun ist das keine völlig neue Diagnose. Diese Diagnose liegt schon länger auf dem Tisch. Aber nicht nur
das: Auch Rezepte liegen schon länger auf dem Tisch,
zum Beispiel der Entwurf eines Gesetzes für mehr
Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen,
({5})
zum Beispiel der Entwurf eines Gesetzes für den Ausbau
von Kindertagesstätten. Zu all dem haben wir Vorschläge
unterbreitet. Hinzu kommt der Vorschlag, den wir Ihnen
heute unterbreiten, der Entwurf eines Entgeltgleichheitsgesetzes. Das Traurige ist: Nichts von dem können wir
mit dieser Regierung machen. Alles, was Ihnen in letzter
Zeit eingefallen ist, ist ein Betreuungsgeld, das mehr Probleme schafft als beseitigt. Das ist aus meiner Sicht - lassen Sie es mich einmal so sagen - eine zynische Antwort
für Frauen, die arbeiten müssen und verzweifelt nach einem Kitaplatz suchen. Das ist bildungspolitisch eine Katastrophe, es ist familienpolitisch falsch, und es ist zynisch. Deshalb ist das die falsche Antwort für Familien,
die falsche Antwort für Kinder und erst recht die falsche
Antwort für Frauen.
({6})
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das war schon die
Forderung der ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik. Ich weiß nicht, ob die sich hätten träumen lassen, dass wir 90 Jahre später noch immer über
dasselbe Thema, noch immer über dasselbe Problem,
noch immer über Lohnungleichheit in dieser Dimension
reden.
({7})
Weil das so ist, weil wir noch immer darüber reden
und das Reden nichts geholfen hat, brauchen wir eine
gesetzliche Regelung. Appelle allein - das haben wir gesehen - sind nicht geeignet, um die Welt zu verändern.
Die Verantwortlichen sowohl in den Unternehmen als
auch, wie ich glaube, die Tarifpartner brauchen einen gesetzlichen Rahmen, in dem Lohndiskriminierung zunächst einmal offengelegt wird, um sie dann zu beseitigen. Nur so erreichen wir - davon bin ich überzeugt endlich unser Ziel. Das Ziel ist, dass der Equal Pay Day
nicht irgendwann Mitte März, sondern in Zukunft am
1. Januar stattfindet. Darum geht es.
({8})
Die FDP äußert sich zu diesen Dingen überhaupt
nicht; das hat sie auch am Brandenburger Tor nicht getan.
({9})
Die CDU/CSU war, wie in den vergangenen Jahren,
auch diesmal vertreten. Deshalb sage ich an die Union
gerichtet: Wenn auch Sie der Meinung sind, dass die
Lohnunterschiede überholt sind und dass man etwas machen muss, dann machen Sie bitte in Zukunft keine falschen Versprechungen am Brandenburger Tor, sondern
zeigen Sie, dass Sie Kreuz haben, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Nicole Bracht-Bendt.
Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr
Steinmeier, wir waren nicht am Brandenburger Tor, aber
wir waren am Hauptbahnhof und intensiv im Gespräch
mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes.
({0})
Zweitens frage ich mich, was Sie denn in den vergangenen Jahren gemacht haben. Sie hatten doch die Möglichkeit, einen Gesetzentwurf dazu vorzulegen, aber Sie
haben nicht gehandelt.
({1})
Männer und Frauen arbeiten auf Augenhöhe: Das ist
in der FDP-Fraktion das Leitmotto.
({2})
- Hören Sie zu! - Das war auch gestern bei unserer Aktion am Hauptbahnhof zum Equal Pay Day so. Wir alle
wissen, dass es immer noch Defizite bei der Entgeltgleichheit gibt. Der im Grundgesetz verankerte Art. 3
Abs. 2 und 3, wonach niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf, ist immer noch nicht überall umgesetzt. Das ist bedauerlich.
Wenn Männer und Frauen unterschiedlich hohe Gehälter bekommen - das haben auch Sie, Herr Steinmeier,
angesprochen -, obwohl sie die gleiche Qualifikation
und Berufserfahrung haben, besteht Handlungsbedarf.
({3})
Das steht für uns außer Frage.
Wir sollten aber endlich mit der leidigen Geschlechterkampfdebatte aufhören.
({4})
Ich halte es für unredlich, wenn neue Zahlen über die
Verdienste von Frauen und Männern veröffentlicht werden und jedes Mal so getan wird, als würden Frauen in
Deutschland generell bei gleicher Qualifikation und Berufserfahrung 22 Prozent weniger als ihre männlichen
Kollegen aufs Gehaltskonto überwiesen bekommen.
({5})
Das ist eine reine Irreführung und Stimmungsmache, die
skandalös ist.
({6})
Fakt ist: Den größten Anteil an der Gehaltslücke haben die Erwerbsunterbrechungen. Eine Frau, die sich
nach der Geburt eines Kindes dafür entscheidet, einige
Jahre zu pausieren, um sich ausschließlich ihrem Kind
oder mehreren Kleinkindern zu widmen, tut dies aus
freien Stücken. Hier hat sich der Staat herauszuhalten.
({7})
Wir sollten auch mit dem Märchen von den ach so
schlimmen Minijobs aufhören. Die Minijobs sind nicht
per se schlecht.
({8})
- Hören Sie zu! - Problematisch wird es, wenn die Frau
zu lange zu Hause bleibt. Längere familienbedingte Auszeiten bremsen häufig die Karriere von Frauen aus.
Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft machen
allein familienbedingte Erwerbsunterbrechung und Teilzeitarbeit 56 Prozent des Lohnunterschiedes aus. Ziel
muss sein, die Babypause möglichst kurz zu halten. Jeder Monat länger weg vom Beruf oder ein Teilzeitjob
machen es Frauen schwerer, im Aufstiegswettbewerb
Erfolg zu haben.
({9})
Dass die SPD-Fraktion reflexartig sagt, dass ein Gesetz hermuss, überrascht uns nicht mehr. Denn die SPDFraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert in unserem
Lande nichts. Ich denke, wir beweisen das Gegenteil.
Das ist eben der elementare Unterschied zwischen Ihnen
und uns.
({10})
Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz käme auf die Unternehmen ein neues Bürokratiemonster zu. Mit Bürokratieabbau, den wir immer anstreben, hat das wahrlich
nichts zu tun.
Was mich ehrlich verblüfft, ist, dass die Gewerkschaften die Füße so still halten. Sie sind es doch, die zusammen mit den Arbeitgebern am Tisch sitzen und ihre Unterschrift unter Tarifverträge setzen.
({11})
Wenn wir über ungerechte Lohnlücken reden, ist es
Quatsch, die Tarifautonomie auszuhebeln. Hier sind die
Gewerkschaften in der Pflicht, sich für die Rechte und
Interessen der Frauen einzusetzen.
({12})
Ein anderes Thema sind die sogenannten traditionellen Frauenberufe. Sie werden ja bekanntlich meistens
schlechter besoldet als traditionelle Männerberufe. Wir
sollten darüber reden, warum das so ist. Auch hier vermisse ich eine klare Ansage der Gewerkschaften.
Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten
festgestellt:
({13})
Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und handeln. Wir
sind dabei. Wir tun dies.
({14})
Der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP
({15})
hat die Verwirklichung der Entgeltgleichheit mit Blick
auf die Ursachen in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft, den Tarifpartnern, Frauen- und Wirtschaftsverbänden zum Gegenstand.
({16})
Für uns Liberale ist Transparenz - ich wiederhole es die zentrale Herausforderung. Unternehmen, in denen
Mitarbeiterinnen für gleiche Leistung und bei gleicher
Qualifikation weniger Gehalt bekommen als die Mitarbeiter, werden spätestens dann, wenn der Fachkräftemangel richtig losgeht, den Kürzeren ziehen.
Es ist ja auch nicht so, dass die Bundesregierung in
Sachen Entgeltgleichheit noch nichts unternommen hat.
({17})
Das Lohntestverfahren Logib-D und das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“ gewährleisten auf der
einen Seite rechtliche Grundlagen, um Entgeltgleichheit
durchzusetzen. Auf der anderen Seite werden die Öffentlichkeit, die Unternehmen und die Tarifpartner aktiv in
die Strategie eingebunden.
({18})
Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir also die
Ursachen im Blick behalten:
Erstens. Frauen sind in Berufszweigen, in denen es
nur geringe Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsentiert.
({19})
Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe
auf einem unteren Einkommensniveau.
({20})
Eine Diplompädagogin verdient heute durchschnittlich
2 500 Euro im Monat, während schon das Einstiegsgehalt eines Absolventen eines Studienganges für Umwelttechnik oder Maschinenbau 1 000 Euro darüber liegt.
({21})
Die Berufswahl ist immer noch eines der entscheidenden
Kriterien für die Gehaltsentwicklung.
Wir können und wollen Frauen nicht dazu zwingen,
sich beruflich anders zu orientieren und statt Philosophie
oder Pädagogik besser Mathematik oder Ingenieurswissenschaften zu studieren.
({22})
Wir müssen aber dafür sorgen - vielleicht hören Sie auch
einmal zu -, dass junge Frauen wissen, dass die Berufswahl für die Karrieremöglichkeiten und das spätere Einkommen ausschlaggebend sein kann.
({23})
- Ja, Mindestlohn; nur diese Antwort kommt für Sie ja
infrage.
Die dritte Ursache ist bekannt - aber ich wiederhole
sie, weil ich sie für ursächlich und für die gravierendste
halte -:
({24})
Je länger die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg.
({25})
Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarmachen: Die Lohnlücke, die während der Familienphase
entsteht, kann nicht mehr geschlossen werden. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch auch
weniger Rente.
Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz:
({26})
Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe.
({27})
Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbstverständlich sein. Auch wenn Sie es nicht hören wollen:
Wir wollen dasselbe wie Sie, nur ohne Gesetz.
({28})
Politik, Unternehmen und Frauen müssen gemeinsam
an einem Strang ziehen. Ein weiteres Gesetz, wie es die
SPD plant, ist aus Sicht der FDP-Fraktion, wie Sie sich
denken können, nicht der richtige Weg. Deshalb werden
wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
({29})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die
Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze. Bitte schön,
Frau Kollegin Diana Golze.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der
gestrige Equal Pay Day markierte eine der größten Ungerechtigkeiten, die es in diesem Land gibt. Denn gestern - das wurde bereits angesprochen - endete die Zeitspanne, die Frauen im Jahr 2013 länger arbeiten
mussten, um genauso viel zu verdienen, wie der Durchschnittslohn eines Mannes im Jahr 2012 betrug. Für die
gleiche Bezahlung 80 Tage länger arbeiten müssen,
80 Tage für lau arbeiten müssen, das ist eine riesige Ungerechtigkeit und ein Beweis für den Unwillen zu politischem Handeln.
({0})
Häufig heißt es - dieser Gedanke hat in dieser Debatte schon eine Rolle gespielt -, die Entgeltungleichheit
liege daran, dass Frauen eben schlechter bezahlte Berufe
ergriffen. Das ist ein Satz, der schnell dahingesagt ist
und den viele aus ihren Alltagserfahrungen heraus vielleicht bestätigen würden. Aber dieser Satz ist gefährlich,
in mehrerlei Hinsicht:
Zum einen verschleiert er, dass Frauen auch in den
sogenannten Männerberufen schlechter bezahlt werden
als ihre männlichen Kollegen,
({1})
dass selbst nach Berücksichtigung von Teilzeitbeschäftigung und Babypausen immer noch eine Lohnlücke
bleibt.
Zum anderen macht eine solche Aussage die Frauen
zu Anwältinnen in eigener Sache, ohne dass sie etwas an
den Ursachen ändern könnten. Mit der Zuweisung der
Verantwortung für schlechtere Bezahlung an die Frauen
selbst stiehlt sich die Politik, stiehlt sich die Gesellschaft
aus der eigenen Verantwortung.
({2})
Die Politik hat damit einen schönen Vorwand dafür, weshalb sie die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen
nicht ergreift, und in der Öffentlichkeit wird dieser Missstand als individuelles Problem und nicht als gesellschaftliche Ungerechtigkeit wahrgenommen.
Es ist aber kein individuelles Problem, wenn Gehaltseinstufungen von Arbeitgebern intransparent vorgenommen werden. Es ist kein individuelles Problem,
wenn Lücken in der Erwerbsbiografie, die durch Erziehungszeiten oder das Muttersein an sich entstanden sind,
als nicht kalkulierbares Ausfallkriterium eingeschätzt
werden. Es ist auch kein individuelles Problem, wenn
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Arbeitswelt immer mehr Flexibilität gefordert wird, was
ein Familienleben fast unmöglich macht.
Nein, meine Damen und Herren, es ist ein riesengroßes gesellschaftliches Problem, wenn die sogenannten
Frauenberufe - die Berufe der Alten- und Krankenpflegerinnen, der Friseurinnen, der Frauen im Gesundheitswesen, der Grundschullehrerinnen, der Erzieherinnen in
der Kita - die schlecht bezahlten Berufe sind.
Solange der Beruf der Erzieherin ein reiner Frauenberuf war, hat sich für dessen schlechte Bezahlung kaum
jemand interessiert. Nun aber, da unsere Ministerin für
Frauen, Kristina Schröder, gern auch mehr Männer in
die Kitas locken möchte, kommt das Thema Bezahlung
ganz plötzlich auf den Tisch.
({3})
Insofern finde ich es schade, Frau Ministerin, dass Sie
sich in dieser Debatte heute gar nicht zu Wort gemeldet
haben.
({4})
Ich frage Sie, liebe Damen und Herren: Wer hat das
Recht, die Arbeit dieser Frauen durch eine schlechtere
Bezahlung derart herabzuwürdigen?
({5})
Und wer hat das Recht, auch noch mit dem Finger auf
die Frauen zu zeigen und ihnen vorzuhalten: „Hättet ihr
einen Männerberuf gewählt! Dann hättet ihr das Problem
nicht“? Niemand hat dieses Recht!
({6})
Was tun die Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen, um die Einkommenssituation der Frauen zu
verbessern? Schauen wir einmal auf den gestrigen Tag
zurück: Bei der Aktion des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor dem Brandenburger Tor, Frau Bracht-Bendt,
war die FDP weder mit einem Stand noch mit einer Rednerin vertreten.
({7})
- Ich habe Ihnen zugehört: Sie waren am Hauptbahnhof;
zu welchem Thema, haben Sie uns nicht verraten.
({8})
Es ist zumindest konsequent, dass man sich, wenn man
nichts zu sagen hat, an solchen Aktionen auch nicht beteiligt.
({9})
Zu diesem Entschluss konnte sich die CDU/CSU leider nicht durchringen. Im Gegenteil, sie hatte sogar eine
besonders tolle Idee. Sie ist mit Plakaten gekommen, auf
denen die bahnbrechende Ankündigung „Mütterrente
kommt!“ zu lesen war.
({10})
Respekt! Derart am Thema vorbei zu plakatieren, das
muss man erst einmal hinbekommen.
({11})
Einmal ganz davon abgesehen, dass Sie einem diesbezüglichen Antrag meiner Fraktion gerade erst nicht zugestimmt haben, ist festzuhalten: Es ging gestern um die
ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern im Berufsleben. Sie haben also das Thema verfehlt.
So verwundert es mich auch nicht, dass es keinen entsprechenden Gesetzentwurf der Regierung gibt. Warum
sollten Sie sich auch in persönliche Aushandlungsprozesse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebern einmischen? Warum sollten Sie auch politische Verantwortung
für individuelle Probleme von Frauen übernehmen? Ich
sage Ihnen, warum: Weil es Ihre Pflicht und Schuldigkeit
als Regierung wäre.
Könnten Sie nach der Ablehnung einer Frauenquote
für Führungspositionen, nach dem Festhalten am Ehegattensplitting, nach der Einführung des Betreuungsgeldes nicht wenigstens einmal so tun, als wenn die Gleichstellung der Geschlechter für Sie ein Thema wäre?
({12})
Werte Kolleginnen und Kollegen, der Handlungsbedarf für die Politik liegt auf der Hand. Ich möchte nur
drei Beispiele nennen:
Erstens. Wir brauchen gesetzliche Regelungen zur
Durchsetzung der Entgeltgleichheit. Unternehmen müssen verpflichtet werden, ihre Entgeltpraxis geschlechtergerecht zu gestalten, und dies muss für alle Beschäftigten transparent erfolgen.
({13})
Zweitens. Ja, wir brauchen endlich - Frau BrachtBendt wartet ja schon darauf, dass ich es sage - einen
gesetzlichen Mindestlohn als Lohnuntergrenze,
({14})
weil besonders Frauen von Dumpinglöhnen betroffen
sind und sie gerade deshalb von einem Mindestlohn am
meisten profitieren würden.
({15})
Drittens. Auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Rückkehr aus Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigung teilen wir. Er gehört dazu, damit Frauen ihre Arbeitszeit nach einer familienbedingten Reduzierung
wieder aufstocken können. Die Frauenministerin hat diesen Rechtsanspruch beim Familiengipfel vor wenigen
Tagen angesprochen und geäußert, sie würde sich dafür
einsetzen. Dieser Ankündigung müssen nun aber auch
Taten folgen.
({16})
Verehrte Damen und Herren, auf dem Weg zu wirklicher Gleichberechtigung der Geschlechter gibt es viel zu
tun. Solange die Mehrheit dieses Hauses ihre Verweigerungshaltung aber leider nicht aufgibt, bleibt der Weg für
viele Frauen eine Sackgasse.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Katrin GöringEckardt. Bitte schön, Frau Kollegin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt die aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes,
die sagt, Frauen verdienen im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Vor kurzem - so steht es auch noch in
unserem Antrag - waren es noch 23 Prozent. Die Regierung sagt an einer solchen Stelle dann gerne: Wir sind
auf einem guten Weg; das ist ein großer Schritt voran.
({0})
Aber Spaß beiseite. Tatsache ist: Deutschland liegt in
der EU ganz am Ende, was die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern angeht. Das ist ein Skandal,
und es zeigt übrigens auch, dass es nicht an den Frauen
liegt, sondern an der Struktur: an fehlender Gesetzlichkeit und an falschen Vereinbarungen.
({1})
Frau Schön, wenn man sich das, was Sie hier gesagt
haben, im Protokoll noch einmal anschaut, dann liest
man: wir wollen, wir wollen, wir wollen, wir kämpfen
für. - Meine Güte! Wer regiert hier eigentlich? Sie regieren doch! Sie hätten das doch längst tun können! Sie
müssen nicht wollen, Sie müssen machen!
({2})
Frau Bracht-Bendt, ich finde es in besonderer Weise
doppelt diskriminierend, wenn Sie sich hier hinstellen
und sagen: Die Frauen sind doch selber schuld. Sie ergreifen einfach die falschen Berufe. - Nein, die Frauen
sind nicht selber schuld. Die Politik hat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es Entgeltgleichheit gibt; sie
darf diese Verantwortung nicht den Frauen zuschieben,
die dann doppelt gestraft sind.
({3})
Über die Gründe der Lohndiskriminierung ist schon
viel geredet worden. Selbstverständlich sind die familienbedingten Erwerbsunterbrechungen der Hauptgrund. Das Stichwort „Gläserne Decke“ gehört dazu.
Das ist ein ganz entscheidender Faktor.
Hinzu kommt natürlich auch die Alltagsdiskriminierung, nach dem Motto: Frauen können es eben nicht so
gut wie Männer. - Danach wird in vielen Betrieben nach
wie vor verfahren. Das ist eine plumpe Diskriminierung.
Es ist richtig: Hier brauchen wir eine andere Unternehmenskultur.
Meist ist es aber noch viel subtiler. Die Krankenschwester verdient weniger als der Müllmann, die Erzieherin verdient weniger als der Automechaniker. Die Erzieherin in Mecklenburg-Vorpommern verdient unter
7 Euro pro Stunde. Das hat mit Respekt überhaupt nichts
mehr zu tun. Gleichwertige Arbeit muss endlich gleich
bezahlt werden.
({4})
Wir müssen darauf achten, welches Signal wir hier
setzen. Wir reden über demografische Entwicklung, über
Pflegenotstand und über einen drastischen Mangel an
Erzieherinnen und Erziehern. Es ist absurd, zu glauben,
das würde sich irgendwie regeln, solange diese Berufe in
Deutschland nicht endlich besser bezahlt werden. Dafür
haben wir als Politiker eine Verantwortung.
({5})
Ich finde, man muss sich auch noch einmal genau angucken, was Angela Merkel und ihre Koalition machen.
Das alles ist eine Als-ob-Politik nach dem Motto: eine
freiwillige Verpflichtung, eine freiwillige Selbstverpflichtung, auf der Basis der Freiwilligkeit. Die von dieser Regierung gern bemühte Freiwilligkeit ist ein Codewort für nur eines: abwarten und nichts tun. - Die
Geduld der Frauen in diesem Land ist am Ende. Sie verdienen endlich mehr Geld statt irgendwelcher warmer
Worte hier.
({6})
Deswegen ist es notwendig, dass wir das Gesetz zur
Entgeltgleichheit bekommen. Deswegen ist es notwendig, dass es klare Sanktionen und klare Pflichten zur
Überprüfung und zur Beseitigung der Diskriminierung
gibt. Wir wollen ein Gesetz für Lohngleichheit mit verbindlicher Durchsetzung und wirklichen Sanktionen.
Wir brauchen endlich eine verbindliche Regelung statt
irgendwelches Gerede. Dafür werden wir auch kämpfen.
({7})
Natürlich brauchen wir andere Rahmenbedingungen.
Ja, wir brauchen den Mindestlohn. Wir sollten uns hier
nicht hinstellen und so tun, als ob die Teilzeitarbeit die
Falle wäre. Nein, Frauen verdienen auch in Teilzeit weniger als Männer.
({8})
Das ist doch absurd. Ja, wenn man über den Gender Pay
Gap redet, darf man auch über den Gender Pension Gap
nicht schweigen. Wenn Sie von Mütterrente und von Lebensleistungsrente reden, haben Sie genau die Frauen,
die es betrifft, nicht im Blick.
({9})
Sie machen nichts anderes, als jahrzehntelang ein falsches Familienmodell zu subventionieren und hinterher
erschreckt zu sagen: Meine Güte, das könnte für die
Mütter im Alter finanziell eng werden. - Nein, das ist
falsch. Altersarmut wird auch mit Ihren Vorschlägen
weiblich bleiben. Deswegen braucht es hier eine andere
Lösung, eine echte Garantierente, mit der die Altersarmut von Frauen wirklich bekämpft wird. Das, was bei
Ihrem Koalitionsgeschwurbel am Ende herausgekommen ist, kann vielleicht für Sie gut sein, damit endlich
Ruhe herrscht; aber es ist nicht gut für die Frauen, denen
Altersarmut droht.
({10})
Zum Schluss: Ja, Frauen bekommen schlechtere Gehälter, auch im gleichen Job. Ja, Frauen wechseln ihre
Jobs nicht so oft wie Männer. Wenn sie es endlich geschafft haben, die Kitaöffnungszeiten, die Arztsprechstunden, den Klavierunterricht und das Fußballtraining
mit dem eigenen Job zusammenzubringen, dann werden
sie nicht dauernd von einem Job zum anderen wechseln.
Auch das führt dazu, dass sie weniger verdienen.
Frauen machen übrigens auch weniger Fortbildung in
Deutschland. Warum? Weil sie sie seltener vom Arbeitgeber bezahlt bekommen als Männer, nicht etwa, weil
sie sagen, sie hätten dafür keine Zeit. Ja, es bleibt absurd, dass beim Müllmann die körperliche Belastung
zählt und bei den Pflegekräften eben nicht. Ja, es bleibt
absurd, dass wir keine vernünftigen Rahmenbedingungen dafür haben, dass Frauen tatsächlich wieder in den
Beruf zurückkehren und Vollzeit arbeiten können. Solange Sie auch nur 1 Euro für das sinnlose Betreuungsgeld ausgeben, tun Sie nichts dafür, dass sich an der Situation der Frauen etwas ändert.
({11})
Man muss ganz einfach sagen: An einem Tag im Jahr
geht es um Equal Pay. Eigentlich müsste an 365 Tagen
im Jahr in dieser Frage politisch aktiv gehandelt werden.
Die notwendige gesellschaftliche Debatte gehört dazu.
Aber es gehört eben auch ganz knallharte Politik dazu.
Vor allem ist es aber absurd, nur noch einen Tag länger
anzunehmen, mit dieser Regierung würde sich zum
Wohl der Frauen irgendetwas ändern.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Elisabeth
Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in der Tat in vielen Punkten einig.
Herr Steinmeier, dass im Schnitt Frauen fast drei Monate
länger arbeiten müssen als Männer, um so viel zu verdieElisabeth Winkelmeier-Becker
nen wie das, was Männer schon am Silvesterabend in der
Kasse haben, ist empörend und ungerecht. Es ist klar,
dass das ein wichtiges Handlungsfeld der Politik sein
muss.
Es sind viele Punkte angesprochen worden, die in
dem Ursachengeflecht eine Rolle spielen. Auch die Anhörung hat da keine wirklich große Überraschung gebracht. Die Zusammenhänge, die dort dargestellt wurden, waren bekannt: Erwerbsunterbrechungen wegen
familiärer Sorgearbeit, Reduzierung der Arbeitszeit,
Teilzeit, Minijobs, die Rollenklischees, das Berufswahlverhalten. All diese Themen kennen wir seit langem,
auch in ihrem Zusammenspiel. Es zeigt, dass die Ausganssituation sehr schwierig ist.
Ich möchte drei Sätze dazu sagen, wie es dazu gekommen ist. Die Bundesrepublik hat einfach mit einem
- in Anführungszeichen - „normalen“ Familienbild begonnen, das sich über die Jahrzehnte etabliert hat. Darum herum haben sich das Steuerrecht und das Bildungssystem entwickelt. In diesem Modell haben Frauen nur
dazuverdient. Das wurde damals gar nicht als Defizit
empfunden. Das sehen wir heute natürlich ganz anders.
Das ist heute so nicht mehr denkbar. Da haben sich die
Situation, die Erwartungshaltung und auch die - berechtigten - Ansprüche der Frauen deutlich verändert.
Der Verweis auf die historische Entwicklung macht
das Ergebnis, mit dem wir heute konfrontiert sind, nicht
erträglicher, sondern ist als Aufforderung zu verstehen,
uns dieser großen Aufgabe zu stellen.
({0})
Es handelt sich wirklich um eine große Aufgabe. Ich
habe nicht die Hoffnung, dass sie sich mit einem auf Betriebe beschränkten Entgeltgleichheitsgesetz wuppen
lässt.
Ich habe noch eine Bitte. Wir sollten die Diskussion
nicht so führen, dass sich diejenigen, die das beschriebene Modell gelebt haben, diskriminiert oder in ihrer Arbeit nicht gewürdigt fühlen. Viele Frauen hatten damals
keine andere Wahl. Sie haben eine tolle Arbeit geleistet,
haben ihre Familien gut versorgt und Kinder erzogen.
Aber am Ende sehen sie sich mit dem Gender Pension
Gap konfrontiert. In der Tat sollten wir hier etwas tun.
Die Anerkennung von Erziehungszeiten kann ein Element sein. Damit sind an dieser Stelle sicherlich nicht
alle Probleme gelöst. Aber so kann durchaus ein relevanter Beitrag geleistet werden.
Ich kann nicht auf alle Punkte eingehen, die anzusprechen wären. Ich möchte aber auf den Zusammenhang
zwischen Berufsunterbrechung und der Entwicklung von
Berufschancen eingehen. Ich möchte ausdrücklich sagen: Es geht mir nicht nur um Berufschancen, sondern
auch um Karrierechancen. Das ist ein Unterschied. Die
Frauen wollen nicht nur in den Beruf zurückkehren, sondern sie wollen auch dort wieder anknüpfen, wo diejenigen stehen, mit denen sie zusammen im Beruf begonnen
haben und die keine Unterbrechung hatten. Das ist der
Anspruch.
Die Grünen verweisen in ihrem Antrag zu Recht darauf: Wird die Erwerbstätigkeit wegen Familienarbeit
unterbrochen oder reduziert, hat das Einkommenseinbußen zur Folge, die später nicht wieder auszugleichen
sind. - Das stimmt und ist erschütternd. In der Anhörung
wurde das sogar näher beziffert. Wer ein Jahr aussetzt,
hat im Durchschnitt 4,8 Prozent weniger Lohn pro Jahr
zu erwarten und wird damit sogar mehr abgestraft als jemand, der ein Jahr wegen Arbeitslosigkeit aussetzt. Dass
das so ist, hat mich sehr erschüttert.
Deshalb ist klar: Alles, was die Rückkehr in den Beruf sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert, ist gut und entspricht im Übrigen auch den Erwartungen, die die Arbeitgeber vor dem Hintergrund des
Fachkräftemangels formulieren. Die Möglichkeiten für
Frauen, in den Beruf zurückzukehren, sind also eigentlich ganz gut, sofern sie denn Kinderbetreuungsmöglichkeiten haben.
Man muss das aber auch aus einer anderen Perspektive sehen. Ich weiß aufgrund meiner eigenen Lebenserfahrung - das lässt sich auch im Gleichstellungsbericht
und im Achten Familienbericht finden -, dass es immer
wieder einmal Phasen gibt, in denen beide Elternteile
nicht durchgängig Vollzeit arbeiten können. Ich selbst
habe drei Kinder. Als diese null, drei und viereinhalb
Jahre alt waren, habe ich mir eine komplette Auszeit von
zwei Jahren genommen. Es wäre nicht zielführend gewesen und hätte auch nicht der Lebensqualität genutzt,
wenn auch ich damals Vollzeit gearbeitet hätte. Es war
schon kompliziert genug, als ich zwei Jahre später wieder angefangen habe.
Wir müssen dafür sorgen, dass es jederzeit möglich
ist, einmal eine begrenzte Zeit auszusetzen, ohne dabei
den Anspruch zu verlieren, beim beruflichen Wiedereinstieg dort anzuknüpfen, wo man ohne die Unterbrechung
wäre.
({1})
Um es vielleicht noch anschaulicher zu machen: Ich
finde, man muss beispielsweise im Alter von 30 Jahren
einmal zwei Jahre aussetzen und trotzdem mit 50 oder
auch mit 40 Jahren Führungspositionen bekleiden können. Die berufliche Entwicklung sollte jedenfalls altersgerecht und ohne den nachhängenden Nachteil einer
Kindererziehungsphase verlaufen. Auch das müssen wir
berücksichtigen.
({2})
Dazu gehört, dass Familienarbeit und die dabei erworbenen Kompetenzen besser gewürdigt werden. Das
heißt, wir brauchen eine gezielte Förderung beim beruflichen Wiedereinstieg. Für mich gehört dazu auch - das
ist sicherlich keine Neuigkeit - eine verbindliche Zielquote in der Frauenförderung, gerade wenn es um Führungspositionen geht. Denn das kann das Vertrauen in
die Überzeugung stärken, dass man ruhig einmal eine
Auszeit nehmen kann, wenn sie zur eigenen Life Work
Balance gehört, ohne Karrierechancen zu verlieren.
Jetzt wollen Sie sicherlich wissen, warum wir Ihren
Antrag ablehnen.
({3})
- Das fällt mir nicht schwer zu sagen.
Ein Punkt stört mich wirklich. Ich finde, dass das
Ehegattensplitting - auch wenn diese Phasen nicht ein
ganzes Leben lang oder 15 Jahre dauern, sondern vielleicht nur 2 oder 3 Jahre - die angemessene steuerliche
Behandlung darstellt. Wer in dieser Zeit Alleinverdiener
ist, während der Partner mit den Kindern zu Hause ist,
darf steuerlich nicht so veranlagt werden, als hätte er das
Geld für sich alleine. Es muss vielmehr steuerlich anerkannt werden, dass er sein Geld mit dem anderen Partner
teilt.
Mich hat nie das Argument überzeugt, dass das Ehegattensplitting der große Hemmschuh bei dem Wiedereinstieg in den Beruf sein soll.
({4})
Wenn wir ordentliche Stellen und eine ordentliche Betreuung haben, dann ist für den Wiedereinstieg das Splitting kein Hemmschuh. Denn das zusätzliche Einkommen wird immer den größeren Effekt haben als der
Vorteil durch das Splitting.
({5})
- Nein, die Einkommensunterschiede werden nicht honoriert, sondern im Steuerrecht wird nur der Nachteil
ausgeglichen,
({6})
sodass man sich nicht schlechter steht als das Paar, das
gleiche Einkommen hat.
({7})
Sie sehen auf die Uhr, Frau Kollegin?
Ja. - Ich wünsche mir, dass wir noch viele Equal Pay
Days im Schnee feiern, aber dass das nicht an einem außergewöhnlich kalten März liegt, sondern daran, dass
wir demnächst den Equal Pay Day im Januar, am liebsten an Neujahr, feiern können.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der SPD unsere Kollegin Elke Ferner. Bitte schön,
Frau Kollegin Elke Ferner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss wirklich sagen: Die Debattenbeiträge der schwarzgelben Koalition zeigen - so kommt es mir vor -, dass
Sie nach dem Motto verfahren: Ich habe zwar keine Lösung, aber ich bewundere das Problem.
({0})
Nach der rechtlichen Situation - das wissen wir ganz
klar - ist die Entgeltdiskriminierung bereits verboten.
Dazu braucht man eigentlich kein neues Gesetz.
({1})
Das Härteste an Forderungen in Ihrem Antrag ist
- ich will das hier allen zur Kenntnis geben -, dass die
Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel sich weiterhin für die Überwindung
der Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern
einsetzen und Benachteiligungen von Frauen in Wirtschaft und Arbeitswelt beseitigen soll. Das ist ein Appell. Aber wir leben in einem Rechtsstaat und nicht in einer Bananenrepublik. Eine Regierung muss geltendes
Recht durchsetzen. Ein Parlament muss, wenn das Recht
nicht ausreicht, neues Recht schaffen und dafür sorgen,
dass dieses durchgesetzt wird.
