Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/22/2013

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich an ein historisches Ereignis erinnern, das für die Geschichte unseres Landes und für die Parlamentsgeschichte im Besonderen zweifellos von herausragender Bedeutung ist. Morgen, am 23. März 2013, jährt sich der 80. Jahrestag der Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes. In der Krolloper, wo der Reichstag nach dem verheerenden Brand vom 27. Februar zusammentrat, beschlossen am 23. März 1933 die Abgeordneten das sogenannte Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich - mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit, allein gegen die Stimmen der Sozialdemokraten unter ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Otto Wels. Dessen denkwürdige und heldenhafte Rede war, in den Worten seines Kollegen Wilhelm Hoegner, ein - ich zitiere „letzter Gruß an das verblichene Zeitalter der Menschlichkeit und des Menschenrechts“. Bei der Abstimmung im Reichstag fehlten damals bereits 107 Abgeordnete: neben 26 Sozialdemokraten die 81 Fraktionsmitglieder der KPD, die bereits in Haft genommen waren oder sich aus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht befanden. Mit der Übertragung der gesetzgebenden Gewalt vom Parlament auf die Exekutive wurde die Gewaltenteilung aufgehoben, die parlamentarische Demokratie aufgegeben und der Weg in die Diktatur zementiert, der seit dem 30. Januar 1933 mit beispiellosem politischem Terror eingeschlagen worden war. Siegestrunken, aber in der Sache leider nicht einmal falsch triumphierte der Völkische Beobachter über die, so wörtlich, „Kapitulation des parlamentarischen Systems“. Richtig ist: Der 23. März steht für die mutwillige Zerstörung einer Demokratie, die freilich nicht erst an diesem Tag begonnen hat. Das Ermächtigungsgesetz bedeutete nach der Auslieferung des Staates durch die konservativ-reaktionären Machteliten Ende Januar die Selbstaufgabe des Parlamentes, dessen verfassungsrechtliche Kompetenz und Verantwortung am Ende nur noch von einer einzigen Partei hochgehalten wurde. Begleitet wurde dies, wie Sebastian Haffner im bitteren Rückblick festhielt, von einem in der Gesellschaft - ich zitiere - „sehr weit verbreiteten Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie“. Tatsächlich litt die politische Kultur der Weimarer Republik von Beginn an unter der Skepsis gegenüber dem parlamentarischen System, den Vorbehalten gegenüber dem Prinzip der Repräsentation und dem Misstrauen in die pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozesse. Zur historischen Wahrheit gehört deshalb: Die Republik ging keineswegs nur an ihren vielen Gegnern zugrunde, die es zweifellos gab, sondern auch und gerade durch das Versagen der Demokraten. Die Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und der nationalsozialistischen Diktatur prägt den Geist unseres Grundgesetzes; aus ihr folgt der Gedanke einer wehrhaften Demokratie. Der Parlamentarismus in Deutschland ist auch heute nicht völlig unangefochten, aber er erweist sich auch und gerade bei Herausforderungen als robust und vital, getragen von der Einsicht von Demokraten, dass sie eine gemeinsame Verantwortung haben, die noch wichtiger ist als der legitime jeweilige politische Ehrgeiz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erheben. - Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur und erinnern uns dankbar all derer, die während und nach der brutalen Zerstörung der ersten deutschen Demokratie durch ihren Mut und ihre Tatkraft den politischen, sozialen und moralischen Wiederaufbau unseres Landes ermöglicht haben. - Vielen Dank. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass die für heute ursprünglich beantragte Aktuelle Stunde zum Thema „Umverteilungspläne der Koalition und Auswirkungen auf Durch29004 Präsident Dr. Norbert Lammert schnittsverdiener und sozial Benachteiligte - Schuldenfinanzierte Steuersenkungen und Rente mit 69“ nicht stattfindet. Der entsprechende Antrag ist zurückgezogen worden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur - Drucksache 17/12115 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Staatsminister bei der Bundeskanzlerin, Bernd Neumann. ({2})

Not found (Gast)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im nächsten Jahr feiern wir den 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin, der eine entscheidende Wegmarke am Ende der unseligen kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland war. 40 Jahre lang hatten 17 Millionen Deutsche in der DDR unter der SED-Diktatur gelitten, waren ihrer Freiheit beraubt; Menschenrechte wurden mit Füßen getreten, Hunderttausende von Bürgern wurden bespitzelt, Andersdenkende und Regimekritiker waren inhaftiert und wurden drangsaliert - auch dann, wenn sie nur die DDR verlassen wollten. Millionen von Menschen wurden also ihrer Zukunft beraubt. Auch über 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der SBZ und in der DDR eine für Staat und Gesellschaft notwendige und herausragende Aufgabe. Einen Schlussstrich unter das begangene Unrecht kann und wird es nicht geben. ({0}) Die 40-jährige DDR-Diktatur darf nicht verdrängt, nicht vergessen und schon gar nicht verharmlost und verniedlicht werden. Dies sind wir nicht nur den Opfern schuldig, sondern auch den Werten unserer Demokratie, aber auch den Menschen, die die friedliche Revolution 1989 erst möglich machten. Die Regierungsparteien hatten sich daher für die 17. Wahlperiode vorgenommen, die Aufarbeitung weiter zu verstärken, um einer Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur entgegenzuwirken. Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur, der heute erstmals Gegenstand der Debatte ist, dokumentiert in umfassender und eindrucksvoller Weise auf fast 300 Seiten, was in den letzten Jahren an Aufarbeitung geleistet wurde. Beigetragen haben verschiedene Bundesressorts und zentrale Einrichtungen des Bundes für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, die zu meinem Geschäftsbereich gehören, so etwa die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, das Haus der Geschichte, das Deutsche Historische Museum sowie das Bundesarchiv, aber auch alle 16 Länder, Opferverbände wie auch Einrichtungen von Gedenkstätten. Der Bericht belegt, dass die Bundesregierung dem Auftrag des Koalitionsvertrags, die Aufarbeitung zu verstärken, umfänglich nachgekommen ist. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich jetzt nur die Aktivitäten des Bundes kurz darlege: Grundlage dafür bildet die 2008 vorgelegte Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Ich habe in meiner Amtszeit bewusst die Mittel für die Aufarbeitung beider deutscher Diktaturen um 50 Prozent erhöht. Fast alle in dieser Konzeption thematisierten Maßnahmen sind bereits abgeschlossen oder befinden sich in der Umsetzung. So wurden - um nur einige Beispiele zu nennen - die Gedenkstätten Berliner Mauer, Deutsche Teilung Marienborn, Leistikowstraße - also das ehemalige sowjetische Untersuchungsgefängnis - wie auch die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in die institutionelle Förderung des Bundes aufgenommen. An der Bernauer Straße öffnete 2009 das Besucherzentrum seine Pforten. 2010 konnte der erste Abschnitt der OpenAir-Ausstellung auf dem ehemaligen Mauerstreifen folgen. Im September 2011 eröffnete die Bundeskanzlerin die Dauerausstellung zum Alltag der deutschen Teilung im „Tränenpalast“ am Bahnhof Friedrichstraße. Im Januar 2012 konnte Haus 1 in der Normannenstraße, die ehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit, nach denkmalgerechter Instandsetzung der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus wurden unter anderem Sanierungsmaßnahmen mit Kosten in Millionenhöhe wie auch Projekte finanziert, etwa beim ehemaligen Stasiknast in Hohenschönhausen, im Zuchthaus Cottbus, in der „Runden Ecke“ in Leipzig wie im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Auch an der ehemaligen Zonengrenze bzw. am sogenannten Todesstreifen, der die DDR abtrennte, finden mit Mitteln des Bundes wichtige Aktivitäten statt. Ich nenne nur Beispiele wie das Grenzlandmuseum Eichsfeld, das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth und Point Alpha. Meine Damen und Herren, alle genannten Einrichtungen arbeiten dagegen an, die Verbrechen vergessen zu machen und das System der DDR schönzureden. Zeitzeugen können dem am eindrucksvollsten etwas entgegensetzen. Daher haben wir im Juni 2011 das Koordinierende Zeitzeugenbüro eingerichtet - eine Anregung der FDP, die in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden ist -, bei dem die Gedenkstätte Hohenschönhausen, die Bundesstiftung Aufarbeitung und die Stiftung Berliner Mauer zusammenarbeiten. Allein im letzten Jahr gab es bundesweit 514 Zeitzeugeneinsätze. Insgesamt wurden über 22 000 Teilnehmer erreicht. Dieses werden wir dauerhaft fortsetzen. ({1}) Insgesamt gibt der Bund für die geschichtliche Aufarbeitung der SED-Diktatur jährlich etwa 100 Millionen Euro aus. Aber, meine Damen und Herren, trotz aller Aktivitäten des Bundes, aber auch der Länder haben wir beunruhigende Befunde in verschiedenen Studien zum historischen Wissen von Jugendlichen. Das muss alle Verantwortlichen in Deutschland wachrütteln, die Anstrengungen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, insbesondere in den Schulen, noch weiter zu verstärken. Beitragen können dazu auch Schülerprojekte wie das, das Roland Jahn im Januar unter dem Titel „Stasi - Was geht mich das an?“ durchgeführt hat und an dem sich über 300 Schülerinnen und Schüler aus vier Bundesländern beteiligt haben. Das Gelände des ehemaligen Stasiquartiers auf diese Weise auch als authentischen außerschulischen Lernort zu nutzen, finde ich unterstützenswert. ({2}) Das Ziel eines „Campus der Demokratie“, das Roland Jahn hat, finde ich dem Grundsatz nach eine gute Idee. Ob der Name optimal ist, können wir ja noch einmal in Ruhe diskutieren. Lieber Kollege Thierse, laut Zeitungsberichten haben Sie zu dieser Idee des Campus kritisch gesagt - ich zitiere -: Es kam ja auch niemand auf die Idee, ein NS-Konzentrationslager in einen Campus der Demokratie umzuwandeln. Finden Sie nicht, dass Ihr Vergleich inkorrekt und geschmacklos ist, Konzentrationslager und Stasizentrale gleichzusetzen? Ich finde das unmöglich. ({3}) Erlauben Sie mir an dieser Stelle auch eine Anmerkung zur sogenannten Perspektivkommission für den BStU, die die SPD ja wieder für sich entdeckt zu haben scheint. Ihre Argumentation, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist doch - ja - etwas scheinheilig. Warum? In der Großen Koalition waren es - zugegeben einige Politiker der Union, die sich auf eine alsbaldige Überführung der Behörde in die Zuständigkeit des Bundesarchivs verständigen wollten. Sie, die SPD, und die Grünen waren damals einstimmig dagegen. Nun haben wir in der christlich-liberalen Koalition das Stasiunterlagengesetz novelliert und alle entsprechenden Überprüfungsfristen bis 2019 verlängert. Wir sind uns mittlerweile alle einig, dass vor diesem Datum eine Integration ins Bundesarchiv auf keinen Fall infrage kommt. Aber unabhängig davon steht doch fest, dass, ob integriert oder nicht integriert, die Aufarbeitung auch darüber hinaus weitergeht. ({4}) Deshalb unser Vorschlag: Wir sollten in der nächsten Legislaturperiode in Ruhe über die Zukunft der Behörde beraten. Meine Damen und Herren, die Aufarbeitung der dunklen Kapitel unserer Geschichte ist uns Verpflichtung. Das gilt im besonderen Maße für die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und ihrer singulären Verbrechen. ({5}) Aber auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist aller Anstrengungen wert. Der Bericht zeigt: Die Bundesregierung hat sich dieser Aufgabe umfassend und auf hohem Niveau gestellt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Um an dieser Stelle unnötige Missverständnisse zu vermeiden: Ich hatte keine Informationen, dass die Sitzung der FDP-Fraktion, die etwas später als die der CDU/CSU-Fraktion unter Beteiligung der Bundeskanzlerin stattgefunden hat, noch nicht beendet war, als wir das Plenum pünktlich eröffnet haben. Insofern ist es abwegig, aus der Nichtanwesenheit der FDP-Fraktion zu Beginn der Sitzung irgendeine Schlussfolgerung auf die Relevanz der vorgenommenen historischen Erinnerung herzuleiten. ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Thierse für die SPDFraktion. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erlaube mir trotzdem eine Bemerkung: Es bleibt ein bedauerlicher Umstand, dass während der Worte der Erinnerung des Bundestagspräsidenten an den Untergang der Weimarer Demokratie und an den Mut von Otto Wels und anderen Sozialdemokraten kein Minister anwesend war. ({0}) - Dann sage ich also: Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung so gut wie gar nicht durch Minister vertreten war. Dies bleibt ein bedauerlicher Umstand. ({1}) Sie können zumindest so viel Respekt erweisen, dass Sie dieses Gefühl der sozialdemokratischen Fraktion und der anderen Fraktionen der Opposition entgegennehmen. ({2}) Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen haben in ihrem Koalitionsvertrag einen Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur angekündigt; jetzt liegt er endlich vor. Diese Aufarbeitung - das will ich betonen - bleibt eine wichtige gesellschaftliche Herausforderung, auch 23 Jahre nach dem Ende der DDR. Sie gehört zum verpflichtenden Erbe der friedlichen Revolution. Ein Schlussstrich ist weder möglich noch überhaupt sinnvoll. Der Titel des Berichts lässt Großes erwarten, Antworten auf grundsätzliche Fragen: Welche Aufgaben hat die Politik zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übernommen? Was wurde erreicht? Was bleibt zu tun? - Zunächst einmal ist Erfreuliches zu berichten: Es passiert wirklich viel. Es ist in den vergangenen 23 Jahren eine vielfältige Aufarbeitungslandschaft - wie man das nennt entstanden: Unzählige Forschungsarbeiten wurden publiziert. Gedenkorte und Museen tragen zur Aufklärung über die SED-Diktatur bei. Hier hat der Bund, Bundesregierung und Bundestag, bei der Unterstützung und Finanzierung viel geleistet. Ebenso viele ehrenamtliche und private Initiativen sind aktiv. Aufarbeitung - das wird deutlich - ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe im weiten und vernünftigen Sinn dieses Wortes, die in ihrer ganzen Breite nur gelingt, weil engagierte Bürgerinnen und Bürger sich dafür einsetzen. ({3}) Detailliert zählt der Bericht Gedenkstätten und Mahnmale, Initiativen und Einrichtungen auf. Er leuchtet viele Aspekte der Aufarbeitung aus, von der Rehabilitierungsgesetzgebung, der Wiedergutmachung über Archive und Forschung bis hin zu Bildungsprojekten. Er bildet das breite Spektrum der Gruppen ab, für die Aufklärung und Aufarbeitung von besonderer Bedeutung sind, nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern. Man wird immer auch sagen können - ich weiß das von mancherlei Auslandsreisen -, dass Deutschland hier durchaus vorbildlich mit der Hinterlassenschaft einer Diktatur oder, wenn man so will, sogar zweier Diktaturen umgeht. All dies ist lobenswert. Jedem, der sich einen Überblick über bestehende Einrichtungen verschaffen will, sei der Bericht deshalb empfohlen, auch wenn die Gewichtungen nicht immer stimmen: Man hat gelegentlich den Eindruck, dass die Berichte der aufgeforderten Institutionen einfach zusammengeheftet worden sind. ({4}) Diesem Bericht fehlt - so bewerte ich es nach meiner Lektüre - etwas Entscheidendes, leider: Dieser Bericht kennt und nennt keine Kriterien, um den Stand der Aufarbeitung zu bewerten. Aktuelle und länger bekannte Probleme blenden Sie einfach aus. Doch Probleme zu ignorieren, bringt keine Lösung; das wissen Sie, und das zeigen die vergangenen vier Jahre Ihrer Regierungszeit. Ich will zwei Beispiele nennen; das eine betrifft die Rehabilitierung von Haftopfern, das andere die Entwicklung der Stasiunterlagenbehörde. Kürzlich traf ich mich mit Frauen des Süddeutschen Freundeskreises „Hoheneckerinnen“, eines Zusammenschlusses ehemaliger politischer Häftlinge - eine sehr beeindruckende, mich bewegende Begegnung. Diese Frauen erzählten mir von ihren Erlebnissen. Im Gefängnis Hoheneck erfuhren sie die ganze Härte des Unrechts, dessen der Justizapparat der DDR fähig war. Die Haft wirkt bis heute nach; die Frauen leiden unter schlimmen Spätfolgen, unter schweren Traumata, Schlafstörungen und physischen Folgeerscheinungen, die behandelt werden müssen. Diese Frauen haben einen Forderungskatalog aufgestellt. Eine der Forderungen lautet: Sie wollen für ihre Rehabilitierung und Opferrente nicht jahrelang mit einer Bürokratie kämpfen müssen, die ihnen mit peinlichen Hürden zusetzt. Sie wollen nicht um jeden Cent, der ihnen zusteht, kämpfen. ({5}) Sie fordern deshalb eine Professionalisierung, Vereinfachung und Vereinheitlichung des behördlichen Umgangs mit den Opfern. Ich finde, darüber sollten wir nachdenken. Der vorgelegte Bericht liefert dafür keinerlei nützliche Informationen. Auch bei der Stasiunterlagenbehörde scheint nach diesem Bericht alles in Ordnung zu sein. Der Bericht spart die zentrale Frage völlig aus: Wie geht es weiter mit dieser Behörde und ihren Aufgaben? Der Staatsminister für Kultur und Medien sagt dazu nichts, während sich öffentlich besorgte Stimmen mehren: Kommt die Behörde ihrem eigentlichen Hauptauftrag angemessen nach, nämlich Bürgerinnen und Bürgern Einsicht in ihre Akten zu gewähren? Reagieren Politik und Behörden angemessen und rechtzeitig auf die Veränderungen, die mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Gegenstand der DDR-Geschichte für Aufklärung und Aufarbeitung entstehen? Der jüngst vorgelegte 11. Tätigkeitsbericht des Beauftragten für die Stasiunterlagen ist da sehr deutlich. Dezidiert beklagt er personelle Schwierigkeiten bei der Aktenbereitstellung. Die Wartezeiten für Antragsteller verlängern sich. Das ist nicht akzeptabel, und da läuft doch etwas falsch. Im Bericht findet sich dazu nichts. Das Personalproblem aber ist nicht isoliert zu sehen. Der gegenwärtige Bundesbeauftragte, Roland Jahn, legte kürzlich erste Pläne vor, den einstigen Sitz der Stasizentrale in der Normannenstraße zu einem „Campus der Demokratie“ umzugestalten. Er forderte richtigerweise eine öffentliche Debatte darüber. Diese Debatte versagt ihm die Regierungskoalition. ({6}) Das entsprechende Debattengremium, eine Expertenkommission, die die Koalition für diese Legislaturperiode angekündigt hatte, ist bis heute nicht eingesetzt. ({7}) Meine Damen und Herren von der Koalition, ich fordere Sie auf: Setzen Sie diese Kommission endlich ein! Sie muss Vorschläge erarbeiten und öffentlich diskutieren, wie und in welcher Form die verschiedenen Aufgaben dieser Behörde mittel- und langfristig zu erfüllen sind. Darum geht es. ({8}) Dies haben Sie schließlich selbst in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt. Dies steht auch in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, auf die Sie sich beziehen. Nur nebenbei: Wenn ich in dem Bericht lese, alle in der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption beschlossenen Maßnahmen wurden - wörtlich - „erfolgreich umgesetzt oder befinden sich in der Schlussphase ihrer Realisierung“, dann trifft dies eben auf dieses Thema gewiss nicht zu. Die Debatte über die Zukunft der BStU ist aber unbedingt zu führen, und sie ist jetzt zu führen. Die Idee des „Campus der Demokratie“ führt nämlich nach meiner Überzeugung in die Irre. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die bloße Anschauung der Diktatur bringe Demokraten hervor. ({9}) Dies geschieht ebenso wenig, wie die Betrachtung des Lasters die Tugend mehrt, um hier Richard Schröder zu zitieren. ({10}) Der Titel ist nicht der entscheidende Punkt. Viel wichtiger noch ist: Die Idee des „Campus der Demokratie“ beinhaltet grundlegende und langfristige Weichenstellungen weg von der zentralen Aufgabe der Gewährung von Akteneinsicht und hin zur Etablierung der Stasiunterlagenbehörde als dauerhafter Bildungseinrichtung. Die Frage ist aber doch: Wollen und brauchen wir genau dies? Das sollte uns beschäftigen, gerade auch mit Blick auf die anderen politischen Bildungseinrichtungen im Lande und auf die vielfältige Landschaft der Aufarbeitung. Indem die Regierungskoalition schweigt statt zu handeln, stiehlt sie sich - das meine ich schon ernst - aus ihrer politischen Verantwortung. Sie verschleppt die notwendige Diskussion zur Perspektive der BStU, ({11}) sie missachtet die Gestaltungspflicht und Gestaltungsfreiheit des Parlaments. ({12}) Dieses Vakuum kann der Behördenleiter nicht adäquat füllen. Die BStU-Behörde war und ist aus gutem Grunde eine Institution des Bundestages, über deren Zuschnitt und Aufgaben sich das Parlament zu verständigen hat. Weil strukturelle Veränderungen der Behörde notwendigerweise auch personelle Konsequenzen nach sich ziehen, lassen sich langfristige Planungen einerseits und der Umgang mit heute auftretenden personellen Problemen andererseits nicht voneinander isolieren. ({13}) Die Untätigkeit der Regierungskoalition im Bundestag führt zu einer weiteren Schieflage, nämlich zur Verunsicherung in der Öffentlichkeit. Wer es wagt, öffentlich die Tatsache auszusprechen, dass die Behörde des Beauftragten für die Stasiunterlagen vor über 20 Jahren - ich war dabei, als wir sie gefordert und erfunden haben - aus guten Gründen als befristetes, also endliches Projekt geplant war, wer daran erinnert, dass sie eine Ausnahmeinstitution in unserem Rechtsstaat ist, der setzt sich dem Vorwurf aus, die BStU-Behörde zerschlagen und die SED- und Stasiaufarbeitung in toto beenden und einen Schlussstrich ziehen zu wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Jedenfalls ist das ganz und gar nicht meine Absicht. ({14}) - Nein; im Unterschied zu Ihnen, Kollege Vaatz. ({15}) Ich erinnere mich noch sehr gut an Vorschläge aus Ihren Reihen, bestimmte Dinge zu beenden. ({16}) Die BStU-Behörde leistet - ich betone es noch einmal wichtige Arbeit und verfügt zu Recht über hohes Ansehen. ({17}) Damit dies in Zukunft so bleibt, müssen wir sie weiterentwickeln. Ich will vier Dinge nennen, über deren zukünftige Verwirklichung wir diskutieren müssen: Erstens. Die Stasiüberprüfungen werden im Jahr 2019 enden. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es weder politisch noch menschlich angemessen, dass dann weit zurückliegende Stasiverwicklungen noch ein Hinderungsgrund für Anstellungen und Berufungen darstellen sollen. Zweitens wird der Bedarf schwinden, eine behördeneigene Spezialforschung zu unterhalten. Sukzessive erschließt die Behörde ihre Archivbestände mit dem Ziel, externen Wissenschaftlern den Zugang zu den Akten zu erleichtern. Über kurz oder lang werden deshalb einschlägige zeitgeschichtliche Institute diese Forschungen weiterführen können. Bei allen Veränderungen muss drittens die Möglichkeit der Akteneinsicht für Betroffene unbedingt erhalten bleiben. Diese Kernaufgabe ist dauerhaft sicherzustellen, auch für die Zeit nach 2019. Der Aktenzugang bleibt für die Aufarbeitung elementar, auch wenn das Stasiarchiv, in welcher Weise auch immer, dem Bundesarchiv angegliedert werden sollte. Viertens. Auch die historische und politische Aufarbeitung wird selbstverständlich nicht abgeschlossen sein. Allerdings ist ernsthaft darüber nachzudenken, welche der bestehenden Einrichtungen diese Aufgabe übernehmen können. Ich denke an die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur oder die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung. Der Bericht der Bundesregierung breitet übrigens die ganze Fülle der bereits existierenden kompetenten Einrichtungen sehr schön aus. Über all diese Punkte müssen wir sprechen. Doch anstatt Fachleute und Interessierte einzuladen und zur Diskussion zu ermuntern, damit in diesen Fragen ein öffentlicher Konsens erreicht wird, herrscht koalitionäres Schweigen. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte über Zuschnitt, Qualität und Zukunft der Aufarbeitung und nicht eine Tabuisierung einer solchen Debatte. Sonst verlieren wir uns in kleinteiligen finanziellen Verteilungskämpfen. Der Bericht der Bundesregierung ist dafür nur begrenzt hilfreich. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth für die FDPFraktion. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Thierse, niemand wirft hier irgendjemandem etwas vor. Wir werfen Ihnen nicht vor, dass bei dieser wichtigen Debatte, die wir gerade führen, der Spitzenkandidat der SPD nicht anwesend ist, der Parteivorsitzende der SPD nicht anwesend ist, der Fraktionsvorsitzende der SPD nicht anwesend ist. ({0}) - Er telefoniert hinten in der Ecke. Herr Gabriel, telefonieren Sie bitte draußen! Hier ist der Deutsche Bundestag und nicht irgendein Kindergarten. Wir führen hier eine wichtige Debatte. ({1}) Außerdem, Herr Thierse: Wir alle haben die Hoheneckerinnen getroffen, jede einzelne Fraktion, nicht nur Sie. Der Deutsche Bundestag, die Verwaltung, hatte zu einer entsprechenden Veranstaltung eingeladen. Eingeladen waren SPD, Linke, Grüne, CDU/CSU und FDP. Alle Fraktionen des Hauses haben diese Veranstaltung begleitet. Ich persönlich kam hinzu, als der Vertreter der Linken seine Ausführungen gerade beendet hatte. Durch seine Einlassungen hatte er bei den Hoheneckerinnen besondere Emotionen hinterlassen. Ich konnte dann einiges wiedergutmachen. ({2}) Die Veranstaltung hat mir gezeigt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit keine selbstverständlichen Werte sind. Darauf wird auch im Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SEDDiktatur in aller Deutlichkeit hingewiesen. Wir leben heute in Freiheit und Wohlstand. Die tristen Zustände der DDR und der SED-Mief erscheinen sehr fern. Sie sind - auch das muss man deutlich sagen - für viele aber auch nicht mehr greifbar; denn die Mauer ist vor immerhin 24 Jahren und 4 Monaten eingerissen worden. Viele haben aufgrund ihres biologischen Alters gar nicht mehr die Möglichkeit, sich ein Bild davon zu machen, wie es in der DDR ausgesehen hat, wie es dort gerochen hat, wie dort die Umstände waren usw. usf. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Aufarbeitung. Es geht heute nicht mehr um juristische Aufarbeitung, sondern darum, dass junge Menschen urteilsfähig bleiben gegenüber Unrecht und Unfreiheit, den Wert der Freiheit als solchen erkennen und die Freiheit auch verteidigen wollen. Darum geht es: Die Menschen müssen urteilsfähig bleiben. ({3}) Auch eine zivilisierte Gesellschaft kann durch Unfreiheit erdrückt werden. Insofern können wir stolz darauf sein, was die DDRAufarbeitung bei uns darstellt. Wir hatten im Osten Deutschlands die Kraft, uns der eigenen Aufarbeitung zu stellen. Das ist nicht die Regel; es ist die Ausnahme, und zwar weltweit. Andere postkommunistische Diktaturen haben eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt. Aber auch innerhalb Deutschlands müssen wir genau hinschauen, inwiefern manche Dinge bei der Aufarbeitung schiefgelaufen sind. Wir haben vor 20 Jahren gewissermaßen auf Druck der Linken sehr intensiv über Stasiunrecht gesprochen. Die Linke hat es geschafft, den Fokus weg vom DDRUnrechtsstaat sozusagen hin zu einer staatsterroristischen Einheit, nämlich der Stasi, zu verschieben und sich damit selber aus der Verantwortung zu nehmen, die Patrick Kurth ({4}) SED ein wenig reinzuwaschen und die gesamte Verantwortung der Stasi zuzuschreiben. ({5}) Die DDR war ein SED-Unrechtsstaat, und die SED war überall und hat dieses Unrecht begangen. Das müssen wir auch heute deutlich sagen. ({6}) Auch das will ich Ihnen sagen, Herr Thierse: Unter Rot-Grün ist die Erinnerungsarbeit erlahmt. Sie ist gebremst worden. Sie wurde akademisiert und ist dadurch nicht mehr greifbar - ich sage nicht: angreifbar -; das ist das Entscheidende. Bei der Aufarbeitung ist es entscheidend, verstanden zu werden, und das ist Ihnen nicht gelungen. Die FDP nimmt für sich in Anspruch - ich hoffe, die Union spricht uns da weiterhin zu -, dass wir 2009 in die gesamte SED-Aufarbeitung neuen Schwung hineingebracht haben, nicht aus Rachegelüsten oder Ähnlichem, was Sie uns manchmal unterstellen, sondern um nach vorne zu zeigen und Zukunftsfähigkeit zu beweisen. ({7}) - Da braucht man nicht abzuwinken, Herr Lenkert. Sie kommen aus Jena. Wissen Sie, wie schwierig es ist, in Jena politische Überzeugungsarbeit zu leisten, was Freiheit ist usw.? ({8}) - Der Oberbürgermeister von Jena a. D. sitzt in unseren Reihen und weiß genau, wie schwierig es im Osten ist, mit Demokratie und Freiheit umzugehen. ({9}) Das sind besondere Herausforderungen. Das ist letztlich Ihr Erbe. Herr Staatsminister, Sie haben noch einmal überzeugend deutlich gemacht, welche Erfolge wir hatten. Wir von der FDP sind große Optimisten, aber dass das Koordinierende Zeitzeugenbüro ein solcher Erfolg wird, hatten wir nicht geglaubt. Es ist ein ungeheuer erfolgreiches Projekt. Weiter so! Wir haben die Stasiopferrente gleich am Anfang verbessert. Wir haben 40 Millionen Euro für einen Fonds für DDR-Heimkinder bereitgestellt. Wir haben mehrere Stasiunrecht-Gedenkstätten und auch kommunistische Gedenkstätten saniert wie das Haus 1 in der Normannenstraße und das ehemalige KGB-Untersuchungsgefängnis - das letzte sowjetische KGB-Untersuchungsgefängnis überhaupt in Osteuropa - in Potsdam in der Leistikowstraße. Das kennt kaum jemand, weil die Brandenburger Landesregierung alles getan hat, damit das Kapitel einigermaßen unter der Decke bleibt. ({10}) Wir haben das behoben. Jetzt ist die Leistikowstraße saniert und im Rahmen der Möglichkeiten wieder offen für die Bevölkerung. Es ist wichtig, zu zeigen, wohin Kommunismus bzw. Diktatur führen kann. ({11}) Meine Damen und Herren, wir, die Koalition, haben sehr bedauert, dass die Opposition an der Stelle im Bundestag nicht zugestimmt hat: Wir haben das Stasiunterlagengesetz noch einmal verlängert. Wir sagen: Solange es biologisch möglich ist, dass sich Opfer und Täter im Arbeitsleben begegnen, befördern oder behindern können, muss es nach unserer Auffassung möglich sein, dass man in die Stasiakten Einblick nehmen und nachlesen kann, ob jemand Opfer oder Täter war. Das ist ausgesprochen wichtig. ({12}) Ich habe nicht verstanden, warum ostdeutsche Bundesländer der Novelle zum Stasiunterlagengesetz nicht zugestimmt haben. Letztlich ist es dem SPD-regierten Hamburg und dem grün-rot regierten Baden-Württemberg, die im Bundesrat zugestimmt haben, zu verdanken, dass diesem wichtigen Gesetz die Freigabe erteilt wurde. In diesen beiden Bundesländern ist die Weitsicht zumindest in der Frage offensichtlich angekommen. Herr Ministerpräsident, trotzdem herzlichen Dank, dass Sie heute hier sind. Es ist nicht üblich, dass die Bundesratsbank bei solchen Themen besetzt ist. Meistens geht es um Geld, wenn dort jemand sitzt. Heute sind Sie bei einem solchen Thema anwesend. Insofern sage ich: Herzlich willkommen bei uns hier im Deutschen Bundestag! ({13}) Wir als Koalition haben Roland Jahn zum Behördenleiter gemacht. Das ist ein ungeheurer Fortschritt. Herr Thierse, ich möchte daran erinnern, dass Sie, als Frau Birthler die Behördenleitung innehatte, die Behörde unbegrenzt erhalten wollten. Sie haben gesagt: Die Behörde kann bis in alle Ewigkeit bestehen. - Jetzt herrscht dort ein anderer Wind. Frau Birthler hat nicht alles schlecht gemacht; aber Roland Jahn fasst die Dinge eben anders an. Er hat eine andere Biografie und geht mit dem Thema anders um. Plötzlich gibt es bei Ihnen einen Meinungsumschwung. Plötzlich sagen Sie: Schluss mit dem ganzen Stasiunterlagen-Behördensystem! Wir müssen jetzt eine Trennung herbeiführen; wir wollen das auslaufen lassen. - Was gilt denn nun? Wollen wir wieder Frau Birthler ins Amt holen? Sind Sie dann wieder dafür, dass es weitergeht? Wie machen wir das? Diese Koalition sorgt dafür, dass an der Stelle Rechtssicherheit herrscht und wir die Dinge politisch in ihrer ganzen Tragweite begutachten können. ({14}) Patrick Kurth ({15}) Leider bleibt mir nicht genügend Zeit, um darauf einzugehen, dass wir auch heute für Freiheit und Ähnliches einstehen müssen. Ich habe es außerordentlich bedauert, dass der Kollege Steinbrück von Herrn Kuhn von den Grünen zum Neujahrsempfang der SPD in Stuttgart eine Mao-Zedong-Fibel bekommen hat, eine rote Bibel, wie man sie auch nennt. Ich finde es unglaublich, dass jemand, der Deutschland regieren will, dieses Geschenk überhaupt angenommen hat. ({16}) So geht das nicht. Wir müssen in der täglichen Arbeit für Freiheit und gegen Unfreiheit einstehen. Das macht sich auch bei solchen Dingen bemerkbar. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um das klar und deutlich vorweg zu sagen: Natürlich wollen auch wir eine seriöse, eine wissenschaftliche Aufarbeitung; natürlich bleibt das auch weiterhin eine gesellschaftliche Aufgabe. Deshalb ist parteipolitische Instrumentalisierung in dieser Frage wirklich fehl am Platz, Herr Kurth. ({0}) Sonst muss man auch einen Halbsatz zu den Blockparteien sagen. Wenn es eine Frage der Aufarbeitung sein soll, wenn jemand eine Mao-Fibel geschenkt bekommt, dann sind wir wirklich nicht sehr weit gekommen. ({1}) Ich will - das ist ganz klar - sowohl zum Bericht als auch zur Rede des Herrn Staatsministers Widerspruch anmelden. Zunächst einmal will ich darauf hinweisen - und das hat nichts mit Verklärung zu tun -, dass die DDR-Geschichte natürlich zuallererst auch eine Geschichte der deutschen Teilung und ein Teil der deutschen Geschichte ist. Die DDR ist doch nicht vom Himmel gefallen. Der Bundestagspräsident hat heute auf das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 hingewiesen. Die DDR ist eben auch ein Ergebnis der größten Katastrophe, die wir in Deutschland hatten. Hitler-Deutschland, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust - das alles hat dazu geführt, dass es eine sowjetische Besatzung und im Ergebnis die Gründung der DDR gegeben hat. Auch deshalb lehnen wir als Linke jeden Versuch der Delegitimierung der DDR von Anbeginn ab, und das wird auch so bleiben. ({2}) Wer, wie es auch im Bericht steht, von kommunistischer Diktatur in der SBZ und in der DDR redet, der beweist sowohl, dass er vom Kommunismus wenig Ahnung hat, als auch, dass er die damaligen Abläufe nicht verstanden hat. Es ist doch kein Zufall, dass viele Intellektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg ebendiesen Staat ausgewählt haben. ({3}) Das ist kein Zufall; dafür gab es Gründe. Thomas Mann, Stefan Heym, Friedrich Wolf - ich kann Ihnen ganz viele Namen nennen -, die sind alle dorthingekommen, und sie hatten Gründe dafür. ({4}) Ich will auch daran erinnern, dass nach der Zerschlagung Hitler-Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone die SPD, die KPD und die CDU als Parteien zugelassen worden sind. Eine Lehre aus der Geschichte war der Auftrag: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! - Das war das Motto aller Parteien dort. Wer dies bei der Geschichtsaufarbeitung nicht zur Kenntnis nimmt, der kommt nicht ans Ziel. ({5}) Ich will daran erinnern, dass die DDR schon 1949 den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung angesehen hat. In der Bundesrepublik hat dies Richard von Weizsäcker 1985 zur Staatsräson gemacht. Auch das gehört mit zur Wahrheit. ({6}) Ein zweiter Punkt: Es ist ganz klar und eindeutig, dass kein Mensch einen Schlussstrich will. Auch wir wollen die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Keine Partei hat das so kritisch, so selbstkritisch wie die damalige PDS gemacht. ({7}) - Herr Kurth, da geht es nicht um Reinwaschen. Das ist doch einfach nur dummes Zeug. - Ich will vom außerordentlichen Parteitag 1989 - er war die Wiege der damaligen PDS - zitieren: Die Delegierten des Sonderparteitages sehen es als ihre Pflicht an, sich im Namen der Partei gegenüber dem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, dass die ehemalige Führung der SED unser Land in diese existenzgefährdende Krise geführt hat. ({8}) Wir sind willens, diese Schuld abzutragen. … Der außerordentliche Parteitag hat den Bruch mit der machtpolitischen Überhebung der Partei über das Volk, mit der Diktatur der Führung … vollzogen. ({9}) Diesen Weg sind einige gegangen, viele nicht. Bei Ihnen ist das ganz einfach: Diejenigen, die am Tag danach wussten, dass alles falsch war, und sich sofort woanders engagiert haben, sind die Guten. Diejenigen, die sich auf den schwierigen Weg gemacht haben, persönlich die Geschichte und Verantwortung selbstkritisch aufzuarbeiten und Schlussfolgerungen zu ziehen, sind für Sie die Bösen, weil Sie das parteipolitisch instrumentalisieren. Ich werfe Ihnen das überhaupt nicht vor; aber Sie wissen gar nicht, unter welchen Auseinandersetzungen diese Aufarbeitung in der PDS bzw. in der Linken stattgefunden hat. Das ist eine sehr, sehr kritische, schmerzhafte Auseinandersetzung - auch unter Tränen - gewesen. ({10}) Es ist das Kuriose, dass teilweise selbst diejenigen, die nach 1989 geboren wurden, für alles zuständig sein sollen, was die Vergangenheit - seit dem Bauernkrieg - betrifft. Das nehmen wir gerne an; das ist in Ordnung. Wir wollen auch diese Zuständigkeit und diese Auseinandersetzung. Nehmen Sie aber zur Kenntnis: Die SED hatte 2,3 Millionen Mitglieder. Weniger als 1 Prozent davon sind heute in der Linken, und es ist so, dass diese die Auseinandersetzung vorangetrieben haben. ({11}) Ein dritter Punkt: Wir setzen uns nicht Ihretwegen mit der Geschichte auseinander, sondern um unserer selbst willen. ({12}) Wir wollen sie aus unserem Interesse, und zwar um der Zukunft einer demokratisch-sozialistischen Partei willen. Nichts anderes kann der Maßstab sein. Ich will noch ein Zitat anführen, weil das Thema „Mauer“ da eine Schlüsselfrage ist. Wir haben zum 40. Jahrestag des Mauerbaus erklärt: An der bitteren Erkenntnis, dass der Staatssozialismus in der DDR am Ende war, als die Mauer gebaut wurde und es kein Konzept zu ihrer Überwindung gab, führt kein Weg vorbei. ({13}) Und weiter: Ein Staat, der sein Volk einsperrt, ist weder demokratisch noch sozialistisch. ({14}) Was immer die konkreten … Umstände waren, die zu dem Ereignis … führten - diese Lehre ist … unumstößlich. Ich möchte noch zwei Bemerkungen machen. Erstens. Es ist wirklich inakzeptabel, wenn, wie im Bericht geschehen, eine Gleichsetzung der DDR mit dem faschistischen Hitler-Regime erfolgt. ({15}) Das ist wirklich inakzeptabel. Ich will dazu Egon Bahr zitieren, der sagte: Die Millionen Leichen sind eben nicht mit Millionen von Aktenbergen zu vergleichen. Mögen wir doch bitte gemeinsam dabei bleiben. Diese Gleichsetzung ist in keiner Weise zu akzeptieren. ({16}) Wer die DDR-Geschichte nicht als Teil der deutschen Geschichte und als Teil der Geschichte der deutschen Einheit sieht, der begreift nicht, ({17}) dass es andere Ursachen für diese Entwicklung gegeben hat. Wer nicht bereit ist, zu verstehen, dass Menschen aus der DDR Erfahrungen und Lebensleistung in die deutsche Einheit einbringen, auf die sie stolz sein dürfen und auf die sie stolz sind, der wird Geschichte nie verstehen und leistet keinen Beitrag zur deutschen Einheit. Danke schön. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den SED-Millionen sage ich diesmal nichts, da darf ich Sie beruhigen. ({0}) Der Kollege Bartsch hat leider Stichworte genug geliefert. Ich beginne mit dem Stichwort „inakzeptabel“, das er hier einige Male gebraucht hat. Es ist völlig inakzeptabel, dass der Vertreter einer Partei, die das alles angerichtet hat - SED-Diktatur -, sich hier hinstellt und sagt: Wir machen die Aufarbeitung primär um unserer selbst, um unserer Partei willen. ({1}) Ja, wenn es denn eine Aufarbeitung wäre! Sie haben sich von Anfang an gegen die Delegitimierung der DDR gewandt. Was soll das denn heißen? Die Gruppe Ulbricht kam, und von Ulbricht, Ihrem früheren Parteivorsitzenden, kennen wir den Satz: ({2}) Genossen, es muss alles schön demokratisch aussehen. Es sollte so aussehen, aber das war es nie. Wer widersprach, wer Widerstand leistete, landete in den Kerkern des KGB; so war es. ({3}) Die DDR war von der ersten Minute an ein Unterdrückungsstaat, Herr Kollege Bartsch. ({4}) Da Sie gesagt haben: „Wir haben den 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert, bevor es die alte Bundesrepublik tat“ - als sei das sozusagen ein historischer Vorsprung -, frage ich Sie: Auf was für einen Geschichtsrevisionismus haben Sie sich da eigentlich eingelassen? ({5}) Mich macht das wütend. Als der Kollege Kurth geredet hat, kam der Zwischenruf „LDPD!“. Die Staffage der Blockparteien haben Sie aufgebaut. Das war Ihre Staffage. ({6}) Welches Gefängnis hat denn die LDPD betrieben? Welchen Geheimdienst hat denn die Ost-CDU gehabt? Sagen Sie mir das einmal! Das hat alles Ihre Partei gemacht. Nach viermaliger Umbenennung sitzen Sie hier wie Forscher, wie Wissenschaftler, die sich irgendein Gebilde ansehen, mit dem sie gar nichts zu tun haben. ({7}) Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen! ({8}) Ihr Lothar Bisky hat Ulbricht einen großen Patrioten genannt; Ihr Ehrenvorsitzender Hans Modrow, Genosse Hans, hat den 17. Juni einen konterrevolutionären Putsch genannt - das alles im vereinten Deutschland, nicht zu DDR-Zeiten. Das sind Ihre Erkenntnisprozesse. Ein Wort zu Sahra Wagenknecht. Sie mag in jede Talkshow gehen, sie mag von der Liebe ihres Lebens reden, ({9}) vom Turbokapitalismus und von der Euro-Krise; das alles ist ihr gutes Recht. Aber sie sollte auch einmal etwas zu folgenden Sätzen sagen - ich zitiere -: ({10}) - die ist nie hier; aber sie äußert sich Die DDR war das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschen im Gesamt ihrer bisherigen Geschichte geschaffen haben. ({11}) Erich Honecker gebühre deshalb „unser bleibender Respekt“. ({12}) Die Mauer ist für sie eine Maßnahme „zur Grenzbefestigung …, die dem lästigen Einwirken des feindlichen Nachbarn ein längst fälliges Ende setzte“. Das ist Ihre historische Aufarbeitung! ({13}) - Diese Sätze hat sie als Erwachsene bei klarem Verstand im wiedervereinigten Deutschland geschrieben. ({14}) Dazu würde ich von ihr gerne etwas hören. Ich möchte nicht von Ihnen, Herr Bartsch, hören: Unser Parteitag hat 1989 beschlossen, dass wir Fehler gemacht haben. Wir entschuldigen uns. Damit ist es ein für alle Mal gut. ({15}) Das ist doch lächerlich! Das ist doch kein Eingeständnis. ({16}) Das ist doch keine Reue. Das ist doch nichts, was den Opfern je geholfen hätte. Keine müde Mark, keinen müden Euro haben Sie selber je dafür ausgegeben. ({17}) Sie haben das Geld beiseitegeschafft. ({18}) Wenn man von Opferentschädigung redet, muss man auch einmal die Frage stellen: Wer wäre denn primär dafür zuständig gewesen? Sie wären primär dafür zuständig gewesen. - Es tut mir leid; aber nach diesem Redebeitrag musste das sein. ({19}) - Es sind die Getroffenen, die bellen; das wissen wir. Das ist auch gut. Aber Sie sollten solche Auseinandersetzungen auch einmal öffentlich führen. ({20}) - Hallo? Uns hier zu erzählen, die DDR sei irgendwie vom Himmel gefallen und nicht ohne die deutsche Geschichte verstehbar, das ist doch keine Auseinandersetzung mit dem Unrecht, das Sie begangen haben! Der Bericht - das wurde gesagt - ist vielfältig; das war eine Fleißarbeit. Er stellt eine gute Diskussionsgrundlage dar; das muss man sagen. Er sollte ursprünglich jedes Jahr erscheinen. Nun erscheint er ein Mal in jeder Legislaturperiode; auch das ist so akzeptabel. Damit kann man leben. Der Bericht zeigt, dass die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit so vielfältig ist, wie das Leben in der DDR war. Im Mittelpunkt steht natürlich die Unterdrückung, stehen authentische Orte des Zerstörens von Menschen wie Berlin-Hohenschönhausen, wie Bautzen, wie Hoheneck, wie Torgau - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. In dieser Aufzählung fehlen immer noch Orte; ich denke an das Militärgefängnis in Schwedt. „Wer in Schwedt war, schweigt“, hieß es in der DDR. Das zeigt: Bei so vielen Orten der Unterdrückung braucht man wirklich einen langen Atem. Ich denke, wir haben ihn. Es ist richtig, dass auch die Alltagskultur in der DDR in Museen ausgestellt wird, dass man sich damit auseinandersetzt. Es gab in der DDR nämlich auch das, wofür sich der Begriff „gelebtes Leben“ herausgebildet hat. Wir dürfen nicht den Fehler machen, das zu übersehen. Niemand akzeptiert, wenn seine Biografie nur negativ gesehen wird, nur abgewertet wird. Von daher sehe ich mich mit Roland Jahn durchaus auf einer Linie, wenn er sagt: Wir müssen die ganzen Kreisläufe erklären. Wir müssen erklären, wer die Stasi warum eingerichtet hat, was sie bewirkt hat und wie sie sich auf das Leben der Menschen ausgewirkt hat. - Es wurde schon gesagt: Die heute 20-Jährigen kennen das alles nicht mehr. Sie wollen auch wissen: Wie habt ihr in der DDR gelebt? Was waren eure Ängste? Was waren eure Träume? - Auch das gehört zur Aufarbeitung. Da sind wir, denke ich, tatsächlich auf einem guten Weg. Andere Dinge - das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Staatsminister - müssen noch geklärt werden: Die Expertenkommission zur Entwicklung der Stasiunterlagenbehörde sollte kommen; das steht ohne jede Bedingung in der Koalitionsvereinbarung. Sie ist nicht gekommen. Vier Jahre wurden nicht genutzt. Das ist schlecht. Wir Grüne haben immer gesagt: Wir weisen die Mäkelei, die es bei Marianne Birthler gab, zurück. Wir können auch nicht verstehen, warum man Roland Jahn nun ähnlich behandelt. Das mag zum Teil auch Gründe haben, die in den Personen liegen. Für uns steht im Vordergrund: Die Stasiunterlagenbehörde ist eine großartige Einrichtung: Das erste Mal hat sich ein Volk der Akten seiner Unterdrücker bemächtigt. ({21}) Wir müssen das Beispielgebende dieser Institution betonen. Wir müssen diskutieren: „Welchen Weg soll sie gehen?“, aber doch bitte schön nicht in ganz kleiner Münze; das findet nicht unsere Zustimmung. Wir Grüne wissen: Den Königsweg wollen wir nicht, können wir gar nicht vorzeichnen. Deswegen muss diese Expertenkommission jetzt eingesetzt werden. Hier gibt es eine klare Reihenfolge. Zuerst muss geklärt werden: „Wie lange und in welcher Form hat sie die Aufgaben zu erfüllen?“, dann: „Was kommt danach?“ - wenn denn danach etwas kommt. Danach erst kann man überlegen: Was machen wir mit den Gebäuden? - „Campus der Demokratie“, dieser Begriff wird nicht gehen. Man kann einen Ort der Täter nicht in „Campus der Demokratie“ umbenennen. Aber die Idee von Roland Jahn finden wir richtig. Die Errichtung einer Jugend- und Begegnungsstätte war auch ein Prüfauftrag in der Koalitionsvereinbarung. In Roland Jahns Konzept ist das enthalten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wieland, gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage des Kollegen Sharma?

