Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bedanke mich für die vielen liebenswürdigen Begrüßungen und mache Sie darauf aufmerksam, dass wir vor
Eintritt in die Tagesordnung wieder einmal eine Wahl
durchführen müssen.
Für die neue Amtszeit des Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1 des StasiUnterlagen-Gesetzes schlägt die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen vor, Frau Petra Morawe als Mitglied zu
wählen. - Hierzu stelle ich keinen Widerspruch fest.
Dann ist Frau Morawe als Mitglied gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte
zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Probleme beim Nord-Ostsee-Kanal - Auswirkungen der Politik von Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer auf den maritimen Wirtschaftsstandort
({1})
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Starke Fachhochschulen für Innovationen in
Gesellschaft und Wirtschaft
- Drucksachen 17/9574, 17/12813 Berichterstattung:Abgeordnete Axel KnoerigOliver KaczmarekDr. Martin Neumann ({3})Dr. Petra SitteKrista Sager
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter,
Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({5}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu
der Beratung der Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Abgeordneten Rita
Schwarzelühr-Sutter, Rolf Hempelmann, Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Energiewende - Kosten für Verbrauche-
rinnen, Verbraucher und Unternehmen
- Drucksachen 17/10366, 17/12246, 17/12538,
17/12874 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Thomas Bareiß
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 36
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnung von Honig mit Gentech-Pollen
sicherstellen - Schutz der Imkerei vor GVOVerunreinigungen gewährleisten
- Drucksache 17/12839 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Waffenlieferungen an Syrien
- Drucksache 17/12824 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({7})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Verteidigungsausschuss
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 37
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 562 zu Petitionen
- Drucksache 17/12860 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 563 zu Petitionen
- Drucksache 17/12861 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 564 zu Petitionen
- Drucksache 17/12862 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 565 zu Petitionen
- Drucksache 17/12863 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 566 zu Petitionen
- Drucksache 17/12864 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 567 zu Petitionen
- Drucksache 17/12865 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 568 zu Petitionen
- Drucksache 17/12866 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 569 zu Petitionen
- Drucksache 17/12867 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 570 zu Petitionen
- Drucksache 17/12868 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 571 zu Petitionen
- Drucksache 17/12869 ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Sicherheit der Sparguthaben in Europa
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Aggressive Steuerplanung und Steuervermeidung internationaler Konzerne bekämpfen
- Drucksache 17/12819 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({18})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rückkehrrecht auf Vollzeit gesetzlich verankern
- Drucksache 17/12843 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({20})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieFederführung strittig
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger
Veit, Rainer Arnold, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Syrische Flüchtlinge schützen
- Drucksache 17/12820 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({21})Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({22}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell
- Drucksachen 17/12697, 17/12878 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding ({23})-
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 11 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Umverteilungspläne der Koalition und Aus-
wirkungen auf Durchschnittsverdiener und
sozial Benachteiligte - Schuldenfinanzierte
Steuersenkungen und Rente mit 69
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 9, 16 und 19 werden abge-
setzt.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Darf ich auch zu diesen Vereinbarungen Ihr Einver-
ständnis feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann haben wir das so vereinbart.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c sowie
den Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zukunftsprojekte der Hightech-Strategie
({24})
- Drucksache 17/9261 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({25})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({26})
- zu dem Antrag der Abgeordneten René
Röspel, Lothar Binding ({27}),
Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Innovative kleine und mittlere Unternehmen stärken - Ein nachhaltiges steuerliches
Forschungs- und Entwicklungs-Förderkonzept ({28}) vorlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
({29}), Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Innovationskraft von kleinen und mittleren
Unternehmen durch Steuergutschrift für
Forschung stärken
- Drucksachen 17/247, 17/130, 17/1600 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Frank SteffelLothar Binding ({30})-
Dr. Birgit Reinemund -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({31})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,
Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Soziale Innovationen und Dienstleistungsinnovationen erforschen und fördern
- Drucksachen 17/8952, 17/12812 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas FeistDr. Ernst Dieter RossmannDr. Martin Neumann ({32})Dr. Petra SitteKrista Sager
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({33})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Starke Fachhochschulen für Innovationen in
Gesellschaft und Wirtschaft
- Drucksachen 17/9574, 17/12813 Berichterstattung:Abgeordnete Axel KnoerigOliver KaczmarekDr. Martin Neumann ({34})Dr. Petra SitteKrista Sager
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Professor Wanka.
({35})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die deutsche Volkswirtschaft ist heute die viertgrößte - nach den USA, China und Japan. Das ist die
Basis für unseren Wohlstand, für unsere Lebensqualität.
Viertgrößte Volkswirtschaft - das muss man in Relation
zum Anteil Deutschlands an der Weltbevölkerung sehen:
Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland leben nur
1,2 Prozent der Weltbevölkerung. Im Zuge der demografischen Entwicklung wird dieser Anteil auf 0,7 oder
0,8 Prozent sinken.
Was ist die Ursache dafür, dass wir so gut sind? Warum sind wir eine so starke Industrienation? Die Ursachen sind eigentlich die Entdeckerfreude und der Erfindergeist der Menschen und die Innovationsfähigkeit der
Bundesrepublik Deutschland. Deutschland gehört zu den
innovativsten Ländern weltweit.
({0})
Dass das so ist, zeigen uns zahlreiche Rankings. Rankings sind aber immer nur gut, wenn man selber vorne
ist. Insofern sind sie sehr relativ. Deswegen ist es gut,
auch auf andere Indikatoren und Zahlen zu schauen: Der
deutsche Anteil am Welthandel mit forschungs- und entwicklungsintensiven Gütern beträgt 12 Prozent - das ist
ein Spitzenplatz -, und jedes zehnte weltmarktrelevante
Patent kommt aus Deutschland. Das sind Daten, die zeigen, dass wir wirklich eine Spitzenposition innehaben,
dass wir einen Vorsprung haben.
Diesen Vorsprung muss man halten. Deswegen muss
der Bereich Forschung und Entwicklung im politischen
Geschäft weiterhin Priorität haben. Das ist außerordentlich wichtig. Wenn wir uns die Prioritätensetzung anschauen, wenn wir uns anschauen, was der Bund gemacht hat, dann stellen wir fest, dass auf Bundesebene in
den letzten Jahren so viel wie noch nie für Forschung
und Entwicklung ausgegeben worden ist.
({1})
2005 wurden für diesen Bereich 9 Milliarden Euro ausgegeben, im vergangenen Jahr waren es über 13 Milliarden Euro. Messlatte ist das Bruttoinlandsprodukt - auch
wenn man darüber diskutieren kann, wie relativ dieser
Wert ist: Die Zielmarke bei den Ausgaben für Forschung
und Entwicklung lag bei 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wir liegen bei 2,9 Prozent. Deutschland gehört
damit zu den wenigen Ländern, die mehr als 2,5 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben. Damit liegen wir auch weit über dem europäischen Schnitt.
Die Erfolge der Strategie Deutschlands in den letzten
Jahren wurden auch in dem Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation, EFI, gewürdigt.
Aber EFI hat auch deutlich gemacht, dass wir, wenn wir
zu den innovationsstärksten Nationen gehören wollen,
weiter gehen müssen. Deswegen gibt es von dieser Seite
aus die Empfehlung, bis zum Jahr 2020 eine Steigerung
auf 3,5 Prozent herbeizuführen und dann diesen hohen
Level - es kann nicht unendlich gesteigert werden - zu
halten. Ich denke, das ist eine sehr wichtige Messlatte,
die uns dabei hilft, die Prioritätensetzung in entsprechende Effekte umzuwandeln. Damit meine ich nicht
nur Geld, sondern auch Rahmenbedingungen. Jetzt sind
es 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die wir für
Forschung und Entwicklung ausgeben, und die Zielmarke liegt bei 3,5 Prozent.
Ich habe bereits gesagt, dass von der Bundesregierung
noch nie so viel Geld für Forschung und Innovation ausgegeben wurde wie in den letzten Jahren. Das gilt aber
auch für die Wirtschaft, die an den 2,9 Prozent ihren Anteil hat. Beim Geld geht es jedoch nicht nur um die
Menge, sondern besonders um die Frage, wie es eingesetzt wird. Es ist nicht so, dass Innovation allein dadurch
erreicht wird, dass man im Max-Planck-Institut oder an
anderer Stelle eine gute Erfindung macht. Vielmehr geht
es auch um den Transfer, um eine Umsetzung in Geschäftsideen bzw. Produkte. Das ist ein außerordentlich
komplizierter Prozess.
Die nationale Innovationsstrategie - die HightechStrategie 2020 -, zu der wir heute eine Zwischenbilanz
ziehen, ist ein Instrument, das dazu dient, auch die Wirtschaft und die Bundesländer einzubeziehen. „HightechStrategie 2020“ ist ein toller Name. Aber wie gut diese
Strategie ist, zeigt sich daran, dass sie sich auch auf die
europäischen Strategien ausgewirkt hat. Die europäische
Innovationsstrategie ist in ganz starkem Maße von der
Hightech-Strategie 2020 angeregt und beeinflusst worden. Auch im Forschungsrahmenprogramm sind viele
Komponenten davon übernommen worden. Der Chef
der EFI-Kommission sagte mir - ich kann das jetzt nicht
verifizieren -, dass die Amerikaner versuchen, aus diesem Konzept Honig zu saugen und es amerikanischen
Verhältnissen anzupassen.
Was ist das Besondere an dieser Hightech-Strategie?
Was ist das, was in den nächsten Jahren Erfolge bringen
wird? Für eine erfolgreiche Durchführung der HightechStrategie sind drei Punkte entscheidend: Innovation,
Qualifikation und Kooperation. Lassen Sie mich zu jedem dieser Punkte kurz sagen, was beabsichtigt war, was
schon geschafft wurde und - das ist ja eine besonders interessante Frage - was noch vor uns liegt, welche Aufgaben noch bewältigt werden müssen.
Der erste Punkt ist Innovation; sie hat erste Priorität.
In der Hightech-Strategie sind fünf große Felder definiert worden. Sie alle kennen sie, beispielsweise Klima,
Mobilität und Sicherheit. Man braucht freie Forschung,
bei diesen Größenordnungen aber auch Prioritätensetzung. Bei der Prioritätensetzung geht es nicht nur um
Geld, sondern sie muss sich auch auf die Industrie richten. Und natürlich müssen die Rahmenbedingungen für
die einzelnen Felder entsprechend günstig gestaltet werden.
Ich greife zwei dieser Felder heraus, zunächst die Gesundheit. Das, was in den letzten Jahren mit den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung erreicht wurde,
stellt im Bereich der Gesundheit eine kleine Revolution
dar.
({2})
Das Ziel war es, die großen Volkskrankheiten zu erforschen sowie Bekämpfungsstrategien zu entwickeln. Die
Idee war es, Gesundheitsforschungszentren - bestehend
aus exzellenten universitären und außeruniversitären
Einrichtungen - einzurichten. Das sollte die Struktur
sein. Mittlerweile sind alle Gesundheitszentren in der
Phase, in der sie sich etablieren. Das war ein sehr interessanter und sehr transparenter Prozess der Entscheidung. Wir haben in dieser Zeit auch viel getan, was die
Projektförderung im Bereich der Lebenswissenschaften
anbetrifft. Jetzt kommt es, da die Struktur, die man hat,
richtig und gut ist - natürlich kann man immer darüber
reden, ob man noch ein oder zwei Gesundheitszentren
mehr braucht -, vor allen Dingen auf die Translation an.
Das heißt, wir müssen die Ergebnisse der Forschung, die
in den verschiedenen Bereichen mit den Strategien, die
man verfolgt, betrieben wird, möglichst schnell ans
Krankenbett bringen bzw. diese Phase verkürzen.
Ich will ein Beispiel nennen. Es gibt ein Deutsches
Zentrum für Infektionsforschung. Beteiligt ist unter anderem das Helmholtz-Zentrum Braunschweig, beteiligt
ist allerdings auch die TiHo, die Tierärztliche Hochschule Hannover. In diesem Rahmen befasst man sich
auch mit dem gesamten Feld von Krankheiten, die von
Tieren auf den Menschen übertragen werden können,
und betreibt sehr weitgehende Forschung. Hier stellt sich
die Frage: Wie können die Forschungsergebnisse angesichts sich wandelnder und neuer Krankheitsbilder möglichst schnell umgesetzt werden? Ein weiterer bedeutender Aspekt ist die individualisierte Medizin. Ganz
wichtig ist aber auch das Thema Prävention. Diese Themen sind, was die Gesundheitszentren angeht, Querschnittsthemen. Das sind die Aufgaben, die sich uns auf
diesem Feld jetzt stellen.
Ein zweiter Punkt, den ich herausgreifen möchte
- das ist ein Zukunftsprojekt, das ich genial finde -, ist
das Projekt Industrie 4.0. Wir alle haben in der Schule
etwas über die industrielle Revolution gelernt. Wir wissen, was damals passierte, Stichwort „Energie“. Wir wissen auch, was in den 70er-Jahren geschah. Aufgrund der
Möglichkeiten, die das Internet bietet, was die Interaktion und die Kommunikation zwischen Maschinen betrifft, hat man heutzutage die Chance, auf ganz andere
Art zu produzieren. Man kann individualisiert produzieren und große Produktionssysteme nutzen, mit denen
man aber sehr individuell und sehr flexibel reagieren
kann. Das ist die Idee hinter dem Projekt Industrie 4.0.
Das ist ein Zukunftskonzept, das hier gefördert wird.
Ich glaube, hier hat Deutschland, hat die deutsche Industrie die Chance, eine Spitzenposition einzunehmen.
Deutschland hat eine gute industrielle Basis. In Deutschland wurden in diesem Bereich Gott sei Dank kaum Arbeitsplätze abgebaut. Deutschland hat seit vielen Jahren
seine Stärken in der Maschinenbau-, der Verarbeitungsund der Verfahrenstechnik. Jetzt geht es darum, dies miteinander zu kombinieren. Deswegen ist dieser Bereich
gerade für Deutschland sehr wichtig. Hier eröffnen sich
Chancen. Im Vergleich zu China und anderen Ländern
ist Deutschland immer unterlegen, wenn es um die Massenproduktion geht. Unsere große Stärke sind vernetzte
Strukturen, ist systemisches Denken. Genau dies wird im
Rahmen des Projekts Industrie 4.0 gefördert.
({3})
Ich weiß ja nicht, ob Sie das immer alles kapieren.
({4})
Manches, was man von Ihnen hört, klingt ja eher wie
Science-Fiction oder Ähnliches; ich jedenfalls habe diesen Eindruck. Auf der CeBIT wurde all das, damit man
sich besser vorstellen kann, wie das überhaupt funktionieren soll, an einem sehr schönen Beispiel veranschaulicht. Es ist in der Tat noch viel Science-Fiction dabei.
Das Vorhaben befindet sich aber schon im industriellen
Prozess.
Der industrielle Prozess ist, was das Projekt Industrie 4.0 betrifft, das eine. Etwas anderes ist aber genauso
wichtig: das Thema Geschäftsideen. Es geht um die Fragen: Wie ist das verwertbar? Wie kann diese ganz neue
Industriekultur verwertet und zum Erfolg geführt werden? Das ist nicht nur unsere Aufgabe für die Zukunft,
sondern wir müssen uns schon jetzt fragen: Was bedeutet
all das für die Arbeitswelt, für die Arbeitsorganisation?
Da ich vorhin von „Revolution“ sprach, möchte ich zum
Ausdruck bringen: Dadurch verändert sich die Arbeitswelt total. Deswegen ist es im Zusammenhang mit der
Hightech-Strategie sehr wichtig, dass auch in diesem
Bereich von Anfang an geforscht wird. Hierbei handelt
es sich nämlich nicht um ein Schreckgespenst, nach dem
Motto: Jetzt müssen alle Arbeitnehmer flexibel sein, nur
noch von zu Hause aus arbeiten etc. Vielmehr geht es um
den Aspekt: Bedeutet das nicht auch ein großes Plus für
unsere Lebensqualität? Kann es nicht sogar positiv sein,
dass wir jetzt ganz andere Arbeitsstrukturen haben, die
auch einen ganz anderen Lebensrhythmus ermöglichen?
Ich habe zu zwei der fünf großen Bedarfsfelder Beispiele genannt. Ich könnte das jetzt anhand anderer Beispiele wie dem Thema Energie ähnlich durchdeklinieren; das ist aber zeitlich nicht möglich.
Zweiter Punkt: Qualifikation. Ich erinnere mich sehr
gut: Als ich in den 90er-Jahren Rektorin war, wurden wir
in der KMK gescholten; Herr Oppermann auch noch im
Jahre 2000 und danach. Es hieß: Viele Studenten verlassen Deutschland, keiner will in Deutschland studieren,
Deutschland ist nicht attraktiv genug etc.
Diese Situation hat sich total gewandelt. Alle OECDVergleiche zeigen: Deutschland gehört zu den Nationen,
in denen die Zustimmung der Studenten am größten ist.
Deutschland belegt, wenn nach den begehrtesten Ländern gefragt wird, einen der Spitzenplätze und landet immer auf Rang drei oder vier. Die Hälfte der gut ausgebildeten Wissenschaftler an unseren Max-Planck-Instituten
kommt aus dem Ausland. Deutschland ist ein attraktiver
Standort. Die Studienanfängerzahlen liegen bei über
50 Prozent; 2005 waren es gerade einmal 36 Prozent. Es
wird sogar schon darüber diskutiert, ob die Studienanfängerzahlen nicht zu hoch sind. Es besteht vor allen
Dingen der Bedarf, den Deckel beim Hochschulpakt anzuheben. Die Bedingungen für ausländische Fachkräfte
müssen noch weiter verbessert werden; hier ist allerdings schon einiges getan worden. Mein letzter Satz
dazu: Wir müssen die Ressource Frau besser nutzen. Die
Potenziale, die Frauen haben, werden in diesem Prozess
dringend gebraucht. Sonst haben wir beim Thema Qualifikation keine Chance.
({5})
Letzter Punkt - ganz kurz, weil die Anzeige am Rednerpult blinkt.
({6})
Ich bin ja immer schon dankbar, wenn das bemerkt
wird.
({0})
Dritter Punkt: Kooperation. Ich war immer ein Fan
unseres Systems der Kooperation zwischen Hochschulen
und außeruniversitären Einrichtungen etc. Aber die Kooperation muss funktionieren. Mit vielen neuen Formaten wie der Exzellenzinitiative - oder zum Beispiel mit
dem Spitzencluster-Wettbewerb, der im Rahmen der
Hightech-Strategie mitläuft - haben wir in den letzten
Jahren Enormes erreicht, um die Dinge, bei denen wir
wissen, dass wir in zehn Jahren Weltmarktführer sind,
richtig zu pushen. Oder nehmen Sie das Kooperationsmodell Forschungscampus oder die Fraunhofer-Anwendungszentren. Es geht darum, in die Fläche zu gehen mit
Innovation, damit auch kleine und mittelständische Unternehmen davon profitieren.
({0})
Die ersten drei Fraunhofer-Anwendungszentren - das
sage ich aus lokalpatriotischem Interesse - sind in Niedersachsen entstanden; auch die Länder müssen sich
nämlich entsprechend engagieren.
Einen wirklich letzten Satz zur Kooperation: Wenn
Deutschland im Wissenschaftsbereich gut sein soll, dann
müssen nicht nur die Hochschulen als Herzstück des
Wissenschaftssystems gut ausgestattet sein - das können
die Länder ja machen, wenn sie wollen -, sondern dann
muss auch der Bund Einfluss haben. Wir können nicht
eine Industrienation der Entdecker und Erfinder sein,
wenn der Bund keinerlei Einfluss auf das Herzstück des
Wissenschaftssystems hat. Das ist völlig unabhängig
vom Geld; das wäre auch so, wenn die Länder ganz viel
Geld für diesen Bereich bereitstellten. Es ist aus prinzipiellen Gründen töricht, die Möglichkeiten, die es jetzt
gibt und an deren Schaffung Annette Schavan und diese
Bundesregierung ihren Anteil hatten, nicht dazu zu nutzen, die Kooperation mit den Hochschulen zu stärken;
denn wir brauchen diese Kooperation.
Frau Wanka, Sie hatten vor geraumer Zeit schon einen letzten Satz angekündigt.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Frau Wanka, ich hatte mich schon gefragt,
warum in der Kernzeit - der wichtigsten Zeit einer Plenarwoche - eine Debatte über eine ein Jahr alte Unterrichtung der Bundesregierung zur Hightech-Strategie
vorgesehen ist, ja was daran eigentlich so berichtenswert
sein soll.
Ich habe die Auflösung gerade bekommen: Sie haben
nur einige wenige Worte dazu gemacht, die individualisierte Medizin gerade eben erwähnt; aber zu der Unterrichtung haben Sie eigentlich nichts gesagt. Sie wollen
eine Generaldebatte zu Bildung und Forschung. Die können Sie gerne bekommen - auch wenn ich gerne ein paar
Fragen gestellt hätte, zum Beispiel wie Sie eigentlich die
Kritik der Expertenkommission Forschung und Innovation aufnehmen. Sie feiern die Hightech-Strategie mit
schönen neuen Worten; aber gleichzeitig hat die Bundesregierung im letzten Haushalt so wichtige Technologietitel wie Mikrosystemtechnologie, neue Technologien,
neue Materialien, neue Werkstoffe, optische Technologien, Arbeits- und Dienstleistungsforschung gekürzt. Sie
haben das Thema „Industrie 4.0“, mit einem neuen Etikett
versehen, gerade genannt.
Bei dem, was wir als SPD seit Jahren fordern - mehr
in Dienstleistungs- und Arbeitsforschung zu investieren -, gehen Sie genau den anderen Weg: Sie kürzen die
Mittel dafür real auf Werte von 2009. Dazu hätte ich
gerne ein paar Antworten gehabt; aber das ist ja heute offenbar nicht Thema.
Ich hätte auch gerne gefragt, wie wesentliche Bestandteile dieser Hightech-Strategie, die ja sinnvoll sind
- klimaangepasste Stadt -, denn finanziert werden sollen.
Wenn man sich diese Unterrichtung durchliest, sieht
man als kleine Fußnote, fast wie in einem Vertrag: „Das
ausgewiesene Budget enthält Mittel des Energie- und
Klimafonds …“ - wie auf einem Beipackzettel steht: Bei
nicht sachgerechter Anwendung können Kopfschmerzen
auftreten.
Auch bei dem wichtigen Titel Elektromobilität steht
wieder diese kleine Fußnote: „Das ausgewiesene Budget
enthält Mittel des Energie- und Klimafonds …“ Auch bei
der wichtigen Frage des Umbaus der Energieversorgung
- genau genommen heißt es: intelligenter Umbau der
Energieversorgung - findet sich der Hinweis auf eine Finanzierung außerhalb des Bildungs- und Forschungsetats,
wieder über den Energie- und Klimafonds.
Dieser Energie- und Klimafonds, meine Damen und
Herren, soll sich aus den Erlösen aus dem Handel mit
CO2-Zertifikaten speisen. Wir wissen schon heute, dass
die Erwartungen nicht erfüllt werden: Schon jetzt fehlen
da 400 Millionen Euro.
({0})
Wenn Sie über die Hightech-Strategie reden, wäre es
eigentlich an der Zeit gewesen, auch zu sagen, wie Sie
das, was Sie da hineinschreiben, finanzieren wollen.
Aber gut, Sie wollen nicht darüber reden. Ich knülle
mein Konzept zur Hightech-Strategie jetzt zusammen
und schmeiße es weg. Wir machen eine Generaldebatte;
das hätten Sie gerne.
Ich muss zugeben: Eigentlich ist es nicht fair, wie der
Finanzminister Sie als neue Ministerin behandelt;
({1})
denn mit Ihrem Namen, Frau Wanka, wird das Ende von
15 Jahren guter und vernünftiger Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland verbunden sein.
({2})
- Das Protokoll verzeichnet den Sturm der Regierungskoalition, aber er bleibt im Wasserglas stecken. - Ich
werde Ihnen das auch kurz begründen:
Diese gute Zeit der Forschungs- und Bildungspolitik
über übrigens drei Koalitionen hinweg hat 1998 begonnen, als Rot-Grün endlich wieder Bildungs- und Forschungspolitik auf Bundesebene verantwortet hat.
({3})
- Das trifft Sie offenbar. - Wir haben nämlich erstmals
nach Jahren der Stagnation wieder mehr Geld in Bildung
und Forschung investiert - und nicht nur mehr Geld,
sondern wir haben auch Impulse gesetzt, die wichtig waren für das Land.
({4})
In ein Ganztagsschulprogramm, das von Ihnen bekämpft wurde - mittlerweile schweigen Sie dazu -, haben wir 4 Milliarden Euro investiert.
({5})
Von allen Kommunen und Eltern wissen Sie, wie wichtig das für die Kinder und deren schulische Entwicklung
war.
({6})
Wir waren es, die den Pakt für Forschung und Innovation, eine verlässliche Finanzierung der Forschung, auf
den Weg gebracht haben.
({7})
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland wissen wieder, dass es Aufwüchse und verlässlich
mehr Geld in Deutschland gibt, um Forschung zu betreiben.
Auch die Exzellenzinitiative, die viel Bewegung in
den Wissenschaftssektor gebracht hat, ist eine sozialdemokratische Initiative und auch Innovation gewesen.
Das hat wichtige Impulse gesetzt.
Wir können übrigens alle gemeinsam froh sein, dass
Deutschland wieder ein weltweit beachteter guter Standort für Forschung und Wissenschaft ist. Die jungen Wissenschaftler kommen auch aus dem Ausland wieder zu
uns zurück. Ich glaube, das ist etwas, was wir uns alle
auf die Fahnen schreiben können.
({8})
Was Sie als schwarz-gelbe Koalition seit 2009 richtigerweise fortgesetzt bzw. gemacht haben, ist dieser Mittelaufwuchs bzw. die Tatsache, dass Sie an finanziellen
Mitteln noch eine Schippe draufgelegt haben.
({9})
Kompliment und Lob, dass Sie das fortgesetzt haben!
Sie haben im Wissenschaftsbereich zwar keine neuen
Impulse gesetzt - Sie haben ja gleich noch Redezeit und
können uns allen das erklären -, aber Sie haben richtigerweise mehr Geld in das System gesteckt.
Ich bin allerdings gespannt, was Sie gleich auf die
Frage, wo das Geld eigentlich herkam, antworten werden. Auch hier kann ich es Ihnen nicht ersparen, zu sagen, dass das nicht Ihre Initiative war, sondern dass Sie
die Früchte einer Arbeit ernten, die die SPD gemacht
hat.
({10})
- Ja. Sie können gleich Ihre Argumente vorbringen.
Ich erinnere mich sehr genau, dass die SPD eine der
größten Steuersubventionen dieser Republik angegriffen und seit Jahren gesagt hat: Wir müssen diese Subvention beseitigen und in die Köpfe von Kindern und in
Bildung und Forschung investieren. Sie können gleich
sagen, welche Subvention Sie abgeschafft haben.
Beim Stichwort „Subvention“ fällt mir nur ein, dass
Sie einen neuen Tatbestand geschaffen haben. Sie haben
nämlich die Mövenpick-Steuer und damit die Erleichterung für Hotels eingeführt.
({11})
- Ja. Das kostet mein Land NRW jedes Jahr 400 Millionen Euro, die weniger für Bildung und Forschung zur
Verfügung stehen.
({12})
Die SPD hat sich immer gegen die Eigenheimzulage
ausgesprochen. Erst 2005 ist es uns in der Großen Koalition gelungen, diese größte Einzelsubvention in diesem
Land zum Januar 2006 abzuschaffen, zu beenden. Ich
will daran erinnern - Sie können die letzten drei Subventionsberichte der Bundesregierung gerne lesen -: Im Jahr
2006 hat der Staat den Menschen noch 9,2 Milliarden
Euro gegeben, die das gerne als zusätzliches Salär entgegengenommen haben, um ein Haus auf der grünen Wiese
zu bauen. Vielleicht für die Zuschauer:
({13})
Wenn Sie als Ehepaar 140 000 Euro verdient haben,
dann haben Sie noch ein paar Tausend Euro vom Staat
bekommen, um sich das Haus auf der grünen Wiese zu
leisten.
({14})
Wir haben gesagt: „Das ist keine Subvention, die wir
uns leisten können; wir wollen in Bildung und Forschung investieren“, und haben es geschafft, diese Subvention abzubauen.
({15})
Sie liegt heute bei über 1,6 Milliarden Euro; 700 Millionen Euro davon trägt der Bund.
Die Abschaffung der Subvention hat in dem Zeitraum
seit 2006 für den Bundesfinanzminister zu Entlastungen
in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro geführt. Es ist
richtig, dass er diese Spielräume genutzt hat, um in Bildung und Forschung zu investieren. Das war eine gute
Tat, und das war wichtig. Aber es war nicht Ihre Idee,
diese Subvention abzuschaffen
({16})
und Steuermittel für Bildung und Forschung zur Verfügung zu stellen, sondern das geht auf die Idee und das
Handeln der SPD zurück.
Aber diese Zitrone ist ausgepresst. In zwei Jahren
wird aus dieser Quelle kein Geld mehr kommen. Jetzt ist
die Frage an Sie: Woher werden Sie das Geld für weitere
Forschungs- und Bildungsinvestitionen nehmen? Man
sieht es am Haushalt, dass Sie keine Ideen haben. Für
das Jahr 2013 sind 13,7 Milliarden Euro für den Bildungs- und Forschungsetat vorgesehen. 2014 - es ist
Wahlkampf - legen Sie noch eine Schippe drauf
({17})
und stellen 13,8 Milliarden Euro bereit. Dann aber sinkt
dieser Etat das erste Mal seit 15 Jahren auf 13,5 Milliarden Euro, und da bleibt er.
Woher nehmen Sie das Geld? Wo planen Sie die Mittel für den Hochschulpakt ein, die wir jetzt schon brauchen? Die sind in der mittelfristigen Finanzplanung nicht
vorgesehen. Sie versprechen als CDU sogar noch einen
Aufwuchs von 5 Prozent für den Pakt für Forschung und
Innovation. Woher nehmen Sie das Geld? Ich bin auf die
Antworten, die Sie gleich geben werden, gespannt.
({18})
Weitere Subventionserlöse gibt es nicht mehr. Die
Antwort der CSU darauf, Herr Rupprecht: Sie wollen die
Eigenheimzulage wieder einführen. Sie wollen dafür
wieder Geld ausgeben.
({19})
Ich bin gespannt, woher Sie das nehmen wollen.
Die Bürger werden im September die Entscheidung
zu treffen haben, wie es weitergeht. Die große Lüge übrigens ist: Sie erhöhen zwar den Etat um 100 Millionen
Euro für das nächste Jahr, aber die globale Minderausgabe wird auf 620 Millionen Euro festgelegt. Das ist so,
als würde ich meinen Kindern sagen: Ich erhöhe euer Taschengeld von 10 auf 11 Euro, aber hinzu kommt eine
globale Minderausgabe von 3 Euro.
({20})
Dann werden meine Kinder fragen: Was ist das denn?
Meine Antwort: Ihr dürft nur 8 Euro ausgeben; 3 Euro
müsst ihr mir zurückgeben. Dann werden meine Kinder
sagen: Das ist aber Betrug! - Da haben sie recht.
({21})
Mit dieser globalen Minderausgabe schreiben Sie
schon heute vor, dass die Mittel für Forschungsorganisationen und Projekte gekürzt werden. Auch hier bin ich
sehr gespannt auf Ihre Antworten.
({22})
Wir als Sozialdemokraten sagen: Wir wollen mehr in
Bildung und Forschung investieren. Das wird Geld kosten. Deswegen sagen wir, dass diejenigen, die als Verheiratete 200 000 Euro im Jahr verdienen, einen höheren
Spitzensteuersatz bezahlen müssen, weil sich diese Investitionen lohnen und die Stärkeren besser an dieser gesellschaftlichen Aufgabe beteiligt werden. Ich bin sehr
gespannt, wie Sie Ihre Versprechen einhalten wollen.
Vielen Dank.
({23})
Der Kollege Martin Neumann ist der nächste Redner
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es war schon abenteuerlich, lieber Kollege
Röspel, was Sie hier für einen unterirdischen Debattenbeitrag abgeliefert haben.
({0})
Ich könnte zu all den Fragen, die Sie hier aufgeworfen
haben, sagen, welche Antworten diese Koalition darauf
hat; leider fehlt mir die Zeit dazu.
({1})
Forschung und Innovation sind Grundlage für den
wirtschaftlichen Erfolg, für Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand. Die Ressourcen Bildung
und Wissenschaft - das haben wir in den Debatten gemeinsam immer wieder betont - garantieren als Einziges
den wirtschaftlichen Erfolg unserer Republik.
({2})
Dr. Martin Neumann ({3})
Die Hightech-Strategie hat wesentliche Impulse für
Wirtschaft und Wissenschaft gegeben. Dieser Erfolg ist
dieser Koalition zu verdanken. Es war nicht die SPD, lieber Kollege Röspel,
({4})
die in dieser Legislatur die Hightech-Strategie 2020 weiterentwickelt hat. Sie brüsten sich zwar damit, die Hightech-Strategie erfunden zu haben.
({5})
Tatsächlich aber haben erst FDP und Union die Hightech-Strategie aus dem Wirrwarr dieser einzelnen Maßnahmen zu einem Gesamtkonzept von Forschung und
Innovation gemacht.
({6})
Es war die christlich-liberale Koalition, die die Hightech-Strategie genau auf diese fünf zentralen Handlungsfelder zugeschnitten hat. Es war auch die christlich-liberale Koalition, die den Schwerpunkt der HightechStrategie auf die Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen gelegt hat. Dafür dürfen Sie uns
gern loben.
({7})
Schließlich bestätigt auch die Expertenkommission
Forschung und Innovation, kurz EFI genannt, in ihrem
Jahresbericht 2012, dass die Weiterentwicklung der
Hightech-Strategie gelungen sei. Auch im EFI-Bericht
2013 wird unsere Missionsorientierung - darauf kommt
es an -, die Bündelung, diese klare Transparenz auf den
Forschungsfeldern, gelobt.
({8})
Ich betone an dieser Stelle ganz deutlich, dass die
EFI-Kommission eine weitere Schärfung gefordert hat.
Dieser Forderung kommen wir mit der Auswahl von
zehn Zukunftsprojekten nach. Das ist genau das, was in
Zukunft den Erfolg der Hightech-Strategie ausmachen
wird.
In den Bereichen Klima und Energie, Gesundheit und
Ernährung, Kommunikation, Mobilität und Sicherheit
konzentrieren sich etwa drei Viertel der Forschungs- und
Entwicklungsaufwendungen der Wirtschaft. In diesen
fünf Schlüsselsektoren überwiegen die Kooperationsbeziehungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sowie
zwischen den Wissenschaftseinrichtungen. Es war geradezu ein Gebot der Hightech-Strategie, die Missionsorientierung fortzuführen. Dass wir mit dieser Ausrichtung auf dem richtigen Weg sind, zeigt uns vor allen
Dingen der Vergleich in Europa. So wurde im 8. Forschungsrahmenprogramm genau das, was wir beispielhaft gefordert haben, übernommen. Was kann es denn
für eine größere Bestätigung geben, als dass man sich in
Europa ein Beispiel an unseren Programmen nimmt?
Wir sollten uns als europäische Innovationstreiber weiterentwickeln.
({9})
Wie überall, in Europa und in den westlichen Industrienationen, müssen wir uns auf unsere eigenen Stärken
konzentrieren. Überall geht man dazu über, die Stärken
zu fokussieren, sich auf die zentralen Spitzentechnologiefelder zu konzentrieren und - das ist ganz wichtig eine aktive Innovationsstrategie zu verfolgen. Ich verweise in diesem Zusammenhang gern - jetzt kommen
Beispiele, Kollege Röspel; hören Sie genau zu - auf die
Projekte, die vom BMBF auf den Weg gebracht wurden.
Ich nenne das Projekt „Kooperation international“. Hier
kann man sich auf einer Internetplattform die zentralen
Felder, Programme und Strategien anschauen und sehen,
was andere in Europa machen.
Ich muss nicht betonen, dass wir uns in einem internationalen Wettlauf befinden und gerade auf dem Sektor
der Hochtechnologien gefordert werden. Wir haben in
Deutschland früher als alle anderen die richtigen Weichen gestellt. Wir werden also auch in Zukunft mit der
von uns geprägten Hightech-Strategie Erfolg haben.
Neben der Hightech-Strategie haben wir weitere
wichtige Impulse in das Wissenschaftssystem gegeben.
Ich sage es deutlich: Von der Opposition kamen an dieser Stelle keine Impulse. Ich kenne keine Programme der
Opposition, wohl aber die aus dem BMBF. Ich nenne als
Beispiel das Projekt „Nationale Forschungsstrategie
BioÖkonomie 2030“.
({10})
Hier gab es unter der letzten rot-grünen Regierung, also
zu Zeiten von Technik- und Industriefeindlichkeit, ein
nur in Ansätzen existentes Rahmenprogramm Biotechnologie.
({11})
Das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung wurde
2010 von uns aufgelegt und ragt mit seinen rund
5,5 Milliarden Euro Fördervolumen deutlich über alles
hinaus, was Rot-Grün im Haushalt 2005 für Forschung
und Entwicklung insgesamt eingesetzt hat.
Es gibt weitere Programme wie den Aktionsplan Nanotechnologie 2015, das Rahmenprogramm „Forschung
für die zivile Sicherheit“ oder - darüber haben wir jüngst
diskutiert - die Forschungsagenda zum demografischen
Wandel mit dem Titel „Das Alter hat Zukunft“. Ich
könnte diese Auflistung beliebig fortsetzen.
Ich stelle fest: Die Erfolge dieser Koalition sind sichtbar.
({12})
Nur Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
sind für diese Erfolge blind. Das wollen Sie wahrscheinlich auch sein. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir lassen
uns unsere Erfolge und guten Ansätze nicht kaputtdiskutieren. Wir haben die vier Regierungsjahre genutzt und
Dr. Martin Neumann ({13})
den Haushalt auf 13,8 Milliarden Euro aufgestockt. In
diesen vier Jahren haben wir 13 Milliarden Euro mehr in
Bildung und Forschung im Vergleich zu Rot-Grün investiert - hören Sie gut zu! -, welche seinerzeit nur
900 Millionen Euro eingesetzt haben. Hier sieht man den
großen Unterschied.
({14})
Im Gegensatz zu Ihnen haben wir Bildung und Forschung wirklich wieder in den Mittelpunkt der Politik
gerückt.
Zum Schluss: Der gravierende Unterschied zu Ihnen
ist, dass wir nicht große Reden schwingen, sondern Prioritäten setzen
({15})
und neben der Haushaltskonsolidierung eine klare und
konsistente Strategie verfolgen.
Ich bedanke mich.
({16})
Petra Sitte ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen mit 1,2 Prozent der Weltbevölkerung unsere Rolle
als viertgrößte Industrienation und unseren Wohlstand
bewahren. - Wie Sie sich vorstellen können, stammt dieser Satz nicht von mir,
({0})
sondern von der Forschungsministerin Frau Wanka. Er
wirft neben einer für mich sehr eigenartigen Subbotschaft unweigerlich die Frage auf, was Wohlstand für
das 21. Jahrhundert eigentlich bedeutet und welchen
Beitrag Forschung zu diesem Wohlstand leisten kann.
Die Hightech-Strategie gibt weder in der alten noch in
der neuen Fassung überzeugende Antworten. Die Zukunftsprojekte dieser Strategie, so wird es in der Einleitung des Aktionsplans gesagt, sollen sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten. Klingt toll, das sagen
aber alle hier in diesem Haus.
Welche Bedürfnisse haben denn Menschen, die einer
Hightech-Strategie dieses Zuschnitts bedürfen? Die
Bundesregierung, so scheint mir, wird es nicht herausgefunden haben; denn Sie stecken seit Jahren in dieses Programm Milliarden Euro, ohne dass Menschen mit ihrem
Alltagswissen und ihren Erfahrungen wirklich in die inhaltliche Ausrichtung des Programms eingebunden worden wären. Demzufolge bleiben dann eben auch soziale,
soziologische, kulturelle und auch viele Alltagsfragen in
diesem Programm unberücksichtigt. Unter „nah am
Menschen“ verstehe ich etwas anderes.
({1})
Das alles glauben Sie mir jetzt wieder nicht, und deshalb habe ich mir ein paar Beispiele herausgesucht. Teil
der Hightech-Strategie ist auch das Zukunftsprojekt mit
dem klingenden Namen „Auch im Alter ein selbstbestimmtes Leben führen“. Das will natürlich jede und jeder in diesem Land, und das ist auch richtig.
({2})
Aber warum konzentrieren Sie sich einseitig auf die
technische Unterstützung von Seniorinnen und Senioren
und von zu Pflegenden? Da werden Sensoren für alle
Wohnräume und Betten entwickelt, die Daten gehen
dann an Pflegepersonen und Ärzte, Ältere sollen mit Navigationssystemen ausgestattet werden, die ihnen den
Weg durch den Verkehrsdschungel zeigen, Pflegende
sollen durch Roboter unterstützt werden, ganze Wohnungen sollen mit digitalen Steuerungs- und Kontrollsystemen ausgestattet werden. Das alles klingt ganz toll, aber
im Alltag sind diese Technologien überhaupt nicht angekommen. Ihnen fehlen nämlich die technikbegeisterten
und vor allem die zahlungskräftigen Abnehmerinnen
und Abnehmer für solche Technologien. So viel Undankbarkeit am Ende aber auch!
({3})
Da hat das Ministerium nun aber sofort reagiert, es
hat das messerscharf erkannt und letzten Freitag einen
neuen Plan veröffentlicht. Es wird eine neue Förderausschreibung herausgegeben, noch eine zu den 19 000.
Man will jetzt kommunale Beratungsstellen einrichten
mit dem Titel „Besser Leben im Alter durch Technik“.
Dem Unwissen über Assistenzsysteme soll durch Aufklärung bei der Zielgruppe zu Leibe gerückt werden super.
Fällt eigentlich niemandem von den Koalitionsfraktionen auf, dass Sie das Pferd von hinten aufzäumen?