({2})
Aber das sehen Sie anders. Die ganzen Analysen, die
Sie hier zu Markte tragen, zielen auf eines ab, nämlich
zu beweisen, dass die Frauen im Prinzip selber daran
schuld sind. Warum haben wir ein Recht ohne Praxis?
Das Recht ohne Praxis haben wir deshalb, weil jede einzelne Frau ihren Arbeitgeber auf Zahlung gleichen
Lohns verklagen muss. Jetzt braucht man keine Prophetin zu sein, um vorauszusagen, wer so etwas macht. Das
machen keine Frauen, die ihren Job behalten wollen,
sondern das machen vielleicht die, die sich mit dem Gedanken an eine Kündigung tragen oder schon gekündigt
haben. Genau das ist das Problem. Die Kollegin, die am
Arbeitsplatz nebenan arbeitet, muss ihr Recht ebenfalls
individuell einklagen. Deshalb ist klar: Das geltende
Recht führt nicht zum Ziel der Entgeltgleichheit. Deshalb muss man etwas ändern.
({3})
Sie haben gesagt, die Ursachen seien Teilzeitarbeit,
die Auszeiten wegen der Familie oder eine geringere Tarifbindung in den kleineren Betrieben, in denen Frauen
überwiegend beschäftigt seien. Das ist alles richtig, aber
nicht nur Frauen mit Kindern und Auszeiten haben weniger Einkommen als ihre männlichen Kollegen. Auch
Frauen ohne Kinder und ohne Auszeit verdienen im
Durchschnitt weniger als ihre männlichen Kollegen.
Also sind die Gründe für die Ungleichbezahlung nicht
allein diejenigen, die Sie nennen.
Ich sage Ihnen: Die Regierung und die Regierungskoalition sind dazu da, Problemlösungen zu finden, und
nicht, Problemanalysen zu betreiben. Sie bleiben immer
bei den Problemanalysen stehen. Dafür brauchen wir Sie
aber nicht. Die Probleme analysieren können wir selber.
({4})
Wenn das, was Sie als Gründe für die Ungleichbezahlung anführen, die tatsächlichen Gründe wären, dann
sollte man da ansetzen. Aber was machen Sie? Sie machen im Prinzip genau das Gegenteil: Sie verstärken das,
was Sie für ebendiese Gründe halten. Sie haben beschlossen, das Betreuungsgeld einzuführen. Dadurch
werden die Auszeiten der Frauen nicht verkürzt, sondern
verlängert. Sie haben mit Ihrer Mehrheit beschlossen,
die Verdienstgrenze für die Minijobs auf 450 Euro zu erhöhen. Das verringert nicht die Entgeltungleichheit, sondern vergrößert sie. Sie haben verbal immer wieder beteuert, dass Sie für Berufsrückkehrer gerne einen
Rechtsanspruch auf die alte Arbeitszeit wollen. Aber wo
ist denn das entsprechende Gesetz, Frau von der Leyen
und Frau Schröder? Sie sind doch an der Regierung. Legen Sie hier doch einen Gesetzentwurf vor. Dann können
wir ihn einstimmig im Deutschen Bundestag verabschieden.
Nein, Sie machen nichts, auch nicht beim Steuerrecht.
Stattdessen kommen Sie mit den absurdesten Argumenten, wenn es darum geht, das Ehegattensplitting, das
wirklich von vorvorgestern ist, zu verteidigen.
Frau Schön, schönreden und schönrechnen helfen
nicht weiter. Sie sind da ganz auf der Linie Ihres Landesverbandes: Links blinken, wenn es um das Reden geht,
aber rechts abbiegen, wenn es um das konkrete Handeln
geht.
({5})
Was wir brauchen, ist mehr Transparenz. Österreich
hat beispielsweise ein Transparenzgesetz. Wir brauchen
Entgeltberichte. Wir brauchen vor allen Dingen ein
Messverfahren, das wirkt. Was ich nun wirklich nicht
verstehen kann, liebe Kollegen und Kolleginnen von der
Union: Sie beschreiben in Ihrem Antrag das Lohntestverfahren Logib-D und bezeichnen gleichzeitig die Auszeiten als das Hauptproblem. Ist Ihnen nicht klar, dass
dieses Messverfahren an der Person und auch an den
Auszeiten ansetzt und damit eine Entgeltdiskriminierung
auch noch rechtfertigt? Gleicher Lohn muss für gleiche
Arbeit und nicht für die gleiche Anzahl an Berufsjahren
gezahlt werden.
Letzter Punkt. Wir brauchen ein Gesetz zur Herstellung der Entgeltgleichheit, weil die jetzigen gesetzlichen
Regelungen nicht funktionieren. Wir brauchen ein Gesetz, mit dem auch diejenigen, die die typischen Frauenberufe ausüben, mehr Respekt und auch eine bessere Bezahlung erhalten. Wer das ändern will, der muss
Schwarz-Gelb abwählen und muss dafür sorgen, dass
wir eine rot-grüne Mehrheit bekommen.
({6})
Dann können wir ein vernünftiges Gesetz machen. So
können wir zur Entgeltgleichheit zwischen Frauen und
Männern nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der
Wirklichkeit kommen.
Schönen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollegin Elke Ferner. - Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Miriam
Gruß. Bitte schön, Frau Kollegin Gruß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Ferner, wer hat denn elf Jahre in
Deutschland regiert? Wo war denn in Ihrer Regierungszeit, Herr Steinmeier, ein Entgeltgleichheitsgesetz? Das
muss man an dieser Stelle einmal fragen.
({0})
- Da Sie jetzt dazwischenrufen, darf ich einmal nachfragen: Wer waren die Ersten, die das Betreuungsgeld mit
beschlossen haben? Das waren ja wohl Sie von der SPD.
({1})
- Ja, selbstverständlich.
({2})
Wahrheiten müssen hier genannt werden.
Kommen wir zum Thema. Es ist unbestritten: Ja, es
bestehen immer noch Unterschiede in der Bezahlung
von Frauen und Männern. Wir alle hier sind uns doch einig, dass dies ungerecht ist. Die Fakten sind genannt;
aber man muss in der Diskussion auch korrekt bleiben.
Es bringt nämlich gar nichts, einen 30-jährigen IT-Spezialisten mit einer gleichaltrigen Erzieherin zu vergleichen. Vielmehr müssen wir die Bruttostundenlöhne in
den gleichen Jobs anschauen. Dann wird deutlich, dass
es hier nicht um 22 Prozent Lohnungleichheit geht, sondern um etwa 10 Prozent. Das ist immer noch genug,
aber deutlich weniger, als die ganze Zeit behauptet worden ist.
Lassen Sie uns die Polemik einmal beiseiteschieben
und uns um die tatsächlichen Probleme kümmern, nämlich um die Ursachen der Lohnungleichheit. Prinzipiell
gilt: Wenn es um die Lohnfindung geht, haben wir in
Deutschland ein sehr gut funktionierendes Tarifsystem,
das sich bewährt hat.
({3})
Hier sind doch vor allem die Tarifpartner gefordert. Sie
legen die Löhne fest. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten.
Es geht in der Lohnfindung nämlich nicht nur darum,
Lohnerhöhungen zu beschließen, sondern auch darum,
Löhne gerecht auszutarieren. Wann erlebt man es beispielsweise einmal, dass Lohngruppen, in denen insbesondere Frauen zu finden sind, bei den Verhandlungen in
den Mittelpunkt gestellt werden, meine Damen und Herren?
({4})
Die Unternehmen haben ihrerseits erkannt, dass sie in
der Arbeitswelt der Gegenwart und Zukunft gut ausgebildete Frauen brauchen. Vor Ort werden Lösungen gesucht und gefunden, um Arbeit und Familie besser vereinbaren zu können. Diesen Prozess unterstützen wir
politisch.
({5})
Mit den Programmen „Erfolgsfaktor Familie“, „audit
berufundfamilie“ und „Betrieblich unterstützte Kinderbetreuung“ sprechen wir gezielt Unternehmen an. Denn
in den Unternehmen geht es darum, die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie zu verbessern - nicht hier im
Bundestag.
Da Sie gestern am Brandenburger Tor auf der DGBVeranstaltung groß getönt haben, möchte ich noch sagen: Auch die Gewerkschaften sind gefordert, meine
Damen und Herren von der SPD und von den Linken.
({6})
Die Vertreter der Arbeitnehmer müssen nämlich bei den
Tarifverhandlungen noch stärker typische Frauenberufe
in den Mittelpunkt stellen. Davon habe ich in der Vergangenheit wenig gesehen. Bisher galt doch eher: Männer werden hoch anerkannt und gut bezahlt, wenn sie
harte körperliche Arbeit verrichten, wie etwa im Straßenbau, als Drucker oder bei der Müllabfuhr. Bei
Frauen, beispielsweise in der Altenpflege, ist das hingegen immer noch nicht der Fall.
Von politischer Seite unterstützen wir den Prozess der
Gleichstellung so früh wie möglich - und früh muss man
ansetzen -, beispielsweise in der frühkindlichen Bildung.
({7})
Hier gilt es, Rollenbilder aufzubrechen und Jungen und
Mädchen nach ihren Talenten zu fördern, nicht nach ihrem Geschlecht. Stereotypen muss endlich entgegengewirkt werden. Deshalb führen wir Mädchen und junge
Frauen schon früh an neue Berufsfelder und Interessengebiete heran, beispielsweise mit „Komm, mach MINT.“
oder dem „Girls‘ und Boys‘ Day“.
({8})
In der Familienphase unterbrechen Frauen wegen familiärer Verpflichtungen immer noch deutlich häufiger
ihre Berufslaufbahn als Männer. Auch deshalb ist es
richtig, dass die Fraktionen von Schwarz-Gelb und die
Bundesregierung endlich auch einmal den Fokus auf die
Männer gerichtet haben. Es ist richtig, dass wir eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik eingeführt haben. Das lasse ich mir von Ihnen nicht schlechtreden,
schon gar nicht von Ihnen von der Linken.
({9})
Es ist richtig, endlich dafür zu werben, dass mehr
Männer in Erzieherberufe kommen, und Stereotype aufzubrechen. Aber das, was Sie hier vertreten, ist Politik
von vorgestern, meine Damen und Herren von der Opposition.
({10})
Wir haben den Ausbau der Betreuungsplätze so stark
vorangetrieben wie keine Bundesregierung zuvor. Vor
allem gute und flexible Betreuungsmöglichkeiten sind
ein Schlüssel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
genauso wie die eigenständige Jungen- und Männerpolitik, die ich bereits angesprochen habe.
Nicht zuletzt müssen wir weiter Anreize setzen, damit
es sich für Mütter und Ehefrauen lohnt, arbeiten zu gehen. Die Abschaffung der Steuerklasse V nehmen wir
als FDP in unser nächstes Wahlprogramm auf. Dafür
werden wir uns einsetzen.
Es gilt zudem, staatliche Leistungen, die der Rückkehr in das Berufsleben im Wege stehen, zu überdenken.
Ich freue mich deshalb auch auf eine Neuorientierung
der ehe- und familienpolitischen Leistungen im Rahmen
der Gesamtevaluation, die auch unter diesem Aspekt in
Angriff genommen werden muss.
Um die Situation für Frauen in der Arbeitswelt zu
verbessern, bedarf es also der Unterstützung von Wirtschaft, Gewerkschaften, Gesellschaft und Politik. Es gibt
viel zu tun. Alle Akteure sind gefordert, meine Damen
und Herren.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gruß. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist unsere Kollegin Frau
Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke. Bitte schön,
Frau Kollegin Ploetz.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer
dann, wenn ein Mann 1 Euro verdient, bekommt eine
Frau nur 78 Cent. Frauen mussten bis zu diesem verschneiten Frühlingsanfang arbeiten, um das zu haben,
was Männer bereits an Silvester bekommen haben. Ich
glaube, wir alle sind uns einig: Fair und gerecht sieht anders aus. Leider habe ich in der gesamten Debatte von
den Regierungsfraktionen keine nennenswerten Vorschläge dazu gehört, wie man dies beheben könnte.
({0})
Nur zwei kleine Beispiele: Nach drei Jahren Ausbildung verdienen Frauen 1 071 Euro netto - Männer haben 500 Euro mehr. Arbeiten Frauen in Vollzeit - und
das kommt ja viel zu selten vor, wie wir wissen -, haben
sie 2 312 Euro brutto - Männer haben 600 Euro mehr.
Wenn ich mir diese Zahlen so anschaue, dann frage ich
mich ernsthaft, was denn los wäre, wenn es plötzlich öfYvonne Ploetz
fentliche Verdienstlisten gäbe, wie das in Norwegen der
Fall ist, wenn Frauen schwarz auf weiß einsehen könnten, wie viel weniger sie - völlig zu Unrecht - verdienen. Lohntransparenz sollte in der gesamten Debatte
kein Tabuthema mehr sein.
({1})
Ich glaube, besondere Wirkung würde Lohntransparenz in Verbindung mit dem Verbandsklagerecht erhalten. Wir als Linksfraktion haben das gestern im Bundestag beantragt. Wir wissen doch alle: Eine Frau allein
traut sich kaum, Verbesserungen für sich einzuklagen.
Aber viele Frauen, gemeinsam mit den Verbänden, wären nicht mehr aufzuhalten. Ich glaube, dann würden
auch Sie von der Regierung sich bewegen.
({2})
Meine Damen und Herren, der diesjährige Equal Pay
Day stand unter dem Motto „Viel Dienst - wenig Verdienst“; es geht also um Frauen in Gesundheitsberufen.
Ich finde es wirklich besonders schäbig, dass genau
diese Branche beispielhaft für das gesamte Dilemma der
Frauen am Arbeitsmarkt steht. Nicht nur, dass diese
Frauen rund ein Viertel weniger verdienen als ihre
männlichen Kollegen: Es ist auch so, dass die Gesundheitsbranche zu den Branchen mit den meisten Frauen
im Niedriglohnsektor gehört.
Dankenswerterweise hat mir die Bundesagentur für
Arbeit gestern die neuen Zahlen zu Minijobs in Gesundheitsberufen zur Verfügung gestellt. Im Vergleich zum
Jahr 2000 hat sich hier die Zahl der Frauen in Minijobs
auf 5 Millionen fast verdoppelt. Besonders betroffen
sind Altenpflegerinnen; hier gibt es eine Steigerung um
73 Prozent. Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen
wirklich nicht mehr erklären, was Minijobs für Frauen
bedeuten. Sie sind eine Sackgasse und müssen unbedingt
eingedämmt werden; sie müssen vom ersten Euro an in
sozialversicherungspflichtige Jobs umgewandelt werden.
({3})
Sicherlich haben Sie alle am Montag die Studie des
Familienministeriums zur Kenntnis genommen, in der
ganz klar gesagt wird: Minijobs sind - ich zitiere - „ein
Programm zur Erzeugung lebenslanger ökonomischer
Ohnmacht und Abhängigkeit von Frauen“. Gerade einmal 14 Prozent aller Frauen schaffen den Absprung aus
einem Minijob in eine Vollzeitstelle. Alle anderen kommen aus diesem Teufelskreis von Dumpinglöhnen heute
und Armutsrenten morgen nicht mehr heraus. Nicht nur,
dass Sie dem einfach so zusehen; nein, Sie weiten das
auch noch aus. Ich kann Ihnen wirklich nur sagen: Wenn
schon Ihr Gewissen Sie nicht einholt, werden Sie irgendwann, hoffe ich, von den Wählerinnen die Quittung dafür bekommen.
({4})
Hinzu kommt, dass für die Frauen in Gesundheitsberufen die Arbeitsbedingungen fast unerträglich sind. Es
herrscht ganz starker Leistungsdruck und Termindruck.
Die Arbeitsabläufe sind ganz streng getaktet. Diese
Frauen - ich zitiere den Stressreport 2012 - „arbeiten an
der Grenze der Leistungsfähigkeit“. Das ist der reinste
Raubbau an der pflegenden Frau und ist in keinster
Weise zu akzeptieren.
({5})
Was wir brauchen, liegt auf der Hand. Wir brauchen
armutsfeste Renten, Mindestlöhne, das Verbot von Leiharbeit in so sensiblen Branchen, eine Humanisierung der
Arbeitsabläufe, das heißt eine gute Personalausstattung,
und familienfreundliche Arbeitszeiten. Natürlich brauchen wir Entgeltgleichheit per Gesetz.
Doch das allein reicht noch nicht. Wir leben in einer
Gesellschaft, in der es mehr wert ist, 2 Zentner Zement
am Bau zu heben, als einen kranken Menschen aus dem
Bett zu heben. Es muss bei uns wirklich ein Umdenken
stattfinden. Der Dienst am Menschen, Kindererziehung,
Pflege, Gesundheit, all das ist viel mehr wert.
({6})
Wenn Frau Schröder sagt - ich zitiere aus einem Beitrag auf der Equal-Pay-Day-Homepage -: „Die schlechte
Bezahlung in frauendominierten Berufen, und dazu gehören Gesundheitsberufe, ist eine wesentliche Ursache
für den bestehenden statistischen Entgeltunterschied“,
dann stimmt ihr jeder zu; das ist doch ganz selbstverständlich. Nur kaufen kann sich dafür keine Frau etwas.
Sie, Frau Schröder, sind in der Verantwortung, hier etwas zu ändern. Sie müssen etwas ändern.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ploetz. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön,
Frau Kollegin Müller-Gemmeke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin immer wieder verwundert und
erstaunt über die Diskussion zum Equal Pay Day hier im
Bundestag. Sie von den Regierungsfraktionen singen in
Ihrem Antrag und auch in der Debatte hier ein Loblied
auf die - vermeintlich - gute Familienpolitik der Bundesregierung. Sie führen eine Diskussion über die
Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt. Da geht es
um Beschäftigungsdiskriminierung. Dieses Thema ist
wichtig. Heute gehen Sie damit aber schlicht am eigentlichen Thema vorbei; denn heute geht es um Entgeltgleichheit, also um den Grundsatz: Gleicher Lohn für
gleiche und gleichwertige Arbeit. Ich frage mich wirklich, ob Sie tatsächlich verstehen, warum all die Frauen
und Männer gestern am Brandenburger Tor demonstriert
haben.
({0})
Das Gleiche passierte unlängst bei der Anhörung.
Auch dort haben wir phasenweise zwei Diskussionen parallel geführt. Den Regierungsfraktionen ging es um die
Erwerbsbeteiligung von Frauen, um Teilzeit, um Minijobs und darum, ob Frauen einfach zu wenig Lohn fordern und sich nicht durchsetzen können. Das war alles
recht amüsant. Das Problem war nur, dass diese Diskussionen mit dem Gesetzentwurf der SPD und dem Antrag
von uns Grünen so gar nichts zu tun hatten.
({1})
Es wurde auch gerätselt, wie die Frauen dazu bewegt
werden könnten, MINT-Studiengänge zu belegen. Auch
heute haben Sie, Frau Bracht-Bendt, dieses Thema wieder angesprochen. Natürlich verdienen Physikerinnen
mehr als Pflegekräfte. Darum geht es aber nicht. Der
Skandal ist doch vielmehr, dass die Physikerin weniger
verdient als ihr männlicher Kollege,
({2})
und die Pflege schlechter bezahlt wird als andere gleichwertige Tätigkeiten. Genau deswegen wollen wir eine
gesetzliche Regelung gegen Entgeltdiskriminierung;
denn es muss endlich Schluss sein, dass es Arbeit von
Frauen zum Schnäppchenpreis gibt.
({3})
Aber ich möchte nicht unfair sein: Bei der Anhörung
und auch in der heutigen Debatte geht es auch um zwei
Aspekte, die sich tatsächlich mit den Anträgen auseinandersetzen. So wird ein Entgeltgleichheitsgesetz immer
wieder als Angriff auf die Tarifautonomie bezeichnet.
Das hieße, dass die Tarifparteien Frauen unbehelligt diskriminieren dürfen, als wären sie nicht an das Grundgesetz gebunden. Ein Gesetz zur Durchsetzung von Entgeltgleichheit regelt lediglich, dass die Löhne auf
Entgeltdiskriminierung überprüft werden müssen. Wie
Entgeltgleichheit hergestellt wird, ist natürlich Sache der
Tarifpartner. Und deshalb sind gesetzliche Regelungen
in keinster Weise ein Angriff auf die Tarifautonomie.
({4})
Dann wird immer noch das Argument Bürokratie genannt. Frau Schön hat es angesprochen. Das Recht auf
Entgeltgleichheit ist im Grundgesetz verankert. Allein
schon das Abwägen zwischen Grundrecht und bürokratischem Aufwand ist für mich nicht akzeptabel. Ein
Grundrecht hat für uns selbstverständlich höchste Priorität. Alles andere geht gar nicht.
Sehr geehrte Regierungsfraktionen:
Die schlechte Bezahlung in frauendominierten Berufen, und dazu gehören Gesundheitsberufe, ist eine
wesentliche Ursache für den bestehenden statistischen Entgeltunterschied.
Das sage nicht ich, sondern Ministerin Schröder. Dieser
Satz steht auch auf der offiziellen Internetseite des Equal
Pay Day. Mir scheint, dass die Ministerin wohl nicht gemerkt hat, was ihr in den Text geschrieben wurde. Denn
genau darum geht es, warum wir gleichen Lohn für
gleichwertige Arbeit fordern. Aber die Durchsetzung
funktioniert nicht mit Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung. Notwendig sind gesetzliche Regelungen; denn
Frauen verdienen mehr.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte
schön, Kollege Lehrieder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was haben
Estland, die Tschechische Republik, Österreich und
Deutschland neben der EU-Mitgliedschaft gemeinsam?
Sie alle bilden im europäischen Vergleich das Schlusslicht im Gender Pay Gap, dem prozentualen Unterschied
im durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Männern und Frauen. Der Durchschnitt der Europäischen
Union liegt bei 16 Prozent. In Deutschland - die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen - liegen wir mit
22 Prozent deutlich darüber. Diese Zahl ist im Verlauf
dieser Debatte bereits mehrfach genannt worden.
Nur zum Vergleich: Das Land mit den europaweit geringsten Unterschieden im Bruttostundenverdienst von
Frauen und Männern war im vorletzten Jahr Slowenien
mit 2 Prozent. Auch unser Nachbarland Polen mit 5 Prozent und Italien mit 6 Prozent verzeichneten eher moderate Gehaltsunterschiede. Dabei gebietet es die Ehrlichkeit, darauf hinzuweisen, dass gerade in Italien sehr viele
Frauen nach der Babyphase nicht mehr ins Berufsleben
einsteigen und als Gehaltsempfängerinnen überhaupt
nicht auftauchen. Die Statistik muss hier fairerweise differenziert betrachtet werden.
({0})
- Ich rechtfertige hier gar nichts, Frau Ferner. Stellen Sie
mir eine Frage, dann kann ich länger reden.
({1})
In den letzten Tagen erreichten mein Büro anlässlich
des gestrigen Equal Pay Day zahlreiche Pressemitteilungen und Gesprächseinladungen. Bundesweit fanden in
diesem Rahmen zahlreiche Aktionen statt. So machten
zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der
Pflege am Bundestag mit einer Tanzaktion auf ihre Situation aufmerksam und sangen: „We work hard for the
money“. In der Altenpflege sind 80 Prozent des Personals, wie Sie wissen, weiblich.
Auch in meinem Wahlkreis Würzburg war ein Bündnis
zum Equal Pay Day mit einem Informationsstand am
Sternplatz vertreten, um die bestehenden Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern anzuprangern und
somit zur Bewusstseinsbildung beizutragen. In diesem
Jahr standen die bundesweiten Aktionen unter dem
Motto: „Lohnfindung im Gesundheitswesen - viel Dienst,
wenig Verdienst“. Frau Kollegin Müller-Gemmeke hat
bereits darauf hingewiesen: Es geht um die schlechte Bezahlung in frauendominierten Berufen.
({2})
Eine Entgeltlücke ist selbst bei Führungspositionen
zu finden. Zwar ist die Gehaltslücke zwischen weiblichen und männlichen Führungskräften in den letzten
Jahren etwas kleiner geworden; dennoch werden Frauen
in Führungspositionen schlechter bezahlt als ihre männlichen Pendants.
Erlauben Sie mir, mit einigen Sätzen auf die Vorredner einzugehen. Frau Kollegin Göring-Eckardt hat ausgeführt, es hätte schon längst etwas getan werden können. Es ist durchaus berechtigt, zu fragen: Was haben Sie
in der rot-grünen Regierungszeit für die Minderung des
Gender Pay Gaps, der ungleichen Bezahlung, getan?
({3})
Was haben Sie, Frau Ferner, gemacht? Was hat Rot-Grün
in seiner Regierungszeit erreicht? Nichts. Wenn es so
einfach wäre, dieses Problem zu lösen, dann hätte RotGrün es tun können. Deshalb arbeiten wir noch daran.
({4})
Herr Kollege Steinmeier, Sie haben auf die Weimarer
Republik hingewiesen und ausgeführt, dass die Ungleichheit schon vor 80 oder 90 Jahren ein Thema war.
Ein berühmter Vertreter Ihrer Partei, der SPD, war am
Equal Pay Day auch am Brandenburger Tor - das habe
ich heute der Presse entnommen -: Herr Kollege
Steinbrück.
({5})
- Herr Gabriel war auch da; ich hoffe, Sie alle waren
da. ({6})
Herr Kollege Steinbrück hat sich zu Wort gemeldet und
wird folgendermaßen zitiert - mit Erlaubnis des Präsidenten darf ich das im O-Ton zitieren -:
Wenn es nach mir und der SPD geht, ist nächstes
Jahr diese Veranstaltung nicht mehr notwendig.
({7})
Da dachte ich: Boah! - Die Medien schrieben:
„Steinbrück zeigt Flagge für Frauen.“
Ich habe mir dann Ihren Antrag angeschaut, Frau
Ferner. Im Antrag steht - ({8})
Im Gesetzentwurf steht in § 18:
Beginn des ersten Prüfzeitraumes
({9}) Die Verpflichtung zur Erstellung und Übermittlung eines betrieblichen Prüfungsberichtes besteht
bei Unternehmen …
mit mehr als 1 000 Beschäftigten bis zum letzten
Tag des 24. Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes …
für die übrigen Betriebe bis zum letzten Tag des
60. Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes.
Das heißt, dieser Mann will das Problem innerhalb eines halben Jahres lösen, das Sie nach einer Evaluation gemäß Ihrem Gesetzentwurf erst nach zwei bis fünf Jahren
umsetzen können. Da ist natürlich die Vollmundigkeit,
das Wahlkampfgetöse des Kandidaten Peer Steinbrück
mit Händen zu greifen.
({10})
Frau Göring-Eckardt, Sie haben ausgeführt, wir förderten das falsche Familienmodell. Darf ich Sie als Bundestagsvizepräsidentin fragen: Woher nehmen Sie den
Mut, zu entscheiden, welche Familie welches Modell zu
leben hat?
({11})
Wir schreiben das nicht vor, Frau Göring-Eckardt.
Sie haben ausgeführt, das Betreuungsgeld sei sinnlos;
viele Vorredner von der Opposition haben dieses Thema
strapaziert. Ich will es der Vollständigkeit halber für das
Protokoll wiederholen: Das Betreuungsgeld hindert
keine Frau daran, nach der Geburt eines Kindes berufstätig zu werden. Zum Mitschreiben, Frau Ferner: Das Betreuungsgeld hindert keine Frau, in den Beruf einzusteigen.
({12})
Meine Damen und Herren, Frau Göring-Eckardt hat
von der schlechten Bezahlung in den sozialen Berufen
gesprochen. Ich bin gespannt, was die Pressemitteilungen der EKD in den nächsten Tagen und Wochen dazu
verlautbaren, wie viel mehr eine Altenpflegerin und eine
Kindergärtnerin in Zukunft verdienen wird.
({13})
Ich freue mich und bin sehr gespannt darauf, wie optimistisch die Meldungen der EKD in Zukunft ausfallen.
({14})
- Hier hat jemand eine Frage, Herr Präsident.
Vielen Dank, Herr Lehrieder, dass Sie auch hier mitwirken.
({0})
Frau Kollegin, Sie haben das Recht zu einer Zwischenfrage.
Dann sollten Sie die Uhr anhalten.
Das ist schon erfolgt. - Bitte schön.
Sie kommen doch aus Bayern. Ich habe eine Frage:
Ist es richtig, dass Frau Haderthauer denjenigen, die im
Hinblick auf das Betreuungsgeld gegebenenfalls antragsberechtigt sind, bereits vorausgefüllte Anträge zuschicken will? Wie verträgt sich das mit der Einlassung,
die Sie gerade gemacht haben?
({0})
Welche Anträge? Sie müssen das schon präzisieren:
Was steht in den Anträgen?
({0})
Ich kenne diese Anträge nicht; aber ich kann sie mir gern
zuleiten lassen.
({1})
Geht es um einen Antrag, der die Frauen in Bayern daran
hindert, berufstätig zu sein? Mit Verlaub, man kann hier
natürlich Volksgruppen diskreditieren. Aber wenn Sie
uns Bayern für so rückständig halten, muss ich sagen:
Wir sind es nicht; wir tun das nicht; wir lassen die
Frauen arbeiten, auch wenn die häusliche Betreuung der
Kinder - ({2})
- Frau Ferner, wir schreiben kein Familienmodell vor.
Wir haben durchaus Respekt vor der Lebensentscheidung der Familien, Respekt vor der Entscheidung der
Frau, entweder zu Hause zu bleiben oder berufstätig zu
sein.
War das jetzt die Beantwortung der Frage?
Ja.
Gut, dann lasse ich die Uhr weiterlaufen.
Entgeltgleichheit gehört zu den ältesten Forderungen
der Frauenbewegung. Der Grundsatz der gleichen Bezahlung ist in der EU schon lange verankert: bereits seit
1957 in Art. 141 des EG-Vertrages.
({0})
Dies wird auch in Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzes
definiert. Das heißt im Klartext: Dieser Grundsatz hat
bereits Verfassungsrang. Von meinen Vorrednern wurde
konzediert: Wir brauchen kein Gesetz, weil wir das verfassungsrechtlich schon normiert haben.
({1})
Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, ist ein bürokratisches Monstrum. Dieses Gesetz wird nicht handhabbar sein, es wird nicht funktionieren. Deshalb werden
wir es - das wird Sie nicht überraschen - ablehnen.
Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Im Dezember 2012 wurde eine dreijährige Forschungsphase
„Tarifverhandlungen und Equal Pay“ gestartet. In Zusammenarbeit mit den Tarifpartnern und der Forschung
sollen mögliche Ansatzpunkte für den Abbau der verbleibenden Lohnunterschiede im Rahmen kollektiver
Lohnverhandlungen identifiziert werden. Das Projekt
richtet sich vorrangig an die Tarifpartner. Ziel ist, dass
das Thema Entgeltgleichheit künftig in den Tarifverhandlungen eine größere Rolle spielt.
Lassen Sie mich auf die Rede von Frau Kollegin
Golze zurückkommen. Sie hat es nicht lassen können,
das Thema Mindestlohn als Allheilmittel in diese Debatte einzubringen.
({2})
Liebe Frau Kollegin Golze, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass die Sachverständigenanhörung ergeben hat:
Insbesondere im Bereich der höheren Bezahlung geht
der Gender Pay Gap auseinander. Der Lohnunterschied
ist in den ungelernten Berufen mit 5 Prozent noch am
geringsten.
({3})
Bei Angelernten beträgt er 14 Prozent, bei Fachangestellten 11 Prozent, bei herausgehobenen Arbeitnehmern
15 Prozent und bei Arbeitnehmerinnen in leitender Stellung immerhin 24 Prozent.
({4})
Das heißt, ein Mindestlohn wird das Problem der unterschiedlichen Bezahlung von Frauen und Männern leider
nicht lösen.
({5})
Wir setzen neben dem Betreuungsgeld auf den verstärkten Ausbau von Betreuungseinrichtungen, Frau
Ferner. Wir haben in diesem Jahr zusätzlich 580,5 Millionen Euro ausgegeben, weil viele, insbesondere sozialdemokratisch dominierte Regionen, in den letzten Jahren
ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Das ist wirksam.
Im Übrigen haben wir im letzten Jahr in der Bundesrepublik mit 71 Prozent die höchste Frauenerwerbsquote
aller Zeiten erzielt,
({6})
und das auch ohne Ihre kritische Begleitung, liebe Frau
Kollegin Ferner. Wir werden auf diesem Weg weitermachen; denn damit helfen wir den Frauen und den Familien.
({7})
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihr geduldiges
Warten.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Paul Lehrieder. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Christel Humme.
Bitte schön, Frau Kollegin Christel Humme.
({0})
Frau Schön - - Natürlich erst einmal: Herr Präsident!
- Entschuldigung.
So viel Zeit muss sein - vielen Dank.
({0})
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Schön und
Herr Lehrieder, es bleibt dabei: Im 21. Jahrhundert angelangt, und immer noch ist die Arbeit der Frauen weniger
wert als die Arbeit der Männer. Da müssen wir etwas
tun. Wir haben heute die Chance, diese Ungerechtigkeit
endlich zu beenden. Stimmen Sie daher unserem Gesetzentwurf zu!
({0})
Herr Lehrieder, Herr Steinbrück hat recht: Wir möchten gerne, dass der Equal Pay Day endlich überflüssig
wird.