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wieland, Sie hatten freundlicherweise gesagt, dass Sie nichts zu den SED-Millionen sagen werden - das fand ich schon einmal sehr sympathisch -, haben dann trotzdem entsprechende Andeutungen gemacht. Bei uns reden Kolleginnen und Kollegen, die im Osten geboren und groß geworden und politisiert sind. Ich selber bin im Westen geboren und zwölf Jahre lang Mitglied der SPD gewesen. Ich war auch nicht - anders als andere hier - Maoist oder Pol-Pot-Anhänger, wie Sie möglicherweise, sondern immer ein ordentlicher Demokrat. Weil ich insoweit unverdächtig bin, ({0}) will ich sagen: Man kann vieles kritisieren, was die damalige Parteiführung der SED gemacht hat. ({1}) Ich selber gehöre zu denen, die auch vieles kritisieren, was unsere jetzige Parteiführung macht; ich nehme eigentlich kein Blatt vor den Mund. Aber was man den Menschen in der SED und den Mitgliedern der Linken nicht vorwerfen kann, ist, dass sie sich mit ihrer Vergangenheit nicht auseinandergesetzt hätten. Der Kollege Bartsch hat nicht umsonst auf den Sonderparteitag 1989 hingewiesen. Herr Wieland, Sie fordern eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein. Ich kann Ihnen sagen: Diese Auseinandersetzung läuft permanent. Auch bei dem Grundsatzprogramm, das wir in Erfurt beschlossen haben, haben wir uns auseinandergesetzt mit der Vergangenheit und mit dem Unrecht gegenüber den Menschen in der DDR, was auch von unserer Partei zu verantworten gewesen ist. ({2}) Das alles haben wir getan. Ich bitte Sie einfach einmal, das nicht permanent zu ignorieren, weil das einfach komplett falsch ist und weil Sie dadurch hier diese Selbstkritik und diese enorme menschliche Leistung auch derjenigen, die durch diesen tiefen Tunnel gegangen sind und den Mut aufgebracht haben, sich damit auseinandersetzen, negieren. ({3}) Damit negieren Sie eine wirklich große Leistung von Menschen. ({4}) Das ist eine Verachtung, die nicht angemessen ist. ({5})

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Sharma, ich sehe diese Leistung nicht; das tut mir leid. ({0}) Der Kollege Bartsch hat hier vorgetragen: Es war ein Fehler, die Mauer zu bauen; das war nicht demokratisch. Meine Güte, was heißt das denn? ({1}) Heißt das: Wir werden nie wieder eine Mauer bauen? Soll das als richtige Kritik der Partei durchgehen, die diese Mauer gebaut hat? Soll das als Verbeugung vor den Opfern durchgehen? ({2}) - Ich habe sehr genau zugehört und habe das gelesen. Das ist nicht ausreichend; das sage ich Ihnen hiermit. ({3}) Gerade wenn man in seiner Vergangenheit Fehler gemacht hat, muss es einen radikalen Bruch geben. Auch ich habe welche gemacht. ({4}) - Ja, gar keine Frage. Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht. - Es gibt dann immer zwei notwendige Dinge: Erstens. Man muss der Vergangenheit gegenüber ehrlich sein und darf nichts beschönigen. Zweitens. Man muss es radikal anders und besser machen. Das ist wichtig. ({5}) - Das machen Sie nicht. ({6}) Passen Sie auf: Der Herr Sharma als Schatzmeister sagte ja - nun hat er mich doch auf die Milliarden gebracht -, ({7}) da seien Milliarden verschwunden. - Wenn ich gefragt werde, dann antworte ich. - Trotz Einsetzens einer unabhängigen Kommission und trotz der Beauftragung von Detektiven ist dieses Geld, das Sie beiseite gebracht haben, nicht gefunden worden. Dieses Geld hätte den Opfern und nicht in Ihre dunklen Kanäle gehört. ({8}) Schließlich und endlich: In Bezug auf die Entschädigung der Opfer gab es Fortschritte, die die Große Koalition erreicht hat, zum Beispiel durch die Opferrente. Das kann aber noch nicht das letzte Wort sein. Wir müssen auch zu einer Ehrenpension und zu einer Anerkennung von Verfolgungsschicksalen kommen. Das wäre eine Weiterentwicklung. Es kann nicht sein, dass es nur eine bessere Haftentschädigung gibt, die auch noch von einer Bedürftigkeit abhängig ist. Das ist noch unzureichend. ({9}) Es gibt viele Opfergruppen, zum Beispiel zwangsversetzte Schüler und Zwangsumgesiedelte, die noch immer auf eine entsprechende Entschädigung warten. Auch da kann es keinen Schlussstrich geben. Auch da sind wir noch mitten in der Umgestaltung und dabei, das zu leisten, was notwendig ist. ({10}) Abschließend ein Satz von Willy Brandt, den er unmittelbar nach der friedlichen Revolution gesagt hat: Nichts vergeben, nichts vergessen. - Das war sehr apodiktisch. Vergessen dürfen wir tatsächlich nicht. Das Vergeben hängt davon ab, ob die Opfer dazu bereit sind. Nur sie können es. Das kann man nicht einfordern. ({11}) Die Bereitschaft der Opfer dazu setzt voraus, dass die Täter Einsicht zeigen, und da, Freundinnen und Freunde, müsst ihr noch ganz gewaltig wachsen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, hat das Wort. ({0}) Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident ({1}): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wie wir gerade gehört haben, werden uns die Debatten um den Charakter des SED-Staates und um seine Hinterlassenschaften noch sehr lange beschäftigen. Die untergegangene DDR hat tiefe Spuren hinterlassen. Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben. ({2}) Sicherlich hat manch einer ein großes Interesse an einem schnellen Vergessen. Wer mittel- oder unmittelbar für den Überwachungs- und Unterdrückungsstaat Verantwortung trug, stellt sich nicht gerne kritischen Fragen. Andere wiederum plädieren für ein Ende der Debatten, weil sie der Konfrontation mit dem Unbequemen ausweichen wollen. Bei aller Dringlichkeit unserer alltäglichen Aufgaben dürfen wir die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen. Vergessen stiftet keinen dauerhaften Frieden. Die Errichtung der Stasiunterlagenbehörde war wichtig, und ihre Arbeit muss fortgesetzt werden. Sie schützt vor der Gefahr, den SED-Staat nostalgisch zu verklären und seinen diktatorischen Charakter auszublenden. Ich habe die DDR-Wirklichkeit tagtäglich erlebt. Ich habe mich in einem atheistischen Staat zum Christentum bekannt. Deshalb weiß ich: Der SED-Staat und sein Apparat waren alles andere als harmlos. Die Debatte um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte darf sich nicht ausschließlich auf die Rolle der Stasi fokussieren. ({3}) Das MfS war ein konstitutives Herrschaftsinstrument der SED, ihr „Schild und Schwert“. Die SED prägte die DDR: von der Gründung bis zum Untergang. Der Führungsanspruch dieser Partei erstreckte sich auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft. Die DDR war ihr Staat. Jeder SED-Kreissekretär war mächtiger als ein Kreisdienststellenleiter der Staatssicherheit. Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung war der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung. Für den Ernstfall waren Isolierungslager für mehr als 84 000 unliebsame DDR-Bürger geplant. Mit den Vorbereitungen waren zwar MfS-Mitarbeiter befasst. Sie erfüllten aber als Schild und Schwert der Partei nur einen Auftrag der SED. Das wahre Ausmaß von Überwachung und Unterdrückung wurde erst nach Öffnung der Archive allmählich sichtbar. Noch längst sind nicht alle Fragen gestellt, geschweige denn beantwortet. Insbesondere die Opfer des Regimes haben einen Anspruch auf umfassende Aufklärung. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur bleibt eine notwendige Aufgabe. ({4}) Schließung oder Vernichtung der Akten würde wenig zum inneren Frieden beitragen, aber sehr viel zu einer Verdrängung und Verharmlosung dieser Diktatur. Die Geschichte der DDR ist auch die Geschichte der SED und ihrer Versuche, das Leben der Menschen bis weit in ihre Privatsphäre hinein zu kontrollieren und zu bestimmen. In diesem Zusammenhang ist zu Recht von der DDR als einer „Erziehungsdiktatur“ gesprochen worden. Wer weiß das heute von den Heranwachsenden? Eine 2008 durchgeführte Befragung von Schülerinnen und Schülern aus Bayern, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Brandenburg hat gravierende Wissenslücken offenbart. Je geringer das Wissen über die DDR war, desto positiver wurde sie beurteilt. Deshalb ist Aufklärung wichtig. ({5}) Deshalb sind Symbole, Gesten und Jahrestage wichtig. Unter ihnen hat der 17. Juni sein eigenes Gewicht und seine eigene Symbolik. Deshalb sind Orte wichtig, die die Gegenwart der Vergangenheit deutlich machen. Wir müssen uns der Geschichte stellen, vorbehaltlos und aufrichtig. Zur Aufrichtigkeit gehört vor allem, die Perspektive der Opfer nicht auszublenden. Ihre Schicksale dürfen uns nicht gleichgültig sein oder gleichgültig werden. Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff ({6}) Wie viele Menschen Opfer der SED-Diktatur wurden, wissen wir bis heute nicht genau. Wir kennen nur ungefähre Zahlen. Was wir aber mit Sicherheit wissen: Die SED-Diktatur schreckte vor Mord nicht zurück. Sie ließ Lebensentwürfe scheitern, stellte Identitäten infrage und zerstörte Beziehungen. Die Aufarbeitung dieser Diktatur schützt vor Legendenbildung. Die DDR war keine Nischengesellschaft. Sie ließ keine autonomen Gesellschaftsmodelle zu. Die DDR war ein totalitärer Staat. Er kannte weder Gewaltenteilung noch politischen Pluralismus. Die Macht der SED gründete auf Zwang und Gewalt. Das von der SEDFührung installierte und perfektionierte Grenzregime versinnbildlichte die fehlende Legitimation des Staates und war Symbol für eine Menschen- und Freiheitsrechte verachtende Politik. Im Innern herrschte der Verdacht. Die SED misstraute dem eigenen Volk. Nur mittels eines gigantischen Sicherheitsapparates konnte die SED ihre Herrschaft aufrechterhalten. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl sind Geschichte. Sie müssen aber einen Platz in unserer Erinnerungskultur behalten. Einen Schlussstrich darf es deshalb nicht geben. ({7}) Er wäre nämlich eine unverantwortliche Flucht aus der Geschichte. Geschichte endet nicht mit einer neuen Generation, und Unrecht bleibt Unrecht; es verjährt nicht. Unsere Vergangenheit bürdet uns eine große Verantwortung auf. Sie macht vor niemandem halt, weder vor der Erlebnisgeneration noch vor den später Geborenen; denn neben die unmittelbare Zeitzeugenschaft tritt die moralische. Sie erfordert Engagement und Empathie. Engagement und Empathie sind wir vor allem den Opfern der SED-Diktatur schuldig, deren Schicksale wir immer wieder persönlich erleben. Wir sind es aber auch uns selbst und den kommenden Generationen schuldig; denn eine gemeinsame Zukunft lässt sich nicht auf Irrtümern, Legenden und Beschönigungen aufbauen. Ebenso wenig eignet sich politisch-historische Gleichgültigkeit für eine gute Zukunftsgestaltung. Vergessen wir nicht: Wir alle tragen Verantwortung für unsere gesamte Geschichte. Wir haben die Pflicht, zu erinnern. Wir haben die Pflicht, aus unserer Geschichte zu lernen, und wir haben die Pflicht, dem Vergessen zu wehren. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ministerpräsident Haseloff, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht: Diese Aufgabenstellung, dieses Thema bedarf des Engagements und der Empathie. Im Gegensatz dazu steht das, was Herr Kurth hier abgeliefert hat. Es ist auf keinen Fall ein Thema, an das man als Eiferer mit einer selbstgerechten Haltung herangehen kann. Das war total daneben, Herr Kurth. ({0}) Das macht es unheimlich schwer, eine Linie fortzuführen, die seit 1989/90 in einem breiten Konsens in diesem Haus immer wieder gefunden wird. Das erschweren Sie durch eine derartige Haltung. In der Sache selbst einen kleinen Hinweis: Da Sie dargelegt haben, unter Rot-Grün sei die Erinnerungspolitik erlahmt, gebe ich Ihnen nur das Stichwort „Gedenkstättenkonzept“ oder erinnere an die Änderungen im Bundesvertriebenengesetz. Setzen Sie sich bitte einmal damit auseinander! Dann werden Sie zu anderen Ergebnissen kommen. Ich finde es ausgesprochen hilfreich, dass uns dieser Bericht vorliegt. Er bietet eine sehr gute Gesamtschau. Problematisch ist es allerdings, wenn der Bericht den Eindruck erweckt, als sei die Aufarbeitung der SED-Geschichte als abgeschlossener Prozess zu bewerten. Ich leite das deshalb ab, weil der Bericht an einer Stelle extrem schwächelt. Er enthält nämlich relativ wenige, nahezu keine Empfehlungen und keinen Blick in die Zukunft, der deutlich macht, was zu tun ist. Da gibt es enormen Handlungsbedarf. Gleichwohl ist sehr beeindruckend, wie viele Einrichtungen und Initiativen in Bund und Ländern sich der Aufarbeitung widmen. Doch die Anzahl der Institutionen allein gibt keine Auskunft darüber, ob unsere Gesellschaft das Erbe der DDR in all ihren Facetten wirklich verarbeitet hat. Insofern bleibt die Aufarbeitung des begangenen Unrechts eine fortwährende Aufgabe, die sich allein durch Zeitablauf auf keinen Fall erledigt. Eine viel beachtete Studie des Forschungsverbundes „SED-Staat“ der Freien Universität Berlin hat unter dem Titel Später Sieg der Diktaturen? festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler in ganz Deutschland insgesamt ein sehr geringes historisches und politisches Wissen haben. Das gilt gleichermaßen für die Geschichte der DDR wie für die Geschichte des Nationalsozialismus. Insofern lautet die zentrale Frage: Wie kann es in Zukunft besser gelingen, Wissen und Erfahrungen so zu vermitteln, dass sie auch nachfolgenden Generationen präsent sind? Das erreicht man eben nicht allein durch große Aufarbeitungsinstitutionen, sondern durch eine Fülle kleinteiliger, qualitativ guter Angebote im Bereich der politischhistorischen Bildung. Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle die Bundesstiftung Aufarbeitung nennen, die deutschlandweit zahllose Ausstellungen, Konferenzen und Veranstaltungen organisiert, unermüdlich Publikationen und Dokumentarfilme fördert und erstellt und auf diese Art und Weise zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in Deutschland und in Europa anregt. ({1}) In diesem Zusammenhang möchte ich an die wichtigen Vorarbeiten erinnern, die in einer Enquete-Kommission in den Jahren 1992 bis 1997 geleistet wurden. Eine zentrale Forderung dieser Enquete-Kommission war 1997, ebendiese Stiftung zu gründen und sie langfristig mit der Auseinandersetzung mit den Folgen der DDRund SED-Diktatur zu beauftragen. Natürlich haben wir daneben weitere wichtige Institutionen. Sie sind hier genannt worden: die Bundeszentrale für politische Bildung und die jeweiligen Landeszentralen, aber auch der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen. Überall wird gute Arbeit geleistet. Daneben dürfen wir allerdings die vielen kleinteiligen, ehrenamtlich getragenen Einrichtungen im ganzen Land nicht vergessen. Deren Engagement möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen und anerkennen. ({2}) Was es aber jetzt braucht, ist gewissermaßen ein Boxenstopp. Wir müssen danach fragen, wie wir all diese Akteure noch effektiver vernetzen und die Angebote vielleicht noch genauer aufeinander abstimmen können, damit sie besser wirken. Darüber hinaus gibt es Finanzierungsprobleme. Gerade was die politische Bildung in den Schulen anbelangt, gibt es einen enormen Bedarf, authentische Orte zu besuchen. Aber die Finanzierung solcher Aktivitäten leidet Not. Dabei fällt enorm ins Gewicht, dass gerade die Bundesstiftung Aufarbeitung aufgrund der aktuell niedrigen Zinsrate eine Schrumpfung ihrer Projektmittel um rund 1,3 Millionen Euro erwarten muss. Hier wünschte ich mir seitens der Bundesregierung ein deutlicheres Bekenntnis, das aufzufangen. Einen weiteren Anhaltspunkt möchte ich nennen, warum die Aufarbeitung eine fortwährende Aufgabe bleibt: der Umgang mit dem politischen Erbe der friedlichen Revolution von 1989. Diesen Umbruch habe ich persönlich damals sehr intensiv beobachten und begleiten können aufgrund meiner Kontakte zu unserer Partnergemeinde in Falkenhagen in Brandenburg. Der unbändige Wille der Menschen, der aufgebracht wurde, um das Leben und die neue Zeit zu gestalten und die Verfehlungen des Systems und seiner Akteure offenzulegen, hat mich tief beeindruckt. Selbstverständlich geschah damals das eine oder andere überstürzt - eine Revolution kennt eben keine Blaupause. Umso erfreulicher, beinahe wundersam ist es, dass ein Großteil der Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes gesichert werden konnte. Aus diesem Gefühl von Aufbruch und Aufbrechen heraus hat sich eine Vielzahl von Vereinen und Initiativen entwickelt, die sich des historischen Erbes an authentischen Orten, in Gedenkstätten und anderswo angenommen haben. Aus den ganz aktuellen Protesten für den Erhalt der East Side Gallery hier in Berlin spricht auch eine Aneignung des politischen Erbes durch die Bevölkerung. Zugleich wird aber auch deutlich, dass sich mit der Zeit die Bedürfnisse verändern und sich die Betrachtungsweisen des Erbes, also bestimmter Institutionen und Ereignisse, ein Stück weit wandeln. Wurde nach 1990 zunächst viel über die Repression und ihre Instrumente in der DDR-Diktatur diskutiert, sind mittlerweile auch andere Aspekte der Aufarbeitung wichtig geworden. Ich erwähne die Sabrow-Kommission, deren Ergebnisse in dem vorliegenden Bericht überhaupt nicht erwähnt werden, obwohl sie eine sehr grundlegende und wichtige Arbeit erbracht hat. Die Dimensionen von Aufarbeitung - Alltag, Widerstand und Opposition, Ideologie, Teilung und Grenze - sind vielfältig. Aufarbeitung ist folglich deutlich mehr als nur die Beschäftigung mit der Stasi. Insofern erinnere ich noch einmal an die Bundesstiftung Aufarbeitung, die einen sehr breiten Auftrag hat, der weit über die Betrachtung der Stasiunterlagenbehörde hinausgeht. Ich habe beispielhaft zwei Bereiche von Aufarbeitung genannt, die einer konzeptionellen Weiterentwicklung bedürfen. Zudem hängen damit auch Fragen der besseren Vernetzung der Akteure und Einrichtungen, der weiteren Professionalisierung und natürlich der Finanzierung ihrer Aufgaben zusammen. Umso wichtiger ist es deshalb - hier erinnere ich an die Einlassungen von Wolfgang Thierse -, dass wir eine nach vorne gerichtete Debatte über die Zukunft und den Anspruch der Aufarbeitung in Deutschland organisieren. Die im Gedenkstättenkonzept und im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierung verankerte Expertenkommission, die sich mit genau diesem Thema auseinandersetzen soll, ist bis heute nicht realisiert. Das ist angesprochen worden. Das fordern wir massiv ein. Ich hoffe, dass wir auf Grundlage eines solchen Diskurses zu einer Neujustierung der Erinnerungspolitik, auch im Zusammenhang mit dem SED-Staat, kommen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt eine Debatte hier im Haus, die sozusagen auf einer Ebene stattfindet. In dieser Debatte setzen wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke auseinander. Dazu haben Herr Wieland, aber auch andere Redner das Notwendige, wie ich finde, sehr treffend gesagt. Sie, liebe Kollegen von der Linken, verpassen leider eine Chance, wenn Sie in diese Debatten immer diejenigen senden, die es durchaus schaffen, mit wohlabgewogenen Worten einen gewissen Eindruck zu erwecken - ich denke dabei an Herrn Sharma, den ich persönlich in der Tat für sehr glaubhaft halte, aber auch an Herrn Bartsch, den viele hier im Hause schätzen -, während diejenigen, die sich immer wieder Punkten ihrer eigenen Vergangenheit nicht stellen, in diesen Debat29018 ten nie ein öffentliches Bekenntnis zum Ausdruck bringen, obwohl ihnen das Glaubwürdigkeit verschaffen würde. ({0}) - Wo ist denn Frau Wagenknecht? Wo sind denn diejenigen, die Urheber der Zitate sind, die Herr Wieland den Linken vorgehalten hat? Von ihnen hören wir in diesen Debatten leider nie irgendeinen Ton. Gesprochen haben vielmehr immer diejenigen, die durchaus eine gewisse Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vergangenheit pflegen. Das war meine erste Bemerkung. ({1}) Zweite Bemerkung. Herr Ehrmann, gerade weil ich Ihren Beitrag in vielen einzelnen Punkten sehr geschätzt habe: Wenn jemand, der in der ehemaligen DDR gelebt hat, über ein solches Thema redet, ist die Herangehensweise natürlich anders, als wenn Sie oder ich als Mensch aus Westdeutschland es tun. Es ist für mich immer sehr glaubwürdig, wenn ich jemanden wie Herrn Kurth hier reden höre, der einfach aus eigener Erfahrung berichtet hat. Reden von Menschen mit einem entsprechenden familiären Hintergrund, Reden von Menschen, die die Art und Weise kennen, wie man mit Christen umgegangen ist, mit Personen, die einen Glauben hatten, Reden von Menschen, die erfahren mussten, dass es die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem in einem solchen Unrechtsstaat eben nicht gegeben hat, sind - das gehört zur Aufarbeitung der Geschichte - von anderer Emotionalität geprägt, als wenn wir beide darüber reden. Ich glaube, wir erleben hier kein Eiferertum, sondern einfach eine andere Form des Umgangs mit der Vergangenheit. ({2}) Ich will zwei weitere Punkte nennen: Erster Punkt. Herr Bartsch hat sich hier zur frühen DDR geäußert. Ich erinnere mich an Abende mit unserem verstorbenen Kollegen Wolfgang Mischnick, in denen er über die frühen Jahre der DDR geredet hat. Ich erinnere mich auch an Gespräche mit Wolfgang Knoll. Auch in der Sozialdemokratie und in der Christdemokratie gibt es Menschen, die in Dresden und andernorts lebten und die DDR aus Angst, politisch verfolgt zu werden, schon in den allerersten Jahren verlassen haben. Insofern ist Ihr Versuch, Verständnis für den Anfang der DDR zu wecken, glaube ich, zutiefst misslungen. ({3}) Zweiter und letzter Punkt. Mir ist wieder deutlich geworden, dass es nicht nur um die großen Themen gehen kann. Ich habe neulich das Buch von Inga Markovits Gerechtigkeit in Lüritz gelesen. Darin sind einfach einmal die Akten eines Gerichts in der ehemaligen DDR, die alltäglichen Fragen des Umgangs mit Gerechtigkeit, beispielsweise mit dem Christentum, mit Menschen, die etwas glauben, aufgearbeitet worden. Dieses Dokument ist so frappant und so beängstigend, dass man immer wieder daran erinnern muss. Es ist eine weitere Aufgabe von uns allen, auch in Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland das Verständnis für Unrecht im Kleinen wie im Großen nicht nur wissenschaftlich aufzuarbeiten, sondern auch durch Pädagogik zu fördern. Ich gestehe: Einzelne von Ihnen sind daran durchaus beteiligt. Leider verpassen Sie regelmäßig die Chance einer Debatte wie der heutigen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Alterspräsident des 13. Deutschen Bundestages, Stefan Heym, dessen 100. Geburtstag wir in wenigen Tagen begehen, schrieb in seinem Buch 5 Tage im Juni: ({0}) Die Arbeiterklasse, sagen wir, sei die führende Klasse und die Partei die führende Kraft der Klasse. Offensichtlich muß es Menschen geben, die stellvertretend auftreten für die führende Klasse und deren führende Kraft. Aber wer verhindert, daß sie, stellvertretend, nur noch sich selbst vertreten? Dieses Buch von Stefan Heym wurde 1965 in der DDR von Erich Honecker kritisiert und durfte bis zum Ende der DDR dort nicht erscheinen. Ich finde es gut, dass wir uns heute mit der Vergangenheit eines Teils unseres Landes befassen. Und natürlich richten sich in dieser Debatte viele Augen auf unsere Fraktion - wie könnte es anders sein. Ich verstehe das. Unsere Partei Die Linke ist Rechtsnachfolgerin der PDS, und diese ist aus der SED hervorgegangen. ({1}) Wir leugnen das nicht. Wir sind vor unserer Vergangenheit nicht einfach davongelaufen, und wir tun das auch heute nicht. ({2}) Der Vorwurf allerdings, wir würden uns mit unserer Vergangenheit nicht auseinandersetzen, ist nun wirklich nachweisbar falsch. ({3}) In unserem Parteiprogramm, das wir im Oktober 2011 beschlossen haben, heißt es: Ein Sozialismusversuch, der nicht von der großen Mehrheit des Volkes demokratisch gestaltet, sondern von einer Staats- und Parteiführung autoritär gesteuert wird, muss früher oder später scheitern. Ohne Demokratie kein Sozialismus. ({4}) Deshalb formulierten die Mitglieder der SED/PDS …: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System.“ ({5}) Dieser Bruch mit dem Stalinismus gilt für DIE LINKE ebenso. ({6}) So weit unser Grundsatzprogramm. Ja, unsere Partei kommt aus der SED. Aber eines muss auch gesagt werden, Herr Wieland, Herr Kurth: Wir sind nicht mehr die SED. Über 90 Prozent der SED-Mitglieder haben die Partei bereits 1989/90 verlassen. Und schon damals kamen neue hinzu: Halina Wawzyniak, Angela Marquardt oder auch ich selbst seien hier erwähnt. Und auch wenn es eher die Ausnahme als die Regel war - ich will es an dieser Stelle erwähnen -: Auch Vertreter der DDR-Opposition stritten seit der Wende an unserer Seite, ({7}) Marion Seelig zum Beispiel, unsere langjährige Abgeordnete im Abgeordnetenhaus von Berlin, deren Tod wir erst kürzlich beklagen mussten. Herr Wieland, Ihre Rede war deshalb für mich so erstaunlich, weil Sie es besser wissen. ({8}) Sie, Herr Wieland, haben mit Marion Seelig viele Jahre im Abgeordnetenhaus von Berlin im Innenausschuss zusammengearbeitet. Sie wissen ganz genau, welche Debatten Marion Seelig bei uns in der Partei und in der Fraktion angestoßen hat. Trotzdem bauen Sie hier so einen Pappkameraden auf. ({9}) Marion Seelig hat in der DDR in der „Kirche von Unten“ gearbeitet und war Teilnehmerin am Zentralen Runden Tisch. Sie war sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik eine wirkliche Bürgerrechtlerin - ohne das heute so gern verwendete „ehemalig“ davor. Aber nicht nur wegen Menschen wie Marion Seelig ist uns der Blick zurück wichtig und schätzen wir die Arbeit jener, die hierzu ernsthaft forschen, dokumentieren und informieren. Sehr geehrte Damen und Herren, der Bericht, über den wir hier sprechen, enthält allerdings auch Leerstellen. Über die Blockparteien der DDR erfährt man, anders als über die Rolle der SED, die sehr ausführlich dargestellt wird, fast nichts. ({10}) Richtig ist, Herr Kauder, dass die SED die führende Rolle in der DDR innehatte; falsch ist hingegen die Annahme, dass es sich bei der CDU der DDR und der Demokratischen Bauernpartei der DDR, mit der sich die CDU am 2. Oktober 1990 vereinigt hat, oder bei der LDPD und der NDPD der DDR, Herr Kurth, mit denen sich die FDP vereinigt hat, um Oppositionsbewegungen handelte. Das ist falsch. ({11}) Alle vier Parteien - Herr Ministerpräsident Haseloff, ich möchte es an dieser Stelle sagen - waren bis zum bitteren Ende der DDR 1990 mit 208 von 500 Abgeordneten in der Volkskammer vertreten. Alle Parteien, Herr Haseloff - Sie sind 1976 der Ost-CDU beigetreten, als ich vier Jahre alt war -, ({12}) stellten bis zum Schluss Minister in der DDR - ganz am Schluss die Minister für Umwelt, Post und Justiz. Insofern möchte ich Roland Jahn recht geben, der sagte, die Union könnte mehr zur Erforschung ihrer Vergangenheit, der DDR-Blockpartei CDU, beitragen. ({13}) Apropos Roland Jahn: Wir sind natürlich dafür, dass die Einsicht in die Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit gewährleistet bleibt. Unter welchem Namensschild dies passiert, ist hierbei nicht das Entscheidende. Sehr geehrte Damen und Herren, wir Linke ducken uns vor den Debatten über die Vergangenheit nicht weg, ({14}) auch wenn Sie hier wider besseres Wissen immer wieder etwas anderes behaupten. Der Sozialismus, für den wir streiten, der liegt nicht hinter uns, der liegt vor uns. Und es kann nur ein demokratischer Sozialismus sein. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die Unionsfraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht ganz einfach, nach so einem Ausfall an das Rednerpult zu treten. Ich will mich auch nicht an dieser Art von Geschichtsklitterung beteiligen. ({0}) Ich habe an der Stelle nämlich den Eindruck, dass Unbelehrbarkeit herrscht. Eine Unterrichtung durch die Bundesregierung sollte man eigentlich als Unterricht nutzen, statt sich hier hinzustellen und zu sagen - Sie wissen es doch besser als jeder andere in diesem Raum; ich meine da auch die Kollegen aus der CDU/CSU und der FDP -, dass erst dieses System eigentlich demokratische Parteien zu seinem Bestandteil gemacht hat, indem sie unterwandert und missbraucht wurden. ({1}) Das als Argument in die Debatte einzuführen, ist eigentlich pure kommunistische Dialektik. ({2}) Das sollten Sie besser wissen. Das entbehrt auch jeder Grundlage. Und, Herr Liebich, in dieser Art und Weise mit dem Wort „Pappkamerad“ zu operieren ({3}) Kollege Wieland, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze; ich nehme Sie da auch in Schutz -, zeigt, wes Geistes Kind Sie sind, ({4}) wenn es um die Art und Weise der Auseinandersetzung geht. ({5}) Wer wie die Linke in der Tradition der PDS und der SED steht und die Verantwortung für Tod und Stacheldraht und Mauer hat, der sollte sich nicht hinstellen und anderen, die kritisieren, das Wort „Pappkamerad“ vorhalten. Ich glaube, da wäre eine Entschuldigung notwendig. ({6}) Herr Staatsminister, was untergeht, ist die Auseinandersetzung über die Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der Bericht ist eine Bestandsaufnahme; zugleich geht er weit darüber hinaus. Ich bedanke mich für die CSU innerhalb der CDU/CSU herzlich für diesen Bericht. Ich will deutlich machen, dass es sich bei diesem Bericht - manchmal habe ich den Eindruck: die SPD agiert mittlerweile sehr obsessiv, wenn es um die Frage der Kritik geht - um ein Kompendium handelt, in dem wirklich ein kollektiver Bewusstwerdungsprozess deutlich wird. Auf der einen Seite handelt es sich um eine Chronik; es wird ein chronologischer Fortgang beschrieben. Auf der anderen Seite handelt es sich um einen Katalog des politisch Möglichen und des politisch Machbaren. Wir wissen, dass die Beispiele aus der Praxis die Voraussetzung dafür sind, dass ein Gesamtprozess in der Bundesrepublik stattfinden kann, in dem die Aufarbeitung das Wesentliche ist. Es handelt sich um einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, und genau das bildet dieser Bericht ab. Wie schon zu Recht betont wurde, ist eine Aufarbeitung weder allein durch den Staat möglich, noch ist sie zu verordnen. ({7}) Wir brauchen die Menschen, und wir brauchen die Bereitschaft der Menschen, diesen Weg mitzugehen. ({8}) Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Opferverbände, UOKG natürlich, Forschung und Lehre in die Darstellung eingebunden wurden. Auch die Gedenkstättenkonzeption wird angesprochen. Dass Politik, Verwaltung und Enquete-Kommissionen dafür den Boden bereiten, die Rahmenbedingungen setzen, ist das eigentlich Entscheidende, das Wesentliche. Die CDU/CSU hat ihren Beitrag geleistet und ihren Stempel mit aufgedrückt bei all den Entscheidungen, die getroffen wurden, etwa zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, zur Opferrente und zur Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. So exzeptionell der Vorgang einer friedlichen, gewaltfreien Revolution und des damit einhergehenden Umbruchs war, so dramatisch ist natürlich auch die Auseinandersetzung über das Ungewöhnliche dieses Weges. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Jugendlicher an der S-Bahn-Station Friedrichstraße am Grenzübergang stand, nur einen Steinwurf von hier entfernt, mit dem Gefühl der Überwachung im Genick, der greifbaren Pression. Deshalb verletzt es mich fast, wenn ich lesen, erfahren und feststellen muss, dass sich gerade junge Leute in einer erschreckenden Art und Weise durch Nichtwissen auszeichnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Nichtwissen führt immer zu „nicht wissen“: nicht wissen, wie man mit Menschen umgeht, nicht wissen, wie man Probleme angeht, nicht wissen, wie man anderen gegenübertritt, um Probleme aus dem Weg zu schaffen, wie man andere, die Leid und Unrecht erfahren haben, um Vergebung bitten kann. Das ist etwas, was tatsächlich fehlt. Das ist der Grund für die Ausbildung von Ostalgie. Die Zahl der Besucher in Hohenschönhausen aus den alten Bundesländern: gigantisch; aus den neuen Bundesländern: besorgniserregend. Darauf sollten und müssen wir achten. Als Integrationsbeauftragter meiner Fraktion wünsche ich mir, dass diese Aufarbeitung im demokratischen Prozess auch dazu führt, dass - ich sage einmal - demokratische Wurzeln von Menschen mit Migrationshintergrund gestärkt werden, die oftmals selber in ihrer Biografie Unrecht und Willkür eines Landes, eines Staates erlebt haben. Diese Unterrichtung kann ein beispielgebender Anlass sein, den Menschen deutlich zu machen, dass man auch so damit umgehen kann. ({9}) Herr Bartsch, ich muss auch deutlich sagen, dass es nicht angeht, dass man sich unter Berufung auf die Tatsache, dass Unrecht in sich nicht vergleichbar ist, bei diesem Thema immer wieder vom Acker macht. Die Bezugnahme auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts ist immer schwierig, dieser Weg führt nur ganz selten zum Erfolg, weil er entweder das Unrecht des einen relativiert oder das Unrecht des anderen bagatellisiert. Diejenigen, die Verantwortung tragen, müssen aber deutlich machen, dass man mit diesen Folgen leben muss. Es wäre jedoch aberwitzig, wenn man Fehler, die bei der Aufarbeitung dieser Phase des 20. Jahrhunderts begangen wurden, erneut machen würde. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es war nach dem Zweiten Weltkrieg ein revolutionärer Akt, die Wiege eines modernen Völkerstrafrechtes aus den Nürnberger Prinzipien zu entwickeln. Jetzt könnten wir genauso beispielgebend für die Welt sein. Der Prozess der Aufarbeitung könnte auch für andere beispielgebend sein. ({10}) Wenn Hohenschönhausen einlädt, dann kommen 120 Botschafter. Ein Projekt mit Tunesien ist bereits angestoßen. Das kann etwas sein. Das verhindern Sie, wenn Sie engstirnig immer sagen, es dürfe doch um Gottes Willen nichts relativiert werden. Wenn Sie sich der Aufarbeitung stellen, wären wir in der Lage, ein Beispiel zu geben und den Menschen, statt ihnen den Weg zu verstellen, eine Perspektive zu eröffnen. Bedeutend in diesem Aufarbeitungsprozess ist immer die Absicht, dass man den Menschen, denen Unrecht und Leid geschah und die heute noch daran leiden, eine Perspektive gibt, aber auch denjenigen, die am Unrecht beteiligt waren. Das ist die Grundlage für ein Zusammenleben, für ein gedeihliches Morgen, für ein Miteinander in einem demokratischen Staat. Wer immer das Klischee der Siegerjustiz bedient, wird nichts anderes erreichen als eine Blockade im Kopf, eine Blockade in den Herzen, die die Menschen voneinander fern hält, sie aber nicht aufeinander zubewegt. Das sollten Sie bei der Geschichte Ihrer Partei überdenken. ({11}) Auch ich glaube, dass Aufarbeitung immer ein schwieriger und schmerzvoller Prozess ist. Das liegt im Wesen der Dinge. Dass dieser Prozess aber möglich ist, zeigt die vorliegende Unterrichtung durch die Bundesregierung. Deshalb, Herr Staatsminister, vielen herzlichen Dank dafür, dass hier Unterrichtung zum Unterricht in Geschichte wird. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen für die FDP-Fraktion. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tagesordnung steht: Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ich glaube, sagen zu dürfen, dass diese Debatte leider zeigt - insbesondere die Debattenbeiträge der Linken -, dass wir dabei noch am Anfang sind. Das haben Sie sehr klar dargestellt. Es reicht kein Lippenbekenntnis eines Bundesparteitages, dass Sie sich von der Vergangenheit abwenden. Das ist ein Prozess und kein einzelner Beschluss, lieber Herr Bartsch. ({0}) Die Zeit der deutschen Teilung ist Teil des kollektiven Gedächtnisses unserer Republik. Auch wenn sich der Fall der Mauer in diesem Jahr zum 24. Mal jährt, sind wir mit der Aufarbeitung nicht am Ende. Ganz im Gegenteil. Wir sind noch mittendrin, wie diese Diskussion zeigt. Am 12. Juni 1987 sagte der US-

Not found (Mitglied des Präsidiums)

„Mister Gorbatschow, tear down this wall!“ 26 Jahre später, am letzten Sonntag, steht wieder ein Amerikaner am Rest der Berliner Mauer und wirbt aus meiner Sicht zu Recht: Das letzte Stück der Mauer sollte unantastbar sein, damit wir daran erinnert werden. - Die Geschichte der deutschen Teilung bewegt nicht nur uns, sondern auch weltweit, wie wir sehen, die Menschen. Im damaligen Westen waren rund 40 000 Personen über die Jahre für die Stasi tätig. Vielen von ihnen waren Bürgerinnen und Bürger der BRD, die keinem sozialen Druck ausgesetzt waren; sie haben aus freien Stücken mit der Stasi kooperiert. ({0}) Viel zu lange wurde die Aufarbeitung der SED-Diktatur im öffentlichen Bewusstsein nur als ostdeutsche Aufgabe begriffen. Es ist endlich an der Zeit, den Blick zu weiten und auch die gesamtdeutsche Dimension in den Vordergrund zu stellen. ({1}) So haben auch westdeutsche Unternehmen Waren im Strafvollzug der DDR fertigen lassen, ohne sich ausreichend über die Arbeitsbedingungen informiert zu haben. Teilweise wurde sogar auf die Zwangsarbeit politischer Häftlinge zurückgegriffen. Auch bei diesem Thema stehen wir erst am Anfang. Tiefergehende Forschung ist notwendig, um die Zusammenhänge aufzudecken. Wir sind es den Opfern, den Häftlingen schuldig, dass dieses Thema nicht vergessen wird. Für uns ist der Bericht der Bundesregierung keinesfalls eine abschließende Bilanz. Die Arbeit der Aufarbeitungsinstitutionen wird sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln, um den Anforderungen einer Gesellschaft, in der immer mehr Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihres Alters keine eigenen Erfahrungen mehr mit der deutschen Teilung haben, gerecht zu werden. Um die junge Generation zu erreichen, braucht es Zeitzeugenarbeit, authentische Erinnerungsorte und - dies ist mir besonders wichtig - einen offenen und ehrlichen Umgang mit unserem eigenen Handeln in der Zeit der deutschen Teilung. Neue Formen der Vermittlung sind notwendig. Daher ist in meinen Augen die Idee eines Campus der Demokratie - oder wie immer man es nennen möchte -, in dem Archiv, Forschung und Bildung unter einem Dach zusammenkommen, besonders zukunftsweisend. Wir unterstützen dieses Projekt. Abschließend möchte ich sagen: Lieber Herr Ehrmann, Konsens bei diesem Thema: „Ja, sehr gerne“, aber Konsenssoße mit der Linken: „Nein!“ Es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten sich den Ausführungen der Grünen angeschlossen, anstatt sich sehr kleinlich an Herrn Kurth abzuarbeiten. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz für die Unionsfraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal danke ich dem Ältestenrat dafür, dass er diese Debatte heute in die Kernzeit gelegt hat. Dort gehört sie hin. ({0}) Ich danke auch dem Vorsitzenden meiner Fraktion, Volker Kauder. Er ist der einzige Fraktionsvorsitzende, der dieser Debatte von Anfang bis Ende beiwohnt. ({1}) Als Abschlussredner ist es an mir, ein Stück weit auf meine Vorredner einzugehen. Das will ich gerne tun. Als Erstes zu Ihnen, lieber Herr Wieland: Sie haben mir mit jedem Satz, den Sie hier gesagt haben, aus dem Herzen gesprochen; ({2}) das wird Sie nicht überraschen. Aber vielleicht erlauben Sie mir eine Frage. Denn es gibt eine Sache, die ich noch nicht verstehen kann, nämlich wie angesichts der schrecklichen Geschichte, die seit Hitler auf Deutschland lastet, ausgerechnet in der westdeutschen Linken, ausgerechnet in den Kreisen, in denen man ein für alle Mal mit solchen Dingen Schluss machen wollte, ein Massenmörder wie Mao Zedong, eines der schlimmsten Ungeheuer der neueren Menschheitsgeschichte, ({3}) zum Idol einer ganzen Jugendbewegung werden konnte. Das verstehe ich bis heute nicht. ({4}) Die Frage muss beantwortet werden. Man muss meines Erachtens auch einmal aufarbeiten, warum eine ganze Reihe von Menschen aus Ihren Kreisen dieses Idol aufgebaut hat. Auch das gehört dazu. ({5}) Zweitens. Verehrter Herr Ehrmann, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Ich muss sagen: Ich fasse es nicht, wie es möglich sein kann, dass Sie, der Sie das Glück hatten, die DDR nicht am eigenen Leibe erleben zu müssen, heute zum Kollegen Kurth sagen, er sei hier selbstgerecht aufgetreten, obwohl er im Grunde nur von seinen Erlebnissen berichtet hat und dabei selbstverständlich etwas leidenschaftlich und temperamentvoll geworden ist. ({6}) Wissen Sie, wenn Sie sich in dieser Art und Weise als Besserwisser von außen hinstellen, werden Sie in Ostdeutschland, jedenfalls unter denjenigen, die die DDRDiktatur abgelehnt haben, niemals Akzeptanz finden; das ist der Punkt. ({7}) Meine Damen und Herren, hauptsächlich muss ich mich natürlich mit den Beiträgen der Linken befassen. ({8}) - Selbstverständlich. - Herr Bartsch, Sie haben so eindrucksvoll gesagt, dass Sie eine Delegitimierung der DDR ablehnen. ({9}) Ich sage für mich und für meine Fraktion: Wir haben niemals, zu keinem Zeitpunkt, die Legitimitätsbeteuerungen der DDR akzeptiert. ({10}) - Ich gehe auf alle Vorwürfe ein. Sie können sich Ihre Zwischenrufe sparen. ({11}) - Ja, dürfen können Sie alles, aber Sie können es sich auch sparen, wenn Sie wollen. Das ist Ihnen anheimgestellt. ({12}) Herr Wieland hat eben den entscheidenden Satz von Ulbrich genannt: Es muss alles schön demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. Das ist aus dem Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder von Wolfgang Leonhard. Hinter diesem Satz verbirgt sich: Man nutzt die Demokratie, um sie abzuschaffen. ({13}) Das war von der ersten Minute an die Kernbestrebung der DDR. Sie haben gesagt, wir sollen vor unserer eigenen Tür kehren. Die CDU, die LDPD etc. seien alles Blockparteien gewesen, sie hätten das Lied der DDR gesungen usw. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Es ist richtig, dass der Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration vom 1. Juli 1945 gelautet hat, die alten bürgerlichen Parteien wiederherzustellen. Es gab Personen, die dieser Einladung gefolgt sind und das geglaubt haben. Einer derjenigen, die den Gründungsaufruf der CDU unterschrieben haben, war Andreas Hermes; zu Hitlers Zeiten zum Tode verurteilt, da vom Widerstand als Landwirtschaftsminister auserkoren. Dieser Mann stellte sich an die Spitze der CDU. Wissen Sie wie lange? Ein Jahr! Dann kam die sowjetische Besatzungsmacht in Kumpanei mit der SED und hat ihn erst einmal abgesetzt. Dann kamen Jakob Kaiser und Ernst Lemmer. Wie lange haben sie die CDU geführt? Zwei Jahre! Dann passierte dasselbe. So hat die SED nicht locker gelassen, bis die CDU gleichgeschaltet war. Die CDU ist Opfer und nicht Täter gewesen. ({14}) Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Ich habe 1990 auch gedacht: Diese CDU ist viel zu nahe an der SED, hier muss wirklich etwas verändert werden. Nachdem ich in die CDU eingetreten bin, habe ich allerdings die Schicksale derjenigen kennengelernt, die 1945 in dieser CDU gelandet sind und über diese ganze Zeit versucht haben, ihre Existenz zu retten. ({15}) Sie mussten aber mit ansehen, wie die CDU von oben herab umgekrempelt wurde, und zwar von Ihnen. ({16}) Es ist nicht so, dass die CDU die SED gleichgeschaltet hat, sondern die SED hat die CDU vergewaltigt und kaputtgemacht. Das war das Ziel. ({17}) Das ist das, was Sie unter Demokratie verstehen. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Vaatz, gestatten Sie eine Bemerkung oder eine Frage des Kollegen Thierse?