Müsste nicht vielmehr gefragt werden, was ältere Menschen brauchen, um sicherer, gesünder und sorgenfreier
zu leben? Vermutlich würde jetzt die Hälfte der Bevölkerung sowieso sagen: Als Erstes brauche ich eine sichere
Rente. - Aber das kommt in den Hightechträumen gar
nicht vor.
({4})
Wir sagen: Wer wissen will, was Menschen brauchen,
muss mit ihnen und ihren Interessenvertretungen reden
und darf sich nicht als Erstes an die Vorstandsetagen von
Technologieunternehmen wenden. Da kann man doch
gleich den Storch vor den Krötentunnel setzen. Lassen
Sie endlich Sozial- und Behindertenverbände, lassen Sie
Umweltorganisationen, lassen Sie Gewerkschaften und
Kirchen mit an Ihren grünen Tisch. Neues wird so viel
eher an den tatsächlichen Bedürfnissen entwickelt, und
es wird dann auch von den Leuten angenommen.
Ein zweites Beispiel. Die Hightech-Strategie will
nachhaltige Mobilität sichern. Auch das klingt super.
({5})
1 Million Elektrofahrzeuge soll auf Deutschlands Straßen bis 2020 fahren. Seit 2008 gab es alleine für dieses
Programm eine fette Milliarde. Hersteller wie Daimler
und BMW konnten sich über großzügige Fördermittel
freuen. Das Problem ist aber: Bis heute düsen kaum
Elektroautos über die Straßen. Ups - wieso das denn? Zu
viele technische Probleme sind ungelöst: Wie bitte schön
soll ein Großstadtbewohner im vierten Stock seine Autobatterie laden? Infrastruktur zum Laden des Autos deckt
die Milliarde gerade nicht ab. Und vor dem alltäglichen
Stauwahnsinn hilft eben auch kein Elektroauto. Außerdem muss man das neue Schmuckstück ja auch irgendwo parken - großartig für die Städte.
Dabei kommt dann genau das heraus, was ich vorhin
schon angesprochen habe: Wenn man nur eine Seite
fragt, dann wird es einseitig. Die Expertenkommission
für Forschung und Innovation hat Ihnen das ja auch
schon aufgeschrieben; sie hat kritisiert, dass sich diese
Hightech-Strategie zu sehr an „kurzfristigen kommerziellen Interessen“ orientiert. Eine solche Förderpolitik
ist - um es zu wiederholen - nicht nachhaltig, sondern
bleibt einseitig.
({6})
Meine Damen und Herren, wir haben in unserem Antrag „Soziale Innovationen und Dienstleistungsinnovationen erforschen und fördern“ gezeigt - so viel, Herr
Neumann, zu dem Punkt, dass die Opposition ja nichts
einbringe -,
({7})
worin neue Ansätze bestehen könnten. Der Antrag ist
nicht der Weisheit letzter Schluss, aber wir sollten über
diese Fragen reden.
Wir fassen den Innovationsbegriff weiter: Unter Innovation verstehen wir eben nicht nur neue Technik, auch
wenn sie natürlich an vielen Stellen hilfreich sein kann;
das ist überhaupt keine Frage. Denn Innovationen sollten
für alle Lebensbereiche und aus allen Lebensbereichen
gedacht werden. Die Lösungen sind dann ebenso vielfältig wie manchmal auch verblüffend einfach, und gerade
durch diese Einfachheit sind sie oft besonders innovativ.
Das kann dann durchaus auch mal bedeuten, dass vielleicht Verkehrs- und Alltagslotsen aus Fleisch und Blut
viel sinnvoller sind. Sie tauchen im Stadtbild als Helferinnen und Helfer auf, sind ansprechbar und können gemeinsam mit Technik viel flexibler helfen.
({8})
Technik - das wissen wir alle; diese Erfahrung haben
wir auch in unseren Familien gemacht - kann Ältere,
insbesondere natürlich auch Menschen mit Demenz, viel
eher einschüchtern, als dass sie ihnen hilft. Andere Länder sind längst auf solche Ideen gekommen, aber in
Deutschland, nein, in Deutschland setzt man immer noch
auf wunderschöne dicke Bedienungsanleitungen.
Innovationen, meine Damen und Herren, gehören
aber vor allem in den Bereich Dienstleistungen. Wer
über Arbeitsplätze und Wohlstand in diesem Land
spricht, der kommt an diesem Sektor gar nicht vorbei.
Knapp drei Viertel der Beschäftigten arbeiten in diesem
Sektor, und drei Viertel der Wertschöpfung aus unserem
Land kommen aus diesem Bereich. Wissen wird dabei
natürlich immer wichtiger. Wissensintensive Dienstleistungen sind mit einem Anteil von 37 Prozent viel bedeutender als forschungsintensive Industrieprodukte. Diese
haben nämlich nur einen Anteil von 14 Prozent an der
Wertschöpfung.
Ob nun Klimawandel oder Energiewende, ob Nachhaltigkeit im Verkehrs- oder Gesundheitswesen - ohne
moderne öffentliche und private Dienstleistungen werden wir keine dieser Herausforderungen bewältigen.
Aber was macht unsere teure Bundesregierung? Sie
spart. Genau in den Förderprogrammen, wo es um
Dienstleistungen gehen müsste, steckt fast nichts drin.
Da haben Sie sich überhaupt nicht engagiert. Jeder von
uns will einen modernen, leistungsfähigen Staat. Deshalb müssen wir unser Gemeinwesen konditionieren.
Das tun Sie aber nicht.
({9})
Dabei, meine Damen und Herren, erleben wir jeden
Tag den Innovationsstau im Dienstleistungsbereich.
Denken Sie an die Deutsche Bahn! Da fallen mir auf Anhieb 100 Ideen ein, wie Betriebsabläufe, wie Ausstattung
oder wie der Service zu verbessern wären. Oder denken
Sie an Ihr kommunales Krankenhaus, an die Jugendämter, die tagtäglich klug und umsichtig handeln müssen,
um schwierige Familienprobleme zu lösen.
Diese Dienstleistungen müssen Sie genauso fördern.
Es geht dabei um bessere Arbeitsabläufe für Bürgerinnen und Bürger, aber es geht natürlich auch um gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Die Verwaltung
zu modernisieren, heißt nicht, einfach Tausende Leute zu
entlassen und den Effektivitätsdruck zu erhöhen. Dienstleistungen sind nicht das notwendige Übel der Informationsgesellschaft, sondern sie sind ihr Kerngeschäft. Darin
drückt sich lebendiges Gemeinwesen aus. Wir fordern
seit Jahren bessere Förderung und sind damit nicht allein. Gewerkschaften wie Verdi haben dazu Konzepte
entwickelt, aber auch die vorhin schon zitierte Expertenkommission Forschung und Innovation hat dazu aufgerufen.
Wie kann nun das neue Wissen beschafft werden? Wir
haben in unserem Antrag folgenden Vorschlag unterbreitet: Man könnte den Zugriff auf Innovationsgutscheine
- das Bundeswirtschaftsministerium gibt sie bereits heraus und stellt sie kleinen und mittleren Unternehmen
bereit - auf öffentliche Dienstleistungsbereiche ausweiten. Dann könnten eben auch Universitäten und Hochschulen von solchen Aufträgen profitieren. Warum sollen das kommunale Krankenhaus, die Arbeitsagentur,
Kitaträger oder Nahverkehrsunternehmen nicht ebensolche Aufträge zu ihrer eigenen Innovation auslösen?
({10})
Meine Damen und Herren, wir haben es trotzdem mit
einer Innovationsblockade der neueren Art zu tun. Die
Bundesregierung kündigt seit Jahren die steuerliche Forschungsförderung an. Seit Jahren wird darüber heiß gestritten. Der Nutzen dieser steuerlichen Forschungsförderung ist überhaupt nicht erwiesen. Es gibt dazu ganz
unterschiedliche Aussagen. Was aber geblieben ist: Die
Unternehmerverbände bohren.
So kann man auf der Basis dieser unsicheren Sachlage feststellen, dass beispielsweise Österreich mit einem solchen Steuerbonus in diesem Bereich einen Aufschwung zu verzeichnen hat. Aber es gibt auch Beispiele
dafür, dass Länder, etwa Großbritannien, Frankreich
oder die Niederlande, trotz des Steuerbonus in den letzten Jahren in der Forschungstätigkeit eingebrochen sind.
Die Besten in Europa, Schweden, die Schweiz und Finnland, kommen gänzlich ohne eine solche Forschungsförderung aus.
Hier ist der steuerliche Bonus vor allem daran gescheitert, dass es kein Gegenfinanzierungskonzept gibt.
Was ich nun gar nicht verstehe: Sie wollen diesen Bonus
nach dem Gießkannenprinzip verteilen. Das Hauptanliegen der FDP war doch immer: Bloß kein öffentliches
Geld nach dem Gießkannenprinzip ausgeben. Sehr eigenartig!
({11})
- Ach, das habe ich wohl wieder falsch verstanden; alles
klar.
Kurzum, wir wollen keine Steuergeschenke. Wir wollen bei einer zielgerichteten Forschungsförderung bleiben. - Oh ja, Herr Präsident, meine Redezeit. Es folgt
mein letzter Satz.
Die Ankündigung „Kurzum“ war die ideale Überleitung zum Schluss.
Meine Damen und Herren, auch Forschungspolitik
muss man modernisieren. Das Wissen von morgen wird
eben nur dann im Morgen ankommen, wenn es heute offen und demokratisch gewonnen wird. Schließlich wollen wir Wissen von allen für alle entwickeln.
Danke schön.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die interessante Frage heute ist doch: Was meint die neue Bundesministerin Wanka, wie es zukünftig in der Forschungspolitik in Deutschland weitergehen soll? Eine
Antwort darauf bekommen wir sicher nicht aus einer
Drucksache der Bundesregierung vom März letzten Jahres über Aktivitäten, die sich noch auf die Zeit davor beziehen.
({0})
Aber zu ihrer zukünftigen Forschungspolitik hat die
neue Bundesministerin Wanka so wenig gesagt, dass nur
der Schluss bleibt, dass sie selbst davon ausgeht, dass sie
im Herbst ihre Zukunft schon hinter sich hat.
({1})
Meine Damen und Herren, da bleibt doch nur noch die
alte Fußballerregel: Die Wahrheit ist auf dem Platz.
Wo ist der Platz, der zeigt, wie es um die Zukunft bestellt ist? In den neuen Daten zum Etat der neuen Ministerin! Ein Blick auf diese neuen Daten zeigt: Schon 2014
soll es mit plus 0,5 Prozent Haushaltsmitteln nicht einmal mehr einen Inflationsausgleich geben. Das ist
schlechter als die meisten Verträge, die die Länder mit
ihren eigenen Hochschulen gemacht haben.
Frau Wanka, Sie haben zu Recht gesagt: Vorsprung
muss man halten. Wenn aber nicht einmal ein Inflationsausgleich gewährt wird, gelingt das mit Sicherheit nicht.
Schon 2014 sollen Ausgabenkürzungen in der Größenordnung von fast 5 Prozent des Budgets umgesetzt werden. Wenn man sich die mittelfristige Finanzplanung
anschaut, erkennt man, dass weitere Kürzungen und
Minderausgaben vorgesehen sind. Wenn man den Parteitagsbeschluss der CDU einspeist, dass es zukünftig weiterhin jedes Jahr Aufwüchse um 5 Prozent für den Pakt
für Forschung und Innovation geben soll, dann ergibt
sich bereits im Jahr 2017 ein Einsparbedarf von über
1 Milliarde Euro. Das sind die Tatsachen.
({2})
Keiner bestreitet hier, dass Sie in den letzten Jahren
erhebliche Mittel in das Wissenschaftssystem eingespeist haben.
({3})
Aber wie nachhaltig ist das? Sie haben in den letzten
Jahren ein Riesenfeuerwerk veranstaltet, das sich jetzt
als Strohfeuer herausstellt, weil Sie es nicht durchhalten
können. Was haben Sie im Hinblick auf das 3-ProzentZiel - Sie haben zu Recht davon gesprochen, Frau
Wanka - vor? Wollen Sie das 3-Prozent-Ziel nur einmal
kurz antippen, und dann gehen die Mittel wieder nach
unten? So wie Sie Ihren Haushaltsplan angelegt haben,
werden Sie das 3-Prozent-Ziel mit Sicherheit nicht in
Richtung 3,5 Prozent überschreiten, sondern Sie werden
die Mittel wieder nach unten fahren. So sieht das nach
Ihrer bisherigen Planung aus!
Frau Wanka, Sie haben gestern im Ausschuss gesagt,
wir sollten uns mal keine Sorgen darum machen. Wenn
man als wenig verwöhnte Landesministerin auf die Bundesebene kommt, hat man vielleicht erst einmal den Eindruck, man sei reich ausgestattet; da werde schon genügend Luft sein. Die Frage ist: Wo sehen Sie den Speck,
aus dem zukünftig der Hochschulpakt, die von Ihnen angekündigte gründliche BAföG-Reform und die Betreuungsprämie geschnitten werden sollen? Dazu haben Sie
uns gestern nichts gesagt, und dazu haben Sie uns auch
heute nichts gesagt.
({4})
Ich habe den Eindruck, dass Sie bei Ihrem Parteitagsbeschluss - weitere 5 Prozent jedes Jahr für den Pakt für
Forschung und Innovation, eine große BAföG-Reform mit ungedeckten Schecks herumwedeln
({5})
und sich ausschließlich darauf verlassen, dass die Verhandlungen mit den klammen Bundesländern sich so
schwierig gestalten, dass Sie gar nicht in die Verlegenheit kommen, Ihre ungedeckten Schecks am Ende auch
einlösen zu müssen.
({6})
Eine besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle
durchaus auch das Projekt Betreuungsprämie. Wir können feststellen, dass dieses Projekt den Etat für Bildung
und Forschung im nächsten Jahr schon mit 51 Millionen
Euro und 2015 mit jährlich 100 Millionen Euro belastet.
Zu diesem Projekt haben nicht nur die Bildungsforscher,
sondern auch die Expertenkommission für Forschung
und Innovation der Bundesregierung gesagt, dass es für
unsere Zukunft ausgesprochen schädlich ist.
({7})
Sie finanzieren also ein schädliches Projekt zulasten von
Bildung und Forschung und zulasten der Zukunft.
Das unterstreicht noch einmal das ausgeprägte Talent
der Bundesregierung, immer wieder die falschen Prioritäten zu setzen. Opfer dieses Talents, immer wieder die
falschen Prioritäten zu setzen, wird jetzt auch ein Kernprojekt dieser Regierung, nämlich die steuerliche Forschungsförderung.
({8})
Die CDU/CSU liebte die Betreuungsprämie mehr, die
FDP wollte lieber Hotels subventionieren,
({9})
und gemeinsam haben sie sich an ein Modell geklammert, das hauptsächlich Großkonzerne beglücken sollte
und sich letztlich als unbezahlbar herausgestellt hat.
Interessant ist, dass in den letzten Tagen der Kollege
Neumann von der FDP den grünen Vorschlag wieder zur
Sprache gebracht hat,
({10})
nämlich die steuerliche Forschungsförderung auf kleine
und mittlere Unternehmen zu konzentrieren, die nicht
unbedingt von der Projektförderung profitieren. Das
Blöde ist nur, dass das nicht die Stimme der Vernunft in
einer lieblosen Auslaufehe ist,
({11})
sondern dass es hier wie in vielen gescheiterten Beziehungen offensichtlich nur noch um Schuldzuweisung
geht, also darum, wer am Ende die Verantwortung dafür
übernehmen muss, dass ein Projekt doch nichts wird.
({12})
- Eine Lösung haben Sie bisher nicht angeboten.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass deutlich
ist, dass sowohl von der Regierungsseite als auch von
der Fraktionsseite dieses Beziehungsmodell tatsächlich
gescheitert ist und dass wir von dieser Koalition für die
Forschungspolitik in Zukunft leider auch nichts mehr zu
erwarten haben.
({13})
Der Kollege Rupprecht hat nun für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Röspel, Frau Sager, das ist hier jedes Jahr dieselbe Veranstaltung. Es wird gesagt: Der
Haushalt ist dramatisch; es wird hier und dort gespart. Aber im Ergebnis haben Sie schlichtweg nie recht behalten.
Sie haben am Anfang der Legislatur gesagt, dass wir
die angekündigten zusätzlichen 12 Milliarden Euro nie
und nimmer schaffen werden. Das Ergebnis ist, dass wir
mit 13 Milliarden Euro das Ziel von 12 Milliarden Euro
übertroffen haben.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, die linken Parteien
streiten wieder einmal wie die Kesselflicker über Sinn
und Unsinn der Hartz-IV-Reformen. Einige behaupten,
die Hartz-IV-Reformen seien die zentrale Ursache für
die Stärke und den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands.
Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Wirtschaftlich
ist Deutschland deswegen so erfolgreich und so stark,
weil wir Spitzenunternehmen mit Spitzenprodukten in
Deutschland haben, die die gesamte Welt nachfragt und
Albert Rupprecht ({1})
braucht. Wegen Hartz IV gibt es keine zusätzlichen Arbeitsplätze. Wegen Hartz IV gibt es kein einziges zusätzliches Patent, und es gibt wegen Hartz IV keinen Euro
Umsatz mehr.
({2})
Entscheidend für die wirtschaftliche Stärke ist die Innovationskraft unserer Unternehmen in diesem Land.
({3})
Die deutschen Unternehmen liefern deswegen Spitzenprodukte in die Welt, weil sie eine Infrastruktur in
Deutschland vorfinden, die ihnen das ermöglicht.
Deutschland hat eine herausragende Forschungsinfrastruktur. Ich versuche, dies an einem konkreten Beispiel
darzustellen. Ähnliche Beispiele ließen sich überall in
Deutschland finden.
Siemens Medizintechnik am Standort Kemnath in
Nordostbayern ist Weltmarktführer im Bereich der Computertomografie. Dort arbeiten 1 400 Beschäftigte, 140 Beschäftigte ausschließlich in der Entwicklung. Klar ist,
dass sie mit ihren Entwicklungen immer zwei Jahre Vorsprung haben müssen. Die Innovationsgeschwindigkeit
ist außerordentlich dynamisch. Die Weltmärkte erzwingen diese Geschwindigkeit. Dieser Vorsprung ist deswegen möglich, weil es eine Forschungsinfrastruktur regionaler Art gibt, die eine Verzahnung ermöglicht mit
Forschungseinrichtungen, mit der Forschungscommunity
- Medizincluster in Erlangen; Hochschulen in Erlangen,
Nürnberg, München und Weiden - sowie mit kleinen mittelständischen Unternehmen, die im Forschungsverbund
mitarbeiten und als Zulieferer innovative Produkte liefern.
({4})
Diese gute Forschungsinfrastruktur ist der Grund, warum Deutschland so gut dasteht. Die Menschen, die in
diesem Bereich zusammenarbeiten, müssen sich kennenlernen und zueinander Vertrauen haben. Dies ist nicht
über das Internet zu machen. Regionale und nationale
Cluster ermöglichen dies. Ohne diese Forschungsinfrastruktur gäbe es Siemens Medizintechnik an diesem
Standort nicht. Ohne diese Forschungsinfrastruktur gäbe
es auch die Arbeitsplätze bei den Zulieferern im Mittelstand nicht.
({5})
Deswegen: Nicht Hartz IV, sondern Innovationskraft ist
das Zauberwort für Wohlstand und Arbeitsplätze in
Deutschland.
({6})
Es stellt sich dann die Frage: Was trägt der Bund dazu
bei? In den vergangenen Jahren haben wir massiv in die
Forschungsinfrastruktur investiert. Die Zahlen wurden
angesprochen. Wir haben das 3-Prozent-Ziel mit derzeit
2,9 Prozent fast erreicht. Wir haben erstmals die USA
überholt. Deutschland ist das zweitwichtigste Zielland
für Forschungsinvestitionen multinationaler Unternehmen weltweit. 570 000 Menschen sind in Deutschland
im Bereich Forschung und Entwicklung beschäftigt. Das
ist gegenüber 2005, als wir an die Regierung gekommen
sind, ein Zuwachs um sagenhafte 19 Prozent. Das ist
eine großartige Entwicklung, auf die wir sehr stolz sein
können.
({7})
Bund, Länder und Wirtschaft zusammen finanzierten
im Jahr 2011 Forschung und Entwicklung mit 75 Milliarden Euro - ein Spitzenwert. Das ist gegenüber 2005
ein Anstieg um 34 Prozent. Das machen die Unternehmen nicht aus Liebe zum Standort Deutschland, sondern
weil wir mit staatlichen Mitteln eine attraktive Forschungsinfrastruktur aufgebaut haben. Die Bundespolitik hat daran einen substanziellen Anteil. Ich sage sogar:
Die Bundespolitik ist bei diesem Thema Vorreiter und
Taktgeber zugleich.
({8})
Wir haben den Haushalt des Forschungsministeriums
gegenüber 2005 um sage und schreibe 82 Prozent erhöht. Die Zuwachsraten im Bundeshaushalt sind wesentlich höher als die in allen Landeshaushalten und der
Wirtschaft. Deswegen schneiden wir auch bei allen Innovationsindikatoren weltweit gut ab. Egal, welchen Sie
nehmen: Wir sind immer in der Spitzengruppe vertreten.
Diese Gruppe besteht aus den USA, der Schweiz, aus
nordeuropäischen Ländern wie Finnland, Schweden und
Dänemark sowie aus asiatischen Ländern wie Japan,
Singapur und Korea. Ich finde, dass das ein Grund ist,
stolz zu sein; dieses gute Abschneiden fällt nicht vom
Himmel, sondern es war und ist für die Bundespolitik
ein riesiger Kraftakt.
Kollege Röspel würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Gerne.
Vielen Dank, Herr Rupprecht. - Ich habe in meiner
Rede gerade versucht, zu erklären, woher die finanziellen Spielräume, über die wir uns alle in den letzten
Jahren gefreut haben, gekommen sind. Nun sind Sie mit
Ihrer Regierung aufgefordert - der Bundesfinanzminister hat das mehrfach bekräftigt -, den Haushalt zu konsolidieren, also einzusparen. Gleichzeitig schlägt die
CSU eine neue Subvention, eine Eigenheimzulage, vor.
({0})
Sie wollen - was richtig ist - weiter in Bildung und
Forschung investieren, also mehr ausgeben. Auch wenn
ich nur einen Kaufmannsgehilfenbrief habe, habe ich
aber gelernt: Einsparen und gleichzeitig mehr ausgeben
ist nicht möglich.
Sie können uns als SPD politisch dafür schelten, dass
wir die Reichen in diesem Land mit höheren SteuersätRené Röspel
zen belasten wollen, damit wir in Bildung und Forschung investieren können. Aber Sie müssen als Regierung dann auch sagen, wie Sie all das, was Sie hier
versprechen, alternativ finanzieren wollen,
({1})
woher das Geld dafür kommen soll. Die Menschen in
diesem Land haben eine Antwort auf diese Frage verdient.
({2})
Herr Kollege Röspel, ich beantworte diese Frage
gerne. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie milliardenschwere
Steuererhöhungen planen, gilt bei uns das Prinzip der
Prioritätensetzung. Das wird in der Zukunft gelten, und
das haben wir auch in den letzten Jahren so gehandhabt.
({0})
In der Großen Koalition haben wir die Schuldenbremse gemeinsam beschlossen. Es ist unabdingbar,
dass wir diese Schuldenbremse in Zeiten der internationalen Krisen, der europäischen Haushaltskrise auch einhalten.
({1})
Deswegen führt kein Weg daran vorbei, Prioritäten zu
setzen. Das haben wir in den vergangenen Jahren auch
getan. Deswegen geht es in unserem Koalitionsvertrag
nicht um höhere Steuern, sondern um Prioritäten bei
Forschung und Bildung. Genau das haben wir in den
letzten Jahren auch gelebt, Herr Kollege Röspel.
({2})
Das EFI-Gutachten besagt im Kern, dass wir keine
Radikalreformen brauchen, weil wir auf dem richtigen
Weg sind, weil die Richtung stimmt. Das EFI-Gutachten
gibt uns allerdings punktuell Aufträge und Ideen mit auf
den Weg. Ich teile diese Bewertung, und deswegen geht
es in einer so grundsätzlichen Debatte wie der heutigen
natürlich auch darum, wohin die Reise gehen soll.
Wichtig ist beispielsweise die Frage des Mittelaufwuchses; letztendlich geht es also wieder um die Frage
des Geldes. Frau Ministerin hat bereits angesprochen,
dass sich natürlich die Frage stellt, wie es weitergeht,
wenn wir das 3-Prozent-Ziel erreicht haben. Wir werden
uns dafür verwenden, 3,5 Prozent als Ziel festzuschreiben. Das wird ohne Zweifel ein Kraftakt werden, aber
das werden wir uns gemeinsam vornehmen.
({3})
Wir beabsichtigen außerdem, den Pakt für Forschung
und Innovation fortzuführen und einen Mittelaufwuchs
von 5 Prozent für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu realisieren.
({4})
Ich möchte abschließend die steuerliche Forschungsförderung ansprechen. Das, Frau Sager, ist in der Tat das
einzige substanzielle Thema aus unserem Koalitionsvertrag, das wir in dieser Legislaturperiode nicht geschultert
haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass eine entsprechende Initiative im Moment überhaupt keinen Sinn
machen würde, weil der rot-grün dominierte Bundesrat
keinerlei Bereitschaft zeigen würde, ihr zuzustimmen.
Frau Sager, Sie reden davon, in der nächsten Legislaturperiode die steuerliche Forschungsförderung auszubauen. Gleichzeitig haben aber sowohl Sie als auch
die SPD Steuererhöhungen in Milliardenhöhe für die
nächste Legislaturperiode angekündigt.
({5})
Sie wollen den Unternehmen, denen Sie auf der einen
Seite durch steuerliche Forschungsförderung Eigenkapital für Investitionen in Innovationen und Forschung zur
Verfügung stellen wollen, auf der anderen Seite Milliarden aus der Tasche ziehen.
({6})
Sie lassen in Ihrer Steuererhöhungsdiskussion praktisch
keine Steuerart - Einkommensteuer, Vermögensteuer,
Erbschaftsteuer - aus. Das läuft auf das Prinzip „linke
Tasche - rechte Tasche“ hinaus. Sie entziehen den Unternehmen die Substanz und geben ihnen dafür ein paar
Krümel. Das ist verlogen und falsch.
({7})
Herr Kollege.
Liebe Frau Sager und liebe Kollegen von der SPD,
solange Sie an diesen Steuererhöhungsplänen festhalten,
ist all das, was Sie über steuerliche Forschungsförderung
schwadronieren, unglaubwürdig.
Danke schön.
({0})
Michael Gerdes bekommt nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier heute an prominenter Stelle ein
Dokument, das ein Jahr lang keine Beachtung fand. Man
könnte meinen, Schwarz-Gelb fände, der Inhalt der vorliegenden Unterrichtung sei nicht der Rede wert, und
ganz abwegig ist der Gedanke ja wohl nicht. Hier
werden Vorhaben und Aktionspläne vollmundig an28780
gekündigt. Es geht um eine gute Zukunft für unsere Gesellschaft. Es geht um nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand für Deutschland, und das ist die
politische Botschaft, die wir alle unterschreiben. Konkret fassbar werden die Vorhaben der Hightech-Strategie
allerdings nur selten.
Zahlen allein sagen nicht alles aus. Schauen wir zum
Beispiel auf das Projekt „Intelligenter Umbau der Energieversorgung“. Bei der Zielsetzung sind wir uns absolut
einig: Wir alle wollen in naher Zukunft eine saubere,
sichere und bezahlbare Energieversorgung. Die Frage ist
aber: Wie kommen wir da hin? Welche Forschungsaktivitäten sind nötig? Wo und wie führen wir Ideen zusammen?
Deutschland ist Europas stärkstes Industrieland und
gleichzeitig der größte Energieverbraucher in der EU.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns den kompletten
Umbau der Energieinfrastruktur vorgenommen. Das Ziel
ist ambitioniert. Es zu erreichen, erfordert einerseits ein
schlüssiges, gut koordiniertes Konzept. Andererseits
brauchen wir dafür eine starke, leistungsfähige und breit
aufgestellte Forschungslandschaft. Wir brauchen alle
klugen Köpfe, um neue Technologien, neue Materialien
und neue Energiedienstleistungen zu entwickeln, und genau hier sehe ich das Problem.
Das 6. Energieforschungsprogramm ist zwar seit September 2011 in Kraft; aber es wird der Tragweite und
Bedeutung der Energiewende nicht gerecht, schon allein
deshalb, weil die Energieforschung zerstückelt ist. Zu
viele Ressorts wollen mitmischen. Das führt dazu, dass
die Wissenschaft nur schwer erkennen kann: Welches
Ministerium hat den Hut auf, und wer kann gegebenenfalls Forschungsgelder verteilen?
({0})
Gerade die kleinen Unternehmen mit wenigen Mitarbeitern haben es hier, nebenbei bemerkt, noch schwerer. Sie
haben zwar gute Ideen, aber es fehlt an Kapazitäten, um
die Bürokratie des Förderdschungels zu durchdringen.
Darüber hinaus verhindert die Zerstückelung der Forschungsprogramme notwendige Synergien. Wir brauchen einen ganzheitlichen Blick, damit die Umgestaltung der Energieversorgung gelingt. Die vielen kleinen
Forschungsprojekte müssen zusammengeführt werden,
damit sich ein neues System entwickelt.
({1})
Zu dieser Einschätzung komme ich übrigens nicht, weil
ich derzeit Oppositionspolitiker bin. Nein, das sagen
auch die Berater der Bundesregierung. Herr Kollege
Neumann, auch ich darf die Expertenkommission Forschung und Innovation, EFI, zitieren. In ihrem aktuellen
Gutachten steht auch: „Die Fragmentierung der Zuständigkeiten für die Energieforschung in Deutschland ist
bizarr.“
({2})
Vor wenigen Tagen hat sich nun unsere neue Ministerin, Frau Wanka, die Kritik der Experten zu Herzen
genommen: Sie hat der Öffentlichkeit die Nationale Forschungsplattform Energiewende vorgestellt.
({3})
Hier sollen Energien und Ideen gebündelt werden. - Und
jetzt lobe ich: Ich begrüße diesen Ansatz.
({4})
- Klatschen Sie nicht zu früh. - Schade ist nur, dass bereits so viel Zeit vergangen ist; denn diese Plattform ist
bereits vor eineinhalb Jahren angekündigt worden.
Jetzt kommen wir zum größten Fehler des 6. Energieforschungsprogramms: Es ist die mangelhafte finanzielle
Ausstattung der Energieforschung. Schwarz-Gelb baut
auf das Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“.
Wir alle kennen die Zahlen: Der Preis der CO2-Zertifikate ist deutlich geringer als erwartet. Somit fehlt das
Geld bei der Energieforschung. Der Spiegel berichtet
aktuell von einer Streichliste im Ressort von Herrn
Altmaier. Demnach stehen die Förderprogramme zur
Elektromobilität und zur Erforschung von Stromspeichern vor dem Aus. Das sind zentrale Bausteine der
Energiewende. Mit diesen Förderschwerpunkten haben
sich Union und FDP gerühmt, und nun findet die Forschungsförderung in diesem Sektor nicht statt. - So viel
zum Thema Prioritätensetzung.
Das zeigt mir: Diese Regierung hat bei der Energiewende keinen Plan.
({5})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte
noch einen anderen Teil der Hightech-Strategie ansprechen. Unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ - Frau Ministerin, Sie sprachen es an - kann man lesen, wie sich die
Arbeitswelt immer mehr automatisiert und wie sehr
Informations- und Kommunikationstechnologien die
Produktion der Zukunft bestimmen; das ist so weit richtig. Unsere Wettbewerbsfähigkeit hängt davon ab, wie
effektiv und effizient Arbeitsprozesse ablaufen. Computer machen alles smart: das Handy, die Fabrik oder die
Produktion. Wer aber in den Ausführungen der Bundesregierung deutlich zu kurz kommt, ist der Mensch.
({6})
Gute und innovative Produkte gibt es nur mit gut ausgebildeten Menschen.
({7})
Da stellt sich die Frage: Wie werden die Arbeitnehmer in den Fabriken auf die neuen Technologien vorbereitet? Was bietet die Bundesregierung an, um Aus- und
Weiterbildung zu verbessern? Wie wird auf neue Berufsbilder reagiert?
Hier muss einerseits die Forschung zur Zukunft der
Arbeit und Humanisierung der Arbeitswelt verstärkt
werden. Andererseits brauchen wir eine Bildungs- und
Qualifikationsoffensive. Die Industrieprozesse sind
zunehmend wissensbasiert. Unsere Chancen sind hochMichael Gerdes
qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
produktionsbezogenem Know-how und großem Fachwissen. Das Wissen der Menschen muss durch gute
Bildungsprogramme gesichert und weiterentwickelt
werden. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, den
Übergang zwischen beruflicher Bildung und Hochschule
zu verbessern, zum Beispiel durch den Ausbau der Aufstiegsstipendien.
({8})
Deutschland ist ein Industrieland. Damit das so bleibt,
müssen wir auf die grundlegenden Herausforderungen
unserer Zeit reagieren.
({9})
Globalisierung, Umwelt- und Klimaschutz, Rohstoffverknappung, technologische Innovation und demografische Entwicklung werden die Industrie weiter verändern. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeit der
kreativen Köpfe in Industrie, Dienstleistungen und
Wissenschaft an.
Aufgabe der Politik muss es sein, die Gestaltung der
Arbeitswelt von morgen aktiv zu begleiten. Wissen und
Information sind notwendige Bedingungen für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und die beruflichen Perspektiven der Beschäftigten.
Wir müssen alles tun, um die Möglichkeiten unserer
Gesellschaft zu verbessern. Dazu gehört die gezielte
Einwanderung von Fachkräften. Dazu gehört die Chance
auf Ausbildung. Dazu gehört die höhere Durchlässigkeit
des Bildungssystems. Dazu gehören auch Anreize für
berufsbegleitende Qualifizierungsmaßnahmen.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Diskussion heute Morgen gibt uns die Gelegenheit, die
Leistungen der Koalition in dieser Legislaturperiode
Revue passieren zu lassen. Um es gleich zu Beginn zu
sagen: Wir haben den Haushalt für Forschung und Entwicklung im Bund in der Legislaturperiode auf rund
14 Milliarden Euro erhöht. Das ist der höchste Betrag,
den wir je für diesen Bereich zur Verfügung gestellt
haben.
({0})
Wir haben in dieser Legislaturperiode im Bereich Bildung und Forschung rund 13 Milliarden Euro zusätzlich
bereitgestellt. Wir haben 2,9 Prozent des BIP in Forschung investiert. Damit haben wir das 3-Prozent-Ziel
nahezu erreicht. In dieser Legislaturperiode wurden einige Vorhaben massiv vorangetrieben, und zwar durch
die Schwerpunktsetzungen, die diese Koalition vorgenommen hat.
Herr Röspel, vorhin haben Sie alles Erreichte für die
SPD in Anspruch genommen. Ich sage Ihnen dazu eines:
Sie haben gar nichts erreicht. Sie haben davon nur geträumt, wir haben es umgesetzt. Wachen Sie endlich auf!
({1})
Einige zentrale Themenfelder der Hightech-Strategie
wurden genannt. Es ist unglaublich wichtig, dass wir
beispielsweise im Zuge des Projekts Industrie 4.0 - der
vierten industriellen Revolution; die Frau Ministerin hat
das hier sehr ausführlich vorgetragen - den Bereich der
Dienstleistungen gezielt fördern. Aber in anderen Bereichen haben wir sehr wohl den gesamten industriellen
Bereich mit einbezogen, weil wir der Auffassung sind,
dass wir in Deutschland weiterhin industrielle Produktion brauchen, dass das dazugehört, wenn wir erfolgreich
sein wollen. Dass wir das ausgerechnet der SPD beibringen müssen, das ist schon bemerkenswert.
({2})
Zentraler Aspekt der von uns eingebrachten Änderungen ist vor allen Dingen, dass wir in dieser Legislaturperiode großen Wert auf eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gelegt haben. Wir haben dafür
gesorgt, dass diese Verbindung gestärkt wird. Wir sind
auf Ideen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen; denn das führt am Ende zu mehr Innovationen,
und zwar zu Produkt- und Prozessinnovationen. Diese
Innovationen bringen uns den nötigen Erfolg. Das sichert den Wohlstand unseres Landes. Deshalb werden
wir weiterhin darauf drängen, dass es eine enge Verzahnung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gibt. Wir
halten das schlicht für notwendig.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle eines deutlich machen:
Wir sind der Meinung, dass die Förderung von
Forschung entsprechende Unterstützung braucht. Dafür
haben wir im Zuge der Exzellenzinitiative gesorgt. Aber
die Exzellenzinitiative kann so nicht weitergeführt
werden, weil wir ein Problem mit der Finanzierung haben, Stichwort: Grundgesetz. Wir haben eine Änderung
des Art. 91 b Grundgesetz auf den Weg gebracht, weil
wir vonseiten des Bundes sagen: Wir wollen die Länder
bei der Finanzierung der Wissenschaftseinrichtungen
weiterhin unterstützen. Dies ist uns ein Anliegen; wir
wollen das tun, und dafür muss der Art. 91 b geändert
werden. Das wird augenblicklich von Ihnen im Bundes28782
rat blockiert. Wenn Sie sagen, dass Sie Unterstützung
haben wollen, dann müssen Sie die Frage beantworten,
warum Sie dieses Gesetz im Bundesrat blockieren.
({4})
Dafür gibt es einen einzigen Grund - ({5})
- Ach, Herr Röspel, es geht doch nicht um ein paar wenige Spitzenuniversitäten; es geht darum, dass in diesem
Land Exzellenz erhalten bleibt. Dafür müssen Sie auch
Exzellenz fördern.
({6})
Der einzige Grund, warum Sie das blockieren, sind
kleinkarierte Eigeninteressen der Länder, die in einer Art
Erpressermanier versuchen, mehr Geld vom Bund zu bekommen, als wir schon angeboten haben. Das ist der
Grund, warum Sie diese Änderung blockieren. Riskieren
Sie nicht weiterhin die Finanzierung der Forschungseinrichtungen!
({7})
Die Innovationsindikatoren zeigen deutlich: Wir sind
weiter ganz vorne mit dabei. Aber wenn wir diese Position halten wollen, dann müssen wir auch weiterhin die
Verschränkung von Wissenschaft und Wirtschaft fördern.
Wir haben das beispielsweise über das Innovationskonzept des Bundesministeriums für Wirtschaft getan. Wir
haben dies sehr konkret getan, indem wir beispielsweise
im Bereich des Mittelstands die Mittel für das Projekt
„Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand“ aufgestockt, es ausgebaut, umgebaut und es praxisorientiert
und erfolgreich gemacht haben. Dass wir mit unserer
Politik konsequent auf kleine und mittlere Unternehmen
auch in diesem Bereich setzen, trägt dazu bei, dass wir
so erfolgreich sind.
({8})
Es bleibt - das will ich Ihnen an dieser Stelle auch sagen - auf unserer Agenda, dass wir das Förderinstrumentarium, das wir haben, ergänzen. Wir haben es in
dieser Legislaturperiode beispielsweise durch das
„Kompetenzzentrum innovative Beschaffung“ ergänzt,
weil wir aus anderen Ländern wissen, dass auch im Bereich der öffentlichen Beschaffung Schwerpunkte gesetzt werden können und Unterstützung für Innovationen
gegeben werden kann. Wir wollen dies auch weiterhin
tun, indem wir die steuerliche Forschungsförderung
noch auf den Weg bringen. Wir sind der Meinung, dass
es gut wäre, unser Forschungsinstrumentarium dadurch
zu ergänzen.
({9})
- Sie brauchen hier gar nicht dazwischenzurufen. In den
Programmen der SPD steht dies seit 1994. Seither haben
Sie ein paarmal regiert, und nichts haben Sie auf die
Reihe gekriegt - gar nichts! -,
({10})
und das unter Finanzbedingungen, die besser waren, als
wir sie in dieser Legislaturperiode hatten.
({11})
Ich sage Ihnen: Wir haben in dieser Legislaturperiode
an der einen oder anderen Stelle unsere Schwerpunktsetzungen ein Stück weit zurücknehmen müssen, weil neue
Herausforderungen auf uns zukamen. Ich nenne nur
die Stichworte „Euro-Krise“ und „Haushaltskonsolidierung“.
({12})
Weil wir insoweit etwas machen mussten, konnten wir
nicht alles umsetzen, was wir wollten. Aber Sie können
sicher sein: Wir werden an dem Thema der steuerlichen
Forschungsförderung weiter arbeiten,
({13})
weil wir der Auffassung sind, dass es einer weiteren Ergänzung des Instrumentariums bedarf, weil wir wollen,
dass Innovationen in diesem Land eine Chance haben.
Dazu gehört auch, dass wir, dass diese Koalition nicht
nur über Risiken redet, sondern auch über die Chancen
der Forschungspolitik - ganz im Gegensatz zur linken
Seite dieses Hauses.
({14})
Wenn wir weiter Innovationen fördern wollen, brauchen wir auch ein gesundes gesellschaftliches Klima. Zu
diesem Klima müssen auch Sie beitragen, zum Beispiel
dadurch, dass Sie auch einmal über die Chancen und
nicht nur über die Risiken von neuen Technologien sprechen.
({15})
Tobias Lindner vom Bündnis 90/Die Grünen ist der
nächste Redner.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Albert Einstein sagte einmal:
Viel mehr als die Vergangenheit interessiert mich
die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.
Wenn ich mir die heutige Debatte anschaue, die sich
dadurch beschreiben lässt, dass die Redner der Koalition
vielfach Salböl über ihre Politik der letzten vier Jahre gegossen haben und wir relativ wenig über die HightechStrategie der Bundesregierung gehört haben, frage ich
mich schon, wann wir einmal über die Zukunft der Forschungspolitik in Deutschland miteinander diskutieren.
({0})
Schauen wir uns einmal Ihre Hightech-Strategie an.
Sie ist vielfach eine Sammlung von Allgemeinplätzen.
({1})
Es gibt auch Dinge, die andere Teile dieses Hauses in einigen Punkten durchaus unterstützen würden. Aber
wenn man den Rest Ihrer Politik danebenlegt, wenn man
sich anschaut, wie das Ganze finanziert werden soll,
dann fällt eine große Inkonsistenz auf.