({1})
In Ihrem Antrag lese ich: Sie wollen, dass der Equal Pay
Day weiterhin vom Ministerium finanziell gefördert
wird. Das signalisiert mir doch: Sie trauen Ihrer eigenen
Politik nicht über den Weg. Sie rechnen offensichtlich
nicht damit, dass Ihre Politik die Lohnlücke schließt. Ihr
Antrag ist meiner Ansicht nach eine echte Offenbarung.
({2})
Wir von der SPD stellen uns an die Seite der Frauen.
Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ tatsächlich durchsetzen. Das geht unserer Auffassung nach nur
mit einer Verpflichtung, nur mit einem Gesetz. Appelle
und Freiwilligkeit haben den Frauen bisher nicht geholfen und werden das auch in Zukunft nicht tun.
({3})
Frau Bracht-Bendt, Sie haben recht: Es gibt schon
viele Gesetze. Ich will sie noch einmal nennen: das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz, seit 60 Jahren das Grundgesetz. In allen
wird - auch das ist richtig - die Gleichbehandlung von
Männern und Frauen und damit auch gleiche Entlohnung
gefordert.
Aber kein Gesetz wirkt. Warum? Um gleichen Lohn
herzustellen, bedarf es einer wichtigen Voraussetzung:
Wir müssen wissen, wie der Betrieb insgesamt entlohnt,
damit wir die Situation überhaupt verbessern können.
Das heißt, wir brauchen Transparenz.
({4})
Nichts ist in Deutschland ein besser gehütetes Geheimnis - das wissen wir doch alle - als das Gehalt der Kollegin und vor allem das des Kollegen. Es ist klar, dass es
damit einfach ist, ungleich zu bezahlen. Unser Gesetz das ist wichtig - wird die Transparenz herstellen, die wir
brauchen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
({5})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die bestehenden
Gesetze funktionieren auch deshalb nicht, weil diese Gesetze überhaupt kein Verfahren vorsehen, das gleichen
Lohn für gleiche Arbeit schafft und Diskriminierung beseitigt. Wir wollen die Arbeitgeber verpflichten, gemeinsam mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und,
falls vorhanden, mit dem Betriebsrat oder dem Personalrat und den Gleichstellungsbeauftragten ihre Entgeltsys29042
teme eigenständig diskriminierungsfrei zu gestalten. Wir
setzen dabei auf ein eigenverantwortliches Handeln,
quasi im Schatten des Gesetzes. Für das gesamte Verfahren ist im Gesetz ein angemessener Zeitraum von mehreren Jahren vorgesehen. Eine Gesetzeskeule, wie das Frau
Schön immer wieder gerne sagt, sehe ich darin überhaupt
nicht.
({6})
Wir brauchen natürlich auch Sanktionen; das ist keine
Frage. Denn ohne sie fehlt es an Durchsetzungskraft.
Frau Ministerin Schröder - sie ist auch hier - will, soweit wir wissen, ebenfalls eine Prüfung.
({7})
- Sie wollen das auch. - Sie bieten Logib-D zum Download an und hoffen, dass die Arbeitgeber es nicht nur
herunterladen, sondern auch nutzen. Insgesamt sollen
200 Unternehmen beraten werden. Das ist ein schönes
Vorgehen, allerdings mit großen Webfehlern:
Erstens. Alles ist freiwillig und entzieht sich einer Erfolgskontrolle.
Zweitens. Das Messverfahren ist überholt.
({8})
Drittens. Die Arbeitgeber entscheiden alleine, ob sie
das machen oder nicht. Eine Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist im Gegensatz zu unserem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.
Viertens. Sie beraten 200 Unternehmen, und das bei
insgesamt 3 Millionen Unternehmen. Was soll das bringen? Das bringt überhaupt nichts, aber es kostet eine
ganze Menge. 4,5 Millionen Euro stellen Sie dafür in
den Haushalt ein. Lohngleichheit mit Ihnen? Ich sage:
Fehlanzeige.
({9})
Frau Bracht-Bendt, ich habe es fast schon geahnt,
dass der Vorwurf der Bürokratie erhoben wird.
({10})
Dahinter verstecken Sie sich immer dann gerne, wenn
Sie keine gesellschaftspolitischen Veränderungen wollen.
({11})
- Selbstverständlich, Frau Bracht-Bendt. Sobald es um
gesellschaftspolitische Veränderungen geht, sagen Sie,
das sei zu bürokratisch.
({12})
Verkehrsregeln einhalten, Verbraucher schützen und
Lebensmittelskandale verhindern - das alles ist doch nur
mit Bürokratie möglich. Und das ist gut so; damit dienen
wir doch dem Allgemeinwohl. Warum soll nicht das
Gleiche für die Einhaltung der Grundrechte, also für die
Gleichberechtigung von Männern und Frauen, gelten?
Es kann doch nicht sein, dass Sie Bürokratie nur akzeptieren, wenn es um Ihre Klientel geht, angefangen in dieser Legislaturperiode mit der Hotelsteuer.
({13})
Das Betreuungsgeld ist genauso bürokratisch. Das akzeptieren Sie, aber wenn es um die Gleichstellung von
Männern und Frauen und wenn es um Menschenrechte
geht, dann kritisieren Sie alles.
({14})
Ich sage Ihnen: Unsere Geduld ist am Ende. Wenn wir
das derzeitige Tempo unterstellen - Abbau der Entgeltungleichheit um 1 Prozent in sechs Jahren -, sind es
132 weitere Jahre, bis wir den Equal Pay Day tatsächlich
abschaffen können. Es ist Zeit für Taten. Stimmen Sie
heute unserem Gesetzentwurf zu!
Danke schön.
({15})
Vielen Dank Frau Kollegin Christel Humme. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU unsere Kollegin Katharina Landgraf.
Bitte sehr, Frau Kollegin Landgraf.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern
in der Arbeitswelt ist eine unendliche Geschichte. Darüber reden wir - auch ich - jedes Jahr wieder; leider
bislang ohne durchschlagenden Erfolg.
Die Erwerbstätigkeit der Frauen nimmt seit Jahren
stetig zu, aber die tatsächliche Gleichstellung der Frauen
in der Arbeitswelt ist noch lange nicht erreicht. Denn:
Obwohl Frauen heute durchschnittlich höhere und bessere Bildungsabschlüsse als Männer erreichen, sind sie
in gut bezahlten Berufen und höheren Entscheidungspositionen immer noch selten zu finden.
Einen Lichtblick gibt es allerdings in den neuen Bundesländern. Dort ist die Lohnlücke sehr viel kleiner. Sie
beträgt zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern nur
4 Prozent und in Sachsen 9 Prozent, während sie in Baden-Württemberg 27 Prozent beträgt. Dies liegt auch daran, dass die Männer im Osten durchschnittlich weniger
verdienen als ihre westdeutschen Kollegen und dass die
Frauen im Osten häufiger in Vollzeit arbeiten und seltener in Minijobs. Zudem unterbrechen sie ihre Berufstätigkeit seltener für längere Zeit - denn 50 Prozent aller
Zweijährigen gehen bei uns in eine Kinderkrippe -, und
es gibt im Osten mehr Frauen, die Führungspositionen
innehaben.
({0})
Die SPD betont in ihrem Gesetzentwurf, dass sie die
Entgeltgleichheit mit einem Gesetz durchsetzen will. Ich
sage hingegen: Der Staat als Handelnder soll sich hier so
weit wie möglich zurückhalten. Das verträgt sich aber
nicht mit diesem Gesetzentwurf. Denn Sie fordern eine
Verpflichtung zur Vorlage von Entgeltberichten, zum
Aufbau einer Behördenstruktur und einer Prüfungsinstanz.
({1})
Sie fordern also den Aufbau einer ausladenden Bürokratie. Das widerspricht unseren ordnungspolitischen Prinzipien und unserem Ziel des Bürokratieabbaus.
({2})
Wo bleibt außerdem die Tarifvertragsfreiheit?
Wir haben schon eine Rahmengesetzgebung zum
Thema Entgeltgleichheit und brauchen kein neues Gesetz. Ich erinnere an die vorhandenen Gesetze, zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das
Grundgesetz.
({3})
Ich versuche jetzt, nicht das zu wiederholen, was
meine Kollegen schon vorgetragen haben. Ich will auch
nicht noch einmal die Ursachen nennen; darin stimme
ich mit Ihnen überein. Ich möchte bloß wiederholen,
dass unser Ministerium schon lange auch bei den Ursachen ansetzt.
Ich möchte zu den Aktivitäten nur einen Punkt nennen, den auch Kollege Lehrieder schon angesprochen
hat: das Forschungsprojekt „Tarifverhandlungen und
Equal Pay“. Zusammen mit den Tarifpartnern und der
Forschung werden - darauf setze ich große Hoffnung Maßnahmen für einen Abbau von Lohnunterschieden im
Rahmen von Lohnverhandlungen benannt.
({4})
Das Projekt richtet sich vorrangig an die Tarifpartner.
Ziel ist es, dass das Thema Entgeltgleichheit künftig in
Tarifverhandlungen eine größere Rolle als bisher spielt.
({5})
Im brandfrischen Antrag der Koalition fordern wir die
Bundesregierung auf, weitere Maßnahmen zur Überwindung der Entgeltungleichheit zu ergreifen.
({6})
So werden zum Beispiel die Tarifpartner darin unterstützt, die Stellen- und Arbeitsbewertungen zu verändern.
({7})
- Hören Sie gut zu, Frau Ferner. Das ist ein bisschen was
anderes als das, was andere gesagt haben. Denn ich finde
es wichtig, dass wir nicht nur in Sonntagsreden vom
Dienst am Menschen sprechen,
({8})
sondern dass sich das auch im Lohn auswirkt, den diese
Menschen bekommen. Ich denke zum Beispiel an unsere
Lehrerinnen, Erzieherinnen, Pflegerinnen und all die, die
für den Dienst am Menschen bisher noch zu wenig Geld
bekommen.
({9})
Das trägt dazu bei, die Auswirkungen auf die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen zu mindern.
Einer der wichtigsten Punkte ist aber nach wie vor die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({10})
Trotz eines veränderten Rollenverständnisses von Männern sind es nach wie vor die Frauen, die die Erziehung
der Kinder übernehmen. Die Unternehmenskultur ist
trotz jahrelanger Bemühungen und auch unserer Appelle
in der letzten Zeit nicht freundlicher geworden.
({11})
Die Erwerbstätigenquote von Frauen war im vorigen
Jahr zwar mit 71 Prozent auf dem Höchststand. Die Teilzeitquote ist in Deutschland aber leider unverhältnismäßig hoch. Zahlreiche Studien und meine Erfahrungen belegen, dass ein Teil dieser Frauen sehr gerne in Vollzeit
arbeiten würde. Dass sie dies trotz oft sehr guter Qualifikation nicht können, liegt häufig an den bisher noch
nicht ausreichenden Infrastrukturmaßnahmen für die Betreuung von Kindern, an starren Arbeitszeiten, mangelnder Flexibilität bei dem Wechsel zwischen Vollzeit und
Teilzeit oder auch an mangelnden Gestaltungsmöglichkeiten. Nach wie vor ist es die Frau, die zu Hause bleibt,
ihre Arbeitszeit reduziert, und das schlägt sich eben auf
das Entgelt und die Altersversorgung nieder.
Wir fordern weiterhin innovative Arbeitszeitmodelle
in Form von Gleitzeit, Teilzeit, Telearbeit usw. Das
würde auch den Männern guttun. Das führt zu weniger
Fehlzeiten, zu weniger Fluktuation und zu einer höheren
Motivation. Wir werben in diesem Zusammenhang in
unserem Antrag - gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel - für eine Kultur der Vielfalt innerhalb der Unternehmen und dafür, dass das Potenzial von Berufsrückkehrerinnen besser genutzt wird.
({12})
Die noch vorherrschende Präsenzkultur muss durch eine
Effizienzkultur ersetzt werden, bei der es viel weniger
auf die Länge der Arbeitszeit als auf die Ergebnisse an29044
kommt. Dazu muss auch die Charta für familienbewusste Arbeitszeiten ausgewertet und weiterentwickelt
werden.
({13})
Die Verbesserung der Vereinbarung von Familie und
Beruf ist nicht nur ein gleichstellungs- und familienpolitisches Ziel. Es hilft allen. Es stünden dem Arbeitsmarkt
nach aktuellen Schätzungen rund 1,2 Millionen qualifizierte Frauen mehr zur Verfügung. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat einen starken Einfluss
auf die Erwerbsbeteiligung und trägt somit maßgeblich
zur Verringerung der Lohnlücke bei.
Ich appelliere daher an die Arbeitgeber und an die Tarifparteien,
({14})
auf die Frauen und deren Möglichkeiten einzugehen, damit uns deren Potenzial nicht verlorengeht, sondern es
bestmöglich genutzt wird.
({15})
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin aus
der Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin
Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
traurig und für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, beschämend, dass wir diese Debatte heute überhaupt führen müssen.
({0})
Sie könnten den unhaltbaren Zustand der unmittelbaren
Diskriminierung von 17 Millionen erwerbstätigen
Frauen mit Ihrer Regierung sofort ändern.
({1})
In Ihrem Antrag stößt man auf folgende richtige Analyse: Das Grundgesetz verbietet es,
Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein
geringeres Entgelt zu zahlen als Männern. … Dennoch verharrt seit Jahren der durchschnittliche Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern
nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei
22 Prozent.
Ja, so ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie bringen die Wirklichkeit für 41 Millionen Frauen in
Deutschland ganz genau auf den Punkt.
({2})
Was wollen Sie angesichts dieser 64 Jahre währenden
Grundgesetzverstöße machen? Schauen wir in Ihren Antrag: Erst einmal freuen Sie sich über 200 von 3 Millionen Unternehmen in Deutschland, die das Instrument
Logib-D freiwillig nutzen. Diese Unternehmen können
freiwillig gegen Lohnunterschiede vorgehen und damit
genau 0,0014 Prozent der Lohnlücke schließen. Sie
freuen sich über einen Familiengipfel, auf dem viele
warme Worte verloren wurden. Sie freuen sich über
1 000 Unternehmen in Deutschland, die laut Hertie-Stiftung Maßnahmen zur verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf ergriffen haben. Toll! Das entspricht ja
immerhin einem Unternehmen von 3 000.
({3})
In Ihrem Antrag schreiben Sie dann im Forderungsteil, dass Sie Werbung machen wollen: für mehr Familienfreundlichkeit, für den verstärkten Einsatz von Tagesmüttern, weil diese so herrlich flexibel sind, für die
Erleichterung des Wiedereinstiegs von Frauen nach der
Kinderphase, für eine Effizienzkultur statt einer Präsenzkultur in der Arbeitswelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
die Entgeltlücke zwischen Männern und Frauen wird
von Feministinnen schon seit über 100 Jahren problematisiert. Sie hält sich in Deutschland trotz großen Problembewusstseins noch viel hartnäckiger als in vielen
anderen europäischen Ländern.
({4})
Diese Entgeltlücke wollen Sie als verantwortliche Regierung allen Ernstes mit „Freuen“ und „Werben“ schließen? Realitätsferner geht es ja wohl nicht.
({5})
So sieht Ihr Kampf gegen die Lohndiskriminierung
aus: Ihre Ministerin, Kristina Schröder, Mutter des Betreuungsgelds, geht in die Betriebe, freut sich über die
Belegplätze der Unternehmen bei einer Tagesmutter,
wirbt für das große Potenzial von Berufsrückkehrerinnen
und denkt, dass die netten Chefs ihren Arbeitnehmerinnen nachher freiwillig ein Viertel mehr Gehalt zahlen
würden. In welcher Welt, so frage ich Sie, leben Sie?
({6})
Wir alle - das war auch unter Rot-Grün so - haben
doch schon unsere Erfahrungen mit Freiwilligkeit gemacht - viel zu lange. Nichts hat sich bis heute an der
Lohndiskriminierung geändert. Wir wollen endlich Taten sehen.
({7})
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP: Würden Sie es hinnehmen, wenn
Ihre Bank Monat für Monat widerrechtlich ein Viertel
Ihres Gehaltes einbehielte? Würden Sie nach 100 Jahren
noch diskutieren und sich freuen, dass Ihr Bankberater
Ihren Unmut versteht? Würden Sie dafür werben, Ihnen
wenigstens eine Chance zu geben, die ungerechtfertigten
Abzüge zu verringern?
({8})
Es geht nicht darum, langsam eine gesellschaftliche
Stimmung für Lohngerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu erzeugen. Es ist richtig: Wir müssen die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Aber
das allein löst das Problem nicht.
({9})
Wir müssen die systematische Diskriminierung beseitigen;
({10})
denn auch Frauen ohne Kinder, die überhaupt kein Problem hinsichtlich der Vereinbarkeit zwischen Familie
und Beruf haben, sowie Frauen in typischen Männerberufen werden für gleiche Leistungen schlechter bezahlt
als Männer. Alle Frauen in Deutschland sind deshalb betroffen.
Sehenden Auges wird gegen unser Grundgesetz verstoßen, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung wird
bis ins hohe Alter, bis zum Tod, krass benachteiligt. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Skandal. Wir jedenfalls werden es nicht länger hinnehmen, dass die
Rechte von Frauen in unserem Land mit Füßen getreten
werden.
({11})
Wir wollen deshalb unseren Gesetzentwurf durchsetzen, mit dem wir diese Ungerechtigkeit ein für alle Mal
beenden können. Die Gewerkschaften stehen dabei dicht
an unserer Seite. Wir zeigen eine wirksame und unbürokratische Lösung auf, wie man Entgeltdiskriminierung
unterbinden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, tun Sie endlich einmal etwas Richtiges, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. - Letzter
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion von
CDU/CSU unser Kollege Eckhard Pols. Bitte schön,
Kollege Pols.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sie kennen doch sicherlich
alle den Satz: Bei uns ist jeder Tag Frauentag. - So wirbt
der Zentralverband des Deutschen Handwerks nicht nur
für mehr Frauen im Handwerk, sondern er stellt Frauen
und Männer hinsichtlich der Entlohnung gleich.
Als Mittelständler und Handwerksmeister möchte ich
als letzter Redner zum Thema „Entgeltgleichheit für
Männer und Frauen“ einen Blick auf das deutsche Handwerk werfen, um auch einmal einen Praxisbezug herzustellen und aufzuzeigen, wie es funktionieren kann. Das
deutsche Handwerk ist in vielen gesellschaftspolitischen
Bereichen sowieso einen Schritt voraus.
In den vergangenen Jahren ist der Frauenanteil im
Handwerk kontinuierlich gestiegen. Frauen haben in vielen der fast 1 Million Handwerksbetriebe die Hosen
- oder besser gesagt: die Schweißerjacke, die Lupenbrille oder die elektrisch ableitfähigen Handschuhe - an;
denn Frauen sägen, löten, schweißen, hämmern, schrauben an Autos und decken Dächer. Mehr als ein Viertel
der Auszubildenden im Handwerk sind Frauen, mehr als
20 Prozent der Meisterprüfungen werden von Frauen abgelegt, und fast jeder vierte Gründer im Handwerk ist
weiblich. Bei diesen Zahlen gibt es sogar eine steigende
Tendenz.
({0})
Diese erfreuliche Entwicklung zeigt, dass die freiwillige Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit
von Männern und Frauen, die vor zehn Jahren zwischen
der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der
deutschen Wirtschaft geschlossen wurde, sehr erfolgreich ist. Frauen haben also längst die klassische Männerdomäne Handwerk erobert.
({1})
Diese Entwicklung muss - umgekehrt - auf die Dienstleistungsbranche, insbesondere auf die Gesundheits- und
Pflegeberufe, übertragen werden. In diesen frauendominierten Berufen brauchen wir mehr Männer, um nicht
nur dem Fachkräftemangel, sondern auch dem demografischen Wandel entgegenzuwirken. Ziel des Bundesfamilienministeriums ist es daher, die Attraktivität der Gesundheitsbranche zu steigern,
({2})
zum einen durch eine gesellschaftliche und zum anderen
vor allem durch eine finanzielle Aufwertung der Gesundheitsberufe.
({3})
Das sind Maßnahmen, um die Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern zu verringern. Mit diesem
Thema, nämlich mit der Lohnfindung in den Gesundheitsfachberufen, beschäftigt man sich auch im Rahmen
des diesjährigen Equal Pay Day.
Ich selbst kann nur schwer nachvollziehen, warum
beispielsweise der Umgang mit Maschinen oder mit dem
Thema Finanzen im Hinblick auf die Entlohnung eine
andere Bewertung erfährt als die hohe psychische und
körperliche Belastung im Umgang mit kranken oder
hilfsbedürftigen Menschen. Das widerspricht meinem
persönlichen Gerechtigkeitsempfinden.
({4})
Ein gesellschaftliches Umdenken ist hier dringend erforderlich.
({5})
Für das Handwerk gilt: Wo Tarifverträge existieren,
fällt die Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern geringer aus, weil die Entgeltpraxis an diesen Stellen transparenter ist.
({6})
Wichtig ist auch, dass man bei der Frage der Entgeltgleichheit nicht Äpfel mit Birnen vergleicht.
({7})
Wenn eine Frau beim gleichen Arbeitgeber die gleiche
Arbeit leistet wie ein Mann, dann wird sie auch gleich
entlohnt. Das ist im Handwerk gelebte Praxis und wird
auch nach Recht und Gesetz verlangt.
({8})
- Hören Sie doch erst einmal zu, Frau Ferner! Dann können Sie dazwischenrufen.
({9})
Es wäre auch ökonomisch unsinnig, Männern bei
gleicher Arbeit mehr zu zahlen als Frauen.
({10})
Dazu steht auch nicht im Widersprich, dass Männer und
Frauen beim gleichen Arbeitgeber und im gleichen Beruf dennoch oftmals unterschiedlich viel verdienen.
Denn bei der Lohn- bzw. Gehaltseinstufung werden auch
individuelle Vorkenntnisse und Fähigkeiten, der Grad
der Belastung, die Verantwortung des Arbeitnehmers
und die Art, Vielfalt und Qualität der Tätigkeit berücksichtigt.
({11})
Dies erklärt zum Beispiel, warum nicht jeder Lehrer, jeder Krankenpfleger und jeder Verkäufer gleich entlohnt
werden.
Die viel diskutierte Entgeltlücke von 22 Prozent zwischen Frauen und Männern spiegelt das, was suggeriert
wird, nicht wider. Da die Bruttostundenlöhne von Frauen
um 22 Prozent unter denen von Männern liegen, wird
auf eine Diskriminierung von Frauen in Deutschland geschlossen. Bei dieser Argumentation bleiben jedoch einige Faktoren, die die Vergütung sehr stark prägen, unberücksichtigt, zum Beispiel die Berufswahl, die Dauer
von Elternzeiten und die Häufigkeit von Teilzeittätigkeiten.
({12})
Wie eben gesagt, macht es sich natürlich in der Vergütung von Frauen bemerkbar, dass sich viele von ihnen
für erzieherische, lehrende oder gesundheitsbezogene
Berufe entscheiden statt für technische oder gar ingenieurwissenschaftliche. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat dazu Berechnungen durchgeführt und
festgestellt, dass Elternzeiten von mehr als drei Jahren
mit Entgelteinbußen von durchschnittlich 12 Prozent
einhergehen. Dass Frauen häufiger als Männer in Minijobs arbeiten, senkt ihre durchschnittliche Vergütung.
Der wesentliche Teil der Entgeltlücke zwischen Frauen
und Männern lässt sich somit durch unterschiedliche Berufswahl und Verantwortung in der Familie erklären. Bereinigt man diese Entgeltlücke um die genannten Faktoren, dann bleibt lediglich eine Lücke von 2 Prozent
bestehen.
({13})
Dies sind, wie gesagt, Zahlen des Instituts der deutschen
Wirtschaft Köln. Dieser Wert, Frau Ferner, taugt nun
wirklich nicht, um eine fundamentale Diskriminierung
von Frauen zu belegen. Dies ändert aber nichts an unserem grundsätzlichen, generellen Ziel, die Gleichstellung
von Frauen und Männern in der Arbeitswelt voranzutreiben.
In unserem Antrag haben wir deshalb ein Bündel an
Maßnahmen vorgeschlagen,
({14})
um dieses Ziel zu erreichen, zum Beispiel die Schaffung
von besseren Rahmenbedingungen zur leichteren Vereinbarkeit von Familie und Beruf - das haben wir schon
von Frau Landgraf gehört ({15})
und insbesondere eine flächendeckende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Frau Ferner, noch einmal ganz
deutlich: Wenn Ihre Tochter für ihr Kind Betreuungsgeld
bezieht, dann heißt das noch lange nicht, dass Ihre Tochter währenddessen nicht auch arbeiten kann.
({16})
Wir arbeiten in unserer christlich-liberalen Koalition an
diesem Bündel von Maßnahmen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn meine
Handwerkskollegen gefragt werden, dann sagen sie immer: Wir sind Handwerker, wir können das.
Vielen Dank.
({17})
Vielen herzlichen Dank, Kollege Eckhard Pols.
Kollege Pols war auch der letzte Redner in unserer
Aussprache,
({0})
die ich nun auch schließe.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD zur Durchsetzung des Ent-
geltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer. Der Aus-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12782, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9781 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Fraktion der
SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Die Linke. Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12782 empfiehlt der Ausschuss die An-
nahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/12483 mit dem Titel „Entgelt-
gleichheit für Frauen und Männer verwirklichen - Fa-
milienfreundliche Unternehmen als Beitrag zur Gleich-
stellung der Geschlechter“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfrak-
tionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Frauen
verdienen mehr - Entgeltdiskriminierung von Frauen ver-
hindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12575, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/8897 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende
dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 d sowie
den Zusatzpunkt 10 auf:
32 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg, Thomas
Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({1}), Torsten Staffeldt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Den Wandel in der maritimen Wirtschaft be-
gleiten und ihre nationale Aufgabe für den
Wirtschaftsstandort Deutschland herausstel-
len
- Drucksache 17/12817 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsteuern in der Krise - Maritime Wirtschaft
unterstützen
- Drucksache 17/12723 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Soziale Arbeitsbedingungen in der maritimen
Wirtschaft fördern - Flaggenflucht verhindern
- Drucksache 17/12823 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Bericht der Bundesregierung über die
Entwicklung und Zukunftsperspektiven der
maritimen Wirtschaft in Deutschland
- Drucksache 17/12567 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell
- Drucksachen 17/12697, 17/12878 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Middelberg
Lothar Binding ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit
einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Vizepräsident Eduard Oswald
Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär HansJoachim Otto. - Bitte schön, Kollege Hans-Joachim
Otto.
({6})
Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gleich eingangs meine zentrale Botschaft:
Die maritime Wirtschaft in Deutschland ist eine strategisch unverzichtbare Zukunftsbranche mit einem überdurchschnittlichen Wachstumspotenzial. Wir brauchen
sie als drittgrößtes Exportland der Welt, und wir brauchen diese Branche zur Lösung von zentralen Zukunftsfragen
({0})
wie etwa der Energieversorgung, der Rohstoffversorgung und des Klimawandels. Wir brauchen deshalb auch
ein starkes maritimes Cluster. Um das auch in der Zukunft zu erreichen, hat sich die maritime Wirtschaft insbesondere im Bereich des Schiffbaus strategisch neu und
erfolgversprechend aufgestellt.
Die Werften haben ihre Produktpalette konsequent
angepasst, und inzwischen werden in diesem Bereich
nach langer Zeit wieder zusätzliche Arbeitsplätze aufgebaut.
Unterstützung brauchen die Werften bei der nach wie
vor schwierigen Finanzierung. Bund und Länder haben
insgesamt aber bewiesen, dass sie ihre Instrumente,
nämlich Exportkreditgarantien, CIRR-Zinsausgleichsgarantien und Landesbürgschaften, flexibel und erfolgreich
einsetzen.
Ich begrüße es nachdrücklich, dass es uns gemeinsam
gelungen ist, die Mittel für die Innovationsförderung auf
13 Millionen Euro zu erhöhen. Die Länder stellen eine
Kofinanzierung in gleicher Höhe bereit, und vielleicht
gelingt es uns ja, bei dieser Position auch noch ein bisschen zuzulegen.
Besonders schwierig - darüber gibt es keine Zweifel - ist weiterhin die Lage in der Seeschifffahrt. Es
herrscht weltweit ein Überangebot an Tonnage vor. Die
dringend notwendige Erholung der Charter- und Frachtraten wird wohl kaum vor 2015 eintreten. Hier wird von
den Reedern, den Eigenkapitalgebern und den Banken
viel Engagement verlangt, um die Folgen der strukturellen und konjunkturellen Krise bewältigen zu können.
Die Bundesregierung setzt sich ihrerseits im Rahmen
des Maritimen Bündnisses verlässlich dafür ein, den
Schifffahrtsstandort Deutschland zu stärken. Instrumente
wie Tonnagesteuer, Lohnsteuereinbehalt, Zuschüsse zu
den Lohnnebenkosten und Arbeitsplatzförderung schaffen hier bestmögliche Rahmenbedingungen.
({1})
Mit der Erneuerung des Maritimen Bündnisses hat die
Bundesregierung im vergangenen Jahr ein deutliches
und, wie ich finde, sehr wichtiges Signal gesetzt. Damit
hat die Bundesregierung Kontinuität und Verlässlichkeit
bewiesen.
({2})
Zugleich haben wir erreicht, dass die deutschen Reeder mit 30 Millionen Euro jährlich zusätzlich einen substanziellen Eigenbeitrag zur Stärkung von Ausbildung
und Beschäftigung in Deutschland erbringen. Auch das
will ich an dieser Stelle ausdrücklich gutheißen.
Mit Erleichterung kann ich sagen, dass die Koalition
auch dafür sorgt, dass jetzt keine zusätzlichen Belastungen auf die Reeder zukommen. Ich danke - das tue ich
hier durch besonderes Hervorheben - den Finanzpolitikern der Koalition dafür, dass sie sich auf eine gesetzliche Klarstellung verständigt haben, wonach Erlöspools
in der Schifffahrt nicht versicherungsteuerpflichtig sind.
Ich bin sehr froh, dass dieses Thema noch vor der
Achten Nationalen Maritimen Konferenz erledigt werden konnte. Diese Konferenz findet in zwei Wochen in
Kiel statt. Sie wird dort einer breiten Öffentlichkeit zeigen, dass wir beispielsweise mit dem Zulassungsverfahren für private bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord den
Reedern die notwendige Rechtssicherheit verschaffen,
dass wir im Bereich Verkehrsinfrastruktur viel für Hafenanbindung und Ertüchtigung der Bundeswasserstraßen tun - ein Beispiel ist der Nord-Ostsee-Kanal ({3})
und dass wir den Nationalen Masterplan Maritime Technologien erfolgreich fortschreiben und umsetzen. Für
Zukunftsmärkte, zum Beispiel Offshorewind, maritime
Sicherheit und Tiefseebergbau, konnten wichtige Akzente gesetzt und konkrete Aktivitäten angestoßen werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist heute vermutlich meine letzte Rede als Maritimer Koordinator vor
diesem Hohen Haus. Ich will deshalb die Gelegenheit
nutzen, um mich bei Ihnen allen für eine insgesamt sehr
konstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit in den
vergangenen Jahren zu bedanken. Die maritime Kooperation - so nenne ich das - über alle Fraktionsgrenzen
hinweg ist viel sachorientierter und zielgerichteter verlaufen, als es vermutlich die folgenden Redebeiträge der
Opposition vermuten lassen.
Ich freue mich darauf, möglichst viele von Ihnen in
14 Tagen in Kiel wiedersehen zu können.
Herzlichen Dank.
({5})
Auch Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär,
ein herzliches Danke. - Nächster Redner in unserer Aussprache für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Uwe Beckmeyer. Bitte schön, Kollege Uwe
Beckmeyer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
- Herr Fischer, haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, weshalb hier kein Minister sitzt? Ist das für die
Minister Rösler und Ramsauer kein Thema? Aber gut.
Die maritime Wirtschaft schaut auch ohne die Minister heute nach Berlin.
({1})
In der Vorbereitung der Konferenz in Kiel werden von
der Politik überzeugende Antworten erwartet,
({2})
die helfen können, die maritime Wirtschaft in schwierigen Zeiten zu unterstützen. Das gilt für die derzeitige
Bundesregierung leider nicht. Sie hat in den Augen der
maritimen Wirtschaft schon auf der Konferenz in Wilhelmshaven kläglich versagt. Showeffekte sind kein Ersatz für eine stimmige und hilfreiche Politik.
({3})
Auch nach der letzten Maritimen Konferenz hat es die
Regierung nicht vermocht, das Steuer herumzureißen. In
wesentlichen Handlungsfeldern der maritimen Wirtschaft sind von ihr keine Antworten geliefert worden.
Die Folgen: Auf wichtigen Feldern, ob Offshorewindenergie, Maritimes Bündnis oder Hinterlandanbindung,
ist weiterhin kein Land in Sicht. Die Aussichten verheißen wenig Besserung, zumindest was die Politik von
Union und FDP betrifft. Die Achte Nationale Maritime
Konferenz in Kiel fällt mit dem Ende dieser Wahlperiode zusammen. Oder sollte man besser sagen: Mit
dem Ende der schwarz-gelben Regierungszeit?
({4})
Daher ist dies auch der Zeitpunkt für eine Bilanz von
vier Jahren Schwarz-Gelb. Das Ergebnis fällt nicht positiv aus; denn eine Schlüsselbranche unserer Volkswirtschaft ist unter der jetzigen Bundesregierung auf sich gestellt.
({5})
Die derzeitige Bundesregierung versteht sich, wie im
Bericht mehrfach nachzulesen, als moderierend. Handeln ist nicht so ihr Ding. Sie setzt auf wichtigen Handlungsfeldern der maritimen Wirtschaft auf den Rückzug
des Staates, das Laisser-faire der Märkte - eine Haltung,
die dem maritimen Standort insgesamt schadet. Wir
brauchen einen Kurswechsel in der maritimen Politik.