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) - Ich will noch gerne ein paar Bemerkungen machen. Lieber Herr Bartsch, Sie haben uns bezichtigt, wir wollten die DDR und das Hitler-Regime gleichsetzen. Ich muss Sie auf eine Sache aufmerksam machen: Die DDR und das Hitler-Regime gleichzusetzen hat hier niemals, in keiner Sekunde, jemand versucht. ({1}) Allerdings gibt es das Recht auf Vergleich mit dem Ziel, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden herauszuarbeiten. Sie fragen sich, weshalb die DDR über lange Jahre relativ ruhig überlebt hat, weshalb die Menschen das immer akzeptiert haben, sich jedenfalls den Anschein gegeben haben. Eine Möglichkeit, um das herauszufinden, ist in diesem Zusammenhang beispielsweise, einen Vergleich mit Norwegen anzustellen. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name Vidkun Quisling bekannt ist. Dieser Mann hat bestimmt nicht dieselben Verbrechen wie Hitler begangen, man kann ihn nicht mit Hitler gleichsetzen - um Gottes Willen. Aber das Schreckensregime, das er in Norwegen aufgebaut hat, konnte auf dem Abschreckungspotenzial, das Hitler in Deutschland errichtet hatte, aufbauen. Oder lesen Sie das Buch von Jörg Baberowski Verbrannte Erde über den Stalinismus in der Sowjetunion. Da lesen Sie, dass vor dem Krieg Quoten festgelegt wurden, wie viele Menschen ein Parteisekretär in seiner Region umbringen muss. Diese Praxis ist damals auch in Deutschland nicht verborgen geblieben. Wer als Ausläufer eines solchen Terrorregimes regiert, der verschafft sich selbstverständlich Respekt, aber nicht mit demokratischen Mitteln, sondern mit Angst und Schrecken. Und das hat die SED gemacht. ({2}) Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu sagen, aber ich muss leider abbrechen. Zuvor, Frau Präsidentin, muss ich noch eine Kritik loswerden. Die betrifft im Grunde das ganze Haus. Die Aufarbeitung der DDRVergangenheit darf sich nicht nur auf die Dimension der Menschenrechte und auf die Dimension der Vergewaltigung der Demokratie beschränken. Wir haben noch mehr aufzuarbeiten, so zum Beispiel das ganze Kapitel des wirtschaftlichen Versagens, der Planwirtschaft. Denn wir sind - das befürchte ich - in einigen Punkten genau auf dem Weg, auf dem die DDR gescheitert ist. ({3}) Deshalb lohnt auch die Aufarbeitung des wirtschaftlichen Versagens der DDR. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12115 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer ({0}) - Drucksache 17/9781 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - Drucksache 17/12782 Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön ({2}) Nicole Bracht-Bendt Cornelia Möhring Monika Lazar b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Ingrid Fischbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Nicole Bracht-Bendt, Miriam Gruß, Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP Entgeltgleichheit für Frauen und Männer verwirklichen - Familienfreundliche Unternehmen als Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter - Drucksachen 17/12483, 17/12782 Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön ({4}) Nicole Bracht-Bendt Cornelia Möhring Monika Lazar c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen verdienen mehr - Entgeltdiskriminierung von Frauen verhindern - Drucksachen 17/8897, 17/12575 Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ({6}) - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der folgenden Beratung nicht teilnehmen können, ihre Gespräche doch bitte außerhalb des Plenums zu führen, damit ich die Aussprache eröffnen kann. Ich eröffne die Aussprache. Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Nadine Schön das Wort. ({7})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern, am 21. März, haben wieder zahlreiche Frauen und Männer am Brandenburger Tor eine Kundgebung abgehalten. Eine Kundgebung, die dazu diente, auf den nach wie vor vorhandenen Entgeltunterschied zwischen Männern und Frauen aufmerksam zu machen. Dieser beträgt 22 Prozent. Wenn man die Teile wegrechnet, die zu erklären sind, dann kommt man auf Werte zwischen 2 Prozent und 7 Prozent. Auch unsere Partei hat sich an dieser Kundgebung beteiligt. Ich will mich herzlich bei allen bedanken, die gestern, aber auch schon in den Tagen und Wochen zuvor in ganz Deutschland auf diese Entgeltunterschiede in eigenen Veranstaltungen, Kundgebungen und Diskussionsveranstaltungen aufmerksam gemacht haben. Wir, die Koalitionsfraktionen, haben bereits zum Weltfrauentag am 8. März einen Antrag vorgelegt, der Nadine Schön ({0}) sich schwerpunktmäßig mit den Entgeltunterschieden zwischen Männern und Frauen in Deutschland befasst. Dabei haben wir aber im Gegensatz zu Ihnen nicht versucht, den Eindruck zu erwecken, man brauche nur ein einziges Gesetz und schon wäre man den Kampf gegen die Lohnlücke beherzt angegangen. ({1}) Leider ist die Wirklichkeit komplexer; denn der Entgeltlücke liegen zahlreiche Ursachen zugrunde. Alle muss man angehen. Und das tun wir. ({2}) Durch den Ausbau der Kinderbetreuung und die Initiativen für familienfreundliche Arbeitszeiten sorgen wir für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({3}) Dadurch werden die Auszeiten kürzer, die Teilzeitquote wird geringer, und wer Vollzeit oder vollzeitnah arbeitet, hat natürlich auch ein höheres Einkommen. ({4}) Wir werben mit zahlreichen Programmen und Projekten für mehr Frauen in technischen Berufen; denn mehr Frauen in diesen Branchen bedeutet weniger Entgeltunterschiede. Wir wollen, dass mehr Frauen in Führungspositionen kommen. ({5}) Da gilt es schon einmal festzuhalten: Seit die CDU/ CSU-Frauen dieses Thema lautstark aufgegriffen haben, hat sich in den Führungsetagen der deutschen Unternehmen einiges bewegt. Da ist wirklich Bewegung hineingekommen. Daran hat auch unser Engagement seinen Anteil. Höhere Positionen bedeuten auch höhere Einkommen. Das alles sind strukturelle Maßnahmen, die dazu beitragen werden, dass die Entgeltlücke kleiner werden wird. Und es sind gute Maßnahmen; denn sie sind nachhaltig. ({6}) Nachhaltig heißt in der Konsequenz, dass sie sich auch positiv auf die Rentenlücke auswirken. Denn die Entgeltlücke ist nicht das einzige Problem. Ein viel größeres Problem, das in meinen Augen noch viel dramatischer ist, ist die Rentenlücke. Sie liegt teilweise bei über 50 Prozent, und das ist wirklich dramatisch. ({7}) Deshalb sagen wir: Man muss gezielt etwas dafür tun, dass Frauen sich eine eigene Altersvorsorge aufbauen können. Genau aus diesem Grund kämpfen wir auch dafür, ({8}) dass die Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, mehr Rentenpunkte bekommen. ({9}) Das ist ein wichtiger Punkt, liebe Kollegen von der Opposition. Zu diesem Thema habe ich von Ihnen noch nie etwas gehört. Wir sind fest entschlossen, in der nächsten Legislaturperiode dafür zu sorgen, dass die Frauen, die vor 1992 Kinder bekommen haben, mehr Rentenpunkte bekommen. Denn es ist nicht einzusehen, dass hier so ein großer Unterschied gemacht wird. Ich würde mich freuen, Sie würden uns bei diesen ganz konkreten Vorschlägen unterstützen. Das würde den Frauen mehr bringen als solche Placebogesetze wie der Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben. ({10}) Außerdem haben wir durch den Bonus beim Betreuungsgeld nun die Möglichkeit, dass diejenigen, die ihr Kind betreuen und deshalb ihre Berufstätigkeit reduzieren, mit 115 bzw. 165 Euro monatlich privat vorsorgen können. Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Mehr als die Hälfte der Frauen reduziert ihre Berufstätigkeit, wenn das Kind noch im zweiten oder dritten Lebensjahr ist. Diesen Frauen haben wir die ganze Zeit gesagt - Sie sagen es nach wie vor -: Da habt ihr halt Pech gehabt; dann fehlen halt diese Punkte bei der Rente. - Genau das wollen wir nicht. Deshalb haben wir beschlossen, dass ab Sommer diese Frauen 115 bzw. 165 Euro für die private Altersvorsorge anlegen und somit einiges für die Rente tun können. ({11}) Das ist gut; das ist richtig; das ist ein ganz wichtiger Schritt beim Thema Entgeltungleichheit und Rentenlücke im Alter. ({12}) Sie, liebe Kollegen der Opposition, versuchen allerdings mit Ihren heute vorgelegten Gesetzentwürfen, den Eindruck zu erwecken, man brauche nur ein kleines Gesetz zu machen und schon wären Rentenlücke und Entgeltlücke bekämpft. Ein Entgeltungleichheitsgesetz haben Sie vorgelegt. Ich dachte zunächst: Das ist vielleicht ganz interessant; denn alles, was uns hilft, diese Lücke zu bekämpfen, ist erst einmal gut. Aber wenn man sich anschaut, was Sie genau vorschlagen, kriegt man wirklich das kalte Grausen. ({13}) Nadine Schön ({14}) Nach Ihren Vorstellungen sollen Unternehmen ab 15 Beschäftigten regelmäßig detailliert über ihre Lohnstrukturen Rechenschaft ablegen. Das heißt, alle Unternehmen ab 15 Mitarbeitern müssen einen eigenen Bericht fertigen und die komplette Lohnstruktur ihres Unternehmens offenlegen. Zum obersten Sittenwächter wird dann die Antidiskriminierungsstelle. Sie soll prüfen, ob es in Tausenden von Betrieben gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit gibt. In der Anhörung ist schon deutlich geworden, dass es sehr schwer ist, gleichwertige Arbeit zu definieren. ({15}) Ihr Gesetzentwurf gibt auf diese Frage auch überhaupt keine Antwort. Sie schreiben, die Antidiskriminierungsstelle soll das bewerten. Letzte Instanz soll nicht etwa ein Gericht sein, sondern die Antidiskriminierungsstelle. Sie soll als letzte Instanz darüber entscheiden, ob Unternehmen bestraft und Sanktionen verhängt werden. Auch das wurde in der Anhörung kritisiert. Das alles zusammengenommen ist nicht nur rechtlich äußerst bedenklich, sondern es ist auch gar nicht umsetzbar. ({16}) Fakt ist: Was Sie vorschlagen, bringt eine ganze Menge Bürokratie für die Unternehmen. Jedes Unternehmen ab 15 Mitarbeitern muss künftig Berichte fertigen. Seien wir ehrlich: Wer fertigt diese Berichte? Meistens die Frauen, die in den Büros sitzen. Sie dürfen das noch zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit machen. ({17}) Das bringt nur Mehrbelastung. Es ist zugleich aber nicht erwiesen, dass uns das beim Bekämpfen der Entgeltungleichheit auch nur einen Schritt weiterbringt. Ich bin mir sicher, dass die Frauen in Deutschland nicht auf dieses durchschaubare Manöver hereinfallen werden. Das ist der Versuch, Ihren Spitzenkandidaten, der offensichtlich einige Probleme mit Frauen hat, etwas aufzuhübschen. ({18}) Er ist leider heute auch nicht anwesend. Das ist sehr schade. Die Kehrtwende, die jetzt versucht wird, wird aber nicht einmal von den eigenen Frauen aufgenommen. In der Presseberichterstattung der letzten Tage ist nachzulesen, dass, als er das Thema auf einer Veranstaltung angesprochen hat und eine Frau kritisch nachgefragt hat, sie gefragt wurde, ob sie denn wirklich in der richtigen Partei sei. - So geht man mit Kritik in Ihren Reihen um. So geht man mit Frauen in Ihren Reihen um, wenn sie einmal kritische Nachfragen stellen. ({19}) Das ist ein wirklich sehr durchschaubares Wahlkampfmanöver. Darauf werden die Frauen in diesem Land nicht hereinfallen. Wir wollen gemeinsam erfolgreich daran arbeiten, dass die Entgeltlücke kleiner wird und vor allem auch die Rentenlücke im Alter kleiner wird. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Schön, Lesen hätte geholfen. ({0}) Über dem Gesetzentwurf steht nicht „Gesetz zur Entgeltungleichheit“, sondern „Engeltgleichheitsgesetz“; das Gesetz soll nämlich zur Entgeltgleichheit führen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zehn Wochen bzw. 57 Arbeitstage innerhalb dieser zehn Wochen so lange müssen Frauen dieses Jahr länger arbeiten, um auf den gleichen Lohn zu kommen wie die Männer. Bis gestern, bis zum Equal Pay Day, waren alle erwerbstätigen Frauen in Deutschland allein damit beschäftigt, den Lohnrückstand aus dem letzten Jahr aufzuholen. Ich hoffe, dass wir uns bei allen Unterschieden wenigstens über eines einig sind: Jeder Tag dieser zehn Wochen ist einer zu viel, und deshalb muss das aufhören. ({1}) Wenn wir uns darüber einig sind, dann müssen wir auch etwas tun. Lamentieren allein - das stellen wir gelegentlich auch auf anderen Feldern fest - hilft nicht. In den letzten Jahren hat sich nur leider kaum etwas bewegt. Sie haben es zitiert, allerdings falsch ausgewertet: Immer noch verdienen erwerbstätige Frauen 22 Prozent weniger Lohn als die Männer. Das sind pro Stunde immerhin 4 Euro weniger Lohn. Damit sind wir europaweit Schlusslicht bei der Entgeltgleichheit. Das darf doch nicht so bleiben. ({2}) Es geht hier nicht um die Probleme Einzelner. Schuld sind nicht die Frauen, die - das liest man gelegentlich bei Lohnverhandlungen entweder zu bescheiden sind oder nicht genügend streng verhandeln können. Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen - das wissen wir doch alle - ist kein individuelles Problem. Da gibt es systematische Benachteiligungen: Erstens werden typische Frauenberufe nach wie vor schlechter vergütet als klassische Männerberufe, obwohl verdammt noch mal in der Altenpflege viel und hart gearbeitet wird. ({3}) Zweitens sind es eben vor allen Dingen Frauen, die die Erwerbstätigkeit gelegentlich unterbrechen, entweder um die Kinder zu erziehen oder um die Pflege von Angehörigen zu leisten. Je länger die Auszeit ist - auch das zeigt die Erfahrung -, desto höher sind anschließend die Einbußen beim Lohn. Drittens sitzen Frauen zu oft in der Teilzeitfalle. Viertens sind die Führungsetagen immer noch Männerdomänen. Und selbst da, wo es Frauen geschafft haben, gleiche Tätigkeiten auszuüben, ist bei gleicher Qualifikation und gleicher Tätigkeit immer noch schlechterer Lohn für die Frauen an der Tagesordnung. Wenn wir nichts tun, dann wird das so bleiben, und genau das darf nicht sein. ({4}) Nun ist das keine völlig neue Diagnose. Diese Diagnose liegt schon länger auf dem Tisch. Aber nicht nur das: Auch Rezepte liegen schon länger auf dem Tisch, zum Beispiel der Entwurf eines Gesetzes für mehr Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen, ({5}) zum Beispiel der Entwurf eines Gesetzes für den Ausbau von Kindertagesstätten. Zu all dem haben wir Vorschläge unterbreitet. Hinzu kommt der Vorschlag, den wir Ihnen heute unterbreiten, der Entwurf eines Entgeltgleichheitsgesetzes. Das Traurige ist: Nichts von dem können wir mit dieser Regierung machen. Alles, was Ihnen in letzter Zeit eingefallen ist, ist ein Betreuungsgeld, das mehr Probleme schafft als beseitigt. Das ist aus meiner Sicht - lassen Sie es mich einmal so sagen - eine zynische Antwort für Frauen, die arbeiten müssen und verzweifelt nach einem Kitaplatz suchen. Das ist bildungspolitisch eine Katastrophe, es ist familienpolitisch falsch, und es ist zynisch. Deshalb ist das die falsche Antwort für Familien, die falsche Antwort für Kinder und erst recht die falsche Antwort für Frauen. ({6}) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das war schon die Forderung der ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik. Ich weiß nicht, ob die sich hätten träumen lassen, dass wir 90 Jahre später noch immer über dasselbe Thema, noch immer über dasselbe Problem, noch immer über Lohnungleichheit in dieser Dimension reden. ({7}) Weil das so ist, weil wir noch immer darüber reden und das Reden nichts geholfen hat, brauchen wir eine gesetzliche Regelung. Appelle allein - das haben wir gesehen - sind nicht geeignet, um die Welt zu verändern. Die Verantwortlichen sowohl in den Unternehmen als auch, wie ich glaube, die Tarifpartner brauchen einen gesetzlichen Rahmen, in dem Lohndiskriminierung zunächst einmal offengelegt wird, um sie dann zu beseitigen. Nur so erreichen wir - davon bin ich überzeugt endlich unser Ziel. Das Ziel ist, dass der Equal Pay Day nicht irgendwann Mitte März, sondern in Zukunft am 1. Januar stattfindet. Darum geht es. ({8}) Die FDP äußert sich zu diesen Dingen überhaupt nicht; das hat sie auch am Brandenburger Tor nicht getan. ({9}) Die CDU/CSU war, wie in den vergangenen Jahren, auch diesmal vertreten. Deshalb sage ich an die Union gerichtet: Wenn auch Sie der Meinung sind, dass die Lohnunterschiede überholt sind und dass man etwas machen muss, dann machen Sie bitte in Zukunft keine falschen Versprechungen am Brandenburger Tor, sondern zeigen Sie, dass Sie Kreuz haben, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. Herzlichen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Nicole Bracht-Bendt. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Steinmeier, wir waren nicht am Brandenburger Tor, aber wir waren am Hauptbahnhof und intensiv im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes. ({0}) Zweitens frage ich mich, was Sie denn in den vergangenen Jahren gemacht haben. Sie hatten doch die Möglichkeit, einen Gesetzentwurf dazu vorzulegen, aber Sie haben nicht gehandelt. ({1}) Männer und Frauen arbeiten auf Augenhöhe: Das ist in der FDP-Fraktion das Leitmotto. ({2}) - Hören Sie zu! - Das war auch gestern bei unserer Aktion am Hauptbahnhof zum Equal Pay Day so. Wir alle wissen, dass es immer noch Defizite bei der Entgeltgleichheit gibt. Der im Grundgesetz verankerte Art. 3 Abs. 2 und 3, wonach niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf, ist immer noch nicht überall umgesetzt. Das ist bedauerlich. Wenn Männer und Frauen unterschiedlich hohe Gehälter bekommen - das haben auch Sie, Herr Steinmeier, angesprochen -, obwohl sie die gleiche Qualifikation und Berufserfahrung haben, besteht Handlungsbedarf. ({3}) Das steht für uns außer Frage. Wir sollten aber endlich mit der leidigen Geschlechterkampfdebatte aufhören. ({4}) Ich halte es für unredlich, wenn neue Zahlen über die Verdienste von Frauen und Männern veröffentlicht werden und jedes Mal so getan wird, als würden Frauen in Deutschland generell bei gleicher Qualifikation und Berufserfahrung 22 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen aufs Gehaltskonto überwiesen bekommen. ({5}) Das ist eine reine Irreführung und Stimmungsmache, die skandalös ist. ({6}) Fakt ist: Den größten Anteil an der Gehaltslücke haben die Erwerbsunterbrechungen. Eine Frau, die sich nach der Geburt eines Kindes dafür entscheidet, einige Jahre zu pausieren, um sich ausschließlich ihrem Kind oder mehreren Kleinkindern zu widmen, tut dies aus freien Stücken. Hier hat sich der Staat herauszuhalten. ({7}) Wir sollten auch mit dem Märchen von den ach so schlimmen Minijobs aufhören. Die Minijobs sind nicht per se schlecht. ({8}) - Hören Sie zu! - Problematisch wird es, wenn die Frau zu lange zu Hause bleibt. Längere familienbedingte Auszeiten bremsen häufig die Karriere von Frauen aus. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft machen allein familienbedingte Erwerbsunterbrechung und Teilzeitarbeit 56 Prozent des Lohnunterschiedes aus. Ziel muss sein, die Babypause möglichst kurz zu halten. Jeder Monat länger weg vom Beruf oder ein Teilzeitjob machen es Frauen schwerer, im Aufstiegswettbewerb Erfolg zu haben. ({9}) Dass die SPD-Fraktion reflexartig sagt, dass ein Gesetz hermuss, überrascht uns nicht mehr. Denn die SPDFraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert in unserem Lande nichts. Ich denke, wir beweisen das Gegenteil. Das ist eben der elementare Unterschied zwischen Ihnen und uns. ({10}) Mit einem Entgeltgleichheitsgesetz käme auf die Unternehmen ein neues Bürokratiemonster zu. Mit Bürokratieabbau, den wir immer anstreben, hat das wahrlich nichts zu tun. Was mich ehrlich verblüfft, ist, dass die Gewerkschaften die Füße so still halten. Sie sind es doch, die zusammen mit den Arbeitgebern am Tisch sitzen und ihre Unterschrift unter Tarifverträge setzen. ({11}) Wenn wir über ungerechte Lohnlücken reden, ist es Quatsch, die Tarifautonomie auszuhebeln. Hier sind die Gewerkschaften in der Pflicht, sich für die Rechte und Interessen der Frauen einzusetzen. ({12}) Ein anderes Thema sind die sogenannten traditionellen Frauenberufe. Sie werden ja bekanntlich meistens schlechter besoldet als traditionelle Männerberufe. Wir sollten darüber reden, warum das so ist. Auch hier vermisse ich eine klare Ansage der Gewerkschaften. Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten festgestellt: ({13}) Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und handeln. Wir sind dabei. Wir tun dies. ({14}) Der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP ({15}) hat die Verwirklichung der Entgeltgleichheit mit Blick auf die Ursachen in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft, den Tarifpartnern, Frauen- und Wirtschaftsverbänden zum Gegenstand. ({16}) Für uns Liberale ist Transparenz - ich wiederhole es die zentrale Herausforderung. Unternehmen, in denen Mitarbeiterinnen für gleiche Leistung und bei gleicher Qualifikation weniger Gehalt bekommen als die Mitarbeiter, werden spätestens dann, wenn der Fachkräftemangel richtig losgeht, den Kürzeren ziehen. Es ist ja auch nicht so, dass die Bundesregierung in Sachen Entgeltgleichheit noch nichts unternommen hat. ({17}) Das Lohntestverfahren Logib-D und das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“ gewährleisten auf der einen Seite rechtliche Grundlagen, um Entgeltgleichheit durchzusetzen. Auf der anderen Seite werden die Öffentlichkeit, die Unternehmen und die Tarifpartner aktiv in die Strategie eingebunden. ({18}) Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir also die Ursachen im Blick behalten: Erstens. Frauen sind in Berufszweigen, in denen es nur geringe Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsentiert. ({19}) Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe auf einem unteren Einkommensniveau. ({20}) Eine Diplompädagogin verdient heute durchschnittlich 2 500 Euro im Monat, während schon das Einstiegsgehalt eines Absolventen eines Studienganges für Umwelttechnik oder Maschinenbau 1 000 Euro darüber liegt. ({21}) Die Berufswahl ist immer noch eines der entscheidenden Kriterien für die Gehaltsentwicklung. Wir können und wollen Frauen nicht dazu zwingen, sich beruflich anders zu orientieren und statt Philosophie oder Pädagogik besser Mathematik oder Ingenieurswissenschaften zu studieren. ({22}) Wir müssen aber dafür sorgen - vielleicht hören Sie auch einmal zu -, dass junge Frauen wissen, dass die Berufswahl für die Karrieremöglichkeiten und das spätere Einkommen ausschlaggebend sein kann. ({23}) - Ja, Mindestlohn; nur diese Antwort kommt für Sie ja infrage. Die dritte Ursache ist bekannt - aber ich wiederhole sie, weil ich sie für ursächlich und für die gravierendste halte -: ({24}) Je länger die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg. ({25}) Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarmachen: Die Lohnlücke, die während der Familienphase entsteht, kann nicht mehr geschlossen werden. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch auch weniger Rente. Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz: ({26}) Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe. ({27}) Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbstverständlich sein. Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Wir wollen dasselbe wie Sie, nur ohne Gesetz. ({28}) Politik, Unternehmen und Frauen müssen gemeinsam an einem Strang ziehen. Ein weiteres Gesetz, wie es die SPD plant, ist aus Sicht der FDP-Fraktion, wie Sie sich denken können, nicht der richtige Weg. Deshalb werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. ({29})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Diana Golze. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der gestrige Equal Pay Day markierte eine der größten Ungerechtigkeiten, die es in diesem Land gibt. Denn gestern - das wurde bereits angesprochen - endete die Zeitspanne, die Frauen im Jahr 2013 länger arbeiten mussten, um genauso viel zu verdienen, wie der Durchschnittslohn eines Mannes im Jahr 2012 betrug. Für die gleiche Bezahlung 80 Tage länger arbeiten müssen, 80 Tage für lau arbeiten müssen, das ist eine riesige Ungerechtigkeit und ein Beweis für den Unwillen zu politischem Handeln. ({0}) Häufig heißt es - dieser Gedanke hat in dieser Debatte schon eine Rolle gespielt -, die Entgeltungleichheit liege daran, dass Frauen eben schlechter bezahlte Berufe ergriffen. Das ist ein Satz, der schnell dahingesagt ist und den viele aus ihren Alltagserfahrungen heraus vielleicht bestätigen würden. Aber dieser Satz ist gefährlich, in mehrerlei Hinsicht: Zum einen verschleiert er, dass Frauen auch in den sogenannten Männerberufen schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen, ({1}) dass selbst nach Berücksichtigung von Teilzeitbeschäftigung und Babypausen immer noch eine Lohnlücke bleibt. Zum anderen macht eine solche Aussage die Frauen zu Anwältinnen in eigener Sache, ohne dass sie etwas an den Ursachen ändern könnten. Mit der Zuweisung der Verantwortung für schlechtere Bezahlung an die Frauen selbst stiehlt sich die Politik, stiehlt sich die Gesellschaft aus der eigenen Verantwortung. ({2}) Die Politik hat damit einen schönen Vorwand dafür, weshalb sie die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen nicht ergreift, und in der Öffentlichkeit wird dieser Missstand als individuelles Problem und nicht als gesellschaftliche Ungerechtigkeit wahrgenommen. Es ist aber kein individuelles Problem, wenn Gehaltseinstufungen von Arbeitgebern intransparent vorgenommen werden. Es ist kein individuelles Problem, wenn Lücken in der Erwerbsbiografie, die durch Erziehungszeiten oder das Muttersein an sich entstanden sind, als nicht kalkulierbares Ausfallkriterium eingeschätzt werden. Es ist auch kein individuelles Problem, wenn von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Arbeitswelt immer mehr Flexibilität gefordert wird, was ein Familienleben fast unmöglich macht. Nein, meine Damen und Herren, es ist ein riesengroßes gesellschaftliches Problem, wenn die sogenannten Frauenberufe - die Berufe der Alten- und Krankenpflegerinnen, der Friseurinnen, der Frauen im Gesundheitswesen, der Grundschullehrerinnen, der Erzieherinnen in der Kita - die schlecht bezahlten Berufe sind. Solange der Beruf der Erzieherin ein reiner Frauenberuf war, hat sich für dessen schlechte Bezahlung kaum jemand interessiert. Nun aber, da unsere Ministerin für Frauen, Kristina Schröder, gern auch mehr Männer in die Kitas locken möchte, kommt das Thema Bezahlung ganz plötzlich auf den Tisch. ({3}) Insofern finde ich es schade, Frau Ministerin, dass Sie sich in dieser Debatte heute gar nicht zu Wort gemeldet haben. ({4}) Ich frage Sie, liebe Damen und Herren: Wer hat das Recht, die Arbeit dieser Frauen durch eine schlechtere Bezahlung derart herabzuwürdigen? ({5}) Und wer hat das Recht, auch noch mit dem Finger auf die Frauen zu zeigen und ihnen vorzuhalten: „Hättet ihr einen Männerberuf gewählt! Dann hättet ihr das Problem nicht“? Niemand hat dieses Recht! ({6}) Was tun die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, um die Einkommenssituation der Frauen zu verbessern? Schauen wir einmal auf den gestrigen Tag zurück: Bei der Aktion des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor dem Brandenburger Tor, Frau Bracht-Bendt, war die FDP weder mit einem Stand noch mit einer Rednerin vertreten. ({7}) - Ich habe Ihnen zugehört: Sie waren am Hauptbahnhof; zu welchem Thema, haben Sie uns nicht verraten. ({8}) Es ist zumindest konsequent, dass man sich, wenn man nichts zu sagen hat, an solchen Aktionen auch nicht beteiligt. ({9}) Zu diesem Entschluss konnte sich die CDU/CSU leider nicht durchringen. Im Gegenteil, sie hatte sogar eine besonders tolle Idee. Sie ist mit Plakaten gekommen, auf denen die bahnbrechende Ankündigung „Mütterrente kommt!“ zu lesen war. ({10}) Respekt! Derart am Thema vorbei zu plakatieren, das muss man erst einmal hinbekommen. ({11}) Einmal ganz davon abgesehen, dass Sie einem diesbezüglichen Antrag meiner Fraktion gerade erst nicht zugestimmt haben, ist festzuhalten: Es ging gestern um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern im Berufsleben. Sie haben also das Thema verfehlt. So verwundert es mich auch nicht, dass es keinen entsprechenden Gesetzentwurf der Regierung gibt. Warum sollten Sie sich auch in persönliche Aushandlungsprozesse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebern einmischen? Warum sollten Sie auch politische Verantwortung für individuelle Probleme von Frauen übernehmen? Ich sage Ihnen, warum: Weil es Ihre Pflicht und Schuldigkeit als Regierung wäre. Könnten Sie nach der Ablehnung einer Frauenquote für Führungspositionen, nach dem Festhalten am Ehegattensplitting, nach der Einführung des Betreuungsgeldes nicht wenigstens einmal so tun, als wenn die Gleichstellung der Geschlechter für Sie ein Thema wäre? ({12}) Werte Kolleginnen und Kollegen, der Handlungsbedarf für die Politik liegt auf der Hand. Ich möchte nur drei Beispiele nennen: Erstens. Wir brauchen gesetzliche Regelungen zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit. Unternehmen müssen verpflichtet werden, ihre Entgeltpraxis geschlechtergerecht zu gestalten, und dies muss für alle Beschäftigten transparent erfolgen. ({13}) Zweitens. Ja, wir brauchen endlich - Frau BrachtBendt wartet ja schon darauf, dass ich es sage - einen gesetzlichen Mindestlohn als Lohnuntergrenze, ({14}) weil besonders Frauen von Dumpinglöhnen betroffen sind und sie gerade deshalb von einem Mindestlohn am meisten profitieren würden. ({15}) Drittens. Auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Rückkehr aus Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigung teilen wir. Er gehört dazu, damit Frauen ihre Arbeitszeit nach einer familienbedingten Reduzierung wieder aufstocken können. Die Frauenministerin hat diesen Rechtsanspruch beim Familiengipfel vor wenigen Tagen angesprochen und geäußert, sie würde sich dafür einsetzen. Dieser Ankündigung müssen nun aber auch Taten folgen. ({16}) Verehrte Damen und Herren, auf dem Weg zu wirklicher Gleichberechtigung der Geschlechter gibt es viel zu tun. Solange die Mehrheit dieses Hauses ihre Verweigerungshaltung aber leider nicht aufgibt, bleibt der Weg für viele Frauen eine Sackgasse. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Katrin GöringEckardt. Bitte schön, Frau Kollegin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt die aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes, die sagt, Frauen verdienen im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Vor kurzem - so steht es auch noch in unserem Antrag - waren es noch 23 Prozent. Die Regierung sagt an einer solchen Stelle dann gerne: Wir sind auf einem guten Weg; das ist ein großer Schritt voran. ({0}) Aber Spaß beiseite. Tatsache ist: Deutschland liegt in der EU ganz am Ende, was die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern angeht. Das ist ein Skandal, und es zeigt übrigens auch, dass es nicht an den Frauen liegt, sondern an der Struktur: an fehlender Gesetzlichkeit und an falschen Vereinbarungen. ({1}) Frau Schön, wenn man sich das, was Sie hier gesagt haben, im Protokoll noch einmal anschaut, dann liest man: wir wollen, wir wollen, wir wollen, wir kämpfen für. - Meine Güte! Wer regiert hier eigentlich? Sie regieren doch! Sie hätten das doch längst tun können! Sie müssen nicht wollen, Sie müssen machen! ({2}) Frau Bracht-Bendt, ich finde es in besonderer Weise doppelt diskriminierend, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: Die Frauen sind doch selber schuld. Sie ergreifen einfach die falschen Berufe. - Nein, die Frauen sind nicht selber schuld. Die Politik hat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es Entgeltgleichheit gibt; sie darf diese Verantwortung nicht den Frauen zuschieben, die dann doppelt gestraft sind. ({3}) Über die Gründe der Lohndiskriminierung ist schon viel geredet worden. Selbstverständlich sind die familienbedingten Erwerbsunterbrechungen der Hauptgrund. Das Stichwort „Gläserne Decke“ gehört dazu. Das ist ein ganz entscheidender Faktor. Hinzu kommt natürlich auch die Alltagsdiskriminierung, nach dem Motto: Frauen können es eben nicht so gut wie Männer. - Danach wird in vielen Betrieben nach wie vor verfahren. Das ist eine plumpe Diskriminierung. Es ist richtig: Hier brauchen wir eine andere Unternehmenskultur. Meist ist es aber noch viel subtiler. Die Krankenschwester verdient weniger als der Müllmann, die Erzieherin verdient weniger als der Automechaniker. Die Erzieherin in Mecklenburg-Vorpommern verdient unter 7 Euro pro Stunde. Das hat mit Respekt überhaupt nichts mehr zu tun. Gleichwertige Arbeit muss endlich gleich bezahlt werden. ({4}) Wir müssen darauf achten, welches Signal wir hier setzen. Wir reden über demografische Entwicklung, über Pflegenotstand und über einen drastischen Mangel an Erzieherinnen und Erziehern. Es ist absurd, zu glauben, das würde sich irgendwie regeln, solange diese Berufe in Deutschland nicht endlich besser bezahlt werden. Dafür haben wir als Politiker eine Verantwortung. ({5}) Ich finde, man muss sich auch noch einmal genau angucken, was Angela Merkel und ihre Koalition machen. Das alles ist eine Als-ob-Politik nach dem Motto: eine freiwillige Verpflichtung, eine freiwillige Selbstverpflichtung, auf der Basis der Freiwilligkeit. Die von dieser Regierung gern bemühte Freiwilligkeit ist ein Codewort für nur eines: abwarten und nichts tun. - Die Geduld der Frauen in diesem Land ist am Ende. Sie verdienen endlich mehr Geld statt irgendwelcher warmer Worte hier. ({6}) Deswegen ist es notwendig, dass wir das Gesetz zur Entgeltgleichheit bekommen. Deswegen ist es notwendig, dass es klare Sanktionen und klare Pflichten zur Überprüfung und zur Beseitigung der Diskriminierung gibt. Wir wollen ein Gesetz für Lohngleichheit mit verbindlicher Durchsetzung und wirklichen Sanktionen. Wir brauchen endlich eine verbindliche Regelung statt irgendwelches Gerede. Dafür werden wir auch kämpfen. ({7}) Natürlich brauchen wir andere Rahmenbedingungen. Ja, wir brauchen den Mindestlohn. Wir sollten uns hier nicht hinstellen und so tun, als ob die Teilzeitarbeit die Falle wäre. Nein, Frauen verdienen auch in Teilzeit weniger als Männer. ({8}) Das ist doch absurd. Ja, wenn man über den Gender Pay Gap redet, darf man auch über den Gender Pension Gap nicht schweigen. Wenn Sie von Mütterrente und von Lebensleistungsrente reden, haben Sie genau die Frauen, die es betrifft, nicht im Blick. ({9}) Sie machen nichts anderes, als jahrzehntelang ein falsches Familienmodell zu subventionieren und hinterher erschreckt zu sagen: Meine Güte, das könnte für die Mütter im Alter finanziell eng werden. - Nein, das ist falsch. Altersarmut wird auch mit Ihren Vorschlägen weiblich bleiben. Deswegen braucht es hier eine andere Lösung, eine echte Garantierente, mit der die Altersarmut von Frauen wirklich bekämpft wird. Das, was bei Ihrem Koalitionsgeschwurbel am Ende herausgekommen ist, kann vielleicht für Sie gut sein, damit endlich Ruhe herrscht; aber es ist nicht gut für die Frauen, denen Altersarmut droht. ({10}) Zum Schluss: Ja, Frauen bekommen schlechtere Gehälter, auch im gleichen Job. Ja, Frauen wechseln ihre Jobs nicht so oft wie Männer. Wenn sie es endlich geschafft haben, die Kitaöffnungszeiten, die Arztsprechstunden, den Klavierunterricht und das Fußballtraining mit dem eigenen Job zusammenzubringen, dann werden sie nicht dauernd von einem Job zum anderen wechseln. Auch das führt dazu, dass sie weniger verdienen. Frauen machen übrigens auch weniger Fortbildung in Deutschland. Warum? Weil sie sie seltener vom Arbeitgeber bezahlt bekommen als Männer, nicht etwa, weil sie sagen, sie hätten dafür keine Zeit. Ja, es bleibt absurd, dass beim Müllmann die körperliche Belastung zählt und bei den Pflegekräften eben nicht. Ja, es bleibt absurd, dass wir keine vernünftigen Rahmenbedingungen dafür haben, dass Frauen tatsächlich wieder in den Beruf zurückkehren und Vollzeit arbeiten können. Solange Sie auch nur 1 Euro für das sinnlose Betreuungsgeld ausgeben, tun Sie nichts dafür, dass sich an der Situation der Frauen etwas ändert. ({11}) Man muss ganz einfach sagen: An einem Tag im Jahr geht es um Equal Pay. Eigentlich müsste an 365 Tagen im Jahr in dieser Frage politisch aktiv gehandelt werden. Die notwendige gesellschaftliche Debatte gehört dazu. Aber es gehört eben auch ganz knallharte Politik dazu. Vor allem ist es aber absurd, nur noch einen Tag länger anzunehmen, mit dieser Regierung würde sich zum Wohl der Frauen irgendetwas ändern. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Elisabeth Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in der Tat in vielen Punkten einig. Herr Steinmeier, dass im Schnitt Frauen fast drei Monate länger arbeiten müssen als Männer, um so viel zu verdieElisabeth Winkelmeier-Becker nen wie das, was Männer schon am Silvesterabend in der Kasse haben, ist empörend und ungerecht. Es ist klar, dass das ein wichtiges Handlungsfeld der Politik sein muss. Es sind viele Punkte angesprochen worden, die in dem Ursachengeflecht eine Rolle spielen. Auch die Anhörung hat da keine wirklich große Überraschung gebracht. Die Zusammenhänge, die dort dargestellt wurden, waren bekannt: Erwerbsunterbrechungen wegen familiärer Sorgearbeit, Reduzierung der Arbeitszeit, Teilzeit, Minijobs, die Rollenklischees, das Berufswahlverhalten. All diese Themen kennen wir seit langem, auch in ihrem Zusammenspiel. Es zeigt, dass die Ausganssituation sehr schwierig ist. Ich möchte drei Sätze dazu sagen, wie es dazu gekommen ist. Die Bundesrepublik hat einfach mit einem - in Anführungszeichen - „normalen“ Familienbild begonnen, das sich über die Jahrzehnte etabliert hat. Darum herum haben sich das Steuerrecht und das Bildungssystem entwickelt. In diesem Modell haben Frauen nur dazuverdient. Das wurde damals gar nicht als Defizit empfunden. Das sehen wir heute natürlich ganz anders. Das ist heute so nicht mehr denkbar. Da haben sich die Situation, die Erwartungshaltung und auch die - berechtigten - Ansprüche der Frauen deutlich verändert. Der Verweis auf die historische Entwicklung macht das Ergebnis, mit dem wir heute konfrontiert sind, nicht erträglicher, sondern ist als Aufforderung zu verstehen, uns dieser großen Aufgabe zu stellen. ({0}) Es handelt sich wirklich um eine große Aufgabe. Ich habe nicht die Hoffnung, dass sie sich mit einem auf Betriebe beschränkten Entgeltgleichheitsgesetz wuppen lässt. Ich habe noch eine Bitte. Wir sollten die Diskussion nicht so führen, dass sich diejenigen, die das beschriebene Modell gelebt haben, diskriminiert oder in ihrer Arbeit nicht gewürdigt fühlen. Viele Frauen hatten damals keine andere Wahl. Sie haben eine tolle Arbeit geleistet, haben ihre Familien gut versorgt und Kinder erzogen. Aber am Ende sehen sie sich mit dem Gender Pension Gap konfrontiert. In der Tat sollten wir hier etwas tun. Die Anerkennung von Erziehungszeiten kann ein Element sein. Damit sind an dieser Stelle sicherlich nicht alle Probleme gelöst. Aber so kann durchaus ein relevanter Beitrag geleistet werden. Ich kann nicht auf alle Punkte eingehen, die anzusprechen wären. Ich möchte aber auf den Zusammenhang zwischen Berufsunterbrechung und der Entwicklung von Berufschancen eingehen. Ich möchte ausdrücklich sagen: Es geht mir nicht nur um Berufschancen, sondern auch um Karrierechancen. Das ist ein Unterschied. Die Frauen wollen nicht nur in den Beruf zurückkehren, sondern sie wollen auch dort wieder anknüpfen, wo diejenigen stehen, mit denen sie zusammen im Beruf begonnen haben und die keine Unterbrechung hatten. Das ist der Anspruch. Die Grünen verweisen in ihrem Antrag zu Recht darauf: Wird die Erwerbstätigkeit wegen Familienarbeit unterbrochen oder reduziert, hat das Einkommenseinbußen zur Folge, die später nicht wieder auszugleichen sind. - Das stimmt und ist erschütternd. In der Anhörung wurde das sogar näher beziffert. Wer ein Jahr aussetzt, hat im Durchschnitt 4,8 Prozent weniger Lohn pro Jahr zu erwarten und wird damit sogar mehr abgestraft als jemand, der ein Jahr wegen Arbeitslosigkeit aussetzt. Dass das so ist, hat mich sehr erschüttert. Deshalb ist klar: Alles, was die Rückkehr in den Beruf sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert, ist gut und entspricht im Übrigen auch den Erwartungen, die die Arbeitgeber vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels formulieren. Die Möglichkeiten für Frauen, in den Beruf zurückzukehren, sind also eigentlich ganz gut, sofern sie denn Kinderbetreuungsmöglichkeiten haben. Man muss das aber auch aus einer anderen Perspektive sehen. Ich weiß aufgrund meiner eigenen Lebenserfahrung - das lässt sich auch im Gleichstellungsbericht und im Achten Familienbericht finden -, dass es immer wieder einmal Phasen gibt, in denen beide Elternteile nicht durchgängig Vollzeit arbeiten können. Ich selbst habe drei Kinder. Als diese null, drei und viereinhalb Jahre alt waren, habe ich mir eine komplette Auszeit von zwei Jahren genommen. Es wäre nicht zielführend gewesen und hätte auch nicht der Lebensqualität genutzt, wenn auch ich damals Vollzeit gearbeitet hätte. Es war schon kompliziert genug, als ich zwei Jahre später wieder angefangen habe. Wir müssen dafür sorgen, dass es jederzeit möglich ist, einmal eine begrenzte Zeit auszusetzen, ohne dabei den Anspruch zu verlieren, beim beruflichen Wiedereinstieg dort anzuknüpfen, wo man ohne die Unterbrechung wäre. ({1}) Um es vielleicht noch anschaulicher zu machen: Ich finde, man muss beispielsweise im Alter von 30 Jahren einmal zwei Jahre aussetzen und trotzdem mit 50 oder auch mit 40 Jahren Führungspositionen bekleiden können. Die berufliche Entwicklung sollte jedenfalls altersgerecht und ohne den nachhängenden Nachteil einer Kindererziehungsphase verlaufen. Auch das müssen wir berücksichtigen. ({2}) Dazu gehört, dass Familienarbeit und die dabei erworbenen Kompetenzen besser gewürdigt werden. Das heißt, wir brauchen eine gezielte Förderung beim beruflichen Wiedereinstieg. Für mich gehört dazu auch - das ist sicherlich keine Neuigkeit - eine verbindliche Zielquote in der Frauenförderung, gerade wenn es um Führungspositionen geht. Denn das kann das Vertrauen in die Überzeugung stärken, dass man ruhig einmal eine Auszeit nehmen kann, wenn sie zur eigenen Life Work Balance gehört, ohne Karrierechancen zu verlieren. Jetzt wollen Sie sicherlich wissen, warum wir Ihren Antrag ablehnen. ({3}) - Das fällt mir nicht schwer zu sagen. Ein Punkt stört mich wirklich. Ich finde, dass das Ehegattensplitting - auch wenn diese Phasen nicht ein ganzes Leben lang oder 15 Jahre dauern, sondern vielleicht nur 2 oder 3 Jahre - die angemessene steuerliche Behandlung darstellt. Wer in dieser Zeit Alleinverdiener ist, während der Partner mit den Kindern zu Hause ist, darf steuerlich nicht so veranlagt werden, als hätte er das Geld für sich alleine. Es muss vielmehr steuerlich anerkannt werden, dass er sein Geld mit dem anderen Partner teilt. Mich hat nie das Argument überzeugt, dass das Ehegattensplitting der große Hemmschuh bei dem Wiedereinstieg in den Beruf sein soll. ({4}) Wenn wir ordentliche Stellen und eine ordentliche Betreuung haben, dann ist für den Wiedereinstieg das Splitting kein Hemmschuh. Denn das zusätzliche Einkommen wird immer den größeren Effekt haben als der Vorteil durch das Splitting. ({5}) - Nein, die Einkommensunterschiede werden nicht honoriert, sondern im Steuerrecht wird nur der Nachteil ausgeglichen, ({6}) sodass man sich nicht schlechter steht als das Paar, das gleiche Einkommen hat. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Sie sehen auf die Uhr, Frau Kollegin?