({2})
Ich nenne Ihnen dazu zwei einfache Beispiele:
Erstens. Sie haben viel darüber gesprochen, dass Sie
die Ausgaben im Einzelplan 30, die Ausgaben für Bildung und Forschung, erhöht haben. Ja, das ist richtig,
diese Ausgaben sind gestiegen, und im kommenden Jahr
möchten Sie die Mittel für den Einzelplan 30 - so der
Eckwertebeschluss - um 287 Millionen Euro erhöhen.
Frau Ministerin, Sie haben davon gesprochen, dass man
Prioritäten setzen muss, dass man sich konzentrieren
muss, dass man dem Ganzen eine Richtung geben muss.
Sie erhöhen auf der einen Seite zwar den Etat um
287 Millionen Euro, schrauben aber gleichzeitig die globale Minderausgabe um etwa 370 Millionen Euro hoch.
Wenn diese globale Minderausgabe erwirtschaftet wird,
ist das zum einen alles andere als ein Mittelaufwuchs
und zum anderen auch alles andere als eine Priorisierung. Sie verraten nicht, woher das Geld kommen soll.
Das ist alles andere als eine klare Richtung in der Forschungspolitik.
({3})
Zweitens. Lassen Sie mich etwas zum Thema Energieforschung sagen. Die Energiewende ist die größte
Herausforderung für Deutschland seit der Wiedervereinigung in den Bereichen Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik. In Ihrer Hightech-Strategie nennen Sie einige
Maßnahmen. Schauen wir uns einmal die projektbezogene Energieforschung an: Darin enthalten sind zwar
viele Projekte aus dem Bereich der Erneuerbaren; aber
die Mittel, die Sie dafür bereitstellen, sind gerade einmal
halb so hoch wie die Mittel, die im Bereich der Kernforschung ausgegeben werden. Auch an dieser Stelle geben
Sie Ihrer Forschungspolitik eine falsche Richtung.
({4})
Frau Homburger, Sie haben darüber gesprochen, dass
man Wissenschaft bzw. Forschung und Wirtschaft verzahnen muss. Im Zusammenhang mit der Energiewende
in Deutschland ist Ihnen das Gegenteil gelungen. Viele
Unternehmen, mit denen ich spreche - ich rede nicht nur
über Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren
Energien; ich rede über ganz konventionelle Energiekonzerne -, sagen mir: Mit ihrem Zickzackkurs beim
Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien, mit diesem Hickhack sorgt diese Bundesregierung für Verunsicherung; so schafft sie keine stabilen Rahmenbedingungen. - So erreichen Sie das Gegenteil von einer
guten Verbindung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft im Bereich der Energiepolitik.
({5})
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen - man
könnte ihn überschreiben mit: „Die Botschaft hör ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube“ -, die steuerliche Forschungsförderung. Heute liegt ein Antrag meiner Fraktion vor, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird,
eine steuerliche Forschungsförderung in Höhe von
15 Prozent bei kleinen und mittleren Unternehmen auf
den Weg zu bringen. Sie haben über enge Spielräume im
Haushalt gesprochen. Ja, die Spielräume im Haushalt
sind eng. Haushalten hat aber auch etwas mit Priorisieren zu tun. Wenn Sie sich für die Mövenpick-Steuer oder
die Herdprämie entscheiden und gegen eine steuerliche
Forschungsförderung, dann ist das auch eine Art von
Priorisierung. Diese Priorisierung hat mit Hightech
nichts zu tun.
Vielen Dank.
({6})
Nun erhält der Kollege Heinz Riesenhuber für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lindner,
Sie haben mit einer erfreulichen Leidenschaft und mit
Freude über eine gute Sache, über die steuerliche Forschungsförderung, gesprochen. Ich bin sehr dankbar,
dass die Grünen und die SPD hierzu wegweisende Anträge gestellt haben. Es war nicht immer so, dass diesbezüglich herzliche Einmütigkeit zwischen uns herrschte.
Die steuerliche Forschungsförderung ist eines der dicken
Bretter, an denen wir bohren. Als wir vor 25 Jahren zum
ersten Mal dieses Thema durchzusetzen trachteten, kam
die deutsche Einheit, und die Prioritäten hatten sich verändert. Dann gab es eine Zeit, in der Sie regiert haben,
vielleicht nicht Sie persönlich, aber die Grünen zusammen mit der SPD. Auch damals wurde das nicht zustande gebracht. Dann hatten wir die Große Koalition.
Ich erinnere mich an die herzlichen, konspirativen Gespräche, die wir geführt haben.
({0})
So ganz ist es uns damals nicht geglückt.
Und auch in dieser Periode haben wir das noch nicht
geschafft. Aber, Freunde, wir stellen die Notwendigkeit
dieses Instruments jetzt so einmütig fest, wie das noch
nie der Fall war.
({1})
Der Deutsche Bundestag, die Industrie, die Verbände
und auch der Mittelstand stehen dazu. Wir alle sind der
Überzeugung, dass jetzt die große Chance besteht, technikoffen in einer komplexen Welt die Erfindungskraft
des Einzelnen freizusetzen und den Mittelstand zu fördern.
Frau Sager, Sie sagen, das alles sei vor allem für die
Großkonzerne.
({2})
Wir haben hierzu ein Konzept, das streng geheim ist;
deshalb kennen es alle.
({3})
Darin steht, dass der Mittelstand dreimal mehr gefördert
werden soll als die Großunternehmen. Weiter steht darin,
dass die Personalkosten steuerlich gefördert werden und nicht die Investitionskosten, die bei der Forschung
in großen Unternehmen höher sind.
({4})
Wir haben auch hier die Strategie, den innovativen Mittelstand mit seiner Begeisterung für das Neue, den Weltmeister in den Nischen, den Meister der technischen
Systeme und die Zusammenführung der unterschiedlichen Techniken so zu fördern, dass der Schwung in
eine neue Welt führt. - Das bezog sich auf die steuerliche Forschungsförderung.
Es gab einen zweiten Punkt, bei dem die Opposition
sich nachdenklich gefragt hat, ob sie die Welt noch richtig versteht. Ich glaube, Frau Sager, Sie haben ihn angesprochen. Ich muss nachschauen. - Nein, Frau Sitte war
es. Schön, mit Ihnen reden zu können, Frau Sitte.
({5})
Sie haben die Frage gestellt: Was heißt Wohlstand im
21. Jahrhundert? Was trägt Forschung dazu bei?
({6})
Wir haben mit dem HTS-Aktionsplan ein ziemlich einzigartiges Dokument von beachtlicher Intelligenz. Wie
ist der Weg dahin gewesen?
Erstens hat man geschaut, was die prioritären Felder
sind, in denen wir Probleme lösen müssen. Das sind die
Gesundheit, die Energie, das Klima, die Sicherheit unserer Datensysteme, die Kommunikation und die Mobilität. Die Probleme auf diesen Gebieten müssen wir lösen,
um auf lange Sicht menschliches Zusammenleben zu sichern. Auf diesen Gebieten werden aber auch die großen
Märkte entstehen. Das sind die Gebiete, auf denen die
Chancen für die Unternehmen entstehen werden.
Von diesen Gebieten ausgehend haben wir das Ganze
dann zweitens im Rahmen eines komplexen Prozesses
auf die zehn Zukunftsprojekte heruntergebrochen. Sie
adressieren in konkreter Weise die Dinge, bei denen es
operativ wird. Die wiederum sind auf die einzelnen Bereiche bzw. Einzelprojekte wie die der Energieforschung
und der Altersforschung heruntergebrochen worden. Bei
der Altersforschung geht es übrigens nicht nur um die
Technologie. Wir haben die soziale Altersforschung seit
25 Jahren in vernünftiger Weise integriert, mit den Kohorten, mit den Fragen der Teilhabe, des Zusammenlebens und der eigenständigen Gestaltung.
Manche von uns sind etwas älter geworden.
({7})
Dass wir in Fröhlichkeit und mit Eigenständigkeit in einer komplexen Welt leben, ist eine begeisternswerte Tatsache, an der wir uns alle erfreuen.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, daraus ist
eine neue Strategie entstanden. Das ist nicht die klassische Strategie eines Technology Push, mit dem hier sicher eine Lösung gefunden werden kann. Es gibt heute
so viele Techniken und Erfindungen, dass es überhaupt
keinen Zweck hat, zu versuchen, dabei die Gewinner herauszupicken. Vielmehr ist es so, dass wir, weil wir eine
solche Fülle von neuem Wissen und neuer Technik haben, auf die Ziele, die Probleme und die Herausforderung hindenken, eine Welt zu gestalten, in der auf lange
Sicht eine große Zahl von Menschen in Frieden und
Nachhaltigkeit leben kann. Das ist eine Strategie, die
überzeugt.
Verschiedene Kollegen haben darauf hingewiesen,
dass Europa dies als Denkprinzip übernommen hat. Und
es scheint sich zu bewähren. Das heißt, wir haben hier
insgesamt eine überzeugende Strategie aufgebaut. Es
heißt nicht, dass wir hier alles „targetten“. Das heißt
nicht, dass wir glauben, planen zu können, was Innovationsgeist erzeugen kann. Das heißt nicht, dass wir keinen
großen Freiraum haben. Wir sprachen über die steuerliche Forschungsförderung, mit der technikoffen und
durch Erfindungskraft des Einzelnen neue Produkte für
neue Märkte und neue Problemlösungen geschaffen werden können.
Auf der anderen Seite heißt das auch, dass wir in Verantwortung für eine verletzliche Welt von der Zukunft
her denken müssen. Wir müssen überlegen, wie uns die
Fülle der Möglichkeiten eine humane Gestaltung der
Welt erlauben kann.
({9})
Wenn wir in diesem Geist an die Sache herangehen,
mit einer frohgemuten Zuversicht, mit dem Unternehmungsgeist, der dem ganzen Deutschen Bundestag zu eigen ist, mit der fröhlichen Gestaltungskraft, die auf die
Zukunft vertraut, in einem Geist, der nicht die Probleme
problematisiert, sondern sich für Lösungen begeistert
Und mit gelegentlichem Blick auf die Uhr.
- und wenn der Bundestagspräsident mir noch diesen
einen Satz zu sagen erlaubt -,
({0})
wenn wir also in einem solchen Geist an die Sache herangehen, getragen von der Zustimmung des Bundestagspräsidenten,
({1})
dann, Freunde, werden wir Deutschland in eine Zukunft
führen, an der wir alle Freude haben werden, auch die
Menschen, die gestalten.
({2})
Die Verpflichtung zur Überparteilichkeit, Herr Kollege Riesenhuber, verbietet mir, die schiere Begeisterung
über die Schlussempfehlung zum Ausdruck zu bringen.
Das behalten wir jetzt für uns.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riesenhuber, ich
gebe Ihnen recht: Ich glaube, das ganze Haus hat hinsichtlich Forschung und Entwicklung die Einsichten, die
es braucht. Wir alle sind davon überzeugt, dass dieser
Bereich gefördert werden muss. Wir haben also kein Erkenntnisproblem. Aber wir haben ein Umsetzungsproblem. Die Umsetzung ist natürlich Aufgabe der Regierung. Da die Umsetzung fehlt, ist die Regierung das
Problem. Das ist unser Problem.
({0})
Ich will, bevor ich als Finanzpolitiker zum eigentlichen Thema spreche, zu einem relativ kalten Begriff
kommen. Er lautet: Industrie 4.0. Er klingt modern. Es
ist auch in Ordnung, dass wir diesen Begriff benutzen.
Allerdings hat Siggi Ehrmann vorhin, als Ministerin
Wanka diesen Begriff in ihrem Vortrag etwas leichtfüßig
benutzt hat, einen leisen Zwischenruf gemacht. Er rief:
„Richard Sennett! Der flexible Mensch!“ Ich denke, dass
es einer Bildungs- und Forschungsministerin gut angestanden hätte, sie hätte auch ein wenig darüber geredet,
was eigentlich mit den Menschen passiert.
({1})
Die Menschen werden in Prozesse ausgelagert, um
dieses Stichwort zu nennen, und sie werden individualisiert. Möglicherweise können Sie den dritten Punkt sogar selber sehr gut nachvollziehen: Wir leiden auch unter
einem gewissen Kommunikationsterror.
({2})
Das sind drei Begriffe, die wir mitdenken müssen, wenn
wir den Begriff „Industrie 4.0“ benutzen. Ich hatte gedacht, dass sich einer Ministerin, die für Bildung und
Forschung zuständig ist, auch diese kulturelle und soziale Dimension des Problems erschlossen hätte.
({3})
Nach dieser Vorbemerkung darf ich nun über das
Thema Geld reden. Ich meine, im Vergleich zu vielen
anderen Ländern hat Deutschland eine ganz gut ausgebaute Projektförderung. Offen gestanden hat da auch die
Regierung, wie ich meine, in den letzten Jahren nicht
viel kaputtgemacht.
({4})
- Das war jetzt aber eine relativ neutrale Bemerkung.
({5})
Es ist möglich, Projektförderung zielgerichtet und effizient zu betreiben. Aber man muss zugeben, dass Projektförderung gerade für kleine und mittlere Unternehmen oft extrem verwaltungsaufwendig und damit
schwierig ist. Deshalb müssen wir uns auf diesen Punkt
konzentrieren. Wir müssen dort hinschauen, wo die Situation schwierig ist. Das gilt insbesondere für kleine
und mittlere Unternehmen. Ihnen wollen wir helfen.
Deshalb denken wir, dass man hier eine steuerliche Förderung organisieren muss, um das große Innovationspotenzial zu fördern.
({6})
Dass die Grundlagenforschung daneben natürlich eine
öffentliche Aufgabe ist und bleibt, ist selbstverständlich.
Jetzt komme ich zu einem interessanten Punkt: zur
steuerlichen Forschungsförderung. Auch hier haben wir
kein Erkenntnisproblem. Das wissen auch Sie; das weiß
die Koalition. Deshalb haben Sie die steuerliche Forschungsförderung - das fanden wir gut - in Ihrem Koalitionsvertrag erwähnt. Jetzt fragen wir uns natürlich:
Wurden Sie Ihren Ansprüchen gerecht? Haben Sie Ihre
Ankündigungen eingehalten? Wurden Ihre Versprechungen umgesetzt? Dazu haben wir einiges gehört. Sie haben sich dieses Vorhaben, glaube ich, für die Zukunft
vorgenommen.
Lothar Binding ({7})
Interessant ist: Sogar die Wirtschaft hilft Ihnen bei der
Suche.
({8})
Sie sucht und sucht und sucht, wo die Versprechen, die
Sie in Ihrem Koalitionsvertrag formuliert haben, umgesetzt wurden. Auch wir helfen Ihnen bei der Suche, finden aber nichts. Sogar Sie selber suchen noch, finden
aber auch nichts. Ich glaube, schon jetzt merken wir: Das
ist ein Umsetzungsproblem. Die Umsetzung ist allerdings Aufgabe der Regierung. Damit haben wir das Problem vollständig beschrieben.
({9})
Die Ministerin hat gerade gesagt: Es wurde noch nie
so viel Geld ausgegeben wie jetzt. - Das stimmt. Aber
Geld ausgeben ist kein Eigenwert. Geld ausgeben ist
keine Qualität an sich. Die Frage ist, ob die Verknüpfung
mit den Anforderungen zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben gelingt. Da hat Michael Gerdes, übrigens auch
bezogen auf die Situation „Mensch in der Ausbildung“,
schon wichtige Bedarfsfelder genannt - immer unter
dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit -: Klima-, Energie-, Speicherforschung, Übertragungstechnik, Kommunikation usw. Dazu finden wir bei der Regierung nicht
viel. Ich habe mir hier aufgeschrieben: „Fehlanzeige“,
und ich glaube, diese Diagnose stimmt.
Man kann vielleicht einfach ein paar Zahlen nennen.
Sie behaupten, Sie strengen sich in der Forschung immer
mehr an und das wird immer wichtiger. Angenommen,
Sie projektieren für 2015 die richtige Zahl, und zwar
13,6. In der Projektion für 2016 steigern Sie das auf
13,6, in der Projektion für 2017 steigern Sie das noch
einmal auf 13,6. - In unserer Sprache heißt so etwas
nicht Steigerung, sondern Stagnation; aber vielleicht sehen Sie das ja anders.
({10})
Wir glauben, dass Sie eine weitere wichtige Dimension nicht erschlossen haben; sie wird mit dem englischen Begriff „level playing field“ beschrieben. Damit
soll ausgedrückt werden, dass man darauf achten muss,
dass die Bedingungen, die in Europa herrschen, so beschaffen sind, dass es unserem Mittelstand möglich ist,
konkurrenzfähig zu sein. So etwas bedarf einer intensiven Europapolitik, einer Außenpolitik, die Sorge trägt
dafür, dass für die anderen wie für uns ähnliche Regeln
gelten. Mit Blick auf die Außenpolitik ist diese Regierung, das muss man leider sagen, ein Totalausfall.
({11})
Ich will mit Blick auf die Zukunft zitieren, was Ingrid
Arndt-Brauer gesagt hat: Wer keine Zukunft hat, beschäftigt sich mit der Vergangenheit. - Dass die Koalition heute diese Unterrichtung durch die Bundesregierung auf die Tagesordnung gesetzt hat, war, glaube ich,
genau das.
({12})
Der Kollege Axel Knoerig hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die heutige Grundsatzdebatte zum Aktionsplan „Hightech-Strategie“ macht deutlich, dass CDU/CSU und FDP
in der Innovationsförderung mit der Förderung von
Schlüsseltechnologien den richtigen Weg gegangen sind.
Wir vertrauen auf Forschung; sie ist die Grundlage für
unseren Wohlstand und sichert die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Das Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation 2013 bestärkt uns, Frau Professor
Schavan, dass unser Weg in der Forschungsförderung,
durch die Hightech-Strategie auf eine Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu setzen, richtig gewesen ist.
({0})
Es wird deutlich, dass durch Forschung gewonnene
Schlüsseltechnologien nicht sofort innovative Produkte
und Dienstleistungen vorantreiben. Vielmehr muss der
Nutzen dieser Schlüsseltechnologien unmittelbar in wirtschaftliche Anwendungen überführt werden, Herr Binding.
Für diesen Wissens- und Technologietransfer stehen in
dieser Wahlperiode drei Instrumente der Hightech-Strategie zur Verfügung:
Erstens: die dritte Runde der Exzellenzinitiative für
Spitzenforschung, bei der im Sommer 2012 elf Universitäten mit Exzellenzclustern ausgewählt wurden.
Zweitens: die Validierung. Das heißt, es geht um den
Nachweis, dass im Forschungsprozess von Anfang an
auch die Verwertbarkeit des Produktes berücksichtigt
wird. Der Forscher ist gleichzeitig auch Unternehmer.
Das erhöht die Chancen der Platzierung des Produktes
am Markt.
({1})
Drittens: das Programm „Forschungscampus“, bei
dem öffentliche und private Forschung miteinander kooperieren und von den Universitäten und der Industrie finanziert werden.
Der Wissens- und Technologietransfer zeigt sich in
Patenten, in Ausgründungen aus der Wissenschaft und in
der Platzierung der Produkte am Markt. Es ist, denke
ich, erfreulich, dass wir dafür in diesem Jahr einen Beitrag von 170 Millionen Euro zur Verfügung stellen.
Das Ganze spitzt sich zu: Mit dem im März 2012
beschlossenen Aktionsplan „Hightech-Strategie“, der
Speerspitze der Innovationsförderung, stellen wir zwischen 2012 und 2015 insgesamt 8,4 Milliarden Euro für
Zukunftsprojekte zur Verfügung
({2}).
Ich bin schon ziemlich verwundert, meine lieben Kollegen von der Opposition, mit welch verstaubten Anträgen Sie hier in die Grundsatzdebatte dieses Tagesordnungspunktes eingestiegen sind. Die Anträge der Grünen
und der SPD für steuerliche Forschungsförderung kennen
wir bereits seit Herbst 2009. Ich frage Sie: Warum wird
die Regierung mit einem rückwärtsgewandten Bewertungsstand aus dem Jahr 2009 gemessen?
({3})
- Herr Kollege, Sie lassen die Erfolge, die in den letzten
drei Jahren erzielt worden sind, völlig außer Acht.
({4})
Noch mehr ärgert mich, dass uns von der Opposition in
einer derart verkürzten und falschen Darstellung vorgehalten wird, dass die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung nicht zustande gekommen ist.
({5})
Die Opposition macht jegliche Anstrengungen in diesem
Bereich zunichte. Sie blockieren doch im Bundesrat!
({6})
Die SPD verhindert dort doch die Reform des Art. 91 b
des Grundgesetzes!
Wir von der Union sagen klipp und klar: Wer nicht
einmal die Kooperation von Universitäten mit außeruniversitären Instituten fördern möchte, der verhält sich im
Grunde genommen forschungsfeindlich.
({7})
Diese Blockade ist verantwortungslos und gefährdet das
Gemeinwohl.
({8})
Mit dem Motto „Die Hightech-Strategie nach Europa
tragen“ sind wir Schrittmacher für die Kooperation von
Wissenschaft und Wirtschaft in der europäischen Forschungspolitik. Frau Ministerin Wanka hat das auch vortrefflich formuliert.
Wir haben das Rahmenprogramm „Horizont 2020“
für die kommende EU-Periode aufgenommen. Die guten
Erfahrungen mit dem Wissens- und Technologietransfer
aus der Hightech-Strategie sind im Wesentlichen aufgenommen und in der Programmförderung berücksichtigt
worden. Wir sind damit langfristig erfolgreich, wenn wir
Forschungsnetzwerke und Cluster miteinander verbinden.
In Gesprächen in meinem Wahlkreis Diepholz Nienburg I
({9})
- Diepholz - Nienburg I, Herr Röspel;
({10})
ich sage es gerne noch einmal ({11})
merke ich das immer wieder: Sie nutzen diese Wissenschaftscluster, sie kooperieren dort, und sie knüpfen vor
allem europäische und internationale Kontakte. Dazu
müssen wir wissen, wie sich die Wirtschafts- und die Arbeitswelt durch die Globalisierung verändern; denn wir
wissen, dass dieser Wandel nicht aufzuhalten ist, aber
wir können ihn erforschen und seine Auswirkungen berechenbarer machen.
({12})
Deshalb setzt die Hightech-Strategie im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie darauf,
Deutschlands Stärken in den Kernbranchen auszubauen
und neue Anwendungsfelder zu erschließen.
({13})
Nehmen Sie deswegen bitte diese drei Punkte zur
Kenntnis, die bis heute zu 2 Millionen Arbeitslosen weniger als noch vor vier Jahren geführt haben:
({14})
Erstens. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzen auf beides, auf öffentlich-rechtliche und auf öffentlich-private Partnerschaften in der Forschungskooperation.
Zweitens. Wir haben Produkte und Dienstleistungen
vom Forschungsprogramm bis zum fertigen Produkt auf
ihren Marktwert überprüft.
({15})
Drittens. Wir verstärken mit der Hightech-Strategie
die Internationalisierung der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wir wissen, dass diese Unternehmen in unseren Wahlkreisen bis zu 80 Prozent der Arbeits- und Ausbildungsplätze vorhalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Der Kollege Michael Kretschmer ist nun der letzte
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nicht weil wir ein wirtschaftlich so starkes Land
sind, geben wir so viel Geld für Forschung und Entwicklung aus, sondern weil wir so viel Geld für Forschung,
für Wissenschaft, für Entwicklung und für neue Technologien ausgeben, sind wir ein so starkes Land,
({0})
haben wir ein so hohes Wohlstandsniveau,
({1})
sind wir so gut durch diese wirtschaftliche Krise gekommen. Das ist das Ergebnis dieser Koalition, die jetzt regiert.
({2})
Wir haben die Mittel für den Einzelplan 30 seit 2005
um 80 Prozent gesteigert und geben damit 80 Prozent
mehr für Bildung, Wissenschaft und Forschung aus und das in einer Zeit der Haushaltskonsolidierung. Das
ist der große Unterschied zur linken Opposition in diesem Land und auch zu den linksregierten Ländern in der
Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Eine Nachhaltigkeit dieser Zukunftsinvestitionen für
Bildung und Forschung entsteht nur, wenn sie auf einem
soliden Haushalt aufgebaut sind. Es ist kein guter Weg,
wenn man dies über Steuererhöhungen oder Einmalinvestitionen macht. Das ist ein Strohfeuer und nimmt, wie
es schon gesagt worden ist, den Unternehmen die Substanz, die dann nicht vorhanden ist, um tatsächlich Forschung und Technologieentwicklung zu betreiben.
({4})
Sie haben zu Recht ein schlechtes Gewissen,
({5})
weil Sie in Ihrer Regierungszeit, in der Zeit von RotGrün, genau das gemacht haben. Der Vertrauensverlust,
der in den 2000er-Jahren entstanden ist, als Rot-Grün die
Haushalte ohne Vorankündigung überrollt und „Stop and
go“ betrieben hat, wirkt auch noch heute in der Wissenschaft nach,
({6})
und es ist richtig, dass Ihnen das auch heute noch peinlich ist.
Wir haben in der Zeit, in der wir regieren, eine andere
Politik gemacht.
({7})
Wir haben in der ersten Legislaturperiode 6 Milliarden
Euro und in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden
Euro
({8})
für die Zukunftsthemen in diesem Land ausgegeben: für
die Bildung und für ein besseres Leben, für neue Technologien, für ein wirtschaftliches Wachstum mit der
Hightech-Strategie. Das ist eine große Sache.
({9})
Wir haben immer gesagt, dass die Universitäten im
Zentrum, im Mittelpunkt des Wissenschaftssystems stehen. Deswegen haben wir alle unsere Maßnahmen darauf ausgerichtet, die Universitäten zu stärken. Es wäre
eine große Sache, wenn Sie sich nicht nur in diesem
Parlament echauffieren würden, sondern tatsächlich im
realen Leben in den von Ihnen regierten Ländern dafür
sorgen würden, dass dort nicht die Haushalte für Bildung
gekürzt werden, sondern dass das zusätzliche Geld, das
wir bereitstellen, wirklich zusätzlich genutzt wird, anstatt es als Ersatz von Landesmitteln zu nehmen, die in
den rot-grünen Haushalten eingespart werden.
({10})
Wir haben nach der Regierungsübernahme auf der
ersten Dienstreise mit Annette Schavan die HightechStrategie in Japan und in Südkorea erklärt; der eine oder
andere im Haus war mit dabei. Diese Länder haben gestaunt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der
Aussage antritt: Wir wollen wieder nach vorne an die
Spitze. - Diese Länder haben sich sicherlich gefragt, ob
wir das ernst meinen. Heute schauen all diese Länder auf
uns und sind beeindruckt, wie man in einer wirtschaftlichen Krise durch Prioritätensetzung im Haushalt mehr
Geld für Bildung, für Forschung, für Wissenschaft bereitstellen kann. Die Ergebnisse können sich in der Tat
sehen lassen.
({11})
Es ist eine überzeugende Aussage, wenn wir jetzt erklären: Wir wollen auch in Zukunft die Investitionen in
die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, für den
Hochschulpakt, für den Pakt für Forschung und Innovation um 5 Prozent erhöhen, damit es auch in Zukunft in
einer guten Kooperation vorangeht. Es wäre gut gewesen, wenn Sie dafür gesorgt hätten, dass die Grundgesetzänderung, die von jeder Wissenschaftseinrichtung
und die von den meisten Wissenschaftsministern in diesem Land gefordert wird, am Ende Wirklichkeit würde.
Es ist Ihr Versäumnis, dass Sie hier nicht mitgemacht
haben.
({12})
Herr Kollege Kretschmer.
Wenn wir auch in Zukunft sagen: „Wir wollen nicht
nur 3 Prozent, sondern 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Forschung investieren“, dann ist das die
nächste Ansage, die in der Welt gehört wird. Damit ist
verbunden, dass wir unseren Beitrag dazu leisten, dass
nicht nur Deutschland, sondern auch die Europäische
Union insgesamt nach vorn gebracht wird. Dazu wollen
wir beitragen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 17/9261 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b kommen wir zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf der Drucksache 17/1600. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/247 mit dem Titel „Innovative kleine
und mittlere Unternehmen stärken - Ein nachhaltiges
steuerliches Forschungs- und Entwicklungs-Förderkonzept ({0}) vorlegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/130
mit dem Titel „Innovationskraft von kleinen und mittle-
ren Unternehmen durch Steuergutvorschrift für For-
schungen stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit ange-
nommen.
Unter Tagesordnungspunkt 3 c stimmen wir über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8952 mit dem
Titel „Soziale Innovationen und Dienstleistungsinno-
vationen erforschen und fördern“ ab. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12812, den Antrag der Fraktion Die Linke ab-
zulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 zur Abstimmung auf.
Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung zu dem Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel
„Starke Fachhochschulen für Innovationen in Gesell-
schaft und Wirtschaft“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/12813,
den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/9574
abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so-
wie den Zusatzpunkt 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Caren Lay,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Stromsteuer senken für eine konsequent so-
zial-ökologische Energiewende
- Drucksache 17/12840 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Energiewende sozial gestalten - Bezahlbare
Strompreise gewährleisten
- Drucksachen 17/10800, 17/11704 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie ({2}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Caren Lay, Dr. Barbara Höll,
Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Energiewende sozial gestalten - Stromsperren
gesetzlich untersagen
- Drucksachen 17/11655, 17/12767 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter,
Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu
der Beratung der Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Abgeordneten Rita
Schwarzelühr-Sutter, Rolf Hempelmann, Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Energiewende - Kosten für Verbraucherinnen, Verbraucher und Unternehmen
- Drucksachen 17/10366, 17/12246, 17/12538,
17/12874 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
({5})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der letzten Woche konnten wir der Presse
entnehmen, dass der Stromkonzern Eon im vergangenen
Jahr einen Gewinn von 2,6 Milliarden Euro eingefahren
hat. Das ist zweifellos gut für Eon-Chef Johannes
Teyssen. Er wird nicht am Hungertuch nagen müssen;
denn er gönnte sich eine Gehaltserhöhung, die sich
gewaschen hat. Der Arme musste bislang mit einem
Jahresgehalt von 4,5 Millionen Euro auskommen.
({0})
Jetzt soll sein Einkommen auf 5,7 Millionen Euro jährlich steigen.
({1})
Immerhin wird er sich zukünftig keine Sorgen darüber
machen müssen, wie er die Stromrechnung bezahlt.
Ganz anders sieht das für die Beschäftigten aus, die Eon
zuvor entlassen hat. Ganz anders sieht es auch für die
Hunderttausenden Menschen in diesem Land aus, denen
der Strom im vergangenen Jahr abgestellt wurde. Das
darf nicht sein. Das ist eine soziale Schieflage in der
Energiewende, die wir als Linke so nicht hinnehmen
können.
({2})
Dann stellt sich Eon-Chef Teyssen auch noch hin und
fürchtet sich öffentlich vor schwierigen Zeiten für sein
Unternehmen. Da kann ich nur sagen: Wenn er auf seine
Gehaltserhöhung verzichten würde, dann hätte er schon
so manchen Arbeitsplatz in seinem Unternehmen sichern
können.
({3})
Nehmen wir als Beispiel Berlin. Hier lebt jeder
Sechste von Hartz IV. Die steigenden Strompreise werden für diese Menschen, aber auch für Geringverdiener
zu einem massiven Problem. Die steigenden Kosten für
Gas und Heizung kommen hinzu. Nach Angaben der
Verbraucherverbände steigt die Zahl derjenigen, die Beratung wegen explodierender Strom- und Gaspreise
brauchen, enorm an. Deswegen sagen wir als Linke: Es
muss endlich etwas passieren, um den rasanten Anstieg
der Energiekosten, der Strom-, der Heiz- und der Gaskosten, zu reduzieren.
({4})
Und siehe da! Selbst die Bundesregierung hat dieses
Problem erkannt und will eine Strompreisbremse nachliefern. Heute Nachmittag findet der sogenannte Energiegipfel im Kanzleramt statt. Ich kann nur sagen: Diesen Alarmismus hätten Sie sich sparen können, wenn Sie
hier in diesem Hohen Hause vor zweieinhalb Jahren unseren linken Vorschlägen für eine effektive Strompreisbremse zugestimmt hätten. Sie haben sie abgelehnt. Sie
haben jedes Jahr abgelehnt, wenn wir ein Strompreismoratorium gefordert haben. Das muss an dieser Stelle
gesagt werden.
({5})
Die Vorschläge, die Union und FDP bisher vorgelegt
haben, sind nichts anderes als ein weiterer Frontalangriff
gegen die erneuerbaren Energien. Sie sagen Strompreisbremse, meinen aber Erneuerbare-Energien-Bremse.
Das muss an dieser Stelle ganz deutlich gesagt werden.
({6})
Das ist der Unterschied zwischen unserer und Ihrer
Energiepolitik: Wir wollen verhindern, dass sich die
Chefs der vier großen Energiekonzerne weiterhin auf
Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher die Taschen vollstopfen. Sie betreiben Propaganda gegen die
Solar- und Windkraftbranche.
Es ist doch paradox: Ausgerechnet diese schwarzgelbe Koalition, die sich ansonsten so gerne wirtschaftsnah gibt, lässt die Solarbranche einfach den Bach runtergehen. Allein in meinem Wahlkreis sind in den letzten
Monaten drei Solarfirmen pleitegegangen. Viele Stadtwerke hatten den Bau von Solaranlagen geplant und
wollten neue Solarfelder erschließen. Aber durch das Hü
und Hott in Ihrer Förderpolitik sind diese Vorhaben einfach nicht mehr realisiert worden. Ich finde, so kann man
mit einer Zukunftsbranche nicht umgehen. Das kann
doch nicht wahr sein.
({7})
Während Sie der Solar- und Windkraftbranche einen
Frontalangriff bereiten, sorgen Sie gleichzeitig dafür,
dass ausgerechnet diejenigen Industriebetriebe, die viel
Strom verbrauchen, auch noch von der Öffentlichkeit
unterstützt werden, weil wir als Verbraucher oder als
Steuerzahler deren Stromrechnung mit bezahlen. Das ist
doch völlig absurd.
({8})
Diese Industrierabatte sind massiv angestiegen. Vor zwei
Jahren lagen sie noch bei 8 Milliarden Euro. Im letzten
Jahr waren es schon 10 Milliarden Euro. In diesem Jahr
werden es schätzungsweise etwa 16 Milliarden Euro
sein, Milliarden, die wir als Steuerzahler und Verbraucher für die Industrie mit bezahlen. Das kann so nicht
weitergehen.
({9})
Es wäre so einfach, die Strompreise zu senken. Die
deutliche Reduzierung der Industrierabatte ist das eine.
Ich kann wirklich nicht erkennen, warum Flughäfen, Geflügelzüchter und Saunaanlagen von diesen Stromkosten
befreit werden sollen, und das auf Kosten der Allgemeinheit.
Ein zweites Beispiel. Sie haben 2007 ohne Not die
Strompreisaufsicht der Länder abgeschafft. Seitdem steigen die Preise noch mehr. Deswegen sagen wir als
Linke: Wir wollen eine effektive staatliche Preisaufsicht,
die die Preise auch wirklich genehmigt und die eingreifen kann. Das ist etwas ganz anderes als die Markttransparenzstelle, die nur beschreiben soll und über die wir
gleich noch diskutieren.
({10})
Drittens sagen wir: Die Energiewende ist notwendig,
aber sie darf nicht auf Kosten der Schwachen in dieser
Gesellschaft gehen. Deshalb wollen wir die Stromsteuer
- besser bekannt als Ökosteuer - senken. Wir als Linke
haben schon immer kritisiert, dass sie völlig unsozial ist.
Warum soll denn eine vierköpfige Familie mehr Stromsteuer bezahlen als ein Singlehaushalt, der vielleicht besserverdienend ist? Ich frage mich sowieso, was an dieser
Stromsteuer eigentlich öko ist. Dahinter steht doch der
Gedanke: Wir machen den Strom teuer, und dann wird
nicht so viel verbraucht. - Das ist großer Unsinn und unsozial noch dazu.
({11})
Als wir als Linke die Senkung der Stromsteuer vor
ein paar Monaten vorgeschlagen haben, haben viele andere gesagt: Schon wieder ein absurder linker Vorschlag. Ich freue mich, dass diese Forderung - so kann ich es der
Presse entnehmen - jetzt wenigstens auch von der SPD
mit unterstützt wird. Ich freue mich immer, wenn gute
Ideen der Linken übernommen werden.
({12})
Ich hoffe, dass auch die Grünen jetzt über ihren Schatten
springen und diese alten Zöpfe tatsächlich abschneiden.
Ein allerletzter Punkt. Wir als Linke wollen die unsäglichen Stromsperren endlich verbieten. Stellen Sie
sich das doch einmal vor bei diesem Wetter, bei 20 Zentimetern Schnee: Das Licht geht nicht an, Sie können
sich keinen Tee und keine warme Suppe kochen. So
kann es einfach nicht weitergehen. Das ist einfach unmenschlich. Deswegen sagen wir: Folgen wir doch bitte
dem Beispiel von Frankreich, folgen wir dem Beispiel
von Belgien, und lassen Sie uns diese Stromsperren verbieten, wenigstens im Winter.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Bareiß für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Frau Lay, Ihr Redebeitrag hat wieder einmal bewiesen, dass die Linke immer noch nicht in der
sozialen Marktwirtschaft angekommen ist.
({0})
Er zeigt aber noch eines, nämlich dass die Linke am
Problem vorbeiredet und nur eine Verteilungsdebatte
führt, aber nicht das wirkliche Problem adressiert. Sie
müssen sich doch die Struktur der Strompreise anschauen. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass die
EEG-Umlage massiv gestiegen ist. Im letzten Jahr hat
eine vierköpfige Familie eine EEG-Umlage in Höhe von
160 Euro gezahlt.
({1})
In diesem Jahr zahlt eine vierköpfige Familie eine EEGUmlage in Höhe von 240 Euro. Wenn wir nicht aufpassen, dann werden wir im nächsten Jahr eine Erhöhung
um weitere 75 Euro erleben und bei 315 Euro liegen.
({2})
- Wir sind dabei, zu reagieren. - Deshalb muss man die
Strukturen des EEG anpacken, mit Instrumenten des
Markts und des Wettbewerbs. Dann werden wir auch die
Strompreise wieder in den Griff bekommen. Wir
brauchen aber keine Verteilungsdebatten wie die, die Sie
angestoßen haben.
Die Senkung der Stromsteuer, die anscheinend jetzt
einhellig von Rot-Grün gefordert wird,
({3})
führt zu einer Ersparnis von nur 22 Euro für eine vierköpfige Familie. Die Strompreiserhöhung durch die
EEG-Umlage droht aber im Herbst. Diese wird 75 Euro
betragen. Die Senkung der Stromsteuer wird also durch
diese Erhöhung der Umlage komplett aufgefressen. Deshalb ist auch das keine Lösung. Wir brauchen eine
grundsätzliche Lösung. Deshalb liegt jetzt die Strompreisbremse auf dem Tisch.
({4})
Darüber wird heute debattiert. Deshalb werden wir
grundsätzliche Fragen aufwerfen,
({5})
zu denen auch Sie einmal Stellung beziehen müssen. Wir
stellen die grundsätzlichen Fragen, aber Sie präsentieren
nur unterschiedliche Positionen.
({6})
Wenn man an das EEG herangeht und die Frage stellt,
wie das EEG zukünftig aussehen soll, dann antwortete
Sigmar Gabriel: Das EEG muss grundsätzlich reformiert
werden. - So hat er es vor kurzem getan. Aber Herr
Kelber aus Ihrer Fraktion hat vor zwei Wochen gesagt,
das EEG sei genau richtig und dürfe nicht reformiert
werden; es müsse so bleiben, wie es ist. Das ist keine
Lösung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herr Kollege Bareiß, darf die Kollegin Wolff Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bareiß, Sie haben gesagt, Sie müssen
die Strompreisbremse einführen, weil Sie das Problem
grundlegend lösen wollen. Sind Sie mit mir gemeinsam
der Auffassung, dass wir die großen Energieversorger
auffordern sollten, die billigen Strompreise am SpotMarkt - sie sind so billig wie nie zuvor - erst mal an die
Verbraucherinnen und Verbraucher weiterzugeben?
({0})
Verehrte Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie das wissen:
Über den Spot-Markt werden circa 20 bis 30 Prozent des
Stromhandels abgewickelt. Es gibt noch viele andere
Märkte, etwa die Futures-Märkte, an denen die Zahlen
wesentlich anders sind. Deshalb sind die Einzelzahlen,
die hier herausgepickt werden, für das Gesamtbild überhaupt nicht maßgebend. Maßgeblich ist in der Tat, dass
der Börsenpreis leicht nach unten geht - nämlich um
1 Cent pro Kilowattstunde -, aber die EEG-Umlage allein im letzten Jahr um 1,7 Cent angestiegen ist. Und im
nächsten Jahr wird sie wahrscheinlich wieder um
1,7 Cent ansteigen.
({0})
Das heißt, diese kleine Reduktion beim Börsenpreis, die
es im Schnitt gab, wird innerhalb von einem Jahr komplett aufgefressen. Diese Situation wird sich in den
nächsten Jahren sogar noch dramatisch verschlimmern.
Deshalb kann das auch keine Lösung sein.
({1})
Wir müssen - auch da sind sich die Experten ja
einig - grundsätzlich an das EEG herangehen. Die Idee,
die EEG-Umlage für die nächsten zwei Jahre einzufrieren, um aufzuzeigen, wo wir in den nächsten Jahren
investieren können und wollen, in welchen Bereichen
Investitionen am wirtschaftlichsten sind, bietet den richtigen Ansatz dafür, in den nächsten Jahren wirtschaftlich
und marktkonform zu agieren.
({2})
Ein weiterer Punkt, der zeigt, wie unterschiedlich die
Opposition in die Debatte geht, ist die Befreiung der Industrie von der EEG-Umlage, die, wie wir gerade gehört
haben, angepackt werden soll, die aber laut Frau Lay in
manchen Bereichen komplett gestrichen werden soll.
Frau Kraft macht sich zur Vorkämpferin für die Industrie.
({3})
Die SPD-Fraktion hier lamentiert etwas herum, und die
Grünen wollen am liebsten mit der Axt an die Befreiung
der Industrie von der EEG-Umlage heran. Wir haben in
den letzten zwei Jahren den industriellen Mittelstand,
der im Wettbewerb steht,
({4})
massiv von der EEG-Umlage befreit und damit Arbeitsplätze gesichert und neue Arbeitsplätze möglich gemacht.