Notwendig ist eine konsequente Innovationspolitik, um
die maritime Wirtschaft in der Krise aktiv zu unterstützen.
({6})
Entscheidend wird sein, den Modernisierungsprozess
der Branche aktiv zu steuern. Eine strategische Industriepolitik für den gesamten maritimen Bereich muss
vier zentrale Bausteine enthalten: erstens die Finanzierung von maritimen Projekten, zweitens die Förderung
zukunftsfähiger Arbeit, drittens eine umfassende Innovationsstrategie und -förderung und viertens die Stärkung der Infrastruktur. Kurz gesagt: Ein Zukunftspaket
für die maritime Branche ist notwendig. Darauf setzen
wir Sozialdemokraten.
({7})
Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Branche hängt
wesentlich vom technologischen Fortschritt und von
marktfähigen Innovationen ab. Dies erfordert jedoch
hohe Investitionssummen. Angesichts der weltweit angespannten Lage auf den internationalen Kapitalmärkten
und der wachsenden globalen Standortkonkurrenz ist die
solide Finanzierung absolut notwendig und eine wesentliche Herausforderung der maritimen Erfolge und der
maritimen Projekte.
Darum fordern wir die Bundesregierung auf, sich gegenüber der BaFin für die Übernahme des sogenannten
Long Term Asset Value als alternatives Ertragswertverfahren für die Schiffsfinanzierung einzusetzen - bis zum
heutigen Tage ist da auf Ihrer Ebene nichts passiert -,
gemeinsam mit den schiffsfinanzierenden Banken Modelle zu entwickeln, um die deutschen Reeder beim Abbau von Schiffskapazitäten zu unterstützen, und zwar
durch Aufliegerprogramme oder durch Herausnahme
von Schiffen, die nicht energieeffizient sind oder älter
als 15 Jahre, die bestehenden Finanzierungsinstrumente
zu überprüfen und im Rahmen von Förderzielen neue
Perspektiven für die Schiffbaubranche zu eröffnen.
Ich will das abkürzen. Wir haben im Bereich der Offshoreförderung ein KfW-Sonderprogramm. Bis zum
heutigen Tage haben Sie, sehr geehrte Damen von der
christdemokratischen Union und der FDP, es abgelehnt,
dies für den Bereich der Hafen- und Schiffskapazitäten
zu öffnen. Das ist ein Umstand, der - ich sage es einmal für die deutsche Küste schädlich ist.
({8})
Der maritime Arbeitsmarkt ist in den vergangenen
Jahren stark in Bewegung geraten. Vor diesem Hintergrund sind Fragen der Verfügbarkeit und Qualifizierung
von Fachkräften sowie der Stellenwert und die Perspektive der traditionellen Industriearbeit zu diskutieren.
Auch hier wurden Aufgaben nicht erfüllt. Deshalb fordern wir Sozialdemokraten die Entwicklung von Maßnahmen zur Sicherung des Nachwuchses in der Schiff29050
bauindustrie, die Erhöhung der Ausbildungsquote in der
deutschen Werftindustrie, die Verknüpfung der Förderung für den Bereich Schiffbau, Seeschifffahrt und
Offshorewindenergie mit quantitativen und qualitativen
Zielen hinsichtlich Ausbildung, Übernahme und Ausgestaltung der Tarifverträge.
Wir fordern ein Sicherheitskonzept Deutsche Küste
im Bereich des Rettungswesens auf Offshorewindenergieanlagen und eine koordinierte Strategie einer maritimen Sicherheitspartnerschaft aller Beteiligten ein. Nicht
nur diejenigen, die vor der Küste technisch tätig sind,
sondern wir alle müssen uns darum kümmern. Ich will
mich auch hier kurzfassen. Die Langfassung können Sie
in unserem Antrag nachlesen. Wir fordern Sie des Weiteren auf, auf europäischer Ebene beim Verzicht auf Ausschreibungspflicht für Lotsdienste tätig zu werden. Hier
ist zu vermerken, dass Sie bislang alle Aktivitäten unterlassen haben.
Wir brauchen dringend Anstrengungen bei der beschleunigten Modernisierung der Schiffsflotte zur verstärkten Emissionsminderung und Energieeffizienz. Wir
brauchen eine systematische Untersuchung der Vor- und
Nachteile von Flüssiggas und Flüssigerdgas. Auch hier
haben Sie in Ihrer Strategie einen absoluten Nullpunkt
erreicht. Wir brauchen die Entwicklung einer Exzellenzstrategie, die es der deutschen Werftindustrie ermöglicht,
im Hightechsegment tätig zu werden. Wir brauchen zudem eine deutliche Aufstockung im Haushaltstitel „Maritime Technologie der nächsten Generation“ zugunsten
der Werftindustrie in Deutschland.
Wesentlicher Bestandteil einer Innovationsstrategie
für die maritime Wirtschaft muss auch eine gezielte
staatliche Infrastrukturpolitik sein; denn die logistische
Anbindung der deutschen Seehafenstandorte wird in den
kommenden Jahren zu einem kritischen Wettbewerbsfaktor werden. Nur eine Politik der zwei Säulen - industrielle Entwicklung und Ausbau der Infrastruktur - wird
dazu beitragen, die Wachstumsbasis der maritimen Branche in Deutschland nachhaltig zu sichern und zu stärken.
Hierzu einige Stichworte: zuverlässige Abwicklung der
Hinterlandverkehre insbesondere durch den Ausbau der
Schienen- und Wasserwege sowie den zügigen Ausbau
der seewärtigen Zufahrten unserer Seehäfen inklusive
Nord-Ostsee-Kanal; Kürzung der Verfahrensdauer beim
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig durch eine deutlich bessere Personalausstattung. Sie müssen das Prinzip
der verkehrsträgerbezogenen Finanzierungskreisläufe
aufgeben. Wir brauchen eine integrierte Finanzierung
unserer Verkehrsinfrastruktur.
({9})
Wir brauchen endlich eine klarsichtige Politik bei der
Neuordnung der Bundeswasserstraßen. Was Sie dort aktuell machen, ist schädlich für Deutschland. Sie bringen
den ganzen Bereich in Unordnung. Wir wollen das beenden. Ich hoffe, dass es nach Abwahl dieser Regierung zu
einem Neustart kommt.
Sie sehen, meine Damen und Herren: Nichts ist gut
auf diesem Feld in der Bundesrepublik Deutschland. Die
Bundesregierung versucht mit ihrer selbstgefälligen Art,
die Fehlleistungen der vergangenen dreieinhalb Jahre zu
übertünchen. Aber die maritime Industrie lässt sich nicht
mehr hinter die Fichte führen. Sie wartet auf einen Neustart. Diesen wird es allerdings mit dieser Bundesregierung nicht geben. Wir brauchen einen Kurswechsel in
der maritimen Politik, vielleicht kommt er erst nach der
Bundestagswahl.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Uwe Beckmeyer. - Nächster
Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist unser Kollege
Eckhardt Rehberg.
({0})
- Dieser Tausch ist bei mir, dem Präsidenten, nicht angekommen. Es ist schön, dass die richtige Reihenfolge wenigstens auf dem Bildschirm erscheint. Aber beim Präsidenten ist es nicht angekommen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Kollege Enak Ferlemann. Bitte schön, Kollege Enak
Ferlemann.
({1})
Sehr geschätzter, hochverehrter Herr Präsident, entschuldigen Sie, dass ich mich etwas vorgedrängelt habe.
Aber die Geschäftsordnung sieht das so vor. Gleichwohl
werden alle Kolleginnen und Kollegen hier noch zu
Wort kommen.
Wir haben gerade einen etwas erschütternden Bericht
des Kollegen Beckmeyer über ein Land, das ich gar
nicht kenne, gehört. Die Bundesrepublik Deutschland
kann das jedenfalls nicht sein.
({0})
Wir stehen vor der Achten Nationalen Maritimen
Konferenz, einer wunderbaren Errungenschaft. Die
ganze Branche mit ihren verschiedenen Facetten trifft
sich, kann miteinander sprechen, Impulse setzen, über
Lösungsansätze diskutieren und hat die Möglichkeit, mit
Politik, Verwaltung und Gesellschaft in Austausch zu
treten. Viele andere Branchen in Deutschland würden
sich wünschen, dass es eine solche Gelegenheit gäbe,
sich auszutauschen.
Pünktlich zum Maritimen Bündnis legen die Koalitionsfraktionen unter deiner Federführung, lieber
Eckhardt Rehberg, einen wiederum außerordentlich gelungenen Antrag vor,
({1})
der die maritime Politik exzellent beschreibt, der aber
auch deutlich macht, welche Herausforderungen für
diese Branche auf Deutschland und auf die Politik zukommen.
Man kann allerdings feststellen, lieber Kollege
Beckmeyer: Die maritime Wirtschaft und die maritime
Politik sind bei uns in sehr guten Händen.
({2})
Ich kann das nur betonen und darf mich an dieser Stelle
für die exzellente Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Otto aus dem Wirtschaftsressort bedanken. Ich
glaube, die Erfolge der vergangenen Jahre können sich
wahrhaft sehen lassen.
Wir haben es hier mit einer Branche zu tun, in der es
rund 400 000 Beschäftigte gibt und die einen sagenhaften Jahresumsatz von rund 50 Milliarden Euro macht.
Häufig wird maritime Politik als rein norddeutsche Politik qualifiziert, die sie aber nicht ist; denn alle Auswirkungen der maritimen Politik betreffen immer das ganze
Land. Maritime Politik ist nicht nur eine Politik für die
Küstenländer, sondern maritime Politik ist eine Politik
für das ganze Land, sie ist eine nationale Aufgabe.
({3})
Der Schwerpunkt der maritimen Politik liegt insbesondere auf den norddeutschen Ländern; aber genauso
wichtig ist die Anbindung der ZARA-Häfen. Auch die
ZARA-Häfen sind wichtig für die maritime Politik, die
wir in Deutschland machen müssen;
({4})
denn auch dort werden Hinterlandanbindungen gebraucht, auch dort wird importiert und exportiert. Deswegen muss man beides im Blick haben. Ich glaube,
dass wir die Nordwestrange insgesamt sehen müssen.
Die Konkurrenz dieser Häfen findet nicht untereinander
statt, sondern das ist nur Wettbewerb; und das ist gut und
richtig so. Die Konkurrenz droht aus Süd- und Südosteuropa. Darauf muss die Nordwestrange reagieren, und
darauf müssen die richtigen politischen Antworten gegeben werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach
der Anbindung der Seehäfen. Bei dem steigenden Warenumsatz, den wir durch die Globalisierung haben, sind
die Seehäfen die Einfallstore der Globalisierung. Deswegen ist es vordringliche Aufgabe des Verkehrsministeriums, für eine ordnungsgemäße Anbindung der Seehäfen zu sorgen. Das tun wir. Noch nie hat eine
Bundesregierung einen Schwerpunkt so sehr auf die Seehafenhinterlandanbindung gelegt wie diese. Im neuen
Bundesverkehrswegeplan, der von 2015 bis 2030 reichen wird, wird sie es wiederum tun.
({5})
- Herr Beckmeyer, ich denke, auch Sie sind mit großer
Freude zwischen Bremen und Hamburg oder Hamburg
und Bremen, wie auch immer Sie das sehen, auf der neu
gestalteten A 1 gefahren.
({6})
Da gibt es nicht einmal ein Tempolimit, so gut ist sie
ausgebaut.
({7})
So schnell sind Sie auf der Straße noch nie von Bremen
nach Hamburg gekommen. Wir sind mit dem Ausbau
der A 7 weit vorangekommen, wir bauen den nächsten
Abschnitt der A 21,
({8})
die A 14 ist begonnen worden, und die Planungen der
A 20 und der A 39 gehen zügig voran. Trotz mancher
Koalitionsversprechen, die Sie in den norddeutschen
Ländern gegeben haben, was diesen Projekten wahrhaft
nicht guttut, werden wir sie trotzdem hinbekommen.
Denken Sie an die Schiene und das Seehafenhinterlandanbindungsprogramm, das wir haben. Ich erinnere
an die Knoten, die ertüchtigt und aufgebaut werden. Es
stellt sich die Frage, ob wir die steigenden Mengen auf
dem bestehenden Netz abwickeln können oder ob wir
Alternativen brauchen - Stichwort: Y-Trasse. Die Untersuchungen laufen.
({9})
Wir haben viele Projekte, zum Beispiel die BetuweLine, die wir auf nordrhein-westfälischer Seite ausbauen. Alles das sind Punkte, die für eine exzellente
Politik sprechen. Sie haben zu Ihren Regierungszeiten
davon geträumt, so etwas verwirklichen zu können.
({10})
Genauso ist es mit den seewärtigen Anbindungen.
Alle seewärtigen Anbindungen sind von dieser Regierung in der Planung weit vorangetrieben worden. Die
Planfeststellungsverfahren sind häufig abgeschlossen
und liegen jetzt dem Bundesverwaltungsgericht vor. Ich
finde, man sollte etwas bescheidener sein, wir als Exekutive und Sie als Legislative, wenn die Judikative Recht
sprechen soll. Warten Sie doch in Ruhe die Urteile ab.
Ich vertraue darauf, dass unsere Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter einen hervorragenden Job gemacht haben
und wir bei Gericht schon gewinnen werden. Ein bisschen Geduld tut manchmal auch einem Bremer ganz gut.
Der Blutdruck normalisiert sich dann. Warten wir das
also ab. Dann gestalten wir die Dinge, die da kommen.
Wir sehen allerdings am Nord-Ostsee-Kanal, so wie
an vielen Stellen, dass wir mehr Geld für den Erhalt der
Seehafenhinterlandanbindungen brauchen. Da haben wir
die Programme so umgestrickt, dass wir schon im aktuellen Investitionsrahmenplan einen größeren Schwerpunkt auf die Unterhaltung als auf Neuinvestitionen gelegt haben. Das ist gut und richtig so.
Wir werden auf dieser Maritimen Konferenz sicherlich über die Krise der Seeschifffahrt, über die Finanzierungsfragen sprechen. Wir werden über das hervorragend ausgestaltete Maritime Bündnis sprechen, das noch
nie so gut wie jetzt dastand.
({11})
Ich freue mich darüber, dass wir das Seearbeitsgesetz
fertiggestellt haben. Ich freue mich über die Modernisierung der Flaggenpolitik, und ich freue mich darüber,
dass trotz mancher Diskussion in diesem Hause die Tonnagesteuer nach wie vor eine der bedeutendsten Fördermöglichkeiten für die Reeder ist.
({12})
Wir werden über die Zukunft der Werften reden. Wir
werden über die sicheren Seewege reden, darüber, was
die Operation Atalanta gebracht hat, darüber, was wir
gemeinsam vereinbart haben, um Sicherheitskräfte auch
an Bord deutsch geflaggter Schiffe nehmen zu können.
({13})
Wir werden über die leistungsfähigen Seehäfen reden,
übrigens auch über die Binnenhäfen. Haben Sie das neue
Konzept der Bundesregierung schon einmal gelesen,
Herr Beckmeyer? Exzellente Arbeit! Das müssten Sie eigentlich zugestehen.
In diesem Zusammenhang seien mir noch folgende
Fragen erlaubt: Wie stellt Herr Beckmeyer sich vor,
Seehäfen, die ausgebaut werden, zu fördern? Herr
Beckmeyer, was machen Sie denn mit denen, die ausgebaut worden sind? Wie wollen Sie denn da fördern? Die
Ungleichheit der Wettbewerbsbedingungen hat er natürlich nicht erwähnt, sondern er ruft nach Geld ohne Konzept, ohne Sinn und Verstand. Die Offshorewindindustrie wird es schon genau zu werten wissen.
Wir werden über Klima und Umweltschutz reden,
über die maritime Sicherheit, über all diese Punkte.
({14})
Ich glaube, wir haben mit der Achten Nationalen Maritimen Konferenz ein hervorragendes Diskussionsforum.
Ich glaube, wir haben alle Möglichkeiten, die Zukunftsfähigkeit der Branche für ganz Deutschland - maritime
Politik ist eine nationale Aufgabe - gut darzustellen und
Impulse zu setzen. Ich freue mich, wenn wir uns in Kiel
wiedersehen und nachher die Ergebnisse bewerten und
umsetzen können. Alles Gute der nächsten Maritimen
Konferenz in Kiel!
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt ein paar Worte aus der real existierenden Bundesrepublik.
({0})
Die Schiffe unter deutscher Flagge werden von Monat
zu Monat weniger. 600 sollten es mindestens sein - Sie
wissen es -; das wurde im Maritimen Bündnis vor zehn
Jahren vereinbart. Aktuell sind es halb so viele. Die Versuche der Bundesregierung seit der Siebten Nationalen
Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven, die Reeder
wieder zu mehr Engagement zu bringen, sind weitgehend gescheitert. Das Maritime Bündnis ist in Wirklichkeit kein Bündnis mehr. Die Reeder haben ihren Beitrag
an Ausbildung und Beschäftigung zwar erhöht, aber paradoxerweise wird dieser Beitrag zum Teil aus Gebühren
finanziert, die eingenommen werden, wenn Schiffe ausgeflaggt werden. Das heißt im Umkehrschluss: Je mehr
Schiffe ausgeflaggt werden, umso mehr Geld können die
Reeder zur Verfügung stellen, um Beschäftigung zu fördern. Das kann doch kein Konzept sein.
({1})
Ein anderes Beispiel für diese falsche Politik finden
wir beim Flaggenrecht. Die Bundesregierung behauptet,
sie habe die maritime Ausbildung gestärkt. Aber was hat
sie tatsächlich gemacht? Die Koalitionsfraktionen drückten durch, dass Flaggenflucht nur dann genehmigt wird,
wenn die Reeder dafür einen Ausgleich leisten. Der Ausgleich besteht darin, dass Ausbildungsplätze auch auf
ausgeflaggten Schiffen erhalten bleiben sollen. Aber
keine Regel ohne Ausnahme: Die Reeder können sich
mit geringen Ausgleichszahlungen von der Ausbildungspflicht freikaufen. Mit dieser Politik muss Schluss gemacht werden.
({2})
Wir fordern, die Arbeitsbedingungen in der maritimen
Wirtschaft zu verbessern, und dazu gehört, die Flucht
aus der deutschen Flagge zu verhindern.
({3})
Die Reeder oder, besser gesagt, die Finanzinvestoren
und Fonds, die dahinterstecken, suchen ihre Anlagemöglichkeiten immer dort, wo am meisten Profit erwirtschaftet werden kann. Ist es hier im Land zu wenig, dann zieht
man halt weiter. Verlierer ist der Staat, weil ihm Steuereinnahmen wegbrechen; Verlierer sind insbesondere die
Beschäftigten, weil Konkurrenzvorteile immer auch zulasten von sozialen Standards, Arbeitsplätzen und Einkommen gehen. Darum müssen Wettbewerbsvorteile,
die ausschließlich zulasten der Beschäftigten und der
Steuerzahler gehen, abgeschafft werden.
({4})
Die Bundesregierung muss auf europäischer Ebene
dahin gehend aktiv werden, den Subventionswettlauf zu
stoppen. Förderungen an Unternehmen darf es nur dann
geben, wenn Ausbildung und Know-how verbindlich gesichert werden. Leistung ohne Gegenleistung darf es in
der europäischen Schifffahrt nicht länger geben. Das fordern wir in unserem Antrag.
({5})
Aber nicht nur auf See, sondern auch an Land sind die
Arbeitsbedingungen schlechter geworden. Die Unternehmen nutzen die Krise und auch die Möglichkeiten
der Agenda 2010, um Druck zu machen. Leiharbeit,
Werkverträge, befristete Beschäftigungen sind Kennzeichen einer falschen Arbeitsmarktpolitik.
Auch wenn Unternehmen in die Krise geraten, wie
SIAG in Emden oder P+S in Wolgast und Stralsund, gibt
es mehr Möglichkeiten als Entlassungen und Lohnkürzungen. Die Menschen dort müssen eine Perspektive für
ihr Leben bekommen. Und wenn es den Unternehmen
allein nicht möglich ist, das finanziell zu wuppen, dann
müssen durch staatliche Förderung, Qualifizierungsgesellschaften, bessere Kurzarbeitsregelungen und Arbeitszeitverkürzungen Arbeitsplätze erhalten werden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der
Bundesregierung zeigt die Probleme der maritimen
Wirtschaft auf: Überkapazitäten im Schiffbau, sinkende
Frachtraten und dramatische Unterbeschäftigung in
Schifffahrtsunternehmen und Werften. Aber Sie ziehen
keine Konsequenzen daraus. Sie predigen gebetsmühlenartig Ihre alte Idee - Sie warten darauf, dass die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise endlich vorbeigeht,
und hoffen, dass die strahlende Zukunft für Häfen, Werften und Zulieferer an der Nord- und Ostseeküste durch
die Offshorewindenergie kommen wird. Aber Hoffen
und Harren allein reichen doch nicht aus. Sie müssen
handeln!
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie listen in Ihrem Antrag mehr als ein Dutzend Maßnahmen auf, die angeblich die Belange der maritimen
Wirtschaft gefördert hätten. Am Ende lassen sich diese
Maßnahmen auf zwei Begriffe reduzieren: Wir brauchen
mehr Wachstum, wir brauchen mehr Markt. - Das kann
es aber doch nicht sein! Zu Recht werden an 16 Stellen
im Bericht der Bundesregierung „große Herausforderungen“ - so heißt es - erwähnt, denen man sich stellen
müsse. Aber wenn keine Prioritäten gesetzt werden,
dann wird doch daraus nichts!
„Das Meer ist Wirtschafts- und Lebensraum sowie
Nahrungs- und Ressourcenquelle zugleich.“ So steht es
sehr richtig in dem Antrag der Koalition. Aber diese teils
gegensätzlichen Funktionen des Meeres bergen Konflikte. Darum müssen Richtungsentscheidungen gefällt
werden. Neben der Schaffung guter Arbeit in der maritimen Wirtschaft und auf Schiffen ist die Forschung und
Entwicklung in zukunftsfähige, umweltverträgliche
Technologien ein sehr, sehr wichtiges Handlungsfeld für
staatliche Technologiepolitik und auch für Forschungsförderung.
({8})
Vordringlich ist die Senkung der Emissionen von
Schadstoffen in der Schifffahrt nicht nur auf hoher See.
Eine der Hauptursachen der Feinstaubemissionen gerade
in Norddeutschland ist die Verbrennung von Schweröl in
Schiffsmotoren. Inzwischen gibt es zwar gesetzliche
Grenzwerte für Schwefelemissionen, nicht aber bei
Schwermetallen und Ruß. Hier besteht sofortiger Handlungsbedarf.
({9})
Im Bericht der Bundesregierung wird der Schutz der
natürlichen Umwelt aber unter den Vorbehalt von Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit der Produkte gestellt. Sie wollen mit Ihrer Forschungs- und Entwicklungspolitik erreichen, dass Innovationszyklen drastisch
verkürzt werden, um der Konkurrenz immer einen
Schritt voraus zu sein. Sie wollen erreichen, dass schneller und billiger produziert wird. Aber sind das nicht auch
die Ursachen des internationalen Verdrängungswettbewerbs, für die bestehenden Wahnsinnsüberkapazitäten
auf den Weltmärkten? Zukunftsweisende Forschungsund Technologiepolitik in der maritimen Wirtschaft sieht
wirklich anders aus.
({10})
SPD und Grüne haben Anträge vorgelegt, in denen sie
eine Umsteuerung in der maritimen Wirtschaft fordern.
Die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben erkannt,
dass die Liberalisierung der Märkte und der Rückzug des
Staates nicht dazu führen, dass maritime Standorte gestärkt werden - eine späte, aber richtige Erkenntnis, allerdings auch das Gegenteil dessen, was ursprünglich
Ihre Arbeitsmarktpolitik war.
Wir unterstützen viele Ihrer Forderungen, können Ihrem Antrag aber nicht zustimmen. Denn wieder setzen
Sie auf den Marineschiffbau und fordern von der Bundesregierung, „den Marineschiffbausektor bei seinen Exportanstrengungen durch die Förderung von Referenzprojekten zu unterstützen“. Bau und Export von
Kriegsschiffen und anderen Marineprodukten sind aber
nicht die Zukunft. Wir wollen Rüstungsexporte stoppen.
({11})
Beim Marineschiffbau muss mit intelligenter Konversionspolitik umgebaut werden; die darin steckenden finanziellen Mittel müssen in zukunftsfähigen zivilen
Schiffbau umgelenkt werden.
({12})
Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, sind wir dabei, wenn es darum geht, die
weitere Liberalisierung der Hafendienstleistungen zu
verhindern. Auch wir fordern: Port Package III darf es
nicht geben. Ich hoffe sehr, dass die Maritime Konferenz
in Kiel die wesentlichen Fragen diskutieren und Schwerpunkte setzen wird. Passiert das nicht, bleibt die maritime Wirtschaft in schwerer See.
Vielen Dank.
({13})
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Dass der maritime Wirtschaftszweig Debattenthema hier im Bundestag ist,
kommt nur alle zwei Jahre vor,
({0})
bedauerlicherweise; es gibt nämlich genug Probleme in
dem Sektor. Wir kommen hier mehr oder weniger nur
alle zwei Jahre dazu, darüber zu diskutieren, weil dann
wieder eine neue maritime Konferenz vor der Tür steht.
({1})
Kurz vorher machen wir hier wieder unsere übliche parlamentarische Selbstbeweihräucherungsshow nach zwei
Jahren zwischenzeitlichen Stillstands.
Nachdem wir uns 2011 auf der Baustelle des JadeWeserPorts in Wilhelmshaven - ich sage einmal - zum politischen Camping getroffen haben, ist die deutsche maritime Wirtschaft immer weiter in die See hineingeflossen;
sie ist beinahe verschwunden.
({2})
Wir sind zwar die weltgrößte Containerschiffnation
- das hört sich zunächst einmal ganz gut an -, aber die
Schiffe fahren nicht unter deutscher Flagge, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben einen dramatischen
Rückgang zu verzeichnen, nämlich von knapp 500 Schiffen
auf jetzt nur noch knapp über 300 Schiffe.
Was wir sehen, ist eine riesige Schiffsblase, die in
Kürze zerplatzen wird.
({3})
Die Banken, werter Kollege Staffeldt,
({4})
ziehen sich aus der Schifffahrt zurück. Vielleicht ist das
sogar bei der FDP angekommen. Die Commerzbank hat
das angekündigt. Die HSH Nordbank, der ehemals
größte Schiffsfinanzierer der Welt, kann nur mit gerade
wieder auf 10 Milliarden Euro erhöhten staatlichen
Bürgschaften aus Schleswig-Holstein und Hamburg
- um einmal im maritimen Bild zu bleiben - knapp über
Wasser gehalten werden.
Wo bleibt die schonungslose Analyse des ach so kompetenten Wirtschaftsministers?
({5})
Ich habe sie noch nicht gehört. Die gibt es nämlich nicht.
Der Wirtschaftsminister stammt zwar aus der sogenannten Partei der Wirtschaft, aber Fehlanzeige im dicken
Bericht der Bundesregierung!
({6})
Ich kann mir auch durchaus vorstellen, warum das so
ist. Den ganzen Schlamassel - den können Sie auch
nicht mit Träumereien über irgendwelche sich wieder erhöhenden Frachtraten und Ähnliches verdecken - hat die
Politik mit zu verantworten. Unsere Vorgängerinnen und
Vorgänger haben es zugelassen, dass sich diese Blase,
diese riesige Schiffsmenge, bilden konnte. Mit dem Instrument des Schiffsfonds wurde eine prima Steuersparmöglichkeit für Anleger geschaffen, angefeuert durch
die vereinfachte Tonnagegewinnermittlung - umgangssprachlich: Tonnagesteuer; es wurde schon angesprochen -, die im Grundsatz sicherlich nicht ganz falsch ist.
({7})
Aber wir kennen das auch aus anderen Bereichen: Das
Instrument ist falsch angewendet worden. Ich denke da
an die Bauherrenmodelle aus früherer Zeit. Das ist aber
nur die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite der Medaille ist, dass wir mit diesem
Finanzierungssystem ermöglicht haben, dass unternehmerische Verantwortung und unternehmerisches Risiko
praktisch voneinander entkoppelt sind.
({8})
Durch die Konstruktion der Schiffsfonds als KG zählt
das für die finanzierenden Banken bislang als Eigenkapital, obwohl der Reeder gar kein eigenes Geld hineingesteckt haben muss. Als Eigenkapital steckt im Wesentlichen nur das Geld der aufs Steuersparen fixierten
Anleger drin; Herr Staffeldt, das sollten auch Sie so
langsam mal begriffen haben.
({9})
Der Reeder bekommt also ein Schiff, das er einsetzen
kann, ohne dass er mit einem einzigen Euro Eigenkapital
in die unternehmerische Haftung gegangen ist. So haben
wir die Blase geschaffen, meine Damen und Herren, an
der die maritime Wirtschaft jetzt zugrunde zu gehen
droht.
({10})
Was müssen wir jetzt machen? Vor allen Dingen muss
die Bundesregierung endlich aus ihrem maritimen Tiefschlaf aufwachen und wirksame Maßnahmen ergreifen.
({11})
- So nach hellwach sah das eben aber nicht aus, Kollege
Otto. - Eine funktionierende Lösung haben wir in unserem Antrag zur Tonnagesteuer präzise vorgeschlagen
- die Finanzwelt sieht das mittlerweile auch so -:
Erstens. Die Tonnagegewinnermittlung muss direkt
bei der Schiffsgesellschaft vorgenommen werden. Also
für die Fachleute unter uns und den Zuschauern: Umstellung der Besteuerung der Schiffsfonds vom Transparenz- auf das Trennungsprinzip.
({12})
Zweitens. Alle Schiffe eines Reeders müssen in dessen konsolidierte Bilanz aufgenommen werden, unabhängig vom Anteil der tatsächlichen finanziellen Beteiligung des Reeders. Damit übernimmt er nämlich auch
wieder Verantwortung für sein unternehmerisches Handeln.
({13})
Drittens. Wir müssen unser Flaggenregister dringend
dienstleistungsorientiert aufstellen oder müssen am besten gleich ein solches dienstleistungsorientiertes europäisches Flaggenregister schaffen, also die Europaflagge. Wir sind schließlich Bestandteil des vereinigten
Europa.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der zur unternehmerischen Verantwortung passt: das Thema Ausbildung
in der Seeschifffahrt. Junge Menschen bilden wir zu
Nautikern aus. Sie freuen sich und verlassen die Seefahrtsschulen, erhalten stolz ihr Patent, und dann kommt
das böse Erwachen: Sie finden keine Anstellung auf einem Schiff mit deutscher Flagge, um ihre Patente auszufahren. Was ist die Folge? Nach drei Jahren sind sie
schlicht und ergreifend ihr Patent wieder los, und die
ganze teure Ausbildung war für die Katz.
({14})
Hier brauchen wir dringend Lösungen, die ein echtes
maritimes Bündnis aller Partner aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik schaffen könnten. Sonst stehen wir
nämlich bald ganz ohne Nautiker aus deutscher Ausbildung da und brauchen dann für sie auch keine Tarifverträge und gesetzlichen Regelungen mehr. Das will ich
wirklich nicht.
({15})
Darum brauchen wir jetzt den echten Neustart des Maritimen Bündnisses. Der 22. September ist dafür der richtige Stichtag.
({16})
Werter Kollege Otto, Sie schmücken sich mit dem
schillernden Titel „Maritimer Koordinator der Bundesregierung“. Toll! Doch ich frage mich: Wo sind Sie, wenn
es um die wichtigen Fragen der maritimen Politik geht?
Schiffsfinanzierung? Abgetaucht. Hafenkonzept? Abgetaucht. Meeresschutz? Abgetaucht. Also komplett abgetaucht.
({17})
Zum Neustart des Maritimen Bündnisses nach der
Wahl gehört auch eine neue Rolle für den Maritimen Koordinator. Es macht einfach keinen Sinn, wenn wir das
Themenfeld auf zwei oder mehr Ministerien aufteilen,
die sich dann auch noch spinnefeind sind.
({18})
Der Maritime Koordinator muss mit der Fachebene sinnvoll verbunden sein. Er oder besser sie gehört dahin, wo
die meisten Fachabteilungen sind: ins Verkehrsministerium. Mit der heutigen Konstruktion werden wir der Bedeutung der Branche nicht mehr gerecht.
({19})
Ein zukunftsfähiges Konzept ist von dieser Regierung
nicht mehr zu erwarten.
({20})
Hier ist Abwracken angesagt. In genau sechs Monaten
ist der Stichtag.
Herzlichen Dank.
({21})
Der Kollege Eckhardt Rehberg hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Für einen hessischen Jungen, lieber HansJoachim, ist es am Anfang wahrscheinlich nicht ganz
einfach gewesen. Wenige Tage vor der Nationalen Maritimen Konferenz will ich dir im Namen der Unionsfraktion danken. Es war heute wahrscheinlich deine letzte
Rede als Maritimer Koordinator.
Lieber Uwe Beckmeyer, ich werde darauf eingehen,
was geleistet worden ist, unter anderem bei der Bekämpfung der Piraterie, beim Maritimen Bündnis. In den zehn
Jahren eurer Regierungszeit, in denen ihr die Verkehrsminister gestellt habt, habt ihr nicht einmal ansatzweise
das geschafft, was wir auf die Reihe bekommen haben.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Säulen
der Schifffahrtsförderung in Deutschland sind die Tonnagesteuer, der Lohnsteuereinbehalt und das Maritime
Bündnis. Bei der Tonnagesteuer wird oft nur auf die
Zahl der Schiffe geguckt, die unter deutscher Flagge fahren.