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Ich wünsche mir, dass wir noch viele Equal Pay Days im Schnee feiern, aber dass das nicht an einem außergewöhnlich kalten März liegt, sondern daran, dass wir demnächst den Equal Pay Day im Januar, am liebsten an Neujahr, feiern können. Danke schön. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der SPD unsere Kollegin Elke Ferner. Bitte schön, Frau Kollegin Elke Ferner. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss wirklich sagen: Die Debattenbeiträge der schwarzgelben Koalition zeigen - so kommt es mir vor -, dass Sie nach dem Motto verfahren: Ich habe zwar keine Lösung, aber ich bewundere das Problem. ({0}) Nach der rechtlichen Situation - das wissen wir ganz klar - ist die Entgeltdiskriminierung bereits verboten. Dazu braucht man eigentlich kein neues Gesetz. ({1}) Das Härteste an Forderungen in Ihrem Antrag ist - ich will das hier allen zur Kenntnis geben -, dass die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel sich weiterhin für die Überwindung der Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern einsetzen und Benachteiligungen von Frauen in Wirtschaft und Arbeitswelt beseitigen soll. Das ist ein Appell. Aber wir leben in einem Rechtsstaat und nicht in einer Bananenrepublik. Eine Regierung muss geltendes Recht durchsetzen. Ein Parlament muss, wenn das Recht nicht ausreicht, neues Recht schaffen und dafür sorgen, dass dieses durchgesetzt wird. ({2}) Aber das sehen Sie anders. Die ganzen Analysen, die Sie hier zu Markte tragen, zielen auf eines ab, nämlich zu beweisen, dass die Frauen im Prinzip selber daran schuld sind. Warum haben wir ein Recht ohne Praxis? Das Recht ohne Praxis haben wir deshalb, weil jede einzelne Frau ihren Arbeitgeber auf Zahlung gleichen Lohns verklagen muss. Jetzt braucht man keine Prophetin zu sein, um vorauszusagen, wer so etwas macht. Das machen keine Frauen, die ihren Job behalten wollen, sondern das machen vielleicht die, die sich mit dem Gedanken an eine Kündigung tragen oder schon gekündigt haben. Genau das ist das Problem. Die Kollegin, die am Arbeitsplatz nebenan arbeitet, muss ihr Recht ebenfalls individuell einklagen. Deshalb ist klar: Das geltende Recht führt nicht zum Ziel der Entgeltgleichheit. Deshalb muss man etwas ändern. ({3}) Sie haben gesagt, die Ursachen seien Teilzeitarbeit, die Auszeiten wegen der Familie oder eine geringere Tarifbindung in den kleineren Betrieben, in denen Frauen überwiegend beschäftigt seien. Das ist alles richtig, aber nicht nur Frauen mit Kindern und Auszeiten haben weniger Einkommen als ihre männlichen Kollegen. Auch Frauen ohne Kinder und ohne Auszeit verdienen im Durchschnitt weniger als ihre männlichen Kollegen. Also sind die Gründe für die Ungleichbezahlung nicht allein diejenigen, die Sie nennen. Ich sage Ihnen: Die Regierung und die Regierungskoalition sind dazu da, Problemlösungen zu finden, und nicht, Problemanalysen zu betreiben. Sie bleiben immer bei den Problemanalysen stehen. Dafür brauchen wir Sie aber nicht. Die Probleme analysieren können wir selber. ({4}) Wenn das, was Sie als Gründe für die Ungleichbezahlung anführen, die tatsächlichen Gründe wären, dann sollte man da ansetzen. Aber was machen Sie? Sie machen im Prinzip genau das Gegenteil: Sie verstärken das, was Sie für ebendiese Gründe halten. Sie haben beschlossen, das Betreuungsgeld einzuführen. Dadurch werden die Auszeiten der Frauen nicht verkürzt, sondern verlängert. Sie haben mit Ihrer Mehrheit beschlossen, die Verdienstgrenze für die Minijobs auf 450 Euro zu erhöhen. Das verringert nicht die Entgeltungleichheit, sondern vergrößert sie. Sie haben verbal immer wieder beteuert, dass Sie für Berufsrückkehrer gerne einen Rechtsanspruch auf die alte Arbeitszeit wollen. Aber wo ist denn das entsprechende Gesetz, Frau von der Leyen und Frau Schröder? Sie sind doch an der Regierung. Legen Sie hier doch einen Gesetzentwurf vor. Dann können wir ihn einstimmig im Deutschen Bundestag verabschieden. Nein, Sie machen nichts, auch nicht beim Steuerrecht. Stattdessen kommen Sie mit den absurdesten Argumenten, wenn es darum geht, das Ehegattensplitting, das wirklich von vorvorgestern ist, zu verteidigen. Frau Schön, schönreden und schönrechnen helfen nicht weiter. Sie sind da ganz auf der Linie Ihres Landesverbandes: Links blinken, wenn es um das Reden geht, aber rechts abbiegen, wenn es um das konkrete Handeln geht. ({5}) Was wir brauchen, ist mehr Transparenz. Österreich hat beispielsweise ein Transparenzgesetz. Wir brauchen Entgeltberichte. Wir brauchen vor allen Dingen ein Messverfahren, das wirkt. Was ich nun wirklich nicht verstehen kann, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Union: Sie beschreiben in Ihrem Antrag das Lohntestverfahren Logib-D und bezeichnen gleichzeitig die Auszeiten als das Hauptproblem. Ist Ihnen nicht klar, dass dieses Messverfahren an der Person und auch an den Auszeiten ansetzt und damit eine Entgeltdiskriminierung auch noch rechtfertigt? Gleicher Lohn muss für gleiche Arbeit und nicht für die gleiche Anzahl an Berufsjahren gezahlt werden. Letzter Punkt. Wir brauchen ein Gesetz zur Herstellung der Entgeltgleichheit, weil die jetzigen gesetzlichen Regelungen nicht funktionieren. Wir brauchen ein Gesetz, mit dem auch diejenigen, die die typischen Frauenberufe ausüben, mehr Respekt und auch eine bessere Bezahlung erhalten. Wer das ändern will, der muss Schwarz-Gelb abwählen und muss dafür sorgen, dass wir eine rot-grüne Mehrheit bekommen. ({6}) Dann können wir ein vernünftiges Gesetz machen. So können wir zur Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit kommen. Schönen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollegin Elke Ferner. - Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Miriam Gruß. Bitte schön, Frau Kollegin Gruß. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Ferner, wer hat denn elf Jahre in Deutschland regiert? Wo war denn in Ihrer Regierungszeit, Herr Steinmeier, ein Entgeltgleichheitsgesetz? Das muss man an dieser Stelle einmal fragen. ({0}) - Da Sie jetzt dazwischenrufen, darf ich einmal nachfragen: Wer waren die Ersten, die das Betreuungsgeld mit beschlossen haben? Das waren ja wohl Sie von der SPD. ({1}) - Ja, selbstverständlich. ({2}) Wahrheiten müssen hier genannt werden. Kommen wir zum Thema. Es ist unbestritten: Ja, es bestehen immer noch Unterschiede in der Bezahlung von Frauen und Männern. Wir alle hier sind uns doch einig, dass dies ungerecht ist. Die Fakten sind genannt; aber man muss in der Diskussion auch korrekt bleiben. Es bringt nämlich gar nichts, einen 30-jährigen IT-Spezialisten mit einer gleichaltrigen Erzieherin zu vergleichen. Vielmehr müssen wir die Bruttostundenlöhne in den gleichen Jobs anschauen. Dann wird deutlich, dass es hier nicht um 22 Prozent Lohnungleichheit geht, sondern um etwa 10 Prozent. Das ist immer noch genug, aber deutlich weniger, als die ganze Zeit behauptet worden ist. Lassen Sie uns die Polemik einmal beiseiteschieben und uns um die tatsächlichen Probleme kümmern, nämlich um die Ursachen der Lohnungleichheit. Prinzipiell gilt: Wenn es um die Lohnfindung geht, haben wir in Deutschland ein sehr gut funktionierendes Tarifsystem, das sich bewährt hat. ({3}) Hier sind doch vor allem die Tarifpartner gefordert. Sie legen die Löhne fest. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Es geht in der Lohnfindung nämlich nicht nur darum, Lohnerhöhungen zu beschließen, sondern auch darum, Löhne gerecht auszutarieren. Wann erlebt man es beispielsweise einmal, dass Lohngruppen, in denen insbesondere Frauen zu finden sind, bei den Verhandlungen in den Mittelpunkt gestellt werden, meine Damen und Herren? ({4}) Die Unternehmen haben ihrerseits erkannt, dass sie in der Arbeitswelt der Gegenwart und Zukunft gut ausgebildete Frauen brauchen. Vor Ort werden Lösungen gesucht und gefunden, um Arbeit und Familie besser vereinbaren zu können. Diesen Prozess unterstützen wir politisch. ({5}) Mit den Programmen „Erfolgsfaktor Familie“, „audit berufundfamilie“ und „Betrieblich unterstützte Kinderbetreuung“ sprechen wir gezielt Unternehmen an. Denn in den Unternehmen geht es darum, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern - nicht hier im Bundestag. Da Sie gestern am Brandenburger Tor auf der DGBVeranstaltung groß getönt haben, möchte ich noch sagen: Auch die Gewerkschaften sind gefordert, meine Damen und Herren von der SPD und von den Linken. ({6}) Die Vertreter der Arbeitnehmer müssen nämlich bei den Tarifverhandlungen noch stärker typische Frauenberufe in den Mittelpunkt stellen. Davon habe ich in der Vergangenheit wenig gesehen. Bisher galt doch eher: Männer werden hoch anerkannt und gut bezahlt, wenn sie harte körperliche Arbeit verrichten, wie etwa im Straßenbau, als Drucker oder bei der Müllabfuhr. Bei Frauen, beispielsweise in der Altenpflege, ist das hingegen immer noch nicht der Fall. Von politischer Seite unterstützen wir den Prozess der Gleichstellung so früh wie möglich - und früh muss man ansetzen -, beispielsweise in der frühkindlichen Bildung. ({7}) Hier gilt es, Rollenbilder aufzubrechen und Jungen und Mädchen nach ihren Talenten zu fördern, nicht nach ihrem Geschlecht. Stereotypen muss endlich entgegengewirkt werden. Deshalb führen wir Mädchen und junge Frauen schon früh an neue Berufsfelder und Interessengebiete heran, beispielsweise mit „Komm, mach MINT.“ oder dem „Girls‘ und Boys‘ Day“. ({8}) In der Familienphase unterbrechen Frauen wegen familiärer Verpflichtungen immer noch deutlich häufiger ihre Berufslaufbahn als Männer. Auch deshalb ist es richtig, dass die Fraktionen von Schwarz-Gelb und die Bundesregierung endlich auch einmal den Fokus auf die Männer gerichtet haben. Es ist richtig, dass wir eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik eingeführt haben. Das lasse ich mir von Ihnen nicht schlechtreden, schon gar nicht von Ihnen von der Linken. ({9}) Es ist richtig, endlich dafür zu werben, dass mehr Männer in Erzieherberufe kommen, und Stereotype aufzubrechen. Aber das, was Sie hier vertreten, ist Politik von vorgestern, meine Damen und Herren von der Opposition. ({10}) Wir haben den Ausbau der Betreuungsplätze so stark vorangetrieben wie keine Bundesregierung zuvor. Vor allem gute und flexible Betreuungsmöglichkeiten sind ein Schlüssel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, genauso wie die eigenständige Jungen- und Männerpolitik, die ich bereits angesprochen habe. Nicht zuletzt müssen wir weiter Anreize setzen, damit es sich für Mütter und Ehefrauen lohnt, arbeiten zu gehen. Die Abschaffung der Steuerklasse V nehmen wir als FDP in unser nächstes Wahlprogramm auf. Dafür werden wir uns einsetzen. Es gilt zudem, staatliche Leistungen, die der Rückkehr in das Berufsleben im Wege stehen, zu überdenken. Ich freue mich deshalb auch auf eine Neuorientierung der ehe- und familienpolitischen Leistungen im Rahmen der Gesamtevaluation, die auch unter diesem Aspekt in Angriff genommen werden muss. Um die Situation für Frauen in der Arbeitswelt zu verbessern, bedarf es also der Unterstützung von Wirtschaft, Gewerkschaften, Gesellschaft und Politik. Es gibt viel zu tun. Alle Akteure sind gefordert, meine Damen und Herren. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Gruß. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist unsere Kollegin Frau Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Ploetz. ({0})

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer dann, wenn ein Mann 1 Euro verdient, bekommt eine Frau nur 78 Cent. Frauen mussten bis zu diesem verschneiten Frühlingsanfang arbeiten, um das zu haben, was Männer bereits an Silvester bekommen haben. Ich glaube, wir alle sind uns einig: Fair und gerecht sieht anders aus. Leider habe ich in der gesamten Debatte von den Regierungsfraktionen keine nennenswerten Vorschläge dazu gehört, wie man dies beheben könnte. ({0}) Nur zwei kleine Beispiele: Nach drei Jahren Ausbildung verdienen Frauen 1 071 Euro netto - Männer haben 500 Euro mehr. Arbeiten Frauen in Vollzeit - und das kommt ja viel zu selten vor, wie wir wissen -, haben sie 2 312 Euro brutto - Männer haben 600 Euro mehr. Wenn ich mir diese Zahlen so anschaue, dann frage ich mich ernsthaft, was denn los wäre, wenn es plötzlich öfYvonne Ploetz fentliche Verdienstlisten gäbe, wie das in Norwegen der Fall ist, wenn Frauen schwarz auf weiß einsehen könnten, wie viel weniger sie - völlig zu Unrecht - verdienen. Lohntransparenz sollte in der gesamten Debatte kein Tabuthema mehr sein. ({1}) Ich glaube, besondere Wirkung würde Lohntransparenz in Verbindung mit dem Verbandsklagerecht erhalten. Wir als Linksfraktion haben das gestern im Bundestag beantragt. Wir wissen doch alle: Eine Frau allein traut sich kaum, Verbesserungen für sich einzuklagen. Aber viele Frauen, gemeinsam mit den Verbänden, wären nicht mehr aufzuhalten. Ich glaube, dann würden auch Sie von der Regierung sich bewegen. ({2}) Meine Damen und Herren, der diesjährige Equal Pay Day stand unter dem Motto „Viel Dienst - wenig Verdienst“; es geht also um Frauen in Gesundheitsberufen. Ich finde es wirklich besonders schäbig, dass genau diese Branche beispielhaft für das gesamte Dilemma der Frauen am Arbeitsmarkt steht. Nicht nur, dass diese Frauen rund ein Viertel weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen: Es ist auch so, dass die Gesundheitsbranche zu den Branchen mit den meisten Frauen im Niedriglohnsektor gehört. Dankenswerterweise hat mir die Bundesagentur für Arbeit gestern die neuen Zahlen zu Minijobs in Gesundheitsberufen zur Verfügung gestellt. Im Vergleich zum Jahr 2000 hat sich hier die Zahl der Frauen in Minijobs auf 5 Millionen fast verdoppelt. Besonders betroffen sind Altenpflegerinnen; hier gibt es eine Steigerung um 73 Prozent. Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen wirklich nicht mehr erklären, was Minijobs für Frauen bedeuten. Sie sind eine Sackgasse und müssen unbedingt eingedämmt werden; sie müssen vom ersten Euro an in sozialversicherungspflichtige Jobs umgewandelt werden. ({3}) Sicherlich haben Sie alle am Montag die Studie des Familienministeriums zur Kenntnis genommen, in der ganz klar gesagt wird: Minijobs sind - ich zitiere - „ein Programm zur Erzeugung lebenslanger ökonomischer Ohnmacht und Abhängigkeit von Frauen“. Gerade einmal 14 Prozent aller Frauen schaffen den Absprung aus einem Minijob in eine Vollzeitstelle. Alle anderen kommen aus diesem Teufelskreis von Dumpinglöhnen heute und Armutsrenten morgen nicht mehr heraus. Nicht nur, dass Sie dem einfach so zusehen; nein, Sie weiten das auch noch aus. Ich kann Ihnen wirklich nur sagen: Wenn schon Ihr Gewissen Sie nicht einholt, werden Sie irgendwann, hoffe ich, von den Wählerinnen die Quittung dafür bekommen. ({4}) Hinzu kommt, dass für die Frauen in Gesundheitsberufen die Arbeitsbedingungen fast unerträglich sind. Es herrscht ganz starker Leistungsdruck und Termindruck. Die Arbeitsabläufe sind ganz streng getaktet. Diese Frauen - ich zitiere den Stressreport 2012 - „arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit“. Das ist der reinste Raubbau an der pflegenden Frau und ist in keinster Weise zu akzeptieren. ({5}) Was wir brauchen, liegt auf der Hand. Wir brauchen armutsfeste Renten, Mindestlöhne, das Verbot von Leiharbeit in so sensiblen Branchen, eine Humanisierung der Arbeitsabläufe, das heißt eine gute Personalausstattung, und familienfreundliche Arbeitszeiten. Natürlich brauchen wir Entgeltgleichheit per Gesetz. Doch das allein reicht noch nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es mehr wert ist, 2 Zentner Zement am Bau zu heben, als einen kranken Menschen aus dem Bett zu heben. Es muss bei uns wirklich ein Umdenken stattfinden. Der Dienst am Menschen, Kindererziehung, Pflege, Gesundheit, all das ist viel mehr wert. ({6}) Wenn Frau Schröder sagt - ich zitiere aus einem Beitrag auf der Equal-Pay-Day-Homepage -: „Die schlechte Bezahlung in frauendominierten Berufen, und dazu gehören Gesundheitsberufe, ist eine wesentliche Ursache für den bestehenden statistischen Entgeltunterschied“, dann stimmt ihr jeder zu; das ist doch ganz selbstverständlich. Nur kaufen kann sich dafür keine Frau etwas. Sie, Frau Schröder, sind in der Verantwortung, hier etwas zu ändern. Sie müssen etwas ändern. Herzlichen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Ploetz. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön, Frau Kollegin Müller-Gemmeke.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin immer wieder verwundert und erstaunt über die Diskussion zum Equal Pay Day hier im Bundestag. Sie von den Regierungsfraktionen singen in Ihrem Antrag und auch in der Debatte hier ein Loblied auf die - vermeintlich - gute Familienpolitik der Bundesregierung. Sie führen eine Diskussion über die Gleichstellung von Frauen in der Arbeitswelt. Da geht es um Beschäftigungsdiskriminierung. Dieses Thema ist wichtig. Heute gehen Sie damit aber schlicht am eigentlichen Thema vorbei; denn heute geht es um Entgeltgleichheit, also um den Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. Ich frage mich wirklich, ob Sie tatsächlich verstehen, warum all die Frauen und Männer gestern am Brandenburger Tor demonstriert haben. ({0}) Das Gleiche passierte unlängst bei der Anhörung. Auch dort haben wir phasenweise zwei Diskussionen parallel geführt. Den Regierungsfraktionen ging es um die Erwerbsbeteiligung von Frauen, um Teilzeit, um Minijobs und darum, ob Frauen einfach zu wenig Lohn fordern und sich nicht durchsetzen können. Das war alles recht amüsant. Das Problem war nur, dass diese Diskussionen mit dem Gesetzentwurf der SPD und dem Antrag von uns Grünen so gar nichts zu tun hatten. ({1}) Es wurde auch gerätselt, wie die Frauen dazu bewegt werden könnten, MINT-Studiengänge zu belegen. Auch heute haben Sie, Frau Bracht-Bendt, dieses Thema wieder angesprochen. Natürlich verdienen Physikerinnen mehr als Pflegekräfte. Darum geht es aber nicht. Der Skandal ist doch vielmehr, dass die Physikerin weniger verdient als ihr männlicher Kollege, ({2}) und die Pflege schlechter bezahlt wird als andere gleichwertige Tätigkeiten. Genau deswegen wollen wir eine gesetzliche Regelung gegen Entgeltdiskriminierung; denn es muss endlich Schluss sein, dass es Arbeit von Frauen zum Schnäppchenpreis gibt. ({3}) Aber ich möchte nicht unfair sein: Bei der Anhörung und auch in der heutigen Debatte geht es auch um zwei Aspekte, die sich tatsächlich mit den Anträgen auseinandersetzen. So wird ein Entgeltgleichheitsgesetz immer wieder als Angriff auf die Tarifautonomie bezeichnet. Das hieße, dass die Tarifparteien Frauen unbehelligt diskriminieren dürfen, als wären sie nicht an das Grundgesetz gebunden. Ein Gesetz zur Durchsetzung von Entgeltgleichheit regelt lediglich, dass die Löhne auf Entgeltdiskriminierung überprüft werden müssen. Wie Entgeltgleichheit hergestellt wird, ist natürlich Sache der Tarifpartner. Und deshalb sind gesetzliche Regelungen in keinster Weise ein Angriff auf die Tarifautonomie. ({4}) Dann wird immer noch das Argument Bürokratie genannt. Frau Schön hat es angesprochen. Das Recht auf Entgeltgleichheit ist im Grundgesetz verankert. Allein schon das Abwägen zwischen Grundrecht und bürokratischem Aufwand ist für mich nicht akzeptabel. Ein Grundrecht hat für uns selbstverständlich höchste Priorität. Alles andere geht gar nicht. Sehr geehrte Regierungsfraktionen: Die schlechte Bezahlung in frauendominierten Berufen, und dazu gehören Gesundheitsberufe, ist eine wesentliche Ursache für den bestehenden statistischen Entgeltunterschied. Das sage nicht ich, sondern Ministerin Schröder. Dieser Satz steht auch auf der offiziellen Internetseite des Equal Pay Day. Mir scheint, dass die Ministerin wohl nicht gemerkt hat, was ihr in den Text geschrieben wurde. Denn genau darum geht es, warum wir gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit fordern. Aber die Durchsetzung funktioniert nicht mit Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung. Notwendig sind gesetzliche Regelungen; denn Frauen verdienen mehr. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte schön, Kollege Lehrieder. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was haben Estland, die Tschechische Republik, Österreich und Deutschland neben der EU-Mitgliedschaft gemeinsam? Sie alle bilden im europäischen Vergleich das Schlusslicht im Gender Pay Gap, dem prozentualen Unterschied im durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Männern und Frauen. Der Durchschnitt der Europäischen Union liegt bei 16 Prozent. In Deutschland - die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen - liegen wir mit 22 Prozent deutlich darüber. Diese Zahl ist im Verlauf dieser Debatte bereits mehrfach genannt worden. Nur zum Vergleich: Das Land mit den europaweit geringsten Unterschieden im Bruttostundenverdienst von Frauen und Männern war im vorletzten Jahr Slowenien mit 2 Prozent. Auch unser Nachbarland Polen mit 5 Prozent und Italien mit 6 Prozent verzeichneten eher moderate Gehaltsunterschiede. Dabei gebietet es die Ehrlichkeit, darauf hinzuweisen, dass gerade in Italien sehr viele Frauen nach der Babyphase nicht mehr ins Berufsleben einsteigen und als Gehaltsempfängerinnen überhaupt nicht auftauchen. Die Statistik muss hier fairerweise differenziert betrachtet werden. ({0}) - Ich rechtfertige hier gar nichts, Frau Ferner. Stellen Sie mir eine Frage, dann kann ich länger reden. ({1}) In den letzten Tagen erreichten mein Büro anlässlich des gestrigen Equal Pay Day zahlreiche Pressemitteilungen und Gesprächseinladungen. Bundesweit fanden in diesem Rahmen zahlreiche Aktionen statt. So machten zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Pflege am Bundestag mit einer Tanzaktion auf ihre Situation aufmerksam und sangen: „We work hard for the money“. In der Altenpflege sind 80 Prozent des Personals, wie Sie wissen, weiblich. Auch in meinem Wahlkreis Würzburg war ein Bündnis zum Equal Pay Day mit einem Informationsstand am Sternplatz vertreten, um die bestehenden Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern anzuprangern und somit zur Bewusstseinsbildung beizutragen. In diesem Jahr standen die bundesweiten Aktionen unter dem Motto: „Lohnfindung im Gesundheitswesen - viel Dienst, wenig Verdienst“. Frau Kollegin Müller-Gemmeke hat bereits darauf hingewiesen: Es geht um die schlechte Bezahlung in frauendominierten Berufen. ({2}) Eine Entgeltlücke ist selbst bei Führungspositionen zu finden. Zwar ist die Gehaltslücke zwischen weiblichen und männlichen Führungskräften in den letzten Jahren etwas kleiner geworden; dennoch werden Frauen in Führungspositionen schlechter bezahlt als ihre männlichen Pendants. Erlauben Sie mir, mit einigen Sätzen auf die Vorredner einzugehen. Frau Kollegin Göring-Eckardt hat ausgeführt, es hätte schon längst etwas getan werden können. Es ist durchaus berechtigt, zu fragen: Was haben Sie in der rot-grünen Regierungszeit für die Minderung des Gender Pay Gaps, der ungleichen Bezahlung, getan? ({3}) Was haben Sie, Frau Ferner, gemacht? Was hat Rot-Grün in seiner Regierungszeit erreicht? Nichts. Wenn es so einfach wäre, dieses Problem zu lösen, dann hätte RotGrün es tun können. Deshalb arbeiten wir noch daran. ({4}) Herr Kollege Steinmeier, Sie haben auf die Weimarer Republik hingewiesen und ausgeführt, dass die Ungleichheit schon vor 80 oder 90 Jahren ein Thema war. Ein berühmter Vertreter Ihrer Partei, der SPD, war am Equal Pay Day auch am Brandenburger Tor - das habe ich heute der Presse entnommen -: Herr Kollege Steinbrück. ({5}) - Herr Gabriel war auch da; ich hoffe, Sie alle waren da. ({6}) Herr Kollege Steinbrück hat sich zu Wort gemeldet und wird folgendermaßen zitiert - mit Erlaubnis des Präsidenten darf ich das im O-Ton zitieren -: Wenn es nach mir und der SPD geht, ist nächstes Jahr diese Veranstaltung nicht mehr notwendig. ({7}) Da dachte ich: Boah! - Die Medien schrieben: „Steinbrück zeigt Flagge für Frauen.“ Ich habe mir dann Ihren Antrag angeschaut, Frau Ferner. Im Antrag steht - ({8}) Im Gesetzentwurf steht in § 18: Beginn des ersten Prüfzeitraumes ({9}) Die Verpflichtung zur Erstellung und Übermittlung eines betrieblichen Prüfungsberichtes besteht bei Unternehmen … mit mehr als 1 000 Beschäftigten bis zum letzten Tag des 24. Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes … für die übrigen Betriebe bis zum letzten Tag des 60. Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes. Das heißt, dieser Mann will das Problem innerhalb eines halben Jahres lösen, das Sie nach einer Evaluation gemäß Ihrem Gesetzentwurf erst nach zwei bis fünf Jahren umsetzen können. Da ist natürlich die Vollmundigkeit, das Wahlkampfgetöse des Kandidaten Peer Steinbrück mit Händen zu greifen. ({10}) Frau Göring-Eckardt, Sie haben ausgeführt, wir förderten das falsche Familienmodell. Darf ich Sie als Bundestagsvizepräsidentin fragen: Woher nehmen Sie den Mut, zu entscheiden, welche Familie welches Modell zu leben hat? ({11}) Wir schreiben das nicht vor, Frau Göring-Eckardt. Sie haben ausgeführt, das Betreuungsgeld sei sinnlos; viele Vorredner von der Opposition haben dieses Thema strapaziert. Ich will es der Vollständigkeit halber für das Protokoll wiederholen: Das Betreuungsgeld hindert keine Frau daran, nach der Geburt eines Kindes berufstätig zu werden. Zum Mitschreiben, Frau Ferner: Das Betreuungsgeld hindert keine Frau, in den Beruf einzusteigen. ({12}) Meine Damen und Herren, Frau Göring-Eckardt hat von der schlechten Bezahlung in den sozialen Berufen gesprochen. Ich bin gespannt, was die Pressemitteilungen der EKD in den nächsten Tagen und Wochen dazu verlautbaren, wie viel mehr eine Altenpflegerin und eine Kindergärtnerin in Zukunft verdienen wird. ({13}) Ich freue mich und bin sehr gespannt darauf, wie optimistisch die Meldungen der EKD in Zukunft ausfallen. ({14}) - Hier hat jemand eine Frage, Herr Präsident.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Lehrieder, dass Sie auch hier mitwirken. ({0}) Frau Kollegin, Sie haben das Recht zu einer Zwischenfrage.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann sollten Sie die Uhr anhalten.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das ist schon erfolgt. - Bitte schön.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie kommen doch aus Bayern. Ich habe eine Frage: Ist es richtig, dass Frau Haderthauer denjenigen, die im Hinblick auf das Betreuungsgeld gegebenenfalls antragsberechtigt sind, bereits vorausgefüllte Anträge zuschicken will? Wie verträgt sich das mit der Einlassung, die Sie gerade gemacht haben? ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Welche Anträge? Sie müssen das schon präzisieren: Was steht in den Anträgen? ({0}) Ich kenne diese Anträge nicht; aber ich kann sie mir gern zuleiten lassen. ({1}) Geht es um einen Antrag, der die Frauen in Bayern daran hindert, berufstätig zu sein? Mit Verlaub, man kann hier natürlich Volksgruppen diskreditieren. Aber wenn Sie uns Bayern für so rückständig halten, muss ich sagen: Wir sind es nicht; wir tun das nicht; wir lassen die Frauen arbeiten, auch wenn die häusliche Betreuung der Kinder - ({2}) - Frau Ferner, wir schreiben kein Familienmodell vor. Wir haben durchaus Respekt vor der Lebensentscheidung der Familien, Respekt vor der Entscheidung der Frau, entweder zu Hause zu bleiben oder berufstätig zu sein.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

War das jetzt die Beantwortung der Frage?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gut, dann lasse ich die Uhr weiterlaufen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entgeltgleichheit gehört zu den ältesten Forderungen der Frauenbewegung. Der Grundsatz der gleichen Bezahlung ist in der EU schon lange verankert: bereits seit 1957 in Art. 141 des EG-Vertrages. ({0}) Dies wird auch in Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzes definiert. Das heißt im Klartext: Dieser Grundsatz hat bereits Verfassungsrang. Von meinen Vorrednern wurde konzediert: Wir brauchen kein Gesetz, weil wir das verfassungsrechtlich schon normiert haben. ({1}) Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, ist ein bürokratisches Monstrum. Dieses Gesetz wird nicht handhabbar sein, es wird nicht funktionieren. Deshalb werden wir es - das wird Sie nicht überraschen - ablehnen. Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Im Dezember 2012 wurde eine dreijährige Forschungsphase „Tarifverhandlungen und Equal Pay“ gestartet. In Zusammenarbeit mit den Tarifpartnern und der Forschung sollen mögliche Ansatzpunkte für den Abbau der verbleibenden Lohnunterschiede im Rahmen kollektiver Lohnverhandlungen identifiziert werden. Das Projekt richtet sich vorrangig an die Tarifpartner. Ziel ist, dass das Thema Entgeltgleichheit künftig in den Tarifverhandlungen eine größere Rolle spielt. Lassen Sie mich auf die Rede von Frau Kollegin Golze zurückkommen. Sie hat es nicht lassen können, das Thema Mindestlohn als Allheilmittel in diese Debatte einzubringen. ({2}) Liebe Frau Kollegin Golze, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass die Sachverständigenanhörung ergeben hat: Insbesondere im Bereich der höheren Bezahlung geht der Gender Pay Gap auseinander. Der Lohnunterschied ist in den ungelernten Berufen mit 5 Prozent noch am geringsten. ({3}) Bei Angelernten beträgt er 14 Prozent, bei Fachangestellten 11 Prozent, bei herausgehobenen Arbeitnehmern 15 Prozent und bei Arbeitnehmerinnen in leitender Stellung immerhin 24 Prozent. ({4}) Das heißt, ein Mindestlohn wird das Problem der unterschiedlichen Bezahlung von Frauen und Männern leider nicht lösen. ({5}) Wir setzen neben dem Betreuungsgeld auf den verstärkten Ausbau von Betreuungseinrichtungen, Frau Ferner. Wir haben in diesem Jahr zusätzlich 580,5 Millionen Euro ausgegeben, weil viele, insbesondere sozialdemokratisch dominierte Regionen, in den letzten Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Das ist wirksam. Im Übrigen haben wir im letzten Jahr in der Bundesrepublik mit 71 Prozent die höchste Frauenerwerbsquote aller Zeiten erzielt, ({6}) und das auch ohne Ihre kritische Begleitung, liebe Frau Kollegin Ferner. Wir werden auf diesem Weg weitermachen; denn damit helfen wir den Frauen und den Familien. ({7}) Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihr geduldiges Warten. Danke schön. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Paul Lehrieder. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Christel Humme. Bitte schön, Frau Kollegin Christel Humme. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Schön - - Natürlich erst einmal: Herr Präsident! - Entschuldigung.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

So viel Zeit muss sein - vielen Dank. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Schön und Herr Lehrieder, es bleibt dabei: Im 21. Jahrhundert angelangt, und immer noch ist die Arbeit der Frauen weniger wert als die Arbeit der Männer. Da müssen wir etwas tun. Wir haben heute die Chance, diese Ungerechtigkeit endlich zu beenden. Stimmen Sie daher unserem Gesetzentwurf zu! ({0}) Herr Lehrieder, Herr Steinbrück hat recht: Wir möchten gerne, dass der Equal Pay Day endlich überflüssig wird. ({1}) In Ihrem Antrag lese ich: Sie wollen, dass der Equal Pay Day weiterhin vom Ministerium finanziell gefördert wird. Das signalisiert mir doch: Sie trauen Ihrer eigenen Politik nicht über den Weg. Sie rechnen offensichtlich nicht damit, dass Ihre Politik die Lohnlücke schließt. Ihr Antrag ist meiner Ansicht nach eine echte Offenbarung. ({2}) Wir von der SPD stellen uns an die Seite der Frauen. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ tatsächlich durchsetzen. Das geht unserer Auffassung nach nur mit einer Verpflichtung, nur mit einem Gesetz. Appelle und Freiwilligkeit haben den Frauen bisher nicht geholfen und werden das auch in Zukunft nicht tun. ({3}) Frau Bracht-Bendt, Sie haben recht: Es gibt schon viele Gesetze. Ich will sie noch einmal nennen: das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz, seit 60 Jahren das Grundgesetz. In allen wird - auch das ist richtig - die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und damit auch gleiche Entlohnung gefordert. Aber kein Gesetz wirkt. Warum? Um gleichen Lohn herzustellen, bedarf es einer wichtigen Voraussetzung: Wir müssen wissen, wie der Betrieb insgesamt entlohnt, damit wir die Situation überhaupt verbessern können. Das heißt, wir brauchen Transparenz. ({4}) Nichts ist in Deutschland ein besser gehütetes Geheimnis - das wissen wir doch alle - als das Gehalt der Kollegin und vor allem das des Kollegen. Es ist klar, dass es damit einfach ist, ungleich zu bezahlen. Unser Gesetz das ist wichtig - wird die Transparenz herstellen, die wir brauchen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. ({5}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die bestehenden Gesetze funktionieren auch deshalb nicht, weil diese Gesetze überhaupt kein Verfahren vorsehen, das gleichen Lohn für gleiche Arbeit schafft und Diskriminierung beseitigt. Wir wollen die Arbeitgeber verpflichten, gemeinsam mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und, falls vorhanden, mit dem Betriebsrat oder dem Personalrat und den Gleichstellungsbeauftragten ihre Entgeltsys29042 teme eigenständig diskriminierungsfrei zu gestalten. Wir setzen dabei auf ein eigenverantwortliches Handeln, quasi im Schatten des Gesetzes. Für das gesamte Verfahren ist im Gesetz ein angemessener Zeitraum von mehreren Jahren vorgesehen. Eine Gesetzeskeule, wie das Frau Schön immer wieder gerne sagt, sehe ich darin überhaupt nicht. ({6}) Wir brauchen natürlich auch Sanktionen; das ist keine Frage. Denn ohne sie fehlt es an Durchsetzungskraft. Frau Ministerin Schröder - sie ist auch hier - will, soweit wir wissen, ebenfalls eine Prüfung. ({7}) - Sie wollen das auch. - Sie bieten Logib-D zum Download an und hoffen, dass die Arbeitgeber es nicht nur herunterladen, sondern auch nutzen. Insgesamt sollen 200 Unternehmen beraten werden. Das ist ein schönes Vorgehen, allerdings mit großen Webfehlern: Erstens. Alles ist freiwillig und entzieht sich einer Erfolgskontrolle. Zweitens. Das Messverfahren ist überholt. ({8}) Drittens. Die Arbeitgeber entscheiden alleine, ob sie das machen oder nicht. Eine Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist im Gegensatz zu unserem Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Viertens. Sie beraten 200 Unternehmen, und das bei insgesamt 3 Millionen Unternehmen. Was soll das bringen? Das bringt überhaupt nichts, aber es kostet eine ganze Menge. 4,5 Millionen Euro stellen Sie dafür in den Haushalt ein. Lohngleichheit mit Ihnen? Ich sage: Fehlanzeige. ({9}) Frau Bracht-Bendt, ich habe es fast schon geahnt, dass der Vorwurf der Bürokratie erhoben wird. ({10}) Dahinter verstecken Sie sich immer dann gerne, wenn Sie keine gesellschaftspolitischen Veränderungen wollen. ({11}) - Selbstverständlich, Frau Bracht-Bendt. Sobald es um gesellschaftspolitische Veränderungen geht, sagen Sie, das sei zu bürokratisch. ({12}) Verkehrsregeln einhalten, Verbraucher schützen und Lebensmittelskandale verhindern - das alles ist doch nur mit Bürokratie möglich. Und das ist gut so; damit dienen wir doch dem Allgemeinwohl. Warum soll nicht das Gleiche für die Einhaltung der Grundrechte, also für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, gelten? Es kann doch nicht sein, dass Sie Bürokratie nur akzeptieren, wenn es um Ihre Klientel geht, angefangen in dieser Legislaturperiode mit der Hotelsteuer. ({13}) Das Betreuungsgeld ist genauso bürokratisch. Das akzeptieren Sie, aber wenn es um die Gleichstellung von Männern und Frauen und wenn es um Menschenrechte geht, dann kritisieren Sie alles. ({14}) Ich sage Ihnen: Unsere Geduld ist am Ende. Wenn wir das derzeitige Tempo unterstellen - Abbau der Entgeltungleichheit um 1 Prozent in sechs Jahren -, sind es 132 weitere Jahre, bis wir den Equal Pay Day tatsächlich abschaffen können. Es ist Zeit für Taten. Stimmen Sie heute unserem Gesetzentwurf zu! Danke schön. ({15})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank Frau Kollegin Christel Humme. Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU unsere Kollegin Katharina Landgraf. Bitte sehr, Frau Kollegin Landgraf. ({0})