({5})
Das ist eine Industriepolitik, die wettbewerbsfreundlich
ist und dafür sorgt, dass die Energiewende nicht zum Arbeitsplatzkiller wird, sondern zum Arbeitsplatzschaffer.
({6})
Ich möchte noch an einem weiteren Beispiel zeigen,
wie unterschiedlich die Opposition hier in die Debatte
geht - das hat mich irritiert -:
({7})
Gestern hatten wir eine große Debatte im Wirtschaftsausschuss, in der sich gezeigt hat, dass die SPD anscheinend die Stromsteuersenkung will. Die Grünen haben
gestern im Wirtschaftsausschuss noch gegen die Stromsteuersenkung gestimmt.
({8})
Heute muss ich im Tagesspiegel lesen: SPD und Grüne
wollen die Stromsteuersenkung.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem
Hin und Her werden wir die Energiewende nicht schaffen.
({10})
Wir brauchen endlich auch von Ihrer Seite Vorschläge,
die umsetzbar sind und uns ein klares Bild liefern.
({11})
Wir haben im Gegensatz zu Ihnen in den letzten drei
Jahren ganz entscheidende Weichen im EEG gestellt.
Wir haben das EEG weiterentwickelt. Wir haben es intelligenter und vor allem auch bezahlbar gemacht.
({12})
Gegen Ihren Widerstand haben wir das EEG im Bereich
der Solarenergie reformiert. Wir haben im Bereich der
Solarenergie eine Reduktion der EEG-Vergütung um
70 Prozent erreicht - von 43 auf 16 Cent. Damit entlasten wir die Verbraucher in den kommenden 20 Jahren
um 2 Milliarden Euro. Das ist ein großer Erfolg.
({13})
Wir haben einen „atmenden Deckel“ eingeführt, der
die Vergütung intelligent nach Höhe des Zubaus anpasst
und sie entsprechend reduziert, wenn der Zubau zu hoch
wird. Diese Maßnahmen haben Sie immer bekämpft.
({14})
Sie haben immer den Untergang der Solarbranche gesehen.
({15})
Das Gegenteil war der Fall. In den letzten drei Jahren
gab es Rekordwerte bei den Zubauraten, die es in keinem anderen Land auf dieser Welt gibt.
Wir haben Effizienz und Einsparungen ermöglicht.
Wir haben - Frau Lay, hören Sie zu! - für einkommensschwache Haushalte ganz konkret Stromsparmaßnahmen durchgeführt. Wir haben Beratungen gemacht.
80 000 Haushalte haben davon profiziert; 86 Euro im
Schnitt hat jeder dieser Haushalte pro Jahr gespart. Das
sind ganz konkrete Maßnahmen, bei denen wir den Menschen als mündigen Bürger ansehen, der in die Lage versetzt werden muss, seine Stromrechnung selbst zu bezahlen und sich stromsparend zu verhalten.
Wir haben die Energieeffizienz im Bereich des Gebäudebestandes wie keine andere Regierung vor uns vorangebracht.
({16})
1,8 Milliarden Euro haben wir über das CO2-Gebäudesanierungsprogramm in den Gebäudebestand investiert,
und wir haben dafür gesorgt, dass die Gebäudesanierungsrate Stück für Stück nach oben geht. Die Energieeffizienzwerte erreichen auch hier ein Rekordniveau.
({17})
Wir haben mehr Transparenz für die Verbraucher geschaffen. Verbraucher können unter so vielen Stromlieferanten wie noch nie auswählen.
({18})
Allein dieses Jahr kann jeder im Schnitt unter 50 Stromanbietern auswählen. Das sind 25 Prozent mehr als noch
vor zehn Jahren.
({19})
Wir haben die Bedingungen für einen Wechsel wesentlich erleichtert. Wir haben die Fristen verkürzt. Wenn
heute ein Verbraucher den Stromanbieter wechselt und
zum günstigsten Anbieter geht, kann er im Schnitt
200 Euro sparen. Das sind Zeichen dafür, dass Markt
und Wettbewerb funktionieren. Dies sollte beispielhaft
für andere Gebiete sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch einen anderen Bereich ansprechen, der mir sehr
wichtig ist, nämlich den Industriestandort Deutschland.
Mit Blick darauf müssen wir dafür sorgen, dass wir bei
der Energiewende keine Arbeitsplätze verlieren, sondern
gewinnen. Deutschland hat einen Industrieanteil von
26 Prozent, Großbritannien von 13 Prozent, Frankreich
von 12 Prozent. Das zeigt, dass wir ein ganz besonderes
Augenmerk auf unsere Industrie richten müssen.
Die Industrie hat heute schon einen großen Anteil am
EEG-Bereich: 6 Milliarden Euro zahlt die deutsche Industrie. 5,7 Millionen Menschen haben in diesem Sektor
einen Arbeitsplatz. Deshalb ist unser Anliegen, dafür zu
sorgen, dass gerade diejenige Industrie, die im Wettbewerb steht, nicht über Gebühr belastet wird. Auch diese
Balance werden wir mit der Strompreisbremse entsprechend hinbekommen.
({20})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
das Wichtigste wird sein, dass wir uns, aufbauend auf
der Strompreisbremse, über die langfristige Ausgestaltung des EEG unterhalten. Die ersten 20 Prozent waren
mit dem EEG sicherlich machbar. Es war das richtige Instrument, den Markteintritt zu gestalten. Um aber die
nächsten 20 Prozent zu erreichen, brauchen wir eine
neue Rahmensetzung.
({21})
Da werden vor allen Dingen Sie gefordert sein; denn Sie
müssen dann die Anzahl der heiligen Kühe, die Sie überall haben - ich verweise auf die Subventionsmaschinerie, die Sie losgetreten haben -, auf ein gesundes Maß reduzieren.
({22})
Sie müssen Wettbewerb und Markt im Bereich der erneuerbaren Energien zulassen. Das können die erneuerbaren Energien auch leisten, und wir sollten es ihnen zutrauen.
({23})
Wir brauchen eine Synchronisation von Netzausbau
und erneuerbaren Energien. Wir brauchen die Verknüpfung von konventionellen Kraftwerkparks mit den erneuerbaren Energien.
({24})
Wir brauchen mehr Eigenverantwortung, gerade im Bereich der erneuerbaren Energien, Eigenverantwortung
für mehr Markt und Wettbewerb.
({25})
Wir haben konkrete Vorschläge.
({26})
Die Frage ist, inwieweit Sie dabei in den nächsten Jahren
mitmachen.
Wir brauchen mehr Europa; auch das ist ein wichtiger
Punkt. Das wird in den nächsten Jahren eine ganz, ganz
große Rolle spielen. Da wird sich zeigen, inwiefern Sie
bei der Energiewende mitmachen und dafür sorgen, dass
sie nicht nur eine Subventionsmaschine wird, sondern
auch ein Erfolgsfaktor für Deutschland und damit langfristig Arbeitsplätze sichert.
Herzlichen Dank.
({27})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Hubertus Heil.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ohne Zweifel ist die Energiewende eine der größten
Herausforderungen, vor denen unser Land, vor denen
unsere Wirtschaft, vor denen unsere Gesellschaft steht.
Aber, Herr Bareiß, meine Damen und Herren, dafür
muss man nicht solche Reden halten. Wenn man in der
Regierungsverantwortung ist - noch sind Sie ja Teil der
Regierungsfraktionen -, dann darf man nicht solche Reden halten, sondern man muss Gesetzentwürfe vorlegen.
Dazu sind Sie nicht in der Lage.
({0})
- Nein. Zu den Themen, die hier angesprochen wurden,
haben Sie keinen einzigen Vorschlag gemacht. Wir reden
über Dinge - ich komme gleich darauf zurück -, die
heute im Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und
den Ministerpräsidentinnen und den Ministerpräsidenten
eine Rolle spielen.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben den Menschen nach Fukushima eine saubere, eine
sichere und eine bezahlbare Energiewende versprochen,
und Sie sind es, die diese drei Versprechen im Moment
brechen. Aus der Verantwortung werden wir Sie nicht
entlassen.
({1})
Insofern muss man in dieser Debatte eines klarmachen: Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land machen sich massiv Sorgen über steigende Energiepreise
und auch über steigende Strompreise, die ein Teil der
Energiekosten sind, die auf sie zukommen. In dem Befund sind wir uns möglicherweise einig.
Weil diese Regierung diese Sorge drei, vier Jahre lang
ignoriert hat, weil sie das Gefühl hat, dass ihr das bei den
Wahlen auf die Füße fallen könnte, kommt Herr
Altmaier kurz vor Toresschluss mit der Wundertüte
„Strompreisbremse“ um die Ecke. Herr Bundesumweltminister Altmaier,
({2})
jemand, der sich mit dieser Materie auskennt - das will
ich Ihnen mal ein bisschen unterstellen -, weiß, dass das,
was Sie vorgeschlagen haben, das Eingeständnis dieser
Koalition ist, dass sie in dieser Legislaturperiode nicht
mehr in der Lage ist, die grundlegenden Fragen der
Energiewende anzugehen. Was notwendig ist für den
Netzausbau - eine neue Ordnung des Strommarkts, ein
neues Strommarktdesign -, was notwendig ist, um die
Energiewende besser zu managen, all das findet sich
nicht in Ihren Vorschlägen. Deshalb ist die Strompreisbremse im Wesentlichen erst einmal Überschriftenpolitik, nichts anderes.
Wenn man dann unter diese Überschriften guckt,
kommt man zu dem Schluss: Es ist zweifelhaft, ob das,
was Sie vorschlagen, die Energiekosten bremst; aber es
ist sicher, dass das, was Sie vorschlagen, die Energiewende bremst, meine Damen und Herren.
Hubertus Heil ({3})
({4})
Sie wissen ganz genau, dass Sie Vorschläge gemacht haben, die nicht nur im Bereich der erneuerbaren Energien,
sondern in der gesamten deutschen Wirtschaft zu Kopfschütteln führen. Wie man glauben kann, Investoren
würden dadurch nicht verunsichert, wenn man in den
Altbestand eingreift, und das Vertrauen in den Industriestandort Deutschland würde nicht unterminiert, das kann
mir keiner vernünftig erklären, und Sie wissen auch ganz
genau, dass dieser Unsinn nicht zu machen ist.
({5})
Reden wir doch einmal über das, was heute miteinander möglich ist! Wenn diese Koalition einräumen muss
- ich beklage das -, dass wir dem Grunde nach die wesentlichen Entscheidungen dafür, dass die Energiewende
wieder vom Kopf auf die Füße kommt, leider erst im
Herbst dieses Jahres, nach der Bundestagswahl, angehen
können, dann sind wir durchaus bereit, über kurzfristige
Maßnahmen zu reden. Wenn ich von „wir“ spreche,
dann meine ich die rot-grün geführten Bundesländer, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, dass wir über drei Bereiche reden:
Wir sollten erstens über die Frage reden: Was kann
kurzfristig innerhalb des EEG passieren? Da gibt es
durchaus kleinere Maßnahmen, über die man reden
kann, die nicht die gesamte Branche verunsichern, die
aber die Möglichkeit schaffen, den Anstieg der EEGUmlage zu bremsen. Wir können über die Marktprämie
reden. Wir können über bestimmte Boni reden, die Sie in
vielen Bereichen eingeführt haben.
Wir sollten zweitens auch über die Frage reden: Wie
gehen wir in Deutschland mit energieintensiven Betrieben um? Dazu habe ich heute in der Zeitung gelesen,
dass Herr Ramsauer, der gerade den Saal verlassen hat,
einen offenen Brief an den Bundesminister Altmaier
schreibt. Was ist denn das für ein Vorgang, Herr
Altmaier? Rösler, Altmaier und Ramsauer, die drei von
der Zankstelle! „Ressortabstimmung“ ist ein Fremdwort
in dieser Regierung. Das ist ein Teil des Problems.
({6})
Ich habe also in der Zeitung gelesen, dass Herr
Ramsauer beklagt, dass der Altmaier der Deutschen
Bahn AG Hunderte von Millionen entziehen will. Er will
in diesem Bereich tatsächlich auch die Bahn belasten.
Was ist eigentlich die Haltung der Bundeskanzlerin in
dieser Frage? Gibt es überhaupt einen Standpunkt dieser
Regierung? Das würde uns als Opposition interessieren,
und die Öffentlichkeit auch.
({7})
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, dass wir im Bereich
der energieintensiven Unternehmen nicht um einzelne
Branchen feilschen, sondern dass wir uns auf die Systematik konzentrieren. Die Systematik ist, dass energieintensive Unternehmen, die Effizienzmaßnahmen ergriffen
haben und die im internationalen Wettbewerb stehen,
weiterhin zu Recht befreit sind, damit wir Arbeitsplätze
und Wertschöpfung in Deutschland halten, aber dass wir
Maßnahmen ergreifen müssen, damit Trittbrettfahrer, die
nicht im internationalen Wettbewerb stehen, da rauskommen. Lassen Sie uns über die Systematik reden und
dieses unwürdige Gefeilsche zwischen Bundesministern
beenden, meine Damen und Herren!
({8})
Wir haben Ihnen drittens vorgeschlagen, dass wir,
wenn im Bereich der erneuerbaren Energien etwas getan
werden kann und muss, wenn im Bereich der energieintensiven Betriebe etwas getan werden muss, auch über
uns, über den Staat, reden. Tatsache ist, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble über die gestiegene
EEG-Umlage ungeplant pro Jahr 1 Milliarde Euro mehr
an Mehrwertsteuer einnimmt. Deshalb ist unser Vorschlag, im Bereich der Stromsteuer etwas zu tun, nur
fair. Wenn alle einen Beitrag leisten sollen, dann sollte
auch der Bundeshaushalt einen solchen Beitrag leisten.
Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland mittlerweile - Gott sei
Dank - 25 Prozent beträgt, ist es vernünftig, entsprechend die Stromsteuer in Deutschland zu senken.
Warum, meine Damen und Herren von der FDP, höre
ich eigentlich Einzelstimmen, darunter Ihren Spitzenkandidaten Brüderle, die das gut finden, Herr Breil?
({9})
Die Sächsische Staatsregierung findet das gut. Ich höre
Sympathien aus Bayern an dieser Stelle. Aber die
Blockierer sitzen auf der Regierungsbank. Die Bundeskanzlerin ist heute nicht einmal bereit und in der Lage,
über das Thema Stromsteuer zu sprechen. Das ist ein
Teil des Problems. Sie sind die Blockadekoalition an
diesem Punkt.
({10})
Wir wollen etwas tun, um die Verbraucherinnen und Verbraucher kurzfristig zu entlasten.
Herr Altmaier, der heutige Artikel im Tagesspiegel
mit der Überschrift „Stromabwärts“ beschreibt, was im
Moment passiert. Sie sind durchaus ein eloquenter Kerl.
Als Parlamentarischer Geschäftsführer haben wir Sie
durchaus durch Ihre humorige Art schätzen gelernt.
Aber dass Sie ein richtiger Trickser sind, haben wir in
den letzten Monaten erlebt.
({11})
Man muss neidlos anerkennen, dass Ihnen mit dem
Thema Strompreisbremse ein medialer Coup gelungen
ist. Einige Tage später haben Sie mit der Aussage, dass
die Energiewende 1 Billion Euro kosten kann, einen
Klops gelandet. Diese Zahlen haben Sie heute nicht vernünftig belegt. Dies ist keine seriöse Debatte. Wir bekommen die wahren Probleme nicht in den Griff, wenn
wir die Menschen mit solchen Fantasiezahlen verunsi28796
Hubertus Heil ({12})
chern. Wir müssen Klarheit bekommen, was die Zahlen
betrifft. Und wir müssen das tun, was wir tun können.
Herr Altmaier, für Sie gilt deshalb der alte Satz von
Abraham Lincoln - ich darf zitieren -:
Man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen, und das ganze Volk einen Teil der Zeit, aber
man kann nicht das ganze Volk die ganze Zeit täuschen!
Das, meine Damen und Herren, wird heute offensichtlich werden. Wir sind bereit für kurzfristige Maßnahmen. Wir wollen aber vor allen Dingen dafür sorgen,
dass die Energiewende kein wirtschaftliches und soziales Risiko ist, sondern ein wirtschaftlicher und sozialer
Erfolg für Deutschland. Lassen Sie uns in diesem Haus
darüber streiten und die Menschen mit diesen Ablenkungsdebatten nicht weiter verunsichern. Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Die SPD-geführten
Bundesländer haben Vorschläge gemacht. Sie wollen im
Wesentlichen Überschriften produzieren. Das ist der Unterschied und das Problem in Deutschland. Energiewende geht anders. Der Unterschied zwischen Ihnen,
zwischen Herrn Altmaier und Herrn Rösler, und uns ist:
Wir können Energiewende und Sie nicht.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Klaus Breil.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Lay, kurz zu Ihrer Bemerkung über die Gewinne von Eon: Wenn Sie diese im Verhältnis zum Umsatz des Konzerns sehen, dann kommen auch Sie zu der
Frage, ob sie genug verdienen, um Erhaltungsinvestitionen tätigen zu können. Das müssen Sie sich einmal genau ansehen.
({0})
Meine Damen und Herren, dieser Debatte liegen vier
rote Anträge zugrunde, wie sie idealistischer nicht sein
könnten. In dreien will die Linke einerseits für die Beibehaltung des EEG in seiner jetzigen Form eintreten,
also für einen tendenziell höheren Strompreis, und andererseits die Stromsperren verbieten. Sie möchte uns
weismachen, sie hätte Ahnung von Energiepolitik. Gar
nichts haben Sie!
({1})
Wer soll das alles bezahlen? Die FDP hat sich als
erste und einzige Partei mit dem Thema „Bezahlbarkeit
von Strom“ beschäftigt.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben in der Sommerpause eine Arbeitsgruppe eingesetzt,
({3})
an der ich ebenso wie meine Kollegen Michael Kauch
und Horst Meierhofer intensiv teilgenommen habe. Gemeinsam mit weiteren Kolleginnen und Kollegen aus
den Ländern haben wir ein dreistufiges Verfahren ausgearbeitet. Mit diesem Verfahren wollen wir die Energiewende, das Energiekonzept dieser Bundesregierung,
auch bei bezahlbaren Strompreisen zum Erfolg führen.
Herr Kollege Breil, die Frau Kollegin BullingSchröter möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Danke schön, Kollege Breil. - Sie haben jetzt behauptet, dass die Linke dafür ist, dass der Strompreis steigt.
Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass nur ein Drittel der
Strompreiserhöhung auf die EEG-Umlage zurückzuführen ist? Zweitens: Ist Ihnen bekannt, dass die energieintensiven Unternehmen zurzeit mit 16 Milliarden Euro
subventioniert werden? Die FDP ist eine Partei, die nicht
so sehr für die soziale Marktwirtschaft eintritt, sondern
für den Wettbewerb.
({0})
Die 16 Milliarden Euro sind schon ein bisschen viel.
Also behaupten Sie nicht gleich wieder: „Die Linke will
Arbeitsplätze vernichten“, sondern erklären bitte, warum
Otto Normalverbraucher und die kleinen Unternehmen
- die FDP ist sehr für sie - keine Ausnahmen bekommen.
Danke für die Frage, Frau Kollegin Bulling-Schröter. Auf Ihre erste Frage kann ich Ihnen antworten, dass ich
die Struktur der Strompreise in Deutschland und übrigens auch ihr Zustandekommen sehr genau kenne. Auf
Ihre zweite Frage kann ich Ihnen sagen: Ich komme
gleich darauf zu sprechen. Hören Sie einfach einmal zu!
Dann gewinnen Sie vielleicht neue Erkenntnisse.
({0})
Herr Kollege Heil, Sie werden jetzt eine weitere
Stimme unter vielen vernehmen; Sie haben ja gerade die
Stimme unseres Fraktionsvorsitzenden, Rainer Brüderle,
angesprochen. Unser Vorschlag zur kurzfristigen Entlastung der privaten Stromverbraucher war es, die StromKlaus Breil
steuer in Höhe der zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmen
infolge der Anhebung der EEG-Umlage zu reduzieren.
({1})
Das entspräche in etwa einem Windfall Profit in Höhe
von 500 Millionen Euro. Darauf könnte der Staat zugunsten der Kaufkraft der Bürger verzichten.
({2})
Das betrifft Einnahmen, die zuvor in keinem Haushalt
budgetiert gewesen sind.
({3})
Ein ähnliches Volumen würde sich bei der Anwendung
des verminderten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent
anstelle von 19 Prozent auf die gesamte EEG-Umlage
ergeben.
({4})
Ich will nur sagen, dass es mehrere Optionen gibt.
In einem weiteren Schritt wollen wir dann mehr Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien in die Direktvermarktung überführen. Letzten Endes wollen wir den
Energieversorgern und Stadtwerken einen von Jahr zu
Jahr steigenden Anteil aus erneuerbaren Energien erzeugten Stroms in ihrem Portfolio vorgeben. Das entspricht dem Mengenmodell.
Herr Kollege Breil, wollen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Heil zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Heil.
({0})
Lieber Kollege Breil, wenn doch eine große Mehrheit
in diesem Hause von ganz links bis zur FDP - wie die
Position der Union dazu ist, weiß ich jetzt nicht - der Meinung ist, dass wir die Stromsteuer senken könnten, warum machen wir es dann nicht? Ist die Position, die Sie
hier beschreiben, wirklich die Position der Regierung,
oder ist das Ihre Privatmeinung? Meine letzte Frage: Kennen Sie den schönen Satz von Erich Kästner: „Es gibt
nichts Gutes, außer: Man tut es.“?
Ich fange einmal mit der letzten Frage an: Ja, den
kenne ich.
({0})
Im Übrigen vertrete ich hier die Position der FDP.
({1})
Sie haben meinen Fraktionsvorsitzenden, Herrn
Brüderle, angesprochen. Außerdem ist das von Anfang an
auch meine Meinung gewesen; im Juli des vergangenen
Jahres habe ich das möglicherweise als Erster gefordert.
Ich fordere das auch weiterhin, und dieser Vorschlag ist
auch Teil der Erörterungen, die heute Nachmittag stattfinden werden.
({2})
Mal sehen, was dabei herauskommt.
({3})
Herr Kollege Breil, der Kollege Fell würde Ihnen
gerne noch eine Zwischenfrage stellen.
Ich wollte meine Ausführungen jetzt eigentlich fortsetzen; denn sonst komme ich aus dem Rhythmus.
Jener Vorschlag garantiert, dass mit dem Geld der
Verbraucher nur die Stromerzeugungsarten ausgebaut
werden, die auch kosteneffizient Strom liefern. Vielen
von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, muss immer wieder gesagt werden: Wir reden hier
über die Verwendung von Geld, das nicht uns, sondern
den Stromverbrauchern gehört.
Bis auf den letzten Schritt, bei dem wir bereits sehr
visionär an die Regierungszeit der christlich-liberalen
Koalition nach der Bundestagswahl gedacht haben,
({0})
waren unsere Vorschläge nicht so weit von denen entfernt, die Bundesminister Peter Altmaier Anfang des
Jahres vorgestellt hat. Daher war es für mich auch nicht
verwunderlich, wie schnell die beiden Minister Peter
Altmaier und Philipp Rösler sich auf eine gemeinsame
Lösung einigen konnten. Mit dem Ergebnis konnte ich
- abgesehen von den zuletzt besprochenen Eingriffen in
bestehende Verträge - leben. Mit Eingriffen in bestehende Verträge kann ich natürlich nicht leben.
Jeder soll seinen Beitrag zur Energiewende leisten,
aber auch dazu, dass die Kosten im Rahmen bleiben. Wir
sollten davon niemanden ausnehmen - weder die komplette Industrie noch die Branche der erneuerbaren Energien. Deshalb ist in den Vorschlägen auch vorgesehen,
einige Branchen aus der besonderen Ausgleichsregelung
herauszunehmen; Sie wissen das.
Dabei müssen wir beachten, dass die Strompreise bei
uns im internationalen Vergleich der Industriestaaten ex28798
trem hoch sind. Unternehmen, die im internationalen
Wettbewerb stehen, fällen ständig und teils subtil Standortentscheidungen. Laut Angaben der statistischen Beihefte zu den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank sind die Umsätze der deutschen Industrie an ihren
Standorten im Ausland ebenso hoch wie im Inland. Statistisch gesehen, geht es also bei jeder Standortentscheidung eines Unternehmens um die Frage: Machen wir das
im Inland, oder machen wir das im Ausland?
EU-Kommissar Günther Oettinger hat recht, wenn er
immer wieder vor der schleichenden Deindustrialisierung warnt.
({1})
Es lässt sich auch durch das geflissentliche Ignorieren
der Opposition nicht kaputtrechnen, dass die Industrie
({2})
einen bedeutenden Beitrag zu unserem Bruttoinlandsprodukt leistet und dass dieser Beitrag die Basis für unseren Wohlstand, für den Erhalt unseres Steueraufkommens und des Sozialversicherungssystems ist.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit
der Strompreisbremse ist des Weiteren vorgesehen, die
Vergütung für Neuanlagen bestimmter Energieträger anzupassen.
Bis gestern sah ich das Unternehmen „Strompreisbremse“ noch auf einem guten Weg.
({3})
Allerdings war ich sehr überrascht, als ich lesen musste,
dass einige Mitglieder der Opposition, ohne dass sie
überhaupt Teil der Bund-Länder-Arbeitsgruppe waren,
die Verhandlungen zur Strompreisbremse für gescheitert
erklärt haben. Frau Höhn, Ihre Erklärung dazu kann ich
nur als höhnisch auffassen.
({4})
Ich appelliere daher an die Ministerpräsidenten der
A-Länder, die heute mit der Kanzlerin am Verhandlungstisch sitzen: Lassen Sie die Interessen der Verbraucher
nicht außer Acht,
({5})
und entlassen Sie die erneuerbaren Energien nicht aus
der Pflicht, ihren Beitrag zur Bezahlbarkeit der Energiewende zu leisten.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans-Josef Fell.
Herr Kollege Breil, Sie haben meine Zwischenfrage
nicht zugelassen. Deswegen bedanke ich mich beim Präsidenten für die Zulassung dieser Kurzintervention.
Herr Breil, Sie haben von den drei Punkten, die die
FDP vorschlägt, um die Energiepreise in den Griff zu bekommen, vor allem einen genannt: Sie nennen es „Mengenmodell“. Sie haben damit einen Vorschlag aufgegriffen, den wir schon seit vielen Monaten immer wieder
von Wirtschaftsminister Rösler hören: Sie wollen die
Grundfesten des Erneuerbare-Energien-Gesetzes mit seiner garantierten Einspeisevergütung verändern und einen völlig anderen Mechanismus einführen. Dieser Mechanismus des Quoten- und Mengenmodells wird in
anderen europäischen Ländern - besser muss ich sagen:
wurde - bereits praktiziert, beispielsweise in Großbritannien.
In Großbritannien gab es dieses Mengenmodell, mit
sehr vielen Ausschreibungen. Es hat dazu geführt, dass
die Windkraftinvestitionen in Großbritannien nur 20 Prozent des deutschen Niveaus erreicht haben, obwohl in
Großbritannien wesentlich mehr Wind weht als in
Deutschland. In Großbritannien kostet Windenergie etwa
13 Cent pro Kilowattstunde, in Deutschland hingegen nur
7 Cent, wohlgemerkt, obwohl Großbritannien viel windreicher ist.
Das bedeutet im Klartext, dass das Mengenmodell
zum einen für einen guten Ausbau der erneuerbaren
Energien nicht tauglich ist und zum anderen wesentlich
teurer ist.
({0})
Das heißt, Sie machen einen Vorschlag, der eine Verteuerung der Energiewende bedeutet.
Wenn Sie nicht glauben, dass dies am Beispiel von
Großbritannien genügend gut nachzuvollziehen ist
- Großbritannien hat deswegen übrigens einen Instrumentenwechsel hin zur Einspeisevergütung vorgenommen -, dann bitte ich Sie, einen Beschluss des Industrieausschusses des Europäischen Parlaments vom Montag
dieser Woche zur Kenntnis zu nehmen. Der Industrieausschuss hat dort eine vom Abgeordneten Reul von der
CDU unterstützte Entschließung zurückgewiesen, die
eine europaweite Einführung eines Quotensystems vorsieht. Der Ausschuss hat einen weiteren Beschluss gefasst: Der Kommission soll kein Quotenmodell vorgeschlagen werden, sondern die europaweite Einführung
einer Einspeisevergütung; denn sie ist effizienter und
eben auch viel erfolgreicher.
Ich frage Sie deswegen - ich kann es nicht verstehen
-, wie Sie an den alten Vorschlägen, deren Untauglichkeit längst bewiesen wurde und von denen zudem das
Europaparlament in seiner Mehrheit sagt, dass sie untauglich sind, festhalten können, die reine Planwirtschaft
bedeuten. Denn ein Mengenmodell bedeutet: Der Staat
legt die Quoten fest - niemand anderes -,
({1})
und die Staatsbeamten machen Ausschreibungen dazu.
So etwas kenne ich nur aus der chinesischen Planwirtschaft, aber nicht aus einer Marktwirtschaft. Deswegen
kann ich nicht nachvollziehen, dass Sie immer noch an
einem Mengenmodell festhalten; denn dieses ist untauglich, ineffizient und bietet letztendlich keine Chance für
den Ausbau erneuerbarer Energien.
({2})
Herr Kollege Breil zur Antwort, bitte.
Herr Kollege Fell, es war ja ein tolles Plädoyer, das
Sie da gehalten haben.
({0})
Sie sollten aber zwischen Mengen- und Quotenmodell
unterscheiden; denn das ging bei Ihnen durcheinander.
Sie sollten vielleicht einmal nachlesen, was wir dazu gesagt haben.
Im Übrigen haben Sie selber davon gesprochen, dass
dieses alte Modell vielleicht nicht mehr ganz up to date
ist, dass man es hätte erneuern müssen. Wir jedenfalls
wollen einen modernen Ansatz. Wir wollen ein Mengenmodell und kein Quotenmodell. Ich bin davon überzeugt, dass wir damit ein funktionierendes Modell haben
werden, mit dem wir unsere Ziele erreichen können.
Danke.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambke
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Eine Debatte über die Energiewende ist immer sehr wichtig; denn die Energiewende ist ein zentrales Projekt. Aber anstatt über die
wirklich großen Herausforderungen sachlich zu debattieren, reden wir hier über die schöne Erfindung „Strompreisbremse“.
Um es gleich ganz deutlich zu sagen und Fehlinterpretationen vorzubeugen: Wir Grüne nehmen die aktuellen Kostensteigerungen durchaus ernst. Aber wir müssen
in diesem Zusammenhang auch die sozialen Verwerfungen in den Blick nehmen, die aktuell in Deutschland und
auch in Europa zu verzeichnen sind. Lassen Sie mich auf
folgende Tatsache hinweisen: Dass viele Menschen die
Energiekosten, insbesondere die Stromkosten, als eine
nicht mehr zumutbare Kostenbelastung sehen, spielt sich
vor dem Hintergrund ab, dass ganze Gruppen in der Bevölkerung durch Minijobs, durch fehlenden Mindestlohn, durch die fehlende Infrastruktur für Bildung abgehängt werden. Das ist das eigentliche soziale Problem;
es sind nicht nur die Energiekosten.
({0})
Zur Industrie. Ich kenne einen namhaften Hersteller
in Rheinland-Pfalz, der gerade ein Verwaltungsgebäude
errichtet und in Betrieb genommen hat. Mehr als
100 Prozent des Energieverbrauches deckt er durch erneuerbare Energien ab. Obwohl sich dieses familiengeführte Unternehmen in einem sehr harten Wettbewerb
befindet, ist das möglich,
({1})
und zwar dank dem EEG.
Ich kenne ein weiteres Unternehmen, einen Zulieferer
bei mir in Bayern, mit einem wunderschönen Dach, auf
dem man eine tolle Photovoltaikanlage installieren
könnte. Aber hinter dem Unternehmen steht ein Finanzinvestor, der sagt: Alle meine Investitionen müssen sich
innerhalb von drei Jahren rechnen. - Obwohl wir mehrfach vorstellig geworden sind, sagt er: Nein, es gibt
keine Photovoltaikanlage auf dem Dach; denn ich habe
keine Investitionssicherheit mehr.
({2})
Das zentrale Problem, das Sie heute zu verantworten
haben, Herr Umweltminister, ist dieses Hin und Her.
Dabei denke ich nur an Ihren Kardinalfehler, indem Sie
versucht haben, rückwirkend in Verträge einzugreifen.
Sie mögen jetzt zurückrudern und sagen: Es gibt auch
andere Möglichkeiten. Wenn die erfüllt sind, dann machen wir das nicht. - Aber Sie werden das nicht mehr
hinbekommen; da werden alle Dementis und alle
Ankündigungen nicht mehr helfen. Sie haben eine tiefe
Verunsicherung bei der Industrie herbeigeführt. Sie wird
sich in Zukunft sehr genau überlegen, ob sie nachhaltig,
das heißt langfristig, Investitionen in erneuerbare Energien vornimmt, und das haben Sie zu verantworten.
({3})
Wir müssen die Strompreiserhöhung in den richtigen
Kontext stellen. Das wahre Problem der Energiekosten
liegt doch im Anstieg der Kosten für alle endlichen Ressourcen, insbesondere für Öl.
({4})
Keiner redet heute über die Heizkostensteigerung durch
die Preissteigerung bei fossilen Brennstoffen. Es ist doch
schon eine recht dreiste Lüge - dies ist mehrfach nachgewiesen worden -, den erneuerbaren Energien den
Stromkostenanstieg in die Schuhe zu schieben.
Meine Damen und Herren, diese Koalition hat seit
drei Jahren die Energiepolitik zu verantworten, und wir
haben mit großer Mehrheit, mit uns, den Ausstieg aus
der Atomenergie entschieden. Herr Breil sagt jetzt, dass
die FDP im letzten August eine Arbeitsgruppe gegründet
hat.
({5})
Herr Breil, das Thema Energiewende liegt seit drei Jahren in Ihrer Verantwortung; in der Verantwortung von
uns allen ist es seit mindestens zehn Jahren. In dieser
Zeit haben wir gearbeitet; das EEG wurde beschlossen.
({6})
Jetzt geht es doch darum, diese drei Dinge - Ausbau der
erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Energieeinsparung - endlich umzusetzen.
({7})
Wir müssen uns doch ehrlich machen.
Herr Nüßlein, wir gehören beide der EnqueteKommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
an. Wir müssen uns doch einfach einmal damit auseinandersetzen, dass die Ressourcen endlich sind und dass wir
1,6 Erden - die Deutschen sogar 2,5 Erden - pro Jahr
verbrauchen.
({8})
- Nein, Herr Nüßlein nicht. - Angesichts dessen wollen
wir jetzt Preissenkungen vornehmen? Wir wissen doch
von dem von Experten als Rebound-Effekt bezeichneten
Phänomen, dass der Verbrauch steigt, wenn wir die
Kosten senken. Was wir brauchen, ist, dass die Energiezertifikate endlich wieder zur Wirksamkeit gebracht
werden. Wir müssen anfangen, eine verlässliche Politik
zu machen, damit die Industrie weiß, worauf es hinausläuft; wir dürfen nicht so herumeiern, wie wir es im
Moment erleben.
Meine Damen und Herren, ich fasse mich kurz: Diese
Koalition ist leider im Begriff, die Energiewende an die
Wand zu fahren. Ich vertraue darauf, dass bei den Bürgern nach wie vor eine hohe Zustimmung zur Energiewende besteht. Gott sei Dank sind Sie nur noch kurz in
der Regierung. Danach werden wir das Thema richtig
anpacken.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege
Dr. Georg Nüßlein.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir
diskutieren hier das wirtschaftspolitische Thema
schlechthin, nämlich die Energiewende. Selbstverständlich hat Wirtschaftspolitik immer auch eine soziale
Dimension. Aber ich kann Ihnen sagen: Es geht hier
überhaupt nicht um Verteilungsfragen. Zunächst einmal
geht es um die Frage, wie wir die Energiewende schaffen, ohne unsere Industrie und unser Gewerbe zu beschädigen. Diese sind in einer schwierigen Situation,
weil die Energiepreise steigen. Wenn man über soziale
Themen diskutiert, muss man daher über diese Frage
diskutieren. Sozial ist, was Arbeit schafft - das ist das
Entscheidende, nicht die Frage, ob man Sozialtarife einführt und was man für den unteren Einkommensbereich
machen kann.
({0})
Ich sage das ganz explizit, weil bei uns mittlerweile
die Mittelschicht - damit meine ich nicht nur den gewerblichen Mittelstand, sondern auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - in allen Bereichen in eine
Zangenbewegung gerät, ganz gleich, ob es um Ihre Steuerpläne geht oder das, was wir im Bereich der Energiewende machen. Man entlastet die ganz oben und die
ganz unten, und die in der Mitte zahlen die Zeche. Wenn
wir darüber diskutieren, bin ich eng bei Ihnen und diskutiere gerne mit. Ich verteidige aber auch ganz explizit die
Befreiungen im Bereich der Industrie, die wir bei der
letzten Novellierung des EEG vorgenommen haben; sie
waren wohlüberlegt. Es ging darum, den Mittelstand an
dieser Stelle einzubeziehen. Mich ärgert, was insbesondere von den Grünen hierzu an Meldungen gekommen
ist. Trittins Behauptung, wir hätten sogar Golfplätze befreit, ist reine Polemik, ist erstunken und erlogen.
({1})
Trotzdem hat das ein Journalist vom anderen abgeschrieben, und so wurde es weitergetragen.
({2})
Es ging Ihnen doch darum, so zu tun, als ob die EEGUmlage in Höhe von 5,277 Cent pro Kilowattstunde
schlicht und einfach der Tatsache geschuldet war, dass
wir zusätzliche Befreiungen eingeführt haben. Das ist
aber eben nicht wahr. Die Befreiungen gelten für insgesamt 94 Terawattstunden; die sind privilegiert. Den
erheblichen Teil dieser Privilegierung hat im Übrigen
Rot-Grün wohlüberlegt beschlossen.
({3})
Nur 5,2 Terawattstunden sind hinzugekommen. Jetzt
sind es 94 Terawattstunden. Das muss man sich einmal
überlegen. Sie versuchen, hier einen komplett anderen
Eindruck zu erwecken. Wenn es Ihnen ernst ist mit der
Energiewende, wenn Sie das Thema unterstützen
wollen, dann bitte ich Sie dringend: Hören Sie auf, die
Tatsachen zu verdrehen!
({4})
Als Sie diese Befreiungen eingeführt haben, ging es
um eine Differenz bei den Kosten von 0,2 Cent. So war
das bei Einführung des EEG. Diese Differenz ist permanent größer geworden. Warum? Weil der Bereich der
erneuerbaren Energien stark ausgebaut wurde - in der
Tat -, aber auch, weil es uns nicht gelungen ist, die Entwicklung auf dem Markt im EEG abzubilden.
({5})
Das ist die zentrale Schwäche des EEG, das ich im
Übrigen immer verteidige. Die zentrale Schwäche besteht darin, dass die Politik ständig nachsteuern muss.
({6})
- Bundesminister Altmaier hat einen Reformvorschlag
unterbreitet. Er hat Sie doch erst wachgerüttelt. Hat man
vorher etwas über Diskussionen in der SPD über die
Kosten gehört, Herr Heil? Sie sind auf einen fahrenden
Zug aufgesprungen. Sie haben den Zug gerade noch erwischt.
({7})
Sie haben quasi gerufen: Halt! Davon sind ja auch unsere Leute betroffen. Die, die in der Industrie arbeiten,
müssen die Zeche zahlen. - Jetzt hängen Sie sich dran
und sagen: Wir waren schon immer dabei.
({8})
Das gilt im Übrigen für die ganze linke Seite dieses Hauses.
Ich sage Ihnen ganz offen: Wir haben zum Thema
Energiewende immer klar gesagt, dass sie nicht zum
Nulltarif zu haben ist, dass das eine teure Operation
wird. Mich ärgert heute noch, dass ich mich von Ihnen
allen immer wieder als Lobbyist der Atomwirtschaft
habe beschimpfen lassen müssen,
({9})
zum Beispiel, wenn es darum ging, RWE und anderen zu
helfen.
({10})
Uns ging es um den Wirtschaftsstandort, uns ging es um
die Strompreise. Darum ging es uns. Wir haben genau im
Blick gehabt, was an der Stelle passiert.
({11})
Um zu vermeiden, dass gleich das übliche Spielchen
gespielt wird und behauptet wird: „Der stellt die Energiewende infrage“, sage ich: Ich stelle die Energiewende
überhaupt nicht infrage, in keiner Weise. Da ich den Bereich der erneuerbaren Energien und das EEG immer
protegiert habe,
({12})
kann man mir das nicht unterstellen. Es ist schon ein
Skandal sondergleichen, wenn Sie jetzt so tun, als hätten
sich die Kosten ganz anders entwickelt, wenn Sie in den
letzten drei Jahren die Verantwortung getragen hätten.
({13})
Das ist scheinheilig bis zum Anschlag.
Ich nenne Ihnen beispielhaft einen Punkt, an dem wir
jetzt nachsteuern müssen: die Windkraft. Ich halte es für
vernünftig, hier zu einer Spreizung zu kommen. Es gibt
Verträge, nach denen Landwirte 50 000 bis 80 000 Euro
Pacht für 2 000 bzw. 3 000 Quadratmeter Grund bekommen sollen, damit auf diesem Land ein Windrad gebaut
werden kann. Das sind Hyperrenditen - das kann man
gar nicht genauer in einen Vertrag schreiben -; das sieht
ein Blinder mit Krückstock. An dieser Stelle müssen wir
nachsteuern. Wir müssen auf der einen Seite kostengünstig mit Wind Strom produzieren können, auf der anderen
Seite aber auch den regionalen Ausgleich im Blick haben. Ich halte eine Spreizung für einen sehr guten und
sehr richtigen Weg, Herr Umweltminister. Das kann man
auf alle Fälle mittragen.
Vorhin wurde grundsätzlich über das Thema EEG
diskutiert. Ich kann nicht erkennen, ob es eine bessere
Alternative gegeben hätte. Zum Quotenmodell hat der
Kollege Fell Richtiges und Wichtiges gesagt. Ich sehe
das ganz genauso.