({1})
Natürlich wird es Probleme geben, wenn die Reeder mit
Standort in Deutschland nicht zur Vernunft kommen. Es
gibt nämlich zwei Kriterien: Entweder fahren 60 Prozent
unter europäischer Flagge, oder es gibt einen Aufwuchs
bei der eigenen Flagge. Auf der anderen Seite muss man
sehen, dass wir seit 1999 einen Zuwachs an Landarbeitsplätzen von 16 000 auf 23 000 zu verzeichnen haben,
insbesondere in den norddeutschen Ländern. Das sind
hochqualifizierte Arbeitsplätze. Deswegen hat auch das
ZEW Mannheim der Tonnagesteuer bei einer Betrachtung der 20 größten Subventionen im Bundeshaushalt
nicht die rote Karte gezeigt, sondern die grüne.
({2})
Deswegen, Frau Kollegin Wilms, ist Ihre Kritik völlig
überzogen und unangebracht.
({3})
Herr Kollege Beckmeyer, ich frage mich, in welchem
Land Sie leben und ob Sie Fakten überhaupt zur Kenntnis nehmen.
({4})
- Nein, Sie haben überhaupt nicht über Fakten gesprochen. Wenn man Ihren Antrag liest, erkennt man: Sie
fordern die Bundesregierung auf, zu „untersuchen“ und
zu „prüfen“, ohne sich wirklich einmal mit den Gegebenheiten zu befassen.
Ich will einmal einen auch Ihnen bekannten Reeder
aus Hamburg bzw. Bremen, Claus Peter Offen, zitieren.
Die Frage der Frankfurter Allgemeinen vom August
letzten Jahres war:
Sollte der Staat den Reedern helfen?
Antwort:
Nein. Es ist nicht Aufgabe des Staates, hier zu intervenieren. Die Unternehmen sollten ihre Probleme
selbst lösen.
In der Ostsee-Zeitung vom 7. Januar heißt es:
Im Kern aber sind die Reeder selbst verantwortlich
für ihre Misere: Sie bringen zu viele Schiffe an den
Markt.
Dann wird Großreeder Peter Krämer zitiert:
Wir Reeder waren blauäugig - dachten, der Boom
der 2000er-Jahre hört nicht mehr auf, und haben
entsprechend Schiffe bestellt, ohne konkreten Bedarf.
Ein drittes Zitat bezieht sich auf Michael Behrendt,
Vorstandsvorsitzender bei Hapag-Lloyd, nebenbei Präsident des Verbandes Deutscher Reeder:
Michael Behrendt hat den Glauben an die Vernunft
seiner Branche längst verloren. „Es existiert wohl
keine andere Industrie, die derart irrational handelt“, sagt der Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größter Containerreederei Hapag-Lloyd.
„Und leider betrifft diese Irrationalität ausnahmslos
alle Reeder.“ Was den Manager in Rage bringt, sind
die andauernden Preiskämpfe der Linienreeder rund
um den Globus.
Glauben Sie, dass Sie mit Ihren Vorstellungen zu Aufliegern und zu einer Abwrackprämie den Preiskampf der
großen Linienreedereien in den Griff bekommen, der
sich bis in die Charterreedereien durchzieht?
({5})
Schauen Sie sich die Zuläufe im Containerbereich im
Jahr 2013 an! Schauen Sie sich den Zuwachs im Bulkcarrierbereich, im Tankerbereich an! Das, was Sie hier
den Reedern suggerieren, ist schon keine weiße Salbe
mehr; das ist Verhohnepipelung, das ist Sand-in-dieAugen-Streuen, das ist schlichtweg populistisch, Herr
Kollege Beckmeyer, und trägt nicht zur Lösung bei.
({6})
Wenn ich höre, dass die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands kritisiert, wie wir jetzt das Maritime Bündnis gestaltet haben, denke ich daran, was Sie über ein
Jahrzehnt versäumt haben. Ich war förmlich von den Socken, als ich hörte, dass die Ausflaggungsgebühren nicht
einmal 1 Million Euro betrugen. Wir haben sie jetzt in
einem ersten Schritt auf 10 Millionen Euro angehoben;
die eingenommenen Mittel wurden direkt in den Haushalt eingestellt und auch für die Senkung von Lohnnebenkosten verwendet.
Wir haben eine Vereinbarung mit dem Verband Deutscher Reeder zur Ausbildung und zum Ausfahren von
Patenten getroffen: Die Reeder müssen Ablösebeiträge
zahlen, wenn sie nicht selber ausbilden. Das heißt, wir,
die Christdemokraten und die Freien Demokraten, nehmen die Wirtschaft in die Pflicht: Wenn sie etwas nicht
tut, muss sie im Gegenzug zahlen. Wir sorgen uns um
Ausbildung, Beschäftigung und das Ausfahren von Patenten; wir sorgen für Nachwuchs. Das heißt, öffentliche
Hand und private Hand handeln gemeinsam. Das ist an
dieser Stelle wirklich eine öffentlich-private Partnerschaft.
({7})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das, was wir im
Bereich der Piraterie machen, keine Lösung ist. Man
kann ja vorschlagen, dass wir Tausende Bundespolizisten und Bundeswehrangehörige auf Schiffe unter deutscher Flagge einsetzen. Man müsste dann schauen, wie
man es macht, vielleicht unter europäischer Flagge. Die
Eigensicherung der deutschen Reeder wird von der Bundespolizei massiv unterstützt. Das Bundesverkehrsministerium hat mit dazu beigetragen. Es gab hier eine
rechtliche Grauzone; wir haben eine rechtlich saubere
Basis geschaffen. Es ist ein Verdienst von Hans-Joachim
Otto, dass er die Initiative ergriffen hat, hier rechtlich
saubere Regelungen zu schaffen.
({8})
Meine Damen und Herren, die Verordnung ist jetzt
fertig, sie hat 60 Seiten.
({9})
Es war ein schwieriger Prozess. Das Problem privater
Sicherheitsunternehmen auf Schiffen unter deutscher
Flagge - unter dänischer oder norwegischer Flagge verhält es sich ähnlich - haben wir gelöst.
({10})
- Herr Kollege Beckmeyer, private Sicherheitsunternehmen an Bord - das ist ein sehr sensibler Bereich. Wir haben alles getan, um das durch Verordnung bzw. Gesetz
abzusichern. Die Politik hat hier alles dafür getan, dass
das vernünftig und sauber läuft.
({11})
Da lassen wir uns von Ihnen nicht vorwerfen, dass wir
nichts getan hätten.
Letzter Punkt: Schiffsfinanzierung. Man hat gerade
gestern gesehen, dass die Finanzierungsinstrumente des
Bundes greifen: Die KfW IPEX-Bank als Konsortialführer finanziert zwei innovative Hightechschiffe für die
niederländische Reederei RollDock, die auf der Werft
Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft gebaut werden, zusammen mit zwei niederländischen Banken mit einem
Kredit von rund 75 Millionen Euro, CIRR-finanziert,
Hermes-gedeckt. Das heißt: Unsere Förderinstrumente
und unsere Finanzierungsinstrumente tragen mit dazu
bei, dass auf deutschen Werften Hightechschiffe im Offshorebereich gebaut werden. Dies zeigt: Unsere Instrumente greifen, wenn wir sie flexibel und mobil einsetzen.
({12})
Wenn hier jemand behauptet - auch einige Haushälter
sind dabei -, dass wir nicht in der Lage sind, flexibel zu
handeln: Wir haben in den letzten Jahren, wenn es darauf
ankam, unsere Förderinstrumente so flexibel gehalten,
dass Milliardenaufträge, über CIRR-Finanzierung und
Hermes-gedeckt, nach Deutschland gekommen sind.
({13})
Unter anderem eine Werft in Niedersachsen profitiert
davon in hohem Maße. Die Beschäftigungseffekte sind
enorm. Wir konnten allein in einem Jahr 23 000 Menschen beschäftigen, davon ein Viertel in der Region rund
um Papenburg und die restlichen drei Viertel in ganz
Deutschland. Wenn wir unsere Finanzierungsinstrumente einsetzen, hilft das also nicht nur der Küste, sondern ganz Deutschland.
({14})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch Folgendes sagen: Gerade was mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern betrifft, ist festzustellen, dass der Bund in den
letzten Jahren bis an die Grenze dessen gegangen ist,
was verantwortbar war.
({15})
Jetzt werden Debatten losgetreten, der Bund solle sich
stärker engagieren. Nur ein Hinweis dazu: Die 100-prozentige Tochter der KfW-Förderbank, die KfW IPEXBank, ist auch hier involviert und engagiert. Ich kann für
die Bundesregierung mitsprechen, wenn ich sage: Wir
setzen alles daran, dass Schiffbauaufträge gerade der
schwierigen Region Mecklenburg-Vorpommern zugutekommen.
Wir brauchen keine neuen Förderinstrumente, und wir
brauchen schon gar nicht, Herr Beckmeyer, dass der maritime Standort Deutschland schlechtgeredet wird.
Herzlichen Dank.
({16})
Der Kollege Ingo Egloff hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf die Bedeutung der maritimen Wirtschaft
mit über 400 000 Arbeitsplätzen und 50 Milliarden Euro
Umsatz ist schon hingewiesen worden. Ich gebe der Kollegin Wilms recht, dass wir öfter - und nicht nur aus Anlass der Nationalen Maritimen Konferenz - dies von dieser Stelle aus, vielleicht auch grundsätzlich, diskutieren
sollten. Letztendlich hat die Entwicklung der maritimen
Wirtschaft Auswirkungen auf Arbeitsplätze in ganz
Deutschland.
({0})
Herr Staatssekretär Ferlemann hat eben gesagt: Die
maritime Wirtschaft stand noch nie so gut da wie
heute. - Ich frage mich, in welcher Wirklichkeit Herr
Ferlemann lebt. Wer gestern das Handelsblatt zum
Thema Schiffsfinanzierung gelesen hat und auch weiß,
dass wir seit 2008 eine Schifffahrtskrise haben, weiß genauso: Man kann eine solche Behauptung nicht aufstellen.
({1})
Herr Ferlemann, Sie loben die Projekte im Zusammenhang mit dem Hafenhinterlandverkehr, die angeblich von Ihrer Regierung auf den Weg gebracht worden
sind. Die Autobahn Bremen ist damals unter Minister
Tiefensee in Angriff genommen worden. Die Planungsmittel der Y-Trasse sind von drei norddeutschen Bundesländern zur Verfügung gestellt worden.
({2})
- Doch, von Hamburg, Bremen und Niedersachsen;
sonst wäre überhaupt nichts passiert, Herr Ferlemann.
Herr Rehberg, Sie haben eben Herrn Behrendt von
Hapag-Lloyd zitiert. Natürlich hat Herr Behrendt als
Linienreeder ein anderes Interesse als andere Reeder,
weil er von niedrigen Charterraten profitiert. Aber ich
denke, man muss das Schiffsportfolio insgesamt sehen,
das wir in Deutschland haben: 3 900 Schiffe, die in irgendeiner Weise von Deutschland aus gesteuert werden,
über 400 Schiffe, die unter deutscher Flagge fahren. Wir
müssen feststellen, dass das Problem nicht gelöst ist.
({3})
- Nein, Herr Kollege, aber man muss sich diesen Problemen zuwenden.
({4})
Vom Verband Deutscher Reeder, vom Zentralverband
Deutscher Schiffsmakler und von Schiffsfinanzierern
hört man, dass die Führung des Wirtschaftsministeriums
am 30. August 2012 zugesagt hat, dass man über diese
Fragen diskutieren will. Trotz mehrfacher Nachfragen ist
da aber nichts passiert. Das erinnert mich an das
Theaterstück Warten auf Godot. Der ist auch nie gekommen.
({5})
Herr Kollege Otto, wir haben schon beim Thema NordOstsee-Kanal darüber diskutiert, was Ihre Aufgabe als
Maritimer Koordinator ist. Ich werde mich dem Dank
für Ihre Arbeit nicht anschließen; denn ich finde, dass
Sie Ihre Arbeit als Maritimer Koordinator nicht gut gemacht haben.
({6})
Bleiben wir einmal beim Thema Schiffsfinanzierung.
Natürlich kann die Bundesregierung dieses Problem
nicht in Gänze lösen; das verlangt auch keiner. Aber
nicht umsonst sprechen Sie in Ihrem gemeinsamen Antrag den Long Term Asset Value an und sagen, dass mit
der BaFin über solche Dinge geredet werden muss, um
eine andere Bewertung zu erreichen.
Herr Rehberg, ich weiß, dass Sie sich in Bezug auf
die Versicherungsteuer sehr eingesetzt haben; ich bin Ihnen auch dankbar dafür. Wenn 30 Container-Reedereien
200 Schiffe in einen Erlöspool einbringen
({7})
und am Ende dabei herauskommt, dass das Finanzministerium darauf eine Versicherungsteuer erheben will, so
ist das nicht zielführend. Ich bin Ihnen dankbar dafür,
dass Sie dieses Thema aufgenommen haben, dass Sie es
angeschoben haben, dass die Überlegungen nun in die
richtige Richtung gehen; aber wir warten auf eine entsprechende Regelung in einer Verordnung oder in einem
Gesetz, um sicherzustellen, dass so etwas in Zukunft
nicht wieder passiert.
Meine Damen und Herren, Offshore ist eine unendliche Geschichte. Nachdem Frau Merkel mit dem Ausstieg aus der Atomenergie ihr Erweckungserlebnis hatte,
hat das Wirtschaftsministerium ein Jahr gebraucht, um
die Frage der Netzanschlüsse zu klären, zumindest auf
dem Papier. Zu fragen ist: Sind die Offshoreanlagen angeschlossen? Nein, das sind sie zum Teil nicht. Warum
sind EnBW, RWE und Dong ausgestiegen? Warum wurden drei Projekte gestoppt? Wenn Sie mit den Unternehmen reden, sagen die: Wenn bei dem Stauchungsmodell
nichts geschieht, werden wir das auch später nicht nachholen. - So kann man die Energiewende nicht betreiben.
Herr Beckmeyer hat auf die Finanzierung der Errichterschiffe im Offshorebereich hingewiesen; dies war
nicht im KfW-Programm enthalten. In dem Bericht der
Bundesregierung lese ich nun, dass kein Mangel an Errichterschiffen bestehe. Nein, natürlich nicht. Warum
nicht? Weil sie fast alle in Dubai, in Korea und in China
gebaut werden und nur zwei in Deutschland, nämlich bei
Sietas. Der Bau eines dieser beiden Schiffe ist sogar
noch gestoppt worden, weil RWE aus dem Projekt ausgestiegen ist.
({8})
Meine Damen und Herren, wenn Sie von Wertschöpfungsketten für Offshore in Norddeutschland reden,
dann müssen Sie auch den Beweis dafür erbringen. Das
haben Sie nicht getan. Sie haben das Gegenteil gemacht.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Torsten Staffeldt für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Beste an der Rede meines Vorredners waren die
Pausen.
({0})
Ich sage es einmal so: Wenn Fachkompetenz die Voraussetzung dafür wäre, vor dem Hohen Hause über dieses
Thema reden zu dürfen, dann hätten ohnehin nur die
Kollegen Otto, Ferlemann und Rehberg reden können.
({1})
- Danke. Das wollte ich hören.
({2})
Wir haben eine interessante Debatte gehabt. Ich freue
mich darüber. Es war übrigens keineswegs die einzige
im Laufe von zwei Jahren. Wenn Sie zurückblicken, wisTorsten Staffeldt
sen Sie, dass wir schon häufiger über die Themen der
maritimen Wirtschaft geredet haben, natürlich insbesondere über die Bereiche Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meerestechnik, aber eben auch über andere Bereiche. Ich freue mich grundsätzlich, wenn wir über dieses
Thema reden, weil ich wie wohl der Großteil des Plenums der festen Überzeugung bin, dass man sich im
Deutschen Bundestag generell mehr damit beschäftigen
sollte; denn Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meerestechnik sind Zukunftsfelder, bei denen wir gut beraten
sind, Fördermittel zur Verfügung zu stellen und dafür zu
sorgen, dass die Innovationsfähigkeit der unterschiedlichen Bereiche erhalten bleibt und ausgebaut wird.
Glücklicherweise gibt es im Bereich des Schiffbaus
nach wie vor weltmarktfähige Unternehmen. Die Werften in Papenburg und Flensburg wurden schon genannt.
({3})
Wir haben dort glücklicherweise starke Player, und die
müssen wir erhalten.
({4})
Dazu ist das Bundeswirtschaftsministerium aufgefordert. Deswegen haben wir auch den Maritimen Koordinator dem Wirtschaftsministerium und nicht dem Verkehrsministerium zugeordnet. Ich danke an dieser Stelle
ausdrücklich Hans-Joachim Otto für seine Arbeit, die er
im Laufe der letzten Jahre im Deutschen Bundestag und
in der Regierung für Schiffbau und Schifffahrt geleistet
hat.
({5})
Ich danke auch Enak Ferlemann und dem Verkehrsministerium, die zusammen mit uns, den interessierten
und begeisterten Parlamentariern, dafür gesorgt haben,
dass die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schifffahrt erhalten bleibt. Dem dient auch unser Antrag, den wir
heute vorgelegt haben. Er listet noch einmal alles Gute
auf, was wir im Laufe der letzten Jahre getan haben. Der
Antrag der SPD zeigt, dass Sie im Grunde genommen
nicht wissen, wie Sie damit umgehen sollen. Es ist nur
von Prüfaufträgen die Rede. Eigentlich finden Sie gut,
was wir gemacht haben. Das sollten Sie endlich zugeben, Herr Beckmeyer.
({6})
Wünschenswert erscheint mir, dass die Kompetenzen
des Maritimen Koordinators im Hinblick auf die Durchsetzungsfähigkeit an der einen oder anderen Stelle
gestärkt werden. Denn es ist eine schwierige Aufgabe, in
der Gemengelage zwischen den unterschiedlichen
Ministerien wie Verkehrs- und Umweltministerium die
Sicherheitsbelange sowohl im Inneren wie im Äußeren
- ich denke dabei an den Zoll oder die Deutsche Marine als auch im Ernährungsbereich, beispielsweise in der
Fischerei, zu berücksichtigen. Das sind alles Bereiche,
die die maritime Wirtschaft betreffen, und ich wäre
dankbar, wenn wir als Parlament und in der Regierung
dafür sorgen würden, dass die Kompetenzen dahin gehend gestärkt werden.
Die maritime Sicherheit ist ein wichtiges Thema.
Deswegen freue ich mich insbesondere, dass bei der
kommenden Nationalen Maritimen Konferenz in Kiel
das Thema „Maritime Sicherheit“ wieder als Workshop VII auf der Tagesordnung steht. Letztes Mal war
das nicht der Fall. Ich denke, gerade im Hinblick auf das
Thema Piraterie ist es wichtig, weiter daran zu arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als wir mit der
CDU/CSU die Regierung gebildet und die Aufgabenverteilung vorgenommen haben, stand den Reedern und
Schiffbauern das Wasser bis zum Hals. Auf meinem
Schlips sehen Sie die sogenannte Plimsoll-Marke bzw.
Freibordmarke. Sie zeigt, wie weit ein Schiff beladen
werden darf in Abhängigkeit zum Fahrtgebiet, beispielsweise im Winter im Nordatlantik oder im Tropenfrischwasser. Zu dem Zeitpunkt, als wir in der Regierung die
Verantwortung übernommen haben, stand den Reedern
und Schiffbauern das Wasser bis zum Hals. Sie waren
kurz vorm Umkippen.
({7})
Durch unsere gute Arbeit, die wir als Parlamentarier und
als Regierung in den letzten Jahren geleistet haben, ist es
uns gelungen, dafür zu sorgen, dass Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meerestechnik in Deutschland weiterhin eine Zukunft haben.
({8})
Dafür bedanke ich mich recht herzlich.
Ich bin froh und dankbar, dass es auch nach dem
22. September so weitergehen wird; denn wohin rotgrünes Chaos führt, wenn es um Verkehrsinfrastruktur
geht, sehen wir in Nordrhein-Westfalen und jetzt in Niedersachsen. Das wollen wir für Deutschland nicht, meine
Damen und Herren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Ingbert Liebing für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wir heute
im Vorfeld der Achten Maritimen Konferenz diese Debatte über die maritime Wirtschaft führen und die Konferenz in Kiel in meinem Heimatland Schleswig-Hol29060
stein stattfindet, möchte ich zum Abschluss dieser
Debatte gerne mit einem Thema beginnen, das uns in
Schleswig-Holstein besonders am Herzen liegt, nämlich
dem Nord-Ostsee-Kanal.
Wir haben in dieser Woche bereits in der Aktuellen
Stunde am Mittwoch Gelegenheit gehabt, über dieses
Thema zu debattieren.
({0})
Es ist gut, dass wir als Koalition mit unserem Antrag
auch ein klares Bekenntnis zum Nord-Ostsee-Kanal ablegen. Damit machen wir deutlich, dass wir handeln und
die Versäumnisse der Vergangenheit bereinigen. Die
Koalition hat mit dem Infrastrukturbeschleunigungsprogramm bereits die notwendigen Haushaltsmittel bereitgestellt, damit die fünfte Schleuse in Brunsbüttel gebaut
werden kann.
({1})
Der Haushaltsausschuss hat mit den Stimmen der Koalition auch dafür gesorgt, dass mögliche Nachfinanzierungen unproblematisch erfolgen können.
({2})
Es ist gut, wenn die Ausschreibung noch vor Beginn der
Maritimen Konferenz herausgeht. Ich bin sicher, dass
das Bundesverkehrsministerium, Bundesverkehrsminister Ramsauer und Staatssekretär Ferlemann alles dafür
tun werden, damit nach der Ausschreibung zügig die
Vergabe erfolgt und mit dem Bau begonnen wird. Das
brauchen wir. Das braucht die maritime Wirtschaft als
nationale Wirtschaft. Deswegen sind wir als Koalition
bei diesem Thema gut aufgestellt.
({3})
Anschließend müssen, parallel vorbereitet, die nächsten Maßnahmen folgen: die Reparatur der Schleusen, der
Ausbau der Oststrecke und die Vertiefung des Kanals.
Wir wissen, dass das ein Milliardenprogramm ist, das
schwierig zu stemmen ist. Dafür müssen wir alle Kräfte
bündeln.
({4})
Deswegen ist es gut, wenn es jetzt ein Aktionsbündnis
aller Beteiligten gibt. Das ist allemal mehr wert als das
Wahlkampfgetöse, das wir von Ihnen zu diesem Thema
zu hören bekommen.
({5})
Auf der Achten Nationalen Maritimen Konferenz
wird ein Schwerpunkt wieder auf dem Bereich der Umwelt liegen. Schiffe sind - die heutige Debatte ist eine
gute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen - das
sauberste Verkehrsmittel, wenn wir die Relation zwischen transportierter Ladung und Schadstoffausstoß zugrunde legen. Auch deshalb, aus diesen ökologischen
Gründen, unterstützen wir als Union die Schifffahrt.
Dabei beschreiten wir manchmal einen schmalen
Pfad. Ich denke zum Beispiel an die Schwefelemissionssondergebiete in Nord- und Ostsee, an die SECAs.
Einerseits ist es gut und ein großer ökologischer Fortschritt, wenn der Schadstoffgehalt ab dem 1. Januar
2015 in Nord- und Ostsee auf 0,1 Prozent reduziert wird.
Andererseits müssen wir aufpassen, dass höhere ökologische Standards nicht zu einer Verkehrsverlagerung
vom Schiff auf die Straße führen; denn das wäre ökologisch kontraproduktiv.
({6})
Deshalb appelliere ich an die Branche, die Zeit bis zum
1. Januar 2015 - das ist nicht mehr viel Zeit - für Anpassungen zu nutzen. Die technologischen Möglichkeiten,
die die Schifffahrtsindustrie und die Meerestechnik der
Branche anbieten, müssen genutzt werden. Deutschland
verfügt in diesem Bereich über die modernsten Umwelttechnologien. Bei Neubauten ist das kein Problem; aber
bei Bestandsbauten haben wir Probleme hinsichtlich der
Finanzierung, wenn es darum geht, das wirtschaftlich
darzustellen. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung mit der Innovationshilfe für neue Projekte hilft. Wir
haben in unseren Antrag aufgenommen, dass bestehende
KfW-Programme für Nachrüstungen optimiert werden
sollen. Dies hilft ganz konkret.
({7})
Die maritimen Technologien und die Umwelttechnologien im maritimen Sektor bieten gewaltige Chancen
für unsere deutsche maritime Wirtschaft. Das gilt insbesondere für den Bereich der Offshorewindkraft. Wir haben aber auch erfahren müssen, dass manche Hoffnungen und Erwartungen, die mit der Offshorewindkraft
verbunden wurden, überzogen waren.
({8})
Offshorewindkraft bringt besondere technologische
Herausforderungen und Anforderungen mit sich. Die
Entwicklung dauert länger, und es wird auch teurer als
zunächst erwartet. Deshalb werden wir bis 2020 wohl
kaum die angepeilten 10 Gigawatt erreichen.
({9})
Ich greife gerne einmal auf, was die Sozialdemokraten zum Thema Offshore gesagt haben. In Ihrem Antrag
fordern Sie uns auf, mehr für den Bereich Offshore zu
tun.
({10})
- Herr Kollege Beckmeyer, ein Vorschlag: Seien Sie einmal ganz ruhig, und hören Sie zu! Hinterher können Sie
immer noch brüllen. - Der Kollege Egloff hat uns eben
noch einmal aufgefordert, sehr viel mehr im Bereich
Offshore zu tun.
({11})
Die norddeutschen Ministerpräsidenten - allesamt mit
SPD-Parteibuch ({12})
haben vor kurzem ein energiepolitisches Papier vorgelegt. Der SPD-Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Herr Sellering, hat dieses Papier mit der Aufforderung verbunden, sehr viel mehr für den Bereich
Offshore zu tun. Sein Kieler Kollege, Herr Albig, der
das gleiche Papier mitbeschlossen hat, wirft uns vor, wir
würden viel zu viel für den Bereich Offshore tun. Meine
Damen und Herren Sozialdemokraten, was wollen Sie
nun eigentlich? Was stimmt denn jetzt? Sie wissen nicht,
was Sie wollen, und Sie wissen nicht, was Sie tun. Verantwortungsvolle Politik ist das, was Sie hier bieten,
nicht.
({13})
Wir dagegen handeln ganz konkret. Wir unterstützen
die Offshorebranche, wo es notwendig und sinnvoll ist,
({14})
weil wir darin eine Zukunftsoption sehen, gerade für die
maritime Wirtschaft. Ich nenne vier Stichworte: das Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau - hierüber werden 5 Milliarden Euro für die Offshorewindparks
bewegt -, die Regelungen in Bezug auf die Haftungsrisiken, mit denen wir Investitionsbremsen lösen, die Regelungen zum Netzanschluss, mit denen wir den Netzanschluss verbessern und beschleunigen,
({15})
und die Raumplanung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, die wir zum Abschluss gebracht haben, damit auch die Probleme hinsichtlich der Nutzungskonkurrenzen auf dem Meer, die mit der Offshorewindenergie
verbunden sind, gelöst werden können. Das alles sind
konkrete Maßnahmen, die helfen. Für uns besteht kein
Gegensatz zwischen der Förderung von Offshorewindenergie und Onshorewindenergie. Wir brauchen beides:
Wir brauchen Offshore und Onshore. Dafür stehen wir,
und dafür sorgen wir.
({16})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die Offshorewirtschaft kann und wird ein
Wachstumstreiber der maritimen Wirtschaft in Deutschland sein.
({17})
Deshalb ist es auch verständlich, dass die maritime Wirtschaft auf der Maritimen Konferenz mit besonderen
Erwartungen auf dieses Thema blickt. Wir als Unionsfraktion, wir als Koalitionsfraktionen unterstützen gemeinsam mit der Bundesregierung diese Entwicklung
mit ihren Herausforderungen und Chancen. Wir handeln
ganz konkret. So führen wir die maritime Wirtschaft in
eine gute Zukunft.
Ich bin sicher, dass die Maritime Konferenz, die in
14 Tagen - im April - in Kiel stattfindet, den Beweis dafür liefern wird, wie gut diese Branche aufgestellt ist,
dass sie in eine gute Zukunft gehen und mit Optimismus
in die Zukunft schauen kann. Dies ist auch ein Ergebnis
unserer guten Politik, die wir mit der Bundesregierung
bzw. mit dem Maritimen Koordinator, Herrn Otto - dem
ich auch herzlichen Dank sagen möchte -, gemeinsam
machen. In diesem Sinne wünsche ich dieser Maritimen
Konferenz alles Gute und der Wirtschaft entsprechend
einen guten Erfolg.
Vielen Dank für diese Debatte.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/12817 mit dem Titel „Den Wandel in der maritimen
Wirtschaft begleiten und ihre nationale Aufgabe für den
Wirtschaftsstandort Deutschland herausstellen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12723 mit
dem Titel „Umsteuern in der Krise - Maritime Wirtschaft unterstützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkte 32 c und 32 d. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/12823 und 17/12567 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 10. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europäische
Tonnagesteuer statt Steuersparmodell“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/12878, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12697 abzulehnen. Wer stimmt
Vizepräsidentin Petra Pau
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei als
Wirtschafts- und Finanzermittlungsbehörde
- Drucksache 17/12708 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss ({1})
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Tempel für die Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Linke schlägt Ihnen vor, eine Bundesfinanzpolizei zu bilden, das heißt, aus der bisherigen Bundeszollverwaltung die Zollfahndungseinheiten und das
Zollkriminalamt herauszulösen. Die Grundlage unseres
Antrags ist ein Thesenpapier der Gewerkschaft der Polizei, also der GdP. Ganz nebenbei: Vorschläge aus Berufs- und Fachverbänden sollten ruhig öfter den Weg ins
Plenum finden.
({0})
Der Zoll hat zwei zentrale Aufgaben: Erstens geht es
in einem administrativen Teil um die Verwaltung der
Bundessteuern, um die Vollstreckung von Geldforderungen des Bundes und bundesunmittelbarer Körperschaften und um die Überwachung der Einhaltung von Verboten und Beschränkungen im grenzüberschreitenden
Warenverkehr. Zweitens geht es - darum soll es hier und
heute gehen - um polizeiliche Aufgaben, also um die
Bekämpfung von Schmuggel, Außenwirtschaftskriminalität, international organisierter Geldwäsche, illegaler
Beschäftigung, Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung zum Nachteil der EU und ihrer Mitgliedstaaten.
Diese Straftaten kosten den Staat - da dürften wir uns
wohl alle einig sein - sehr viel Geld. Schätzungen belaufen sich auf einen Betrag von 4 Milliarden Euro - das ist
eine vorsichtige Schätzung - bis hin zu einem Betrag
von 50 Milliarden Euro. Allein die Summe des illegal in
die Schweiz verbrachten Geldes wird auf 150 Milliarden
Euro geschätzt.
Was soll nun anders werden? Gegenwärtig ist der Bereich für Fahndung und Ermittlung in den 43 Zollfahndungsämtern zersplittert und nur zum Teil örtlich ausgerichtet, die Vernetzung ist sehr gering, und dann gibt es
auch noch das Zollkriminalamt. Die Folge der Zersplitterung ist das Fehlen von Synergieeffekten zwischen den
Ermittlungsstrukturen. Dies wiederum führt zu einer geringeren Kontrolldichte. Dadurch kommt es zu mehr unbemerkten Straftaten und letztendlich zu einem Ausfall
von Steuereinnahmen in erheblichem Umfang. Die Höhe
dieser Steuerausfälle bedient übrigens nicht ganz zu Unrecht das Bild: Die großen Fische dürfen - zumindest
fast - ungestraft betrügen, die kleinen Fische dagegen
verfolgt man mit großem Aufwand.
({1})
Lassen Sie uns doch in der kommenden Debatte darüber
nachdenken, wie wir auch den großen Fischen besser das
Handwerk legen können!
({2})
- Das steht in unserem Antrag gar nicht drin; das ist
Blödsinn. Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie fragen
wollen!
({3})
Unser Vorschlag lautet, dieses Problem mit einer
Straffung der Strukturen anzugehen. Es geht überhaupt
nicht darum, etwas völlig Neues zu schaffen. Der ganze
Bereich der bisherigen Zollverwaltung bleibt im Verantwortungsbereich des Bundesfinanzministeriums, auch
die Bundesfinanzpolizei. Es erfolgt jedoch eine Aufspaltung der bisherigen Bundeszollverwaltung in einen fiskalisch-administrativen Teil auf der einen Seite und einen - ebenfalls selbstständig agierenden - Fahndungsund Ermittlungsteil, die Bundesfinanzpolizei, auf der anderen Seite. Die Vorteile liegen auf der Hand: stärkere
Vernetzung bei Zusammenarbeit und Informationsaustausch und damit mehr Ermittlungsbreite - es geht also
um die kleinen und um die großen Fische - und eine spezialisiertere Ausbildung mit kriminalistischer Orientierung. Die Trennung von Verwaltung und Ermittlung ist
- auch das ist wichtig - immer ein Fall für die Korruptionsprävention.
({4})
Eines möchte ich deutlich machen, weil es in der medialen Berichterstattung zu Missverständnissen gekommen ist: Bei unserem Vorschlag geht es nicht darum, in
die Zuständigkeiten und Befugnisse der Länder einzugreifen. Es geht auch nicht darum, in die Befugnisse von
Bundespolizei und Bundeskriminalamt einzugreifen; es
geht um Aufgaben, die bereits jetzt in der Zuständigkeit
der Bundeszollverwaltung liegen. Es geht auch nicht darum, die Befugnisse und Eingriffsrechte staatlicher Behörden auszuweiten und Bürgerrechtsstandards zu beschneiden; die bisherigen Befugnisse sind ausreichend.