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt ist eine unendliche Geschichte. Darüber reden wir - auch ich - jedes Jahr wieder; leider bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Die Erwerbstätigkeit der Frauen nimmt seit Jahren stetig zu, aber die tatsächliche Gleichstellung der Frauen in der Arbeitswelt ist noch lange nicht erreicht. Denn: Obwohl Frauen heute durchschnittlich höhere und bessere Bildungsabschlüsse als Männer erreichen, sind sie in gut bezahlten Berufen und höheren Entscheidungspositionen immer noch selten zu finden. Einen Lichtblick gibt es allerdings in den neuen Bundesländern. Dort ist die Lohnlücke sehr viel kleiner. Sie beträgt zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern nur 4 Prozent und in Sachsen 9 Prozent, während sie in Baden-Württemberg 27 Prozent beträgt. Dies liegt auch daran, dass die Männer im Osten durchschnittlich weniger verdienen als ihre westdeutschen Kollegen und dass die Frauen im Osten häufiger in Vollzeit arbeiten und seltener in Minijobs. Zudem unterbrechen sie ihre Berufstätigkeit seltener für längere Zeit - denn 50 Prozent aller Zweijährigen gehen bei uns in eine Kinderkrippe -, und es gibt im Osten mehr Frauen, die Führungspositionen innehaben. ({0}) Die SPD betont in ihrem Gesetzentwurf, dass sie die Entgeltgleichheit mit einem Gesetz durchsetzen will. Ich sage hingegen: Der Staat als Handelnder soll sich hier so weit wie möglich zurückhalten. Das verträgt sich aber nicht mit diesem Gesetzentwurf. Denn Sie fordern eine Verpflichtung zur Vorlage von Entgeltberichten, zum Aufbau einer Behördenstruktur und einer Prüfungsinstanz. ({1}) Sie fordern also den Aufbau einer ausladenden Bürokratie. Das widerspricht unseren ordnungspolitischen Prinzipien und unserem Ziel des Bürokratieabbaus. ({2}) Wo bleibt außerdem die Tarifvertragsfreiheit? Wir haben schon eine Rahmengesetzgebung zum Thema Entgeltgleichheit und brauchen kein neues Gesetz. Ich erinnere an die vorhandenen Gesetze, zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Grundgesetz. ({3}) Ich versuche jetzt, nicht das zu wiederholen, was meine Kollegen schon vorgetragen haben. Ich will auch nicht noch einmal die Ursachen nennen; darin stimme ich mit Ihnen überein. Ich möchte bloß wiederholen, dass unser Ministerium schon lange auch bei den Ursachen ansetzt. Ich möchte zu den Aktivitäten nur einen Punkt nennen, den auch Kollege Lehrieder schon angesprochen hat: das Forschungsprojekt „Tarifverhandlungen und Equal Pay“. Zusammen mit den Tarifpartnern und der Forschung werden - darauf setze ich große Hoffnung Maßnahmen für einen Abbau von Lohnunterschieden im Rahmen von Lohnverhandlungen benannt. ({4}) Das Projekt richtet sich vorrangig an die Tarifpartner. Ziel ist es, dass das Thema Entgeltgleichheit künftig in Tarifverhandlungen eine größere Rolle als bisher spielt. ({5}) Im brandfrischen Antrag der Koalition fordern wir die Bundesregierung auf, weitere Maßnahmen zur Überwindung der Entgeltungleichheit zu ergreifen. ({6}) So werden zum Beispiel die Tarifpartner darin unterstützt, die Stellen- und Arbeitsbewertungen zu verändern. ({7}) - Hören Sie gut zu, Frau Ferner. Das ist ein bisschen was anderes als das, was andere gesagt haben. Denn ich finde es wichtig, dass wir nicht nur in Sonntagsreden vom Dienst am Menschen sprechen, ({8}) sondern dass sich das auch im Lohn auswirkt, den diese Menschen bekommen. Ich denke zum Beispiel an unsere Lehrerinnen, Erzieherinnen, Pflegerinnen und all die, die für den Dienst am Menschen bisher noch zu wenig Geld bekommen. ({9}) Das trägt dazu bei, die Auswirkungen auf die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen zu mindern. Einer der wichtigsten Punkte ist aber nach wie vor die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({10}) Trotz eines veränderten Rollenverständnisses von Männern sind es nach wie vor die Frauen, die die Erziehung der Kinder übernehmen. Die Unternehmenskultur ist trotz jahrelanger Bemühungen und auch unserer Appelle in der letzten Zeit nicht freundlicher geworden. ({11}) Die Erwerbstätigenquote von Frauen war im vorigen Jahr zwar mit 71 Prozent auf dem Höchststand. Die Teilzeitquote ist in Deutschland aber leider unverhältnismäßig hoch. Zahlreiche Studien und meine Erfahrungen belegen, dass ein Teil dieser Frauen sehr gerne in Vollzeit arbeiten würde. Dass sie dies trotz oft sehr guter Qualifikation nicht können, liegt häufig an den bisher noch nicht ausreichenden Infrastrukturmaßnahmen für die Betreuung von Kindern, an starren Arbeitszeiten, mangelnder Flexibilität bei dem Wechsel zwischen Vollzeit und Teilzeit oder auch an mangelnden Gestaltungsmöglichkeiten. Nach wie vor ist es die Frau, die zu Hause bleibt, ihre Arbeitszeit reduziert, und das schlägt sich eben auf das Entgelt und die Altersversorgung nieder. Wir fordern weiterhin innovative Arbeitszeitmodelle in Form von Gleitzeit, Teilzeit, Telearbeit usw. Das würde auch den Männern guttun. Das führt zu weniger Fehlzeiten, zu weniger Fluktuation und zu einer höheren Motivation. Wir werben in diesem Zusammenhang in unserem Antrag - gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel - für eine Kultur der Vielfalt innerhalb der Unternehmen und dafür, dass das Potenzial von Berufsrückkehrerinnen besser genutzt wird. ({12}) Die noch vorherrschende Präsenzkultur muss durch eine Effizienzkultur ersetzt werden, bei der es viel weniger auf die Länge der Arbeitszeit als auf die Ergebnisse an29044 kommt. Dazu muss auch die Charta für familienbewusste Arbeitszeiten ausgewertet und weiterentwickelt werden. ({13}) Die Verbesserung der Vereinbarung von Familie und Beruf ist nicht nur ein gleichstellungs- und familienpolitisches Ziel. Es hilft allen. Es stünden dem Arbeitsmarkt nach aktuellen Schätzungen rund 1,2 Millionen qualifizierte Frauen mehr zur Verfügung. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat einen starken Einfluss auf die Erwerbsbeteiligung und trägt somit maßgeblich zur Verringerung der Lohnlücke bei. Ich appelliere daher an die Arbeitgeber und an die Tarifparteien, ({14}) auf die Frauen und deren Möglichkeiten einzugehen, damit uns deren Potenzial nicht verlorengeht, sondern es bestmöglich genutzt wird. ({15}) Vielen Dank. ({16})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin aus der Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist traurig und für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, beschämend, dass wir diese Debatte heute überhaupt führen müssen. ({0}) Sie könnten den unhaltbaren Zustand der unmittelbaren Diskriminierung von 17 Millionen erwerbstätigen Frauen mit Ihrer Regierung sofort ändern. ({1}) In Ihrem Antrag stößt man auf folgende richtige Analyse: Das Grundgesetz verbietet es, Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein geringeres Entgelt zu zahlen als Männern. … Dennoch verharrt seit Jahren der durchschnittliche Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 22 Prozent. Ja, so ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie bringen die Wirklichkeit für 41 Millionen Frauen in Deutschland ganz genau auf den Punkt. ({2}) Was wollen Sie angesichts dieser 64 Jahre währenden Grundgesetzverstöße machen? Schauen wir in Ihren Antrag: Erst einmal freuen Sie sich über 200 von 3 Millionen Unternehmen in Deutschland, die das Instrument Logib-D freiwillig nutzen. Diese Unternehmen können freiwillig gegen Lohnunterschiede vorgehen und damit genau 0,0014 Prozent der Lohnlücke schließen. Sie freuen sich über einen Familiengipfel, auf dem viele warme Worte verloren wurden. Sie freuen sich über 1 000 Unternehmen in Deutschland, die laut Hertie-Stiftung Maßnahmen zur verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf ergriffen haben. Toll! Das entspricht ja immerhin einem Unternehmen von 3 000. ({3}) In Ihrem Antrag schreiben Sie dann im Forderungsteil, dass Sie Werbung machen wollen: für mehr Familienfreundlichkeit, für den verstärkten Einsatz von Tagesmüttern, weil diese so herrlich flexibel sind, für die Erleichterung des Wiedereinstiegs von Frauen nach der Kinderphase, für eine Effizienzkultur statt einer Präsenzkultur in der Arbeitswelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, die Entgeltlücke zwischen Männern und Frauen wird von Feministinnen schon seit über 100 Jahren problematisiert. Sie hält sich in Deutschland trotz großen Problembewusstseins noch viel hartnäckiger als in vielen anderen europäischen Ländern. ({4}) Diese Entgeltlücke wollen Sie als verantwortliche Regierung allen Ernstes mit „Freuen“ und „Werben“ schließen? Realitätsferner geht es ja wohl nicht. ({5}) So sieht Ihr Kampf gegen die Lohndiskriminierung aus: Ihre Ministerin, Kristina Schröder, Mutter des Betreuungsgelds, geht in die Betriebe, freut sich über die Belegplätze der Unternehmen bei einer Tagesmutter, wirbt für das große Potenzial von Berufsrückkehrerinnen und denkt, dass die netten Chefs ihren Arbeitnehmerinnen nachher freiwillig ein Viertel mehr Gehalt zahlen würden. In welcher Welt, so frage ich Sie, leben Sie? ({6}) Wir alle - das war auch unter Rot-Grün so - haben doch schon unsere Erfahrungen mit Freiwilligkeit gemacht - viel zu lange. Nichts hat sich bis heute an der Lohndiskriminierung geändert. Wir wollen endlich Taten sehen. ({7}) Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Würden Sie es hinnehmen, wenn Ihre Bank Monat für Monat widerrechtlich ein Viertel Ihres Gehaltes einbehielte? Würden Sie nach 100 Jahren noch diskutieren und sich freuen, dass Ihr Bankberater Ihren Unmut versteht? Würden Sie dafür werben, Ihnen wenigstens eine Chance zu geben, die ungerechtfertigten Abzüge zu verringern? ({8}) Es geht nicht darum, langsam eine gesellschaftliche Stimmung für Lohngerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu erzeugen. Es ist richtig: Wir müssen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Aber das allein löst das Problem nicht. ({9}) Wir müssen die systematische Diskriminierung beseitigen; ({10}) denn auch Frauen ohne Kinder, die überhaupt kein Problem hinsichtlich der Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf haben, sowie Frauen in typischen Männerberufen werden für gleiche Leistungen schlechter bezahlt als Männer. Alle Frauen in Deutschland sind deshalb betroffen. Sehenden Auges wird gegen unser Grundgesetz verstoßen, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung wird bis ins hohe Alter, bis zum Tod, krass benachteiligt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Skandal. Wir jedenfalls werden es nicht länger hinnehmen, dass die Rechte von Frauen in unserem Land mit Füßen getreten werden. ({11}) Wir wollen deshalb unseren Gesetzentwurf durchsetzen, mit dem wir diese Ungerechtigkeit ein für alle Mal beenden können. Die Gewerkschaften stehen dabei dicht an unserer Seite. Wir zeigen eine wirksame und unbürokratische Lösung auf, wie man Entgeltdiskriminierung unterbinden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, tun Sie endlich einmal etwas Richtiges, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. - Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU unser Kollege Eckhard Pols. Bitte schön, Kollege Pols. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie kennen doch sicherlich alle den Satz: Bei uns ist jeder Tag Frauentag. - So wirbt der Zentralverband des Deutschen Handwerks nicht nur für mehr Frauen im Handwerk, sondern er stellt Frauen und Männer hinsichtlich der Entlohnung gleich. Als Mittelständler und Handwerksmeister möchte ich als letzter Redner zum Thema „Entgeltgleichheit für Männer und Frauen“ einen Blick auf das deutsche Handwerk werfen, um auch einmal einen Praxisbezug herzustellen und aufzuzeigen, wie es funktionieren kann. Das deutsche Handwerk ist in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen sowieso einen Schritt voraus. In den vergangenen Jahren ist der Frauenanteil im Handwerk kontinuierlich gestiegen. Frauen haben in vielen der fast 1 Million Handwerksbetriebe die Hosen - oder besser gesagt: die Schweißerjacke, die Lupenbrille oder die elektrisch ableitfähigen Handschuhe - an; denn Frauen sägen, löten, schweißen, hämmern, schrauben an Autos und decken Dächer. Mehr als ein Viertel der Auszubildenden im Handwerk sind Frauen, mehr als 20 Prozent der Meisterprüfungen werden von Frauen abgelegt, und fast jeder vierte Gründer im Handwerk ist weiblich. Bei diesen Zahlen gibt es sogar eine steigende Tendenz. ({0}) Diese erfreuliche Entwicklung zeigt, dass die freiwillige Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Männern und Frauen, die vor zehn Jahren zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft geschlossen wurde, sehr erfolgreich ist. Frauen haben also längst die klassische Männerdomäne Handwerk erobert. ({1}) Diese Entwicklung muss - umgekehrt - auf die Dienstleistungsbranche, insbesondere auf die Gesundheits- und Pflegeberufe, übertragen werden. In diesen frauendominierten Berufen brauchen wir mehr Männer, um nicht nur dem Fachkräftemangel, sondern auch dem demografischen Wandel entgegenzuwirken. Ziel des Bundesfamilienministeriums ist es daher, die Attraktivität der Gesundheitsbranche zu steigern, ({2}) zum einen durch eine gesellschaftliche und zum anderen vor allem durch eine finanzielle Aufwertung der Gesundheitsberufe. ({3}) Das sind Maßnahmen, um die Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern zu verringern. Mit diesem Thema, nämlich mit der Lohnfindung in den Gesundheitsfachberufen, beschäftigt man sich auch im Rahmen des diesjährigen Equal Pay Day. Ich selbst kann nur schwer nachvollziehen, warum beispielsweise der Umgang mit Maschinen oder mit dem Thema Finanzen im Hinblick auf die Entlohnung eine andere Bewertung erfährt als die hohe psychische und körperliche Belastung im Umgang mit kranken oder hilfsbedürftigen Menschen. Das widerspricht meinem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden. ({4}) Ein gesellschaftliches Umdenken ist hier dringend erforderlich. ({5}) Für das Handwerk gilt: Wo Tarifverträge existieren, fällt die Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern geringer aus, weil die Entgeltpraxis an diesen Stellen transparenter ist. ({6}) Wichtig ist auch, dass man bei der Frage der Entgeltgleichheit nicht Äpfel mit Birnen vergleicht. ({7}) Wenn eine Frau beim gleichen Arbeitgeber die gleiche Arbeit leistet wie ein Mann, dann wird sie auch gleich entlohnt. Das ist im Handwerk gelebte Praxis und wird auch nach Recht und Gesetz verlangt. ({8}) - Hören Sie doch erst einmal zu, Frau Ferner! Dann können Sie dazwischenrufen. ({9}) Es wäre auch ökonomisch unsinnig, Männern bei gleicher Arbeit mehr zu zahlen als Frauen. ({10}) Dazu steht auch nicht im Widersprich, dass Männer und Frauen beim gleichen Arbeitgeber und im gleichen Beruf dennoch oftmals unterschiedlich viel verdienen. Denn bei der Lohn- bzw. Gehaltseinstufung werden auch individuelle Vorkenntnisse und Fähigkeiten, der Grad der Belastung, die Verantwortung des Arbeitnehmers und die Art, Vielfalt und Qualität der Tätigkeit berücksichtigt. ({11}) Dies erklärt zum Beispiel, warum nicht jeder Lehrer, jeder Krankenpfleger und jeder Verkäufer gleich entlohnt werden. Die viel diskutierte Entgeltlücke von 22 Prozent zwischen Frauen und Männern spiegelt das, was suggeriert wird, nicht wider. Da die Bruttostundenlöhne von Frauen um 22 Prozent unter denen von Männern liegen, wird auf eine Diskriminierung von Frauen in Deutschland geschlossen. Bei dieser Argumentation bleiben jedoch einige Faktoren, die die Vergütung sehr stark prägen, unberücksichtigt, zum Beispiel die Berufswahl, die Dauer von Elternzeiten und die Häufigkeit von Teilzeittätigkeiten. ({12}) Wie eben gesagt, macht es sich natürlich in der Vergütung von Frauen bemerkbar, dass sich viele von ihnen für erzieherische, lehrende oder gesundheitsbezogene Berufe entscheiden statt für technische oder gar ingenieurwissenschaftliche. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat dazu Berechnungen durchgeführt und festgestellt, dass Elternzeiten von mehr als drei Jahren mit Entgelteinbußen von durchschnittlich 12 Prozent einhergehen. Dass Frauen häufiger als Männer in Minijobs arbeiten, senkt ihre durchschnittliche Vergütung. Der wesentliche Teil der Entgeltlücke zwischen Frauen und Männern lässt sich somit durch unterschiedliche Berufswahl und Verantwortung in der Familie erklären. Bereinigt man diese Entgeltlücke um die genannten Faktoren, dann bleibt lediglich eine Lücke von 2 Prozent bestehen. ({13}) Dies sind, wie gesagt, Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Dieser Wert, Frau Ferner, taugt nun wirklich nicht, um eine fundamentale Diskriminierung von Frauen zu belegen. Dies ändert aber nichts an unserem grundsätzlichen, generellen Ziel, die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt voranzutreiben. In unserem Antrag haben wir deshalb ein Bündel an Maßnahmen vorgeschlagen, ({14}) um dieses Ziel zu erreichen, zum Beispiel die Schaffung von besseren Rahmenbedingungen zur leichteren Vereinbarkeit von Familie und Beruf - das haben wir schon von Frau Landgraf gehört ({15}) und insbesondere eine flächendeckende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Frau Ferner, noch einmal ganz deutlich: Wenn Ihre Tochter für ihr Kind Betreuungsgeld bezieht, dann heißt das noch lange nicht, dass Ihre Tochter währenddessen nicht auch arbeiten kann. ({16}) Wir arbeiten in unserer christlich-liberalen Koalition an diesem Bündel von Maßnahmen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn meine Handwerkskollegen gefragt werden, dann sagen sie immer: Wir sind Handwerker, wir können das. Vielen Dank. ({17})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen herzlichen Dank, Kollege Eckhard Pols. Kollege Pols war auch der letzte Redner in unserer Aussprache, ({0}) die ich nun auch schließe. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion der SPD zur Durchsetzung des Ent- geltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer. Der Aus- schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/12782, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9781 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Die Linke. Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- tung. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12782 empfiehlt der Ausschuss die An- nahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/12483 mit dem Titel „Entgelt- gleichheit für Frauen und Männer verwirklichen - Fa- milienfreundliche Unternehmen als Beitrag zur Gleich- stellung der Geschlechter“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfrak- tionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Frauen verdienen mehr - Entgeltdiskriminierung von Frauen ver- hindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/12575, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8897 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge- genprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 d sowie den Zusatzpunkt 10 auf: 32 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({1}), Torsten Staffeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Wandel in der maritimen Wirtschaft be- gleiten und ihre nationale Aufgabe für den Wirtschaftsstandort Deutschland herausstel- len - Drucksache 17/12817 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Umsteuern in der Krise - Maritime Wirtschaft unterstützen - Drucksache 17/12723 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Soziale Arbeitsbedingungen in der maritimen Wirtschaft fördern - Flaggenflucht verhindern - Drucksache 17/12823 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Dritter Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in Deutschland - Drucksache 17/12567 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell - Drucksachen 17/12697, 17/12878 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Mathias Middelberg Lothar Binding ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Vizepräsident Eduard Oswald Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär HansJoachim Otto. - Bitte schön, Kollege Hans-Joachim Otto. ({6})

Hans Joachim Otto (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001666

Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich eingangs meine zentrale Botschaft: Die maritime Wirtschaft in Deutschland ist eine strategisch unverzichtbare Zukunftsbranche mit einem überdurchschnittlichen Wachstumspotenzial. Wir brauchen sie als drittgrößtes Exportland der Welt, und wir brauchen diese Branche zur Lösung von zentralen Zukunftsfragen ({0}) wie etwa der Energieversorgung, der Rohstoffversorgung und des Klimawandels. Wir brauchen deshalb auch ein starkes maritimes Cluster. Um das auch in der Zukunft zu erreichen, hat sich die maritime Wirtschaft insbesondere im Bereich des Schiffbaus strategisch neu und erfolgversprechend aufgestellt. Die Werften haben ihre Produktpalette konsequent angepasst, und inzwischen werden in diesem Bereich nach langer Zeit wieder zusätzliche Arbeitsplätze aufgebaut. Unterstützung brauchen die Werften bei der nach wie vor schwierigen Finanzierung. Bund und Länder haben insgesamt aber bewiesen, dass sie ihre Instrumente, nämlich Exportkreditgarantien, CIRR-Zinsausgleichsgarantien und Landesbürgschaften, flexibel und erfolgreich einsetzen. Ich begrüße es nachdrücklich, dass es uns gemeinsam gelungen ist, die Mittel für die Innovationsförderung auf 13 Millionen Euro zu erhöhen. Die Länder stellen eine Kofinanzierung in gleicher Höhe bereit, und vielleicht gelingt es uns ja, bei dieser Position auch noch ein bisschen zuzulegen. Besonders schwierig - darüber gibt es keine Zweifel - ist weiterhin die Lage in der Seeschifffahrt. Es herrscht weltweit ein Überangebot an Tonnage vor. Die dringend notwendige Erholung der Charter- und Frachtraten wird wohl kaum vor 2015 eintreten. Hier wird von den Reedern, den Eigenkapitalgebern und den Banken viel Engagement verlangt, um die Folgen der strukturellen und konjunkturellen Krise bewältigen zu können. Die Bundesregierung setzt sich ihrerseits im Rahmen des Maritimen Bündnisses verlässlich dafür ein, den Schifffahrtsstandort Deutschland zu stärken. Instrumente wie Tonnagesteuer, Lohnsteuereinbehalt, Zuschüsse zu den Lohnnebenkosten und Arbeitsplatzförderung schaffen hier bestmögliche Rahmenbedingungen. ({1}) Mit der Erneuerung des Maritimen Bündnisses hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr ein deutliches und, wie ich finde, sehr wichtiges Signal gesetzt. Damit hat die Bundesregierung Kontinuität und Verlässlichkeit bewiesen. ({2}) Zugleich haben wir erreicht, dass die deutschen Reeder mit 30 Millionen Euro jährlich zusätzlich einen substanziellen Eigenbeitrag zur Stärkung von Ausbildung und Beschäftigung in Deutschland erbringen. Auch das will ich an dieser Stelle ausdrücklich gutheißen. Mit Erleichterung kann ich sagen, dass die Koalition auch dafür sorgt, dass jetzt keine zusätzlichen Belastungen auf die Reeder zukommen. Ich danke - das tue ich hier durch besonderes Hervorheben - den Finanzpolitikern der Koalition dafür, dass sie sich auf eine gesetzliche Klarstellung verständigt haben, wonach Erlöspools in der Schifffahrt nicht versicherungsteuerpflichtig sind. Ich bin sehr froh, dass dieses Thema noch vor der Achten Nationalen Maritimen Konferenz erledigt werden konnte. Diese Konferenz findet in zwei Wochen in Kiel statt. Sie wird dort einer breiten Öffentlichkeit zeigen, dass wir beispielsweise mit dem Zulassungsverfahren für private bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord den Reedern die notwendige Rechtssicherheit verschaffen, dass wir im Bereich Verkehrsinfrastruktur viel für Hafenanbindung und Ertüchtigung der Bundeswasserstraßen tun - ein Beispiel ist der Nord-Ostsee-Kanal ({3}) und dass wir den Nationalen Masterplan Maritime Technologien erfolgreich fortschreiben und umsetzen. Für Zukunftsmärkte, zum Beispiel Offshorewind, maritime Sicherheit und Tiefseebergbau, konnten wichtige Akzente gesetzt und konkrete Aktivitäten angestoßen werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist heute vermutlich meine letzte Rede als Maritimer Koordinator vor diesem Hohen Haus. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, um mich bei Ihnen allen für eine insgesamt sehr konstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren zu bedanken. Die maritime Kooperation - so nenne ich das - über alle Fraktionsgrenzen hinweg ist viel sachorientierter und zielgerichteter verlaufen, als es vermutlich die folgenden Redebeiträge der Opposition vermuten lassen. Ich freue mich darauf, möglichst viele von Ihnen in 14 Tagen in Kiel wiedersehen zu können. Herzlichen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Auch Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ein herzliches Danke. - Nächster Redner in unserer Aussprache für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Uwe Beckmeyer. Bitte schön, Kollege Uwe Beckmeyer.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) - Herr Fischer, haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, weshalb hier kein Minister sitzt? Ist das für die Minister Rösler und Ramsauer kein Thema? Aber gut. Die maritime Wirtschaft schaut auch ohne die Minister heute nach Berlin. ({1}) In der Vorbereitung der Konferenz in Kiel werden von der Politik überzeugende Antworten erwartet, ({2}) die helfen können, die maritime Wirtschaft in schwierigen Zeiten zu unterstützen. Das gilt für die derzeitige Bundesregierung leider nicht. Sie hat in den Augen der maritimen Wirtschaft schon auf der Konferenz in Wilhelmshaven kläglich versagt. Showeffekte sind kein Ersatz für eine stimmige und hilfreiche Politik. ({3}) Auch nach der letzten Maritimen Konferenz hat es die Regierung nicht vermocht, das Steuer herumzureißen. In wesentlichen Handlungsfeldern der maritimen Wirtschaft sind von ihr keine Antworten geliefert worden. Die Folgen: Auf wichtigen Feldern, ob Offshorewindenergie, Maritimes Bündnis oder Hinterlandanbindung, ist weiterhin kein Land in Sicht. Die Aussichten verheißen wenig Besserung, zumindest was die Politik von Union und FDP betrifft. Die Achte Nationale Maritime Konferenz in Kiel fällt mit dem Ende dieser Wahlperiode zusammen. Oder sollte man besser sagen: Mit dem Ende der schwarz-gelben Regierungszeit? ({4}) Daher ist dies auch der Zeitpunkt für eine Bilanz von vier Jahren Schwarz-Gelb. Das Ergebnis fällt nicht positiv aus; denn eine Schlüsselbranche unserer Volkswirtschaft ist unter der jetzigen Bundesregierung auf sich gestellt. ({5}) Die derzeitige Bundesregierung versteht sich, wie im Bericht mehrfach nachzulesen, als moderierend. Handeln ist nicht so ihr Ding. Sie setzt auf wichtigen Handlungsfeldern der maritimen Wirtschaft auf den Rückzug des Staates, das Laisser-faire der Märkte - eine Haltung, die dem maritimen Standort insgesamt schadet. Wir brauchen einen Kurswechsel in der maritimen Politik. Notwendig ist eine konsequente Innovationspolitik, um die maritime Wirtschaft in der Krise aktiv zu unterstützen. ({6}) Entscheidend wird sein, den Modernisierungsprozess der Branche aktiv zu steuern. Eine strategische Industriepolitik für den gesamten maritimen Bereich muss vier zentrale Bausteine enthalten: erstens die Finanzierung von maritimen Projekten, zweitens die Förderung zukunftsfähiger Arbeit, drittens eine umfassende Innovationsstrategie und -förderung und viertens die Stärkung der Infrastruktur. Kurz gesagt: Ein Zukunftspaket für die maritime Branche ist notwendig. Darauf setzen wir Sozialdemokraten. ({7}) Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Branche hängt wesentlich vom technologischen Fortschritt und von marktfähigen Innovationen ab. Dies erfordert jedoch hohe Investitionssummen. Angesichts der weltweit angespannten Lage auf den internationalen Kapitalmärkten und der wachsenden globalen Standortkonkurrenz ist die solide Finanzierung absolut notwendig und eine wesentliche Herausforderung der maritimen Erfolge und der maritimen Projekte. Darum fordern wir die Bundesregierung auf, sich gegenüber der BaFin für die Übernahme des sogenannten Long Term Asset Value als alternatives Ertragswertverfahren für die Schiffsfinanzierung einzusetzen - bis zum heutigen Tage ist da auf Ihrer Ebene nichts passiert -, gemeinsam mit den schiffsfinanzierenden Banken Modelle zu entwickeln, um die deutschen Reeder beim Abbau von Schiffskapazitäten zu unterstützen, und zwar durch Aufliegerprogramme oder durch Herausnahme von Schiffen, die nicht energieeffizient sind oder älter als 15 Jahre, die bestehenden Finanzierungsinstrumente zu überprüfen und im Rahmen von Förderzielen neue Perspektiven für die Schiffbaubranche zu eröffnen. Ich will das abkürzen. Wir haben im Bereich der Offshoreförderung ein KfW-Sonderprogramm. Bis zum heutigen Tage haben Sie, sehr geehrte Damen von der christdemokratischen Union und der FDP, es abgelehnt, dies für den Bereich der Hafen- und Schiffskapazitäten zu öffnen. Das ist ein Umstand, der - ich sage es einmal für die deutsche Küste schädlich ist. ({8}) Der maritime Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahren stark in Bewegung geraten. Vor diesem Hintergrund sind Fragen der Verfügbarkeit und Qualifizierung von Fachkräften sowie der Stellenwert und die Perspektive der traditionellen Industriearbeit zu diskutieren. Auch hier wurden Aufgaben nicht erfüllt. Deshalb fordern wir Sozialdemokraten die Entwicklung von Maßnahmen zur Sicherung des Nachwuchses in der Schiff29050 bauindustrie, die Erhöhung der Ausbildungsquote in der deutschen Werftindustrie, die Verknüpfung der Förderung für den Bereich Schiffbau, Seeschifffahrt und Offshorewindenergie mit quantitativen und qualitativen Zielen hinsichtlich Ausbildung, Übernahme und Ausgestaltung der Tarifverträge. Wir fordern ein Sicherheitskonzept Deutsche Küste im Bereich des Rettungswesens auf Offshorewindenergieanlagen und eine koordinierte Strategie einer maritimen Sicherheitspartnerschaft aller Beteiligten ein. Nicht nur diejenigen, die vor der Küste technisch tätig sind, sondern wir alle müssen uns darum kümmern. Ich will mich auch hier kurzfassen. Die Langfassung können Sie in unserem Antrag nachlesen. Wir fordern Sie des Weiteren auf, auf europäischer Ebene beim Verzicht auf Ausschreibungspflicht für Lotsdienste tätig zu werden. Hier ist zu vermerken, dass Sie bislang alle Aktivitäten unterlassen haben. Wir brauchen dringend Anstrengungen bei der beschleunigten Modernisierung der Schiffsflotte zur verstärkten Emissionsminderung und Energieeffizienz. Wir brauchen eine systematische Untersuchung der Vor- und Nachteile von Flüssiggas und Flüssigerdgas. Auch hier haben Sie in Ihrer Strategie einen absoluten Nullpunkt erreicht. Wir brauchen die Entwicklung einer Exzellenzstrategie, die es der deutschen Werftindustrie ermöglicht, im Hightechsegment tätig zu werden. Wir brauchen zudem eine deutliche Aufstockung im Haushaltstitel „Maritime Technologie der nächsten Generation“ zugunsten der Werftindustrie in Deutschland. Wesentlicher Bestandteil einer Innovationsstrategie für die maritime Wirtschaft muss auch eine gezielte staatliche Infrastrukturpolitik sein; denn die logistische Anbindung der deutschen Seehafenstandorte wird in den kommenden Jahren zu einem kritischen Wettbewerbsfaktor werden. Nur eine Politik der zwei Säulen - industrielle Entwicklung und Ausbau der Infrastruktur - wird dazu beitragen, die Wachstumsbasis der maritimen Branche in Deutschland nachhaltig zu sichern und zu stärken. Hierzu einige Stichworte: zuverlässige Abwicklung der Hinterlandverkehre insbesondere durch den Ausbau der Schienen- und Wasserwege sowie den zügigen Ausbau der seewärtigen Zufahrten unserer Seehäfen inklusive Nord-Ostsee-Kanal; Kürzung der Verfahrensdauer beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig durch eine deutlich bessere Personalausstattung. Sie müssen das Prinzip der verkehrsträgerbezogenen Finanzierungskreisläufe aufgeben. Wir brauchen eine integrierte Finanzierung unserer Verkehrsinfrastruktur. ({9}) Wir brauchen endlich eine klarsichtige Politik bei der Neuordnung der Bundeswasserstraßen. Was Sie dort aktuell machen, ist schädlich für Deutschland. Sie bringen den ganzen Bereich in Unordnung. Wir wollen das beenden. Ich hoffe, dass es nach Abwahl dieser Regierung zu einem Neustart kommt. Sie sehen, meine Damen und Herren: Nichts ist gut auf diesem Feld in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung versucht mit ihrer selbstgefälligen Art, die Fehlleistungen der vergangenen dreieinhalb Jahre zu übertünchen. Aber die maritime Industrie lässt sich nicht mehr hinter die Fichte führen. Sie wartet auf einen Neustart. Diesen wird es allerdings mit dieser Bundesregierung nicht geben. Wir brauchen einen Kurswechsel in der maritimen Politik, vielleicht kommt er erst nach der Bundestagswahl. Herzlichen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Uwe Beckmeyer. - Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist unser Kollege Eckhardt Rehberg. ({0}) - Dieser Tausch ist bei mir, dem Präsidenten, nicht angekommen. Es ist schön, dass die richtige Reihenfolge wenigstens auf dem Bildschirm erscheint. Aber beim Präsidenten ist es nicht angekommen. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Kollege Enak Ferlemann. Bitte schön, Kollege Enak Ferlemann. ({1})