({14})
Das Quotenmodell ist in der Theorie eine gute Geschichte. Da der Markt aber nicht funktioniert, sondern
von einem Oligopol gekennzeichnet ist, ist das keine Alternative. Wenn er funktionieren würde, wäre das ein
diskutabler Weg.
({15})
Weil Sie hier so schreien, sage ich: Ich bin gespannt,
wie Ihre Handreichung aussehen wird. Ich bin gespannt,
wie Sie das, was Herr Altmaier vorgeschlagen hat, mitgestalten werden,
({16})
wie Sie zeigen werden, dass Sie das Thema wirklich
ernst nehmen. Darüber wird mit den Ländern gesprochen werden. Die Öffentlichkeit muss wissen, dass es
immer die Länder sind - Stichwort „Mehrheit im Bundesrat“ -, die bremsen.
({17})
- Ich beschimpfe Bayern nicht. Machen Sie sich keine
Sorgen! Auch das ist eine bodenlose Unterstellung. Sie
wissen ganz genau, wie ich an der Stelle positioniert bin.
Die Bayern haben immer die richtigen Vorschläge zur
richtigen Zeit gemacht
({18})
und das Thema sauber mitgestaltet. Im Übrigen sind wir,
wenn es um die erneuerbaren Energien geht, schon viel,
viel weiter als manches andere Bundesland.
Herr Kollege Nüßein, der Kollege Kelber würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Präsident, ich habe nur noch eine gute Minute.
Das wird Ihnen nicht angerechnet. - Sie wollen nicht?
Sonst immer gern. Lassen Sie mich aber noch die wesentlichen Dinge nennen, von denen ich meine, dass sie
nach der Wahl ganz entscheidend sein werden.
Dabei geht es auch um das neue Marktdesign, für das
wir lastflexible Preise brauchen. Speicherung und Last
können am Ende nur über lastflexible Preise gesteuert
werden. Da besteht für den Staat, was seinen Teil angeht,
in der Tat die Notwendigkeit, über die Belastung durch
den Strompreis - unabhängig vom Stromaufkommen und
von der Stromnachfrage - nachzudenken. Deshalb bitte
ich, an der Stelle auch die Vorschläge der FDP zur
Strompreisbremse im Blick zu haben und darüber nachzudenken, wie man über die Steuerseite, aber auch über
die Liquiditätsreserve kurzfristig einen Beitrag dazu leisten kann, dass die Preise nicht weiter steigen. Ich bin
auch dafür, Kollege Breil, dass wir uns dabei sehr stark
an der Mehrwertsteuer orientieren; denn da sind die Länder mit im Boot. Die Herrschaften können dann wieder
einmal deutlich zeigen, wie ernst sie es meinen. Wahrscheinlich wird das Gleiche wie bei der Energieeffizienz
passieren.
({0})
Wenn es darauf ankommt, werden Sie die Hosentaschen
herausziehen und sagen: Da ist nichts drin.
({1})
Wir haben lange genug in unseren Ländern schlecht gewirtschaftet; wir können keinen Beitrag zur Energiewende leisten, weil wir nichts mehr haben bzw. weil wir
das Geld verpulvert haben. - Das werden wir an der
Stelle erleben.
Meine Damen und Herren, wir brauchen einen Leistungsmarkt. Dafür sind umfangreiche Umstellungen notwendig. Ich glaube, dass die rechte Seite des Hauses
nicht nur die Kraft, sondern auch den ökonomischen
Verstand hat, das sinnvoll und vor allem ideologiefrei zu
machen.
({2})
Deshalb bin ich überzeugt, dass die Wählerinnen und
Wähler wissen, wem sie das Thema in Zeiten, die wirtschaftlich wieder ein bisschen schwieriger werden könnten, an die Hand geben sollten.
In diesem Sinne vielen herzlichen Dank fürs Zuhören.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ulrich Kelber.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben versucht, das Märchen von den durchgerechneten Vorschlägen des Umweltministers zu erzählen, bei denen man nur hoffen
könne, dass die Länder mitspielen. Ist Ihnen eigentlich
bekannt, dass heute bei dem Treffen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin die von SPD und Grünen regierten Länder ein Maßnahmenpaket vorlegen werden,
({0})
dass aber der Umweltminister zusammen mit der Kanzlerin den Ländern einen Beschlussvorschlag übermittelt
hat, der lautet: „Lasst uns heute nichts beschließen und
bis Sommer weiterverhandeln“? Dabei geht es um zwei
Absätze.
({1})
Herr Kollege Nüßlein hat das Wort zur Erwiderung.
Herr Kollege Kelber, ich bin überhaupt nicht im
Bilde,
({0})
was von Ihrer Seite da vorgeschlagen werden könnte. Es
ist aber auch nicht mein Job als Abgeordneter, das in Erfahrung zu bringen. Ich sage Ihnen aber ganz klar, dass
ich erwarte, dass von Ihrer Seite Vorschläge kommen,
die in diese Richtung gehen und mit denen dafür Sorge
getragen wird, dass wir am Schluss eine Strompreisbremse hinbekommen. Wenn Sie das ausbremsen wollen
- wovon ich jetzt ausgehe -, habe ich meine Probleme
damit. Ich kann nicht erkennen, dass es auf unserer Seite
keinen Einigungswillen gibt.
Weil Sie vorhin das Thema Bayern angesprochen haben, sage ich Ihnen ganz klar: Bestandseingriffe werden
natürlich nicht kommen.
({1})
Sie waren aus unserer Sicht - aus Sicht der CSU - nie
Thema. Es ging um die Verhandlungsmasse, damit Sie
etwas haben, an dem Sie sich festbeißen können. Auf unserer Seite gab es aber nie eine Diskussion darüber, in irgendeiner Weise Bestandseingriffe zuzulassen. Wir werden aber - das ist ganz klar - über die anderen Punkte
verhandeln, die darin aufgeführt sind. Ich bin gespannt,
wie Sie sich beim Thema Windkraft aufstellen, ob Sie
sich da dem anschließen, was ich vorhin vorgetragen
habe.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Vor ein paar Tagen hat Herr Minister Altmaier ein für
ihn neues Thema entdeckt, und zwar die Kosten der
Energiewende. Die SPD-Bundestagsfraktion befasst sich
seit längerem mit diesem Thema.
({0})
Im Juni 2012 hat sie dazu eine Große Anfrage an die
Bundesregierung gestellt. - Wenn die Mitarbeiter Herrn
Altmaier die Chance geben würden, zumindest als Zuhörer an dieser Debatte teilzunehmen, wäre das schön. Sieben Monate hat es gedauert, bis die Bundesregierung
geantwortet hat.
({1})
Diese sieben Monate haben wir ihr gegönnt; denn wir
haben erwartet, dass dann eine wirklich substanzielle
Antwort kommt. Wenn man sich die Antworten der Bundesregierung anschaut, kann man sich allerdings nur
wundern.
Auf die Frage, wie sich die Kosten entwickelt hätten,
wenn wir nur in konventionelle Kraftwerke investiert
hätten - was ja zeitweilig durchaus der Plan der Bundesregierung war -, wurde geantwortet: Es gibt keine Berechnungen. - Man muss doch wissen, wie hoch die Kosten ohne Energiewende wären! Aber die Antwort lautete:
Es gibt dazu keine Berechnungen. - Auf die Frage, wie
sich der CO2-Preis entwickelt hätte, wenn man nur auf
konventionelle Kraftwerke gesetzt hätte, wurde geantwortet: Es gibt dazu keine Erkenntnisse. - Auf die Frage
nach der Entwicklung der Primärenergiepreise und der
Importe in den nächsten Jahren wurde geantwortet: Es
gibt dazu keine Erkenntnisse. - Auf die Frage nach den
externen Kosten gerade beim Heizen mit Öl und Gas lautete die Antwort der Bundesregierung: Dazu wären umfangreiche Studien notwendig. - Ich weiß gar nicht, warum wir der Bundesregierung sieben Monate Zeit
gegeben haben. Auf die Frage nach den Auswirkungen
der erneuerbaren Energien auf die Börsenpreise antwortete die Bundesregierung: Es gibt dazu keine Berechnungen. - Außerdem heißt es: „Die Bundesregierung verfolgt die Diskussion …“
({2})
Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, will Sie
damit aber nicht quälen. Es ist für Sie ja nur noch peinlich, wenn man sieht, dass Sie nach sieben Monaten
nicht in der Lage sind, zu den Kosten der Energiewende
Substanzielles zu sagen. Das ist offenbar deswegen so,
weil Sie an der Kostenfrage nie wirklich interessiert waren.
({3})
Im Februar dieses Jahres stellte Minister Altmaier auf
einmal öffentlich fest:
({4})
Ich weiß jetzt Bescheid; die Energiewende kostet 1 Billion Euro. ({5})
Er hat zwar nicht genau erklärt, woher diese Erkenntnis
gekommen ist,
({6})
und er hat auch nicht aufgeschlüsselt, welche Kostenpositionen es im Einzelnen gibt; aber jetzt steht der Betrag von 1 Billion Euro im Raum. Ich meine, so geht es
nicht: dass man auf der einen Seite die offizielle Große
Anfrage einer Fraktion mit Unkenntnis „beantwortet“
und auf der anderen Seite öffentlich den Betrag von
1 Billion Euro ins Spiel bringt.
Wenn man einen Blick auf die Website der Bundesregierung wagt, kann man interessanterweise auch dort
eine Zahl lesen.
({7})
Da steht nämlich: Die Energiewende wird bis zum Jahre
2050 550 Milliarden Euro kosten. - Dort ist also von einer halben Billion Euro die Rede. Da ist Altmaier also
mal eben halbiert worden.
({8})
Gut, das wäre nicht so schlimm;
({9})
ich meine die halbe Billion Euro. Das ist aber immer
noch ein ordentlicher Betrag.
Wenn man sich die Website genauer anschaut - Herr
Altmaier, auch Sie werden das in der Zwischenzeit ja
einmal getan haben -, stellt man fest, dass dort auch
steht: Das sind ungefähr 15 Milliarden Euro jährlich. Das ist eine Zahl, die ein bisschen überschaubarer ist; da
bekommt man keinen ganz so großen Schrecken. Außerdem steht da: Die Einsparungen bei den Rohstoffkosten
betragen schon jetzt - schon jetzt, also bei einem Anteil
des Stroms aus erneuerbaren Energien in Höhe von
25 Prozent - 5,8 Milliarden Euro im Jahr.
({10})
Das ist eine schöne Sache. Darüber reden Sie aber gar
nicht öffentlich, wenn es darum geht, die Kosten bremsen zu wollen; denn das könnte in der Debatte eventuell
schädlich für Sie sein.
Die Einsparungen bei den Rohstoffkosten betragen
also schon jetzt 5,8 Milliarden Euro pro Jahr. Das muss
man einmal hochrechnen.
({11})
Stellen Sie sich vor, der Anteil der erneuerbaren Energien würde irgendwann einmal 50 Prozent betragen. Wie
viel Geld würden wir dann bei den Rohstoffimporten
einsparen? Kann es am Ende vielleicht sogar passieren,
dass daraus ein Plusgeschäft wird? Darüber dürfen Sie
aber nicht reden; denn dann könnten Sie die Strompreise
ja nicht mehr bremsen.
Lieber Herr Minister, ich sage es einmal so: Anscheinend verfügt die Bundesregierung ja doch über ein paar
Erkenntnisse. Es wäre ganz nützlich, wenn sie in die Debatte eingebracht würden. Wie ich sehe, unterhalten Sie
sich gerade schon angeregt mit dem Parlamentarischen
Geschäftsführer Ihrer Fraktion. Das ist ja vielleicht ein
erster positiver Effekt.
({12})
Zurück zur Website der Bundesregierung. Wahrscheinlich ist der Minister Snookerspieler und schaut hin und
wieder Fernsehen. Da gibt es nämlich immer die sogenannten FAQ, die Frequently Asked Questions. Die
Bundesregierung hat sich wohl gedacht: Das machen wir
auch. Schließlich spielt jeder zweite Deutsche Snooker,
und wir wollen ja die Mehrheit der Bevölkerung erreichen. Wir stellen uns jetzt einmal selber Fragen. - Unter
anderem stellt sich die Bundesregierung die Frage, Herr
Nüßlein: Verteuern die erneuerbaren Energien die Energiewende? - Wissen Sie, was die Bundesregierung sich
selber als Antwort gibt? Sie sagt: Nein.
({13})
Wir wollen den Anstieg der Strompreise wegen der erneuerbaren Energien bremsen; aber die Bundesregierung
selber sagt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien
die Strompreise gar nicht verteuert. Was ist das denn? Da
steht: Es gibt diesen Effekt an der Börse - nach dem wir
übrigens in unserer Großen Anfrage gefragt haben, worauf wir noch keine Antwort bekommen haben. Jetzt
weiß Herr Altmaier: Da gibt es diesen Börsenpreiseffekt,
und deswegen ist das alles gar nicht so schlimm.
An einer Stelle weisen Sie dann auf einen kleinen
Schlenker hin: Die Maßnahmen schlagen auf die Haushaltsstrompreise nicht richtig durch. - Das ist richtig.
Deswegen sagen wir ja auch: Wir müssen an das System
ran. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wie der Förderrahmen für die erneuerbaren Energien aussehen
muss. Das Gleiche gilt für den Marktrahmen für konventionelle Stromerzeugung.
({14})
Genau da gehen Sie nicht ran. Warum? Weil es kompliziert ist. Es genügt nicht, mal eben eine Überschrift zu
formulieren, sondern darüber muss man richtig nachdenken, und man muss auch ein bisschen Expertise einholen. Das haben Sie, bisher jedenfalls, nicht getan.
Die Redner der Koalition haben heute wieder nur Ankündigungen gemacht.
({15})
Sie haben nach den Vorschlägen der Opposition zum
EEG und zur konventionellen Stromerzeugung gefragt.
Wer, bitte schön, stellt denn die Bundesregierung? Sie
haben dreieinhalb Jahre Zeit gehabt, und Sie haben zwei
Jahre Zeit gehabt nach Einleitung der Energiewende. Es
gibt von Ihnen immer noch keinen konkreten Vorschlag.
({16})
Wir möchten diese Fragen mit Ihnen konstruktiv lösen.
Davor drücken Sie sich; deswegen machen Sie diese Ablenkungsmanöver und reden lieber über Kurzfristmaßnahmen, denen wir uns, das sei noch einmal gesagt,
nicht verschließen.
({17})
- Sie werden es morgen in den Zeitungen lesen. Heute
werden die A-Länder - die SPD-mitregierten Länder, die
rot-grünen Länder - einen konstruktiven Vorschlag machen.
({18})
- Und die rot-roten Länder.
Die Koalition sperrt sich, weil sie im Grunde genommen nur einen Mediencoup im Auge gehabt hat. Meine
Damen und Herren, auf diese Art und Weise werden wir
die Energiewende nicht hinbekommen.
Wenn sich Herr Altmaier jetzt mit Frau Höhn bespricht und mir seine Rückseite zuwendet, hat das sicherlich auch seine Vorzüge. Von der anderen Seite ist
die Teilnahme an der Debatte natürlich leichter. Mir
würde dazu einiges einfallen; aber ich will jetzt nicht
allzu bildlich werden. Ich schließe lieber meine Rede
und danke für die Aufmerksamkeit.
({19})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Horst Meierhofer.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es geht der SPD hauptsächlich um die
Stromsteuer; das war ja einer der zentralen Punkte im
SPD-Papier. Diesen Vorschlag machen wir selbst seit
langem. Wenn man, wie Sie das vorgeschlagen haben,
nur an der Stromsteuer ansetzt - mit 25 Prozent -, hilft
das nicht viel. Ansonsten kommt von Ihnen gar nichts an
Vorschlägen.
({0})
Sie müssen lesen, was Ihre Leute machen; kein Einziger
davon sitzt hier. Am Nachmittag sitzen dann alle im
Bundesrat und blockieren alles. Ihnen geht es nur darum,
Wahlkampf zu machen, anstatt zu einer Lösung zu kommen.
({1})
Stephan Weil hat gesagt, er lehne das alles grundweg ab,
er wolle Strompreissenkungen, sonst gar nichts.
({2})
- Natürlich! Lesen Sie es doch durch! Also das ist wirklich köstlich.
Kollege Heil, ich erkläre Ihnen einmal, warum wir
heute hier stehen: Das ist die logische Folge Ihrer Politik
von 1999, eine Stromsteuer einzuführen. Die Stromsteuer, Herr Heil - das wissen Sie alle -, haben Sie in der
rot-grünen Koalition eingeführt.
({3})
Jetzt wollen Sie Gott sei Dank, dass die Stromsteuer
endlich gesenkt wird. Sie fordern von uns, die Stromsteuer zu senken.
({4})
Dabei ist die Stromsteuer von Ihnen eingeführt worden.
Ich sage Ihnen noch, warum Sie sie eingeführt haben:
Die Begründung in dem Gesetz war:
Energie ist ein knappes und endliches Gut. Die
Preise für seine Nutzung sind in Deutschland zu
niedrig.
({5})
Sie bieten zu wenig Anreize, vorhandene Energiesparpotentiale auszuschöpfen, erneuerbare Energie
stärker auszubauen und energiesparende und ressourcenschonende Produkte und Produktionsverfahren zu entwickeln.
({6})
Das ist das, was Sie in Ihr Gesetz geschrieben haben.
Herzlichen Glückwunsch! Sie haben Ihr Ziel erreicht:
Der Strompreis geht durch die Decke.
({7})
Ich möchte einmal kurz darauf hinweisen, was wir in
den letzten Jahren bei einzelnen Industrien, bei einzelnen Branchen an Senkungen bei der EEG-Umlage erreicht haben: Allein im Bereich der Photovoltaik wurde
die Umlage um über 50 Prozent reduziert. Hans-Josef
Fell als letzter aufrechter Lobbyist der Photovoltaik wird
wahrscheinlich am Jüngsten Tag noch sagen: Die Photovoltaik wird zu wenig gefördert; dafür muss mehr Geld
bereitgestellt werden.
({8})
Selbst die Grünen geben mittlerweile aber zu, dass man
genügend Geld eingespart hat und das auch weiterhin
tun könnte.
Es ärgert mich sehr, dass kein einziger konkreter Vorschlag dafür kommt, wie man das besser machen könnte.
({9})
Sie blockieren nur und sagen: Nein, wir waschen unsere
Hände in Unschuld. Wir haben überhaupt kein Interesse
daran, irgendjemandem irgendetwas wegzunehmen. Glauben Sie, dass es für uns besonders angenehm war,
dass wir nach den Vorschlägen und Konsensen, die wir
mit Herrn Altmaier und Herrn Rösler hatten, in den letzten Jahren 50 Prozent weniger für die Photovoltaik gegeben haben? Das hat ihnen wirklich wehgetan.
({10})
Trotzdem haben wir so viel ausgebaut wie noch nie.
Es wurde noch nie so viel ausgebaut wie in den letzten
Jahren; das sage ich in jeder Debatte. Ihr Höhepunkt war
ein Ausbau um 800 Megawatt im Jahr. Bei uns waren es
immer mindestens 7 200 Megawatt.
({11})
Das ist der Unterschied zwischen Ihrem Handeln und Ihrem Gewäsch, das Sie verbreiten, ohne inhaltlich tat28806
sächlich etwas geleistet zu haben, außer die Kosten nach
oben zu treiben
({12})
und uns regelmäßig darauf hinzuweisen, dass wir das
Geld des Verbrauchers ausgeben. Das ärgert mich furchtbar, weil das sehr geheuchelt ist. Sie haben hier keinen
einzigen sinnvollen Vorschlag und lehnen unsere einfach
nur ab.
Ich finde Ihre Große Anfrage mit dem Titel „Die
Energiewende - Kosten für Verbraucherinnen, Verbraucher und Unternehmen“ köstlich. Sie halten uns vor
- der Herr Heil ist jetzt gegangen -, dass man hier die
Kosten dämpfen muss, und fordern die Bundesregierung
auf, zur kurzfristigen Dämpfung der Kosten eine Verständigung mit den Ländern und der politischen Opposition herbeizuführen. Das ist natürlich wirklich ganz konkret.
Zur Erarbeitung eines neuen Strommarkts sei zunächst eine belastbare Datenbasis in Bezug auf die Energiekosten herzustellen und eine neue Governance-Struktur aufzubauen. Liebe Freunde, das ist doch wirklich
nicht das Problem, das wir jetzt haben. Wir müssen uns
damit beschäftigen, wie hoch die Kosten sind und wie
wir sie senken können.
({13})
Mit Blabla werden Sie die Kosten nicht senken, sondern
können Sie nur Papier bedrucken. Mehr erreichen Sie als
Rot und Grün damit ganz bestimmt nicht.
({14})
Jedes Mal, wenn es hinsichtlich der Kostensenkung
konkret wird, kommen Sie mit gegenteiligen Vorschlägen und sagen: Nein, wir wollen keinen neuen Netzausbau. - Das könnten Sie übrigens auch einmal erklären,
denn die Netzkosten spielen eine entscheidende Rolle;
man kann sich hier nicht nur über den Strompreis unterhalten. Das führt ja übrigens dazu, dass die Differenz
zum Börsenstrompreis noch größer wird, wodurch ein
Teil des Effekts wieder aufgefressen wird. Damit erreichen Sie vielleicht, dass wir weniger Geld im Bundeshaushalt haben, aber ansonsten kommt von Ihnen leider
nur extrem wenig.
Eine solche Schmalspurantwort darauf zu geben, dass
uns die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind: Das kann
man vielleicht in einer drei- bis fünfminütigen Rede tun.
({15})
Wir haben dagegen jetzt wirklich circa 15 ganz konkrete
Vorschläge zum Thema Wind, zum Thema Biomasse,
zum Thema Biogas, zum Thema Wasserkraft und zur
Frage, wie man den Netzausbau weiter betreiben kann,
gemacht. Diese Punkte tun allen auch weh; das gebe ich
gerne zu.
({16})
Dass Sie als Opposition nicht bereit sind, sich an den
Kosten und damit auch an den Belastungen, die man den
Bürgern und der Industrie zum Teil aufbürdet, zu beteiligen und mit uns dafür einzustehen, ist Ihr gutes Recht als
Opposition,
({17})
aber dann tun Sie bitte nicht so, als hätten Sie auch nur
das geringste Interesse daran, die Kosten in den Griff zu
kriegen. Das haben Sie nämlich mit Sicherheit nicht.
({18})
Ob die Kosten in den Griff zu kriegen sind, mag den
Grünen, Frau Höhn, völlig egal sein. Das hat ja der geschätzte Kollege Gabriel gestern in der Zeit ganz schön
zusammengefasst. Zu den Grünen und dazu, wie sie mit
den Strompreisen umgehen, hat er gesagt:
Die Grünen werden nie verstehen, wie eine Verkäuferin bei Aldi denkt. Mit einem B-3-Gehalt versteht
man auch nicht, warum einer Krankenschwester
nicht egal ist, wie viel der Strom kostet.
Das ist Ihr Koalitionspartner. Was sagen Sie denn
dazu?
(Rolf Hempelmann [SPD]: Die Koalitionspartner seid ihr! - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Ihr Koalitionspartner?
Hat der Mann recht? - Der Mann hat an dieser Stelle
vollkommen recht. Es ist Ihnen egal. Es mag für Ihre
Kernzielgruppe auch schnurzpiepegal sein, ob der Strom
im Jahr 200 Euro mehr kostet oder nicht.
({19})
Im Gegenteil! Vielleicht hat derjenige sogar das Gefühl,
damit noch etwas Gutes zu tun. Geholfen haben Sie den
Leuten aber nicht.
({20})
Herr Gambke, ich habe vorhin gehört, der Mittelstand
hätte jetzt die Möglichkeit, etwas zu produzieren. Natürlich! Deswegen haben wir übrigens genau darauf geachtet, dass der Mittelstand nicht schlechter gestellt wird als
die Großindustrie.
({21})
Das, was Ihr geschätzter Vorgänger Trittin gemacht
hat, war, ausschließlich die Großindustrie von der Umlage zu befreien ({22})
alles auf Kosten des kleinen Mannes, des kleinen Handwerkers, des Mittelstandes und vor allem des Verbrauchers. Aber Herr Gabriel hat ja gesagt: Wenn jeder, der
sich bei den Grünen aufhält, mit B 3 besoldet ist, dann
ist das für Sie natürlich vollkommen egal.
Bei uns betragen die Kosten - das ist auch dem Mittelstand zu entnehmen - 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowattstunde. Herr Trittin hatte 0,8 bis 0,9 Cent pro Kilowattstunde beschlossen. Das ist der Unterschied zwischen
dem, was Sie gemacht haben, und dem, was wir machen.
Es ist deswegen immer wieder schön, wenn Sie hier
Ihre dünnen Vorschläge machen.
({23})
Sie sind aber nicht bereit, in eine wirkliche Diskussion
mit dem Ziel einzutreten, Ergebnisse zu erhalten.
Es ist hier doch vollkommen klar, dass wir als FDP
und in der Koalition mit der CDU/CSU am Schluss nicht
alles durchsetzen werden. Wir haben gesagt, dass wir
keine rückwirkenden Eingriffe wollen. Wir haben gesagt, dass wir beim Thema Güllebonus jederzeit gesprächsbereit sind. Sie sind nicht gesprächsbereit.
({24})
Es kann doch nicht die Grundlage für eine Debatte sein,
dass Sie sich darüber beschweren, dass wir hier nicht alles alleine entscheiden.
({25})
- Geben Sie doch dem Herrn Kelber einmal Redezeit.
Das wäre mir lieber; denn er quatscht die ganze Zeit dazwischen, ohne tatsächlich etwas Vernünftiges beizutragen.
({26})
Bitte schön, versuchen Sie endlich einmal, sich für einen Kompromiss zu öffnen. Vielleicht schaffen das Ihre
Ländervertreter besser als Sie. Ansonsten wird wieder
nichts passieren. Das Ergebnis wäre dann, dass die Menschen 6,5 oder 7 Cent pro Kilowattstunde EEG-Umlage
bezahlen. Schuld sind dann leider Sie.
Vielen Dank.
({27})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Na klar, die Energiewende kostet Geld. Allerdings relativieren sich die Aufwendungen dann, wenn
wir auch die Kosten für die Erzeugung von Strom aus
Kohle und Atomkraft betrachten, die auf keiner Stromrechnung stehen. Darüber hat heute fast niemand etwas
gesagt. Stichworte sind hier Klimawandel, Gesundheitskosten, Störung des Wasserhaushalts oder atomare Verstrahlung. Das ist zwar seit langem bekannt, aber ich
denke, man muss es immer wieder erwähnen; denn Ihre
Wählerinnen und Wähler vergessen das.
Der geschätzte Kollege der CSU, Josef Göppel, hat
nicht umsonst in der Strompreisdebatte eine „gezielte
Kampagne, um die Energiewende madig zu machen“ gesehen. Das ist nachzulesen auf der Webseite klimaretter.info; sehr informativ.
Die Bundesregierung gibt solche externen Kosten in
ihrer Antwort auf die Große Anfrage mit 40 bis
120 Euro je Tonne CO2 an. Würde das in den Strompreis
eingerechnet, kämen wir auf Zusatzkosten von bis zu
12 Cent je Kilowattstunde. Darin sind die Langzeitrisiken nicht einmal berücksichtigt. Ich finde, die EEG-Umlage von 5,3 Cent erscheint da in einem ganz anderen
Licht. Aber natürlich muss die Energiewende zunächst
ganz irdisch bezahlt werden, und zwar jeden Monat von
den Menschen und von den Firmen.
Die Frage ist doch einfach: Wer bezahlt wie viel? Es
ist leider so, dass nach wie vor einige wenige Unternehmen und Aktionäre an der Energieerzeugung Milliarden
verdienen, während Bürgerinnen und Bürger immer
draufzahlen. Noch einmal: Eon und RWE erwarten für
2012 einen astronomischen Gewinn von insgesamt über
19 Milliarden Euro. Das sind 3 Milliarden Euro mehr als
die gesamte Förderumlage für Ökostrom.
Seit der Einführung des Emissionshandels 2005 haben die vier großen Konzerne noch einmal leistungslos
rund 30 Milliarden Euro Extraprofite gemacht. Sie haben
die CO2-Zertifikate geschenkt bekommen; das wissen
Sie. Solche Gewinne ausgerechnet mit einem Klimaschutzinstrument! Damit machen sie einen Riesengewinn. Jetzt jammern diese Unternehmen, weil sich einige Gaskraftwerke angeblich nicht mehr rechnen.
Jetzt könnte man einmal auf den Einfall kommen,
dass davon oder von dem Gewinn von 19 Milliarden aus
2012 ein paar Milliönchen abfallen dürften, um das
Geschäftsfeld Gasturbine, das wir brauchen, zeitweise
querzusubventionieren - das wäre doch einmal ein Vorschlag -,
({0})
etwa so, wie es jedes vernünftige Stadtwerk mit seinem
ÖPNV macht. Aber da höre ich Sie schon: Um Gottes
willen, das wäre ja ein kommunistischer Eingriff in den
heiligen Markt. - Radikal marktwirtschaftlich wird es
dagegen sein, den Unternehmen künftig zusätzliches
Geld in den Rachen zu werfen, damit sie ihre Anlagen
nur nicht abschalten. Ich denke, Wirtschaftshistoriker
werden sich später darüber auf die Schenkel klopfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will überhaupt
nicht so tun, als wenn Energie in einer gerechten Welt
überhaupt nichts kosten würde und als wenn es einfach
wäre, ein Energiesystem radikal umzubauen. Aber so,
wie es die Bundesregierung organisiert, wird die Akzeptanz verspielt. Bei den Einkommensschwachen geht es
ganz konkret um Energiearmut. Sie wollen nichts ändern. Die FDP hat heute wieder über die Strompreiserhöhungen gejammert. Ausgerechnet die Partei, die permanent privatisieren und prekäre Beschäftigung immer
mehr ausweiten will sowie Altersarmut befördert, will
sich um diejenigen kümmern, die die Strompreise nicht
mehr zahlen können. Darüber können alle nur lachen.
({1})
Was ist denn mit den Privilegien für energieintensive
Unternehmen und beim Eigenverbrauch? Da wollen Sie
magere 700 Millionen Euro streichen. Das ist nur ein
Achtel dessen, was durch die Industrieprivilegien bei der
EEG-Umlage anfällt. Der Stromsektor ist nur der Anfang. Wir brauchen Gelder für die Gebäudesanierung und
im Verkehrsbereich. Dort erwarten uns große Herausforderungen, wie wir alle wissen. Da haben wir große Probleme. Wie Sie alle wissen, fehlt uns im Energie- und
Klimafonds sehr viel Geld, um beispielsweise die Energieeffizienz zu fördern. Hier herrscht einfach Ebbe im
Topf, weil die Bundesregierung den Emissionshandel
zerschossen hat. Die CO2-Preise liegen am Boden.
({2})
- Sie brauchen gar nicht zu brüllen, Kollege Meierhofer.
Ihre Fraktion ist es, die in der EU blockiert.
Minister Altmaier wäre bereit, hier etwas zu tun; zumindest sagt er das immer. Aber Sie zerschießen den
Emissionshandel. Was Sie tun, ist nicht marktwirtschaftlich.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ihnen geht es nur um die Profite der großen Konzerne, nichts anderes. Die Kleinen sollen immer nur bezahlen.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin
Bärbel Höhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Nachmittag findet das große Energiegipfeltreffen
mit den Ministerpräsidenten bei der Kanzlerin statt. Es
geht um die Kosten der Energiewende. Aus unserer
Sicht wäre es notwendig, für eine faire Kostenverteilung
zu werben,
({0})
um die Verbraucherinnen und Verbraucher und den Mittelstand zu entlasten. Diesen werden bislang die Kosten,
Herr Meierhofer, überproportional aufgebürdet. Das
wollen wir beenden.
({1})
Die Minister Rösler und Altmaier haben einen Vorschlag gemacht, der eine Entlastung in Höhe von
1,8 Milliarden Euro vorsieht. Aber dieser Vorschlag
dient nicht einer fairen Kostenverteilung, sondern ausschließlich dazu, die Erneuerbaren auszubremsen. Einen
solchen Vorschlag werden wir nicht unterstützen. Das ist
eindeutig und klar.
({2})
Ich war über die Rede von Herrn Nüßlein entsetzt. Er
stellt sich einfach hier hin und sagt, der Vorschlag von
Herrn Altmaier, bei der Förderung der Bestandsanlagen
einzugreifen, sei Verhandlungsmasse.
({3})
Wer solche Vorschläge macht, der sorgt dafür, dass die
Investitionstätigkeit bei den erneuerbaren Energien in
den Keller geht, weil es keine Planungssicherheit mehr
gibt. Einen solchen Vorschlag als Verhandlungsmasse zu
bezeichnen, ist absolut unverschämt; denn er gefährdet
Arbeitsplätze in diesem Land.
({4})
Herr Nüßlein, Sie selber haben in Ihrer Rede eben gesagt: Sozial ist, was Arbeit schafft. - Ihr Minister hat einen Vorschlag gemacht, der Arbeitsplätze gefährdet,
nach Ihren eigenen Maßstäben also einen unsozialen
Vorschlag. Das halten wir hier fest. So wenig interessieren Sie sich für die Beschäftigten und die Arbeitsplätze
in diesem Land.
({5})
Wir Grüne haben schon sehr früh, nämlich im letzten
Herbst, Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie
sich 4 Milliarden Euro einsparen lassen.
({6})
Alle unsere Vorschläge liegen Ihnen vor. Deren Einsparvolumen ist mehr als doppelt so hoch wie das des Vorschlags der Minister Rösler und Altmaier, ohne dabei die
erneuerbaren Energien auszubremsen. Das wollen wir
weiter verfolgen.
({7})
- Ich komme gern auf Sie zurück, Herr Nüßlein.
Wir haben darauf hingewiesen, dass es nicht in Ordnung ist, dass Golfplätze von Netzdurchleitungsgebühren entlastet werden.
({8})
Sie haben sich eben hingestellt und haben gesagt, das sei
falsch. Richtig ist: Uns hat der Betreiber eines Golfplatzes angeschrieben und aufgefordert: Ihr Grünen, stellt
doch bitte einmal richtig, dass wir nicht zu 100 Prozent,
sondern nur zu 80 Prozent von den Netzdurchleitungsgebühren befreit werden. - Das stellen wir gerne richtig.
Aber diese 80 Prozent Befreiung sind auch nicht in Ordnung, weil sie zulasten der Verbraucher und des Mittelstandes gehen.
({9})
Wir reden jetzt über eine Entlastung der Stromverbraucher in Höhe von 1,8 Milliarden Euro. Ich finde, wir
sollten in diesem Zusammenhang auch darüber reden,
was das alles bedeutet. Ist das nicht in Wirklichkeit ein
Ablenkungsmanöver? Wenn wir - zu Recht - davon reden, dass Verbraucherinnen und Verbraucher von Energiekosten entlastet werden sollen, dann müssen wir über
die Gesamtenergiekosten der Haushalte reden. Diese setzen sich aus den Kosten für Wärme, Sprit und schließlich für Strom zusammen. Wir müssen über alle drei Bereiche reden; denn sie alle belasten die Haushalte.
Aber Sie reden vor allem über die Stromkosten. Das
finde ich schon spannend. Sie reden über eine Entlastung
von 1,8 Milliarden Euro. Die haben die beiden Minister
auf den Tisch gelegt. Das bedeutet für eine drei- bis vierköpfige Familie mit einem normalen Stromverbrauch
eine Entlastung von 1,5 Euro im Monat. Nach einem so
kalten Winter, den wir in diesem Jahr haben, müssen wir
aber auch über die Heizkosten reden, darüber, wie wir
endlich dahin kommen, Energie einzusparen. Nur dann,
wenn wir Energie einsparen, werden wir die Leute auf
Dauer entlasten. Alles andere sind nur vorübergehende
Maßnahmen.
({10})
Die schwarz-gelbe Regierung hat in ihrer Zeit erheblich zu der Stromkostenerhöhung beigetragen. Jetzt reden wir über das EEG, aber Sie sind 2009 ins Amt gekommen. Von 2009 bis jetzt ist der Strompreis um
6 Cent gestiegen. Im Zusammenhang mit den 1,8 Milliarden Euro reden wir über eine Entlastung um
0,5 Cent. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns auch über die
6 Cent sprechen, um die sich während Ihrer Regierungszeit die Kosten erhöht haben. So einfach lassen wir Sie
nicht davonkommen.
({11})
Es geht eindeutig und klar um Energieeffizienz. Da
sehe ich von dieser Bundesregierung nichts. Sie müssten
sich für einen ehrgeizigeren Klimaschutz einsetzen. Sie
müssen dafür sorgen, dass wir mehr Einnahmen über
Klimazertifikate erzielen, Sie müssen dafür sorgen, dass
wir Dämmmaßnahmen ergreifen können, schließlich
müssen Sie dafür sorgen, dass die Antieffizienzpolitik,
die Sie momentan betreiben und die die Energiekosten
hochtreibt, endlich gestoppt wird. Das wollen wir nämlich nicht mehr mitmachen.
({12})
Heute gibt es ein Verfahren vor dem EuGH. Gaskunden klagen dagegen, dass die Gaspreise in vier Jahren
um 50 Prozent erhöht worden sind. Darum müssen wir
uns kümmern. Das ist auch eine soziale Frage. Die hatten wir allemal früher als Sie, Herr Breil, im Auge. Der
Antrag der Grünen ist schon 2008 im Bundestag behandelt worden. Unsere Vorschläge liegen schon Jahre auf
dem Tisch. Ich bin dafür, dass wir diesen Familien helfen, aber nicht nur bei den Stromkosten und durch Symbolpolitik, sondern auch bei den Kosten für Wärme und
Sprit; denn alles zusammen belastet die Familien. Deshalb müssen wir ein Gesamtpaket schnüren.
Die Lösung ist nicht, gegen erneuerbare Energien
vorzugehen, sondern die Lösung des Problems besteht
darin, auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu
setzen. Das ist die Lösung, um die Energiekosten in den
Griff zu bekommen. Da sollten wir ansetzen.
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Norbert Schindler das Wort.
({0})
Danke schön, Herr Präsident. - Liebe Gäste auf der
Tribüne! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen hier im
Plenum! Der Antrag behandelt eigentlich die Stromsteuersenkung, aber die Generaldebatte betrifft natürlich die
gesamte Belastung, die durch die Stromsteuer, aber auch
durch das EEG entstanden ist.
Wie hat es angefangen? 2000/2001 wurde die Ökosteuer eingeführt. Trittin hat damals für eine Erhöhung
auf über 2 Cent pro Kilowattstunde geworben. Vorgeschlagen hat er Ausnahmen beispielsweise für Aluminiumwerke und für Betriebe, die nicht von der Entlastung
durch die Senkung der Lohnnebenkosten profitieren
können. Das war die Ausgangslage, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken.
Die EEG-Umlage, die damals beschlossen wurde,
hatte einen Anteil von 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowattstunde. Heute sind wir schon - damit hat niemand gerechnet - bei 5,7 Cent.
({0})
- 5,7 Cent pro Kilowattstunde.
({1})
- Danke. Sie haben recht. - Im nächsten Jahr sind wir
bei 7,2 Cent oder noch mehr bei der Geschwindigkeit
des Ausbaus.
({2})
- Streiten wir uns doch nicht über die Entwicklung draußen, die können wir derzeit nicht aufhalten - genauso
wenig wie das Schneewetter heute.
({3})
Welcher Vorwurf wird gegenüber Herrn Altmaier erhoben? - Wir alle wissen, wenn wir das so laufen lassen
- das sehen auch die Länder so -, dann haben wir im
nächsten Jahr wieder einen hohen Anstieg des Strompreises. In der Debatte reden die Fraktionen der Linken
und auch der SPD über eine Absenkung um 0,5 Cent pro
Kilowattstunde der Stromsteuer für alle; das wären Mindereinnahmen von 1 Milliarde Euro. Dies muss im Bundeshaushalt dann irgendwo gegenfinanziert werden.
({4})
Und dieser Bundeshaushalt, liebe Gäste, liebe Freunde,
wird zu 40 Prozent von den Leistungsträgern im Einkommensteuer- und Lohnsteuerbereich finanziert.
Jetzt kann man darüber reden, ob wir 500 Millionen
Euro aus der Mehrwertsteuer nehmen und sie gezielt irgendwo einsetzen. Die Stromsteuer generell linear von
2,05 Cent auf 1,5 Cent pro Kilowattstunde abzusenken,
wäre der leichteste Weg. Wie das heute Nachmittag oder
heute Abend läuft, weiß ich nicht - ich bin auch nicht in
Gottes Hand -, aber man versucht hoffentlich, einen
Kompromiss zu erreichen.
Ein Vorwurf gegenüber Peter Altmaier war, er wolle
in Besitzstände aus der Vergangenheit eingreifen; und
auch Dr. Nüßlein wurde vorgeführt - Stichwort Pokerspiel.
({5})
Natürlich muss man mit den Ländern darüber reden,
welche Ideen im politischen Kompromiss umsetzbar
sind. Da vermisse ich von der Opposition schon konkrete Vorschläge.
({6})
Noch ein ernstes Wort an die SPD: Lieber Herr Heil,
Ihre Klientel ist ja in der Hauptsache mit davon betroffen, wenn Investoren wie meine Person Geld in die Hand
nehmen, mit Kollegen ein Windrad auf einem Windstandort von 6,0 auf Nabenhöhe bauen, das im achten
Jahr bezahlt ist. Im neunten Jahr unterhalten wir fünf
oder sechs uns dann darüber, wie wir die Gewinne verteilen. Wollen wir dies auf Dauer bei der garantierten
Summe halten?
({7})
Ich habe hier einen Vertragsentwurf - Sie können das
nachlesen ({8})
von einem mir sehr gut bekannten Unternehmen über die
Miete für einen Windstandort dabei. Vertragspartner ist
ein Grundeigentümer. Der Vertragsentwurf ist drei Wochen alt. Er wird wahrscheinlich unterschrieben werden.
Im ersten Jahr ist eine Miete von 47 000 Euro für den
Standort - da geht es um ein halbes Hektar - garantiert.