Es geht darum, durch verbesserte Strukturen bzw. durch
eine einfache Strukturmaßnahme den finanziellen Schaden durch Straftaten zu verringern. Jede Milliarde mehr,
die dadurch eingenommen wird, kann Kürzungen in den
Bereichen Kultur, Bildung und Soziales verhindern helFrank Tempel
fen, und das möchte doch hoffentlich jeder hier, auch die
FDP.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der
Umbau der Sicherheitsbehörden unter Berücksichtigung
der Zollverwaltung - Sie hatten das eben geschildert ist ein Gedanke, der immer mal wieder, auch heute durch
Ihren Antrag, in das politische Gespräch kam und teilweise noch kommt. Die Zielrichtung war, je nachdem,
ob es eine finanz- oder eine innenpolitische Schwerpunktsetzung gab, unterschiedlich. Ich denke, wir begegnen uns hier durchaus mit großem Respekt.
Im Mittelpunkt standen zumeist - Sie haben das gerade geschildert - ein Stück weit die Herauslösung wesentlicher Bestandteile aus dem Gesamtgefüge des Zolls,
insbesondere im Vollzugsbereich, und der Aufbau einer
neuen, anders gearteten Behördenstruktur mit verstärkt
polizeilicher Ausrichtung; ich habe das jetzt einmal verkürzt ausgedrückt.
Ich rede ausdrücklich in der Vergangenheit; denn genau deshalb hatten wir bereits zu Beginn der laufenden
Legislaturperiode eine eigene Kommission, die sogenannte Werthebach-Kommission, damit beauftragt, sich
mit der Struktur der Sicherheitsbehörden eingehend zu
beschäftigen. Ausweislich des Berichts der WerthebachKommission von 2010 kommt eine entsprechende Umorganisation, die aufgrund der Vielzahl entstehender
Schnittstellen keinen fachlichen Mehrwert hätte, bereits
aus verfassungsrechtlichen Erwägungen und aufgrund
der Kernaufgaben der Zollverwaltung - Sicherung der
Staatseinnahmen und der Sozialsysteme, Schutz von
Staat und Bürgern - nicht in Betracht.
Damit nicht genug: Der Wissenschaftliche Dienst des
Deutschen Bundestages kam kurz danach in einem eigenen Gutachten zu einem vergleichbaren Ergebnis, nämlich dass die vollzugspolizeiliche Komponente der Zollverwaltung nicht von ihren steuerlich-administrativen
Aufgaben getrennt werden könne. Diese Komponente
stehe in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den
Kernaufgaben der Zollverwaltung.
Unabhängig vom Inhalt des Gesagten ist festzuhalten:
Allein damit wird Ihre heutige Forderung nach einer erneuten - Sie beschreiben das in Ihrem Antrag - „Evaluierung der besonderen Befugnisse und Rechtsgrundlagen der Zollfahndung und des Zollkriminalamts“ zur
Feststellung von Schnittstellen mehr als entbehrlich.
Kolleginnen und Kollegen, Sie wärmen hier etwas auf,
was längst geklärt ist. Das Ergebnis - wie vorgetragen ist Ihnen auch bekannt.
({0})
Herr Tempel, man könnte es dabei bewenden lassen;
aber es ist an dieser Stelle einfach zu schön. Sie werfen
dem Zoll obendrein vor - Sie begründen Ihre Initiative
damit; das steht nicht wörtlich in Ihrem Antrag, aber an
anderer Stelle -, es handle sich bei ihm um eine „ineffiziente Institution“, die mitverantwortlich sei an dem in
Ihren Augen massiven Einnahmeproblem in Deutschland.
({1})
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja, ich lasse die Zwischenfrage zu.
Dann halte ich die Uhr an, und der Kollege Tempel
hat das Wort für eine Zwischenfrage.
Frau Kollegin, Sie haben schon mitbekommen, dass
sich meine Äußerung eindeutig auf die Strukturen bezog
und nicht auf die Arbeit der Mitarbeiter?
Ich habe nur zitiert, was Sie in der Clara, Ausgabe 27
vom 13. Februar 2013, geschrieben haben:
Das liegt … an ineffizienten Institutionen … wie
zum Beispiel dem Zoll.
({0})
- Ich habe sie gehört. - Schauen Sie, Herr Tempel, ich
weiß nicht, was Sie damit bezwecken.
({1})
Sie wollen doch Mitarbeiter in Ihrem Sinne motivieren.
Umso unverständlicher ist es, wenn Sie mit solchen Aussagen agieren.
({2})
Ich meine das gar nicht böse; ich sage nur, was Sie vorhaben. Es mag meine persönliche Ansicht sein; aber ich
muss schon sagen: Ich betrachte das als einen Schlag ins
Gesicht der 40 000 Zöllnerinnen und Zöllner, die ihrer
täglichen Arbeit mit einem gewissen Stolz nachgehen.
({3})
Herr Tempel, es geht Ihnen um die Einnahmen. Diese,
wie Sie sie nennen, ineffiziente Institution nimmt jedes
Jahr immerhin die Hälfte der dem Bund zufließenden
Steuern ein: rund 125 Milliarden Euro. Sie hat gefälschte
Ware im Wert von 127 Millionen Euro eingezogen. Sie
hat Schäden durch Schwarzarbeit im Umfang von
750 Millionen Euro aufgedeckt. Sie hat 29 Tonnen
Rauschgift beschlagnahmt. Sie hat 543 000 Personen
und 66 000 Arbeitgeber überprüft. Sie hat 146 Millionen
Schmuggelzigaretten eingezogen. Es muss Ihnen doch
klar sein, dass die Zollverwaltung alles andere ist als
eine ineffiziente Institution, dass hier Menschen sehr gut
und effizient und prozessorientiert ihrer Arbeit nachgehen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bundespolizei wie Zoll leisten eine wertvolle Arbeit in einem oft
schwierigen Umfeld.
({5})
Ihnen gebühren unsere Achtung und unser Respekt. Wir
haben uns aus den genannten Gründen dafür entschieden,
bei gemeinsamen Schnittstellen die Zusammenarbeit der
Behörden ganz unmittelbar vor Ort - ob im Einsatz, in der
Ausbildung, beim Training, bei der Ausstattung oder anderem mehr - zu intensivieren und zu unterstützen. Diese
Zusammenarbeit ist vielleicht noch nicht in jedem Fall
vorhanden. Aber ich habe zwischenzeitlich, gemeinsam
mit Kolleginnen und Kollegen, mehrfach die Gelegenheit
wahrgenommen, mir das Wachsen dieser Strukturen vor
Ort anzuschauen, und werde gerne weiter daran arbeiten.
Diese Besuche, die Gespräche und die Unterstützung
durch dieses Haus dienen der Motivation deutlich mehr,
als wenn bestehende, durchaus effiziente Strukturen aufgelöst werden.
({6})
- Herr Tempel, es gibt ja auch andere Meinungen an anderer Stelle.
Ich habe mich von Anfang an gefragt, wieso ausgerechnet die Linke einen solchen Antrag stellt. Immerhin
geht es darin um die Gründung einer Bundesfinanzpolizei, deren Ausrichtung eng an der der Bundespolizei angelehnt ist - bis hin zu einer Verankerung in Gesetzen
ähnlich der der Bundespolizei. Allein in diesem Satz
kam dreimal „Polizei“ vor.
Ihnen persönlich nehme ich das sogar noch ab. Wie
passt das aber zu Folgendem - das sind nur drei Beispiele; gehen Sie ins Internet -: „… Linke attackieren
Chef der Bundespolizei“, „Linke kritisieren Kontrollpraxis der Bundespolizei“, „Linke kritisieren Personenkontrollen der Bundespolizei“. Dabei erwähne ich gar nicht
erst die zahllosen Meldungen unter den Stichworten
„Die Linke“ oder einfach nur „Polizei“ oder Ihre verschiedenen und durchaus auch kritischen Anfragen zu
dieser Personengruppe hier im Deutschen Bundestag.
({7})
Herr Tempel, ich frage mich mit Erstaunen: Was
würde sich bei Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei eigentlich an Ihrem Duktus ändern, und warum sollte sich
in den Reihen Ihrer Partei etwas ändern? Nein, Sie haben
es ja selber erwähnt: Dafür soll es jetzt einen eigenen
Bundesfinanzpolizeibeauftragten geben,
({8})
der die Einhaltung der gesetzlichen Regeln und bürgerlichen Standards durch eine Bundesfinanzpolizei kontrollieren soll. So ganz scheinen Sie der von Ihnen beantragten Behörde dann also doch nicht zu trauen, da Sie den
Bediensteten von Anfang an ein Misstrauen aussprechen; denn für die allgemeine Kontrolle fordern Sie parlamentarische Kontrollgremien gleich noch dazu.
Herr Tempel, wenn man an die ganz großen Fische
will, dann gilt am Ende des Tages doch eines: Auf harte
Jungs und Straftaten folgt im Rahmen unserer Gesetze
zwangsläufig auch schon einmal eine harte Kante beim
Vollzug. Das geschieht bereits heute, ist aber nachweislich nicht gerade Ihre Linie.
({9})
Würde Ihrem Antrag gefolgt, dann hätte manch einer
mit großer Wahrscheinlichkeit seine helle Freude an Ihnen - vermutlich vor allem die ganz großen Fische.
Ich fasse zusammen:
({10})
Die Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit ist in
der Tat Grundlage für das Funktionieren unseres Staates.
Es geht um Steuergerechtigkeit, es geht um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen, und es geht natürlich um den Vollzug. Bundes- und Zollkriminalamt,
Bundespolizei und Zoll und auch die Landespolizeien
mit ihren vielen Tausend Bediensteten arbeiten in diesem Sinne effektiv und prozessorientiert.
Durch eine Umstrukturierung entstünden nach Maßgabe der genannten Gutachten nur neue Schnittstellen,
die einen echten Mehrwert verhindern. Manchmal erreicht man Effektivität auch mit flexiblen Einheiten in
der Fläche.
Keine dieser Behörden ist statisch verharrend ausgerichtet, sondern sie richten ihre Arbeit natürlich immer
wieder neu auf die neuen Herausforderungen aus. Das ist
ein dynamischer Prozess.
Unser Ziel sind Formen der vertieften Zusammenarbeit, wo es notwendig ist bzw. Berührungspunkte gibt.
Wir laden Sie herzlich ein, uns und die Arbeit vor Ort am
weiteren Aufbau zu unterstützen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
All das, was bisher gesagt wurde, ist weder in Gänze
richtig noch in Gänze falsch. Ich denke, es ist wichtig,
noch einmal herauszuheben, dass uns Wirtschaftskriminalität, Steuerbetrug, Korruption, Geldwäsche und organisierte Kriminalität vor gewaltige Probleme stellen und
dass sie gewaltige Herausforderungen darstellen, die wir
natürlich angehen müssen, und zwar noch intensiver und
effektiver als bisher.
Wir müssen hier maximal tätig werden. Es wird hier
nämlich ein immenser Schaden angerichtet, und zwar
letztendlich nicht nur vom Betrag her. Es geht hier um
nichts anderes als um die Integrität unserer Volkswirtschaften und unserer Staatsfinanzen und auch um das
subjektive Gefühl, dass wir die großen Fische in der Tat
nicht davonschwimmen lassen, sondern hier auch zugreifen, wenn es möglich ist.
({0})
Zweifelsohne wachsen die Anforderungen an die Beamtinnen und Beamten, die diese Kriminalitätsform und
ihre Folgen bekämpfen sollen. Das betrifft auch den Zoll
und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die trotz gewaltiger Arbeitsbelastung großartige Arbeit leisten. Ich
denke, das muss an dieser Stelle und in dieser Debatte
klar herausgearbeitet und erwähnt werden.
({1})
Der Antrag der Linksfraktion spricht - das will ich betonen - Richtiges und Wichtiges an. Aber sinnvolle Lösungen bietet er aus unserer Sicht nicht. Vieles bleibt unterm Strich Stückwerk, das nicht zusammenpasst.
Wichtig erscheint mir der Hinweis, dass wir in der
letzten Legislaturperiode Strukturreformen bei der Zollverwaltung in Angriff genommen haben. Jetzt ist die
Frage, ob wir an diesen Ergebnissen schon wieder herumdoktern wollen oder ob wir nicht erst einmal detailliert erfassen wollen, wie sich die Reformen auf längere
Sicht bewähren. Ich meine, hier sollten wir in Ruhe entsprechende Verbesserungsspielräume erörtern, ohne aber
auszuschließen, dass wir an den Schnittstellen die eine
oder andere Verbesserung benötigen.
Letztendlich sind Vorschläge in diesem Zusammenhang immer willkommen; denn - auch das erscheint mir
wichtig - zollintern sind natürlich noch längst nicht alle
Stellschrauben passend justiert. Das zeigt auch eine von
Verdi zitierte Erhebung aus dem letzten Jahr. Diese Erhebung, dieser Bericht sollte uns zu denken geben. Bei
der Mitarbeiterbefragung hat die Hälfte der Beschäftigten auf die Frage, ob sie, wenn sie noch einmal die Entscheidung treffen müssten, zum Zoll gehen würden oder
nicht, geantwortet, nein, sie würden nicht mehr zum Zoll
gehen. Deswegen meine ich, dass wir in der Tat überlegen sollten, was wir politisch dazu beitragen können, um
dienstebenenübergreifend für mehr Zufriedenheit zu sorgen.
Die Beamtinnen und Beamten brauchen - so ist
meine Meinung - zunächst einmal Erwartungssicherheit,
auch in organisatorischer Hinsicht, und keine unausgegorenen Rufe nach einer schnellen Neustrukturierung.
Dies wäre letztendlich weder Fisch noch Fleisch. Das
betrifft eben auch den Antrag der Linksfraktion, den wir
unter dieser Rubrik einordnen müssen. Darin wird nach
einer Bundesfinanzpolizei und nach einem Auflösen von
aufgeblähten Mittelbehörden gerufen. Dazu sagen wir:
Das scheint doch eher ein Schnellschuss zu sein als tatsächlich ein konsequent durchdachtes Konzept.
Ich kann das zusammenfassen, indem ich den Bund
Deutscher Kriminalbeamter zitiere, der uns über
Sebastian Fiedler heute seine Stellungnahme hat zukommen lassen: Die schwerwiegenden Kriminalitätsprobleme und komplexen Bedrohungen erfordern intelligente Lösungen und keine unausgegorenen polemischen
Forderungen wie beispielsweise im Antrag der Linksfraktion.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich sind wir uns
einig, dass wir massiv gegen Steuerbetrug, gegen Wirtschaftskriminalität vorgehen müssen. Dem Staat entstehen jährlich Milliardenverluste durch Finanzkriminalität
und Wirtschaftskriminalität, durch Steuerhinterziehung,
Subventionsbetrug, Geldwäsche, Korruption und
Schmuggel.
Allein circa 30 Milliarden Euro jährlich gehen dem
Staat durch Steuerhinterziehung verloren.
Davon könnten rund 10 Milliarden Euro für den
Staat gerettet werden, wenn die Steuerfahndung ihren Aufgaben angemessen ausgestattet wäre,
schätzt die Deutsche Steuer-Gewerkschaft. Hier stehen
die Länder in der Verantwortung. Hier müssen sie ihrer
Verantwortung gerecht werden. Weitere zweistellige
Milliardenbeträge werden dem Staatshaushalt durch
Wirtschaftskriminalität entzogen. Dagegen geht diese
christlich-liberale Koalition mit aller Macht vor,
({0})
intensiver und konsequenter als je zuvor.
Wir haben in dieser Legislatur eine ganze Reihe Gesetze dazu auf den Weg gebracht, national umgesetzt
oder international angestoßen, zum Beispiel das Gesetz
zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und
Steuerhinterziehung, zum Beispiel die circa 90 Doppelbesteuerungsabkommen inklusive Informationsaustausch, die wir neu abgeschlossen oder auf den neuesten
Stand der OECD gebracht haben, zum Beispiel das Abkommen mit der Schweiz - Sie haben die Summe von
150 Milliarden Euro deutscher Steuergelder in der
Schweiz angesprochen -, das Sie im Bundesrat verhindert haben, mit dem erstmals sogar rückwirkend eine
Nachbesteuerung von illegalem Geld im Ausland ausgehandelt wurde.
({1})
Seit 1. Januar 2013 könnten wir bereits die Nachbesteuerung auf Altvermögen haben plus eine Abgeltungsteuer auf alle künftigen Kapitalerträge
({2})
und damit eine Gleichbesteuerung mit Deutschland.
({3})
Seit Januar könnten Milliardeneinnahmen aus der
Schweiz nach Deutschland fließen, und das Jahr für Jahr.
Dieses Geld fehlt nun dem Bund, den Ländern und den
Kommunen. Es geht Ihnen doch um die Einnahmen,
Herr Tempel.
({4})
Aber das haben SPD, Grüne und Linke im Bundesrat
verhindert.
({5})
Sie setzen lieber auf Zufallsfunde und Steuer-CDs als
auf eine flächendeckende Besteuerung.
({6})
Eine gleichmäßige Steuererhebung und das Durchsetzen von Steueransprüchen ist eine Frage der Steuergerechtigkeit; das sollte doch Ihr Thema sein. Gleichmäßig
heißt in Deutschland auch einheitliche Auslegung, Umsetzung und Durchsetzung des Steuerrechts in allen Bundesländern. Es wird immer wieder bemängelt, dass die
einzelnen Landesfinanzdirektionen eine unterschiedliche
Anzahl an Steuerfahndern mit unterschiedlichen Fahndungsschwerpunkten einsetzen und Steuerrecht unterschiedlich strikt auslegen. Deshalb forderte die FDP bereits 2007 in der Föderalismuskommission II mehr
Weisungsbefugnis der Bundesfinanzverwaltung gegenüber den Landesfinanzbehörden. Dies fand keine Mehrheit, da SPD, Grüne und Linke schon damals lieber zentralisieren wollten und die Länder jede Veränderung
ablehnten.
Die Forderung der Linken in ihrem Antrag ist also
nicht neu: eine Trennung der Zollverwaltung in eine
Bundesfinanzpolizei und in eine administrative Bundesfinanzverwaltung, beide dem BMF unterstellt. Wir dagegen sehen keine Qualitätsverbesserung alleine durch
Zerschlagung, Zentralisierung und Umorganisation von
Behörden. Sinnvoller ist, die Zusammenarbeit der Bundes- und Landesbehörden sowie zwischen Bundespolizei
und Zollverwaltung zu verbessern und unsere Behörden
vor allem international noch stärker zu vernetzen.
Schnittstellen müssen klarer definiert, Synergien gehoben werden. Auch hier hat diese Koalition bereits gehandelt. Die Bundesregierung hat 2010 die WerthebachKommission ins Leben gerufen,
({7})
genau mit dem Ziel, die Aufgaben sowie die Ablauforganisationen der einzelnen deutschen Sicherheitsbehörden auf Bundesebene darzustellen, zu vergleichen und
Vorschläge für eine bessere Verzahnung zu erarbeiten.
Sie kam zu dem eindeutigen Ergebnis - Frau Lips hat es
deutlich ausgeführt -, dass ein Heraustrennen der polizeilichen Aufgaben des Zollvollzugs - was die Linke als
Bundesfinanzpolizei bezeichnet - aus der Zollverwaltung mehr Reibungsverluste erzeugen würde, als dadurch Verbesserungspotenzial zu erwarten wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
auch Sie sollten diese Ergebnisse kennen. Sie stellen hier
eine plakative Forderung auf, die längst geprüft und als
schlecht verworfen ist. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1998 zum Bundesgrenzschutz eindeutig klargestellt, dass der Bundesgrenzschutz „nicht zu einer allgemeinen, mit den
Landespolizeien konkurrierenden Bundespolizei ausgebaut werden“ darf. Der Vorschlag der Linken wäre demnach ebenfalls verfassungswidrig. Daran ist einfach
nicht zu rütteln.
Ohne Frage sehen wir die Notwendigkeit, Aufgaben
zu straffen, Kompetenzen klar zu definieren und Doppelzuständigkeiten abzubauen; darin sind wir uns einig.
Doch genau dies ist Aufgabe und Ziel der im Januar dieses Jahres neu eingerichteten Regierungskommission zur
Evaluierung der Sicherheitsgesetze. Wir sollten die Ergebnisse der Arbeit dieser Kommission abwarten.
({8})
Das ist allemal effektiver, als grundgesetzlich bedenkliche Anträge und bereits als schlecht bewertete Vorschläge immer wieder zu diskutieren.
Im Ziel sind wir uns einig: Bekämpfung von Steuerbetrug und Wirtschaftskriminalität sichert dem Staat ihm
zustehende Einnahmen - eine Frage der Haushaltssicherung und eine Frage der Steuergerechtigkeit. Machen Sie
mit!
({9})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will nur ganz kurz auf das Abkommen mit der
Schweiz eingehen, das Sie, Frau Kollegin Reinemund,
angesprochen haben. Ihre Sicht ist interessant. Warum
haben denn gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
aus der Steuerverwaltung und aus dem Justizbereich der
Länder massiv davor gewarnt, ein solches Abkommen
abzuschließen? Gerade weil es verhindert hätte, dass
zahlreiche Straftaten im Bereich der Wirtschaftskriminalität aufgedeckt werden.
({0})
Das war einer der Gründe, warum wir dieses Abkommen
zu Recht abgelehnt haben, nämlich damit die Ermittlungen möglich bleiben und nicht alles in der Anonymität
versinkt.
({1})
Konkret zu dem Antrag der Linksfraktion: Uns erreichen die Hinweise von den Beschäftigten, dass es eine
Unzufriedenheit gibt. Kollege Gerster hat auf die Umfrage hingewiesen. Sie haben das Gefühl, dass sie ihre
Arbeit nicht so tun können, wie sie sie tun sollten. Das
ist zunächst einmal etwas, was wir auf jeden Fall ernst
nehmen sollten. Es gibt ein zweites Argument - das ist
am Anfang Ihres Antrags genannt -, nämlich dass es
wachsende Aufgaben in dem Themenbereich Wirtschaftskriminalität gibt. Tatsächlich können wir - das
zeigen verschiedene Ermittlungen zur Geldwäsche im
Rahmen der Finanzkrise, die teilweise nicht zum gewünschten Erfolg führen - feststellen, dass eine strukturelle Unterlegenheit der Behörden besteht.
Jetzt muss man sich fragen, ob der Vorschlag geeignet
ist, diese Probleme wirklich zu lösen. Da gibt es eine
Reihe von Zweifeln. Ich glaube nicht, Frau Lips, dass
die Werthebach-Kommission da schon das abschließende Wort gesprochen haben kann. Das ist eine rein
von der Exekutive besetzte Kommission gewesen, die
viele unabhängige Stimmen nicht berücksichtigt hat und
deswegen gerade nicht zu einer Befriedung dieser Diskussion führen konnte.
Trotzdem: Es gibt eine verfassungsrechtliche Trennung, und wir müssen die Frage stellen, ob mit der Entwicklung einer Bundesfinanzpolizei nicht die Frage der
Zuständigkeit des Bundes und der Länder berührt ist. Im
Zweifelsfall sollen die polizeilichen Aufgaben bei den
Ländern sein. Das halten wir für verfassungsrechtlich
richtig und geboten. Man muss sich fragen, ob die Folgen für die Beschäftigten mit dieser Strukturveränderung
dann schon wirklich positiv sind. Es erreichen uns von
den Beschäftigten anderer Institutionen warnende Hinweise, dass das Problem damit möglicherweise nicht gelöst, sondern verschärft wird. Auch diese Hinweise sind
ernst zu nehmen. Es stellt sich die Frage der Abgrenzung
zu den Aufgaben der Landespolizeien und die Frage, die
Herr Gerster angesprochen hat, nämlich ob man kurz
nach der Reform in der letzten Legislaturperiode jetzt erneut an eine Reform herangeht und in welcher Form das
geschehen soll.
Ich finde, dass Ihr Antrag genau diese Abwägung der
verschiedenen Aspekte nicht vornimmt und nicht zeigt,
wie die Strukturveränderung zu einer wirklichen Problemlösung führt, ohne neue Probleme aufzuwerfen. Genau deswegen glaube ich, dass dieses Thema einer weiteren Diskussion bedarf.
Es gibt tatsächlich ein Nebeneinander von verschiedenen Institutionen. Uns erreichen Hinweise, dass es
teilweise schwierig ist, zu einer guten Zusammenarbeit
zu kommen. Aber lassen Sie uns das etwas gründlicher
anschauen und dann mit einem Diskussionsprozess beginnen, der wirklich die verschiedenen Stimmen berücksichtigt und nicht nur auf wenige Stimmen Bezug nimmt
und damit keine Zufriedenheit bei den Beschäftigten
schafft. Da hat die Koalition meines Erachtens das Nötige noch nicht getan. Darauf weisen Sie zu Recht hin.
Aber die Lösung, die Sie vorschlagen, ist unseres Erachtens noch nicht zustimmungsfähig.
Danke.
({2})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Michael Hartmann für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist in der Tat vieles im Bereich unserer gesamten Sicherheitsarchitektur nicht richtig sortiert und
zugeordnet. Das gilt auch für den Zoll und in besonderem Maße für den sogenannten waffentragenden Zoll.
Wenn man sich beispielsweise überlegt, dass immer
noch, nachdem bekannt wurde, dass bei der Fracht in
Passagiermaschinen vieles nicht so läuft, wie wir es uns
wünschen würden, der Kompetenzstreit um Stellen und
Zuordnung zwischen dem Finanzministerium, dem Verkehrsministerium und dem Bundesinnenministerium
tobt, wird klar, dass keiner sagen kann: Mit dem Zoll,
seiner Aufgabenwahrnehmung und seiner Zuordnung ist
alles in Ordnung. Aber das haben nicht die Beamtinnen
und Beamten am Frankfurter Flughafen oder anderswo
zu verantworten, sondern eine Bundesregierung, die
nichts anderes tut, als um Stellen zu streiten und das
Kompetenzgerangel auf dem Rücken der Beamtinnen
und Beamten auszutragen.
({0})
Deshalb meine ich: Wir müssen gemeinsam den Mut
haben, in Fragen der Sicherheitsarchitektur eine Aufgabenkritik überall und an jeder Stelle vorzunehmen. Dazu
gehört unbedingt der Zoll. Wenn nun immer wieder das
Michael Hartmann ({1})
Stichwort „Werthebach-Kommission“ fällt, sei dazu aus
meiner Sicht eines gesagt: Fragen Sie doch bitte mal den
Herrn Werthebach, was er heute von seinen damaligen
Auftraggebern hält. Er wurde vorgeschoben, durfte zusammen mit anderen hochmögenden ehemaligen Präsidenten von Sicherheitsbehörden nachdenken, musste bestimmte Fragen tabubewusst ausklammern und wurde
dann, nachdem das Ganze präsentiert worden war, sofort
zurückgepfiffen. Es ist gar nichts daraus geworden.
In der Frage des Zolls wurde die Aussage getroffen:
Bitte gar nicht erst anfassen. Genau das ist verkehrt. Man
muss sich auch den Problemen der Abgrenzung stellen.
Man darf nicht von vornherein Tabus schaffen und sagen, die Sache sei erledigt. In der Tat: Der Zoll ist eine
wichtige Sicherheitsbehörde unseres Landes.
Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern erklären wollen, dass zum Beispiel die Bekämpfung von Drogenschmuggel, die Bekämpfung von Schleuserkriminalität,
die Bekämpfung von illegalen Aktivitäten organisierter
Kriminalität auch mit dem Instrument der Onlinedurchsuchung und mit verdeckten Ermittlern wahrgenommen
wird, und dann fragen würden: „Wer macht das denn?“,
würden, glaube ich, die meisten Bürgerinnen und Bürger
antworten: Das macht doch die Polizei. Ob Bundes- oder
Landespolizei oder Bundeskriminalamt, sei einmal dahingestellt. Nein, das alles macht der Zoll. Deshalb muss
es erlaubt sein, zu fragen, ob der Zoll, der so weit im Bereich der Gefahrenabwehr, der unmittelbaren Gewalt,
der verdeckten Maßnahmen tätig ist, nicht tatsächlich
auch besser und geordneter als Polizei verstanden werden muss, als das in der Vergangenheit der Fall war. Insofern ist die Fragestellung im Antrag der Linken unbedingt eine berechtigte.
({2})
Allerdings sind wir der Meinung, dass es sich lohnt,
alles genau anzuschauen und nicht sofort Ergebnisse zu
präsentieren; denn wir sind beispielsweise dann in einem
Feld, das der intensiven Diskussion bedarf, wenn wir
fragen: Was kann durch den Gesetzgeber eigentlich vorgegeben werden? Wo sind wir in Bereichen, die der Organisations- und Personalhoheit der Ministerien unterliegen, in denen das Parlament gar nichts zu sagen hat?
Wo kommen wir in Bereiche hinein, die durch das
Grundgesetz klar dem bisherigen Zoll zugewiesen sind?
Jetzt ist mir völlig klar, dass - ganz gleich, wer regiert
und wer wo Minister ist - niemand sich eine so schmucke Truppe so einfach aus dem Ressort herausschneiden
lässt. Zugleich stellt sich allerdings die Frage, ob es
sachadäquat ist, allein dem Finanzminister bestimmte
Aufgaben einer eigentlich polizeilich orientierten Behörde zuzuordnen. Deshalb sind wir der Meinung, lieber
Frank Tempel: Es ist nicht richtig, zu sagen: „Wir brauchen ein Sonderkontrollgremium für diese Einheiten“,
sondern das muss schon im klassisch parlamentarischen
Verfahren weiterlaufen.
Wir sind auch keineswegs der Meinung, dass die gesamte Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität nun bei
dieser zukünftigen Bundesfinanzpolizei angesiedelt sein
sollte, sondern wir meinen, eine strenge und an der Aufgabe orientierte Kritik muss an der einzelnen Wahrnehmung im Sicherheitsbereich erfolgen. Dann kann man zu
gescheiten und zielführenden Lösungen kommen.
Insofern ist es gut, wenn wir mit den Freunden der
GdP, der DPolG, des BDK reden. Aber wir sollten als
Parlamentarier nie einfach deren Position übernehmen,
sondern eigenständig in der Gesamtschau prüfen. Wir
sollten im Übrigen auch nie sagen: Die Welt ist gut, so
wie sie ist. Meine Damen und Herren von der Koalition,
sie kann immer noch besser werden, auch beim Zoll.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12708 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union
({0})
- Drucksache 17/12816 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Vizepräsidentin Petra Pau
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Bernhard Kaster für die Unionsfraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Welch wunderbare Abkürzung - EUZBBG:
Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Für die Bürgerinnen und Bürger können
wir das einfach übersetzen: Es geht um ein Mitsprachegesetz, ein europäisches Mitsprachegesetz.
Im vergangenen Jahr hat das Bundesverfassungsgericht Leitsätze zu den Informationspflichten, zum Umfang, Zeitpunkt und zu der Qualität der Unterrichtung
zwischen Bundesregierung und Bundestag entwickelt.
Wir haben damals dieses Urteil, so auch unser Fraktionsvorsitzender, ausdrücklich begrüßt.
Eine Neufassung des bisherigen Beteiligungsgesetzes forderte das Gericht nicht. Der Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts lautet: Je mehr Kompetenz auf
die europäische Ebene verlagert wird, desto mehr Kontrollrechte der Parlamente muss es geben. - Das ist der
Hauptleitsatz des Verfassungsgerichtsurteils.
Deshalb haben wir uns im vergangenen Jahr fraktionsübergreifend darauf verständigt, ein neues Beteiligungsgesetz in Angelegenheiten der Europäischen
Union auf den Weg zu bringen. Es freut mich, dass es
gelungen ist, heute einen gemeinsamen Vorschlag aller
Fraktionen in das Parlament einzubringen. An dieser
Stelle sage ich ein ausdrückliches Danke an alle, die daran mitgewirkt haben, an alle Beteiligten, die diesen Gesetzentwurf in der Arbeitsgruppe erarbeitet haben. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Danke sage ich auch deshalb, weil dieser Gesetzentwurf sowohl aus dem Blickwinkel des Bundestages wie
auch der Regierung zu betrachten ist. Er ist ebenso unabhängig vom derzeitigen Rollenverständnis zu betrachten,
ob Regierungsfraktion oder Oppositionsfraktion - in der
fernen Zukunft mögen die Rollen vielleicht auch einmal
wechseln.
({1})
Aber um das an dieser Stelle klar zu sagen: Es geht
um die frühzeitige und vollständige Unterrichtung des
ganzes Parlamentes, um - wie es unser Bundestagspräsident formuliert hat - der „zentralen Stellung des Bundestages als Ort der öffentlichen politischen Auseinandersetzung und der rechtsverbindlichen Entscheidung“
gerecht zu werden. Es geht um unseren Beitrag zur „demokratischen Legitimation der EU“. Darum geht es auch
hier im Deutschen Bundestag.
({2})
Herausgekommen ist ein Gesetz, das - und das halte
ich für sehr wichtig - die notwendige Balance wahrt
zwischen der parlamentarischen Kontrolle und Mitwirkung einerseits sowie der Eigenverantwortung und
Handlungsfähigkeit der Exekutive andererseits. Diese
Balance war uns auch ein Anliegen in den Gesetzesberatungen. Wir schaffen damit mehr Transparenz durch
stärkere Kontrolle und mehr demokratische Legitimation
durch parlamentarische Mitwirkung. Die Regierung
- um das abschließend dazu zu sagen - benötigt Handlungsfähigkeit und parlamentarische Rückbindung gleichermaßen. Beides gehört zusammen.