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geschätzter, hochverehrter Herr Präsident, entschuldigen Sie, dass ich mich etwas vorgedrängelt habe. Aber die Geschäftsordnung sieht das so vor. Gleichwohl werden alle Kolleginnen und Kollegen hier noch zu Wort kommen. Wir haben gerade einen etwas erschütternden Bericht des Kollegen Beckmeyer über ein Land, das ich gar nicht kenne, gehört. Die Bundesrepublik Deutschland kann das jedenfalls nicht sein. ({0}) Wir stehen vor der Achten Nationalen Maritimen Konferenz, einer wunderbaren Errungenschaft. Die ganze Branche mit ihren verschiedenen Facetten trifft sich, kann miteinander sprechen, Impulse setzen, über Lösungsansätze diskutieren und hat die Möglichkeit, mit Politik, Verwaltung und Gesellschaft in Austausch zu treten. Viele andere Branchen in Deutschland würden sich wünschen, dass es eine solche Gelegenheit gäbe, sich auszutauschen. Pünktlich zum Maritimen Bündnis legen die Koalitionsfraktionen unter deiner Federführung, lieber Eckhardt Rehberg, einen wiederum außerordentlich gelungenen Antrag vor, ({1}) der die maritime Politik exzellent beschreibt, der aber auch deutlich macht, welche Herausforderungen für diese Branche auf Deutschland und auf die Politik zukommen. Man kann allerdings feststellen, lieber Kollege Beckmeyer: Die maritime Wirtschaft und die maritime Politik sind bei uns in sehr guten Händen. ({2}) Ich kann das nur betonen und darf mich an dieser Stelle für die exzellente Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Otto aus dem Wirtschaftsressort bedanken. Ich glaube, die Erfolge der vergangenen Jahre können sich wahrhaft sehen lassen. Wir haben es hier mit einer Branche zu tun, in der es rund 400 000 Beschäftigte gibt und die einen sagenhaften Jahresumsatz von rund 50 Milliarden Euro macht. Häufig wird maritime Politik als rein norddeutsche Politik qualifiziert, die sie aber nicht ist; denn alle Auswirkungen der maritimen Politik betreffen immer das ganze Land. Maritime Politik ist nicht nur eine Politik für die Küstenländer, sondern maritime Politik ist eine Politik für das ganze Land, sie ist eine nationale Aufgabe. ({3}) Der Schwerpunkt der maritimen Politik liegt insbesondere auf den norddeutschen Ländern; aber genauso wichtig ist die Anbindung der ZARA-Häfen. Auch die ZARA-Häfen sind wichtig für die maritime Politik, die wir in Deutschland machen müssen; ({4}) denn auch dort werden Hinterlandanbindungen gebraucht, auch dort wird importiert und exportiert. Deswegen muss man beides im Blick haben. Ich glaube, dass wir die Nordwestrange insgesamt sehen müssen. Die Konkurrenz dieser Häfen findet nicht untereinander statt, sondern das ist nur Wettbewerb; und das ist gut und richtig so. Die Konkurrenz droht aus Süd- und Südosteuropa. Darauf muss die Nordwestrange reagieren, und darauf müssen die richtigen politischen Antworten gegeben werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Anbindung der Seehäfen. Bei dem steigenden Warenumsatz, den wir durch die Globalisierung haben, sind die Seehäfen die Einfallstore der Globalisierung. Deswegen ist es vordringliche Aufgabe des Verkehrsministeriums, für eine ordnungsgemäße Anbindung der Seehäfen zu sorgen. Das tun wir. Noch nie hat eine Bundesregierung einen Schwerpunkt so sehr auf die Seehafenhinterlandanbindung gelegt wie diese. Im neuen Bundesverkehrswegeplan, der von 2015 bis 2030 reichen wird, wird sie es wiederum tun. ({5}) - Herr Beckmeyer, ich denke, auch Sie sind mit großer Freude zwischen Bremen und Hamburg oder Hamburg und Bremen, wie auch immer Sie das sehen, auf der neu gestalteten A 1 gefahren. ({6}) Da gibt es nicht einmal ein Tempolimit, so gut ist sie ausgebaut. ({7}) So schnell sind Sie auf der Straße noch nie von Bremen nach Hamburg gekommen. Wir sind mit dem Ausbau der A 7 weit vorangekommen, wir bauen den nächsten Abschnitt der A 21, ({8}) die A 14 ist begonnen worden, und die Planungen der A 20 und der A 39 gehen zügig voran. Trotz mancher Koalitionsversprechen, die Sie in den norddeutschen Ländern gegeben haben, was diesen Projekten wahrhaft nicht guttut, werden wir sie trotzdem hinbekommen. Denken Sie an die Schiene und das Seehafenhinterlandanbindungsprogramm, das wir haben. Ich erinnere an die Knoten, die ertüchtigt und aufgebaut werden. Es stellt sich die Frage, ob wir die steigenden Mengen auf dem bestehenden Netz abwickeln können oder ob wir Alternativen brauchen - Stichwort: Y-Trasse. Die Untersuchungen laufen. ({9}) Wir haben viele Projekte, zum Beispiel die BetuweLine, die wir auf nordrhein-westfälischer Seite ausbauen. Alles das sind Punkte, die für eine exzellente Politik sprechen. Sie haben zu Ihren Regierungszeiten davon geträumt, so etwas verwirklichen zu können. ({10}) Genauso ist es mit den seewärtigen Anbindungen. Alle seewärtigen Anbindungen sind von dieser Regierung in der Planung weit vorangetrieben worden. Die Planfeststellungsverfahren sind häufig abgeschlossen und liegen jetzt dem Bundesverwaltungsgericht vor. Ich finde, man sollte etwas bescheidener sein, wir als Exekutive und Sie als Legislative, wenn die Judikative Recht sprechen soll. Warten Sie doch in Ruhe die Urteile ab. Ich vertraue darauf, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen hervorragenden Job gemacht haben und wir bei Gericht schon gewinnen werden. Ein bisschen Geduld tut manchmal auch einem Bremer ganz gut. Der Blutdruck normalisiert sich dann. Warten wir das also ab. Dann gestalten wir die Dinge, die da kommen. Wir sehen allerdings am Nord-Ostsee-Kanal, so wie an vielen Stellen, dass wir mehr Geld für den Erhalt der Seehafenhinterlandanbindungen brauchen. Da haben wir die Programme so umgestrickt, dass wir schon im aktuellen Investitionsrahmenplan einen größeren Schwerpunkt auf die Unterhaltung als auf Neuinvestitionen gelegt haben. Das ist gut und richtig so. Wir werden auf dieser Maritimen Konferenz sicherlich über die Krise der Seeschifffahrt, über die Finanzierungsfragen sprechen. Wir werden über das hervorragend ausgestaltete Maritime Bündnis sprechen, das noch nie so gut wie jetzt dastand. ({11}) Ich freue mich darüber, dass wir das Seearbeitsgesetz fertiggestellt haben. Ich freue mich über die Modernisierung der Flaggenpolitik, und ich freue mich darüber, dass trotz mancher Diskussion in diesem Hause die Tonnagesteuer nach wie vor eine der bedeutendsten Fördermöglichkeiten für die Reeder ist. ({12}) Wir werden über die Zukunft der Werften reden. Wir werden über die sicheren Seewege reden, darüber, was die Operation Atalanta gebracht hat, darüber, was wir gemeinsam vereinbart haben, um Sicherheitskräfte auch an Bord deutsch geflaggter Schiffe nehmen zu können. ({13}) Wir werden über die leistungsfähigen Seehäfen reden, übrigens auch über die Binnenhäfen. Haben Sie das neue Konzept der Bundesregierung schon einmal gelesen, Herr Beckmeyer? Exzellente Arbeit! Das müssten Sie eigentlich zugestehen. In diesem Zusammenhang seien mir noch folgende Fragen erlaubt: Wie stellt Herr Beckmeyer sich vor, Seehäfen, die ausgebaut werden, zu fördern? Herr Beckmeyer, was machen Sie denn mit denen, die ausgebaut worden sind? Wie wollen Sie denn da fördern? Die Ungleichheit der Wettbewerbsbedingungen hat er natürlich nicht erwähnt, sondern er ruft nach Geld ohne Konzept, ohne Sinn und Verstand. Die Offshorewindindustrie wird es schon genau zu werten wissen. Wir werden über Klima und Umweltschutz reden, über die maritime Sicherheit, über all diese Punkte. ({14}) Ich glaube, wir haben mit der Achten Nationalen Maritimen Konferenz ein hervorragendes Diskussionsforum. Ich glaube, wir haben alle Möglichkeiten, die Zukunftsfähigkeit der Branche für ganz Deutschland - maritime Politik ist eine nationale Aufgabe - gut darzustellen und Impulse zu setzen. Ich freue mich, wenn wir uns in Kiel wiedersehen und nachher die Ergebnisse bewerten und umsetzen können. Alles Gute der nächsten Maritimen Konferenz in Kiel! Herzlichen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ein paar Worte aus der real existierenden Bundesrepublik. ({0}) Die Schiffe unter deutscher Flagge werden von Monat zu Monat weniger. 600 sollten es mindestens sein - Sie wissen es -; das wurde im Maritimen Bündnis vor zehn Jahren vereinbart. Aktuell sind es halb so viele. Die Versuche der Bundesregierung seit der Siebten Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven, die Reeder wieder zu mehr Engagement zu bringen, sind weitgehend gescheitert. Das Maritime Bündnis ist in Wirklichkeit kein Bündnis mehr. Die Reeder haben ihren Beitrag an Ausbildung und Beschäftigung zwar erhöht, aber paradoxerweise wird dieser Beitrag zum Teil aus Gebühren finanziert, die eingenommen werden, wenn Schiffe ausgeflaggt werden. Das heißt im Umkehrschluss: Je mehr Schiffe ausgeflaggt werden, umso mehr Geld können die Reeder zur Verfügung stellen, um Beschäftigung zu fördern. Das kann doch kein Konzept sein. ({1}) Ein anderes Beispiel für diese falsche Politik finden wir beim Flaggenrecht. Die Bundesregierung behauptet, sie habe die maritime Ausbildung gestärkt. Aber was hat sie tatsächlich gemacht? Die Koalitionsfraktionen drückten durch, dass Flaggenflucht nur dann genehmigt wird, wenn die Reeder dafür einen Ausgleich leisten. Der Ausgleich besteht darin, dass Ausbildungsplätze auch auf ausgeflaggten Schiffen erhalten bleiben sollen. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Die Reeder können sich mit geringen Ausgleichszahlungen von der Ausbildungspflicht freikaufen. Mit dieser Politik muss Schluss gemacht werden. ({2}) Wir fordern, die Arbeitsbedingungen in der maritimen Wirtschaft zu verbessern, und dazu gehört, die Flucht aus der deutschen Flagge zu verhindern. ({3}) Die Reeder oder, besser gesagt, die Finanzinvestoren und Fonds, die dahinterstecken, suchen ihre Anlagemöglichkeiten immer dort, wo am meisten Profit erwirtschaftet werden kann. Ist es hier im Land zu wenig, dann zieht man halt weiter. Verlierer ist der Staat, weil ihm Steuereinnahmen wegbrechen; Verlierer sind insbesondere die Beschäftigten, weil Konkurrenzvorteile immer auch zulasten von sozialen Standards, Arbeitsplätzen und Einkommen gehen. Darum müssen Wettbewerbsvorteile, die ausschließlich zulasten der Beschäftigten und der Steuerzahler gehen, abgeschafft werden. ({4}) Die Bundesregierung muss auf europäischer Ebene dahin gehend aktiv werden, den Subventionswettlauf zu stoppen. Förderungen an Unternehmen darf es nur dann geben, wenn Ausbildung und Know-how verbindlich gesichert werden. Leistung ohne Gegenleistung darf es in der europäischen Schifffahrt nicht länger geben. Das fordern wir in unserem Antrag. ({5}) Aber nicht nur auf See, sondern auch an Land sind die Arbeitsbedingungen schlechter geworden. Die Unternehmen nutzen die Krise und auch die Möglichkeiten der Agenda 2010, um Druck zu machen. Leiharbeit, Werkverträge, befristete Beschäftigungen sind Kennzeichen einer falschen Arbeitsmarktpolitik. Auch wenn Unternehmen in die Krise geraten, wie SIAG in Emden oder P+S in Wolgast und Stralsund, gibt es mehr Möglichkeiten als Entlassungen und Lohnkürzungen. Die Menschen dort müssen eine Perspektive für ihr Leben bekommen. Und wenn es den Unternehmen allein nicht möglich ist, das finanziell zu wuppen, dann müssen durch staatliche Förderung, Qualifizierungsgesellschaften, bessere Kurzarbeitsregelungen und Arbeitszeitverkürzungen Arbeitsplätze erhalten werden. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der Bundesregierung zeigt die Probleme der maritimen Wirtschaft auf: Überkapazitäten im Schiffbau, sinkende Frachtraten und dramatische Unterbeschäftigung in Schifffahrtsunternehmen und Werften. Aber Sie ziehen keine Konsequenzen daraus. Sie predigen gebetsmühlenartig Ihre alte Idee - Sie warten darauf, dass die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise endlich vorbeigeht, und hoffen, dass die strahlende Zukunft für Häfen, Werften und Zulieferer an der Nord- und Ostseeküste durch die Offshorewindenergie kommen wird. Aber Hoffen und Harren allein reichen doch nicht aus. Sie müssen handeln! ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie listen in Ihrem Antrag mehr als ein Dutzend Maßnahmen auf, die angeblich die Belange der maritimen Wirtschaft gefördert hätten. Am Ende lassen sich diese Maßnahmen auf zwei Begriffe reduzieren: Wir brauchen mehr Wachstum, wir brauchen mehr Markt. - Das kann es aber doch nicht sein! Zu Recht werden an 16 Stellen im Bericht der Bundesregierung „große Herausforderungen“ - so heißt es - erwähnt, denen man sich stellen müsse. Aber wenn keine Prioritäten gesetzt werden, dann wird doch daraus nichts! „Das Meer ist Wirtschafts- und Lebensraum sowie Nahrungs- und Ressourcenquelle zugleich.“ So steht es sehr richtig in dem Antrag der Koalition. Aber diese teils gegensätzlichen Funktionen des Meeres bergen Konflikte. Darum müssen Richtungsentscheidungen gefällt werden. Neben der Schaffung guter Arbeit in der maritimen Wirtschaft und auf Schiffen ist die Forschung und Entwicklung in zukunftsfähige, umweltverträgliche Technologien ein sehr, sehr wichtiges Handlungsfeld für staatliche Technologiepolitik und auch für Forschungsförderung. ({8}) Vordringlich ist die Senkung der Emissionen von Schadstoffen in der Schifffahrt nicht nur auf hoher See. Eine der Hauptursachen der Feinstaubemissionen gerade in Norddeutschland ist die Verbrennung von Schweröl in Schiffsmotoren. Inzwischen gibt es zwar gesetzliche Grenzwerte für Schwefelemissionen, nicht aber bei Schwermetallen und Ruß. Hier besteht sofortiger Handlungsbedarf. ({9}) Im Bericht der Bundesregierung wird der Schutz der natürlichen Umwelt aber unter den Vorbehalt von Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit der Produkte gestellt. Sie wollen mit Ihrer Forschungs- und Entwicklungspolitik erreichen, dass Innovationszyklen drastisch verkürzt werden, um der Konkurrenz immer einen Schritt voraus zu sein. Sie wollen erreichen, dass schneller und billiger produziert wird. Aber sind das nicht auch die Ursachen des internationalen Verdrängungswettbewerbs, für die bestehenden Wahnsinnsüberkapazitäten auf den Weltmärkten? Zukunftsweisende Forschungsund Technologiepolitik in der maritimen Wirtschaft sieht wirklich anders aus. ({10}) SPD und Grüne haben Anträge vorgelegt, in denen sie eine Umsteuerung in der maritimen Wirtschaft fordern. Die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben erkannt, dass die Liberalisierung der Märkte und der Rückzug des Staates nicht dazu führen, dass maritime Standorte gestärkt werden - eine späte, aber richtige Erkenntnis, allerdings auch das Gegenteil dessen, was ursprünglich Ihre Arbeitsmarktpolitik war. Wir unterstützen viele Ihrer Forderungen, können Ihrem Antrag aber nicht zustimmen. Denn wieder setzen Sie auf den Marineschiffbau und fordern von der Bundesregierung, „den Marineschiffbausektor bei seinen Exportanstrengungen durch die Förderung von Referenzprojekten zu unterstützen“. Bau und Export von Kriegsschiffen und anderen Marineprodukten sind aber nicht die Zukunft. Wir wollen Rüstungsexporte stoppen. ({11}) Beim Marineschiffbau muss mit intelligenter Konversionspolitik umgebaut werden; die darin steckenden finanziellen Mittel müssen in zukunftsfähigen zivilen Schiffbau umgelenkt werden. ({12}) Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sind wir dabei, wenn es darum geht, die weitere Liberalisierung der Hafendienstleistungen zu verhindern. Auch wir fordern: Port Package III darf es nicht geben. Ich hoffe sehr, dass die Maritime Konferenz in Kiel die wesentlichen Fragen diskutieren und Schwerpunkte setzen wird. Passiert das nicht, bleibt die maritime Wirtschaft in schwerer See. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Dass der maritime Wirtschaftszweig Debattenthema hier im Bundestag ist, kommt nur alle zwei Jahre vor, ({0}) bedauerlicherweise; es gibt nämlich genug Probleme in dem Sektor. Wir kommen hier mehr oder weniger nur alle zwei Jahre dazu, darüber zu diskutieren, weil dann wieder eine neue maritime Konferenz vor der Tür steht. ({1}) Kurz vorher machen wir hier wieder unsere übliche parlamentarische Selbstbeweihräucherungsshow nach zwei Jahren zwischenzeitlichen Stillstands. Nachdem wir uns 2011 auf der Baustelle des JadeWeserPorts in Wilhelmshaven - ich sage einmal - zum politischen Camping getroffen haben, ist die deutsche maritime Wirtschaft immer weiter in die See hineingeflossen; sie ist beinahe verschwunden. ({2}) Wir sind zwar die weltgrößte Containerschiffnation - das hört sich zunächst einmal ganz gut an -, aber die Schiffe fahren nicht unter deutscher Flagge, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben einen dramatischen Rückgang zu verzeichnen, nämlich von knapp 500 Schiffen auf jetzt nur noch knapp über 300 Schiffe. Was wir sehen, ist eine riesige Schiffsblase, die in Kürze zerplatzen wird. ({3}) Die Banken, werter Kollege Staffeldt, ({4}) ziehen sich aus der Schifffahrt zurück. Vielleicht ist das sogar bei der FDP angekommen. Die Commerzbank hat das angekündigt. Die HSH Nordbank, der ehemals größte Schiffsfinanzierer der Welt, kann nur mit gerade wieder auf 10 Milliarden Euro erhöhten staatlichen Bürgschaften aus Schleswig-Holstein und Hamburg - um einmal im maritimen Bild zu bleiben - knapp über Wasser gehalten werden. Wo bleibt die schonungslose Analyse des ach so kompetenten Wirtschaftsministers? ({5}) Ich habe sie noch nicht gehört. Die gibt es nämlich nicht. Der Wirtschaftsminister stammt zwar aus der sogenannten Partei der Wirtschaft, aber Fehlanzeige im dicken Bericht der Bundesregierung! ({6}) Ich kann mir auch durchaus vorstellen, warum das so ist. Den ganzen Schlamassel - den können Sie auch nicht mit Träumereien über irgendwelche sich wieder erhöhenden Frachtraten und Ähnliches verdecken - hat die Politik mit zu verantworten. Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger haben es zugelassen, dass sich diese Blase, diese riesige Schiffsmenge, bilden konnte. Mit dem Instrument des Schiffsfonds wurde eine prima Steuersparmöglichkeit für Anleger geschaffen, angefeuert durch die vereinfachte Tonnagegewinnermittlung - umgangssprachlich: Tonnagesteuer; es wurde schon angesprochen -, die im Grundsatz sicherlich nicht ganz falsch ist. ({7}) Aber wir kennen das auch aus anderen Bereichen: Das Instrument ist falsch angewendet worden. Ich denke da an die Bauherrenmodelle aus früherer Zeit. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass wir mit diesem Finanzierungssystem ermöglicht haben, dass unternehmerische Verantwortung und unternehmerisches Risiko praktisch voneinander entkoppelt sind. ({8}) Durch die Konstruktion der Schiffsfonds als KG zählt das für die finanzierenden Banken bislang als Eigenkapital, obwohl der Reeder gar kein eigenes Geld hineingesteckt haben muss. Als Eigenkapital steckt im Wesentlichen nur das Geld der aufs Steuersparen fixierten Anleger drin; Herr Staffeldt, das sollten auch Sie so langsam mal begriffen haben. ({9}) Der Reeder bekommt also ein Schiff, das er einsetzen kann, ohne dass er mit einem einzigen Euro Eigenkapital in die unternehmerische Haftung gegangen ist. So haben wir die Blase geschaffen, meine Damen und Herren, an der die maritime Wirtschaft jetzt zugrunde zu gehen droht. ({10}) Was müssen wir jetzt machen? Vor allen Dingen muss die Bundesregierung endlich aus ihrem maritimen Tiefschlaf aufwachen und wirksame Maßnahmen ergreifen. ({11}) - So nach hellwach sah das eben aber nicht aus, Kollege Otto. - Eine funktionierende Lösung haben wir in unserem Antrag zur Tonnagesteuer präzise vorgeschlagen - die Finanzwelt sieht das mittlerweile auch so -: Erstens. Die Tonnagegewinnermittlung muss direkt bei der Schiffsgesellschaft vorgenommen werden. Also für die Fachleute unter uns und den Zuschauern: Umstellung der Besteuerung der Schiffsfonds vom Transparenz- auf das Trennungsprinzip. ({12}) Zweitens. Alle Schiffe eines Reeders müssen in dessen konsolidierte Bilanz aufgenommen werden, unabhängig vom Anteil der tatsächlichen finanziellen Beteiligung des Reeders. Damit übernimmt er nämlich auch wieder Verantwortung für sein unternehmerisches Handeln. ({13}) Drittens. Wir müssen unser Flaggenregister dringend dienstleistungsorientiert aufstellen oder müssen am besten gleich ein solches dienstleistungsorientiertes europäisches Flaggenregister schaffen, also die Europaflagge. Wir sind schließlich Bestandteil des vereinigten Europa. Es gibt noch einen weiteren Punkt, der zur unternehmerischen Verantwortung passt: das Thema Ausbildung in der Seeschifffahrt. Junge Menschen bilden wir zu Nautikern aus. Sie freuen sich und verlassen die Seefahrtsschulen, erhalten stolz ihr Patent, und dann kommt das böse Erwachen: Sie finden keine Anstellung auf einem Schiff mit deutscher Flagge, um ihre Patente auszufahren. Was ist die Folge? Nach drei Jahren sind sie schlicht und ergreifend ihr Patent wieder los, und die ganze teure Ausbildung war für die Katz. ({14}) Hier brauchen wir dringend Lösungen, die ein echtes maritimes Bündnis aller Partner aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik schaffen könnten. Sonst stehen wir nämlich bald ganz ohne Nautiker aus deutscher Ausbildung da und brauchen dann für sie auch keine Tarifverträge und gesetzlichen Regelungen mehr. Das will ich wirklich nicht. ({15}) Darum brauchen wir jetzt den echten Neustart des Maritimen Bündnisses. Der 22. September ist dafür der richtige Stichtag. ({16}) Werter Kollege Otto, Sie schmücken sich mit dem schillernden Titel „Maritimer Koordinator der Bundesregierung“. Toll! Doch ich frage mich: Wo sind Sie, wenn es um die wichtigen Fragen der maritimen Politik geht? Schiffsfinanzierung? Abgetaucht. Hafenkonzept? Abgetaucht. Meeresschutz? Abgetaucht. Also komplett abgetaucht. ({17}) Zum Neustart des Maritimen Bündnisses nach der Wahl gehört auch eine neue Rolle für den Maritimen Koordinator. Es macht einfach keinen Sinn, wenn wir das Themenfeld auf zwei oder mehr Ministerien aufteilen, die sich dann auch noch spinnefeind sind. ({18}) Der Maritime Koordinator muss mit der Fachebene sinnvoll verbunden sein. Er oder besser sie gehört dahin, wo die meisten Fachabteilungen sind: ins Verkehrsministerium. Mit der heutigen Konstruktion werden wir der Bedeutung der Branche nicht mehr gerecht. ({19}) Ein zukunftsfähiges Konzept ist von dieser Regierung nicht mehr zu erwarten. ({20}) Hier ist Abwracken angesagt. In genau sechs Monaten ist der Stichtag. Herzlichen Dank. ({21})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Eckhardt Rehberg hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Für einen hessischen Jungen, lieber HansJoachim, ist es am Anfang wahrscheinlich nicht ganz einfach gewesen. Wenige Tage vor der Nationalen Maritimen Konferenz will ich dir im Namen der Unionsfraktion danken. Es war heute wahrscheinlich deine letzte Rede als Maritimer Koordinator. Lieber Uwe Beckmeyer, ich werde darauf eingehen, was geleistet worden ist, unter anderem bei der Bekämpfung der Piraterie, beim Maritimen Bündnis. In den zehn Jahren eurer Regierungszeit, in denen ihr die Verkehrsminister gestellt habt, habt ihr nicht einmal ansatzweise das geschafft, was wir auf die Reihe bekommen haben. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Säulen der Schifffahrtsförderung in Deutschland sind die Tonnagesteuer, der Lohnsteuereinbehalt und das Maritime Bündnis. Bei der Tonnagesteuer wird oft nur auf die Zahl der Schiffe geguckt, die unter deutscher Flagge fahren. ({1}) Natürlich wird es Probleme geben, wenn die Reeder mit Standort in Deutschland nicht zur Vernunft kommen. Es gibt nämlich zwei Kriterien: Entweder fahren 60 Prozent unter europäischer Flagge, oder es gibt einen Aufwuchs bei der eigenen Flagge. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass wir seit 1999 einen Zuwachs an Landarbeitsplätzen von 16 000 auf 23 000 zu verzeichnen haben, insbesondere in den norddeutschen Ländern. Das sind hochqualifizierte Arbeitsplätze. Deswegen hat auch das ZEW Mannheim der Tonnagesteuer bei einer Betrachtung der 20 größten Subventionen im Bundeshaushalt nicht die rote Karte gezeigt, sondern die grüne. ({2}) Deswegen, Frau Kollegin Wilms, ist Ihre Kritik völlig überzogen und unangebracht. ({3}) Herr Kollege Beckmeyer, ich frage mich, in welchem Land Sie leben und ob Sie Fakten überhaupt zur Kenntnis nehmen. ({4}) - Nein, Sie haben überhaupt nicht über Fakten gesprochen. Wenn man Ihren Antrag liest, erkennt man: Sie fordern die Bundesregierung auf, zu „untersuchen“ und zu „prüfen“, ohne sich wirklich einmal mit den Gegebenheiten zu befassen. Ich will einmal einen auch Ihnen bekannten Reeder aus Hamburg bzw. Bremen, Claus Peter Offen, zitieren. Die Frage der Frankfurter Allgemeinen vom August letzten Jahres war: Sollte der Staat den Reedern helfen? Antwort: Nein. Es ist nicht Aufgabe des Staates, hier zu intervenieren. Die Unternehmen sollten ihre Probleme selbst lösen. In der Ostsee-Zeitung vom 7. Januar heißt es: Im Kern aber sind die Reeder selbst verantwortlich für ihre Misere: Sie bringen zu viele Schiffe an den Markt. Dann wird Großreeder Peter Krämer zitiert: Wir Reeder waren blauäugig - dachten, der Boom der 2000er-Jahre hört nicht mehr auf, und haben entsprechend Schiffe bestellt, ohne konkreten Bedarf. Ein drittes Zitat bezieht sich auf Michael Behrendt, Vorstandsvorsitzender bei Hapag-Lloyd, nebenbei Präsident des Verbandes Deutscher Reeder: Michael Behrendt hat den Glauben an die Vernunft seiner Branche längst verloren. „Es existiert wohl keine andere Industrie, die derart irrational handelt“, sagt der Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größter Containerreederei Hapag-Lloyd. „Und leider betrifft diese Irrationalität ausnahmslos alle Reeder.“ Was den Manager in Rage bringt, sind die andauernden Preiskämpfe der Linienreeder rund um den Globus. Glauben Sie, dass Sie mit Ihren Vorstellungen zu Aufliegern und zu einer Abwrackprämie den Preiskampf der großen Linienreedereien in den Griff bekommen, der sich bis in die Charterreedereien durchzieht? ({5}) Schauen Sie sich die Zuläufe im Containerbereich im Jahr 2013 an! Schauen Sie sich den Zuwachs im Bulkcarrierbereich, im Tankerbereich an! Das, was Sie hier den Reedern suggerieren, ist schon keine weiße Salbe mehr; das ist Verhohnepipelung, das ist Sand-in-dieAugen-Streuen, das ist schlichtweg populistisch, Herr Kollege Beckmeyer, und trägt nicht zur Lösung bei. ({6}) Wenn ich höre, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kritisiert, wie wir jetzt das Maritime Bündnis gestaltet haben, denke ich daran, was Sie über ein Jahrzehnt versäumt haben. Ich war förmlich von den Socken, als ich hörte, dass die Ausflaggungsgebühren nicht einmal 1 Million Euro betrugen. Wir haben sie jetzt in einem ersten Schritt auf 10 Millionen Euro angehoben; die eingenommenen Mittel wurden direkt in den Haushalt eingestellt und auch für die Senkung von Lohnnebenkosten verwendet. Wir haben eine Vereinbarung mit dem Verband Deutscher Reeder zur Ausbildung und zum Ausfahren von Patenten getroffen: Die Reeder müssen Ablösebeiträge zahlen, wenn sie nicht selber ausbilden. Das heißt, wir, die Christdemokraten und die Freien Demokraten, nehmen die Wirtschaft in die Pflicht: Wenn sie etwas nicht tut, muss sie im Gegenzug zahlen. Wir sorgen uns um Ausbildung, Beschäftigung und das Ausfahren von Patenten; wir sorgen für Nachwuchs. Das heißt, öffentliche Hand und private Hand handeln gemeinsam. Das ist an dieser Stelle wirklich eine öffentlich-private Partnerschaft. ({7}) Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das, was wir im Bereich der Piraterie machen, keine Lösung ist. Man kann ja vorschlagen, dass wir Tausende Bundespolizisten und Bundeswehrangehörige auf Schiffe unter deutscher Flagge einsetzen. Man müsste dann schauen, wie man es macht, vielleicht unter europäischer Flagge. Die Eigensicherung der deutschen Reeder wird von der Bundespolizei massiv unterstützt. Das Bundesverkehrsministerium hat mit dazu beigetragen. Es gab hier eine rechtliche Grauzone; wir haben eine rechtlich saubere Basis geschaffen. Es ist ein Verdienst von Hans-Joachim Otto, dass er die Initiative ergriffen hat, hier rechtlich saubere Regelungen zu schaffen. ({8}) Meine Damen und Herren, die Verordnung ist jetzt fertig, sie hat 60 Seiten. ({9}) Es war ein schwieriger Prozess. Das Problem privater Sicherheitsunternehmen auf Schiffen unter deutscher Flagge - unter dänischer oder norwegischer Flagge verhält es sich ähnlich - haben wir gelöst. ({10}) - Herr Kollege Beckmeyer, private Sicherheitsunternehmen an Bord - das ist ein sehr sensibler Bereich. Wir haben alles getan, um das durch Verordnung bzw. Gesetz abzusichern. Die Politik hat hier alles dafür getan, dass das vernünftig und sauber läuft. ({11}) Da lassen wir uns von Ihnen nicht vorwerfen, dass wir nichts getan hätten. Letzter Punkt: Schiffsfinanzierung. Man hat gerade gestern gesehen, dass die Finanzierungsinstrumente des Bundes greifen: Die KfW IPEX-Bank als Konsortialführer finanziert zwei innovative Hightechschiffe für die niederländische Reederei RollDock, die auf der Werft Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft gebaut werden, zusammen mit zwei niederländischen Banken mit einem Kredit von rund 75 Millionen Euro, CIRR-finanziert, Hermes-gedeckt. Das heißt: Unsere Förderinstrumente und unsere Finanzierungsinstrumente tragen mit dazu bei, dass auf deutschen Werften Hightechschiffe im Offshorebereich gebaut werden. Dies zeigt: Unsere Instrumente greifen, wenn wir sie flexibel und mobil einsetzen. ({12}) Wenn hier jemand behauptet - auch einige Haushälter sind dabei -, dass wir nicht in der Lage sind, flexibel zu handeln: Wir haben in den letzten Jahren, wenn es darauf ankam, unsere Förderinstrumente so flexibel gehalten, dass Milliardenaufträge, über CIRR-Finanzierung und Hermes-gedeckt, nach Deutschland gekommen sind. ({13}) Unter anderem eine Werft in Niedersachsen profitiert davon in hohem Maße. Die Beschäftigungseffekte sind enorm. Wir konnten allein in einem Jahr 23 000 Menschen beschäftigen, davon ein Viertel in der Region rund um Papenburg und die restlichen drei Viertel in ganz Deutschland. Wenn wir unsere Finanzierungsinstrumente einsetzen, hilft das also nicht nur der Küste, sondern ganz Deutschland. ({14}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch Folgendes sagen: Gerade was mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern betrifft, ist festzustellen, dass der Bund in den letzten Jahren bis an die Grenze dessen gegangen ist, was verantwortbar war. ({15}) Jetzt werden Debatten losgetreten, der Bund solle sich stärker engagieren. Nur ein Hinweis dazu: Die 100-prozentige Tochter der KfW-Förderbank, die KfW IPEXBank, ist auch hier involviert und engagiert. Ich kann für die Bundesregierung mitsprechen, wenn ich sage: Wir setzen alles daran, dass Schiffbauaufträge gerade der schwierigen Region Mecklenburg-Vorpommern zugutekommen. Wir brauchen keine neuen Förderinstrumente, und wir brauchen schon gar nicht, Herr Beckmeyer, dass der maritime Standort Deutschland schlechtgeredet wird. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Ingo Egloff hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Bedeutung der maritimen Wirtschaft mit über 400 000 Arbeitsplätzen und 50 Milliarden Euro Umsatz ist schon hingewiesen worden. Ich gebe der Kollegin Wilms recht, dass wir öfter - und nicht nur aus Anlass der Nationalen Maritimen Konferenz - dies von dieser Stelle aus, vielleicht auch grundsätzlich, diskutieren sollten. Letztendlich hat die Entwicklung der maritimen Wirtschaft Auswirkungen auf Arbeitsplätze in ganz Deutschland. ({0}) Herr Staatssekretär Ferlemann hat eben gesagt: Die maritime Wirtschaft stand noch nie so gut da wie heute. - Ich frage mich, in welcher Wirklichkeit Herr Ferlemann lebt. Wer gestern das Handelsblatt zum Thema Schiffsfinanzierung gelesen hat und auch weiß, dass wir seit 2008 eine Schifffahrtskrise haben, weiß genauso: Man kann eine solche Behauptung nicht aufstellen. ({1}) Herr Ferlemann, Sie loben die Projekte im Zusammenhang mit dem Hafenhinterlandverkehr, die angeblich von Ihrer Regierung auf den Weg gebracht worden sind. Die Autobahn Bremen ist damals unter Minister Tiefensee in Angriff genommen worden. Die Planungsmittel der Y-Trasse sind von drei norddeutschen Bundesländern zur Verfügung gestellt worden. ({2}) - Doch, von Hamburg, Bremen und Niedersachsen; sonst wäre überhaupt nichts passiert, Herr Ferlemann. Herr Rehberg, Sie haben eben Herrn Behrendt von Hapag-Lloyd zitiert. Natürlich hat Herr Behrendt als Linienreeder ein anderes Interesse als andere Reeder, weil er von niedrigen Charterraten profitiert. Aber ich denke, man muss das Schiffsportfolio insgesamt sehen, das wir in Deutschland haben: 3 900 Schiffe, die in irgendeiner Weise von Deutschland aus gesteuert werden, über 400 Schiffe, die unter deutscher Flagge fahren. Wir müssen feststellen, dass das Problem nicht gelöst ist. ({3}) - Nein, Herr Kollege, aber man muss sich diesen Problemen zuwenden. ({4}) Vom Verband Deutscher Reeder, vom Zentralverband Deutscher Schiffsmakler und von Schiffsfinanzierern hört man, dass die Führung des Wirtschaftsministeriums am 30. August 2012 zugesagt hat, dass man über diese Fragen diskutieren will. Trotz mehrfacher Nachfragen ist da aber nichts passiert. Das erinnert mich an das Theaterstück Warten auf Godot. Der ist auch nie gekommen. ({5}) Herr Kollege Otto, wir haben schon beim Thema NordOstsee-Kanal darüber diskutiert, was Ihre Aufgabe als Maritimer Koordinator ist. Ich werde mich dem Dank für Ihre Arbeit nicht anschließen; denn ich finde, dass Sie Ihre Arbeit als Maritimer Koordinator nicht gut gemacht haben. ({6}) Bleiben wir einmal beim Thema Schiffsfinanzierung. Natürlich kann die Bundesregierung dieses Problem nicht in Gänze lösen; das verlangt auch keiner. Aber nicht umsonst sprechen Sie in Ihrem gemeinsamen Antrag den Long Term Asset Value an und sagen, dass mit der BaFin über solche Dinge geredet werden muss, um eine andere Bewertung zu erreichen. Herr Rehberg, ich weiß, dass Sie sich in Bezug auf die Versicherungsteuer sehr eingesetzt haben; ich bin Ihnen auch dankbar dafür. Wenn 30 Container-Reedereien 200 Schiffe in einen Erlöspool einbringen ({7}) und am Ende dabei herauskommt, dass das Finanzministerium darauf eine Versicherungsteuer erheben will, so ist das nicht zielführend. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie dieses Thema aufgenommen haben, dass Sie es angeschoben haben, dass die Überlegungen nun in die richtige Richtung gehen; aber wir warten auf eine entsprechende Regelung in einer Verordnung oder in einem Gesetz, um sicherzustellen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder passiert. Meine Damen und Herren, Offshore ist eine unendliche Geschichte. Nachdem Frau Merkel mit dem Ausstieg aus der Atomenergie ihr Erweckungserlebnis hatte, hat das Wirtschaftsministerium ein Jahr gebraucht, um die Frage der Netzanschlüsse zu klären, zumindest auf dem Papier. Zu fragen ist: Sind die Offshoreanlagen angeschlossen? Nein, das sind sie zum Teil nicht. Warum sind EnBW, RWE und Dong ausgestiegen? Warum wurden drei Projekte gestoppt? Wenn Sie mit den Unternehmen reden, sagen die: Wenn bei dem Stauchungsmodell nichts geschieht, werden wir das auch später nicht nachholen. - So kann man die Energiewende nicht betreiben. Herr Beckmeyer hat auf die Finanzierung der Errichterschiffe im Offshorebereich hingewiesen; dies war nicht im KfW-Programm enthalten. In dem Bericht der Bundesregierung lese ich nun, dass kein Mangel an Errichterschiffen bestehe. Nein, natürlich nicht. Warum nicht? Weil sie fast alle in Dubai, in Korea und in China gebaut werden und nur zwei in Deutschland, nämlich bei Sietas. Der Bau eines dieser beiden Schiffe ist sogar noch gestoppt worden, weil RWE aus dem Projekt ausgestiegen ist. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn Sie von Wertschöpfungsketten für Offshore in Norddeutschland reden, dann müssen Sie auch den Beweis dafür erbringen. Das haben Sie nicht getan. Sie haben das Gegenteil gemacht. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Torsten Staffeldt für die FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Beste an der Rede meines Vorredners waren die Pausen. ({0}) Ich sage es einmal so: Wenn Fachkompetenz die Voraussetzung dafür wäre, vor dem Hohen Hause über dieses Thema reden zu dürfen, dann hätten ohnehin nur die Kollegen Otto, Ferlemann und Rehberg reden können. ({1}) - Danke. Das wollte ich hören. ({2}) Wir haben eine interessante Debatte gehabt. Ich freue mich darüber. Es war übrigens keineswegs die einzige im Laufe von zwei Jahren. Wenn Sie zurückblicken, wisTorsten Staffeldt sen Sie, dass wir schon häufiger über die Themen der maritimen Wirtschaft geredet haben, natürlich insbesondere über die Bereiche Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meerestechnik, aber eben auch über andere Bereiche. Ich freue mich grundsätzlich, wenn wir über dieses Thema reden, weil ich wie wohl der Großteil des Plenums der festen Überzeugung bin, dass man sich im Deutschen Bundestag generell mehr damit beschäftigen sollte; denn Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meerestechnik sind Zukunftsfelder, bei denen wir gut beraten sind, Fördermittel zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass die Innovationsfähigkeit der unterschiedlichen Bereiche erhalten bleibt und ausgebaut wird. Glücklicherweise gibt es im Bereich des Schiffbaus nach wie vor weltmarktfähige Unternehmen. Die Werften in Papenburg und Flensburg wurden schon genannt. ({3}) Wir haben dort glücklicherweise starke Player, und die müssen wir erhalten. ({4}) Dazu ist das Bundeswirtschaftsministerium aufgefordert. Deswegen haben wir auch den Maritimen Koordinator dem Wirtschaftsministerium und nicht dem Verkehrsministerium zugeordnet. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich Hans-Joachim Otto für seine Arbeit, die er im Laufe der letzten Jahre im Deutschen Bundestag und in der Regierung für Schiffbau und Schifffahrt geleistet hat. ({5}) Ich danke auch Enak Ferlemann und dem Verkehrsministerium, die zusammen mit uns, den interessierten und begeisterten Parlamentariern, dafür gesorgt haben, dass die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schifffahrt erhalten bleibt. Dem dient auch unser Antrag, den wir heute vorgelegt haben. Er listet noch einmal alles Gute auf, was wir im Laufe der letzten Jahre getan haben. Der Antrag der SPD zeigt, dass Sie im Grunde genommen nicht wissen, wie Sie damit umgehen sollen. Es ist nur von Prüfaufträgen die Rede. Eigentlich finden Sie gut, was wir gemacht haben. Das sollten Sie endlich zugeben, Herr Beckmeyer. ({6}) Wünschenswert erscheint mir, dass die Kompetenzen des Maritimen Koordinators im Hinblick auf die Durchsetzungsfähigkeit an der einen oder anderen Stelle gestärkt werden. Denn es ist eine schwierige Aufgabe, in der Gemengelage zwischen den unterschiedlichen Ministerien wie Verkehrs- und Umweltministerium die Sicherheitsbelange sowohl im Inneren wie im Äußeren - ich denke dabei an den Zoll oder die Deutsche Marine als auch im Ernährungsbereich, beispielsweise in der Fischerei, zu berücksichtigen. Das sind alles Bereiche, die die maritime Wirtschaft betreffen, und ich wäre dankbar, wenn wir als Parlament und in der Regierung dafür sorgen würden, dass die Kompetenzen dahin gehend gestärkt werden. Die maritime Sicherheit ist ein wichtiges Thema. Deswegen freue ich mich insbesondere, dass bei der kommenden Nationalen Maritimen Konferenz in Kiel das Thema „Maritime Sicherheit“ wieder als Workshop VII auf der Tagesordnung steht. Letztes Mal war das nicht der Fall. Ich denke, gerade im Hinblick auf das Thema Piraterie ist es wichtig, weiter daran zu arbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als wir mit der CDU/CSU die Regierung gebildet und die Aufgabenverteilung vorgenommen haben, stand den Reedern und Schiffbauern das Wasser bis zum Hals. Auf meinem Schlips sehen Sie die sogenannte Plimsoll-Marke bzw. Freibordmarke. Sie zeigt, wie weit ein Schiff beladen werden darf in Abhängigkeit zum Fahrtgebiet, beispielsweise im Winter im Nordatlantik oder im Tropenfrischwasser. Zu dem Zeitpunkt, als wir in der Regierung die Verantwortung übernommen haben, stand den Reedern und Schiffbauern das Wasser bis zum Hals. Sie waren kurz vorm Umkippen. ({7}) Durch unsere gute Arbeit, die wir als Parlamentarier und als Regierung in den letzten Jahren geleistet haben, ist es uns gelungen, dafür zu sorgen, dass Schiffbau, Schifffahrt und maritime Meerestechnik in Deutschland weiterhin eine Zukunft haben. ({8}) Dafür bedanke ich mich recht herzlich. Ich bin froh und dankbar, dass es auch nach dem 22. September so weitergehen wird; denn wohin rotgrünes Chaos führt, wenn es um Verkehrsinfrastruktur geht, sehen wir in Nordrhein-Westfalen und jetzt in Niedersachsen. Das wollen wir für Deutschland nicht, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ingbert Liebing für die Unionsfraktion. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wir heute im Vorfeld der Achten Maritimen Konferenz diese Debatte über die maritime Wirtschaft führen und die Konferenz in Kiel in meinem Heimatland Schleswig-Hol29060 stein stattfindet, möchte ich zum Abschluss dieser Debatte gerne mit einem Thema beginnen, das uns in Schleswig-Holstein besonders am Herzen liegt, nämlich dem Nord-Ostsee-Kanal. Wir haben in dieser Woche bereits in der Aktuellen Stunde am Mittwoch Gelegenheit gehabt, über dieses Thema zu debattieren. ({0}) Es ist gut, dass wir als Koalition mit unserem Antrag auch ein klares Bekenntnis zum Nord-Ostsee-Kanal ablegen. Damit machen wir deutlich, dass wir handeln und die Versäumnisse der Vergangenheit bereinigen. Die Koalition hat mit dem Infrastrukturbeschleunigungsprogramm bereits die notwendigen Haushaltsmittel bereitgestellt, damit die fünfte Schleuse in Brunsbüttel gebaut werden kann. ({1}) Der Haushaltsausschuss hat mit den Stimmen der Koalition auch dafür gesorgt, dass mögliche Nachfinanzierungen unproblematisch erfolgen können. ({2}) Es ist gut, wenn die Ausschreibung noch vor Beginn der Maritimen Konferenz herausgeht. Ich bin sicher, dass das Bundesverkehrsministerium, Bundesverkehrsminister Ramsauer und Staatssekretär Ferlemann alles dafür tun werden, damit nach der Ausschreibung zügig die Vergabe erfolgt und mit dem Bau begonnen wird. Das brauchen wir. Das braucht die maritime Wirtschaft als nationale Wirtschaft. Deswegen sind wir als Koalition bei diesem Thema gut aufgestellt. ({3}) Anschließend müssen, parallel vorbereitet, die nächsten Maßnahmen folgen: die Reparatur der Schleusen, der Ausbau der Oststrecke und die Vertiefung des Kanals. Wir wissen, dass das ein Milliardenprogramm ist, das schwierig zu stemmen ist. Dafür müssen wir alle Kräfte bündeln. ({4}) Deswegen ist es gut, wenn es jetzt ein Aktionsbündnis aller Beteiligten gibt. Das ist allemal mehr wert als das Wahlkampfgetöse, das wir von Ihnen zu diesem Thema zu hören bekommen. ({5}) Auf der Achten Nationalen Maritimen Konferenz wird ein Schwerpunkt wieder auf dem Bereich der Umwelt liegen. Schiffe sind - die heutige Debatte ist eine gute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen - das sauberste Verkehrsmittel, wenn wir die Relation zwischen transportierter Ladung und Schadstoffausstoß zugrunde legen. Auch deshalb, aus diesen ökologischen Gründen, unterstützen wir als Union die Schifffahrt. Dabei beschreiten wir manchmal einen schmalen Pfad. Ich denke zum Beispiel an die Schwefelemissionssondergebiete in Nord- und Ostsee, an die SECAs. Einerseits ist es gut und ein großer ökologischer Fortschritt, wenn der Schadstoffgehalt ab dem 1. Januar 2015 in Nord- und Ostsee auf 0,1 Prozent reduziert wird. Andererseits müssen wir aufpassen, dass höhere ökologische Standards nicht zu einer Verkehrsverlagerung vom Schiff auf die Straße führen; denn das wäre ökologisch kontraproduktiv. ({6}) Deshalb appelliere ich an die Branche, die Zeit bis zum 1. Januar 2015 - das ist nicht mehr viel Zeit - für Anpassungen zu nutzen. Die technologischen Möglichkeiten, die die Schifffahrtsindustrie und die Meerestechnik der Branche anbieten, müssen genutzt werden. Deutschland verfügt in diesem Bereich über die modernsten Umwelttechnologien. Bei Neubauten ist das kein Problem; aber bei Bestandsbauten haben wir Probleme hinsichtlich der Finanzierung, wenn es darum geht, das wirtschaftlich darzustellen. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung mit der Innovationshilfe für neue Projekte hilft. Wir haben in unseren Antrag aufgenommen, dass bestehende KfW-Programme für Nachrüstungen optimiert werden sollen. Dies hilft ganz konkret. ({7}) Die maritimen Technologien und die Umwelttechnologien im maritimen Sektor bieten gewaltige Chancen für unsere deutsche maritime Wirtschaft. Das gilt insbesondere für den Bereich der Offshorewindkraft. Wir haben aber auch erfahren müssen, dass manche Hoffnungen und Erwartungen, die mit der Offshorewindkraft verbunden wurden, überzogen waren. ({8}) Offshorewindkraft bringt besondere technologische Herausforderungen und Anforderungen mit sich. Die Entwicklung dauert länger, und es wird auch teurer als zunächst erwartet. Deshalb werden wir bis 2020 wohl kaum die angepeilten 10 Gigawatt erreichen. ({9}) Ich greife gerne einmal auf, was die Sozialdemokraten zum Thema Offshore gesagt haben. In Ihrem Antrag fordern Sie uns auf, mehr für den Bereich Offshore zu tun. ({10}) - Herr Kollege Beckmeyer, ein Vorschlag: Seien Sie einmal ganz ruhig, und hören Sie zu! Hinterher können Sie immer noch brüllen. - Der Kollege Egloff hat uns eben noch einmal aufgefordert, sehr viel mehr im Bereich Offshore zu tun. ({11}) Die norddeutschen Ministerpräsidenten - allesamt mit SPD-Parteibuch ({12}) haben vor kurzem ein energiepolitisches Papier vorgelegt. Der SPD-Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Herr Sellering, hat dieses Papier mit der Aufforderung verbunden, sehr viel mehr für den Bereich Offshore zu tun. Sein Kieler Kollege, Herr Albig, der das gleiche Papier mitbeschlossen hat, wirft uns vor, wir würden viel zu viel für den Bereich Offshore tun. Meine Damen und Herren Sozialdemokraten, was wollen Sie nun eigentlich? Was stimmt denn jetzt? Sie wissen nicht, was Sie wollen, und Sie wissen nicht, was Sie tun. Verantwortungsvolle Politik ist das, was Sie hier bieten, nicht. ({13}) Wir dagegen handeln ganz konkret. Wir unterstützen die Offshorebranche, wo es notwendig und sinnvoll ist, ({14}) weil wir darin eine Zukunftsoption sehen, gerade für die maritime Wirtschaft. Ich nenne vier Stichworte: das Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau - hierüber werden 5 Milliarden Euro für die Offshorewindparks bewegt -, die Regelungen in Bezug auf die Haftungsrisiken, mit denen wir Investitionsbremsen lösen, die Regelungen zum Netzanschluss, mit denen wir den Netzanschluss verbessern und beschleunigen, ({15}) und die Raumplanung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, die wir zum Abschluss gebracht haben, damit auch die Probleme hinsichtlich der Nutzungskonkurrenzen auf dem Meer, die mit der Offshorewindenergie verbunden sind, gelöst werden können. Das alles sind konkrete Maßnahmen, die helfen. Für uns besteht kein Gegensatz zwischen der Förderung von Offshorewindenergie und Onshorewindenergie. Wir brauchen beides: Wir brauchen Offshore und Onshore. Dafür stehen wir, und dafür sorgen wir. ({16}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Offshorewirtschaft kann und wird ein Wachstumstreiber der maritimen Wirtschaft in Deutschland sein. ({17}) Deshalb ist es auch verständlich, dass die maritime Wirtschaft auf der Maritimen Konferenz mit besonderen Erwartungen auf dieses Thema blickt. Wir als Unionsfraktion, wir als Koalitionsfraktionen unterstützen gemeinsam mit der Bundesregierung diese Entwicklung mit ihren Herausforderungen und Chancen. Wir handeln ganz konkret. So führen wir die maritime Wirtschaft in eine gute Zukunft. Ich bin sicher, dass die Maritime Konferenz, die in 14 Tagen - im April - in Kiel stattfindet, den Beweis dafür liefern wird, wie gut diese Branche aufgestellt ist, dass sie in eine gute Zukunft gehen und mit Optimismus in die Zukunft schauen kann. Dies ist auch ein Ergebnis unserer guten Politik, die wir mit der Bundesregierung bzw. mit dem Maritimen Koordinator, Herrn Otto - dem ich auch herzlichen Dank sagen möchte -, gemeinsam machen. In diesem Sinne wünsche ich dieser Maritimen Konferenz alles Gute und der Wirtschaft entsprechend einen guten Erfolg. Vielen Dank für diese Debatte. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/12817 mit dem Titel „Den Wandel in der maritimen Wirtschaft begleiten und ihre nationale Aufgabe für den Wirtschaftsstandort Deutschland herausstellen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 32 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12723 mit dem Titel „Umsteuern in der Krise - Maritime Wirtschaft unterstützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkte 32 c und 32 d. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/12823 und 17/12567 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zusatzpunkt 10. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12878, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12697 abzulehnen. Wer stimmt Vizepräsidentin Petra Pau für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei als Wirtschafts- und Finanzermittlungsbehörde - Drucksache 17/12708 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Innenausschuss ({1}) Haushaltsausschuss Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke. ({2})

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke schlägt Ihnen vor, eine Bundesfinanzpolizei zu bilden, das heißt, aus der bisherigen Bundeszollverwaltung die Zollfahndungseinheiten und das Zollkriminalamt herauszulösen. Die Grundlage unseres Antrags ist ein Thesenpapier der Gewerkschaft der Polizei, also der GdP. Ganz nebenbei: Vorschläge aus Berufs- und Fachverbänden sollten ruhig öfter den Weg ins Plenum finden. ({0}) Der Zoll hat zwei zentrale Aufgaben: Erstens geht es in einem administrativen Teil um die Verwaltung der Bundessteuern, um die Vollstreckung von Geldforderungen des Bundes und bundesunmittelbarer Körperschaften und um die Überwachung der Einhaltung von Verboten und Beschränkungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr. Zweitens geht es - darum soll es hier und heute gehen - um polizeiliche Aufgaben, also um die Bekämpfung von Schmuggel, Außenwirtschaftskriminalität, international organisierter Geldwäsche, illegaler Beschäftigung, Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung zum Nachteil der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Diese Straftaten kosten den Staat - da dürften wir uns wohl alle einig sein - sehr viel Geld. Schätzungen belaufen sich auf einen Betrag von 4 Milliarden Euro - das ist eine vorsichtige Schätzung - bis hin zu einem Betrag von 50 Milliarden Euro. Allein die Summe des illegal in die Schweiz verbrachten Geldes wird auf 150 Milliarden Euro geschätzt. Was soll nun anders werden? Gegenwärtig ist der Bereich für Fahndung und Ermittlung in den 43 Zollfahndungsämtern zersplittert und nur zum Teil örtlich ausgerichtet, die Vernetzung ist sehr gering, und dann gibt es auch noch das Zollkriminalamt. Die Folge der Zersplitterung ist das Fehlen von Synergieeffekten zwischen den Ermittlungsstrukturen. Dies wiederum führt zu einer geringeren Kontrolldichte. Dadurch kommt es zu mehr unbemerkten Straftaten und letztendlich zu einem Ausfall von Steuereinnahmen in erheblichem Umfang. Die Höhe dieser Steuerausfälle bedient übrigens nicht ganz zu Unrecht das Bild: Die großen Fische dürfen - zumindest fast - ungestraft betrügen, die kleinen Fische dagegen verfolgt man mit großem Aufwand. ({1}) Lassen Sie uns doch in der kommenden Debatte darüber nachdenken, wie wir auch den großen Fischen besser das Handwerk legen können! ({2}) - Das steht in unserem Antrag gar nicht drin; das ist Blödsinn. Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie fragen wollen! ({3}) Unser Vorschlag lautet, dieses Problem mit einer Straffung der Strukturen anzugehen. Es geht überhaupt nicht darum, etwas völlig Neues zu schaffen. Der ganze Bereich der bisherigen Zollverwaltung bleibt im Verantwortungsbereich des Bundesfinanzministeriums, auch die Bundesfinanzpolizei. Es erfolgt jedoch eine Aufspaltung der bisherigen Bundeszollverwaltung in einen fiskalisch-administrativen Teil auf der einen Seite und einen - ebenfalls selbstständig agierenden - Fahndungsund Ermittlungsteil, die Bundesfinanzpolizei, auf der anderen Seite. Die Vorteile liegen auf der Hand: stärkere Vernetzung bei Zusammenarbeit und Informationsaustausch und damit mehr Ermittlungsbreite - es geht also um die kleinen und um die großen Fische - und eine spezialisiertere Ausbildung mit kriminalistischer Orientierung. Die Trennung von Verwaltung und Ermittlung ist - auch das ist wichtig - immer ein Fall für die Korruptionsprävention. ({4}) Eines möchte ich deutlich machen, weil es in der medialen Berichterstattung zu Missverständnissen gekommen ist: Bei unserem Vorschlag geht es nicht darum, in die Zuständigkeiten und Befugnisse der Länder einzugreifen. Es geht auch nicht darum, in die Befugnisse von Bundespolizei und Bundeskriminalamt einzugreifen; es geht um Aufgaben, die bereits jetzt in der Zuständigkeit der Bundeszollverwaltung liegen. Es geht auch nicht darum, die Befugnisse und Eingriffsrechte staatlicher Behörden auszuweiten und Bürgerrechtsstandards zu beschneiden; die bisherigen Befugnisse sind ausreichend. Es geht darum, durch verbesserte Strukturen bzw. durch eine einfache Strukturmaßnahme den finanziellen Schaden durch Straftaten zu verringern. Jede Milliarde mehr, die dadurch eingenommen wird, kann Kürzungen in den Bereichen Kultur, Bildung und Soziales verhindern helFrank Tempel fen, und das möchte doch hoffentlich jeder hier, auch die FDP. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die Unionsfraktion. ({0})

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau der Sicherheitsbehörden unter Berücksichtigung der Zollverwaltung - Sie hatten das eben geschildert ist ein Gedanke, der immer mal wieder, auch heute durch Ihren Antrag, in das politische Gespräch kam und teilweise noch kommt. Die Zielrichtung war, je nachdem, ob es eine finanz- oder eine innenpolitische Schwerpunktsetzung gab, unterschiedlich. Ich denke, wir begegnen uns hier durchaus mit großem Respekt. Im Mittelpunkt standen zumeist - Sie haben das gerade geschildert - ein Stück weit die Herauslösung wesentlicher Bestandteile aus dem Gesamtgefüge des Zolls, insbesondere im Vollzugsbereich, und der Aufbau einer neuen, anders gearteten Behördenstruktur mit verstärkt polizeilicher Ausrichtung; ich habe das jetzt einmal verkürzt ausgedrückt. Ich rede ausdrücklich in der Vergangenheit; denn genau deshalb hatten wir bereits zu Beginn der laufenden Legislaturperiode eine eigene Kommission, die sogenannte Werthebach-Kommission, damit beauftragt, sich mit der Struktur der Sicherheitsbehörden eingehend zu beschäftigen. Ausweislich des Berichts der WerthebachKommission von 2010 kommt eine entsprechende Umorganisation, die aufgrund der Vielzahl entstehender Schnittstellen keinen fachlichen Mehrwert hätte, bereits aus verfassungsrechtlichen Erwägungen und aufgrund der Kernaufgaben der Zollverwaltung - Sicherung der Staatseinnahmen und der Sozialsysteme, Schutz von Staat und Bürgern - nicht in Betracht. Damit nicht genug: Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages kam kurz danach in einem eigenen Gutachten zu einem vergleichbaren Ergebnis, nämlich dass die vollzugspolizeiliche Komponente der Zollverwaltung nicht von ihren steuerlich-administrativen Aufgaben getrennt werden könne. Diese Komponente stehe in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den Kernaufgaben der Zollverwaltung. Unabhängig vom Inhalt des Gesagten ist festzuhalten: Allein damit wird Ihre heutige Forderung nach einer erneuten - Sie beschreiben das in Ihrem Antrag - „Evaluierung der besonderen Befugnisse und Rechtsgrundlagen der Zollfahndung und des Zollkriminalamts“ zur Feststellung von Schnittstellen mehr als entbehrlich. Kolleginnen und Kollegen, Sie wärmen hier etwas auf, was längst geklärt ist. Das Ergebnis - wie vorgetragen ist Ihnen auch bekannt. ({0}) Herr Tempel, man könnte es dabei bewenden lassen; aber es ist an dieser Stelle einfach zu schön. Sie werfen dem Zoll obendrein vor - Sie begründen Ihre Initiative damit; das steht nicht wörtlich in Ihrem Antrag, aber an anderer Stelle -, es handle sich bei ihm um eine „ineffiziente Institution“, die mitverantwortlich sei an dem in Ihren Augen massiven Einnahmeproblem in Deutschland. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich lasse die Zwischenfrage zu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dann halte ich die Uhr an, und der Kollege Tempel hat das Wort für eine Zwischenfrage.

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin, Sie haben schon mitbekommen, dass sich meine Äußerung eindeutig auf die Strukturen bezog und nicht auf die Arbeit der Mitarbeiter?