Wenn der Stromertrag besser ist, dann beträgt die Miete
7,5 Prozent vom Nettostromertrag. Nach dem elften Betriebsjahr erhöht sich die Miete für dieses Grundstück
auf 53 000 Euro. Ich gebe den Vertrag gerne einmal weiter.
({9})
- Ich will nur auf die Verzerrungen hinweisen.
({10})
Dann hat Peter Altmaier doch recht. Bei solchen Subventionierungen und Kapitalzuteilungen der besonderen
Art wird mit 9 Cent pro Kilowattstunde an normal guten
Windstandorten richtig Geld verdient. Das ist eine Gelddruckmaschine.
({11})
Ich bin Windmüller, ich kann die Kalkulation im neunten Jahr bestens nachvollziehen. Wer bei einer Windgeschwindigkeit von 6,0 Metern pro Sekunde ein Windrad
hat, der hat zwar nicht ausgesorgt, aber das ist wie bei
guten Photovoltaikstandorten eine Gelddruckmaschine.
({12})
Es ist der Ansatz von Herrn Altmaier, in Zukunft bei diesen Garantien den Preis abzusenken.
({13})
Das hat doch eine Logik! Aber Sie lehnen das einfach ab
und reden von einem Stopp. Das ist genau das gleiche
Horrorszenario wie vor einem Jahr bei der Absenkung
der Photovoltaikvergütung. Und was haben wir seit 2009
nicht alles probiert, Frau Höhn!
({14})
- In meinem Wahlkreis Vorderpfalz.
Herr Kollege Schindler, entschuldigen Sie, dass ich
Sie unterbreche. Der Kollege Kelber würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Die Uhr wird aber angehalten.
({0})
Bitte.
Vielen Dank für die Möglichkeit zur Zwischenfrage.
Der Vorschlag von dem Kollegen Altmaier zur Absenkung bezog sich ja keineswegs auf so gute Standorte,
an denen der Abgeordnete Schindler anscheinend Geld
verdient, sondern er wollte eine allgemeine Absenkung,
unabhängig vom Standort - wenig an den richtig guten,
aber zu viel für die schlechteren. Das war nicht besonders intelligent, und genau dazu macht Ihnen die Opposition einen anderen Vorschlag.
Ausgerechnet der größte
Lobbyist im Haus!)
Ich möchte noch eine Frage stellen. Sie haben erzählt,
man könne bei den erneuerbaren Energien Gewinne machen. Das sei Ihnen gegönnt. Aber ist nicht das größere
Problem, dass unter Schwarz-Gelb, als sich die Ausschüttungen an die Betreiber von Erneuerbare-EnergienAnlagen nur um etwa 80 bis 90 Prozent erhöht haben,
300 Prozent mehr Umlage bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern eingesammelt worden sind, weil Ihre Konstruktion des EEG wegen der Ausnahmen, wegen falscher Berechnungsmethoden immer weiter kaputtgegangen ist? Sie haben viermal so viel Geld eingesammelt,
ohne es für erneuerbare Energien auszugeben.
Herr Kollege Kelber, Sie kennen doch selbst die
Liste, Stichwort „Automatismus“, die ebenfalls von RotGrün 2001 vorgelegt wurde; ich habe sie da.
({0})
- Ja. Da gab es Verbesserungen und Verschlechterungen,
Herr Kollege Fell. - Aber beim EEG hatten wir eine
Rückvergütung von 5,3 Milliarden Euro. Allein bei der
Stromsteuer, um die es heute geht, hatten wir eine Rückvergütung von 3,8 Milliarden Euro. Dieses Geld haben
wir der Wirtschaft zurückgegeben.
Auf die Stromsteuer insgesamt entfallen 10,8 Milliarden Euro. Was die 3,8 Milliarden Euro Rückvergütung
bei der Stromsteuer angeht: Allein auf den Spitzenausgleich entfielen 2,1 Milliarden Euro. Auf das EEG - bezüglich der Kraft-Wärme-Kopplung verweise ich auf
das, was uns die Europäische Union gerade genehmigt
hat - entfällt ein Anteil von 2,3 Milliarden Euro.
({1})
- Hier will ich nur entgegnen: Siehe, was Peter Altmaier
macht. Es geht um die Frage der Empfindlichkeit, auch
gegenüber meinen Bauern; ich weiß das schon. Bei bestimmten Mietverträgen wird jeder schwach, nicht nur
ein Bürgermeister.
Wenn eine Kürzung von 4 Prozent ins laufende Geschäft hineingekommen wäre, wäre keiner bankrottgegangen. Ich rede nicht vom Güllebonus und Sondervorfällen. Man bedenke, was im laufenden Geschäft bei
einem Standort mit 6,0 Metern pro Sekunde, einem
schwachen Standort in der Pfalz, geschieht. Wenn man
da Angebote von 50 000 Euro pro Windrad auf einer bestimmten Fläche macht, dann muss ich doch feststellen:
Diese soziale Geldverschiebung kann diese Republik auf
Dauer nicht aushalten.
({2})
- Ist es anders?
Wir reden über Ausnahmen im Stromsteuerbereich.
Es geht zum Schluss um 1 Milliarde Euro oder eine
halbe Milliarde Euro mehr oder weniger. Es gilt, einen
vernünftigen Kompromiss zustande zu bringen, damit
die Stromkosten für Lieschen Müller genauso wie für die
Oma, die eine geringe Rente hat, auf Dauer finanzierbar
sind. Da müssen Sie uns folgen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({3})
- Doch. Das eine hängt mit dem anderen unmittelbar zusammen, Frau Kollegin Höhn; Sie wissen es doch. Wer
hat denn mit diesen Ausnahmen den Fluch der guten Tat
verursacht?
({4})
Das wart doch ihr.
({5})
Wer hat denn voriges Jahr bei der Kürzung der Photovoltaikförderung den Untergang des Abendlandes prophezeit?
({6})
Trotz dieser Kürzungen gab es im letzten Jahr noch genügend Photovoltaikunternehmen. Auch jetzt noch überlegen Landwirte in meiner Heimatregion, in Photovoltaik auf ihren Dächern zu investieren. Das machen sie
nicht, um Verluste zu machen, sondern weil sie wissen,
dass sie ihre Erträge damit steigern.
Kollege Schindler, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Höhn?
({0})
Ja, gerne. Wir streiten auch sonst, ohne Mikro.
({0})
Diesmal sollen alle daran teilhaben. Deswegen benutzen Sie bitte das Mikrofon.
Danke schön. - Herr Schindler, Sie haben eben gesagt, für diese ganzen Ausnahmen sei Rot-Grün verantwortlich. Ist Ihnen bekannt, dass vor wenigen Wochen
das Oberlandesgericht Düsseldorf ein Urteil zu den
Netzdurchleitungsgebühren gefällt hat? Einige hatten
geklagt, und das Gericht hat festgestellt: Die Ausnahmen, die die jetzige Regierung, Schwarz-Gelb, geschaffen hat, sind überbordend, und deshalb müssen wir sie
stoppen. Ist Ihnen das bekannt?
({0})
Ja.
Ist Ihnen bekannt, dass die EU jetzt ein Beihilfeverfahren gegen die Bundesregierung wegen der Ausnahmen bei den Netzgebühren gestartet hat, weil die unter
Schwarz-Gelb geschaffenen und ausgeweiteten Ausnahmen der EU zu weit gehen?
Sind Ihnen diese beiden Vorgänge bekannt?
Ist Ihnen bekannt, Frau Kollegin Höhn,
({0})
dass Peter Altmaier auch mit Blick auf die Besitzstände
der Industrie Reduzierungsvorschläge gemacht hat?
({1})
- Das war vor diesem Gerichtsurteil. Die zeitliche Abfolge war so. Ich habe noch kein Alzheimer.
({2})
Ich will abschließend sagen - das gilt für jeden Investor; ich verweise darauf nicht nur wegen der Kostenbelastung insgesamt -:
({3})
Man sollte die Finger von Investitionen in Anlagen an
einem Standort unter 6 Metern pro Sekunde lassen. Aber
die Verkäufer dieser Anlagen haben keine Hemmungen
- in der Sprache des Landwirts -, die letzte Kuh in Zahlung zu nehmen, um die Melkmaschine zu verkaufen.
Darum geht es in der Debatte.
Nun zu dem, was wir in den Ländern draußen erleben.
Da gibt es ja sogar rot-grüne Vorwürfe gegenüber Berlin.
Ich verweise nur auf Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg; ich bleibe bei den beiden Bundesländern,
die ich über den Rhein hinweg sehe; da wohne ich. Baden-Württemberg schlägt zur Energiewende vor: 70 Prozent Biomasse. Rheinland-Pfalz schlägt vor: 17 Prozent.
Rheinland-Pfalz schlägt im Bereich Windenergie vor:
60 bis 70 Prozent. Baden-Württemberg dagegen: 9 bis
10 Prozent.
Nun kommt also Rot-Grün - bei 16 Programmen der
Bundesländer! ({4})
und wirft Peter Altmaier oder der Bundesregierung vor,
kein Konzept zu haben. Mit diesen Vorschlägen erzeugt
ihr mehr Durcheinander, als in einem unruhigen Kindergarten herrscht.
({5})
Das Gleiche haben wir in Schleswig-Holstein erlebt.
Schleswig-Holstein will die Stromerzeugung aus Windenergie auf das Siebenfache ausbauen.
({6})
Herr Heil, dann sorgen Sie aber auch dafür, dass die
Genehmigungsverfahren für die Durchleitungsrechte
durchgeführt werden!
({7})
Wer hat denn die Subventionierung entlang der Autobahnen und sonstigen Verkehrsstrecken 2008 unter
Sigmar Gabriel maßgeblich durchgesetzt, gegen meinen
persönlichen Widerstand?
({8})
Das war die schwarz-rote Koalition. Die Bundesländer
nutzen das jetzt aus.
({9})
Daraus können Sie mir doch keinen Vorwurf machen.
({10})
Betriebswirtschaftlich hat jeder richtig investiert, ob in
Photovoltaik oder in Windräder, weil er einen Ertrag
hatte. So haben es die Bundesländer vor Ort auch umgesetzt. Jetzt den Vorwurf zu erheben, Peter Altmaier habe
kein Konzept,
({11})
das geht nicht. Wenn wir uns jetzt nicht an einer gemeinsamen Linie orientieren, steigen im nächsten und übernächsten Jahr die Strompreise allein durch die EEGUmlage, unabhängig von der Stromsteuer,
({12})
auf über 7 oder 8 oder 9 Cent. Und was machen wir
dann? Dann dreht sich die gesamte Stimmung.
({13})
- Die Vorschläge hat Peter Altmaier gemacht.
Kollege Schindler, ich unterbreche den Austausch
zwischen Ihnen und Herrn Heil nur ungern, aber Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Ich hoffe, die Vernunft der
Bundesländer wird heute Abend bei der gemeinsamen
Debatte und der Lösungsfindung zum Tragen kommen.
Was wir für wenige Investoren, die große Profite haben,
Lieschen Müller bei der EEG-Umlage zumuten, kann
man durch die Stromsteuerabsenkung - das macht
0,5 Cent pro Kilowattstunde aus - nicht ausgleichen.
({0})
Das ist absolut nicht der richtige Weg, weil dann wieder
die Leistungsträger - es sind nur 38 bis 40 Prozent, die
Steuern zahlen - das schultern müssen.
({1})
Das ist wieder genau der Neideffekt. Den hatten wir
auch schon, als es um Maßnahmen gegen die kalte Progression ging. Wir können doch nicht gegen besseres
Wissen argumentieren.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Groneberg für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr
Schindler, ich schätze Sie sehr,
({0})
aber: Dieses Engagement, das Sie gerade gezeigt haben,
würde ich mir von Ihnen wünschen, wenn es darum geht,
dass trotz der hohen Gewinne der Stromkonzerne, die
Atomkraftwerke betreiben, der Steuerzahler letztendlich
die Entsorgungskosten finanzieren muss. Die Entsorgung wird ja nicht von den Energiekonzernen gemacht.
({1})
Ich weiß, dass das Thema „Energie und Energiesicherheit“ bei Ihnen mittlerweile überaus unbeliebt ist,
weil das kein Feld ist, auf dem Sie sich profilieren können, und kein Thema, mit dem Sie gewinnen. Es ist wie
immer in den letzten Wochen, wenn wir an diesem
Thema gearbeitet haben: Sie sagen, dass Sie die Energiewende wollen. Sie beklagen die hohen Strompreise.
Aber Sie handeln nicht. Offensichtlich sind Sie wirklich
nicht willens und nicht in der Lage, zu handeln. Im
Zweifelsfall streiten Sie lieber untereinander, und die
Strompreise steigen derweil. Sie haben auch gleich einen
Sündenbock dafür gefunden. Sie verunglimpfen das
EEG als Preistreiber - und das in dem Wissen, dass das,
was Sie hier erzählen, so nicht richtig ist. Man nehme
nur Ihre eigenen Aussagen aus den Fragestunden oder
das, was der Kollege Hempelmann vorhin aus dem Internetauftritt des Bundesministeriums für Umwelt ganz anschaulich geschildert hat.
Neuerdings ziehen Sie durch das Land und sagen, Sie
wollen die Ausnahmeregelungen für die Industrie zur
Befreiung der EEG-Umlage überprüfen und eine Strompreisbremse einführen. Gut, die Worte höre ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube. Ist es nicht so, dass Sie im
Oktober letzten Jahres verkündet haben, ein Forschungsvorhaben in Auftrag zu geben, welches bis zum 31. Juli
2014 - wohlgemerkt: 2014 - abgeschlossen sein soll, um
festzustellen, wie es sich mit den ganzen Ausnahmeregelungen verhält? Bis dahin ist es noch lange hin. Im Zweifelsfall werden Sie nicht mehr regieren.
Das es nicht hilft, wenn wir Ihnen dies vorhalten, zitiere ich aus der Rede von Sven Morlok, Staatsminister
in Sachsen, nicht unserer Fraktion zugehörig,
({2})
sondern eher auf der Regierungsseite zu finden. Im Oktober letzten Jahres sagte er im Deutschen Bundestag:
An die Adresse der Bundesregierung möchte ich
folgende Worte richten: Herr Altmaier, ich habe
Ihren Maßnahmenplan gelesen. Ich muss jedoch
deutlich sagen: Verschonen Sie uns mit neuen Gutachten auf Kosten der Steuerzahler. Diese brauchen
wir nicht mehr.
Jetzt kommt es ganz dicke:
Die Bundesregierung leidet nicht an einem Mangel
an Gutachten, sondern an einem Mangel an Einsicht.
Dem ist ja wohl nichts mehr hinzuzufügen.
({3})
Herr Meierhofer, im Gegensatz zu Ihnen haben wir
Vorschläge gemacht. Leider fehlt uns zurzeit die Mehrheit in diesem Hause.
({4})
Wenn Sie an eigenen Vorschlägen nicht arbeiten oder
nicht arbeiten können, so können Sie unsere nehmen.
Wir haben nichts dagegen. Wir würden denen dann sogar
gerne zustimmen. Offensichtlich sind die Regierungskoalitionen aus CDU/CSU und FDP in den Ländern realistischer als diese Bundesregierung. Wir werden sehen,
was heute dabei herauskommt, auch wenn dem schon
vorgegriffen wurde, indem Herr Altmaier sagte: Heute
kommt nichts heraus.
Ich zitiere an dieser Stelle noch einmal aus der Rede
des Staatsministers Sven Morlok vom Oktober letzten
Jahres:
Als Sofortmaßnahme muss die Stromsteuer zum
1. Januar 2013
- mittlerweile abgelaufen reduziert werden, und zwar auf das europäische
Mindestniveau.
Na bitte, unsere Vorschläge gehen auch in diese Richtung. Warum machen Sie das nicht hier?
({5})
Es ist doch so, dass der Staat zurzeit rund 1 Milliarde
Euro Mehreinnahmen pro Jahr über die Stromsteuer generiert. Da wäre es doch vernünftig, dieses Geld den
Verbraucherinnen und Verbrauchern im Energiebereich
zurückzugeben.
Der Anlass der heutigen Debatte sind jedoch drei Anträge der Linken sowie unsere Große Anfrage zur Energiewende und deren Kosten für die Verbraucherinnen
und Verbraucher. Es ist richtig, es gibt in Deutschland
immer mehr Haushalte, denen der Strom gesperrt wird,
weil sie nicht zahlen können. Gründe für die Zahlungsunfähigkeit sind zum einen sicherlich in den hohen Energiekosten zu finde, aber eben nicht ausschließlich. Ihre
Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, um diese Misere zu beheben, halten wir zumindest in großen Teilen für nicht zielführend. Im Ausschuss haben wir über diese Vorschläge diskutiert und
sie abgelehnt. Wir lehnen sie deshalb ab, weil wir dagegen sind, neue und vor allen Dingen komplexe Subventionstatbestände einzuführen. Sie sind nicht zielführend.
Man sollte sich das gründlich überlegen. Ich berufe mich
auf ein Gutachten von Prognos, aus dem ich auch zitieren möchte:
Einkommensschwache Haushalte werden mit bis zu
8,3 % des verfügbaren Nettoeinkommens stärker
durch Haushaltsenergiekosten belastet als Haushalte mit durchschnittlichem und überdurchschnittlichem Einkommen. …
Sozialtarife …
- das ist die Konsequenz, die daraus gezogen wird haben sich in der Praxis jedoch nicht bewährt. Die
Privatisierung des Strommarkts und die zunehmende Anzahl von Anbietern, die ausschließlich
über das Internet kommunizieren, erschwert Vereinbarungen mit sämtlichen Stromanbietern eines
Netzgebiets zugunsten von einkommensschwachen
Personen.
Viele sind ja auch - das sage ich Ihnen - gar nicht
mehr in der Lage, diesen Markt mit rund 1 000 Stromanbietern und 800 Gasanbietern überhaupt noch zu
überblicken. Wer soll das denn noch übersehen können?
Darüber hinaus wurden mangelnde Anreize zu
Energieeinsparung und Klimaschutz durch Sozialtarife kritisiert.
Diese Argumente sind zu erwägen. Sozialtarife kann
man nicht einsetzen, wenn man keine Spartarife verwendet.
Deswegen plädiert unsere Fraktion dafür, dass man
gerade für den Bereich der einkommensschwachen
Haushalte Wert auf Energieberatung legt. Es macht
Sinn, solche Projekte, wie sie zum Beispiel von der Caritas gemacht werden, zu unterstützen und zu fördern.
Das ist sicherlich zielführender, als von vornherein nur
auf eine reine Subventionierung der Strompreise hinauszuwollen.
Es ist im Übrigen nicht der Strompreis allein, der den
Menschen zu schaffen macht, sondern es sind auch die
übrigen Kosten, etwa für Heizung oder für Mobilität.
Diese werden vor allen Dingen durch konventionelle
Energieträger verursacht. Deren Preis steigt genauso
massiv, und das hat mit den erneuerbaren Energien
nichts zu tun.
Herr Nüßlein, ich finde das, was Sie in Ihrer Rede im
November des letzten Jahres gesagt haben, dass nämlich
die Energiekosten die Sozialhilfeträger übernehmen sollten, viel zu billig. Was ist das denn schon wieder für ein
Verschiebebahnhof? Sollen die Kommunen, die schon
genug Schwierigkeiten haben, ihre Infrastruktur aufrechtzuerhalten, in Zukunft auch noch dafür zahlen, dass
die Bundesregierung nicht in der Lage ist, Maßnahmen
zu ergreifen, damit der Strompreis nicht übermäßig
steigt?
Ich bin der Ansicht: Wir brauchen eine andere Regierung. Daran werden wir arbeiten. Sie sind offensichtlich
nach wie vor konzeptionslos. Sie sind nicht bereit, Energieeffizienz zu unterstützen, energieeffiziente Geräte
und Fahrzeuge auf dem Markt zu platzieren bzw. erst
einmal deren Entwicklung bis zur Einsatzreife zu unterstützen.
Ich setze meine Hoffnungen auf den Bundesrat mit
seiner starken rot-grünen Mehrheit, denn hier im Bundestag ist in der Beziehung mit Ihnen absolut kein Staat
zu machen.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Franz
Obermeier für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte versuchen, zusammenzufassen, was heute debattiert wurde.
({0})
Als Erstes möchte ich dem Kollegen Norbert
Schindler ausdrücklich danken,
({1})
dass er das System der Umverteilung von unten nach
oben plastisch dargestellt hat. Vielen Dank!
({2})
- Norbert Schindler ist in diesem Fall als Unternehmer
oben.
Zweitens. Uns gelingt es nicht, diese Dinge so in den
Griff zu bekommen, dass man sie vernünftigerweise
verantworten kann.
Ich will nur daran erinnern, welche Horrorbotschaften
die Opposition in den zurückliegenden Jahren ausgesandt hat, als wir gesagt haben, dass wir die Vergütungssätze kappen bzw. herunterfahren müssen, weil sie für
die deutsche Volkswirtschaft nicht mehr finanzierbar
sind. Jetzt haben wir einen Umlagesatz von 5,27 Cent
pro Kilowattstunde, und alle klagen über die hohen
Preise. Dabei wird viel zu wenig diskutiert, dass der
Preisanstieg im Prinzip systemimmanent ist; er liegt im
System.
({3})
Herr Bundesumweltminister, wir müssen es schaffen,
diesen systembedingten Mangel so zu korrigieren, dass
die Preise nicht weiter so rasch ansteigen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem besteht
schlicht und einfach darin, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien jedenfalls in den vergangenen zwei
Jahren viel zu rasch vorangeschritten ist und wir bei der
vernünftigen Nutzung des aus erneuerbaren Energien erzeugten Stroms nicht nachgekommen sind. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben kein Verständnis dafür, dass wir den Ökostrom teilweise an Polen und
die Beneluxstaaten verschenken, mitunter sogar dafür
zahlen, dass sie uns den Strom abnehmen, und die Kosten auf die Verbraucher hierzulande umgelegt werden.
({5})
Das ist ein Missstand, dem wir gemeinsam abhelfen
müssen.
({6})
Das, was Sie als Opposition hier leisten, stellt allerdings
keinen Beitrag zur Problemlösung dar.
({7})
Kolleginnen und Kollegen, ich will bei der Gelegenheit noch darauf hinweisen, dass es bei diesem Thema
keine Tabus geben darf.
({8})
Dass wir zum Beispiel heute noch jedem, der gemäß
EEG einen Antrag zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien stellt, die Einspeisevergütung für
20 Jahre garantieren, müssen wir zur Diskussion stellen.
({9})
- Sie sagen, wir sollten es ändern. Ich erinnere an all das,
was beim Bundesrat liegt und was Sie dort über Monate
aus rein parteipolitischen Gründen blockieren.
({10})
Und dann reden Sie mir hier ins Gewissen und sagen,
wir sollten einen Vorschlag einbringen! Der Vorschlag
würde im Bundesrat seitens der Opposition aus wahlkampftechnischen Gründen sofort abgelehnt.
({11})
Kolleginnen und Kollegen, ich appelliere auch vor einem anderen Hintergrund an die Opposition: Das, was
wir heute diskutieren, nämlich der weitere Aufwuchs bei
den Vergütungen nach dem EEG, zu dem es wahrscheinlich im Herbst kommt,
({12})
ist nur ein Teil dessen, was uns in den nächsten Monaten
noch erhebliche Sorgen machen wird. Es geht hier auch
um die Umlage bei den Netzentgelten. Ich führe jetzt
nicht die Scheindebatte - sie kommt hauptsächlich von
den Grünen -, dass wir die ganzen Strompreisexzesse
mit den Befreiungen von der Umlage auslösen. Die Lügen, Frau Höhn, die die Grünen über Wochen im deutschen Volk und in den Medien verbreitet haben,
({13})
sind längst widerlegt.
({14})
Ich will vielmehr darauf zu sprechen kommen, dass es
durch den Ausbau der Übertragungsnetze und der Verteilnetze zu einem weiteren Aufwuchs beim Strompreis
kommen wird.
Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Höhn?
Nein. Frau Höhn hat ihre Ansprache schon gehalten.
({0})
Sie kann nachher eine Intervention machen.
({1})
Ich will nur sagen: Wenn es uns nicht rasch gelingt,
den Aufwuchs bei den EEG-Vergütungen und bei den
Netznutzungsentgelten so zu begrenzen, dass es zu keinem volkswirtschaftlichen Schaden kommt, der über den
hinausgeht, der schon angerichtet ist, dann werden wir
unser Ziel der Gesundung der öffentlichen Haushalte
bald infrage stellen müssen. Wenn es dazu kommt, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
({2})
dann nutzt es Ihnen nichts; das nutzt auch den Koalitionsfraktionen nichts. Der Geschädigte wird das deutsche Volk sein.
({3})
Wir haben uns verpflichtet, die Dinge vernünftig zu
regeln, und das gilt auch für die Opposition, vor allem
dann, wenn sie im Bundesrat eine Mehrheit hat.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Bärbel Höhn hat das Wort zu einer
Kurzintervention.
Herr Obermeier, Sie haben eben über mich als Person
gesagt, ich sei eine Lügnerin, ich hätte gelogen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich hier in diesem Moment
entweder entschuldigen oder aber klar aufzeigen, wo ich
gelogen haben soll. Wir haben alle Ausnahmetatbestände in allen Unterlagen klar dargestellt. Die entsprechenden Listen sind öffentlich. Sie wollen die Tatsachen
nicht hören. Dass Sie mich dann hier einfach der Lüge
bezichtigen, das weise ich zurück.
({0})
Es ist eine Unverschämtheit, nicht einmal meine Zwischenfrage oder Bemerkung zuzulassen, obwohl Sie selber hier Vorwürfe gegen mich erheben, die nicht begründet sind.
Kollege Obermeier, wünschen Sie das Wort? - Dann
haben Sie es jetzt.
Frau Höhn, da haben Sie sicher etwas missverstanden.
({0})
Ich habe mich vorhin auf die Lüge der Grünen bezogen
({1})
- auch auf Ihre Äußerungen -, dass die Befreiung von
Teilen der deutschen Wirtschaft von der Zahlung der
Umlage für den Aufwuchs der Strompreise, für die Entwicklung in diesem Bereich relevant ist.
({2})
Das war meine Aussage. Alles andere haben Sie frei erfunden. Vielleicht plagt Sie das Gewissen.
({3})
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12840 mit dem
Titel „Stromsteuer senken für eine konsequent sozialökologische Energiewende“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Energiewende so-
zial gestalten - Bezahlbare Strompreise gewährleisten“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
Vizepräsidentin Petra Pau
auf Drucksache 17/11704, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/10800 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Energiewende sozial gestalten - Strom-
sperren gesetzlich untersagen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12767,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/11655 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie zu dem Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD zur Antwort der Bundesre-
gierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Die Energiewende - Kosten für Verbrauche-
rinnen, Verbraucher und Unternehmen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/12874, den Entschließungsantrag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/12538 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Frak-
tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 g sowie
die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des gesetzlichen Messwesens
- Drucksache 17/12727 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Kroatien zur
Europäischen Union
- Drucksachen 17/12769, 17/12852 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Axel Schäfer ({3}), Michael Roth
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Volker Beck ({5}), Marieluise Beck
({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivilgesellschaft stärker an EU-Beitrittsprozessen beteiligen
- Drucksache 17/12821 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({7})-
Auswärtiger Ausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({8}), Wolfgang Gunkel,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Volker Beck ({9}), Ute Koczy, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage und humanitäre Situation in der Westsahara verbessern und Klärung des völkerrechtlichen Status voranbringen
- Drucksache 17/12822 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({10})-
Auswärtiger Ausschuss -
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abhängigen helfen - Substitutionstherapie er-
leichtern
- Drucksache 17/12825 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
WHO-Tabakrahmenkonvention umsetzen Vollständiges Tabakwerbeverbot einführen
- Drucksache 17/12838 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({11})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Markus Kurth, Thilo Hoppe, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechte von Menschen mit Behinderungen in
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
sichern und Inklusion weltweit ermöglichen
- Drucksache 17/12844 28818
Vizepräsidentin Petra Pau
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnung von Honig mit Gentech-Pollen
sicherstellen - Schutz der Imkerei vor GVOVerunreinigungen gewährleisten
- Drucksache 17/12839 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({13})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Waffenlieferungen an Syrien
- Drucksache 17/12824 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({14})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschuss
Es handelt sich hier um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 k sowie
die Zusatzpunkte 5 a bis 5 j auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Abschaffung des Branntweinmonopols ({15})
- Drucksache 17/12301 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({16})
- Drucksache 17/12765 Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({17}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/12766 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BrackmannCarsten Schneider ({18})Otto FrickeDr. Gesine LötzschDr. Tobias Lindner
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12765, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12301 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({19}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Deponieverordnung
- Drucksachen 17/12454, 17/12583, 17/12853 Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12853, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12454 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkte 37 c bis 37 k sowie Zusatzpunkte 5 a bis 5 j. Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 37 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 553 zu Petitionen
- Drucksache 17/12713 Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 553 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 554 zu Petitionen
- Drucksache 17/12714 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 554 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 555 zu Petitionen
- Drucksache 17/12715 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 555 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 556 zu Petitionen
- Drucksache 17/12716 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 556 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 557 zu Petitionen
- Drucksache 17/12717 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 557 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 558 zu Petitionen
- Drucksache 17/12718 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 558 ist gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 559 zu Petitionen
- Drucksache 17/12719 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 559 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 560 zu Petitionen
- Drucksache 17/12720 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 560 ist gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 561 zu Petitionen
- Drucksache 17/12721 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 561 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 5 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 562 zu Petitionen
- Drucksache 17/12860 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 562 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 563 zu Petitionen
- Drucksache 17/12861 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 563 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 564 zu Petitionen
- Drucksache 17/12862 28820
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 564 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 565 zu Petitionen
- Drucksache 17/12863 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 565 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 566 zu Petitionen
- Drucksache 17/12864 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 566 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
({34})
Zusatzpunkt 5 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 567 zu Petitionen
- Drucksache 17/12865 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 567 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 5 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 568 zu Petitionen
- Drucksache 17/12866 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 568 ist gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 569 zu Petitionen
- Drucksache 17/12867 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 569 ist gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Zusatzpunkt 5 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 570 zu Petitionen
- Drucksache 17/12868 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 570 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 571 zu Petitionen
- Drucksache 17/12869 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 571 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Sicherheit der Sparguthaben in Europa
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({40})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was die
Bundesregierung in Bezug auf Zypern angerichtet hat,
ist eine politische Katastrophe, und zwar nicht nur eine
finanzpolitische, sondern auch eine allgemeinpolitische
Katastrophe.
({0})
Sie haben das Vertrauen der Europäerinnen und Europäer, auch das der Deutschen, hinsichtlich der Sparguthaben schwer zerstört.
Das Problem besteht darin, dass auf einer Tagung, an
der auch Bundesfinanzminister Schäuble teilgenommen
hat, en détail abgesprochen wurde, dass alle Kleinsparerinnen und Kleinsparer 6,75 Prozent zu bezahlen hätten
und die Besitzer etwas größerer Sparkonten 9,9 Prozent.
({1})
- Wie bitte?
({2})
- Ich sage nicht, dass er das vorgeschlagen hat, aber er
hat das genehmigt und gebilligt.
({3})
Das hat er auch bei uns erklärt. Weil er das genehmigt
und gebilligt hat, musste später eine Telefonkonferenz
der EU-Finanzminister stattfinden, um sich auf etwas
anderes zu einigen. Wenn man Zypern gleich gesagt
hätte: „Den Weg müsst ihr alleine finden“, wäre das ja
gar nicht nötig gewesen. Aber genau das hat man eben
nicht gesagt. Man hat das bis ins Detail vereinbart. Damit hat die Bundesregierung auch allen Sparerinnen und
Sparern in Deutschland, egal ob sie bei der Raiffeisenbank, der Sparkasse oder wo auch immer sind, gesagt:
Es kann euch passieren, dass wir euch an einem Wochenende 7 oder auch 10 Prozent von euren Sparguthaben abziehen. - Das ist eine Katastrophe.
({4})
Die Bundesregierung hat dadurch nicht nur, wie sie das
immer nennt, das Vertrauen in die Märkte untergraben,
sondern auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger
insgesamt, und zwar, wie gesagt, nicht nur in Zypern.
({5})
Ich bin übrigens sehr zufrieden damit, dass die Menschen in Zypern Widerstand an den Tag legen. Dass
nicht nur die Linke dagegen gestimmt hat - das war ja
klar -, sondern sich auch die Konservativen nicht getraut
haben, dafür zu stimmen - sie haben sich der Stimme
enthalten -, das finde ich gut.
({6})
Sie finden das bedauerlich. Sie hätten den Sparerinnen
und Sparern gerne das Geld abgezogen. Wir nicht. Das
ist der Unterschied, meine Damen und Herren von der
FDP.
({7})
- Ich wusste, dass Sie sich so aufregen, aber ich kann
doch nichts für Ihre Schandtaten. Sie müssten sich über
sich selbst aufregen, nicht über uns.
({8})
Herr Schäuble - das müssen Sie sich einmal überlegen - sagte im Fernsehen: Wir mussten das am Wochenende machen, damit man vorher nichts erfährt. - Was
sagt er denn damit? Damit sagt er den Sparerinnen und
Sparern: Wenn es kommt, kommt es für euch völlig
überraschend. Ihr werdet es vorher nicht erfahren, damit
niemand etwas abhebt.
({9})
Was soll denn jetzt die Schlussfolgerung für die Sparerinnen und Sparer sein? Sie werden sich sehr genau
überlegen, wo sie ihr Geld künftig anlegen. Das Vertrauen in die Banken war schon verspielt, jetzt ist auch
das Vertrauen in die Politik verspielt. Sie sind mit diesem Ansinnen gescheitert.
({10})
Nun wissen wir nicht, wie das Neue aussehen wird;
aber man kann es ahnen. Es gibt eine Agenturmeldung.
Danach ist Folgendes geplant: Es soll ein Fonds für
Staatsanleihen gebildet werden. Diesen Fonds sollen die
Kirchen, die Pensionskassen und andere Organisationen
bezahlen. Das heißt, es sollen - wenn ich das richtig verstehe - Schulden gemacht werden, um Schulden zu begleichen. Dann haftet man gegenüber den Kirchen, den
Pensionskassen und anderen Einrichtungen. Die Staatsanleihen müssen auch erst einmal verkauft werden. Dahinter setze ich noch ein Fragezeichen. Ich lasse das aber
alles dahingestellt sein. Dann sollen Inhaber von Sparguthaben von über 100 000 Euro - so heißt es jetzt; das
betrifft also nicht mehr die ganz kleinen Sparerinnen und
Sparer, sondern die etwas größeren Sparguthaben - zur
Kasse gebeten werden.
Ich frage Sie: Wie wollen Sie das eigentlich juristisch
erklären? Man schließt doch einen Vertrag mit der Bank.
In dem steht, dass die Bank mein Geld gut aufbewahrt,
dass ich sogar ein bisschen Zinsen bekomme. Nun heißt
es übers Wochenende: Pustekuchen, du bekommst
nichts, wir ziehen 10 Prozent von deinem Geld ab. - Das
klingt nach Bananenrepublik,
({11})
obwohl ich diese Art der Beleidigung Afrikas generell
ablehne.
({12})
Es ist überhaupt nicht zu fassen, was hier läuft.
Dann stellen Sie wieder Bedingungen. Mit einer Bedingung will ich mich auseinandersetzen: Zypern muss
die Häfen und die Telekommunikationseinrichtungen
verkaufen. Es gibt bloß ein Problem: Das sind Unternehmen, mit denen Zypern jedes Jahr Geld macht. Die sind
nicht etwa marode. Nun zwingen Sie Zypern zum Verkauf - natürlich zu ganz billigen Preisen; das ist ja klar,
wenn man sie zwingt. Damit verliert Zypern seine jährlichen Einnahmen.
Wir müssten ganz andere Wege gehen. Ich sehe aber,
dass meine Zeit gleich herum ist. Deshalb sage ich Ihnen
nur so viel:
Erstens. Wir müssten uns trauen, die beiden großen
Banken in Insolvenz gehen zu lassen.
({13})
Zweitens. Wir müssten die Großaktionäre heranziehen. Das sind nämlich die Eigentümer der Banken.
Wieso werden die immer geschont?
({14})
Wieso retten wir jede Bank, aber nie die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bzw. die Sparerinnen und Sparer?
Drittens. Wir könnten dann das isländische Modell
wagen und sagen: Wir frieren in Zypern große Sparguthaben aus dem Ausland erst einmal ein. Dann prüfen
wir, wer da was warum angelegt hat. Es gibt übrigens
dort nicht nur die Oligarchen aus Russland, sondern
auch die Oligarchen aus Großbritannien.
({15})
Sie vergessen immer, die zu erwähnen. Da sind also
Wege offen.
Gehen Sie doch endlich einmal an die Nutznießer der
Krise heran. Ziehen Sie denen das Geld ab! Verlangen
Sie das nicht von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern und den kleinen Sparerinnen und Sparern.
({16})
Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Gysi, was Sie gerade gemacht haben, widerspricht eigentlich dem, was Sie mit der Aktuellen Stunde beantragt haben. Sie haben beantragt,
über die Sicherheit der Sparguthaben in Europa zu reden. Ich habe aber kein Wort darüber gehört.
({0})
Wir machen hier verantwortungsvolle Politik und keinen Populismus, so wie Sie, Herr Gysi, es tun.
({1})
Sie haben - auch wenn Ihre Fraktion in voller Mannstärke vertreten ist - keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gemacht, wie man die Sparguthaben in Europa sichern kann.
({2})
Sie haben über etwas gesprochen, was uns diese Woche
sehr intensiv beschäftigt hat, Herr Gysi. Da gebe ich Ihnen vollkommen recht.
Ich habe noch den Zwischenruf einer Kollegin von
den Grünen im Ohr, die vorhin gesagt hat: Für Sie gilt jedes Argument, und Sie kämpfen gegen die Märkte. Aber Sie sprechen in der heutigen Aktuellen Stunde davon, dass man das Vertrauen in die Märkte sichern muss.
Herr Dr. Gysi, die Linken widersprechen sich bei allem,
was sie fordern. Ich glaube, das ist keine wirklich verantwortungsvolle Politik.
({3})
- Ich glaube, ich habe sehr wohl und sehr gut zugehört.
Ich weiß, was Sie gefordert haben.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Finanzpolitiker arbeiten sehr intensiv daran, die Einlagen in
Europa zu sichern.
({5})
Wir haben das im europäischen Dialog gemacht und die
entsprechende Regelung in Deutschland angepasst. Die
Spareinlagen sind, so wie es die Kanzlerin versprochen
hat, sicher, in Deutschland, aber auch in Europa. Wir
wollen dafür sorgen, dass auch Zypern seinen Beitrag
leisten kann, um diese Krise zu überstehen, und zwar
verantwortungsvoll zu überstehen, nicht so, wie Sie,
Herr Dr. Gysi, sich bei Ihrer Rede verhalten haben.
Zum Hilfsantrag für Zypern. 18 Milliarden Euro, dieser Betrag entspricht der Wirtschaftsleistung Zyperns;
nur so viel kann die Volkswirtschaft Zyperns überhaupt
leisten. Es ist doch selbstverständlich, dass ein Land
nicht allein aus Gründen der Solidarität in Europa
18 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt bekommt,
wenn die Schuldentragfähigkeit nicht gegeben ist.
Ich habe die Aussagen einiger Politiker, die der Opposition im Deutschen Bundestag angehören, gelesen.
Manche von ihnen haben gesagt - Herr Dr. Schick, Sie
schauen mich gerade an; das gilt auch für Sie -, dass
man auch die Bevölkerung von Zypern
({6})
- herzlichen Dank für diese Korrektur - und die dortigen
Sparerinnen und Sparer mit heranziehen muss.
({7})
Ich glaube, es ist wichtig, dass man die Bevölkerung beteiligt, damit ein entsprechendes Bewusstsein wächst.
Da Sie gerade den Bundesfinanzminister angesprochen haben: Die Grenze von 100 000 Euro war bei der
Tagung der Finanzminister ein Thema. Man hat sich entschieden, Einkommen und vor allem Spareinlagen der
Bevölkerung unterhalb einer Grenze von 100 000 Euro
nicht anzutasten. Ich denke, dieser Aspekt hat in der
deutschen Diskussion eher dem Populismus und dem
Wahlkampf als einer konstruktiven Diskussion gedient.
In der Vorbereitung auf meine Rede habe ich gelesen,
dass der Kanzlerkandidat der SPD in der Fraktionssitzung trotz dieses so wichtigen Themas nicht einmal anwesend war. Wenn diese Information stimmt, dann frage
ich mich schon, ob die deutsche Opposition verantwortungsvolle Politik für Europa macht.
({8})
Das wird Ihrer Verantwortung nicht gerecht.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
haben vorgelegt, verantwortungsvolle Politik für unser
Land gemacht und gezeigt, wie wichtig es für Europa
und in Europa ist, die Solidarität aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig haben sie allerdings gefordert, dass die Zyprioten auch selbst einen Beitrag leisten. Wir müssen in
Europa die Balance zwischen Solidarität und Solidität
halten.
Ich kann den Wählerinnen und Wählern in meinem
Wahlkreis nicht erklären, warum man die Menschen in
Zypern von der Verantwortung völlig ausnehmen sollte.
Schauen wir uns nur die Höhe der Zinssätze an: In
Deutschland bekam man für zweijährige Anlagen zuletzt
circa 1,5 Prozent Zinsen, in Zypern über 4 Prozent. Da
gilt der Markt, Herr Gysi. Wenn man, bedingt durch höhere Zinssätze, höhere Einkommen hat, muss man natürlich auch das Risiko entsprechend berücksichtigen. Das
tut die Bundesregierung.
({9})
- Das ist kein Unsinn.
({10})
Das sind wirtschaftliche Daten. Das ist Markt. Aber den
Markt haben Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, noch nie verstanden.
({11})
Wir wollen unserer Verantwortung im Sinne der sozialen Marktwirtschaft nachkommen. Wir schützen die
Sparerinnen und Sparer in unserem Land.
({12})
Wir schützen auch die Sparer in Europa; das ist unsere
Aufgabe, und das ist der Auftrag, den wir haben.
({13})
- Das machen wir auch in Bayern.
({14})
Deswegen geht es uns in Bayern ja auch so gut: weil wir
der Verantwortung für die Menschen in unserem Land
nachkommen.