({3})
Einen besonderen inhaltlichen Hinweis will ich noch
geben: Auch die Beteiligung des Parlamentes beim
Thema Einführung des Euro in einem Mitgliedstaat ist
durch eine Einvernehmensregelung in einem eigenen
Absatz noch einmal gestärkt worden. Ich denke, das ist
ein wichtiges Element.
Die wesentlichen Neuerungen liegen auch darin, dass
die Unterrichtungspflichten auf völkerrechtliche Verträge und Regierungsvereinbarungen ausgedehnt worden
sind, sobald diese in einem besonderen Näheverhältnis
zur Europäischen Union stehen. Die Unterrichtungspflichten umfassen alle Ebenen. Dabei ist natürlich klar,
dass die Informationsqualität, die Informationstiefe in
dem Maße zunehmen, in dem man sich im Laufe eines
Prozesses der politischen Entscheidungsebene nähert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes sind überzeugte Europäer.
Sie stehen hinter Europa. Sie leben auch Europa, und sie
leben es - das sehe ich auch in meiner Heimat - mit großer Selbstverständlichkeit. Aber gerade in den vergangenen Jahren sind Themen zum Euro aufgekommen - das
beschäftigt uns ja auch aktuell in dieser Woche - wie
Schuldenkrise oder Rettungsschirm. Thema war aber
auch manche Richtlinie, die wir diskutieren, etwa die
Trinkwasserrichtlinie oder aber auch die Richtlinie, in
der es darum ging, wie Feuerwehrkräfte in die Arbeitszeitrichtlinie zu integrieren sind. Hier wären viele Themen aufzuzählen.
Wenn es um diese Themen geht, fragen viele der Bürger uns Bundestagsabgeordnete: Blickt ihr da noch
durch?
({4})
Seid ihr da genügend eingebunden? Bestehen da genügend Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten? Ich
denke, mit diesem Gesetz können wir zumindest eine
bessere Antwort auf diese Fragen geben, was Mitwirkung, Unterrichtung und Kontrolle angeht.
({5})
Es ist auch unsere parlamentarische Aufgabe in
Deutschland, für Europa Subsidiarität, gewollte Vielfalt
wie auch nationale Besonderheiten im Blick zu behalten.
Wenn erst einmal die Fristen für eine Subsidiaritätsrüge
oder eine Subsidiaritätsklage zu laufen beginnen, ist es
meist schon zu spät. Deswegen muss das politische Handeln des Bundestages frühzeitiger einsetzen; das bedingt
entsprechende Informationen.
Ich will zum Schluss nicht übertriebenes Pathos verbreiten, aber ich möchte persönlich sagen, dass wir mit
diesem Gesetz sehr wohl, vielleicht auch modellhaft in
Europa, einen Weg aufzeigen, wie man parlamentarische
Mitwirkung, parlamentarische Kontrolle und damit die
vom Bürger ausgehende demokratische Legitimation
europäischer Entscheidungen besser gestalten und stärken kann.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Axel Schäfer hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein besonderer Tag für unser Parlament, und
zwar aus vier Gründen:
({0})
Der erste Punkt ist: Es geht um das Selbstverständnis
unseres Hauses. Unser Selbstverständnis lautet: Wir
wollen und wir müssen und wir werden parlamentarische Rechte gemeinsam wahrnehmen. Zu diesem Zweck
sind wir auch in der Lage, über Fraktionsgrenzen, über
die Konstellation von Regierung und Opposition hinauszugehen. „Denken“ heißt auch immer „überschreiten“.
Wir haben das überschritten, indem wir es geschafft haben, dass ein gemeinsamer Gesetzentwurf von FDP,
CDU/CSU, Grünen, Linken und SPD vorgelegt wurde.
Das ist nicht nur ein Wert für uns; das ist auch ein Wert
an sich für die parlamentarische Demokratie. Darauf
sollten wir in diesem Hause gemeinsam stolz sein, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Das ist auch ein Beispiel dafür, dass Gesetzgebung allein durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier möglich ist - das heißt, es gab nicht irgendwelche Vorlagen,
die uns die Regierung oder wer auch immer geschrieben
hat - und dass wir in der Lage sind, Sachkompromisse
zu finden. Das ist ganz besonders wichtig: Sachkompromisse zu finden.
Jetzt möchte ich etwas machen, was im Parlament
sehr oft vergessen wird, nämlich mich einmal bei denen
bedanken - an dieser Stelle muss ich in mein Manuskript
gucken -, die für das Zustandekommen eine wichtige
Arbeit geleistet haben, nämlich bei unseren Referentinnen und Referenten, die uns wirklich ausgezeichnet unterstützt haben.
({2})
Namentlich sind zu nennen: Paul Göttke von der CDU,
Dr. Fabian Schulz von der SPD, Jakob Redl von den
Grünen, Jens Lorentz von der FDP und Janeta Mileva
von der Linkspartei. Ganz herzlichen Dank an dieser
Stelle!
({3})
Es wird ja sehr oft vergessen, aber wer sich mit europäischen Zusammenhängen beschäftigt, erlebt das jeden
Tag: Unser Deutscher Bundestag ist deshalb so stark und
kann sich in einzelnen Fragen so stark machen, weil er
das bestausgestattete Parlament in der EU ist, und zwar
hinsichtlich unserer Strukturen und unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das kommt hinzu. Auch darauf
müssen wir achten und dürfen nicht nur das im Blick haben, was wir selbst machen und können.
({4})
- Gerne, Manuel. - Ach so, Frau Präsidentin.
Bei so viel Einigkeit habe ich nicht mit einer Meldung
gerechnet. Aber der Kollege Sarrazin hat für eine Bemerkung oder Frage das Wort.
Herr Kollege Schäfer, sind Sie bereit, hier auch zu
würdigen, dass von unserer Fraktion auch das Justiziariat maßgeblich beteiligt war, vor allem in Person von
Herrn Tabbara?
({0})
Das mache ich gerne. Die anderen Namen hatte man
mir aufgeschrieben. Ihr wisst ja: die lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vielleicht hat da jemand gefehlt.
Der zweite Punkt nach dem Selbstverständnis ist die
Selbstkritik. Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht allein aus unseren Erkenntnissen und guten Ideen entstanden,
({0})
Axel Schäfer ({1})
sondern auch aus schlechten Erfahrungen, respektive einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, etwas zu tun.
({2})
Das ist schon eine klare Ohrfeige für die Haltung der Regierung, die uns weismachen wollte, ESM und andere
wichtige Verträge wären keine europäischen Angelegenheiten, weil sie in den europäischen Verträgen gemeinschaftlich nicht vorkommen. Das war falsch. Dass uns
erst ein Gericht darüber belehren musste, sollte - so richtig und wichtig es war - in Zukunft nicht mehr notwendig sein. Wir sollten schon Manns und Frau genug sein,
gemeinsam darauf zu kommen, und zwar egal, in welchen Regierungs- und Oppositionskonstellationen wir
uns befinden.
Es gehört auch dazu, zu sagen: Jawohl, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen haben geklagt. Zum einen Glückwunsch, dass sie es gemacht haben, zum anderen Glückwunsch, dass dies zum Erfolg
für uns alle geführt hat. Vielen Dank!
({3})
- Es dürfen auch die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der FDP klatschen. Ich finde, das gehört
auch dazu.
({4})
Der dritte Punkt: Aus dieser Erfahrung muss eine
Selbstverpflichtung für das ganze Haus entstehen.
Selbstverpflichtung heißt, dass wir in Zukunft die Dinge,
die wir von der Regierung erwarten und die wir auch
kontrollieren, immer zu unserer eigenen Sache machen.
Das heißt, dass wir uns auf der Grundlage der Informationen und der Berichte, die uns vorliegen, selbst zu
mehr Stellungnahmen dieses Hauses verpflichten. Die
entsprechenden Diskussionen müssen nicht immer nur
an Fraktions- oder Koalitionsgrenzen entlang verlaufen.
Wir müssen darüber hinaus überlegen, ob wir gemäß
Art. 45 Grundgesetz dem Europaausschuss häufiger die
Möglichkeit einräumen, die Rechte des Bundestages
wahrzunehmen; Stichwort: plenarersetzende Beschlüsse.
Auch das ist ein wichtiger Punkt, der leider sehr oft vergessen wird.
Es gehört aus meiner Sicht auch dazu, zu überlegen,
ob wir auf der Grundlage des Art. 45 Grundgesetz einen
neuen Querschnitts- oder Unterausschuss schaffen, um
das zu erreichen, was bei der Änderung des Grundgesetzes vor über 20 Jahren noch nicht bedacht wurde, nämlich neue parlamentarische Möglichkeiten der Kontrolle
bei Entscheidungen im Bereich der Finanzen und der
Wirtschaft in der EU zu schaffen. Es reicht ja nicht, dass
wir uns immer über Zuständigkeiten - Unterrichtungen
etc. - streiten, also sozusagen über die innere Architektur. Vielmehr kommt es auch auf die gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen an.
Dazu gehört auch - die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Frau Merkel von der SPD, hat dies schon zu
Recht eingefordert -, dass wir uns dafür einsetzen müssen, dass das Kalendarium innerhalb der EU zwischen
den nationalen Parlamenten und dem EP so ausgestaltet
wird, dass wir als Parlamente einmal im Jahr mindestens
eine Woche gemeinsam tagen können, um uns zu beraten
und zu positionieren. Auch das würde dazu führen, dass
wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Europa gemeinsam besser handlungsfähig werden. Das sollten wir uns
in diesem Hause überlegen.
Es gibt auch immer Erinnerungen an bestimmte Erfahrungen. Das will ich ganz offen sagen: Zu Zeiten der
Großen Koalition haben wir, CDU/CSU und SPD, es
hinbekommen, dass sich alle Fraktionen gemeinsam auf
die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in EU-Angelegenheiten verständigt haben. In dieser Legislaturperiode ist der vorliegende Gesetzentwurf
übrigens der erste, bei dem das wieder möglich war.
Am Ende, als alles beschlossen war, habe ich den
Vorsitzenden meiner Fraktion, den unvergessenen Peter
Struck - ein Vollblutparlamentarier -, gefragt: Peter, was
sagst du denn zu dem, was wir hier an Beteiligungsrechten für den Bundestag zustande gebracht haben? Er hat
mir geantwortet: Axel, ich hätte euch nicht so viel zugestanden. - Wie es der Zufall so will, habe ich an diesem
Tag auch den Kollegen Kauder getroffen. Da habe ich
mir gedacht: „Na ja, wir sind ja in einer Koalition“, und
fragte Herrn Kauder - auch ein Vollblutparlamentarier -:
Was sagen Sie denn zu dem, was wir hier für den Bundestag erreicht haben? Daraufhin antwortete er mir: Ich
hätte Ihnen nicht so viel zugestanden. - Ich glaube, das
ist jetzt sieben Jahre her. Es gibt insgesamt einen Bewusstseinswandel, hoffentlich auch beim Kollegen
Kauder, der zu der Einsicht führte: Wir müssen als Parlament in europäischen Angelegenheiten gemeinsam
engagierter sein. Wir sollten nicht nur sagen: Oh, das ist
Sache des Europaausschusses. - Es ist Sache des Parlaments insgesamt.
Europa wird nur demokratisch und damit auch parlamentarisch gelingen. Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen
und Kollegen, diese neuen Möglichkeiten gemeinsam
nutzen und es als Verpflichtung verstehen, andere in unseren eigenen Fraktionen - das soll in allen fünf Fraktionen so sein - davon zu überzeugen. Auch diejenigen, die
ab September an der Regierung sind - wir von SPD und
Grünen wollen gemeinsam regieren -, sollen sich wirklich daran halten.
Vielen Dank und Glück auf!
({5})
Der Kollege Dr. Stefan Ruppert hat für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch ich finde es gut - das sollten wir Parlamentarier immer wieder herausstellen -, dass es uns gelungen ist, in dieser Frage einen ganz breiten parteipolitischen Konsens zu finden und die unterschiedlichen
Interessen, aber auch die unterschiedlichen politischen
Vorstellungen vom Gelingen eines gemeinsamen Arbeitens von Exekutive und Legislative unter einen Hut zu
bringen. Da er es nicht für sich selbst tun kann, ist es,
wie ich finde, an der Zeit, Herrn Kaster zu danken, der
all das ausgesprochen gut und kollegial koordiniert hat.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt könnte man sich überlegen, was eigentlich wäre,
wenn diese Debatte - ich nehme ein Beispiel - am
1. August 2009 stattgefunden hätte. Wer sich nicht mehr
so genau erinnert, was da war, dem sei gesagt: Kurz zuvor war das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verkündet worden. Liebe Kollegen von SPD und
Grünen, ich will es Ihnen jetzt ersparen, Ihnen Ihre
damaligen Reaktionen auf das Lissabon-Urteil vorzuhalten. Wegen Äußerungen des Ihnen vermeintlich, wahrscheinlich sogar tatsächlich nicht nahestehenden Berichterstatters haben Sie damals von „dumpfen nationalen
Tönen“ oder zumindest „Untertönen“ gesprochen. Sie
waren darüber besorgt, ob nun wieder „am deutschen
Wesen die Welt genesen“ solle. Es gab breite Empörung
in Ihren Reihen darüber, wie man darauf kommen
könne, etwas so Gutes wie die europäische Integration
dadurch zu behindern, dass man nationalen Parlamenten
mehr Rechte einräumt.
Von dieser Vorstellung, dass es ein Malus für die
europäische Integration sei, wenn man den Deutschen
Bundestag stärke, haben Sie sich zum Glück innerhalb
kürzester Zeit wieder entfernt, mit einer 180-Grad-Drehung bei Ihren politischen Aussagen. Sie sind dann sehr
schnell - wie ich finde, aus guten Gründen - auf die Systematik eingestiegen, die mit dem Lissabon-Urteil angestoßen worden ist.
Der Deutsche Bundestag hat sich viele Jahrzehnte
nicht um seine Beteiligungsrechte bei der europäischen
Integration gekümmert, anders als die Länder, die durchaus schon früher einen Blick darauf hatten. Erst als uns
das Karlsruher Urteil diese Mitwirkungsrechte eingeräumt hatte - das Lissabon-Urteil ist hier zentral -, haben wir uns verstärkt um unsere Teilhaberechte gekümmert.
({1})
- Sie können eine schöne Gesetzeskommentierung von
mir dazu lesen. Ich kann Ihnen sagen, wann die ersten
Initiativen aus Ihrer Fraktion dazu kamen und wie die
ersten Debatten im Jahr 2009, kurz vor dem LissabonUrteil, noch verlaufen sind.
({2})
Heute sind wir zum Glück einen Schritt weiter. Aber
wir stellen auch fest: Zahlreiche Möglichkeiten der Beteiligung der nationalen Parlamente, über die wir heute
verfügen, erweisen sich bisher als relativ stumpfe
Schwerter - ich nenne die Subsidiaritätsrüge, aber auch
die Subsidiaritätsklage -, weil wir feststellen, dass die
parlamentarischen Abläufe und die Koordinierung mit
anderen europäischen Parlamenten faktisch so zeitaufwendig sind, dass die dort vorgefundenen Fristen in der
Regel nicht ausreichen, um etwas auf die Beine zu stellen.
Umso wichtiger ist es, dass wir im Gesetzentwurf
zum EUZBBG nicht so sehr auf formale Mittel setzen.
Sie sind auch wichtig, aber es geht mehr darum, dass
eine Exekutive zu jedem Zeitpunkt einer Debatte unterrichtet. Sie informiert also das Parlament, den Deutschen
Bundestag; er nimmt diese Informationen auf und bewertet sie politisch. So können die Koalitionsfraktionen
ihrer eigenen Regierung sagen oder auch die Oppositionsfraktionen signalisieren, inwieweit man bereit ist,
den Weg auf europäischer Ebene mitzugehen. Diese Teilung von Kontrolle, Legitimation und Ermächtigung ist
im Gesetzentwurf zum EUZBBG genau richtig gewählt.
Deswegen stimmen wir aus voller Überzeugung zu.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren
Punkt ansprechen. Wir sollten die Schrauben nicht überdrehen. Es gibt durchaus Bereiche exekutiven Handelns,
die von der Exekutive allein wahrgenommen werden
müssen. Es gibt einen Kernbereich exekutiven Handelns,
den wir ernst nehmen sollten. Wer schon einmal Verhandlungen auf europäischer Ebene erlebt hat oder über
diese berichtet bekam, der weiß, dass man in solchen
Verhandlungen nicht alles bis ins kleinste Detail determinieren, kontrollieren oder voraussagen kann.
Insofern ist festzuhalten: Der heute vorgelegte Gesetzentwurf findet auch hier ein ausgewogenes Verhältnis zwischen exekutivem Kernbereich auf der einen
Seite und parlamentarischen Kontrollrechten auf der anderen Seite.
Ich muss zugeben: Einmal wäre ich gerne Grüner gewesen.
({4})
Ich hätte das Gesetz, offen gesagt, lieber zu einem Zeitpunkt auf den Weg gebracht, als uns Karlsruhe noch
nicht dazu aufgefordert hat. Es ist immer besser, wir machen Gesetze selbst, als Handlungsaufträge aus Karlsruhe zu bekommen.
({5})
Das war damals - das sage ich ganz versöhnlich - noch
nicht gemeinsamer Verhandlungsstand. Wir sind etwas
später aufgebrochen, aber dafür haben wir umso bessere
Ergebnisse erzielt.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir bringen den vorliegenden Gesetzentwurf nicht in
den luftleeren Raum ein, sondern wir diskutieren dieses
Thema immer auch im Hinblick auf die konkrete Situation in Europa. Wir kommen ja nicht drumherum, zuzugeben, dass Europa tatsächlich in einer tiefen Krise
steckt und dass sich immer mehr Menschen von diesem
Europa abwenden. Ob Sozialabbau, Rekordarbeitslosigkeit, fehlende Investitionen in Bildung, Gesundheit oder
Infrastruktur: Insbesondere in Südeuropa gehen immer
mehr Menschen auf die Straße, weil sie den Eindruck
haben, dass der Europäische Rat und die EU-Kommission diese Politik der Europäischen Union diktieren. Sie
haben auch das Gefühl, dass ihre nationalen Parlamente
nicht in dem Umfang mitsprechen können, wie sie das
unter demokratischen Gesichtspunkten eigentlich gerne
sehen würden. Ich glaube also, wir müssen auch im
Lichte der aktuellen europäischen Entwicklung den
heute vorliegenden Gesetzentwurf beraten.
({0})
Viele haben den Eindruck, dass nicht mehr die Parlamente, sondern die Finanzmärkte, die Banken und die
Großkonzerne über die Zukunft der Europäischen Union
entscheiden. Integration hält damit leider nicht Schritt.
Wir als Linke haben von Anfang an gesagt: Europa wird
nur gelingen, wenn die Europäische Union sozialer und
demokratischer wird. Leider haben wir in den letzten
Jahren in dieser Hinsicht schwere Rückschläge erleben
müssen. In dieser Woche beispielsweise hat keine einzige Brüsseler Entscheidung die Zustimmung Zyperns
erhalten. Das zeigt: Mit dieser Art europäischer Politik
haben wir Probleme, zu den Menschen durchzudringen.
Dass wir heute darüber diskutieren - meine Vorredner
haben es schon angesprochen -, ist auch keine Sternstunde des Parlaments. Es war schon so - das gehört zur
Wahrheit dazu -, dass der Großteil des Parlaments diese
Rechte eigentlich gar nicht mehr wollte, sondern von
Karlsruhe aufgefordert werden musste, sie sich als Parlament zurückzuholen.
({1})
Viele hier im Haus waren eher der Auffassung, man
solle die europapolitischen Entscheidungen, die die jeweilige Bundesregierung hier einbringt, abnicken. Ich
denke, man kann im Zusammenhang damit, dass Karlsruhe uns hier auf einen anderen Weg gebracht hat, wirklich auch von einer Ohrfeige reden.
({2})
Es ist positiv zu bewerten - da schließen wir uns an -,
dass es uns in den letzten Monaten gelungen ist, hier einen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf einzubringen; denn dieser bedeutet selbstverständlich eine Verbesserung des Status quo. Was die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik bzw. die Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik anbelangt, hatten wir natürlich
weitere Vorschläge.
({3})
Die anderen Fraktionen haben leider nicht mitgemacht,
was wir schade finden. Aber das war für uns kein Grund,
aus den Verhandlungen auszusteigen.
Dazu möchte ich auch noch sagen: Natürlich hat man
immer wieder aufs Neue gemerkt, dass insbesondere
SPD und Grüne immer auch aus dem Blickwinkel heraus
diskutiert haben, dass es möglich sein kann, dass sie
morgen wieder die Regierung stellen, und sich vor diesem Hintergrund gefragt haben, ob man die Parlamentsrechte wirklich so weit ausbauen will. Wir hätten uns gewünscht, dass man noch einen Schritt weiter geht. Trotz
alledem wurde eine Verbesserung des Status quo erreicht.
Wir dürfen aber an diesem Punkt nicht haltmachen,
wenn es darum geht, europäische Politik transparenter
zu machen, sie auch bürgernäher zu machen. Ich denke,
über das Gesetz hinaus müssen wir uns in einem nächsten Schritt auch Gedanken darüber machen, bei wesentlichen Entscheidungen der Europäischen Union Volksabstimmungen einzuführen.
({4})
Damit sind wir nicht alleine. Im Süden gibt es einen Ministerpräsidenten, der das auch immer gern diskutiert.
Wir warten einmal ab, wann zumindest die CSU im Parlament entsprechend agiert.
({5})
Denn die Europäische Union wird, wie gesagt, nur funktionieren, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie
mitentscheiden können, dass es demokratisch abläuft
bzw. dass zumindest die Parlamentarier, die sie gewählt
haben, in letzter Konsequenz entscheiden. Heute haben
wir einen kleinen Schritt getan; aber es ist noch viel
mehr möglich.
Auch ich sage der Mitarbeiterebene und insbesondere
auch Ihnen, Herr Kaster, Dank. Sie haben das sehr gut
organisiert. Das liegt wahrscheinlich weniger daran, dass
Sie von der CDU/CSU-Fraktion sind,
({6})
sondern eher daran, dass Sie wie ich Rheinland-Pfälzer
sind. Rheinland-Pfälzer haben manchmal richtig gute
Ideen.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Manuel Sarrazin hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Eine bekannte Fernsehwerbung kann man aufgrund der Debattenbeiträge abgewandelt so zitieren:
„Wer hat denn eigentlich die Parlamentsrechte vor Gericht eingeklagt? - Die Grünen waren es.“
Auch wenn wir im Parlament eine lange gemeinsame
Geschichte seit der BBV haben - man kann eigentlich
sagen, dass die Urkompetenz für neue Rechte des Bundestages, die durch diese Gerichtsentscheidung und dieses neue Gesetz in einer ganz neuen Qualität ausgelegt
werden, die Einführung von Art. 23 im Rahmen der
Maastricht-Ratifikation ist -, muss man doch sagen, dass
es an der Stelle sehr wichtig war, dass wir Grüne - in
Stellvertretung des Parlaments, aber als einzige Fraktion - nach Karlsruhe gegangen sind und diese Rechte
eingefordert haben; die FAZ sprach in diesem Zusammenhang ja so treffend von der „Anatomie einer Hintergehung“.
({0})
Die gemeinsamen Positionen des Parlaments haben
wir auch im Gesetzgebungsprozess gegen die Regierung
durchsetzen müssen. Insoweit möchte ich mich dem
Dank in alle Richtungen anschließen. Wir haben konstruktiv gearbeitet. Sie wissen auch, dass wir noch weitergehende Vorstellungen hatten, zum Beispiel die Idee,
ein Comprehensive Law, ein Europagesetzbuch zu schaffen, in dem alle Beteiligungsrechte zusammengeführt
sind. Dennoch war das ein gutes Geschäft für alle Seiten,
auch wenn man sich vor Augen hält, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen in Karlsruhe noch argumentiert hat, dass die Bereiche wie der ESM, die EFSF
oder andere völkerrechtliche Verträge, die in einem
Nähe-Verhältnis zur Europäischen Union stehen, einfach
nur Völkerrecht seien und dem Bundestag nur per Letztentscheidungsrecht zugänglich wären. Dass wir diese
Baustelle schließen konnten, ist sehr wichtig für die Parlamentsrechte, gerade auch in Zeiten einer Krise, wie wir
sie momentan haben.
Dass wir in dieser Krise die Legitimation stärken, um
auch die Legitimität der Europäischen Union und der europäischen Einigung gerade in so schwierigen Zeiten zu
erhalten, ist sehr wichtig. Vor dem Hintergrund ist es natürlich auch richtig, dass wir als Parlament uns bewusst
sind, dass mit dieser ganz neuen Qualität an parlamentarischen Rechten auch Pflichten für uns einhergehen.
({1})
Dazu gehört die Möglichkeit, dass wir uns dadurch, dass
wir viel früher, viel besser und auch über ganz andere
Sitzungsformate und Inhalte als bisher unterrichtet werden, auch früher, proaktiver und eigentlich auch konstruktiver als bisher in europäischen Verhandlungen zu
Wort melden und so der Bundesregierung unsere Vorstellungen als Parlament zu einem Zeitpunkt mitgeben,
zu dem diese noch die Möglichkeit hat, sie in ihre Verhandlungsführung auf europäischer Ebene einzubringen.
Dazu gehört auch, dass beispielsweise die Sitzung,
die letzten Freitag zu der sehr misslichen Situation geführt hat, die wir zurzeit haben, erst durch die Gesetzesänderung beim Fiskalvertrag und vollumfänglich erst
durch die Gesetzesänderung, die wir heute in Umsetzung
der grünen Verfassungsgerichtsklage beschließen, in den
gleichen Informationsraum wie die normalen europäischen Verfahren gerät. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass
wir jetzt diese Beschlüsse fassen.
Mit diesen Rechten geht natürlich auch eine Verantwortung für die Abgeordneten einher, ihre Europapolitik
darauf auszurichten. Dazu gehört auch, dass wir, wenn
wir sensible Informationen erhalten, die vielleicht in anderen Staaten ganz besondere Befindlichkeiten auslösen
können, nicht gleich zum Beispiel per E-Mail an die
Presse weiterleiten, wie wir es im Fall Irland beispielsweise noch auf einer anderen Rechtsgrundlage erlebt haben.
({2})
Dazu gehört auch, dass wir in den europapolitischen
Debatten, die wir führen, unsere Aufgabe als Abgeordnete, gerade wenn wir Zugriff auf Dokumente und Inhalte haben oder sogar auf die Verhandlungsführung mit
anderen Staaten, beispielsweise in der Euro-Krise, Einfluss nehmen können, in einem Ton und mit einer Empathie gegenüber dem Verhandlungspartner wahrnehmen,
dass niemand das Gefühl hat, beim Deutschen Bundestag zum Bittsteller zu werden.
({3})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Das ist
ein guter Tag für die Parlamentsrechte und ein guter Tag
für die Grünen und alle anderen hier im Haus. Ich denke,
dass wir das in den nächsten Jahren gemeinsam noch
sehr gut nutzen werden.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die
Unionsfraktion.
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen
heute mit der Beratung und in der nächsten Sitzungswoche aller Voraussicht nach mit der Beschlussfassung
über den Entwurf eines EUZBBG - man müsste eigentlich „II“ hinzufügen, denn das Gesetz stellt nicht nur
eine Änderung oder Ergänzung dar, sondern wir schreiben damit ein neues Gesetz - zu dem Endpunkt eines
Prozesses, der im November 2005 begonnen hat. Ich
glaube, am Schluss dieser Debatte sollte man darauf
noch einmal hinweisen.
({0})
Denn es waren die damaligen Koalitionsfraktionen
CDU/CSU und SPD, die sich in den Koalitionsverhandlungen im November 2005 darauf geeinigt haben, eine
Vereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen Bundestag
und Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union zu erarbeiten und vertraglich zu beschließen.
({1})
Dazu, gleich ein Gesetz zu machen, was ich damals
schon für den besseren Weg gehalten hätte, hat uns zu
der Zeit in der Tat noch der Mut gefehlt.
({2})
Allerdings haben wir diese Zusammenarbeitsvereinbarung hinbekommen - ich weiß noch, Axel Schäfer, dass
wir sehr lange diskutieren mussten -, und das war ein
Meilenstein erstens für Informationsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten und zweitens für
Mitwirkungsrechte des Bundestages in europäischen
Angelegenheiten.
Wir haben das Gesetz in dieser Legislaturperiode umgesetzt, und dann kam das berühmte Lissabon-Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes. In diesem Zusammenhang
möchte ich am Schluss dieser Debatte allerdings ein
klein wenig Wasser in den Wein der vielen Lobeshymnen gießen, die auch heute schon auf das Karlsruher Gericht als dem einzigen Hüter der Parlamentsrechte des
Bundestages gesungen worden sind. Zum Teil werden
sie auch vom Präsidenten Voßkuhle selber auf sein Gericht gesungen.
Es ist nämlich nicht ganz richtig, dass nur Karlsruhe
die Wahrung der Rechte des Deutschen Bundestages erzwungen hat. Wir haben eine ganze Menge an Rechten
selber geschaffen.
({3})
Denn in dem Lissabon-Urteil hat das Verfassungsgericht
uns zu Recht, sage ich, gezwungen, ein Gesetz zu machen, das wir nicht umsonst Sonntagsgesetz nennen,
nämlich das sogenannte Integrationsverantwortungsgesetz. Das heißt - ganz grob zusammengefasst -, Kompetenzübertragungen, die in kleinen Vertragsänderungen
geregelt werden können, müssen in diesem Haus wie
Vertragsänderungen ratifiziert werden. Das hat das Verfassungsgericht 2009 zu Recht von uns verlangt.
Das Verfassungsgericht hat überhaupt nicht im Blick
gehabt, dass Kompetenzverschiebungen in der Europäischen Union tagtäglich in Form normaler Rechtssetzungsvorgänge - Richtlinien, Verordnungen etc. - stattfinden. Das mussten wir schon selber machen. Wir
hatten als Vorlage die BBV. Damals haben wir kurzfristig
entschieden: Wir wollen das im Rahmen des EUZBBG regeln.
Ich glaube, einige können sich noch daran erinnern:
Das war im Sommer 2009. Eigentlich standen wir alle
im Wahlkampf und haben gegeneinander gekämpft, weil
jeder die Wahl gewinnen wollte, wie das halt so ist.
Gleichzeitig haben wir die Ratifizierung durchgeführt.
Aufgrund des Zeitdrucks haben wir uns entschieden, die
Zusammenarbeitsvereinbarung quasi mit leichten Veränderungen als Gesetz zu nehmen. Wir ahnten damals
schon, dass es systematisch nicht ganz richtig bzw. kompliziert ist, einen Vertrag quasi wortwörtlich als Gesetz
zu übernehmen. Deswegen haben wir uns damals ein
Monitoring auferlegt. Wir haben festgelegt, dass wir in
der Mitte der Legislaturperiode die Wirkungsweise dieses Gesetzes genau analysieren und möglicherweise Veränderungen bzw. Konkretisierungen herbeiführen wollen. Dieser Prozess hat stattgefunden. Aber es ist etwas
passiert, was 2009 keiner von uns auf dem Schirm hatte:
Die europäische Politik war in der Folgezeit geprägt
durch die Euro-Krise, durch die Finanzkrise und die dadurch notwendig gewordenen verschiedenen Rettungsschirme. Deswegen wird dieses Gesetz erst heute verändert bzw. neu geschaffen.
Ich will kurz noch zwei Punkte anbringen, die wir,
wie ich denke, ganz gut geregelt haben - die Zukunft
wird zeigen, ob wir daran vielleicht noch einmal etwas
ändern müssen -:
Zum einen müssen wir bei der Regelung der Informationsrechte des Bundestages die Balance finden zwischen der Masse an Informationen, die es gibt, und der
Qualität der Informationen, die wir brauchen, um uns
über die europäischen Rechtssetzungen eine Meinung
bilden zu können. Die Europäische Kommission mit ihren ganzen Agenturen und Beratergruppen - kein
Mensch weiß, wie viele das sind - produzieren täglich
tonnenweise beschriebenes Papier.
({4})
1 Promille davon ist für uns wichtig. Spannend ist die
Frage, wie wir dieses 1 Promille finden. Ich glaube, wir
haben mit unserem Gesetzentwurf die richtige Antwort
gefunden: Inoffizielle Dokumente sollen nicht automatisch an den Bundestag überwiesen werden - das wäre
ein Lastwagen voll am Tag -, sondern nur auf Nachfrage; das ist allerdings notwendig.
Ich möchte kurz noch einen zweiten Punkt ansprechen,
den ich genauso sehe wie das Bundesverfassungsgericht.
Das Verfassungsgericht hat in allen seinen Urteilen zu
europäischen Angelegenheiten in den vergangenen vier
Jahren das sogenannte Transparenzgebot als ganz wesentlichen Punkt genannt. Transparenzgebot bedeutet,
dass wir als gewählte Abgeordnete verpflichtet sind, wesentliche Entscheidungen öffentlich vorzutragen und öffentlich zu begründen, damit das Volk die Möglichkeit
hat, die Entscheidungen nachzuvollziehen und die Frage
der Verantwortung zu beurteilen. Ich glaube, das Transparenzgebot wird mit diesem Gesetz noch einmal gestärkt. Auch in Zukunft werden wir öffentlich in diesem
Haus diskutieren, bevor ein weiteres Land in den EuroRaum aufgenommen wird. Man höre und staune, es gibt
Anwärter: Lettland und Litauen.
Kollege Stübgen, ich bin ein geduldiger Mensch, insbesondere da Sie angekündigt haben, zum Schluss zu
kommen. Aber jetzt müssen Sie einen Punkt setzen.