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nur zitiert, was Sie in der Clara, Ausgabe 27 vom 13. Februar 2013, geschrieben haben: Das liegt … an ineffizienten Institutionen … wie zum Beispiel dem Zoll. ({0}) - Ich habe sie gehört. - Schauen Sie, Herr Tempel, ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken. ({1}) Sie wollen doch Mitarbeiter in Ihrem Sinne motivieren. Umso unverständlicher ist es, wenn Sie mit solchen Aussagen agieren. ({2}) Ich meine das gar nicht böse; ich sage nur, was Sie vorhaben. Es mag meine persönliche Ansicht sein; aber ich muss schon sagen: Ich betrachte das als einen Schlag ins Gesicht der 40 000 Zöllnerinnen und Zöllner, die ihrer täglichen Arbeit mit einem gewissen Stolz nachgehen. ({3}) Herr Tempel, es geht Ihnen um die Einnahmen. Diese, wie Sie sie nennen, ineffiziente Institution nimmt jedes Jahr immerhin die Hälfte der dem Bund zufließenden Steuern ein: rund 125 Milliarden Euro. Sie hat gefälschte Ware im Wert von 127 Millionen Euro eingezogen. Sie hat Schäden durch Schwarzarbeit im Umfang von 750 Millionen Euro aufgedeckt. Sie hat 29 Tonnen Rauschgift beschlagnahmt. Sie hat 543 000 Personen und 66 000 Arbeitgeber überprüft. Sie hat 146 Millionen Schmuggelzigaretten eingezogen. Es muss Ihnen doch klar sein, dass die Zollverwaltung alles andere ist als eine ineffiziente Institution, dass hier Menschen sehr gut und effizient und prozessorientiert ihrer Arbeit nachgehen. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bundespolizei wie Zoll leisten eine wertvolle Arbeit in einem oft schwierigen Umfeld. ({5}) Ihnen gebühren unsere Achtung und unser Respekt. Wir haben uns aus den genannten Gründen dafür entschieden, bei gemeinsamen Schnittstellen die Zusammenarbeit der Behörden ganz unmittelbar vor Ort - ob im Einsatz, in der Ausbildung, beim Training, bei der Ausstattung oder anderem mehr - zu intensivieren und zu unterstützen. Diese Zusammenarbeit ist vielleicht noch nicht in jedem Fall vorhanden. Aber ich habe zwischenzeitlich, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen, mehrfach die Gelegenheit wahrgenommen, mir das Wachsen dieser Strukturen vor Ort anzuschauen, und werde gerne weiter daran arbeiten. Diese Besuche, die Gespräche und die Unterstützung durch dieses Haus dienen der Motivation deutlich mehr, als wenn bestehende, durchaus effiziente Strukturen aufgelöst werden. ({6}) - Herr Tempel, es gibt ja auch andere Meinungen an anderer Stelle. Ich habe mich von Anfang an gefragt, wieso ausgerechnet die Linke einen solchen Antrag stellt. Immerhin geht es darin um die Gründung einer Bundesfinanzpolizei, deren Ausrichtung eng an der der Bundespolizei angelehnt ist - bis hin zu einer Verankerung in Gesetzen ähnlich der der Bundespolizei. Allein in diesem Satz kam dreimal „Polizei“ vor. Ihnen persönlich nehme ich das sogar noch ab. Wie passt das aber zu Folgendem - das sind nur drei Beispiele; gehen Sie ins Internet -: „… Linke attackieren Chef der Bundespolizei“, „Linke kritisieren Kontrollpraxis der Bundespolizei“, „Linke kritisieren Personenkontrollen der Bundespolizei“. Dabei erwähne ich gar nicht erst die zahllosen Meldungen unter den Stichworten „Die Linke“ oder einfach nur „Polizei“ oder Ihre verschiedenen und durchaus auch kritischen Anfragen zu dieser Personengruppe hier im Deutschen Bundestag. ({7}) Herr Tempel, ich frage mich mit Erstaunen: Was würde sich bei Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei eigentlich an Ihrem Duktus ändern, und warum sollte sich in den Reihen Ihrer Partei etwas ändern? Nein, Sie haben es ja selber erwähnt: Dafür soll es jetzt einen eigenen Bundesfinanzpolizeibeauftragten geben, ({8}) der die Einhaltung der gesetzlichen Regeln und bürgerlichen Standards durch eine Bundesfinanzpolizei kontrollieren soll. So ganz scheinen Sie der von Ihnen beantragten Behörde dann also doch nicht zu trauen, da Sie den Bediensteten von Anfang an ein Misstrauen aussprechen; denn für die allgemeine Kontrolle fordern Sie parlamentarische Kontrollgremien gleich noch dazu. Herr Tempel, wenn man an die ganz großen Fische will, dann gilt am Ende des Tages doch eines: Auf harte Jungs und Straftaten folgt im Rahmen unserer Gesetze zwangsläufig auch schon einmal eine harte Kante beim Vollzug. Das geschieht bereits heute, ist aber nachweislich nicht gerade Ihre Linie. ({9}) Würde Ihrem Antrag gefolgt, dann hätte manch einer mit großer Wahrscheinlichkeit seine helle Freude an Ihnen - vermutlich vor allem die ganz großen Fische. Ich fasse zusammen: ({10}) Die Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit ist in der Tat Grundlage für das Funktionieren unseres Staates. Es geht um Steuergerechtigkeit, es geht um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen, und es geht natürlich um den Vollzug. Bundes- und Zollkriminalamt, Bundespolizei und Zoll und auch die Landespolizeien mit ihren vielen Tausend Bediensteten arbeiten in diesem Sinne effektiv und prozessorientiert. Durch eine Umstrukturierung entstünden nach Maßgabe der genannten Gutachten nur neue Schnittstellen, die einen echten Mehrwert verhindern. Manchmal erreicht man Effektivität auch mit flexiblen Einheiten in der Fläche. Keine dieser Behörden ist statisch verharrend ausgerichtet, sondern sie richten ihre Arbeit natürlich immer wieder neu auf die neuen Herausforderungen aus. Das ist ein dynamischer Prozess. Unser Ziel sind Formen der vertieften Zusammenarbeit, wo es notwendig ist bzw. Berührungspunkte gibt. Wir laden Sie herzlich ein, uns und die Arbeit vor Ort am weiteren Aufbau zu unterstützen. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPDFraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! All das, was bisher gesagt wurde, ist weder in Gänze richtig noch in Gänze falsch. Ich denke, es ist wichtig, noch einmal herauszuheben, dass uns Wirtschaftskriminalität, Steuerbetrug, Korruption, Geldwäsche und organisierte Kriminalität vor gewaltige Probleme stellen und dass sie gewaltige Herausforderungen darstellen, die wir natürlich angehen müssen, und zwar noch intensiver und effektiver als bisher. Wir müssen hier maximal tätig werden. Es wird hier nämlich ein immenser Schaden angerichtet, und zwar letztendlich nicht nur vom Betrag her. Es geht hier um nichts anderes als um die Integrität unserer Volkswirtschaften und unserer Staatsfinanzen und auch um das subjektive Gefühl, dass wir die großen Fische in der Tat nicht davonschwimmen lassen, sondern hier auch zugreifen, wenn es möglich ist. ({0}) Zweifelsohne wachsen die Anforderungen an die Beamtinnen und Beamten, die diese Kriminalitätsform und ihre Folgen bekämpfen sollen. Das betrifft auch den Zoll und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die trotz gewaltiger Arbeitsbelastung großartige Arbeit leisten. Ich denke, das muss an dieser Stelle und in dieser Debatte klar herausgearbeitet und erwähnt werden. ({1}) Der Antrag der Linksfraktion spricht - das will ich betonen - Richtiges und Wichtiges an. Aber sinnvolle Lösungen bietet er aus unserer Sicht nicht. Vieles bleibt unterm Strich Stückwerk, das nicht zusammenpasst. Wichtig erscheint mir der Hinweis, dass wir in der letzten Legislaturperiode Strukturreformen bei der Zollverwaltung in Angriff genommen haben. Jetzt ist die Frage, ob wir an diesen Ergebnissen schon wieder herumdoktern wollen oder ob wir nicht erst einmal detailliert erfassen wollen, wie sich die Reformen auf längere Sicht bewähren. Ich meine, hier sollten wir in Ruhe entsprechende Verbesserungsspielräume erörtern, ohne aber auszuschließen, dass wir an den Schnittstellen die eine oder andere Verbesserung benötigen. Letztendlich sind Vorschläge in diesem Zusammenhang immer willkommen; denn - auch das erscheint mir wichtig - zollintern sind natürlich noch längst nicht alle Stellschrauben passend justiert. Das zeigt auch eine von Verdi zitierte Erhebung aus dem letzten Jahr. Diese Erhebung, dieser Bericht sollte uns zu denken geben. Bei der Mitarbeiterbefragung hat die Hälfte der Beschäftigten auf die Frage, ob sie, wenn sie noch einmal die Entscheidung treffen müssten, zum Zoll gehen würden oder nicht, geantwortet, nein, sie würden nicht mehr zum Zoll gehen. Deswegen meine ich, dass wir in der Tat überlegen sollten, was wir politisch dazu beitragen können, um dienstebenenübergreifend für mehr Zufriedenheit zu sorgen. Die Beamtinnen und Beamten brauchen - so ist meine Meinung - zunächst einmal Erwartungssicherheit, auch in organisatorischer Hinsicht, und keine unausgegorenen Rufe nach einer schnellen Neustrukturierung. Dies wäre letztendlich weder Fisch noch Fleisch. Das betrifft eben auch den Antrag der Linksfraktion, den wir unter dieser Rubrik einordnen müssen. Darin wird nach einer Bundesfinanzpolizei und nach einem Auflösen von aufgeblähten Mittelbehörden gerufen. Dazu sagen wir: Das scheint doch eher ein Schnellschuss zu sein als tatsächlich ein konsequent durchdachtes Konzept. Ich kann das zusammenfassen, indem ich den Bund Deutscher Kriminalbeamter zitiere, der uns über Sebastian Fiedler heute seine Stellungnahme hat zukommen lassen: Die schwerwiegenden Kriminalitätsprobleme und komplexen Bedrohungen erfordern intelligente Lösungen und keine unausgegorenen polemischen Forderungen wie beispielsweise im Antrag der Linksfraktion. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Birgit Reinemund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich sind wir uns einig, dass wir massiv gegen Steuerbetrug, gegen Wirtschaftskriminalität vorgehen müssen. Dem Staat entstehen jährlich Milliardenverluste durch Finanzkriminalität und Wirtschaftskriminalität, durch Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug, Geldwäsche, Korruption und Schmuggel. Allein circa 30 Milliarden Euro jährlich gehen dem Staat durch Steuerhinterziehung verloren. Davon könnten rund 10 Milliarden Euro für den Staat gerettet werden, wenn die Steuerfahndung ihren Aufgaben angemessen ausgestattet wäre, schätzt die Deutsche Steuer-Gewerkschaft. Hier stehen die Länder in der Verantwortung. Hier müssen sie ihrer Verantwortung gerecht werden. Weitere zweistellige Milliardenbeträge werden dem Staatshaushalt durch Wirtschaftskriminalität entzogen. Dagegen geht diese christlich-liberale Koalition mit aller Macht vor, ({0}) intensiver und konsequenter als je zuvor. Wir haben in dieser Legislatur eine ganze Reihe Gesetze dazu auf den Weg gebracht, national umgesetzt oder international angestoßen, zum Beispiel das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung, zum Beispiel die circa 90 Doppelbesteuerungsabkommen inklusive Informationsaustausch, die wir neu abgeschlossen oder auf den neuesten Stand der OECD gebracht haben, zum Beispiel das Abkommen mit der Schweiz - Sie haben die Summe von 150 Milliarden Euro deutscher Steuergelder in der Schweiz angesprochen -, das Sie im Bundesrat verhindert haben, mit dem erstmals sogar rückwirkend eine Nachbesteuerung von illegalem Geld im Ausland ausgehandelt wurde. ({1}) Seit 1. Januar 2013 könnten wir bereits die Nachbesteuerung auf Altvermögen haben plus eine Abgeltungsteuer auf alle künftigen Kapitalerträge ({2}) und damit eine Gleichbesteuerung mit Deutschland. ({3}) Seit Januar könnten Milliardeneinnahmen aus der Schweiz nach Deutschland fließen, und das Jahr für Jahr. Dieses Geld fehlt nun dem Bund, den Ländern und den Kommunen. Es geht Ihnen doch um die Einnahmen, Herr Tempel. ({4}) Aber das haben SPD, Grüne und Linke im Bundesrat verhindert. ({5}) Sie setzen lieber auf Zufallsfunde und Steuer-CDs als auf eine flächendeckende Besteuerung. ({6}) Eine gleichmäßige Steuererhebung und das Durchsetzen von Steueransprüchen ist eine Frage der Steuergerechtigkeit; das sollte doch Ihr Thema sein. Gleichmäßig heißt in Deutschland auch einheitliche Auslegung, Umsetzung und Durchsetzung des Steuerrechts in allen Bundesländern. Es wird immer wieder bemängelt, dass die einzelnen Landesfinanzdirektionen eine unterschiedliche Anzahl an Steuerfahndern mit unterschiedlichen Fahndungsschwerpunkten einsetzen und Steuerrecht unterschiedlich strikt auslegen. Deshalb forderte die FDP bereits 2007 in der Föderalismuskommission II mehr Weisungsbefugnis der Bundesfinanzverwaltung gegenüber den Landesfinanzbehörden. Dies fand keine Mehrheit, da SPD, Grüne und Linke schon damals lieber zentralisieren wollten und die Länder jede Veränderung ablehnten. Die Forderung der Linken in ihrem Antrag ist also nicht neu: eine Trennung der Zollverwaltung in eine Bundesfinanzpolizei und in eine administrative Bundesfinanzverwaltung, beide dem BMF unterstellt. Wir dagegen sehen keine Qualitätsverbesserung alleine durch Zerschlagung, Zentralisierung und Umorganisation von Behörden. Sinnvoller ist, die Zusammenarbeit der Bundes- und Landesbehörden sowie zwischen Bundespolizei und Zollverwaltung zu verbessern und unsere Behörden vor allem international noch stärker zu vernetzen. Schnittstellen müssen klarer definiert, Synergien gehoben werden. Auch hier hat diese Koalition bereits gehandelt. Die Bundesregierung hat 2010 die WerthebachKommission ins Leben gerufen, ({7}) genau mit dem Ziel, die Aufgaben sowie die Ablauforganisationen der einzelnen deutschen Sicherheitsbehörden auf Bundesebene darzustellen, zu vergleichen und Vorschläge für eine bessere Verzahnung zu erarbeiten. Sie kam zu dem eindeutigen Ergebnis - Frau Lips hat es deutlich ausgeführt -, dass ein Heraustrennen der polizeilichen Aufgaben des Zollvollzugs - was die Linke als Bundesfinanzpolizei bezeichnet - aus der Zollverwaltung mehr Reibungsverluste erzeugen würde, als dadurch Verbesserungspotenzial zu erwarten wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, auch Sie sollten diese Ergebnisse kennen. Sie stellen hier eine plakative Forderung auf, die längst geprüft und als schlecht verworfen ist. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1998 zum Bundesgrenzschutz eindeutig klargestellt, dass der Bundesgrenzschutz „nicht zu einer allgemeinen, mit den Landespolizeien konkurrierenden Bundespolizei ausgebaut werden“ darf. Der Vorschlag der Linken wäre demnach ebenfalls verfassungswidrig. Daran ist einfach nicht zu rütteln. Ohne Frage sehen wir die Notwendigkeit, Aufgaben zu straffen, Kompetenzen klar zu definieren und Doppelzuständigkeiten abzubauen; darin sind wir uns einig. Doch genau dies ist Aufgabe und Ziel der im Januar dieses Jahres neu eingerichteten Regierungskommission zur Evaluierung der Sicherheitsgesetze. Wir sollten die Ergebnisse der Arbeit dieser Kommission abwarten. ({8}) Das ist allemal effektiver, als grundgesetzlich bedenkliche Anträge und bereits als schlecht bewertete Vorschläge immer wieder zu diskutieren. Im Ziel sind wir uns einig: Bekämpfung von Steuerbetrug und Wirtschaftskriminalität sichert dem Staat ihm zustehende Einnahmen - eine Frage der Haushaltssicherung und eine Frage der Steuergerechtigkeit. Machen Sie mit! ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will nur ganz kurz auf das Abkommen mit der Schweiz eingehen, das Sie, Frau Kollegin Reinemund, angesprochen haben. Ihre Sicht ist interessant. Warum haben denn gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Steuerverwaltung und aus dem Justizbereich der Länder massiv davor gewarnt, ein solches Abkommen abzuschließen? Gerade weil es verhindert hätte, dass zahlreiche Straftaten im Bereich der Wirtschaftskriminalität aufgedeckt werden. ({0}) Das war einer der Gründe, warum wir dieses Abkommen zu Recht abgelehnt haben, nämlich damit die Ermittlungen möglich bleiben und nicht alles in der Anonymität versinkt. ({1}) Konkret zu dem Antrag der Linksfraktion: Uns erreichen die Hinweise von den Beschäftigten, dass es eine Unzufriedenheit gibt. Kollege Gerster hat auf die Umfrage hingewiesen. Sie haben das Gefühl, dass sie ihre Arbeit nicht so tun können, wie sie sie tun sollten. Das ist zunächst einmal etwas, was wir auf jeden Fall ernst nehmen sollten. Es gibt ein zweites Argument - das ist am Anfang Ihres Antrags genannt -, nämlich dass es wachsende Aufgaben in dem Themenbereich Wirtschaftskriminalität gibt. Tatsächlich können wir - das zeigen verschiedene Ermittlungen zur Geldwäsche im Rahmen der Finanzkrise, die teilweise nicht zum gewünschten Erfolg führen - feststellen, dass eine strukturelle Unterlegenheit der Behörden besteht. Jetzt muss man sich fragen, ob der Vorschlag geeignet ist, diese Probleme wirklich zu lösen. Da gibt es eine Reihe von Zweifeln. Ich glaube nicht, Frau Lips, dass die Werthebach-Kommission da schon das abschließende Wort gesprochen haben kann. Das ist eine rein von der Exekutive besetzte Kommission gewesen, die viele unabhängige Stimmen nicht berücksichtigt hat und deswegen gerade nicht zu einer Befriedung dieser Diskussion führen konnte. Trotzdem: Es gibt eine verfassungsrechtliche Trennung, und wir müssen die Frage stellen, ob mit der Entwicklung einer Bundesfinanzpolizei nicht die Frage der Zuständigkeit des Bundes und der Länder berührt ist. Im Zweifelsfall sollen die polizeilichen Aufgaben bei den Ländern sein. Das halten wir für verfassungsrechtlich richtig und geboten. Man muss sich fragen, ob die Folgen für die Beschäftigten mit dieser Strukturveränderung dann schon wirklich positiv sind. Es erreichen uns von den Beschäftigten anderer Institutionen warnende Hinweise, dass das Problem damit möglicherweise nicht gelöst, sondern verschärft wird. Auch diese Hinweise sind ernst zu nehmen. Es stellt sich die Frage der Abgrenzung zu den Aufgaben der Landespolizeien und die Frage, die Herr Gerster angesprochen hat, nämlich ob man kurz nach der Reform in der letzten Legislaturperiode jetzt erneut an eine Reform herangeht und in welcher Form das geschehen soll. Ich finde, dass Ihr Antrag genau diese Abwägung der verschiedenen Aspekte nicht vornimmt und nicht zeigt, wie die Strukturveränderung zu einer wirklichen Problemlösung führt, ohne neue Probleme aufzuwerfen. Genau deswegen glaube ich, dass dieses Thema einer weiteren Diskussion bedarf. Es gibt tatsächlich ein Nebeneinander von verschiedenen Institutionen. Uns erreichen Hinweise, dass es teilweise schwierig ist, zu einer guten Zusammenarbeit zu kommen. Aber lassen Sie uns das etwas gründlicher anschauen und dann mit einem Diskussionsprozess beginnen, der wirklich die verschiedenen Stimmen berücksichtigt und nicht nur auf wenige Stimmen Bezug nimmt und damit keine Zufriedenheit bei den Beschäftigten schafft. Da hat die Koalition meines Erachtens das Nötige noch nicht getan. Darauf weisen Sie zu Recht hin. Aber die Lösung, die Sie vorschlagen, ist unseres Erachtens noch nicht zustimmungsfähig. Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Michael Hartmann für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat vieles im Bereich unserer gesamten Sicherheitsarchitektur nicht richtig sortiert und zugeordnet. Das gilt auch für den Zoll und in besonderem Maße für den sogenannten waffentragenden Zoll. Wenn man sich beispielsweise überlegt, dass immer noch, nachdem bekannt wurde, dass bei der Fracht in Passagiermaschinen vieles nicht so läuft, wie wir es uns wünschen würden, der Kompetenzstreit um Stellen und Zuordnung zwischen dem Finanzministerium, dem Verkehrsministerium und dem Bundesinnenministerium tobt, wird klar, dass keiner sagen kann: Mit dem Zoll, seiner Aufgabenwahrnehmung und seiner Zuordnung ist alles in Ordnung. Aber das haben nicht die Beamtinnen und Beamten am Frankfurter Flughafen oder anderswo zu verantworten, sondern eine Bundesregierung, die nichts anderes tut, als um Stellen zu streiten und das Kompetenzgerangel auf dem Rücken der Beamtinnen und Beamten auszutragen. ({0}) Deshalb meine ich: Wir müssen gemeinsam den Mut haben, in Fragen der Sicherheitsarchitektur eine Aufgabenkritik überall und an jeder Stelle vorzunehmen. Dazu gehört unbedingt der Zoll. Wenn nun immer wieder das Michael Hartmann ({1}) Stichwort „Werthebach-Kommission“ fällt, sei dazu aus meiner Sicht eines gesagt: Fragen Sie doch bitte mal den Herrn Werthebach, was er heute von seinen damaligen Auftraggebern hält. Er wurde vorgeschoben, durfte zusammen mit anderen hochmögenden ehemaligen Präsidenten von Sicherheitsbehörden nachdenken, musste bestimmte Fragen tabubewusst ausklammern und wurde dann, nachdem das Ganze präsentiert worden war, sofort zurückgepfiffen. Es ist gar nichts daraus geworden. In der Frage des Zolls wurde die Aussage getroffen: Bitte gar nicht erst anfassen. Genau das ist verkehrt. Man muss sich auch den Problemen der Abgrenzung stellen. Man darf nicht von vornherein Tabus schaffen und sagen, die Sache sei erledigt. In der Tat: Der Zoll ist eine wichtige Sicherheitsbehörde unseres Landes. Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern erklären wollen, dass zum Beispiel die Bekämpfung von Drogenschmuggel, die Bekämpfung von Schleuserkriminalität, die Bekämpfung von illegalen Aktivitäten organisierter Kriminalität auch mit dem Instrument der Onlinedurchsuchung und mit verdeckten Ermittlern wahrgenommen wird, und dann fragen würden: „Wer macht das denn?“, würden, glaube ich, die meisten Bürgerinnen und Bürger antworten: Das macht doch die Polizei. Ob Bundes- oder Landespolizei oder Bundeskriminalamt, sei einmal dahingestellt. Nein, das alles macht der Zoll. Deshalb muss es erlaubt sein, zu fragen, ob der Zoll, der so weit im Bereich der Gefahrenabwehr, der unmittelbaren Gewalt, der verdeckten Maßnahmen tätig ist, nicht tatsächlich auch besser und geordneter als Polizei verstanden werden muss, als das in der Vergangenheit der Fall war. Insofern ist die Fragestellung im Antrag der Linken unbedingt eine berechtigte. ({2}) Allerdings sind wir der Meinung, dass es sich lohnt, alles genau anzuschauen und nicht sofort Ergebnisse zu präsentieren; denn wir sind beispielsweise dann in einem Feld, das der intensiven Diskussion bedarf, wenn wir fragen: Was kann durch den Gesetzgeber eigentlich vorgegeben werden? Wo sind wir in Bereichen, die der Organisations- und Personalhoheit der Ministerien unterliegen, in denen das Parlament gar nichts zu sagen hat? Wo kommen wir in Bereiche hinein, die durch das Grundgesetz klar dem bisherigen Zoll zugewiesen sind? Jetzt ist mir völlig klar, dass - ganz gleich, wer regiert und wer wo Minister ist - niemand sich eine so schmucke Truppe so einfach aus dem Ressort herausschneiden lässt. Zugleich stellt sich allerdings die Frage, ob es sachadäquat ist, allein dem Finanzminister bestimmte Aufgaben einer eigentlich polizeilich orientierten Behörde zuzuordnen. Deshalb sind wir der Meinung, lieber Frank Tempel: Es ist nicht richtig, zu sagen: „Wir brauchen ein Sonderkontrollgremium für diese Einheiten“, sondern das muss schon im klassisch parlamentarischen Verfahren weiterlaufen. Wir sind auch keineswegs der Meinung, dass die gesamte Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität nun bei dieser zukünftigen Bundesfinanzpolizei angesiedelt sein sollte, sondern wir meinen, eine strenge und an der Aufgabe orientierte Kritik muss an der einzelnen Wahrnehmung im Sicherheitsbereich erfolgen. Dann kann man zu gescheiten und zielführenden Lösungen kommen. Insofern ist es gut, wenn wir mit den Freunden der GdP, der DPolG, des BDK reden. Aber wir sollten als Parlamentarier nie einfach deren Position übernehmen, sondern eigenständig in der Gesamtschau prüfen. Wir sollten im Übrigen auch nie sagen: Die Welt ist gut, so wie sie ist. Meine Damen und Herren von der Koalition, sie kann immer noch besser werden, auch beim Zoll. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12708 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innenausschuss. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) - Drucksache 17/12816 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Vizepräsidentin Petra Pau Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die Unionsfraktion. ({2})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Welch wunderbare Abkürzung - EUZBBG: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Für die Bürgerinnen und Bürger können wir das einfach übersetzen: Es geht um ein Mitsprachegesetz, ein europäisches Mitsprachegesetz. Im vergangenen Jahr hat das Bundesverfassungsgericht Leitsätze zu den Informationspflichten, zum Umfang, Zeitpunkt und zu der Qualität der Unterrichtung zwischen Bundesregierung und Bundestag entwickelt. Wir haben damals dieses Urteil, so auch unser Fraktionsvorsitzender, ausdrücklich begrüßt. Eine Neufassung des bisherigen Beteiligungsgesetzes forderte das Gericht nicht. Der Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts lautet: Je mehr Kompetenz auf die europäische Ebene verlagert wird, desto mehr Kontrollrechte der Parlamente muss es geben. - Das ist der Hauptleitsatz des Verfassungsgerichtsurteils. Deshalb haben wir uns im vergangenen Jahr fraktionsübergreifend darauf verständigt, ein neues Beteiligungsgesetz in Angelegenheiten der Europäischen Union auf den Weg zu bringen. Es freut mich, dass es gelungen ist, heute einen gemeinsamen Vorschlag aller Fraktionen in das Parlament einzubringen. An dieser Stelle sage ich ein ausdrückliches Danke an alle, die daran mitgewirkt haben, an alle Beteiligten, die diesen Gesetzentwurf in der Arbeitsgruppe erarbeitet haben. Herzlichen Dank dafür! ({0}) Danke sage ich auch deshalb, weil dieser Gesetzentwurf sowohl aus dem Blickwinkel des Bundestages wie auch der Regierung zu betrachten ist. Er ist ebenso unabhängig vom derzeitigen Rollenverständnis zu betrachten, ob Regierungsfraktion oder Oppositionsfraktion - in der fernen Zukunft mögen die Rollen vielleicht auch einmal wechseln. ({1}) Aber um das an dieser Stelle klar zu sagen: Es geht um die frühzeitige und vollständige Unterrichtung des ganzes Parlamentes, um - wie es unser Bundestagspräsident formuliert hat - der „zentralen Stellung des Bundestages als Ort der öffentlichen politischen Auseinandersetzung und der rechtsverbindlichen Entscheidung“ gerecht zu werden. Es geht um unseren Beitrag zur „demokratischen Legitimation der EU“. Darum geht es auch hier im Deutschen Bundestag. ({2}) Herausgekommen ist ein Gesetz, das - und das halte ich für sehr wichtig - die notwendige Balance wahrt zwischen der parlamentarischen Kontrolle und Mitwirkung einerseits sowie der Eigenverantwortung und Handlungsfähigkeit der Exekutive andererseits. Diese Balance war uns auch ein Anliegen in den Gesetzesberatungen. Wir schaffen damit mehr Transparenz durch stärkere Kontrolle und mehr demokratische Legitimation durch parlamentarische Mitwirkung. Die Regierung - um das abschließend dazu zu sagen - benötigt Handlungsfähigkeit und parlamentarische Rückbindung gleichermaßen. Beides gehört zusammen. ({3}) Einen besonderen inhaltlichen Hinweis will ich noch geben: Auch die Beteiligung des Parlamentes beim Thema Einführung des Euro in einem Mitgliedstaat ist durch eine Einvernehmensregelung in einem eigenen Absatz noch einmal gestärkt worden. Ich denke, das ist ein wichtiges Element. Die wesentlichen Neuerungen liegen auch darin, dass die Unterrichtungspflichten auf völkerrechtliche Verträge und Regierungsvereinbarungen ausgedehnt worden sind, sobald diese in einem besonderen Näheverhältnis zur Europäischen Union stehen. Die Unterrichtungspflichten umfassen alle Ebenen. Dabei ist natürlich klar, dass die Informationsqualität, die Informationstiefe in dem Maße zunehmen, in dem man sich im Laufe eines Prozesses der politischen Entscheidungsebene nähert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind überzeugte Europäer. Sie stehen hinter Europa. Sie leben auch Europa, und sie leben es - das sehe ich auch in meiner Heimat - mit großer Selbstverständlichkeit. Aber gerade in den vergangenen Jahren sind Themen zum Euro aufgekommen - das beschäftigt uns ja auch aktuell in dieser Woche - wie Schuldenkrise oder Rettungsschirm. Thema war aber auch manche Richtlinie, die wir diskutieren, etwa die Trinkwasserrichtlinie oder aber auch die Richtlinie, in der es darum ging, wie Feuerwehrkräfte in die Arbeitszeitrichtlinie zu integrieren sind. Hier wären viele Themen aufzuzählen. Wenn es um diese Themen geht, fragen viele der Bürger uns Bundestagsabgeordnete: Blickt ihr da noch durch? ({4}) Seid ihr da genügend eingebunden? Bestehen da genügend Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten? Ich denke, mit diesem Gesetz können wir zumindest eine bessere Antwort auf diese Fragen geben, was Mitwirkung, Unterrichtung und Kontrolle angeht. ({5}) Es ist auch unsere parlamentarische Aufgabe in Deutschland, für Europa Subsidiarität, gewollte Vielfalt wie auch nationale Besonderheiten im Blick zu behalten. Wenn erst einmal die Fristen für eine Subsidiaritätsrüge oder eine Subsidiaritätsklage zu laufen beginnen, ist es meist schon zu spät. Deswegen muss das politische Handeln des Bundestages frühzeitiger einsetzen; das bedingt entsprechende Informationen. Ich will zum Schluss nicht übertriebenes Pathos verbreiten, aber ich möchte persönlich sagen, dass wir mit diesem Gesetz sehr wohl, vielleicht auch modellhaft in Europa, einen Weg aufzeigen, wie man parlamentarische Mitwirkung, parlamentarische Kontrolle und damit die vom Bürger ausgehende demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen besser gestalten und stärken kann. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Axel Schäfer hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein besonderer Tag für unser Parlament, und zwar aus vier Gründen: ({0}) Der erste Punkt ist: Es geht um das Selbstverständnis unseres Hauses. Unser Selbstverständnis lautet: Wir wollen und wir müssen und wir werden parlamentarische Rechte gemeinsam wahrnehmen. Zu diesem Zweck sind wir auch in der Lage, über Fraktionsgrenzen, über die Konstellation von Regierung und Opposition hinauszugehen. „Denken“ heißt auch immer „überschreiten“. Wir haben das überschritten, indem wir es geschafft haben, dass ein gemeinsamer Gesetzentwurf von FDP, CDU/CSU, Grünen, Linken und SPD vorgelegt wurde. Das ist nicht nur ein Wert für uns; das ist auch ein Wert an sich für die parlamentarische Demokratie. Darauf sollten wir in diesem Hause gemeinsam stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Das ist auch ein Beispiel dafür, dass Gesetzgebung allein durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier möglich ist - das heißt, es gab nicht irgendwelche Vorlagen, die uns die Regierung oder wer auch immer geschrieben hat - und dass wir in der Lage sind, Sachkompromisse zu finden. Das ist ganz besonders wichtig: Sachkompromisse zu finden. Jetzt möchte ich etwas machen, was im Parlament sehr oft vergessen wird, nämlich mich einmal bei denen bedanken - an dieser Stelle muss ich in mein Manuskript gucken -, die für das Zustandekommen eine wichtige Arbeit geleistet haben, nämlich bei unseren Referentinnen und Referenten, die uns wirklich ausgezeichnet unterstützt haben. ({2}) Namentlich sind zu nennen: Paul Göttke von der CDU, Dr. Fabian Schulz von der SPD, Jakob Redl von den Grünen, Jens Lorentz von der FDP und Janeta Mileva von der Linkspartei. Ganz herzlichen Dank an dieser Stelle! ({3}) Es wird ja sehr oft vergessen, aber wer sich mit europäischen Zusammenhängen beschäftigt, erlebt das jeden Tag: Unser Deutscher Bundestag ist deshalb so stark und kann sich in einzelnen Fragen so stark machen, weil er das bestausgestattete Parlament in der EU ist, und zwar hinsichtlich unserer Strukturen und unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das kommt hinzu. Auch darauf müssen wir achten und dürfen nicht nur das im Blick haben, was wir selbst machen und können. ({4}) - Gerne, Manuel. - Ach so, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bei so viel Einigkeit habe ich nicht mit einer Meldung gerechnet. Aber der Kollege Sarrazin hat für eine Bemerkung oder Frage das Wort.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schäfer, sind Sie bereit, hier auch zu würdigen, dass von unserer Fraktion auch das Justiziariat maßgeblich beteiligt war, vor allem in Person von Herrn Tabbara? ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das mache ich gerne. Die anderen Namen hatte man mir aufgeschrieben. Ihr wisst ja: die lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vielleicht hat da jemand gefehlt. Der zweite Punkt nach dem Selbstverständnis ist die Selbstkritik. Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht allein aus unseren Erkenntnissen und guten Ideen entstanden, ({0}) Axel Schäfer ({1}) sondern auch aus schlechten Erfahrungen, respektive einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, etwas zu tun. ({2}) Das ist schon eine klare Ohrfeige für die Haltung der Regierung, die uns weismachen wollte, ESM und andere wichtige Verträge wären keine europäischen Angelegenheiten, weil sie in den europäischen Verträgen gemeinschaftlich nicht vorkommen. Das war falsch. Dass uns erst ein Gericht darüber belehren musste, sollte - so richtig und wichtig es war - in Zukunft nicht mehr notwendig sein. Wir sollten schon Manns und Frau genug sein, gemeinsam darauf zu kommen, und zwar egal, in welchen Regierungs- und Oppositionskonstellationen wir uns befinden. Es gehört auch dazu, zu sagen: Jawohl, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen haben geklagt. Zum einen Glückwunsch, dass sie es gemacht haben, zum anderen Glückwunsch, dass dies zum Erfolg für uns alle geführt hat. Vielen Dank! ({3}) - Es dürfen auch die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP klatschen. Ich finde, das gehört auch dazu. ({4}) Der dritte Punkt: Aus dieser Erfahrung muss eine Selbstverpflichtung für das ganze Haus entstehen. Selbstverpflichtung heißt, dass wir in Zukunft die Dinge, die wir von der Regierung erwarten und die wir auch kontrollieren, immer zu unserer eigenen Sache machen. Das heißt, dass wir uns auf der Grundlage der Informationen und der Berichte, die uns vorliegen, selbst zu mehr Stellungnahmen dieses Hauses verpflichten. Die entsprechenden Diskussionen müssen nicht immer nur an Fraktions- oder Koalitionsgrenzen entlang verlaufen. Wir müssen darüber hinaus überlegen, ob wir gemäß Art. 45 Grundgesetz dem Europaausschuss häufiger die Möglichkeit einräumen, die Rechte des Bundestages wahrzunehmen; Stichwort: plenarersetzende Beschlüsse. Auch das ist ein wichtiger Punkt, der leider sehr oft vergessen wird. Es gehört aus meiner Sicht auch dazu, zu überlegen, ob wir auf der Grundlage des Art. 45 Grundgesetz einen neuen Querschnitts- oder Unterausschuss schaffen, um das zu erreichen, was bei der Änderung des Grundgesetzes vor über 20 Jahren noch nicht bedacht wurde, nämlich neue parlamentarische Möglichkeiten der Kontrolle bei Entscheidungen im Bereich der Finanzen und der Wirtschaft in der EU zu schaffen. Es reicht ja nicht, dass wir uns immer über Zuständigkeiten - Unterrichtungen etc. - streiten, also sozusagen über die innere Architektur. Vielmehr kommt es auch auf die gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen an. Dazu gehört auch - die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Frau Merkel von der SPD, hat dies schon zu Recht eingefordert -, dass wir uns dafür einsetzen müssen, dass das Kalendarium innerhalb der EU zwischen den nationalen Parlamenten und dem EP so ausgestaltet wird, dass wir als Parlamente einmal im Jahr mindestens eine Woche gemeinsam tagen können, um uns zu beraten und zu positionieren. Auch das würde dazu führen, dass wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Europa gemeinsam besser handlungsfähig werden. Das sollten wir uns in diesem Hause überlegen. Es gibt auch immer Erinnerungen an bestimmte Erfahrungen. Das will ich ganz offen sagen: Zu Zeiten der Großen Koalition haben wir, CDU/CSU und SPD, es hinbekommen, dass sich alle Fraktionen gemeinsam auf die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in EU-Angelegenheiten verständigt haben. In dieser Legislaturperiode ist der vorliegende Gesetzentwurf übrigens der erste, bei dem das wieder möglich war. Am Ende, als alles beschlossen war, habe ich den Vorsitzenden meiner Fraktion, den unvergessenen Peter Struck - ein Vollblutparlamentarier -, gefragt: Peter, was sagst du denn zu dem, was wir hier an Beteiligungsrechten für den Bundestag zustande gebracht haben? Er hat mir geantwortet: Axel, ich hätte euch nicht so viel zugestanden. - Wie es der Zufall so will, habe ich an diesem Tag auch den Kollegen Kauder getroffen. Da habe ich mir gedacht: „Na ja, wir sind ja in einer Koalition“, und fragte Herrn Kauder - auch ein Vollblutparlamentarier -: Was sagen Sie denn zu dem, was wir hier für den Bundestag erreicht haben? Daraufhin antwortete er mir: Ich hätte Ihnen nicht so viel zugestanden. - Ich glaube, das ist jetzt sieben Jahre her. Es gibt insgesamt einen Bewusstseinswandel, hoffentlich auch beim Kollegen Kauder, der zu der Einsicht führte: Wir müssen als Parlament in europäischen Angelegenheiten gemeinsam engagierter sein. Wir sollten nicht nur sagen: Oh, das ist Sache des Europaausschusses. - Es ist Sache des Parlaments insgesamt. Europa wird nur demokratisch und damit auch parlamentarisch gelingen. Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese neuen Möglichkeiten gemeinsam nutzen und es als Verpflichtung verstehen, andere in unseren eigenen Fraktionen - das soll in allen fünf Fraktionen so sein - davon zu überzeugen. Auch diejenigen, die ab September an der Regierung sind - wir von SPD und Grünen wollen gemeinsam regieren -, sollen sich wirklich daran halten. Vielen Dank und Glück auf! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Stefan Ruppert hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich finde es gut - das sollten wir Parlamentarier immer wieder herausstellen -, dass es uns gelungen ist, in dieser Frage einen ganz breiten parteipolitischen Konsens zu finden und die unterschiedlichen Interessen, aber auch die unterschiedlichen politischen Vorstellungen vom Gelingen eines gemeinsamen Arbeitens von Exekutive und Legislative unter einen Hut zu bringen. Da er es nicht für sich selbst tun kann, ist es, wie ich finde, an der Zeit, Herrn Kaster zu danken, der all das ausgesprochen gut und kollegial koordiniert hat. Vielen Dank. ({0}) Jetzt könnte man sich überlegen, was eigentlich wäre, wenn diese Debatte - ich nehme ein Beispiel - am 1. August 2009 stattgefunden hätte. Wer sich nicht mehr so genau erinnert, was da war, dem sei gesagt: Kurz zuvor war das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verkündet worden. Liebe Kollegen von SPD und Grünen, ich will es Ihnen jetzt ersparen, Ihnen Ihre damaligen Reaktionen auf das Lissabon-Urteil vorzuhalten. Wegen Äußerungen des Ihnen vermeintlich, wahrscheinlich sogar tatsächlich nicht nahestehenden Berichterstatters haben Sie damals von „dumpfen nationalen Tönen“ oder zumindest „Untertönen“ gesprochen. Sie waren darüber besorgt, ob nun wieder „am deutschen Wesen die Welt genesen“ solle. Es gab breite Empörung in Ihren Reihen darüber, wie man darauf kommen könne, etwas so Gutes wie die europäische Integration dadurch zu behindern, dass man nationalen Parlamenten mehr Rechte einräumt. Von dieser Vorstellung, dass es ein Malus für die europäische Integration sei, wenn man den Deutschen Bundestag stärke, haben Sie sich zum Glück innerhalb kürzester Zeit wieder entfernt, mit einer 180-Grad-Drehung bei Ihren politischen Aussagen. Sie sind dann sehr schnell - wie ich finde, aus guten Gründen - auf die Systematik eingestiegen, die mit dem Lissabon-Urteil angestoßen worden ist. Der Deutsche Bundestag hat sich viele Jahrzehnte nicht um seine Beteiligungsrechte bei der europäischen Integration gekümmert, anders als die Länder, die durchaus schon früher einen Blick darauf hatten. Erst als uns das Karlsruher Urteil diese Mitwirkungsrechte eingeräumt hatte - das Lissabon-Urteil ist hier zentral -, haben wir uns verstärkt um unsere Teilhaberechte gekümmert. ({1}) - Sie können eine schöne Gesetzeskommentierung von mir dazu lesen. Ich kann Ihnen sagen, wann die ersten Initiativen aus Ihrer Fraktion dazu kamen und wie die ersten Debatten im Jahr 2009, kurz vor dem LissabonUrteil, noch verlaufen sind. ({2}) Heute sind wir zum Glück einen Schritt weiter. Aber wir stellen auch fest: Zahlreiche Möglichkeiten der Beteiligung der nationalen Parlamente, über die wir heute verfügen, erweisen sich bisher als relativ stumpfe Schwerter - ich nenne die Subsidiaritätsrüge, aber auch die Subsidiaritätsklage -, weil wir feststellen, dass die parlamentarischen Abläufe und die Koordinierung mit anderen europäischen Parlamenten faktisch so zeitaufwendig sind, dass die dort vorgefundenen Fristen in der Regel nicht ausreichen, um etwas auf die Beine zu stellen. Umso wichtiger ist es, dass wir im Gesetzentwurf zum EUZBBG nicht so sehr auf formale Mittel setzen. Sie sind auch wichtig, aber es geht mehr darum, dass eine Exekutive zu jedem Zeitpunkt einer Debatte unterrichtet. Sie informiert also das Parlament, den Deutschen Bundestag; er nimmt diese Informationen auf und bewertet sie politisch. So können die Koalitionsfraktionen ihrer eigenen Regierung sagen oder auch die Oppositionsfraktionen signalisieren, inwieweit man bereit ist, den Weg auf europäischer Ebene mitzugehen. Diese Teilung von Kontrolle, Legitimation und Ermächtigung ist im Gesetzentwurf zum EUZBBG genau richtig gewählt. Deswegen stimmen wir aus voller Überzeugung zu. ({3}) Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wir sollten die Schrauben nicht überdrehen. Es gibt durchaus Bereiche exekutiven Handelns, die von der Exekutive allein wahrgenommen werden müssen. Es gibt einen Kernbereich exekutiven Handelns, den wir ernst nehmen sollten. Wer schon einmal Verhandlungen auf europäischer Ebene erlebt hat oder über diese berichtet bekam, der weiß, dass man in solchen Verhandlungen nicht alles bis ins kleinste Detail determinieren, kontrollieren oder voraussagen kann. Insofern ist festzuhalten: Der heute vorgelegte Gesetzentwurf findet auch hier ein ausgewogenes Verhältnis zwischen exekutivem Kernbereich auf der einen Seite und parlamentarischen Kontrollrechten auf der anderen Seite. Ich muss zugeben: Einmal wäre ich gerne Grüner gewesen. ({4}) Ich hätte das Gesetz, offen gesagt, lieber zu einem Zeitpunkt auf den Weg gebracht, als uns Karlsruhe noch nicht dazu aufgefordert hat. Es ist immer besser, wir machen Gesetze selbst, als Handlungsaufträge aus Karlsruhe zu bekommen. ({5}) Das war damals - das sage ich ganz versöhnlich - noch nicht gemeinsamer Verhandlungsstand. Wir sind etwas später aufgebrochen, aber dafür haben wir umso bessere Ergebnisse erzielt. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen den vorliegenden Gesetzentwurf nicht in den luftleeren Raum ein, sondern wir diskutieren dieses Thema immer auch im Hinblick auf die konkrete Situation in Europa. Wir kommen ja nicht drumherum, zuzugeben, dass Europa tatsächlich in einer tiefen Krise steckt und dass sich immer mehr Menschen von diesem Europa abwenden. Ob Sozialabbau, Rekordarbeitslosigkeit, fehlende Investitionen in Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur: Insbesondere in Südeuropa gehen immer mehr Menschen auf die Straße, weil sie den Eindruck haben, dass der Europäische Rat und die EU-Kommission diese Politik der Europäischen Union diktieren. Sie haben auch das Gefühl, dass ihre nationalen Parlamente nicht in dem Umfang mitsprechen können, wie sie das unter demokratischen Gesichtspunkten eigentlich gerne sehen würden. Ich glaube also, wir müssen auch im Lichte der aktuellen europäischen Entwicklung den heute vorliegenden Gesetzentwurf beraten. ({0}) Viele haben den Eindruck, dass nicht mehr die Parlamente, sondern die Finanzmärkte, die Banken und die Großkonzerne über die Zukunft der Europäischen Union entscheiden. Integration hält damit leider nicht Schritt. Wir als Linke haben von Anfang an gesagt: Europa wird nur gelingen, wenn die Europäische Union sozialer und demokratischer wird. Leider haben wir in den letzten Jahren in dieser Hinsicht schwere Rückschläge erleben müssen. In dieser Woche beispielsweise hat keine einzige Brüsseler Entscheidung die Zustimmung Zyperns erhalten. Das zeigt: Mit dieser Art europäischer Politik haben wir Probleme, zu den Menschen durchzudringen. Dass wir heute darüber diskutieren - meine Vorredner haben es schon angesprochen -, ist auch keine Sternstunde des Parlaments. Es war schon so - das gehört zur Wahrheit dazu -, dass der Großteil des Parlaments diese Rechte eigentlich gar nicht mehr wollte, sondern von Karlsruhe aufgefordert werden musste, sie sich als Parlament zurückzuholen. ({1}) Viele hier im Haus waren eher der Auffassung, man solle die europapolitischen Entscheidungen, die die jeweilige Bundesregierung hier einbringt, abnicken. Ich denke, man kann im Zusammenhang damit, dass Karlsruhe uns hier auf einen anderen Weg gebracht hat, wirklich auch von einer Ohrfeige reden. ({2}) Es ist positiv zu bewerten - da schließen wir uns an -, dass es uns in den letzten Monaten gelungen ist, hier einen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf einzubringen; denn dieser bedeutet selbstverständlich eine Verbesserung des Status quo. Was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bzw. die Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik anbelangt, hatten wir natürlich weitere Vorschläge. ({3}) Die anderen Fraktionen haben leider nicht mitgemacht, was wir schade finden. Aber das war für uns kein Grund, aus den Verhandlungen auszusteigen. Dazu möchte ich auch noch sagen: Natürlich hat man immer wieder aufs Neue gemerkt, dass insbesondere SPD und Grüne immer auch aus dem Blickwinkel heraus diskutiert haben, dass es möglich sein kann, dass sie morgen wieder die Regierung stellen, und sich vor diesem Hintergrund gefragt haben, ob man die Parlamentsrechte wirklich so weit ausbauen will. Wir hätten uns gewünscht, dass man noch einen Schritt weiter geht. Trotz alledem wurde eine Verbesserung des Status quo erreicht. Wir dürfen aber an diesem Punkt nicht haltmachen, wenn es darum geht, europäische Politik transparenter zu machen, sie auch bürgernäher zu machen. Ich denke, über das Gesetz hinaus müssen wir uns in einem nächsten Schritt auch Gedanken darüber machen, bei wesentlichen Entscheidungen der Europäischen Union Volksabstimmungen einzuführen. ({4}) Damit sind wir nicht alleine. Im Süden gibt es einen Ministerpräsidenten, der das auch immer gern diskutiert. Wir warten einmal ab, wann zumindest die CSU im Parlament entsprechend agiert. ({5}) Denn die Europäische Union wird, wie gesagt, nur funktionieren, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie mitentscheiden können, dass es demokratisch abläuft bzw. dass zumindest die Parlamentarier, die sie gewählt haben, in letzter Konsequenz entscheiden. Heute haben wir einen kleinen Schritt getan; aber es ist noch viel mehr möglich. Auch ich sage der Mitarbeiterebene und insbesondere auch Ihnen, Herr Kaster, Dank. Sie haben das sehr gut organisiert. Das liegt wahrscheinlich weniger daran, dass Sie von der CDU/CSU-Fraktion sind, ({6}) sondern eher daran, dass Sie wie ich Rheinland-Pfälzer sind. Rheinland-Pfälzer haben manchmal richtig gute Ideen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine bekannte Fernsehwerbung kann man aufgrund der Debattenbeiträge abgewandelt so zitieren: „Wer hat denn eigentlich die Parlamentsrechte vor Gericht eingeklagt? - Die Grünen waren es.“ Auch wenn wir im Parlament eine lange gemeinsame Geschichte seit der BBV haben - man kann eigentlich sagen, dass die Urkompetenz für neue Rechte des Bundestages, die durch diese Gerichtsentscheidung und dieses neue Gesetz in einer ganz neuen Qualität ausgelegt werden, die Einführung von Art. 23 im Rahmen der Maastricht-Ratifikation ist -, muss man doch sagen, dass es an der Stelle sehr wichtig war, dass wir Grüne - in Stellvertretung des Parlaments, aber als einzige Fraktion - nach Karlsruhe gegangen sind und diese Rechte eingefordert haben; die FAZ sprach in diesem Zusammenhang ja so treffend von der „Anatomie einer Hintergehung“. ({0}) Die gemeinsamen Positionen des Parlaments haben wir auch im Gesetzgebungsprozess gegen die Regierung durchsetzen müssen. Insoweit möchte ich mich dem Dank in alle Richtungen anschließen. Wir haben konstruktiv gearbeitet. Sie wissen auch, dass wir noch weitergehende Vorstellungen hatten, zum Beispiel die Idee, ein Comprehensive Law, ein Europagesetzbuch zu schaffen, in dem alle Beteiligungsrechte zusammengeführt sind. Dennoch war das ein gutes Geschäft für alle Seiten, auch wenn man sich vor Augen hält, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen in Karlsruhe noch argumentiert hat, dass die Bereiche wie der ESM, die EFSF oder andere völkerrechtliche Verträge, die in einem Nähe-Verhältnis zur Europäischen Union stehen, einfach nur Völkerrecht seien und dem Bundestag nur per Letztentscheidungsrecht zugänglich wären. Dass wir diese Baustelle schließen konnten, ist sehr wichtig für die Parlamentsrechte, gerade auch in Zeiten einer Krise, wie wir sie momentan haben. Dass wir in dieser Krise die Legitimation stärken, um auch die Legitimität der Europäischen Union und der europäischen Einigung gerade in so schwierigen Zeiten zu erhalten, ist sehr wichtig. Vor dem Hintergrund ist es natürlich auch richtig, dass wir als Parlament uns bewusst sind, dass mit dieser ganz neuen Qualität an parlamentarischen Rechten auch Pflichten für uns einhergehen. ({1}) Dazu gehört die Möglichkeit, dass wir uns dadurch, dass wir viel früher, viel besser und auch über ganz andere Sitzungsformate und Inhalte als bisher unterrichtet werden, auch früher, proaktiver und eigentlich auch konstruktiver als bisher in europäischen Verhandlungen zu Wort melden und so der Bundesregierung unsere Vorstellungen als Parlament zu einem Zeitpunkt mitgeben, zu dem diese noch die Möglichkeit hat, sie in ihre Verhandlungsführung auf europäischer Ebene einzubringen. Dazu gehört auch, dass beispielsweise die Sitzung, die letzten Freitag zu der sehr misslichen Situation geführt hat, die wir zurzeit haben, erst durch die Gesetzesänderung beim Fiskalvertrag und vollumfänglich erst durch die Gesetzesänderung, die wir heute in Umsetzung der grünen Verfassungsgerichtsklage beschließen, in den gleichen Informationsraum wie die normalen europäischen Verfahren gerät. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass wir jetzt diese Beschlüsse fassen. Mit diesen Rechten geht natürlich auch eine Verantwortung für die Abgeordneten einher, ihre Europapolitik darauf auszurichten. Dazu gehört auch, dass wir, wenn wir sensible Informationen erhalten, die vielleicht in anderen Staaten ganz besondere Befindlichkeiten auslösen können, nicht gleich zum Beispiel per E-Mail an die Presse weiterleiten, wie wir es im Fall Irland beispielsweise noch auf einer anderen Rechtsgrundlage erlebt haben. ({2}) Dazu gehört auch, dass wir in den europapolitischen Debatten, die wir führen, unsere Aufgabe als Abgeordnete, gerade wenn wir Zugriff auf Dokumente und Inhalte haben oder sogar auf die Verhandlungsführung mit anderen Staaten, beispielsweise in der Euro-Krise, Einfluss nehmen können, in einem Ton und mit einer Empathie gegenüber dem Verhandlungspartner wahrnehmen, dass niemand das Gefühl hat, beim Deutschen Bundestag zum Bittsteller zu werden. ({3}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Das ist ein guter Tag für die Parlamentsrechte und ein guter Tag für die Grünen und alle anderen hier im Haus. Ich denke, dass wir das in den nächsten Jahren gemeinsam noch sehr gut nutzen werden. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die Unionsfraktion. Vizepräsidentin Petra Pau ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen heute mit der Beratung und in der nächsten Sitzungswoche aller Voraussicht nach mit der Beschlussfassung über den Entwurf eines EUZBBG - man müsste eigentlich „II“ hinzufügen, denn das Gesetz stellt nicht nur eine Änderung oder Ergänzung dar, sondern wir schreiben damit ein neues Gesetz - zu dem Endpunkt eines Prozesses, der im November 2005 begonnen hat. Ich glaube, am Schluss dieser Debatte sollte man darauf noch einmal hinweisen. ({0}) Denn es waren die damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD, die sich in den Koalitionsverhandlungen im November 2005 darauf geeinigt haben, eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union zu erarbeiten und vertraglich zu beschließen. ({1}) Dazu, gleich ein Gesetz zu machen, was ich damals schon für den besseren Weg gehalten hätte, hat uns zu der Zeit in der Tat noch der Mut gefehlt. ({2}) Allerdings haben wir diese Zusammenarbeitsvereinbarung hinbekommen - ich weiß noch, Axel Schäfer, dass wir sehr lange diskutieren mussten -, und das war ein Meilenstein erstens für Informationsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten und zweitens für Mitwirkungsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten. Wir haben das Gesetz in dieser Legislaturperiode umgesetzt, und dann kam das berühmte Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. In diesem Zusammenhang möchte ich am Schluss dieser Debatte allerdings ein klein wenig Wasser in den Wein der vielen Lobeshymnen gießen, die auch heute schon auf das Karlsruher Gericht als dem einzigen Hüter der Parlamentsrechte des Bundestages gesungen worden sind. Zum Teil werden sie auch vom Präsidenten Voßkuhle selber auf sein Gericht gesungen. Es ist nämlich nicht ganz richtig, dass nur Karlsruhe die Wahrung der Rechte des Deutschen Bundestages erzwungen hat. Wir haben eine ganze Menge an Rechten selber geschaffen. ({3}) Denn in dem Lissabon-Urteil hat das Verfassungsgericht uns zu Recht, sage ich, gezwungen, ein Gesetz zu machen, das wir nicht umsonst Sonntagsgesetz nennen, nämlich das sogenannte Integrationsverantwortungsgesetz. Das heißt - ganz grob zusammengefasst -, Kompetenzübertragungen, die in kleinen Vertragsänderungen geregelt werden können, müssen in diesem Haus wie Vertragsänderungen ratifiziert werden. Das hat das Verfassungsgericht 2009 zu Recht von uns verlangt. Das Verfassungsgericht hat überhaupt nicht im Blick gehabt, dass Kompetenzverschiebungen in der Europäischen Union tagtäglich in Form normaler Rechtssetzungsvorgänge - Richtlinien, Verordnungen etc. - stattfinden. Das mussten wir schon selber machen. Wir hatten als Vorlage die BBV. Damals haben wir kurzfristig entschieden: Wir wollen das im Rahmen des EUZBBG regeln. Ich glaube, einige können sich noch daran erinnern: Das war im Sommer 2009. Eigentlich standen wir alle im Wahlkampf und haben gegeneinander gekämpft, weil jeder die Wahl gewinnen wollte, wie das halt so ist. Gleichzeitig haben wir die Ratifizierung durchgeführt. Aufgrund des Zeitdrucks haben wir uns entschieden, die Zusammenarbeitsvereinbarung quasi mit leichten Veränderungen als Gesetz zu nehmen. Wir ahnten damals schon, dass es systematisch nicht ganz richtig bzw. kompliziert ist, einen Vertrag quasi wortwörtlich als Gesetz zu übernehmen. Deswegen haben wir uns damals ein Monitoring auferlegt. Wir haben festgelegt, dass wir in der Mitte der Legislaturperiode die Wirkungsweise dieses Gesetzes genau analysieren und möglicherweise Veränderungen bzw. Konkretisierungen herbeiführen wollen. Dieser Prozess hat stattgefunden. Aber es ist etwas passiert, was 2009 keiner von uns auf dem Schirm hatte: Die europäische Politik war in der Folgezeit geprägt durch die Euro-Krise, durch die Finanzkrise und die dadurch notwendig gewordenen verschiedenen Rettungsschirme. Deswegen wird dieses Gesetz erst heute verändert bzw. neu geschaffen. Ich will kurz noch zwei Punkte anbringen, die wir, wie ich denke, ganz gut geregelt haben - die Zukunft wird zeigen, ob wir daran vielleicht noch einmal etwas ändern müssen -: Zum einen müssen wir bei der Regelung der Informationsrechte des Bundestages die Balance finden zwischen der Masse an Informationen, die es gibt, und der Qualität der Informationen, die wir brauchen, um uns über die europäischen Rechtssetzungen eine Meinung bilden zu können. Die Europäische Kommission mit ihren ganzen Agenturen und Beratergruppen - kein Mensch weiß, wie viele das sind - produzieren täglich tonnenweise beschriebenes Papier. ({4}) 1 Promille davon ist für uns wichtig. Spannend ist die Frage, wie wir dieses 1 Promille finden. Ich glaube, wir haben mit unserem Gesetzentwurf die richtige Antwort gefunden: Inoffizielle Dokumente sollen nicht automatisch an den Bundestag überwiesen werden - das wäre ein Lastwagen voll am Tag -, sondern nur auf Nachfrage; das ist allerdings notwendig. Ich möchte kurz noch einen zweiten Punkt ansprechen, den ich genauso sehe wie das Bundesverfassungsgericht. Das Verfassungsgericht hat in allen seinen Urteilen zu europäischen Angelegenheiten in den vergangenen vier Jahren das sogenannte Transparenzgebot als ganz wesentlichen Punkt genannt. Transparenzgebot bedeutet, dass wir als gewählte Abgeordnete verpflichtet sind, wesentliche Entscheidungen öffentlich vorzutragen und öffentlich zu begründen, damit das Volk die Möglichkeit hat, die Entscheidungen nachzuvollziehen und die Frage der Verantwortung zu beurteilen. Ich glaube, das Transparenzgebot wird mit diesem Gesetz noch einmal gestärkt. Auch in Zukunft werden wir öffentlich in diesem Haus diskutieren, bevor ein weiteres Land in den EuroRaum aufgenommen wird. Man höre und staune, es gibt Anwärter: Lettland und Litauen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stübgen, ich bin ein geduldiger Mensch, insbesondere da Sie angekündigt haben, zum Schluss zu kommen. Aber jetzt müssen Sie einen Punkt setzen.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig. - Wir werden das noch in diesem Jahr umsetzen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/12816 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}), Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche halbautomatische Schusswaffen - Drucksache 17/7732 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 17/12872 - Berichterstattung: Abgeordnete Günter Lach Serkan Tören Wolfgang Wieland b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({3}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger private Waffen - Drucksachen 17/2130, 17/12872 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Lach Serkan Tören Wolfgang Wieland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Günter Lach für die Unionsfraktion.