({15})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie
eine Aktuelle Stunde beantragen, dann reden Sie doch
bitte auch zur Sache, und lassen Sie den Populismus
weg! Das wird den Menschen und der Wichtigkeit des
Themas nämlich nicht gerecht.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Aumer, ich will einmal versuchen, zu erklären, worum es geht und wo die Probleme liegen.
Ludwig Erhard hat einmal gesagt: „Wirtschaft ist zu
50 Prozent Psychologie.“ Eigentlich ist das falsch; denn
der Prozentsatz liegt deutlich höher. Im Bereich der Banken und im Zusammenhang mit dem Geld der Sparerinnen und Sparer sind es nach meiner Einschätzung
100 Prozent.
Im Jahre 2008 haben die Bundeskanzlerin und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück eine öffentliche
Erklärung abgegeben, die lautete: Die Spareinlagen der
deutschen Sparer sind sicher; wir garantieren dies. Dieses Versprechen hat auch gewirkt: Es ist nicht zu dem
befürchteten Bank-Run gekommen, sondern die Situation hat sich beruhigt.
Schaut man sich die Einlagensituation in Deutschland
an, stellt man fest, dass bei der Kreditwirtschaft insgesamt Einlagen in Höhe von 2,9 Billionen Euro liegen.
Ein solches Versprechen - „Die Spareinlagen sind sicher“ - kann nur dann funktionieren, wenn die Menschen es auch glauben, wenn ein entsprechendes Vertrauen da ist.
Worauf beruht die Einlagensicherung eigentlich? In
allen entwickelten Ländern bestehen gesetzliche Regelungen. In der EU sind die Mindestanforderungen durch
eine Reihe von Richtlinien geregelt, in Deutschland
durch das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz. Seit Dezember 2010 sind 100 Prozent der
Einlagen bis 100 000 Euro pro Person geschützt. Daneben gibt es Einlagensicherungssysteme der Banken; bei
den Sparkassen sind es Institutssicherungssysteme.
Nun hat es aber im Zusammenhang mit der ZypernKrise einen Tabubruch gegeben, der letztendlich verantwortlich war für das Scheitern des Rettungspaketes. Das
Ergebnis stundenlanger - man kann auch sagen: nächtelanger - Verhandlungen in Brüssel sah vor, dass alle
Kunden zyprischer Banken sich an der Rettungsaktion zu
beteiligen haben. Sparer mit Einlagen bis 100 000 Euro
sollten mit einer Zwangsabgabe zur Kasse gebeten werden. Dass Sparer mit einer Einlage über 100 000 Euro
entsprechend herangezogen werden, versteht sich im
Fall von Zypern, glaube ich, von selbst, wenn man sich
einfach einmal anschaut: Wer legt dort an?
Die Reaktion der Kanzlerin laut Spiegel Online - ich
zitiere wörtlich -:
Damit werden die Verantwortlichen zum Teil mit
einbezogen und nicht nur die Steuerzahler anderer
Länder. Ich finde, das ist richtig.
Anschließend gab es eine heftige Diskussion, weil der
Eindruck entstanden war: Die Einlagensicherung gilt für
Kleinsparer in Zypern nicht. - Wir haben dann vonseiten
der Bundesregierung ein einzigartiges Schauspiel erlebt,
das Schauspiel der zwei Verantwortlichkeiten.
({0})
Diese Bundesregierung in der Person von Kanzlerin
Merkel und Finanzminister Schäuble feiert sich ja gerne
selbst als Euro-Retter. Ich erinnere mich noch sehr genau
an die legendären Worte von Herrn Kauder: „Jetzt wird
in Europa Deutsch gesprochen.“
({1})
Erstaunlicherweise hört man nach dem Zypern-Debakel
nun eine andere Geschichte, die da lautet: Im Fall von
Zypern wird in Europa Griechisch gesprochen.
Mit diesem Ergebnis hatten die Bundeskanzlerin und
der Finanzminister angeblich überhaupt nichts zu tun.
Herr Schäuble legt in seinen Interviews größten Wert auf
die Feststellung, alles sei nur der Wunsch der Zyprer gewesen. Nur, wer einmal genauer hinschaut, stellt fest: Es
war an dem entsprechenden Tag eine Schlussrunde unter
Beteiligung des deutschen Finanzministers, in der diese
Bedingungen beschlossen worden sind. Er wird sich abgestimmt haben mit der Bundeskanzlerin; er saß sozusagen stellvertretend für sie mit am Tisch. Das heißt, Herr
Schäuble hat den Vorschlag Zyperns, auch die Kleinsparer zu schröpfen, akzeptiert.
({2})
Ohne eine deutsche Zustimmung hätte es diesen im Endeffekt desaströsen Vorschlag nicht gegeben.
({3})
Die politische Verantwortung dafür tragen Frau Merkel
und Herr Schäuble.
({4})
Diese Verantwortung bezieht sich nicht nur auf das
Desaster in Zypern. Die Euro-Krise ist dadurch leider
auf einen Schlag mit voller Wucht wieder zurückgekehrt. Mit der Akzeptanz dieses Vorschlags wurden Kollateralschäden weit über Zypern hinaus verursacht: Das
Vertrauen der europäischen Sparerinnen und Sparer in
die Einlagensicherung wurde nachhaltig beschädigt. Wer
garantiert eigentlich den Menschen in Spanien, dass in
kurzer Zeit nicht auch dort die Kleinsparer für marode
Banken haften müssen?
Auch in Deutschland hat es aufgeregte Diskussionen
gegeben. Das Krisengerede ist auch in Deutschland zurück. Dies hat die Bundesregierung zu verantworten.
({5})
Das Wichtigste ist Vertrauen. Dieses Vertrauen hat die
Bundesregierung durch dilettantisches Verhandeln nachhaltig beschädigt.
({6})
Der Kollege Dr. Volker Wissing hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es ist notwendig, dass wir den Menschen in
Deutschland sagen, worum es geht, und nicht Nebelkerzen zünden und irgendwelche Geschichten erfinden.
({0})
Ich finde es unverantwortlich, in einer Krise, in der Vertrauen so viel zählt, durch falsche Äußerungen zu versuchen, Vertrauen zu zerstören.
({1})
Viele Bürgerinnen und Bürger schauen uns zu und
fragen sich: Was ist jetzt mit den Spareinlagen? Deswegen sage ich ganz klar: Die Spareinlagen in Deutschland
sind sicher.
({2})
Die Einlagensicherung ist in der Bundesrepublik
Deutschland selbstverständlich voll gewährleistet.
({3})
Wir haben eine Einlagensicherung, die europäisch geregelt ist. Damit sind bis zu 100 000 Euro pro Anleger
abgesichert. In Deutschland gibt es dafür die Entschädigungseinrichtung der deutschen Banken für die Privatbanken, es gibt die Entschädigungseinrichtung des Bundesverbandes Öffentlicher Banken Deutschlands, und
die Sparkassen und Genossenschaftsbanken haften in ihren Verbünden gegenseitig für die Spareinlagen.
Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund, einen
Zweifel daran zu haben, dass in Deutschland bis zu
100 000 Euro pro Anleger sicher sind. Dahinter steht
auch noch der deutsche Staat, die Bundesrepublik
Deutschland, die die beste Bonität und jederzeit Zugang
zu den Kapitalmärkten hat und zum Glück auch eine
Regierung, die den Haushalt konsolidiert und mit wachstumsfreundlicher Politik Rekordsteuereinnahmen ermöglicht.
({4})
Deswegen muss sich in Deutschland keiner Sorgen
um seine Spareinlagen machen.
({5})
- Wenn Sie Unsinn in dieses Plenum hineinrufen
({6})
und in der Öffentlichkeit Unsinn verbreiten, dann sind
Sie diejenigen, die meinen, Trittbrett fahren und hier
Vertrauen zerstören zu können,
({7})
um billigen Populismus zu betreiben.
({8})
Das ist schäbig und unverantwortlich. Das werden Ihnen
die Bürgerinnen und Bürger nicht honorieren.
({9})
Ich komme jetzt zu Zypern. Liebe Bürgerinnen und
Bürger, die Sie uns auch an den Bildschirmen zuschauen, was ist in Zypern los? Das Land braucht Finanzhilfen in Höhe von 17 Milliarden Euro, die es sich
am Kapitalmarkt nicht mehr leihen kann. Warum nicht?
Weil die Märkte kein Vertrauen mehr in Zypern haben.
Das Land hat einen maroden Bankensektor, der im Übrigen exorbitant hohe Zinsen gezahlt hat und damit in erheblichem Maße Einlagenkapital in das Land gezogen
hat. Wer in Zypern Geld angelegt hat, konnte seit 2008
allein durch Spareinlagen 31 Prozent Gewinn machen.
Seit Beginn der Finanzkrise konnte man in Zypern
31 Prozent Gewinn durch Sparzinsen erreichen!
Jetzt stehen die Banken in einer Schieflage. Das Land
kann nicht helfen, weil es keinen Zugang zum Kapitalmarkt hat. Zypern bekommt die 17 Milliarden Euro
nicht.
Dafür haben wir in Europa vorausschauend Vorsorge
getroffen. Wir haben ein Sicherungssystem, das in diesen Fällen einem Land, das keinen Zugang zum Kapitalmarkt hat, Hilfe leisten kann. Diese Hilfe kann aber nur
in Form eines Kredits geleistet werden. Eine Voraussetzung für Hilfen an Zypern ist, dass Zypern durch diese
Kredite seine Schuldentragfähigkeit nicht verliert.
Die Experten vom IWF, von der EZB und auch von
der Europäischen Kommission haben berechnet, dass
Zypern einen Kredit von maximal weiteren 10 Milliarden Euro bekommen kann. Es bleibt eine Lücke von
7 Milliarden Euro. Diese Lücke muss Zypern jetzt aus
eigener Kraft schließen. Das Land kann kein Geld
drucken; das ist im Euro-System verboten. Das Land
kann diese Lücke von 7 Milliarden Euro nur schließen,
indem es Steuern erhebt.
Von Zypern selbst kam der Vorschlag - Herr Gysi, es
ist nicht wahr, dass der Vorschlag von Deutschland oder
sonst jemandem kam -,
({10})
diese Lücke von 7 Milliarden Euro durch Steuern zu
schließen, nämlich einmal durch eine Kapitalertragsteuer, die etwa 1 Milliarde Euro bringt, und durch eine
Vermögensteuer auf Spareinlagen. Das ist übrigens ein
Konzept für die Vermögensteuer, die die Linken auch für
Deutschland vorschlagen.
({11})
Damit erreicht man in der Summe die fehlenden 7 Milliarden Euro.
Dann hat Zypern gefragt: Seid ihr als Euro-Gruppe
einverstanden, dass wir diese 7 Milliarden Euro durch
Steuern, die wir in Zypern selbst festlegen, erbringen?
Dagegen kann niemand etwas haben. Wie die Steuern erhoben werden und von wem diese Steuern erhoben werden, das entscheidet jeder souveräne Staat selbst.
({12})
Deswegen war das eine Entscheidung der zyprischen
Regierung. Es war die zyprische Regierung, die diesen
Vorschlag in das dortige Parlament eingebracht hat, und
niemand sonst in Europa.
({13})
Jetzt hat das dortige Parlament den Vorschlag der eigenen Regierung abgelehnt. Damit sind wir wieder da,
wo wir waren. Wir dürfen einen Kredit von maximal
10 Milliarden Euro geben, 7 Milliarden Euro fehlen also.
Damit steht die Hilfe für Zypern infrage. Das ist die Situation. Wir können nicht mehr als 10 Milliarden Euro
erbringen, weil ansonsten die Schuldentragfähigkeit nicht
mehr gegeben ist.
Jetzt ist Zypern am Zug. Wie und von wem das Land
Steuern erhebt, muss es selbst entscheiden. Wir können
dabei Ratschläge geben. Wir sind der Auffassung, dass
man bei Kleinsparern eine Ausnahme machen sollte, genauso wie es das europäische Einlagensicherungssystem
vorsieht. Das hat dann natürlich zur Folge, dass man die
Abgabe für die Vermögenderen erhöhen muss.
({14})
Diese kann nicht bei 9,9 Prozent bleiben, sondern dann
käme man auf 15 oder 16 Prozent. Das würden wir gerechter finden. Aber Zypern muss in eigener Souveränität, in eigener Zuständigkeit seine Steuergesetze beschließen.
Herr Wissing.
Das ist nicht unsere Aufgabe. Das ist die Wahrheit. Es
wäre gut gewesen, Sie hätten sie den Deutschen gesagt.
({0})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fakt ist nun einmal, dass es Unsicherheit in Deutschland
gibt. Deswegen hat sich der Kollege Wissing bemüßigt
gefühlt, deutlich zu sagen, dass die Einlagen in Deutschland sicher sind. Deswegen hat auch der Regierungssprecher für die Kanzlerin in den letzten Tagen noch einmal deutlich gemacht: Die Garantie von 2008 gilt.
({0})
Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sich
seit 2008 zum ersten Mal eine Regierung bemüßigt fühlt,
darauf hinzuweisen, dass die Einlagen in Deutschland sicher sind. Damals ging es um die Entscheidung in den
USA, die Bank Lehman Brothers pleitegehen zu lassen.
Es ist auch in diesem Hause immer wieder kritisiert worden, dass ein amerikanischer Finanzminister zugelassen
hat, dass die Menschen Angst um ihre Einlagen haben.
Jetzt haben wir eine ähnliche Situation, die bedingt,
dass man über die Sicherheit der Einlagen reden muss.
Aber diesmal ist es kein US-amerikanischer Finanzminister, sondern ein deutscher Finanzminister, der mit
am Tisch saß. Deswegen müssen wir hier darüber reden.
({1})
Niemand, der diese Debatte seriös führt, würde behaupten, dass der Vorschlag der konkreten Aufteilung
der Belastungen in Zypern von der deutschen Bundesregierung kam. Das zu sagen, wäre falsch. Aber richtig ist
auch - dieser Verantwortung müssen Sie sich stellen -:
Der Bundesfinanzminister war in der entscheidenden
kleinen Runde mit wenigen Personen aus der EuroGruppe, aus der EZB ({2})
- auch Vertreter der Europäischen Kommission sind bei
dieser Troika dabei - mit dabei. Er selber hat uns in den
Fraktionen erklärt, wie dieser Vorschlag zustande kam.
({3})
Dann muss man auch die Frage gelten lassen, wer hier
eigentlich die Verantwortung trägt. Ich zitiere - damit
Sie nicht meinen, das sei nur Parteipolitik - den CDUEuropaabgeordneten Werner Langen. Er spricht von einer unverantwortlichen Nacht-und-Nebel-Aktion und
sagt: Es bleibt rätselhaft, warum der Beschluss von einzelnen Finanzministern nicht blockiert worden ist.
({4})
Genau das ist die Frage, die wir hier stellen: Warum hat
der Bundesfinanzminister diesen Beschluss nicht verhindert?
({5})
Aus dieser Verantwortung kommen Sie nicht heraus.
Dabei können Sie nicht auf Zypern verweisen, sondern
am Ende des Tages steht man in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Situation im Euro-Raum stabil ist.
Warum ist das eben nicht nur eine einseitige Sache? Weil
es Auswirkungen hat. Deswegen ist darüber in dieser
Diskussionsrunde abschließend beraten worden. Aus
dieser Verantwortung kann man sich nicht davonstehlen,
so wie Sie das tun.
({6})
Es gibt noch eine zweite Ebene der Verantwortung.
Warum wird eigentlich monatelang in solchen Runden
über Bankenrettungen in Europa diskutiert? Warum haben wir eigentlich noch immer kein Krisenmanagement,
das in der Lage ist, Banken so zu stabilisieren oder abzuwickeln, dass es eben nicht zu Marktturbulenzen
kommt? Die Banken, über die wir nun reden, haben eine
ähnliche Größenordnung wie Banken in den USA, die
völlig geräuschlos geschlossen wurden und deren gesamte Einlagen für die Kunden sicher waren.
So ist in den USA die IndyMac im November 2008
geschlossen worden. Die Bilanzsumme belief sich auf
32 Milliarden Dollar. Die Einlagen wurden von der dortigen Einlagensicherung gesichert. Es gab keinerlei
Marktturbulenzen. Die Laiki Bank in Zypern hat mit
31 Milliarden Euro in etwa die gleiche Größenordnung.
Warum schafft das bei uns Turbulenzen, und warum haben die Sparer in Europa Angst, während in den USA
solche Banken ohne große Verwerfungen geschlossen
werden können? Weil es dort ein anständiges Krisenmanagement und eine funktionierende Einlagensicherung gibt. Warum haben wir das in Europa nicht? Weil
das Krisenmanagement, für das diese Bundesregierung
zentrale Verantwortung hat, einen entsprechenden Bankenabwicklungsfonds bislang nicht gegründet hat. Aus
dieser Verantwortung kommen Sie nicht heraus.
({7})
Da wir schon bei der Frage sind, wer eigentlich die
Lasten in dieser Krise tragen sollte: Wir Grüne sind der
Meinung, dass es richtig ist, Bankanleihen heranzuziehen. Es ist auch richtig, dort, wo die gesetzliche Sicherung nicht mehr greift, Großanleger, deren Vermögen
sich auf über 100 000 Euro beläuft, heranzuziehen. Alle
anderen Einlagen sind zu schützen.
Was passiert aber wirklich in dieser Krise? Die Menschen, die in Deutschland ihr Geld zur Sparkasse oder
zur Volksbank tragen, bekommen einen Zinssatz, der unter der Inflationsrate liegt. Sie zahlen also für diese
Krise, nicht mit einer konkreten Abgabe, sondern schleichend und kontinuierlich. Der Vorschlag der Grünen
sieht eine Abgabe auf große Vermögen vor, damit wir
zielgerichtet Schulden abbauen können und damit nicht
die kleinen Leute die Kosten dieser Krise tragen müssen.
Hier sieht man genau, wo die Unterschiede im Krisenmanagement in Europa sind. Wir sind für stabile europäische Strukturen, damit wir nicht mehr in eine solche
Situation kommen. Wir sind für eine faire Verteilung der
Lasten.
Danke schön.
({8})
Norbert Barthle hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Schick, dass Sie die Bundesregierung für die Regelung angreifen, für die sich eigentlich die Zyprioten entschieden haben, ist erstaunlich.
({0})
Das weise ich in aller Form zurück. Ich erinnere Sie daran, dass Ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir die Regelung sogar für Kleinsparer mit Einlagen von unter
100 000 Euro gebilligt und gutgeheißen hat. Das können
Sie in den Agenturmeldungen der vergangenen Tage
nachlesen.
Herr Gysi, Sie haben in Ihrer Rede gefragt, welche
Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Ich nenne Ihnen eine
ganz klare: Bei der nächsten Bundestagswahl auf keinen
Fall eine linke Partei wählen! Denn wer links wählt,
wählt die Unsicherheit bei den Sparvermögen.
({1})
Alle, egal ob Linke, SPD oder Grüne, sehen in ihren
Wahlprogrammen die Erhebung einer Vermögensabgabe
oder einer Vermögensteuer vor. Sie unterscheiden sich
zwar bei den Vermögensgrenzen, aber das ist nur eine
Frage der Größenordnung, nicht des Prinzips. Das ist
nichts anderes als ein Zugriff auf die Sparguthaben von
Menschen, die ihr Vermögen bei einer Bank liegen haben. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Dass Sie von der Linken diese Aktuelle Stunde beantragt haben, ist höchst bedenklich; denn Sie schüren
damit völlig unbegründete Ängste bei den Menschen.
({3})
Sie als Jurist müssten wissen, Herr Gysi, dass die Erhebung einer Steuer oder Abgabe nichts mit der Einlagensicherung zu tun hat. Die Einlagensicherung greift erst
dann, wenn ein Institut in den Konkurs geht. Alles, was
wir auf europäischer Ebene machen, dient dazu, gerade
dies mithilfe des Europäischen Stabilitätsmechanismus
zu verhindern. Wir wollen eben nicht, dass die Banken
pleitegehen. Wir wollen, dass weder die kleinen noch
die großen Anleger ihre Einlagen möglicherweise zu
100 Prozent verlieren. Wir suchen nach Lösungen, die
einen Staatsbankrott Zyperns verhindern und das Land
in die Lage versetzen, aus eigener Kraft wieder auf die
Beine zu kommen.
In den Reigen derer, die dieses Thema innenpolitisch
ausschlachten wollen, reiht sich leider auch die SPD ein.
Herr Gabriel sagte vor kurzem, Merkel sei mitverantwortlich dafür, dass in Zypern Kleinsparer die Zeche
zahlen sollen, aber die Bankeigentümer ungeschoren davonkommen.
({4})
Das ist doppelt falsch; denn erstens war es nicht die
Entscheidung von Angela Merkel oder Wolfgang
Schäuble, dass auch diejenigen mit einer Einlage von
unter 100 000 Euro herangezogen werden sollten - das
war eine Entscheidung der Zyprioten -, und zweitens
steht in den Papieren klipp und klar, dass auch die Gläubiger und Anteilseigner der Banken herangezogen
werden sollen. Man muss die Papiere nur lesen. Einen
schönen Gruß an Herrn Gabriel: Lesen macht schlau.
Dann erzählt man nicht einen solchen Mist.
({5})
Im Übrigen hat vor kurzem auch der Kollege Carsten
Schneider gemeint, Eigentümer, Gläubiger und Kunden
der Banken müssten einen maßgeblichen Beitrag leisten:
Wenn die 10 Milliarden Euro brauchen, dann sollen sie
10 Milliarden Euro dort holen, sagte er in der Welt vor
wenigen Tagen. Genau das hat man gemacht. Jetzt
schreien Sie: So haben wir das aber nicht gemeint.
Dann heißt es: Die Grenze von 100 000 Euro haben
wir nicht im Blick gehabt. - Jetzt springen Sie auf den
fahrenden Zug auf und versuchen, aus diesen Vorgängen
innenpolitisch Profit zu schlagen. Ich halte das für schäbig. Sie reihen sich ein bei denen, die ein Merkel- und
Schäuble-Bashing betreiben. Das war eben von den Linken zu hören, das ist ebenfalls von der SPD zu hören,
und das hörte man sogar eben von Herrn Schick.
Merkel- und Schäuble-Bashing: Wissen Sie, was Sie
tun? Sie stellen sich an die Seite der zypriotischen Politiker, die ihrem Volk genau dasselbe erzählen. Ob Sie gut
beraten sind, dieses Bashing zu betreiben, wage ich in
Zweifel zu ziehen.
({6})
Denn die Menschen draußen spüren sehr genau, wer sich
für die Interessen unseres Landes einsetzt und wer aus
billiger Parteipolemik heraus ein Bashing betreibt, das
völlig unangemessen und in der Sache falsch ist.
({7})
Ich kann nur an diejenigen, die in ihrem Parteiprogramm eine Vermögensteuer stehen haben, appellieren, diese zu streichen. Die SPD sagt, das normale Einfamilienhaus werde davon ausgenommen. Sagen Sie den
Menschen die Wahrheit! Was ist ein normales Einfamilienhaus?
({8})
Ist das ein Haus an der nordöstlichen deutschen Grenze,
das man für 150 000 Euro kaufen kann, oder ist das ein
Haus in München, das 1 Million Euro kostet? Was ist bei
Ihnen ein normales Einfamilienhaus? Nennen Sie eine
Größenordnung.
Die Grünen wollen 100 Milliarden Euro durch eine
Vermögensabgabe einnehmen und sagen, dass es aber
keine Vermögen bis zu 1 Million Euro treffen soll. Sie
nehmen aber die Betriebe nicht aus. Diejenigen, die ein
Vermögen von 1 Million Euro haben, liebe Freunde von
den Grünen, sind Ihre Wählerinnen und Wähler, diejenigen, die in den Halbhöhenlagen von Stuttgart wohnen.
Da kostet so ein Haus 1 Million Euro und mehr. Das
sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen.
({9})
Die Leute draußen müssen genau wissen: Wer am
22. September eine dieser Parteien wählt, der wählt den
Zugriff auf die Sparkonten von Menschen.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Carsten
Sieling das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der letzte Beitrag passt in eine Aktuelle Stunde,
({0})
wenn man das Ziel hat, die Leute zu verwirren, und
wirklich alles durcheinanderwirft.
({1})
Herr Kollege, ich darf sagen, dass Sie für Ihre Arbeit
in diesem Hause durchaus Wertschätzung genießen - für
Ihre Arbeit, nicht immer für Ihre Haltung und Ihre Positionen. Aber wenn Sie sich hier hinstellen und uns, den
Sozialdemokraten und den Grünen, vorwerfen, dass die
Pläne für eine Vermögensteuer, bei denen es um Freibeträge von über 1 Million Euro geht, mit dem Plan zu
vergleichen sei, dem die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister zugestimmt haben und demzufolge
auch Leute mit 1 000, 2 000 oder auch 5 000 Euro belangt werden, dann ist das unredlich.
({2})
Deshalb will ich hier sehr deutlich sagen: Wir sind
eindeutig dafür, dass Einleger mit einem hohen Volumen
herangezogen werden. Das muss auch für Zypern gelten.
({3})
Es ist unverantwortlich, was die zypriotische Regierung
dort geboten hat; gar keine Frage.
({4})
Aber es kommt sehr auf die Grenzen an. Da sage ich
mit allem Stolz und aller Gewissheit - ich nehme gerne
das auf, was Sie gesagt haben -: Wenn wir Sozialdemokraten an die Regierung kommen und die Vermögensteuer eingeführt wird, dann wird das im Bereich der privaten Vermögensteuer mit Freibeträgen von deutlich
über 1 Million Euro pro Person
({5})
bzw. von deutlich über 2 Millionen Euro bei Verheirateten einhergehen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Wir sagen deshalb in Bezug auf die Einlagensicherung ganz eindeutig, dass gewährleistet werden muss,
dass alle Einlagen unter 100 000 Euro sicher sind. Der
Kollege Wissing hat sich ja sogar hier hingestellt und an
der Stelle von einer Vermögensbeteiligung gesprochen.
Sie wollen vielleicht mit einer Vermögensbeteiligung
Kleinsparer und kleine Leute heranziehen - wir werden
das nicht machen, meine Damen und Herren.
Uns geht es in der Tat auch um die Frage, wo in der
Debatte um die Stabilisierung des Euro eigentlich die
Bundeskanzlerin gewesen ist.
({6})
- Gestern ist sie aufgetreten, aber nicht in den letzten Tagen während dieses Prozesses.
({7})
Der normale Ablauf ist folgendermaßen: große Inszenierung, Krisengipfel, vorher im Deutschen Bundestag
eine Regierungserklärung, dann eine Reise nach Brüssel,
auf einem Gipfel bis 4 Uhr morgens tagen, herauskomDr. Carsten Sieling
men und niemanden vor vollendete Tatsachen stellen,
sondern nur Bedingungen formulieren.
Dieses Mal: Nichts! Die Bundeskanzlerin war nicht
da, aber sie hat den Bundesfinanzminister machen lassen. Am Freitag war die Bundeskanzlerin da, nachdem
sie sich vorher natürlich eingemischt hatte. Sie hat die
ganz klare Orientierung gegeben: Man kann auf die
Einlagen zugreifen. - Sie hat das erlaubt. Damit ist eine
Unsicherheit in Europa entstanden, die auch nach
Deutschland kommt. Wir müssen uns Sorgen machen
und uns fragen, ob diese Bundesregierung nicht auch
willens und in der Lage wäre, in anderen Ländern - in
Spanien, in Portugal; das wächst sich auch bis Nordeuropa aus - den Zugriff auf Spareinlagen zuzulassen.
({8})
- Da können Sie schreien, so viel Sie wollen: Das bleibt
richtig.
({9})
Ich sage das auch deshalb, weil wir hier über die Sicherheit von Einlagen reden. Nach diesem Vorgang ruht
meine Hoffnung nicht mehr auf der Bundesregierung,
sondern meine einzige Hoffnung ruht darauf, dass im
Deutschen Bundestag und in diesem Land ein ähnlicher
Aufstand und Protest entsteht wie in Zypern.
({10})
Und das ist auch richtig. Wenn Sie mit Vorschlägen
kommen, an die Einlagen zu gehen, dann wird es im
Deutschen Bundestag und in diesem Land Gott sei Dank
einen Aufstand geben. Das, meine Damen und Herren,
macht die Einlagen sicher.
Ich will zum Schluss noch sagen: Heute ist klar geworden, dass die aktuell vorliegenden Vorschläge wohl
noch nicht die Lösung sein können. Wir als Sozialdemokraten legen jedenfalls Wert darauf, dass dann, wenn
man in Zypern zu einer Lösung kommen will, auch diejenigen herangezogen werden, die von diesem Vorgang
profitieren. Es muss dazu kommen, dass diese Oase für
Steuerhinterzieher endlich geschlossen wird.
({11})
Für diese Politik muss sich Deutschland einsetzen. Aber
dass diesbezüglich Druck gemacht wird, konnte man am
letzten Wochenende nicht spüren. Vielmehr ist es zu einer Verunsicherung gekommen. Das ist das Ergebnis.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, das, was zu dem
Thema dieser Aktuellen Stunde hier von der Opposition
aufgeführt wird, ist - übrigens auch gemessen an der
Heftigkeit und Lautstärke - verantwortungslos, und
zwar gegenüber allen Bürgern in diesem Lande.
({0})
Sie reden eine Unsicherheit bezüglich der Bankeinlagen
in Deutschland herbei und beschweren sich dann darüber, dass ein unsicheres Gefühl bei den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland bestünde.
({1})
Das ist vor dem Hintergrund dessen, wie ernst es den
Menschen in diesem Lande um ihr Sparvermögen ist,
wirklich die höchste Form der Verantwortungslosigkeit.
({2})
Ich bin in dieser Hinsicht wirklich erschüttert.
({3})
Herr Kollege Gysi, sich hier hinzustellen und zu behaupten, dass die Entscheidung eines souveränen Staates, nämlich Zyperns, sozusagen eine Entscheidung der
Bundesregierung Deutschlands sei, ist abwegig. Man
könnte fast denken, Sie glaubten, immer noch in Zeiten
eines gewissen Kolonialismus zu leben,
({4})
wo ein Staat einem anderen Staat irgendwelche Vorschriften machen kann und wo souveräne, eigene Entscheidungen der Republik Zypern nichts gelten. Es ist
wirklich abwegig, was Sie hier tun.
({5})
Das Bemerkenswerte an der ganzen Sache ist, dass
Sie in einer Hinsicht wirklich vor Schmerzen schreien
müssten. Die Situation auf Zypern ist nämlich das beste
Beispiel dafür, woher die Unsicherheit hinsichtlich Spareinlagen und Bankguthaben eigentlich kommt. Sie resultiert eben nicht aus dem Einlagensicherungssystem, sondern sie kommt aus einer Steuerpolitik, die gerade die
Opposition in diesem Bundestag fordert: den Eingriff in
die Vermögenssubstanz über die Vermögensabgabe und
die Vermögensteuer.
({6})
Das ist der Grund für die Unsicherheit, die bei den Menschen, bei den Bürgerinnen und Bürgern besteht.
Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Widersprüchlichkeit in
dieser Hinsicht - Sie werfen alles durcheinander und erkennen dabei nicht,
({7})
dass ein Eingriff in die Vermögenssubstanz der Bürgerinnen und Bürger die schlimmste Form der Enteignungspolitik ist - sendet ein klares Signal an die Menschen in diesem Lande.
({8})
Der Eingriff in die Vermögenssubstanz ist die größte Unsicherheit, die in Deutschland für die Bankeinlagen besteht, und Sie von der Opposition fordern dies. Dazu
sollten Sie sich ganz offen bekennen.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es besteht in
Deutschland keine Unsicherheit bezüglich der Bankeinlagen und der Sparguthaben, weil wir Gott sei Dank in
Deutschland eine Regierung und im Deutschen Bundestag eine Koalition haben, die mit einer verantwortungsvollen Finanz- und Haushaltspolitik, die zur politischen
und wirtschaftlichen Stabilität beitragen, dafür sorgen,
dass Deutschland nicht in Schieflage gerät. Dadurch entsteht in Deutschland keine Unsicherheit.
Ich kann die Damen und Herren von der Opposition
wirklich nur auffordern: Lassen Sie das Herbeireden von
irgendwelchen unsicheren Situationen! Es ist allgemein
politisch verantwortungslos. Bekennen Sie sich eben
auch dazu, dass eine vernünftige Finanz- und Haushaltspolitik in Deutschland gemacht wird, die dazu führt, dass
die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land die Sicherheit genießen, die sie bisher genossen haben.
({10})
Andrej Hunko hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst der zypriotischen Bevölkerung und
dem zypriotischen Parlament gratulieren. Das zypriotische Parlament hat am Dienstag Nein zu diesem Vorschlag gesagt und damit einen europäischen Präzedenzfall verhindert. Dafür erst einmal vielen Dank!
({0})
„Willkür in einer Dimension, die nicht mehr in Worte
zu fassen ist“, so fasste der international renommierte
Ökonom Heiner Flassbeck zusammen, was am Freitag
und am Samstag auf dem Gipfel beschlossen worden ist.
Recht hat der Mann. Wer die Ereignisse der Nacht von
Freitag auf Samstag rekonstruiert hat, muss zu dem
Schluss kommen, dass das Auftreten von Schäuble und
Asmussen viel mit Erpressung, aber wenig mit gutem
Umgang unter Demokraten zu tun hat.
({1})
Nicht umsonst ist in den internationalen Medien davon
die Rede, dass ein neokolonialer und neofeudaler Stil in
Europa Einzug gehalten hat - nicht erst seit dieser Woche.
Erinnern wir uns an den Fall Papandreou! Der griechische Ministerpräsident hatte die Idee, über die Auflagen in Griechenland in einem Referendum abstimmen zu
lassen. Er wurde sofort zum Rapport zitiert, das Referendum wurde zurückgezogen, und wenige Wochen später
war der Mann weg vom Fenster. - So schafft man keine
europäische Integration, sondern europäische Desintegration.
({2})
Jetzt will es niemand gewesen sein; das haben wir gerade gehört. „Wir waren es nicht“, hört man aus der Bundesregierung, „der zyprische Präsident war es.“ Einmal
abgesehen davon, dass Herr Schäuble zugestimmt hat
- das wurde hier schon gesagt -: Herr Anastasiades war
Ihr Mann. Sie haben sich dafür starkgemacht, dass er, ein
Konservativer, in Zypern zum Präsidenten gewählt wird.
Warum? Weil mit dem vorherigen linken Präsidenten
Christofias
({3})
so etwas nicht möglich gewesen wäre. Mit dem wäre die
Beteiligung von Kleinsparern genauso wenig möglich
gewesen wie die Verscherbelung der öffentlichen Betriebe an internationale Konzerne.
({4})
Ich sage Ihnen dazu: Kein linker Präsident, keine linke
Regierung irgendwo in Europa würde es zulassen, dass
die Kleinsparer für die Kosten der Krise herangezogen
werden.
({5})
Das Erschütternde der Beschlüsse vom vergangenen
Freitag ist nicht nur der Tabubruch, an die Einlagen der
kleinen Sparer heranzugehen,
({6})
und der Stil, mit dem das durchgesetzt wurde, sondern
auch die Konzeptionslosigkeit, mit der offenbar an die
Krise herangegangen wird. Wir haben eben die Meldung
der Ratingagentur Fitch bekommen. Da wird von
„Durchwurschteln“ gesprochen. Anstatt endlich die Ursachen der Krise anzugehen, die in den deregulierten Finanzmärkten, in der gigantischen Konzentration der
Geldvermögen und in den Konstruktionsfehlern des
Euro liegen, stürzen Sie durch Ihre Austeritäts- und Privatisierungsdiktate und jetzt auch durch den Zugriff auf
die Kleinanlagen ein Land nach dem anderen in die Rezession.
({7})
Schauen wir uns doch einmal um! Griechenland befindet sich nun im sechsten Jahr der Rezession. Das
Land steht am Rande einer humanitären Tragödie. In
Portugal sind vor wenigen Wochen 1,5 Millionen Menschen unter dem Motto „Zum Teufel mit der Troika“ auf
die Straße gegangen. Auch die Wahlen in Italien sind in
diesem Kontext zu sehen.
Jetzt hat in Zypern zum ersten Mal ein Parlament Ihre
Auflagen abgelehnt. Nicht ein einziger Abgeordneter
wollte dem zustimmen. Die International Herald
Tribune schrieb gestern auf der Titelseite: Es gibt einen
Punkt, an dem die Bedingungen, die Deutschland auferlegt, so überdehnt sind, dass die anderen Länder dem
nicht mehr zustimmen werden. - An diesem Punkt sind
wir jetzt. Sie werden als Regierung der europäischen
Desintegration in die Geschichte eingehen.
Gegenwärtig ist viel davon die Rede, dass man eine
isländische Lösung in Zypern anwenden könnte.
Schauen wir uns noch einmal kurz an, was in Island passiert ist: Man hat die Zockerbuden pleitegehen lassen,
stattdessen öffentliche Good Banks eingerichtet, die den
normalen Zahlungsverkehr aufrechterhalten. Man hat
Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Man hat das hohe
nordische Sozialstaatsniveau erhalten. Aber das Wichtigste ist: All das ist in einem intensiven demokratischen
Prozess zustande gekommen. Nach Massenprotesten gab
es Neuwahlen mit dem Ergebnis einer relativ linken
Regierung. Es gab zwei Referenden. Es gab Untersuchungsausschüsse, die die Verantwortlichen des Zusammenbruchs herangezogen haben. Es hat funktioniert,
besser funktioniert, als alle erwartet hatten.
({8})
Von Island lässt sich viel lernen. Kommen Sie endlich
zur Vernunft und erkennen Sie Ihr Scheitern in der bisherigen Krisenpolitik an! Europa wird demokratisch, sozial
und solidarisch sein, oder es wird nicht sein.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bettina Kudla für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! In Ostdeutschland ist die Linke eigentlich
immer sehr engagiert, und manchmal hatte ich schon den
Gedanken, man könnte auch mit der Linken gute Politik
machen.
({0})
Aber nach Ihrer Rede heute, Herr Gysi, haben Sie mir
diese Illusion genommen. Wenn Sie hier schon eine Aktuelle Stunde beantragen, dann hätten Sie sich wenigstens über den Sachverhalt kundig machen können. Sie
verbreiten Falschaussagen und verunsichern die Menschen bewusst. Das ist keine seriöse Politik.
({1})
Es geht darum, die Spareinlagen der Menschen in
Zypern zu sichern. Herr Dr. Schick, die Lage ist nicht so
wie in dem von Ihnen genannten Beispiel aus den USA.
Denn es ist nicht der Fall, dass Zypern noch einen funktionierenden Einlagensicherungsfonds hat und dass der
zypriotische Staat nun einspringen könnte.
({2})
Es droht in Zypern eine Insolvenz der Banken. Dies bedeutet für die Menschen, dass sie unter Umständen ihre
Spareinlagen verlieren könnten. Wir alle wissen, im
Falle einer Insolvenz kommt in der Regel nur eine geringe Insolvenzquote heraus. Dies zeigt übrigens auch,
wie wichtig es ist, dass Staaten sich nicht ständig überschulden, dass sie nicht ständig neue Schulden machen.
Dann wird ein Staat irgendwann handlungsunfähig, weil
er in solchen Krisensituationen nicht mehr eingreifen
kann.
({3})
Lassen Sie mich noch einige Punkte zum Sachverhalt
nennen. Zypern hat ein überdimensioniertes Kreditpaket
beantragt. Ich halte es, auch in Verantwortung gegenüber
allen europäischen Steuerzahlern, für eine verantwortungsvolle Politik der Euro-Gruppe, vorzuschlagen, dass
Zypern einen entsprechenden Eigenbeitrag leisten muss.
Die Form des Eigenbeitrags ist sehr durchdacht. Denn
Zypern grenzt die Krise ein, indem es den Beitrag auf
die betroffenen Banken fokussiert. Das heißt, die Ansteckungsgefahr innerhalb der Euro-Zone wird geringer.
Ich wundere mich schon sehr über die harsche Kritik
an der Beteiligung der Einlagen an dem Rettungspaket.
Es wurde doch kritisiert, dass Zypern eine Steueroase ist
und dass dort angeblich Schwarzgeld gewaschen wird.
Mit dieser Vermögensabgabe trifft man auch alle Anleger, die nicht in Zypern ansässig sind. Es ist also für
Zypern eine gute Möglichkeit, den Eigenbeitrag zu erbringen. Ich betone noch einmal - das hat auch Herr
Barthle gesagt -: Der Vorschlag, Einlagen auch unter
100 000 Euro heranzuziehen, kommt vom zypriotischen
Staat selbst; er kommt nicht aus der Euro-Gruppe. Deshalb muss man auch einen solchen Vorschlag akzeptieren.
({4})
Gerade kam über den Ticker die Meldung, dass man
neue Überlegungen anstellt, beispielsweise den Pensionsfonds von Zypern zu beteiligen.
({5})
An dieser Stelle möchte ich eine Frage an die Linke stellen: Was halten Sie für gerechter: den Menschen ihre
Pension unsicher zu machen oder die Sparguthaben zu
beteiligen? Ich frage dies vor folgendem Hintergrund:
Die zypriotischen Banken haben seit Jahren überhöhte
Zinsen gezahlt, die sie gar nicht erwirtschaften konnten.
Darin liegt ja die Ursache der Krise.
({6})
Das heißt aber, dass eine solche Vermögensabgabe die
Rentner in Zypern nicht schlechterstellt als beispielsweise die in Frankreich oder Spanien. Die Höhe der Vermögensabgabe von 6,75 bzw. knapp 10 Prozent konnte
man in den letzten drei Jahren allein durch die höheren
Zinsen erwirtschaften. Noch einmal zur Verdeutlichung:
Sparer in Frankreich oder Spanien konnten dies nicht.
Die Rolle der Opposition halte ich für verantwortungslos. Sie ist auch unehrlich. In diesem Zusammenhang will ich einmal an die Diskussion über das Steuerabkommen mit der Schweiz erinnern. Da wurde eine
Vermögensabgabe von 39 Prozent vorgeschlagen. Sie
haben das Abkommen mit der Begründung abgelehnt,
39 Prozent seien zu wenig.
({7})
Mit Verlaub, das ist doch keine kontinuierliche Finanzpolitik. Das ist eine kontraproduktive Politik.