Ich bin gleich fertig. - Wir werden das noch in diesem
Jahr umsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12816 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}),
Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor
Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche halbautomatische Schusswaffen
- Drucksache 17/7732 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 17/12872 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Lach
Serkan Tören
Wolfgang Wieland
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck ({3}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger
private Waffen
- Drucksachen 17/2130, 17/12872 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Lach
Serkan Tören
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Günter Lach für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Waffengesetzgebung hat zwei wichtige Aufgaben zu erfüllen. Auf der einen Seite steht das berechtigte Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit, auf der anderen Seite
stehen die Interessen der legalen Waffenbesitzer wie
Sportschützen, Jäger und Sammler. Ziel einer Waffengesetzgebung sollte es nach meiner Ansicht sein, hier eine
sinnvolle Balance zu schaffen. Die Aufgaben auf diesem
Gebiet gilt es immer wieder neu zu überprüfen und,
wenn nötig, durch gesetzliche Maßnahmen weiter anzupassen.
({0})
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Obwohl ich diesen Gesetzentwurf und den Antrag mit
meiner Fraktion ablehne, freue ich mich, dass ich als
Erster sprechen darf.
({1})
- Lieber Kollege Wieland, ich darf Ihnen zumindest erst
einmal meine Anerkennung und meinen Respekt für Ihre
Rede heute Morgen zum Tagesordnungspunkt „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ aussprechen. Das hat meine
große Anerkennung gefunden. Das gilt leider nicht für
den Tagesordnungspunkt, den wir jetzt behandeln.
({2})
Dieser Tagesordnungspunkt beinhaltet zwei Punkte:
den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor Gefahren für Leib und Leben
durch kriegswaffenähnliche halbautomatische SchussGünter Lach
waffen“ sowie den Antrag „Mehr öffentliche Sicherheit
durch weniger private Waffen“.
({3})
Ein Hauptgrund für diesen Gesetzentwurf sind mit Sicherheit die Geschehnisse 2009 in Deutschland und
2011 in Norwegen.
({4})
Es stellt sich nur die Frage, ob die im Gesetzentwurf geforderten Maßnahmen der richtige Ansatz sind, um mehr
Sicherheit zu erreichen. Im Mai 2012 fand hier eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen statt. Das ist
schon einige Zeit her; aber ich kann mich sehr gut daran
erinnern, dass es die einhellige Meinung der anwesenden
Experten war, dass mit einer Änderung des Waffenrechts
im Sinne des Gesetzentwurfs keine Sicherheitsgewinne
erzielt werden können.
Ich möchte einige Anmerkungen zu den Inhalten des
Gesetzentwurfs bzw. zu dem Antrag machen. Zunächst
einmal komme ich zu der Problematik des Begriffes
„kriegswaffenähnliches Aussehen“. Die Verbotsregelung
für diese Waffen haben wir mit Ihrer Mitwirkung 2002
schon einmal abgeschafft. Es stellt sich nämlich die
Frage: Was ist eine kriegsähnliche Waffe?
({5})
Gerade in der Rechtsprechung haben wir damals keine
Sicherheit gehabt, da die Frage von den einzelnen Behörden unterschiedlich gesehen wurde. Insofern hatten
wir eine rechtliche Unsicherheit bezüglich des Begriffes
„kriegsähnliche Waffen“.
Das Gleiche gilt auch für den Bereich der Anscheinswaffen. Nach § 42 a des Waffengesetzes wird das Führen von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verboten.
Dazu gehören sämtliche Schusswaffen, die nach ihrer
äußeren Form bzw. nach ihrem Gesamterscheinungsbild
den Anschein von scharfen Schusswaffen hervorrufen.
Nach der aktuellen Regelung fallen auch Nachbauten
von Spielzeugwaffen und deren Potenzial darunter. Auch
wenn von Nachbauten bzw. Spielzeugwaffen keine Gefahr für das Leben ausgeht, so verringert die bestehende
Regelung mögliche Bedrohungssituationen. Damit werden Anscheinswaffen aus dem öffentlichen Raum ferngehalten. Diese Maßnahme unterstützt auch die Arbeit
und Sicherheit unserer Polizei, da sie hilft, unnötige
Polizeieinsätze zu vermeiden.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den halbautomatischen Waffen. Gerade für die Jagd sind halbautomatische Waffen zwingend erforderlich, besonders für die
Bewegungsjagd. Hier ist das Magazin auf drei Schuss
begrenzt. Im sportlichen Bereich gibt es Disziplinen, bei
denen es eine Begrenzung des Magazins auf zehn Schuss
gibt. Würden wir halbautomatische Waffen total verbieten, würden wir in vielen sportlichen Disziplinen nicht
mehr teilnehmen können.
In Ihrem Antrag „Mehr öffentliche Sicherheit durch
weniger private Waffen“ sagen Sie von den Grünen ja eigentlich, dass Sie wollen, dass es in privaten Haushalten
überhaupt keine Waffen mehr gibt.
({6})
Sie fordern aber noch mehr, nämlich die zentrale Aufbewahrung von Schusswaffen.
({7})
- Oder von Munition. - Alle Experten und Sachverständigen sind der Meinung,
({8})
dass man durch eine zentrale Aufbewahrung von
Schusswaffen genau das Gegenteil dessen erreicht, was
man erreichen möchte. Wir wissen, dass sich Schießstände gerade in den Randgebieten unserer Städte und
Gemeinden befinden
({9})
und dass das Einbruchspotenzial dort gerade aufgrund
der Abgeschiedenheit dieser Orte größer ist als im privaten Bereich.
Im Rahmen der letzten Änderung des Waffengesetzes
haben wir schon einige besondere Regelungen getroffen.
So müssen die Waffenbehörden das Fortbestehen des
waffenrechtlichen Bedürfnisses von Waffenbesitzern
fortlaufend überprüfen. Es muss bei der Genehmigung
jeder Waffe überprüft werden; früher war das nur alle
drei Jahre notwendig. Das waffenrechtliche Bedürfnis
von Sportschützen wird bereits von Vereinen und Verbänden bestätigt. Man kann sich also nicht einfach eine
Waffe kaufen, sondern der Verein bzw. Verband muss
dies bestätigen.
Im Hinblick auf das Schießen mit Großkaliberwaffen
haben wir die Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre erhöht.
({10})
- Wenn das Gespräch beendet ist, würde ich meine Rede
gerne fortsetzen.
Zurzeit hat überwiegend der Kollege Lach das Wort.
({0})
Wer eine neue Waffenbesitzkarte beantragt, muss
schon bei der Antragstellung nachweisen, dass er die
Waffe sicher aufbewahren wird. Sie wissen, dass die
Aufbewahrung in den dafür vorgeschriebenen Waffenschränken erfolgen muss.
({0}): Doch! - Gegenruf des Abg. Hans-
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann liegen die Waffen unter dem
Bett! - Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder der
Schrank ist offen! - Gegenruf des Abg. Jörn
Wunderlich [DIE LINKE]: Oder sie sind im-
mer am Mann bzw. an der Frau!)
Kontrollen durch die Ordnungsämter finden in regelmäßigen Abständen statt; sie werden unangemeldet und unabhängig von der Tageszeit durchgeführt.
({1})
Gestatten Sie mir zum Schluss das Fazit: Die Anhörung der Sachverständigen am 21. Mai 2012 hat deutlich
gezeigt, dass mit einer Umsetzung der vorliegenden Forderungen des Bündnisses 90/Die Grünen kein Sicherheitsgewinn für die Gesellschaft erzielt bzw. die Sicherheit in Deutschland dadurch nicht erhöht würde. Von den
Sachverständigen wurde besonders hervorgehoben, dass
der legale Waffenbesitz nicht das Problem in Deutschland ist.
({2})
Denn im Bereich des legalen Waffenbesitzes beträgt die
Missbrauchsquote - auch wenn sie immer noch hoch genug ist - nur 4 Prozent.
({3})
Es ist der illegale Waffenbesitz, der ein Problem für
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger darstellt.
Auf dieses Problem müssen wir unser Augenmerk mehr
als bisher lenken. Mit den Regelungen des deutschen
Waffenrechts tun wir bereits jetzt alles dafür, um den unberechtigten Zugang zu Waffen möglichst zu verhindern.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorschläge, die Sie vom Bündnis 90/Die Grünen in Ihren Vorlagen machen, sind weder neu, noch
schaffen sie mehr Sicherheit. Deshalb sind sie für die
SPD nicht zustimmungsfähig.
({0})
Zu den einzelnen Forderungen. Die Streichung des
Verbots von kriegswaffenähnlichen halbautomatischen
Schusswaffen war kein Versehen der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Wir haben das bewusst gemacht;
denn es gab große Abgrenzungsprobleme, was nun eine
kriegswaffenähnliche Schusswaffe ist und was nicht.
Dazu erklärte der Sachverständige Rainer Hofius, Oberstaatsanwalt in Mainz - kein Lobbyist -, in seiner Stellungnahme zu der Anhörung zu den Vorlagen von Bündnis 90/Die Grünen am 21. Mai 2012:
Das Ziel des Gesetzentwurfes ist faktisch die Wiedereinführung von Teilen des im Zuge des Waffenrechtsneuregelungsgesetzes 2002 abgeschafften
§ 37 WaffG … Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat seinerzeit zweifellos bewusst eine nicht
praktikable und für die öffentliche Sicherheit bedeutungslose Norm abgeschafft.
Der objektive Eindruck von einer Waffe ist für deren tatsächliche Gefährlichkeit ohne jeden Belang.
Dieser Aussage schließe ich mich an.
Den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, Waffen
außerhalb von Privatwohnungen zu lagern, haben wir
hier schon mehrfach diskutiert. Ich halte diesen Vorschlag nicht für zielführend. Ich zitiere nochmals den
Sachverständigen Hofius:
Die Ansammlung einer großen Zahl von Schusswaffen an einem Ort ist trotz aller denkbaren Möglichkeiten der Sicherung ein großer Anreiz für
Straftäter, hier eine lukrative Tat zu begehen.
Der schreckliche Vorfall 2009 in Eislingen hat das traurigerweise belegt.
Neben den Änderungen des Waffengesetzes von 2009
sind weitere Änderungen unterhalb der gesetzlichen Regelungen wichtig für die öffentliche Sicherheit. Nach
jahrelangen Diskussionen zwischen den Bundesländern
und dem Bund ist 2011 die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz erlassen worden. Damit gibt es
einheitliche Vorschriften für den Vollzug, der bei den
Bundesländern liegt.
Wir haben das Nationale Waffenregister früher auf
den Weg gebracht, als die EU es gefordert hat.
({1})
Damit kann der gesamte Lebenszyklus einer Waffe
nachvollzogen werden, und für Polizeibeamte wird mehr
Sicherheit geschaffen; denn sie können vorher informiert
werden, ob sie am Tatort mit Waffen zu rechnen haben.
Wenn alle Daten an das Nationale Waffenregister übermittelt sind, wissen wir auch endlich, wie viele legale
Waffen es überhaupt in Deutschland gibt. Die Amnestieregelung - 2009 miteingeführt - hat dafür gesorgt, dass
mehrere Hunderttausend Waffen abgegeben und damit
aus dem Verkehr gezogen wurden. Wir sollten über eine
erneute Amnestieregelung nachdenken und diese dann
entsprechend publik machen.
({2})
Durch die Einführung verdachtsunabhängiger Kontrollen wird die Aufbewahrung der Schusswaffen und
der Munition durch die Waffenbehörden überprüft. Das
wird von den Betroffenen immer wieder kritisiert. Wir
hatten in die Begründung des Entwurfes zur Änderung
des Waffengesetzes 2009 geschrieben:
Die verdachtsunabhängigen Kontrollen liegen im
öffentlichen Interesse und deswegen werden keine
Gebühren erhoben.
({3})
Dies wird in der anstehenden Kostenverordnung
klargestellt.
Leider sieht die Praxis anders aus: In der Kostenverordnung ist nichts klargestellt, und die Landkreise erheben Gebühren in unterschiedlicher Höhe.
({4})
Auch werden die Kontrollen - auch wegen Personalmangels der zuständigen Behörden - unterschiedlich gehandhabt.
({5})
Hier sind die Länder in der Pflicht, die Kontrollen, wie
vom Bundesgesetzgeber vorgegeben, durchzuführen.
({6})
Wenn wir schon über das Waffenrecht reden, dann
muss ich auch über die Vorgänge der letzten Tage sprechen. Da hat das Bundesinnenministerium im wahrsten
Sinne des Wortes den Vogel abgeschossen. Im Herbst
letzten Jahres erließ das BMI eine neue Schießstandrichtlinie, die beinhaltet, dass hölzerne Vögel, auf die die
Schützinnen und Schützen in einer jahrhundertelangen
Tradition - beim Königsadlerschießen - zielen, nicht
mehr 15 Zentimeter, sondern nur noch 8 Zentimeter dick
sein dürfen. Die Begründung für diese Änderung war,
dass die Geschosse von dickem Holz zurückprallen und
Menschen verletzen könnten. Passiert ist so etwas auf
den Schützenfesten der Republik bisher noch nie.
Diese Änderung fiel erst auf, als die ersten Adler für
die anstehenden Schützenfeste in Auftrag gegeben wurden. Berechtigterweise gab es in den Schützenvereinen
viel Empörung; denn ein dünnerer Adler würde nur wenige Schuss vertragen, ein dicker Adler aber mindestens
500 bis 600 Schuss.
Nachdem dieses Thema sogar die Kanzlerin erreicht
hatte und diese um Wählerstimmen bei den Schützinnen
und Schützen bangen musste, ruderte der Bundesinnenminister zurück: Am 13. März 2013 veröffentlichte das
BMI eine Pressemitteilung mit dem Titel „Tradition und
Sicherheit in Einklang bringen“ und erklärte darin, dass
die Änderung mit sofortiger Wirkung zurückgenommen
ist. Das ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem missbräuchlichen Umgang mit Waffen, der Missachtung von Vorschriften und der kriminellen Energie wird kein Waffengesetz der Welt Herr werden können,
({8})
und der viel zu hohen Zahl illegaler Waffen in Deutschland kann man nicht mit Verschärfungen des Waffenrechts begegnen.
({9})
Gesetzliche Regelungen können nie hundertprozentige
Sicherheit erreichen. Die Maßnahmen, die Bündnis 90/
Die Grünen hier vorschlagen, leisten keinen Beitrag zu
mehr öffentlicher Sicherheit. Wir werden die Vorlagen
ablehnen.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Serkan Tören für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Fograscher, ganz kurz zu dem
Vogel: Das, was da passiert ist, war sicherlich nicht richtig. Darauf hat die FDP-Bundestagsfraktion in einem
Brief auch sofort hingewiesen.
({0})
Auch Kollegen der CDU/CSU haben sich aus dem Parlament heraus sofort an das Innenministerium gewandt.
Ich weise aber auch darauf hin, dass die Sportschützen an dieser Richtlinie mitgearbeitet und uns hier nicht
informiert haben - das muss man auch einmal sagen -,
sondern das ist so durchgegangen. Ich hätte mir hier eine
rechtzeitige Information gewünscht. Wir haben das wieder rückgängig gemacht. Von Ihnen habe ich dabei aber
leider nur wenig gehört und gesehen. Das muss man
auch einmal sagen, wenn Sie uns hier schon so kritisieren.
Ich komme jetzt kurz zum Antrag der Grünen und
möchte hier zwei Dinge hervorheben - das haben auch
die Vorredner schon gemacht -:
Erstens: Verbot von halbautomatischen Waffen, die
wie Kriegswaffen ausschauen. Natürlich gibt es ein Abgrenzungskriterium, und es ist fraglich, wie man das in
der Umsetzung handhaben soll. Im Übrigen haben das
Ihre Vorgänger von Rot-Grün besser gemacht. Sie haben
das Verbot nämlich aufgehoben. Jetzt stellt sich für mich
die Frage, warum Sie das wieder umkehren wollen. Das
erschließt sich mir nicht ganz.
({1})
Ich begründe das damit, dass Sie jetzt irgendwelche
Ansätze suchen, um gegen jegliche Art von Waffen vorzugehen. Das sagen Sie nur nicht offen. Einmal greifen
Sie sich die Großkaliber heraus, und jetzt sind es die
halbautomatischen Waffen. Schritt für Schritt gehen Sie
an die verschiedenen Waffenarten heran. Ihr eigentliches
Interesse, nämlich Waffen generell zu verbieten, bekennen Sie nicht. Stattdessen suchen Sie irgendwelche anderen Wege und Instrumentarien. Aber seien Sie doch offen und ehrlich, und sagen Sie, was Ihr eigentliches
Interesse ist, statt mit solchen Verboten herumzuhantieren!
({2})
Zweitens: zentrale Lagerung. Auch dazu ist von den
Vorrednern schon vieles gesagt worden. Die Anhörung
war eigentlich eindeutig, Herr Wieland. Sie waren ja dabei. Alle Experten, die dort waren, haben gesagt, dass es
sogar zu mehr Gefahr führt, wenn zentral gelagert wird.
({3})
Herr Wieland, es gab eine Kleine Anfrage der Grünen
zum Waffenbestand und zum Fehlbestand bei der Bundeswehr. Da wird ja zentral gelagert. Es ergab sich, dass
der Fehlbestand ganz schön hoch ist. Auch das ist für
mich ein Beweis dafür, dass es eben nicht zu mehr Sicherheit führt, wenn man zentral lagert, sondern im Gegenteil: Wenn sich die Schützenheime usw. in den Außenbereichen und nicht zentral in den Städten befinden,
dann ist gerade bei zentraler Lagerung die Gefahr des
Abhandenkommens und des Diebstahls von Waffen gegeben.
Sie haben aus der Anhörung nichts gelernt. Für mich
stellt sich hier die Frage: Warum nicht? Es geht hier einfach nur um eine Ideologie von Ihnen. Sie wollen nämlich generell keine Waffen im privaten Besitz.
({4})
Sie wollen einfach nicht, dass Sportschützen, Jäger und
Sammler an ihre Geräte herankommen.
({5})
Das wollen Sie verbieten. Das, was Sie hier machen wollen, ist völlig ideologisch und nichts anderes.
Ich bin in einer kleinen Gemeinde mit 900 Einwohnern aufgewachsen. Gerade die soziale und integrative
Arbeit, die die Sportschützen dort geleistet haben, war
vorbildlich. Ich nenne das Stichwort ehrenamtliches
Engagement und alles, was dazu zählt. Wenn man Jugendliche an die Waffe heranführt, dann ist das auch mit
Disziplin verbunden, und es geht hier auch um Traditionen. All das wollen Sie vernichten. Das sagen Sie hier
aber nicht offen, sondern Sie ergehen sich in irgendwelchen technischen Dingen, was überhaupt nichts mit
Sachlichkeit zu tun hat.
({6})
Als selbsternannte Umweltpartei wollen Sie die Arbeit von Jägern kaputtmachen, die sich ja gerade für die
Umwelt einsetzen. Begleiten Sie doch einmal einen Jäger, und schauen Sie sich an, welche Umweltarbeit sie
leisten! Auch das tun Sie nicht. Auch hier führen Sie
eine rein ideologische Debatte, sonst nichts.
({7})
Bleiben wir bei der Ideologie, und sprechen wir über
die Waffensteuer in Bremen. Bei diesem Thema ist jetzt
die SPD gefragt. - Sie schauen weg; das passt beim
Thema Waffensteuer, denn auch hier geht es um Ideologie. - In Bremen hat die SPD versucht, Waffen über die
Kosten aus dem privaten Besitz zu verdrängen, nämlich
mit der Einführung einer Waffensteuer. Was hat man
dann gemacht? Man hat aufgrund des Druckes - Sie haben vorhin von Druck geredet - die Waffensteuer in eine
Gebühr umbenannt. Diese wird jedes Jahr anlasslos erhoben. Auch das ist nicht im Sinne dessen, was wir eigentlich wollten. Das, was Sie in Bremen gemacht haben, ist die Einführung einer Quasi-Steuer, was
überhaupt nicht in Ordnung ist.
Diese Waffensteuer halte ich für verfassungswidrig,
weil sie nur eingeführt wurde, um Waffen aus dem privaten Besitz zu verdrängen. Wir auf der Bundesebene haben aber das Bedürfnis nach Waffen im privaten Besitz
gesehen. Deswegen haben wir das Waffengesetz. Wenn
auf Landesebene oder kommunaler Ebene eine Waffensteuer eingeführt wird, ist das nichts anderes als ein Verstoß gegen die gesetzliche Intention im Waffenrecht.
Deswegen halte ich die Waffensteuer für verfassungswidrig.
({8})
Was hat sich aus der Anhörung im Innenausschuss ergeben? Die Vorredner haben es schon angesprochen.
Eine Verschärfung des Waffenrechts bringt überhaupt
nichts. Durchweg alle, die als Experten an der Anhörung
teilgenommen haben, haben uns das gesagt.
Hilfreich war auch eine BKA-Analyse, die aufgezeigt
hat, wie viele Straftaten mit legalen Waffen begangen
werden. Dieser Anteil liegt unter 1 Prozent. Wenn man
davon noch die Zahl der Waffenbesitzer abzieht, die im
öffentlichen Dienst sind - Beamte usw. -, dann tendiert
diese Zahl gegen null. Sie haben sich einfach Sportschützen, Jäger und Sammler,
({9})
ehrenhafte Bürger in unserem Lande, ausgesucht, um
diese als Feindbild mit unsachlichen Angriffen zu überziehen. Das ist nicht richtig.
({10})
Als FDP-Fraktion werden wir uns auch weiterhin dafür einsetzen, dass es keine Verschärfung im Waffenrecht geben wird. Aber wir brauchen eine Systematisierung und eine Vereinfachung im Waffenrecht - daran
müssen wir arbeiten -, weil auch die Beamten in den
Waffenbehörden, die damit beschäftigt sind, das Waffenrecht nicht verstehen. Das muss eines der Ziele sein, die
wir weiterverfolgen werden.
Dann werden wir auch eine vernünftige Evaluierung
durchführen. Die Evaluierung, die im Innenministerium
stattgefunden hat, war nicht gut.
({11})
Wir brauchen hier eine objektive Evaluierung, auch unter Einbeziehung von Sportschützen und Jägern. Sollte
diese Evaluierung ergeben, beispielsweise bei den Kontrollen, dass die Regelungen kein Mehr an Sicherheit
bringen, dann muss man einmal darüber nachdenken, ob
es nicht einen Weg zurück gibt. Dann muss man auch
abwägen, wie groß der Eingriff in die Freiheit der Bürger
ist.
({12})
Das muss man einmal bedenken. Es muss also eine
Evaluierung geben; das ist die zweite Forderung. Dann
muss es auch einen Kampf gegen illegale Waffen geben.
Es ist selbstverständlich, dass wir hier die Behörden stärken und den Kampf gegen illegale Waffen führen.
Herr Tören, ich muss jetzt in die Freiheit Ihrer Rede
eingreifen. Sie müssen zum Schluss kommen.
Abschließender Satz: Die christlich-liberale Koalition
wird sich weiterhin dafür einsetzen und ihr Versprechen
aus dem Koalitionsvertrag einhalten, dass es keine Verschärfungen im Waffenrecht gibt.
(Wolfgang Wieland ({0}): Es darf richtig geballert werden!
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! „Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger
private Waffen“ - das klingt doch zumindest erst einmal
ganz logisch. Die Bundesregierungen der letzten Jahre
haben das Thema Waffenrecht in der Regel nur angefasst, wenn schreckliche Ereignisse die öffentliche Diskussion beherrschten. Amoktaten lösten bisher regelmäßig politischen Aktionismus aus. Da wurde hier ein
bisschen verboten, da ein bisschen geändert; aber grundlegend hat sich an der Sicherheitslage nichts verändert,
weder bei legalen Waffen noch bei illegalen Waffen. Es
kam immer nur darauf an, zu zeigen, dass man auf das
tragische Ereignis reagiert hat. Nutzen und Umsetzbarkeit der Änderungen spielten keine Rolle. Das ist genau
der Grund, warum eine Evaluierung dieser Änderungen
bis heute nicht vorliegt.
Die Grünen haben nun einen sehr radikalen Antrag
auf den Tisch gelegt. Aber angesichts von über 10 Millionen legaler Waffen in der Bundesrepublik muss das
Thema eben auch einmal radikaler diskutiert werden.
Das ist vollkommen richtig.
({0})
Das gilt erst recht, wenn es um Großkaliber, halbautomatische Waffen und Munition mit besonderer Durchschlagskraft geht. Bei allen Fragen, die die Linke zur
Umsetzung dieser Vorschläge hat, stelle ich fest, dass
wir das Anliegen der Grünen sehr deutlich teilen. Wir sehen bei diesen Vorschlägen einen Sicherheitsgewinn.
Es gibt aber auch einen guten Grund, warum die
Linke einen entsprechenden Antrag noch nicht selber
eingebracht hat. Wir beschäftigen uns sehr genau mit der
Frage: Welcher Einschnitt bringt wirklich mehr Sicherheit, und welche Idee kann wie umgesetzt werden? Eine
Lösung suchen wir im Dialog gerade auch mit Sportschützen, Jägern und Büchsenherstellern; mit Sammlern
hatte ich noch nicht so viel zu tun. Dabei stellt sich heraus, dass eine Reihe von Problemen organisatorischer,
finanzieller und rechtlicher Art noch nicht zu Ende gedacht sind, was sich mit meinen Erfahrungen aus dem
Polizeidienst durchaus deckt.
Nehmen wir als Beispiel die Lagerung von Waffen in
Schützenhäusern. Es ist richtig: Gerade in abgelegenen
Gegenden, gerade im ländlichen Raum stellt das ein Problem dar, das gelöst werden muss. Wenn wir das so umsetzen, wird eine Vielzahl von Waffen zentral gelagert,
was natürlich Begehrlichkeiten illegaler Waffenhändler
wecken wird, und diese finden dann auch Wege. Ich
kenne Tatorte, wo ganze Geldautomaten herausgerissen
und Wände weggesprengt wurden. Für eine solch zentrale Waffenunterbringung müssten sehr hohe Sicherheitsstandards gelten. Das heißt, dass es sehr teuer wird.
Ich muss auch das einseitige Verbot großkalibriger
Waffen kritisieren, da auch kleinkalibrige Waffen je nach
Bauart eine sehr hohe Durchschlagsleistung erzielen
können. Nehmen wir doch statt des Kalibers die maximale Geschossenergie zum Maßstab; das macht mehr
Sinn. Das ist übrigens ein Vorschlag, der vom Bayerischen Sportschützenbund kommt. Auch mit dem kann
man zusammenarbeiten.
({1})
Das Verbot halbautomatischer Waffen dürfte den großen Teil des legalen Waffenbestandes in der Bundesrepublik betreffen. Beim Einsammeln gegen Entschädigung kämen auf die Länder Kosten von mehreren
Hundert Millionen Euro zu. Das können manche Bundesländer gar nicht leisten. Da muss der Bund mit in die
Verantwortung. Wir können nicht immer hier im Bundestag beschließen, und Länder und Kommunen zahlen
dann die Rechnung. Ob so eine massive Enteignung gegen Entschädigung von den Gerichten als rechtmäßig
anerkannt wird, wissen wir auch nicht. Ich erinnere nur
an den Bestandsschutz.
Gut ist übrigens, dass Sie die Probleme der geringen
personellen und finanziellen Ausstattung der kommunalen Waffenbehörden in Ihrem Antrag benennen. Aber
dann schreiben Sie bitte auch hinein, dass den Kommunen dafür ein finanzieller Ausgleich gewährt werden
muss, erst recht wenn die Bearbeitung des Einsammelns
von Waffen gegen Entschädigung und die sichere Zwischenlagerung der eingesammelten Waffen durchgeführt
werden sollen. Die Kommunen können das sonst gar
nicht leisten, was wir hier beschließen.
({2})
Mit der Zustimmung zum Antrag der Grünen wird
sich die Linke heute zur Forderung nach mehr Sicherheit
im Umgang mit legalen Waffen deutlich bekennen. Aber
auch wer das Richtige will, darf nicht in Aktionismus
verfallen. Das Waffenrecht in Deutschland wird uns weiter beschäftigen. Die Linke wird dabei die Diskussion
mit allen Beteiligten mit dem Fokus auf mehr Sicherheit
fortführen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner vor der Osterpause
({0})
- in vier Minuten werde ich wohl nicht alles richtigstellen können - möchte ich Sie fragen, lieber Kollege
Tempel, wie Sie hier von Aktionismus reden können.
Diese Vorlagen sind fast drei Jahre alt.
({1})
- Gut, wir sind ausgenommen. Dann bin ich beruhigt.
Von Aktionismus kann überhaupt keine Rede sein,
genauso wenig wie von Ideologie, lieber Herr Tören. Es
waren Eltern sowie die Angehörigen der Lehrerinnen
und Lehrer aus Winnenden und Erfurt, die Präsident und
Vizepräsidenten sowie auch uns Unterschriftenlisten
übergeben haben. Wir haben aus den Forderungen der
Betroffenen Anträge entwickelt, die wir dann zur Diskussion gestellt haben. Es gab eine Anhörung, an der
ausschließlich Waffenträger - Frau Fograscher, hören
Sie zu; auch der Staatsanwalt war bewaffnet, nicht auf
dem Podium, wohl aber in seiner Funktion als Sicherheitsbeauftragter - teilnahmen. Die von uns als Expertin
benannte Mutter aus Winnenden war an diesem Tag leider erkrankt.
({2})
- Alle hatten einen Waffenschein und haben in eigener
Sache geredet. Dabei kam das bekannte Ergebnis heraus.
Wenn Sie meine Worte auf die Goldwaage legen, dann
tun Sie mir leid, Herr Tören.
({3})
- Ich habe es Ihnen gerade erklärt, dass die von uns benannte Expertin an diesem Tag kurzfristig erkrankt war.
Ihre Bewertung, dass alle diese Anhörung toll fanden,
ist höchst einseitig. Das wollte ich hier festhalten.
Am 14. Dezember hatten wir den Amoklauf in Connecticut. Insgesamt 27 Menschen wurden kaltblütig ermordet, darunter 20 Erstklässler und 6 Angestellte der
Schule. Der Täter hatte sich für diese abscheuliche Tat
mit drei Schusswaffen bewaffnet, die sich alle legal im
Besitz seiner von ihm ebenfalls ermordeten Mutter - das
28. Opfer - befanden.
({4})
Die Waffen waren ein halbautomatisches Sturmgewehr vom Typ Bushmaster sowie zwei Großkaliberpistolen der Marken Glock und Sig Sauer. Alle diese Waffen sind auch bei uns für Sportschützen erhältlich.
Präsident Obama will sie verbieten. Ich stelle fest, Frau
Fograscher - es tut mir leid -: Er überholt hier die SPDFraktion, die diese Waffen im Handel halten will. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({5})
Sie haben zu jedem unserer Vorschläge - wir haben
einen Strauß von Vorschlägen gemacht - gesagt: So
nicht. - Man sollte anders reagieren, sollte nur ein bisschen eingreifen usw. Selbst den Vorschlag einer nochmaligen Amnestie, dem alle zustimmten, haben Sie nicht
aufgegriffen. Ihr Credo ist: Wir machen gar nichts. Oder, wie Herr Tören gesagt hat: Schwarz-Gelb wird
jede Verschärfung beim Waffenrecht verhindern. - Freie
Bürger fordern freies Ballern. Das ist Ihr pseudoliberales
Credo. Das ist zu wenig.
({6})
- Polemisch wäre noch ganz anders.
({7})
- Die sind ähnlich aggressiv wie Sie, Herr Krestel. Die
schreiben uns schon die entsprechenden Mails jeden
Tag.
Damit komme ich zu den kriegsähnlichen Waffen. Erklären Sie mir doch einmal, warum ein Jäger oder wer
auch immer mit einer Rambo-artigen Waffe durch den
Wald laufen muss. Warum muss er mit einer Jagdwaffe,
die wie eine Kriegswaffe aussieht, herumlaufen, wenn er
noch alle Tassen im Schrank hat? Erklären Sie mir bitte
einmal, warum wir solche Waffen überhaupt brauchen
und für wen wir sie brauchen.
({8})
Nun wird immer gesagt - das ist auch richtig, und das
erkennen auch wir an -, dass die Lagerung in den Schützenhäusern aufwendig und nicht für alle Schützenvereine möglich sei. Deswegen sagen wir: Dann muss eben
die Munition dort gelagert werden. Das wäre die Alternative. Was immer zu den Amokläufen geführt hat, war,
dass die Munition und Großkaliberwaffen zu Hause gelagert wurden, der Schrank nicht abgeschlossen war oder
die Munition und die Waffen im Schreibtisch oder sonst
wo lagen. Oder der Täter, wie der junge Mann in Erfurt,
war selber Sportschütze und zog los. Das müssen wir abstellen.
Sie erklären immer nur, was nicht geht. Das wird zu
der Situation führen, dass der nächste Amoklauf in diesem Land dann zwar mit einer registrierten Waffe durchgeführt wird, aber er wird stattfinden. Dann ist die Betroffenheit wieder groß. Diese nehme ich Ihnen ab. Ihre
Betroffenheit war echt, auch als die Eltern aus Winnenden da waren. Aber Sie sind nicht bereit, auch nur eine
Forderung des Forderungskatalogs zu erfüllen. Das ist
traurig. Ich prophezeie Ihnen: Das wird nicht das letzte
Wort hier in diesem Hause sein.
({9})
Ich denke, von der Richtigkeit des letzten Satzes können wir alle ausgehen. Dieses Thema wird uns auch über
die heutigen Abstimmungen hinaus weiter beschäftigen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines
„Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor
Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche
halbautomatische Schusswaffen“. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12872, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7732 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 35 b. Unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12872 empfiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/2130 mit dem Titel „Mehr öffentliche Sicherheit
durch weniger private Waffen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. April 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen für
die folgende Zeit alles Gute.