Günter Lach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004086, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Waffengesetzgebung hat zwei wichtige Aufgaben zu erfüllen. Auf der einen Seite steht das berechtigte Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit, auf der anderen Seite stehen die Interessen der legalen Waffenbesitzer wie Sportschützen, Jäger und Sammler. Ziel einer Waffengesetzgebung sollte es nach meiner Ansicht sein, hier eine sinnvolle Balance zu schaffen. Die Aufgaben auf diesem Gebiet gilt es immer wieder neu zu überprüfen und, wenn nötig, durch gesetzliche Maßnahmen weiter anzupassen. ({0}) Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Obwohl ich diesen Gesetzentwurf und den Antrag mit meiner Fraktion ablehne, freue ich mich, dass ich als Erster sprechen darf. ({1}) - Lieber Kollege Wieland, ich darf Ihnen zumindest erst einmal meine Anerkennung und meinen Respekt für Ihre Rede heute Morgen zum Tagesordnungspunkt „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ aussprechen. Das hat meine große Anerkennung gefunden. Das gilt leider nicht für den Tagesordnungspunkt, den wir jetzt behandeln. ({2}) Dieser Tagesordnungspunkt beinhaltet zwei Punkte: den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche halbautomatische SchussGünter Lach waffen“ sowie den Antrag „Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger private Waffen“. ({3}) Ein Hauptgrund für diesen Gesetzentwurf sind mit Sicherheit die Geschehnisse 2009 in Deutschland und 2011 in Norwegen. ({4}) Es stellt sich nur die Frage, ob die im Gesetzentwurf geforderten Maßnahmen der richtige Ansatz sind, um mehr Sicherheit zu erreichen. Im Mai 2012 fand hier eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen statt. Das ist schon einige Zeit her; aber ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass es die einhellige Meinung der anwesenden Experten war, dass mit einer Änderung des Waffenrechts im Sinne des Gesetzentwurfs keine Sicherheitsgewinne erzielt werden können. Ich möchte einige Anmerkungen zu den Inhalten des Gesetzentwurfs bzw. zu dem Antrag machen. Zunächst einmal komme ich zu der Problematik des Begriffes „kriegswaffenähnliches Aussehen“. Die Verbotsregelung für diese Waffen haben wir mit Ihrer Mitwirkung 2002 schon einmal abgeschafft. Es stellt sich nämlich die Frage: Was ist eine kriegsähnliche Waffe? ({5}) Gerade in der Rechtsprechung haben wir damals keine Sicherheit gehabt, da die Frage von den einzelnen Behörden unterschiedlich gesehen wurde. Insofern hatten wir eine rechtliche Unsicherheit bezüglich des Begriffes „kriegsähnliche Waffen“. Das Gleiche gilt auch für den Bereich der Anscheinswaffen. Nach § 42 a des Waffengesetzes wird das Führen von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verboten. Dazu gehören sämtliche Schusswaffen, die nach ihrer äußeren Form bzw. nach ihrem Gesamterscheinungsbild den Anschein von scharfen Schusswaffen hervorrufen. Nach der aktuellen Regelung fallen auch Nachbauten von Spielzeugwaffen und deren Potenzial darunter. Auch wenn von Nachbauten bzw. Spielzeugwaffen keine Gefahr für das Leben ausgeht, so verringert die bestehende Regelung mögliche Bedrohungssituationen. Damit werden Anscheinswaffen aus dem öffentlichen Raum ferngehalten. Diese Maßnahme unterstützt auch die Arbeit und Sicherheit unserer Polizei, da sie hilft, unnötige Polizeieinsätze zu vermeiden. Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den halbautomatischen Waffen. Gerade für die Jagd sind halbautomatische Waffen zwingend erforderlich, besonders für die Bewegungsjagd. Hier ist das Magazin auf drei Schuss begrenzt. Im sportlichen Bereich gibt es Disziplinen, bei denen es eine Begrenzung des Magazins auf zehn Schuss gibt. Würden wir halbautomatische Waffen total verbieten, würden wir in vielen sportlichen Disziplinen nicht mehr teilnehmen können. In Ihrem Antrag „Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger private Waffen“ sagen Sie von den Grünen ja eigentlich, dass Sie wollen, dass es in privaten Haushalten überhaupt keine Waffen mehr gibt. ({6}) Sie fordern aber noch mehr, nämlich die zentrale Aufbewahrung von Schusswaffen. ({7}) - Oder von Munition. - Alle Experten und Sachverständigen sind der Meinung, ({8}) dass man durch eine zentrale Aufbewahrung von Schusswaffen genau das Gegenteil dessen erreicht, was man erreichen möchte. Wir wissen, dass sich Schießstände gerade in den Randgebieten unserer Städte und Gemeinden befinden ({9}) und dass das Einbruchspotenzial dort gerade aufgrund der Abgeschiedenheit dieser Orte größer ist als im privaten Bereich. Im Rahmen der letzten Änderung des Waffengesetzes haben wir schon einige besondere Regelungen getroffen. So müssen die Waffenbehörden das Fortbestehen des waffenrechtlichen Bedürfnisses von Waffenbesitzern fortlaufend überprüfen. Es muss bei der Genehmigung jeder Waffe überprüft werden; früher war das nur alle drei Jahre notwendig. Das waffenrechtliche Bedürfnis von Sportschützen wird bereits von Vereinen und Verbänden bestätigt. Man kann sich also nicht einfach eine Waffe kaufen, sondern der Verein bzw. Verband muss dies bestätigen. Im Hinblick auf das Schießen mit Großkaliberwaffen haben wir die Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre erhöht. ({10}) - Wenn das Gespräch beendet ist, würde ich meine Rede gerne fortsetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zurzeit hat überwiegend der Kollege Lach das Wort. ({0})

Günter Lach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004086, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wer eine neue Waffenbesitzkarte beantragt, muss schon bei der Antragstellung nachweisen, dass er die Waffe sicher aufbewahren wird. Sie wissen, dass die Aufbewahrung in den dafür vorgeschriebenen Waffenschränken erfolgen muss. ({0}): Doch! - Gegenruf des Abg. Hans- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann liegen die Waffen unter dem Bett! - Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder der Schrank ist offen! - Gegenruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oder sie sind im- mer am Mann bzw. an der Frau!) Kontrollen durch die Ordnungsämter finden in regelmäßigen Abständen statt; sie werden unangemeldet und unabhängig von der Tageszeit durchgeführt. ({1}) Gestatten Sie mir zum Schluss das Fazit: Die Anhörung der Sachverständigen am 21. Mai 2012 hat deutlich gezeigt, dass mit einer Umsetzung der vorliegenden Forderungen des Bündnisses 90/Die Grünen kein Sicherheitsgewinn für die Gesellschaft erzielt bzw. die Sicherheit in Deutschland dadurch nicht erhöht würde. Von den Sachverständigen wurde besonders hervorgehoben, dass der legale Waffenbesitz nicht das Problem in Deutschland ist. ({2}) Denn im Bereich des legalen Waffenbesitzes beträgt die Missbrauchsquote - auch wenn sie immer noch hoch genug ist - nur 4 Prozent. ({3}) Es ist der illegale Waffenbesitz, der ein Problem für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger darstellt. Auf dieses Problem müssen wir unser Augenmerk mehr als bisher lenken. Mit den Regelungen des deutschen Waffenrechts tun wir bereits jetzt alles dafür, um den unberechtigten Zugang zu Waffen möglichst zu verhindern. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorschläge, die Sie vom Bündnis 90/Die Grünen in Ihren Vorlagen machen, sind weder neu, noch schaffen sie mehr Sicherheit. Deshalb sind sie für die SPD nicht zustimmungsfähig. ({0}) Zu den einzelnen Forderungen. Die Streichung des Verbots von kriegswaffenähnlichen halbautomatischen Schusswaffen war kein Versehen der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Wir haben das bewusst gemacht; denn es gab große Abgrenzungsprobleme, was nun eine kriegswaffenähnliche Schusswaffe ist und was nicht. Dazu erklärte der Sachverständige Rainer Hofius, Oberstaatsanwalt in Mainz - kein Lobbyist -, in seiner Stellungnahme zu der Anhörung zu den Vorlagen von Bündnis 90/Die Grünen am 21. Mai 2012: Das Ziel des Gesetzentwurfes ist faktisch die Wiedereinführung von Teilen des im Zuge des Waffenrechtsneuregelungsgesetzes 2002 abgeschafften § 37 WaffG … Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat seinerzeit zweifellos bewusst eine nicht praktikable und für die öffentliche Sicherheit bedeutungslose Norm abgeschafft. Der objektive Eindruck von einer Waffe ist für deren tatsächliche Gefährlichkeit ohne jeden Belang. Dieser Aussage schließe ich mich an. Den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, Waffen außerhalb von Privatwohnungen zu lagern, haben wir hier schon mehrfach diskutiert. Ich halte diesen Vorschlag nicht für zielführend. Ich zitiere nochmals den Sachverständigen Hofius: Die Ansammlung einer großen Zahl von Schusswaffen an einem Ort ist trotz aller denkbaren Möglichkeiten der Sicherung ein großer Anreiz für Straftäter, hier eine lukrative Tat zu begehen. Der schreckliche Vorfall 2009 in Eislingen hat das traurigerweise belegt. Neben den Änderungen des Waffengesetzes von 2009 sind weitere Änderungen unterhalb der gesetzlichen Regelungen wichtig für die öffentliche Sicherheit. Nach jahrelangen Diskussionen zwischen den Bundesländern und dem Bund ist 2011 die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz erlassen worden. Damit gibt es einheitliche Vorschriften für den Vollzug, der bei den Bundesländern liegt. Wir haben das Nationale Waffenregister früher auf den Weg gebracht, als die EU es gefordert hat. ({1}) Damit kann der gesamte Lebenszyklus einer Waffe nachvollzogen werden, und für Polizeibeamte wird mehr Sicherheit geschaffen; denn sie können vorher informiert werden, ob sie am Tatort mit Waffen zu rechnen haben. Wenn alle Daten an das Nationale Waffenregister übermittelt sind, wissen wir auch endlich, wie viele legale Waffen es überhaupt in Deutschland gibt. Die Amnestieregelung - 2009 miteingeführt - hat dafür gesorgt, dass mehrere Hunderttausend Waffen abgegeben und damit aus dem Verkehr gezogen wurden. Wir sollten über eine erneute Amnestieregelung nachdenken und diese dann entsprechend publik machen. ({2}) Durch die Einführung verdachtsunabhängiger Kontrollen wird die Aufbewahrung der Schusswaffen und der Munition durch die Waffenbehörden überprüft. Das wird von den Betroffenen immer wieder kritisiert. Wir hatten in die Begründung des Entwurfes zur Änderung des Waffengesetzes 2009 geschrieben: Die verdachtsunabhängigen Kontrollen liegen im öffentlichen Interesse und deswegen werden keine Gebühren erhoben. ({3}) Dies wird in der anstehenden Kostenverordnung klargestellt. Leider sieht die Praxis anders aus: In der Kostenverordnung ist nichts klargestellt, und die Landkreise erheben Gebühren in unterschiedlicher Höhe. ({4}) Auch werden die Kontrollen - auch wegen Personalmangels der zuständigen Behörden - unterschiedlich gehandhabt. ({5}) Hier sind die Länder in der Pflicht, die Kontrollen, wie vom Bundesgesetzgeber vorgegeben, durchzuführen. ({6}) Wenn wir schon über das Waffenrecht reden, dann muss ich auch über die Vorgänge der letzten Tage sprechen. Da hat das Bundesinnenministerium im wahrsten Sinne des Wortes den Vogel abgeschossen. Im Herbst letzten Jahres erließ das BMI eine neue Schießstandrichtlinie, die beinhaltet, dass hölzerne Vögel, auf die die Schützinnen und Schützen in einer jahrhundertelangen Tradition - beim Königsadlerschießen - zielen, nicht mehr 15 Zentimeter, sondern nur noch 8 Zentimeter dick sein dürfen. Die Begründung für diese Änderung war, dass die Geschosse von dickem Holz zurückprallen und Menschen verletzen könnten. Passiert ist so etwas auf den Schützenfesten der Republik bisher noch nie. Diese Änderung fiel erst auf, als die ersten Adler für die anstehenden Schützenfeste in Auftrag gegeben wurden. Berechtigterweise gab es in den Schützenvereinen viel Empörung; denn ein dünnerer Adler würde nur wenige Schuss vertragen, ein dicker Adler aber mindestens 500 bis 600 Schuss. Nachdem dieses Thema sogar die Kanzlerin erreicht hatte und diese um Wählerstimmen bei den Schützinnen und Schützen bangen musste, ruderte der Bundesinnenminister zurück: Am 13. März 2013 veröffentlichte das BMI eine Pressemitteilung mit dem Titel „Tradition und Sicherheit in Einklang bringen“ und erklärte darin, dass die Änderung mit sofortiger Wirkung zurückgenommen ist. Das ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem missbräuchlichen Umgang mit Waffen, der Missachtung von Vorschriften und der kriminellen Energie wird kein Waffengesetz der Welt Herr werden können, ({8}) und der viel zu hohen Zahl illegaler Waffen in Deutschland kann man nicht mit Verschärfungen des Waffenrechts begegnen. ({9}) Gesetzliche Regelungen können nie hundertprozentige Sicherheit erreichen. Die Maßnahmen, die Bündnis 90/ Die Grünen hier vorschlagen, leisten keinen Beitrag zu mehr öffentlicher Sicherheit. Wir werden die Vorlagen ablehnen. Danke schön. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Serkan Tören für die FDPFraktion. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Fograscher, ganz kurz zu dem Vogel: Das, was da passiert ist, war sicherlich nicht richtig. Darauf hat die FDP-Bundestagsfraktion in einem Brief auch sofort hingewiesen. ({0}) Auch Kollegen der CDU/CSU haben sich aus dem Parlament heraus sofort an das Innenministerium gewandt. Ich weise aber auch darauf hin, dass die Sportschützen an dieser Richtlinie mitgearbeitet und uns hier nicht informiert haben - das muss man auch einmal sagen -, sondern das ist so durchgegangen. Ich hätte mir hier eine rechtzeitige Information gewünscht. Wir haben das wieder rückgängig gemacht. Von Ihnen habe ich dabei aber leider nur wenig gehört und gesehen. Das muss man auch einmal sagen, wenn Sie uns hier schon so kritisieren. Ich komme jetzt kurz zum Antrag der Grünen und möchte hier zwei Dinge hervorheben - das haben auch die Vorredner schon gemacht -: Erstens: Verbot von halbautomatischen Waffen, die wie Kriegswaffen ausschauen. Natürlich gibt es ein Abgrenzungskriterium, und es ist fraglich, wie man das in der Umsetzung handhaben soll. Im Übrigen haben das Ihre Vorgänger von Rot-Grün besser gemacht. Sie haben das Verbot nämlich aufgehoben. Jetzt stellt sich für mich die Frage, warum Sie das wieder umkehren wollen. Das erschließt sich mir nicht ganz. ({1}) Ich begründe das damit, dass Sie jetzt irgendwelche Ansätze suchen, um gegen jegliche Art von Waffen vorzugehen. Das sagen Sie nur nicht offen. Einmal greifen Sie sich die Großkaliber heraus, und jetzt sind es die halbautomatischen Waffen. Schritt für Schritt gehen Sie an die verschiedenen Waffenarten heran. Ihr eigentliches Interesse, nämlich Waffen generell zu verbieten, bekennen Sie nicht. Stattdessen suchen Sie irgendwelche anderen Wege und Instrumentarien. Aber seien Sie doch offen und ehrlich, und sagen Sie, was Ihr eigentliches Interesse ist, statt mit solchen Verboten herumzuhantieren! ({2}) Zweitens: zentrale Lagerung. Auch dazu ist von den Vorrednern schon vieles gesagt worden. Die Anhörung war eigentlich eindeutig, Herr Wieland. Sie waren ja dabei. Alle Experten, die dort waren, haben gesagt, dass es sogar zu mehr Gefahr führt, wenn zentral gelagert wird. ({3}) Herr Wieland, es gab eine Kleine Anfrage der Grünen zum Waffenbestand und zum Fehlbestand bei der Bundeswehr. Da wird ja zentral gelagert. Es ergab sich, dass der Fehlbestand ganz schön hoch ist. Auch das ist für mich ein Beweis dafür, dass es eben nicht zu mehr Sicherheit führt, wenn man zentral lagert, sondern im Gegenteil: Wenn sich die Schützenheime usw. in den Außenbereichen und nicht zentral in den Städten befinden, dann ist gerade bei zentraler Lagerung die Gefahr des Abhandenkommens und des Diebstahls von Waffen gegeben. Sie haben aus der Anhörung nichts gelernt. Für mich stellt sich hier die Frage: Warum nicht? Es geht hier einfach nur um eine Ideologie von Ihnen. Sie wollen nämlich generell keine Waffen im privaten Besitz. ({4}) Sie wollen einfach nicht, dass Sportschützen, Jäger und Sammler an ihre Geräte herankommen. ({5}) Das wollen Sie verbieten. Das, was Sie hier machen wollen, ist völlig ideologisch und nichts anderes. Ich bin in einer kleinen Gemeinde mit 900 Einwohnern aufgewachsen. Gerade die soziale und integrative Arbeit, die die Sportschützen dort geleistet haben, war vorbildlich. Ich nenne das Stichwort ehrenamtliches Engagement und alles, was dazu zählt. Wenn man Jugendliche an die Waffe heranführt, dann ist das auch mit Disziplin verbunden, und es geht hier auch um Traditionen. All das wollen Sie vernichten. Das sagen Sie hier aber nicht offen, sondern Sie ergehen sich in irgendwelchen technischen Dingen, was überhaupt nichts mit Sachlichkeit zu tun hat. ({6}) Als selbsternannte Umweltpartei wollen Sie die Arbeit von Jägern kaputtmachen, die sich ja gerade für die Umwelt einsetzen. Begleiten Sie doch einmal einen Jäger, und schauen Sie sich an, welche Umweltarbeit sie leisten! Auch das tun Sie nicht. Auch hier führen Sie eine rein ideologische Debatte, sonst nichts. ({7}) Bleiben wir bei der Ideologie, und sprechen wir über die Waffensteuer in Bremen. Bei diesem Thema ist jetzt die SPD gefragt. - Sie schauen weg; das passt beim Thema Waffensteuer, denn auch hier geht es um Ideologie. - In Bremen hat die SPD versucht, Waffen über die Kosten aus dem privaten Besitz zu verdrängen, nämlich mit der Einführung einer Waffensteuer. Was hat man dann gemacht? Man hat aufgrund des Druckes - Sie haben vorhin von Druck geredet - die Waffensteuer in eine Gebühr umbenannt. Diese wird jedes Jahr anlasslos erhoben. Auch das ist nicht im Sinne dessen, was wir eigentlich wollten. Das, was Sie in Bremen gemacht haben, ist die Einführung einer Quasi-Steuer, was überhaupt nicht in Ordnung ist. Diese Waffensteuer halte ich für verfassungswidrig, weil sie nur eingeführt wurde, um Waffen aus dem privaten Besitz zu verdrängen. Wir auf der Bundesebene haben aber das Bedürfnis nach Waffen im privaten Besitz gesehen. Deswegen haben wir das Waffengesetz. Wenn auf Landesebene oder kommunaler Ebene eine Waffensteuer eingeführt wird, ist das nichts anderes als ein Verstoß gegen die gesetzliche Intention im Waffenrecht. Deswegen halte ich die Waffensteuer für verfassungswidrig. ({8}) Was hat sich aus der Anhörung im Innenausschuss ergeben? Die Vorredner haben es schon angesprochen. Eine Verschärfung des Waffenrechts bringt überhaupt nichts. Durchweg alle, die als Experten an der Anhörung teilgenommen haben, haben uns das gesagt. Hilfreich war auch eine BKA-Analyse, die aufgezeigt hat, wie viele Straftaten mit legalen Waffen begangen werden. Dieser Anteil liegt unter 1 Prozent. Wenn man davon noch die Zahl der Waffenbesitzer abzieht, die im öffentlichen Dienst sind - Beamte usw. -, dann tendiert diese Zahl gegen null. Sie haben sich einfach Sportschützen, Jäger und Sammler, ({9}) ehrenhafte Bürger in unserem Lande, ausgesucht, um diese als Feindbild mit unsachlichen Angriffen zu überziehen. Das ist nicht richtig. ({10}) Als FDP-Fraktion werden wir uns auch weiterhin dafür einsetzen, dass es keine Verschärfung im Waffenrecht geben wird. Aber wir brauchen eine Systematisierung und eine Vereinfachung im Waffenrecht - daran müssen wir arbeiten -, weil auch die Beamten in den Waffenbehörden, die damit beschäftigt sind, das Waffenrecht nicht verstehen. Das muss eines der Ziele sein, die wir weiterverfolgen werden. Dann werden wir auch eine vernünftige Evaluierung durchführen. Die Evaluierung, die im Innenministerium stattgefunden hat, war nicht gut. ({11}) Wir brauchen hier eine objektive Evaluierung, auch unter Einbeziehung von Sportschützen und Jägern. Sollte diese Evaluierung ergeben, beispielsweise bei den Kontrollen, dass die Regelungen kein Mehr an Sicherheit bringen, dann muss man einmal darüber nachdenken, ob es nicht einen Weg zurück gibt. Dann muss man auch abwägen, wie groß der Eingriff in die Freiheit der Bürger ist. ({12}) Das muss man einmal bedenken. Es muss also eine Evaluierung geben; das ist die zweite Forderung. Dann muss es auch einen Kampf gegen illegale Waffen geben. Es ist selbstverständlich, dass wir hier die Behörden stärken und den Kampf gegen illegale Waffen führen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Tören, ich muss jetzt in die Freiheit Ihrer Rede eingreifen. Sie müssen zum Schluss kommen.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Abschließender Satz: Die christlich-liberale Koalition wird sich weiterhin dafür einsetzen und ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einhalten, dass es keine Verschärfungen im Waffenrecht gibt. (Wolfgang Wieland ({0}): Es darf richtig geballert werden! Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger private Waffen“ - das klingt doch zumindest erst einmal ganz logisch. Die Bundesregierungen der letzten Jahre haben das Thema Waffenrecht in der Regel nur angefasst, wenn schreckliche Ereignisse die öffentliche Diskussion beherrschten. Amoktaten lösten bisher regelmäßig politischen Aktionismus aus. Da wurde hier ein bisschen verboten, da ein bisschen geändert; aber grundlegend hat sich an der Sicherheitslage nichts verändert, weder bei legalen Waffen noch bei illegalen Waffen. Es kam immer nur darauf an, zu zeigen, dass man auf das tragische Ereignis reagiert hat. Nutzen und Umsetzbarkeit der Änderungen spielten keine Rolle. Das ist genau der Grund, warum eine Evaluierung dieser Änderungen bis heute nicht vorliegt. Die Grünen haben nun einen sehr radikalen Antrag auf den Tisch gelegt. Aber angesichts von über 10 Millionen legaler Waffen in der Bundesrepublik muss das Thema eben auch einmal radikaler diskutiert werden. Das ist vollkommen richtig. ({0}) Das gilt erst recht, wenn es um Großkaliber, halbautomatische Waffen und Munition mit besonderer Durchschlagskraft geht. Bei allen Fragen, die die Linke zur Umsetzung dieser Vorschläge hat, stelle ich fest, dass wir das Anliegen der Grünen sehr deutlich teilen. Wir sehen bei diesen Vorschlägen einen Sicherheitsgewinn. Es gibt aber auch einen guten Grund, warum die Linke einen entsprechenden Antrag noch nicht selber eingebracht hat. Wir beschäftigen uns sehr genau mit der Frage: Welcher Einschnitt bringt wirklich mehr Sicherheit, und welche Idee kann wie umgesetzt werden? Eine Lösung suchen wir im Dialog gerade auch mit Sportschützen, Jägern und Büchsenherstellern; mit Sammlern hatte ich noch nicht so viel zu tun. Dabei stellt sich heraus, dass eine Reihe von Problemen organisatorischer, finanzieller und rechtlicher Art noch nicht zu Ende gedacht sind, was sich mit meinen Erfahrungen aus dem Polizeidienst durchaus deckt. Nehmen wir als Beispiel die Lagerung von Waffen in Schützenhäusern. Es ist richtig: Gerade in abgelegenen Gegenden, gerade im ländlichen Raum stellt das ein Problem dar, das gelöst werden muss. Wenn wir das so umsetzen, wird eine Vielzahl von Waffen zentral gelagert, was natürlich Begehrlichkeiten illegaler Waffenhändler wecken wird, und diese finden dann auch Wege. Ich kenne Tatorte, wo ganze Geldautomaten herausgerissen und Wände weggesprengt wurden. Für eine solch zentrale Waffenunterbringung müssten sehr hohe Sicherheitsstandards gelten. Das heißt, dass es sehr teuer wird. Ich muss auch das einseitige Verbot großkalibriger Waffen kritisieren, da auch kleinkalibrige Waffen je nach Bauart eine sehr hohe Durchschlagsleistung erzielen können. Nehmen wir doch statt des Kalibers die maximale Geschossenergie zum Maßstab; das macht mehr Sinn. Das ist übrigens ein Vorschlag, der vom Bayerischen Sportschützenbund kommt. Auch mit dem kann man zusammenarbeiten. ({1}) Das Verbot halbautomatischer Waffen dürfte den großen Teil des legalen Waffenbestandes in der Bundesrepublik betreffen. Beim Einsammeln gegen Entschädigung kämen auf die Länder Kosten von mehreren Hundert Millionen Euro zu. Das können manche Bundesländer gar nicht leisten. Da muss der Bund mit in die Verantwortung. Wir können nicht immer hier im Bundestag beschließen, und Länder und Kommunen zahlen dann die Rechnung. Ob so eine massive Enteignung gegen Entschädigung von den Gerichten als rechtmäßig anerkannt wird, wissen wir auch nicht. Ich erinnere nur an den Bestandsschutz. Gut ist übrigens, dass Sie die Probleme der geringen personellen und finanziellen Ausstattung der kommunalen Waffenbehörden in Ihrem Antrag benennen. Aber dann schreiben Sie bitte auch hinein, dass den Kommunen dafür ein finanzieller Ausgleich gewährt werden muss, erst recht wenn die Bearbeitung des Einsammelns von Waffen gegen Entschädigung und die sichere Zwischenlagerung der eingesammelten Waffen durchgeführt werden sollen. Die Kommunen können das sonst gar nicht leisten, was wir hier beschließen. ({2}) Mit der Zustimmung zum Antrag der Grünen wird sich die Linke heute zur Forderung nach mehr Sicherheit im Umgang mit legalen Waffen deutlich bekennen. Aber auch wer das Richtige will, darf nicht in Aktionismus verfallen. Das Waffenrecht in Deutschland wird uns weiter beschäftigen. Die Linke wird dabei die Diskussion mit allen Beteiligten mit dem Fokus auf mehr Sicherheit fortführen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner vor der Osterpause ({0}) - in vier Minuten werde ich wohl nicht alles richtigstellen können - möchte ich Sie fragen, lieber Kollege Tempel, wie Sie hier von Aktionismus reden können. Diese Vorlagen sind fast drei Jahre alt. ({1}) - Gut, wir sind ausgenommen. Dann bin ich beruhigt. Von Aktionismus kann überhaupt keine Rede sein, genauso wenig wie von Ideologie, lieber Herr Tören. Es waren Eltern sowie die Angehörigen der Lehrerinnen und Lehrer aus Winnenden und Erfurt, die Präsident und Vizepräsidenten sowie auch uns Unterschriftenlisten übergeben haben. Wir haben aus den Forderungen der Betroffenen Anträge entwickelt, die wir dann zur Diskussion gestellt haben. Es gab eine Anhörung, an der ausschließlich Waffenträger - Frau Fograscher, hören Sie zu; auch der Staatsanwalt war bewaffnet, nicht auf dem Podium, wohl aber in seiner Funktion als Sicherheitsbeauftragter - teilnahmen. Die von uns als Expertin benannte Mutter aus Winnenden war an diesem Tag leider erkrankt. ({2}) - Alle hatten einen Waffenschein und haben in eigener Sache geredet. Dabei kam das bekannte Ergebnis heraus. Wenn Sie meine Worte auf die Goldwaage legen, dann tun Sie mir leid, Herr Tören. ({3}) - Ich habe es Ihnen gerade erklärt, dass die von uns benannte Expertin an diesem Tag kurzfristig erkrankt war. Ihre Bewertung, dass alle diese Anhörung toll fanden, ist höchst einseitig. Das wollte ich hier festhalten. Am 14. Dezember hatten wir den Amoklauf in Connecticut. Insgesamt 27 Menschen wurden kaltblütig ermordet, darunter 20 Erstklässler und 6 Angestellte der Schule. Der Täter hatte sich für diese abscheuliche Tat mit drei Schusswaffen bewaffnet, die sich alle legal im Besitz seiner von ihm ebenfalls ermordeten Mutter - das 28. Opfer - befanden. ({4}) Die Waffen waren ein halbautomatisches Sturmgewehr vom Typ Bushmaster sowie zwei Großkaliberpistolen der Marken Glock und Sig Sauer. Alle diese Waffen sind auch bei uns für Sportschützen erhältlich. Präsident Obama will sie verbieten. Ich stelle fest, Frau Fograscher - es tut mir leid -: Er überholt hier die SPDFraktion, die diese Waffen im Handel halten will. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. ({5}) Sie haben zu jedem unserer Vorschläge - wir haben einen Strauß von Vorschlägen gemacht - gesagt: So nicht. - Man sollte anders reagieren, sollte nur ein bisschen eingreifen usw. Selbst den Vorschlag einer nochmaligen Amnestie, dem alle zustimmten, haben Sie nicht aufgegriffen. Ihr Credo ist: Wir machen gar nichts. Oder, wie Herr Tören gesagt hat: Schwarz-Gelb wird jede Verschärfung beim Waffenrecht verhindern. - Freie Bürger fordern freies Ballern. Das ist Ihr pseudoliberales Credo. Das ist zu wenig. ({6}) - Polemisch wäre noch ganz anders. ({7}) - Die sind ähnlich aggressiv wie Sie, Herr Krestel. Die schreiben uns schon die entsprechenden Mails jeden Tag. Damit komme ich zu den kriegsähnlichen Waffen. Erklären Sie mir doch einmal, warum ein Jäger oder wer auch immer mit einer Rambo-artigen Waffe durch den Wald laufen muss. Warum muss er mit einer Jagdwaffe, die wie eine Kriegswaffe aussieht, herumlaufen, wenn er noch alle Tassen im Schrank hat? Erklären Sie mir bitte einmal, warum wir solche Waffen überhaupt brauchen und für wen wir sie brauchen. ({8}) Nun wird immer gesagt - das ist auch richtig, und das erkennen auch wir an -, dass die Lagerung in den Schützenhäusern aufwendig und nicht für alle Schützenvereine möglich sei. Deswegen sagen wir: Dann muss eben die Munition dort gelagert werden. Das wäre die Alternative. Was immer zu den Amokläufen geführt hat, war, dass die Munition und Großkaliberwaffen zu Hause gelagert wurden, der Schrank nicht abgeschlossen war oder die Munition und die Waffen im Schreibtisch oder sonst wo lagen. Oder der Täter, wie der junge Mann in Erfurt, war selber Sportschütze und zog los. Das müssen wir abstellen. Sie erklären immer nur, was nicht geht. Das wird zu der Situation führen, dass der nächste Amoklauf in diesem Land dann zwar mit einer registrierten Waffe durchgeführt wird, aber er wird stattfinden. Dann ist die Betroffenheit wieder groß. Diese nehme ich Ihnen ab. Ihre Betroffenheit war echt, auch als die Eltern aus Winnenden da waren. Aber Sie sind nicht bereit, auch nur eine Forderung des Forderungskatalogs zu erfüllen. Das ist traurig. Ich prophezeie Ihnen: Das wird nicht das letzte Wort hier in diesem Hause sein. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich denke, von der Richtigkeit des letzten Satzes können wir alle ausgehen. Dieses Thema wird uns auch über die heutigen Abstimmungen hinaus weiter beschäftigen. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Schutz vor Gefahren für Leib und Leben durch kriegswaffenähnliche halbautomatische Schusswaffen“. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12872, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7732 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 35 b. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12872 empfiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2130 mit dem Titel „Mehr öffentliche Sicherheit durch weniger private Waffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. April 2013, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen für die folgende Zeit alles Gute.