({8})
Auch die Rolle des Präsidenten des Europäischen
Parlamentes muss man hinterfragen: Ist die Neutralität
eines Parlamentspräsidenten noch gewahrt, oder wird
dem Kanzlerkandidaten der SPD Schützenhilfe gegeben?
({9})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Carsten Schneider das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Kudla, ich weiß nicht, wen Sie so kennen,
der Konten in der Schweiz hat, um dort Geld zu verstecken. Aber Kleinsparer sind mir diesbezüglich bisher
noch nicht untergekommen.
({0})
Bei der Entscheidung vom Samstagmorgen, an der
der Herr Bundesfinanzminister maßgeblich mitgewirkt
hat - deshalb reden wir heute darüber -, wurde an einer
entscheidenden Stelle ein schwerer Fehler begangen: Es
sollte in Einlagen unter 100 000 Euro, die durch in nationales Recht implementiertes EU-Recht gesetzlich geschützt sind, eingegriffen werden.
Dieser Vorschlag mag zwar nicht von Herrn Schäuble
gekommen sein; aber er hat ihn akzeptiert.
({1})
Der Euro-Gruppen-Chef Dijsselbloem, der - wie einige
andere auch - an dieser Entscheidung ebenfalls beteiligt
war,
({2})
hat sich für diese Entscheidung entschuldigt. Er hat gesagt: Das war ein Fehler.
Ich hätte von Herrn Schäuble und von Ihnen als Vertreter der Koalition erwartet, dass Sie hier deutlich machen: Wir entschuldigen uns dafür. Das war ein Fehler.
Er hat zu großer Verunsicherung in Europa geführt.
({3})
- Herr Volk, Sie haben hier vorhin viel Trara gemacht,
aber wenig zur Sache gesagt.
Zypern hat vor einem Dreivierteljahr einen Antrag
auf Hilfsmaßnahmen gestellt. Das hat die Bundesregierung ein Dreivierteljahr lang nicht interessiert. Sie haben
in keiner Art und Weise Druck auf das Land ausgeübt,
Gläubiger zügig an den Kosten der Rettung zu beteiligen, bevor das Geld abgezogen wird.
({4})
Es gibt überhaupt keinen Dissens darüber, dass das
Geschäftsmodell in Zypern nicht mehr trägt und dass es
sich für ein Land innerhalb der Europäischen Union, in
der Solidarität großgeschrieben wird, nicht gehört, durch
Steuerdumping und eine sehr schwammige Umsetzung
von Geldwäscherichtlinien Steueraufkommen aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Deutschland, abzuziehen.
Diesbezüglich wollen wir einen ganz klaren Stopp.
({5})
Sie haben in dieser Richtung keinerlei Initiativen
ergriffen. Es ist vielmehr alles auf die nächtliche Entscheidung vom vergangenen Wochenende zugelaufen.
Als deutlich wurde, dass es innerhalb des Europäischen
Rates eine Entscheidung gibt, haben wir als SPD gefordert, dass sich die Bundeskanzlerin am letzten Donnerstag hier im Bundestag erklärt. Sie hat es nicht getan.
Die Bundeskanzlerin hat genauso wie der Bundesfinanzminister das Verhandlungsergebnis einschließlich
der Beteiligung von Einlagen unter 100 000 Euro mit
6,5 Prozent gutgeheißen.
({6})
Das war ein Fehler, und es gehört sich, dazu zu stehen.
Carsten Schneider ({7})
Das Vertrauen in die Währungsunion ist ohnehin brüchig, wie man schon beim Zeitunglesen sieht. Sogar
meine Regionalzeitung hat mit der Frage aufgemacht, ob
deutsche Einlagen sicher sind oder nicht. Der Regierungssprecher musste erneut entsprechende Versicherungen abgeben. Dies alles zeigt doch, dass das Verhalten
der Bundesregierung insbesondere angesichts des kleinen Betrages, um den es ging, ein Fehler war.
({8})
Sie hätten auch aus einem anderen Grund schon viel
früher handeln müssen: Seit einem Dreivierteljahr hat
die Europäische Zentralbank die zyprischen Banken über
ihre Notfallmaßnahmen, ELA genannt, finanziert.
({9})
Es hat dazu geführt, dass mittlerweile ein zweistelliger
Milliardenbetrag auf den Konten aufgelaufen ist, mehr
oder weniger als Kredit an die nationalen Banken. Gehen das Land Zypern und diese Banken pleite, müssen
wir für diese Forderung aufkommen; es sind dann direkte Schulden, die wir übernehmen müssen. Das hätte
man verhindern können. Denn genau in dieser Zeit sind
nachrangige Gläubiger dieser Banken, zum Beispiel der
hier zitierten Laiki Bank - sie hätten im Falle einer
Pleite haften müssen -, herausgekauft worden; sie sind
verschwunden. Hier geht es um einen Milliardenbetrag,
der weg ist; auch das haben Sie durch Nichtstun zu verantworten.
({10})
Meine Damen und Herren, die Lage in Zypern ist jetzt
sehr schwierig. Für uns Sozialdemokraten ist klar: Es
muss einen substanziellen Beitrag der Einleger von Beträgen über 100 000 Euro geben - die Einlagen sind im
Durchschnitt viel höher als in Deutschland -; das ist Bedingung. Anders ist eine Schuldentragfähigkeit nicht
herzustellen.
({11})
Das hätte man schneller haben können, und man hätte
es auch ohne Proteste der Zyprer - er kam von den
Kleinsparern - haben können.
({12})
Ein solcher Beitrag wäre, glaube ich, im Parlament
durchgegangen. Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Ich hoffe, dass sich die Verunsicherung auflösen
lässt und wir trotzdem zu einer tragfähigen Lösung kommen.
Vielen Dank.
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Ralph Brinkhaus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vorletzte Bemerkung von Herrn Schneider war noch die
beste: Es ist richtig, dass die Zyprer einen substanziellen
Beitrag leisten müssen.
Es ist aber die souveräne Entscheidung der Zyprer gewesen, wie dieser Beitrag geleistet werden soll; sie ist
jetzt nicht getroffen worden. Uns ist völlig egal, wie der
Beitrag geleistet wird; aber wir - damit meine ich nicht
nur Deutschland, sondern dies ist auch eine Forderung
des Internationalen Währungsfonds - brauchen diese
6 Milliarden Euro, weil Zypern ansonsten trotz Sanierung weiterhin überschuldet wäre.
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Wir
führen hier angesichts der drohenden Insolvenz Zyperns
eine Debatte und reden über die angebliche Schuld der
Deutschen bzw. der Bundesregierung an dieser ganzen
Sache. Das ist so etwas von absurd.
({0})
Ich bin es von linken Politikern nicht anders gewöhnt.
Ich bin jetzt 44 Jahre alt. In den 70er-Jahren haben mir
meine sozialdemokratischen Lehrer erzählt, ich sei
schuld am Hunger und am Elend der Welt.
({1})
In den 80er-Jahren hat mir die Friedensbewegung - auch
links - erzählt, ich sei schuld an einem drohenden Atomkrieg.
({2})
Ende der 80er-Jahre haben mir die Grünen - auch links erzählt, ich sei schuld am Tod der Wale, am Sterben der
Wälder und an explodierenden Kernkraftwerken. In den
90er-Jahren war es die große Schuld Deutschlands, dass
es eine unverdiente Wiedervereinigung gab. Wenn ich
heute, im Jahre 2013, in die freudlosen Gesichter einiger
Vertreter von NGOs schaue, dann weiß ich nicht, woran
ich heute wieder schuld bin. Und jetzt sind wir daran
schuld, dass es Zypern schlecht geht und es keinen Weg
aus dieser Krise findet. Das ist absurd; aber das ist seit
40 Jahren linke Politik in diesem Land.
({3})
Das eigentliche Thema heute ist: Wie können die
Sparguthaben gesichert werden? Dazu kann man eines
sagen: Sparguthaben sind sicher, wenn sich Banken in
Ländern bewegen, die ein funktionierendes Geschäftsmodell voraussetzen,
({4})
und das ist bei Zypern nicht der Fall. Ein Land, das sich
in Europa darüber definiert, Steuervorteile zu gewähren,
das sich darüber definiert, ein vermeintlich sicherer Hafen für irgendwie verdientes Geld aus Osteuropa zu sein,
das sich darüber definiert, dass seine Banken überhöhte
Zinsen zahlen, und das sich darüber definiert, einen
Bankensektor zu haben, der viermal so groß ist wie das
Bruttoinlandsprodukt,
({5})
muss sich nicht wundern, dass ihm die Banken um die
Ohren fliegen und es Probleme mit den Spareinlagen
hat.
({6})
Zweiter Punkt: Wann sind Spareinlagen sicher? Spareinlagen sind dann sicher, wenn Banken vernünftig reguliert werden, und da haben wir in Deutschland etwas gemacht.
({7})
Wir haben dafür gesorgt, dass Banken weniger Fehler
machen, indem wir Großkredite begrenzt haben, indem
wir Verbriefungen reguliert haben, indem wir Ratingagenturen und Vergütungsstrukturen reguliert haben.
Wir hier in Deutschland haben etwas dafür gemacht,
dass die Fehlertragfähigkeit der Banken größer wird durch bessere Eigenkapitalregeln und bessere Liquiditätsregeln. Wir in Deutschland haben etwas für die Sicherheit der Spareinlagen gemacht, indem wir für ein
besseres Aufsichtssystem nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa gesorgt haben. Wir in Deutschland
haben etwas gemacht, damit Spareinlagen in der Krise
nicht gefährdet sind, und zwar mit unserem Restrukturierungsgesetz, mit dem wir übrigens für den Rest der
Welt maßgebend sind. Das gehört zur Wahrheit dazu.
({8})
Wenn Zypern auch nur ansatzweise so gehandelt hätte,
dann gäbe es nicht die Probleme, mit denen wir es heute
zu tun haben.
Der dritte Punkt ist: Wann sind Spareinlagen sicher?
Spareinlagen sind sicher - Herr Kollege Wissing hat es
gesagt -, wenn wir vernünftige Einlagensicherungssysteme haben. Und die haben wir: bei den öffentlichen
Banken, bei den Geschäftsbanken und insbesondere
durch die Institutssicherung bei den Volksbanken und
den Sparkassen.
Jetzt muss man sich fragen: Wer hat denn die Institutssicherung bei Volksbanken und Sparkassen im europäischen Kontext verteidigt?
({9})
Wie sehr sind wir denn für das System, das in Deutschland funktioniert hat, angegriffen worden? Wer hat sich
für dieses System eingesetzt? Wir haben das hier in
Deutschland gemacht, und das war richtig.
({10})
Wenn man sich Gedanken über die Sicherheit von
Spareinlagen und über die Einlagensicherungssysteme
macht,
({11})
dann muss man auch darüber nachdenken, ob die deutschen Einlagensicherungssysteme auch für den Rest Europas aufgrund einer verfehlten Politik in Zypern und in
anderen Ländern gelten sollen. Genau das will unsere
Koalition nicht.
({12})
Wir können am Ende des Tages sehr viel über die Sicherheit von Sparguthaben reden. Aber was nützt mir
das, wenn der Staat mit einem Rollgriff über meine Konten und durch mein Portemonnaie fährt und mein Geld
einsammelt? In diesem Zusammenhang sollten wir uns
auch einmal über die Pläne von Rot-Grün unterhalten.
({13})
Was bedeutet es für die Sparguthaben, wenn die Kapitalertragsteuer erhöht wird? Sie können jetzt schön sagen,
Sie haben einen Freibetrag im Rahmen Ihrer Vermögensabgabe und Ihrer Vermögensteuer vorgesehen. Aber das
ist doch nur der Anfang. Am Ende des Tages wird die
Vermögensteuer und die Vermögensabgabe auch den
Mittelstand betreffen. Das sind normale Anleger, auch
hier gibt es Spareinlagen.
({14})
Wir können das Ganze weiterspinnen:
({15})
Wie sieht es mit den Plänen zur Erbschaftsteuer aus?
Sind davon auch Spareinlagen betroffen, oder sind das
keine Spareinlagen?
Mal abgesehen von den Spareinlagen: Wie sieht es
denn mit den Spitzensteuersätzen aus? Ihr Kanzlerkandidat hat sich nicht dazu geäußert, aber der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD Oppermann, der nämlich
gesagt hat: Mit den höheren Steuersätzen fangen wir
schon bei 64 000 Euro an. - Auch in diesem Zusammenhang können wir uns einmal darüber unterhalten, wie sicher die Einlagen sind, wie sicher sich die Menschen in
diesem Land fühlen.
Mein Fazit ist: Diese Bundesregierung hat für ein
funktionierendes Geschäftsmodell gesorgt. Diese Bundesregierung hat die Banken vernünftig reguliert. Diese
Bundesregierung hat die Einlagensicherungssysteme in
Deutschland verteidigt. Diese Bundesregierung wird
eine Steuerpolitik machen, die die Menschen in diesem
Land nicht enteignet.
Danke schön.
({16})
Ich schließe die Aussprache und beende damit die
Aktuelle Stunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu der Verordnung des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Verordnung zur Markttransparenzstelle für
Kraftstoffe ({1})
- Drucksachen 17/12390, 17/12441 Nr. 2.5,
17/12746 Berichterstattung:Abgeordneter Oliver Krischer
Vorgesehen ist es, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Professor Erik
Schweickert für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Wettbewerb ist der
Kunde König. Wir wissen nicht erst seit dem Abschlussbericht des Bundeskartellamts zur Sektoruntersuchung
Kraftstoffe, dass es im Bereich Sprit keinen ausgeprägten Wettbewerb gibt. Was es allerdings auch nicht gibt,
ist ein wettbewerbswidriges Verhalten der fünf Oligopolisten. Damit ist ein kartellrechtliches Verfahren leider
nicht möglich.
Wir als schwarz-gelbe Regierungsfraktionen möchten
den Kunden aber wieder zum König machen. Deshalb
haben wir es uns zum Ziel gesetzt, den Wettbewerb um
den günstigsten Preis an der Zapfsäule anzukurbeln;
denn Preiswettbewerb führt zu sinkenden Preisen. Wichtig dabei ist, dass der Verbraucher in die Lage versetzt
wird, in diesem Preiswettbewerb mitzuspielen. Dafür
sorgen wir heute in diesem Hause mit der Schaffung der
Markttransparenzstelle und der dazugehörigen Verordnung.
Mein ausdrücklicher Dank gilt dabei dem Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler, der den Vorschlag
der Koalitionsfraktionen aufgegriffen hat. Wir haben
nicht nur vorgeschlagen, die Daten über Einkaufs- und
Verkaufspreise der Tankstellen bei der Markttransparenzstelle zu sammeln. Wir wollen auch, dass die Verbraucher einen Vorteil daraus ziehen, indem die Tankstellenpreise öffentlich zugänglich gemacht werden.
Diesen Vorschlag hat Philipp Rösler aufgegriffen, ein
Gesetz gemacht und somit etwas Gutes für die Verbraucher auf den Weg gebracht.
Die Koalitionsfraktionen haben den guten Verordnungsentwurf noch besser gemacht: Wir haben die Ausnahmen reduziert und dafür gesorgt, dass die Übertragungszeiten der Daten beschleunigt werden. Damit
bringen wir mehr Wettbewerb, mehr Fairness und mehr
Transparenz in den Benzinmarkt. Das hat Rot-Grün in
seiner Regierungszeit nicht geschafft. Sie haben immer
nur geredet, haben aber nichts für den Verbraucher getan. Der Unterschied zwischen Rot-Grün und SchwarzGelb ist: Sie reden, wir handeln, meine Damen und
Herren.
({0})
Wir verpflichten auch die Tankstellenbetreiber, ihre
aktuellen Preise an die Markttransparenzstelle zu melden. Diese gibt dann die Daten an die privaten Anbieter
weiter, welche diese Daten den Verbrauchern zugänglich
machen, entweder im Internet, per App oder per Navi,
ganz wie es die Verbraucher wollen. Denn uns ist besonders wichtig: Die Preisinformationen müssen für die
Verbraucher einfach und schnell abrufbar sein.
Heutzutage vergleichen nur sehr wenige Verbraucher
die Preise an den Tankstellen. Deshalb tanken auch zwei
Drittel aller Autofahrer regelmäßig an der gleichen
Tankstelle. Das wollen und das werden wir nun mit der
Markttransparenzstelle ändern; wir werden das Preisbewusstsein der Verbraucher stärken. Denn bislang werden
die Onlinepreissysteme kaum genutzt. Das liegt insbesondere daran, dass wir eben nicht über flächendeckende
Daten, nicht über valide Daten verfügen. Das ändern wir
mit der Schaffung der Markttransparenzstelle und den
Vorgaben der Verordnung.
Wir machen durch diese Vorgaben den Markt transparent, wir machen den Markt für die Verbraucher durchschaubarer, und wir schaffen eine zuverlässige und umfassende Datenbasis über Preise und Preisänderungen.
Es wird zukünftig ein Kinderspiel sein, die billigste
Tankstelle einer Region zu finden und dort zu tanken.
Das wird dazu führen, dass jeder Tankstellenbetreiber
der billigste sein möchte; denn nur dann wird verkauft,
und zwar nicht nur Sprit, sondern auch die Produkte der
Tankstellenshops, die Umsatz bringen. Deshalb hat jeder
Tankstellenbetreiber ein ureigenes Interesse daran, den
günstigsten Spritpreis anzubieten.
Aus diesem Grunde ist unser Modell der Preistransparenz auch ein gutes Modell für die mittelständischen
Tankstellen. Denn diese waren eigentlich schon immer
die günstigsten Anbieter, nur wussten es die Autofahrer
kaum. Jetzt wird dies aber für alle deutlich werden, und
damit wird die Wettbewerbsposition der mittelständischen Tankstellen gegen die Oligopolisten gestärkt.
Wir geben dem Verbraucher damit das Rüstzeug, sich
zu informieren, zu vergleichen und Geld zu sparen. Damit ist dann auch die Zeit vorbei, in der an der Zapfsäule
abgezockt wurde. Die Preise werden sich in Zukunft
eben nicht mehr nach Feiertagen und Ferienzeiten richten, sondern endlich nach Angebot und Nachfrage.
({1})
Das ist Politik für die Verbraucherinnen und Verbraucher, und das ist Politik für den Mittelstand, und das,
meine Damen und Herren, ist die Handschrift von
Schwarz-Gelb.
({2})
Ingo Egloff hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Frage der Kraftstoffpreise ist eine, die nicht
nur ab und an die Boulevardpresse beschäftigt, sondern
natürlich auch die Bevölkerung; denn jeder, der Auto
fährt, kann an der Zapfsäule feststellen bzw. im eigenen
Portemonnaie merken, was es bedeutet, wenn die Preise
hinauf- und hinuntergehen.
Natürlich gibt es darüber hinaus auch ernst zu nehmende rechtliche Probleme, die damit zusammenhängen, dass man feststellen muss, dass die Benzinpreise
von Tankstelle zu Tankstelle immer im gleichen Rhythmus steigen und sinken, und das in der Regel unabhängig von der Benzinmarke. Dass da der Verdacht aufkommen muss, hier lägen wettbewerbsrechtlich unzulässige
Absprachen bzw. Kartelle vor, mag niemanden verwundern, zumal es heute im Zeitalter elektronischer Datenübertragung ein Leichtes ist, Tausende von Tankstellen
und Zehntausende von Zapfsäulen zentral preismäßig zu
steuern.
Das Bundeskartellamt hat immer wieder Anläufe unternommen, um ein derart wettbewerbswidriges Verhalten nachzuweisen. Bisher war dies leider nicht von Erfolg gekrönt. Die Ölkonzerne weisen darauf hin, dass die
Tankstellenketten rechtlich selbstständig seien. Trotzdem kommen immer wieder Vorwürfe hoch, hier werde
steuernd eingegriffen. Ein anderer Vorwurf, der erhoben
wird, bezieht sich auf die Benachteiligung freier Tankstellen bei den Raffineriepreisen bzw. bei den Abnahmebedingungen.
Den Verbraucher wundert es allerdings schon, dass
die Preise an den Zapfsäulen zum Teil mehrmals täglich
Karussell fahren. Es kommt zu Preissprüngen von bis zu
10 Cent oder mehr. Erinnern Sie sich an selige D-MarkZeiten zurück: Wann hat es damals Preissprünge gegeben, bei denen der Preis um 20 Pfennig oder mehr
hinauf- bzw. hinuntergegangen ist?
Die Konzerne sagen, dass diese Preissprünge mit dem
Spot-Markt in Rotterdam zusammenhängen. Nun weiß
aber jeder, dass die Konzerne das Rohöl nicht just in
time vom Spot-Markt in Rotterdam zu den Tankstellen
bringen, sondern das Rohöl raffiniert werden muss und
es eine Lagerhaltung gibt. Insofern dürfte eine Preissteigerung auf dem Rohölmarkt eigentlich erst dann Auswirkungen für den Verbraucher haben, wenn das, was
damals eingekauft worden ist, verarbeitet und verkauft
wird. Die Tatsache, dass das nicht so ist, führt dazu, dass
die Konzerne an der einen oder anderen Stelle Extragewinne machen.
Mir ist auch nicht verständlich, warum in meiner Heimatstadt Hamburg die Preise im Westen der Stadt von
denen im Osten oder Süden differieren. Warum ist das
Benzin im ärmeren Osten von Hamburg oft teurer als im
wohlhabenderen Westen?
({0})
Das erschließt sich mir nicht; schließlich hängen, glaubt
man den Konzernen, doch alle Preise am Marktpreis für
Rohöl. Der einzige Grund, der mir einfällt, ist der, dass
im reicheren Westen mehr getankt wird - ein Porsche
Cayenne schluckt mehr als ein VW Lupo - und der Preis
im Osten insofern höher sein muss, als die verkaufte
Menge dort geringer ist.
Bleiben wir ernsthaft. Für den Verbraucher ist die Situation nicht mehr zu überblicken.
({1})
- Nun werden Sie doch nicht nervös. Ich komme ja noch
darauf zu sprechen, dass ich Ihren Entwurf auch ganz
gut finde. - Für den Verbraucher ist die Situation nicht
mehr zu überblicken, so schnell wechselt der Preis. Eine
Regulierung des Marktes über das Verbraucherverhalten
ist daher bisher nicht möglich. Es kann ja schlechterdings nicht verlangt werden, dass jeder Marktforschung
betreibt. Auch die Möglichkeiten, aktuelle Preise festzustellen, sind bisher trotz Internet begrenzt, und eine
Preisforschungsreise von Tankstelle zu Tankstelle unternimmt niemand. Ein Kollege hat gesagt, dass zwei Drittel der Verbraucher immer an derselben Tankstelle tanken. Ich habe irgendwo gelesen, dass 40 Prozent dann
tanken, wenn sie tanken müssen, und zwar unabhängig
vom Preis. Das zeigt, dass das Verhalten des Verbrauchers nicht vom Preis abhängt. Das ist gut für die Konzerne, aber schlecht für den Wettbewerb und schlecht für
die Marktwirtschaft.
Hier regulierend einzugreifen, ist Aufgabe der Politik.
Natürlich könnte man angesichts der Benzinpreise auf
die Idee kommen, den Steueranteil zu senken. Ich halte
das für eine schlechte Idee. Ich glaube, dann würde nur
der Profit der Konzerne größer werden; aber der Verbraucher hätte nichts davon. Das wäre nicht das, was wir
alle wollen.
Eine staatliche Festsetzung der Preise scheidet in einer Marktwirtschaft meines Erachtens auch aus.
Das Bundeskartellamt hat in seiner Sektoruntersuchung im Bereich Kraftstoffe die Marktstrukturen eingehend analysiert und Wettbewerbsdefizite aufgrund der
hohen Marktkonzentration festgestellt. Wörtlich heißt
es:
Wegen dieser unverändert fortbestehenden oligopolistischen Marktstruktur sowie der Homogenität
von Kraftstoffen und der hohen Transparenz der
Preise für Wettbewerber ist es gerechtfertigt, dass
eine Behörde die Preisveränderungen im Tankstellensektor eingehender betrachtet.
In dem entsprechenden Gesetzentwurf heißt es:
Ziel des Gesetzes ist es daher auch, die Preisbildung bei Kraftstoffen im Hinblick auf ihre Wettbewerbskonformität zu beobachten. Eine zentrale
behördliche und laufende Marktbeobachtung soll
die Aufdeckung und Sanktionierung von Kartellrechtsverstößen erleichtern.
Das teilen wir ausdrücklich. Das unterstützen wir.
({2})
Nun haben wir in der Anhörung Beispiele aus anderen Ländern kennengelernt: Zum Beispiel dürfen in
Österreich und Westaustralien nur einmal am Tag VeränIngo Egloff
derungen vorgenommen werden. In der Anhörung wurde
gesagt, das sei nicht zielführend. Das hätte nicht den
Erfolg gehabt, den man sich davon versprochen hat. Das
hat sich mir nicht ganz erschlossen. Ich denke, wir sollten das im Maßnahmenköcher lassen für den Fall, dass
die Einrichtung einer Markttransparenzstelle nicht den
Erfolg hat, den sich alle davon versprechen.
Die Schaffung einer Markttransparenzstelle ist der
Versuch, die Konzerne und alle, die in nennenswertem
Umfang Kraftstoffe verkaufen, zu zwingen, jede Preisveränderung zu melden. Dies ist lästig, zumindest dann,
wenn die Meldung nicht für alle Verkaufsstellen einer
Kette gleichgetaktet erfolgt. Dieses Problem kann man
EDV-mäßig lösen.
Etwas anderes kann aber die Folge sein: Wenn durch
diese Meldungen offenbar wird, in welch kurzen Abständen herauf- und herunterreguliert wird, und wenn
das, was wir bisher nur gefühlsmäßig zu wissen glauben,
durch Zahlen dokumentiert ist, könnten die Konzerne in
Erklärungsnot kommen: Warum wird das so vorgenommen? Dann sind sie gegenüber dem Verbraucher in
stärkerem Maße als gegenwärtig zur Rechenschaft verpflichtet. Dadurch wird der Druck auf die Konzerne größer, zu begründen, warum sie diese Maßnahme zu einem
bestimmten Zeitpunkt ergreifen. Das gilt insbesondere,
wenn das Kartellamt zur gleichen Zeit Veränderungen
am Rohölmarkt beobachtet.
({3})
Wir denken, dass es den Versuch wert ist, mit einem
vergleichsweise milden Eingriff zu versuchen, Transparenz zu schaffen, um entweder Ansatzpunkte für eine
entsprechende Regulierung zu haben oder allein mit der
Meldepflicht ein verändertes Marktverhalten der Konzerne zu veranlassen.
Darüber hinaus besteht für die Verbraucher die Möglichkeit - darauf haben Sie hingewiesen -, bei den Verbraucherinformationsdiensten die aktuellen Kraftstoffpreise zu erfahren. Es ist eine Erleichterung gegenüber
der jetzigen Situation, wenn man sehen kann, welche
Tankstelle in der Nähe den günstigsten Preis hat.
Wir werden also der heute zur Beschlussfassung anstehenden Verordnung zustimmen, sind aber gespannt
darauf, ob das System den Erfolg hat, den wir uns alle
zusammen davon versprochen. Wenn nicht, sehen wir
uns an dieser Stelle wieder und werden dann über andere
Maßnahmen beraten müssen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({4})
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich
freue mich, dass wir hier offenbar doch noch in der Lage
sind, energiebezogene Themen zu diskutieren, ohne dass
der gesamte Saal auseinanderfällt, dass im Gegenteil
sehr erfreulich dokumentiert wird, dass es auch Themen
gibt, zu denen man mit großer Einigkeit Maßnahmen ergreifen kann.
In der Tat sind Kraftstoffpreise für den ländlichen
Raum ein besonderes Thema. Dort besteht Zwangsbedarf, weil man sich Mobilität dort nur individuell
sichern kann. Deshalb sind die Verbraucherinnen und
Verbraucher insbesondere im ländlichen Raum in einer
Zwangslage.
Nun hat der Kollege Egloff in einer exzellenten Art
und Weise den Markt und die Problematik beschrieben.
Konzentration bzw. Oligopole sind in der Marktwirtschaft natürlich ein Problem. Wenn homogene Güter dazukommen, ist das Problem noch sehr viel größer. Ich
pflichte dem Kollegen ausdrücklich bei, dass eine Steuersenkung - Steuern machen einen erheblichen Teil des
Spritpreises aus - angesichts der vermachteten Strukturen am Schluss von den Konzernen wieder kassiert werden würde. Dass wir das nicht wollen können, ist, glaube
ich, jedem klar.
Ich habe gemeinsam mit den Kollegen verschiedentlich überlegt, was man tun kann. Dabei sollten wir stufenweise vorgehen und das australische Modell erstmal
im Köcher lassen. Es gibt aber Modelle wie das österreichische, die schon spieltheoretisch Unfug sind. Das betrifft die Idee, einmal am Tag den Preis festzusetzen und
dann die Möglichkeit zu haben, herunterzugehen. Jeder
weiß doch, was dann passieren wird: Zuerst einmal wird
ein hoher Preis festgesetzt, und dann versucht man, das
wieder schön herunterzuskimmen. Das hilft an dieser
Stelle sicher auch nicht weiter.
Ich glaube, dass es, wie es der Kollege Egloff beschrieben hat, sehr wohl richtig ist, zunächst den Weg eines geringeren Eingriffes zu wählen; dabei geht es um
mehr Transparenz. Diese Transparenz herzustellen,
sollte ursprünglich dem Kartellamt vorbehalten sein.
Das Kartellamt hat im Rahmen seiner Sektoruntersuchung zu Recht seine Sorgen kundgetan und gesagt: Wir
müssen das noch genauer beobachten, brauchen mehr
Informationen. Zumindest die synchron verlaufenden
Preisbewegungen sind merkwürdig - ich will mich an
dieser Stelle juristisch vorsichtig ausdrücken.
Diese Transparenz herzustellen, ist das eine. Die andere Seite besteht darin, dass man hier die Chance genutzt hat, diese Transparenz dann auch für den Verbraucher herzustellen; das ist eine gute Geschichte. In diesem
Zusammenhang nutzen wir die aktuellen Technologien
bzw. die aktuellen Möglichkeiten. Insofern können wir
dafür Sorge tragen, dass derjenige, der beispielsweise
direkt im Auto ein Smartphone hat oder das am PC
machen will, in Echtzeit die Chance hat, zu sehen, wo
die nächstgelegene günstigste Tankstelle ist. Das halte
ich für einen ganz entscheidenden Fortschritt hin zu
mehr Transparenz.
Ich will auch deutlich herausstellen, dass es uns nicht
daran gelegen ist, bestehende Geschäftsmodelle zu zerstören. Nicht der Staat, die Bundesnetzagentur, das Kartellamt oder wer auch immer übernimmt diese Aufgabe,
sondern wir organisieren das so, dass diejenigen, die bisher ein solches Geschäftsmodell hatten und im Internet
auf diesem Wege Content lieferten, dieses Geschäftsmodell weiter nutzen können. Meine Damen und Herren,
60 interessierte Anbieter haben sich schon beim Bundeskartellamt gemeldet und mitgeteilt, dass sie vermitteln
wollen. Das ist doch ein deutlicher Beleg dafür, dass wir
auch wirtschaftlich gesehen auf einem guten Weg sind.
Ich füge natürlich dazu - man muss ein bisschen vorsichtig sein, dass das nicht zu ironisch klingt -: Ein bisschen Sorge macht mir die Transparenz, und zwar deshalb, weil man die Konzerne von der Notwendigkeit
befreit, sich die Preise der Konkurrenz von ihren Tankwarten zu besorgen. Transparenz kann man ja nicht beschränken, indem man sagt: Sie ist nur für den Verbraucher da. - Da ist natürlich auch für die andere Seite ein
bisschen Musik drin. Entscheidend ist aber nicht, wie die
Konzerne die Informationen behandeln, sondern, wie sie
sich verhalten. Wenn sie sich so verhalten, dass man
sieht: „Da steckt wieder System dahinter; es geht wieder
darum, die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuzocken“, dann muss man sich in der Tat ernsthaft Gedanken darüber machen, wie man an dieser Stelle eingreift.
Ich will deutlich hervorheben, dass wir auch an die
Tankstellenbesitzer gedacht haben. Uns als wirtschaftsfreundlicher Koalition lag natürlich am Herzen, niemanden übermäßig zu belasten. Das gewährleisten wir unter
anderem durch die Härtefallregelung, die wir in die Verordnung eingebaut haben. Tankstellenbetreiber können
auf Antrag von der Meldepflicht befreit werden, wenn
die Einhaltung dieser Pflicht für sie „eine unzumutbare
Härte“ darstellen würde. Ein Beispiel: Der 67-jährige
Tankstellenbesitzer, der weiß, dass er sowieso in naher
Zukunft aufhört, muss diese Auflage natürlich nicht erfüllen. Hier greift die Härtefallregelung. Außerdem haben wir die Regelung getroffen, dass auch die Betreiber
kleiner Tankstellen mit weniger als 750 Kubikmeter Gesamtdurchsatz von Otto- und Dieselkraftstoffen im Jahr
- das betrifft nach Marktschätzungen angeblich 400 bis
500 Tankstellen - von der Meldepflicht befreit werden
können.
({0})
- Der Kollege sagt es zu Recht: Wenn sie wollen. Das
heißt, Betreiber, die sich freiwillig entscheiden, dieser
Pflicht nachzukommen, weil es auf dem Markt auch ein
Vorteil sein kann, wenn man dokumentiert, dass die eigene Tankstelle, obwohl sie klein ist, preislich leistungsfähig ist, können und dürfen das natürlich tun. Das ist
aus meiner Sicht ganz wichtig.
Ich will ganz besonders betonen, dass ich nicht der
festen Überzeugung bin, dass dies das Problem löst.
Aber ich bin der festen Überzeugung, dass dies den
Wettbewerb befördert und die negativen Eingriffsmöglichkeiten der Konzerne einschränkt; denn so sind sie
leichter zu beobachten. Man kann deutlicher und schneller erkennen, ob da irgendetwas nicht stimmt.
Insbesondere die Preis-Kosten-Schere ist immer wieder ein Thema. Hier geht es darum, dass Dritte zu
schlechteren Konditionen als die eigenen Tankstellen beliefert werden. Das ist in diesem Bereich ein Riesenthema. Es ist nicht leicht, dieses Problem zu lösen.
Allerdings besteht das große Risiko, dass freie Tankstellen diskriminiert werden, während die eigenen einseitig
bevorzugt werden. Das kann man in Zukunft natürlich
leichter erkennen. Meine Damen und Herren, ich meine,
dass wir mit der Einrichtung einer Markttransparenzstelle eine gute Basis geschaffen haben, um den Markt
weiter beobachten und hoffentlich auch verhindern zu
können, dass es erneut zu extremen Preissprüngen
kommt.
({1})
Leider muss ich dazusagen: Bis Ostern wird die
Markttransparenzstelle nicht eingerichtet sein.
({2})
Wer jetzt kritisiert: „Die Politik hat zwar etwas gemacht,
aber an Ostern kommt es wieder zum selben Problem“,
der verkennt die Tatsache, dass es natürlich nicht so
schnell geht, dass wir hier beraten und alles schon an Ostern funktioniert. Die Markttransparenzstelle muss zunächst einmal installiert werden; dadurch werden der
Branche übrigens Investitionen in Höhe von 6 Millionen Euro abverlangt. Sie wird mit Sicherheit Wirkungen
entfalten, die wir genau beobachten werden. Dann werden wir, daran anknüpfend, entscheiden, welche weiteren Maßnahmen wir treffen müssen, um diesen Markt,
der vermachtet und hochproblematisch ist, an den aber
viele Millionen Bürger gewissermaßen angekettet sind,
so zu verändern, dass wir unser Ziel, für mehr und bessere soziale Marktwirtschaft zu sorgen, erreichen.
Ich möchte ausdrücklich sagen: Die Vorschläge, die
von der linken Seite dieses Hauses manchmal in die Diskussion eingebracht werden, dass staatlicherseits etwas
getan werden sollte, sind keine Option.
({3})
Das macht es nämlich mit Sicherheit nicht besser.
In diesem Sinne: Vielen Dank fürs Zuhören.
({4})
Für die Linke hat die Kollegin Johanna Voß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Osterfest steht bevor. Damit jährt sich der Anlass für die
Einrichtung dieser Markttransparenzstelle; die Vorschläge sind jetzt schon ein Jahr in der Beratung.
Auch dieses Jahr - davon können wir ausgehen werden die Benzinpreise pünktlich mit der Reisewelle zu
Ostern steigen. Auch diesmal wird das Bundeskartellamt
nicht in der Lage sein, den Mineralölkonzernen Preisabsprachen nachzuweisen. Solche - illegalen - Preisabsprachen sind gar nicht nötig, wo doch ein Blick auf die
Preistafeln der Konkurrenz reicht.
Der Präsident des Bundeskartellamts, Herr Mundt,
hat resigniert.
({0})
Er hat in einem Interview erklärt: Die Konzerne haben
seit Jahren ein effektives System gefunden, mit dem sie
- ich zitiere ihn - „gefahrlos Preiserhöhungen durchsetzen können“. - Das ist so nicht hinzunehmen.
({1})
Nun kommt die Bundesregierung mit einer Scheinlösung für dieses Problem: Eine Markttransparenzstelle
soll eingerichtet werden. Die offenkundige Marktmacht
der fünf Oligopolisten wird aber bleiben, und sie werden
diese zu nutzen wissen. Was ist geplant? So gut wie jede
Tankstelle - es gibt rund 15 000 - soll in Echtzeit Preise
und Preisänderungen an das Bundeskartellamt übermitteln. Diese Infos werden dann an Verbraucherinformationsdienste weitergeleitet. Diese betreiben Preisvergleichsprogramme und bieten ihre Informationen für
Navigationssysteme oder Smartphones an, eine App. Die
Autofahrerinnen und Autofahrer sollen dann die günstigsten Tankstellen ansteuern. - Das soll das System der
gefahrlosen Preiserhöhung aushebeln.
Das ist eine naive Hoffnung. Praktisch ändert sich damit nichts an der Macht der Mineralölkonzerne. Das einstudierte Muster der Preissprünge - meist nach oben wird eher noch erleichtert. Transparenz ist nämlich - das
wurde eben schon festgestellt - keine Einbahnstraße: So
werden auch die großen Tankstellenbetreiber das System
nutzen und die Preise noch einfacher steuern können.
({2})
Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Spritpreise
trotz Markttransparenzstelle steigen; darauf haben die
Experten in der Anhörung im Wirtschaftsausschuss
schon hingewiesen.
({3})
Selbst die Regierung scheint an die preisdämpfende
Wirkung nicht recht zu glauben. Von Herrn Röslers vollmundigen Erklärungen zur Spritpreiskontrolle bleibt nur
die Hoffnung auf eine - ich zitiere wiederum - präventive Abschreckungswirkung, die die Preistreiber zur Räson bringen soll. - Das ist lachhaft bei dem Aufwand
und den Kosten, die dieses Gesetz mit sich bringt.
({4})
Für die Bürgerinnen und Bürger wird dieses Verfahren generell teuer. Schon der zusätzliche Verwaltungsaufwand geht in die Millionen. Das zahlen die Steuerzahler. Außerdem haben die Mineralölkonzerne bereits
angekündigt, dass sie die Kosten für diese Umstellung
und die dauerhafte Bürokratie auf die Preise für Benzin
und Diesel aufschlagen werden.
({5})
Die engmaschige Preismeldepflicht soll auch die Datengrundlage der Kartellbehörde verbessern. Ein ganz
entscheidender Teil hierzu wurde aus der Verordnung jedoch herausgenommen: Ursprünglich sollten auch die
Großhandelspreise der Raffinerien gemeldet werden.
Das hätte Sinn gemacht; dann hätte das Kartellamt wenigstens leichter überprüfen können, ob Aral, Esso oder
Shell die freien Tankstellen beim Mineralölverkauf diskriminieren. Leider wird nichts daraus; denn ganz im
Sinne der Mineralölindustrie wurde dieser Punkt in der
weiteren Beratung des Gesetzes als zu bürokratisch fallen gelassen.
Dr. Nüßlein, bevor es zu den Härtefallregelungen
kam, für die Sie sich so gerühmt haben, mussten sich die
freien Tankstellen erst beschweren. Das kam nicht direkt
von Ihnen.
({6})
Es wird für die Autofahrerinnen und Autofahrer in
der Praxis nicht leicht sein, zu einem Preisvorteil zu
kommen. Nehmen wir einmal an, das Smartphone oder
Navi - die erforderliche Technik, um die Kraftstoffpreise
in der Umgebung in Echtzeit vergleichen zu können hat ausgerechnet, dass sich trotz des entsprechenden
Benzinverbrauchs der Umweg zu einer weiter entfernten
Tankstelle, an der das Benzin billiger ist, lohnt. Nehmen
wir weiter an, die Autofahrerinnen und Autofahrer haben auch noch die Zeit für diesen Umweg und machen
sich auf den Weg. Nun kann es sein, dass sie, dort angekommen, feststellen müssen, dass der Benzinpreis
- schwups! - in der Zwischenzeit schon wieder erhöht
worden ist. - Das ist doch absurd. Nach dem Willen der
Regierung bleiben beliebig viele Preisänderungen pro
Tag möglich. Was bringt denn das dann?
Natürlich bringt die Meldepflicht etwas mehr Transparenz. Wenn man die nötige Technik und die Zeit hat,
kann man diese Transparenz nutzen und spart am Ende
des Tages vielleicht ein paar Euros. Das Grundproblem
bleibt aber: Bei Schwarz-Gelb soll allein der Verbraucher die Extraprofite der Mineralölkonzerne verhindern.
({7})
Die Koalition entzieht sich ihrer Verantwortung, angemessen zu regulieren; sie lässt den Verbraucher im Regen stehen. Sie übersetzt Verbrauchermacht allein mit
Zugang zur Information - ganz wie es in der Theorie des
freien Marktes vorgesehen ist. In der Praxis ist das völlig
untauglich.
Ich frage Sie: Wie mächtig ist der Verbraucher angesichts der marktbeherrschenden Stellung der fünf großen
Konzerne mit der Tankstellen-App? Preishopping im
Centbereich wird die vermachteten Strukturen kaum auflösen können. Die Konzerne sind breit aufgestellt, und
die Markttransparenzstelle setzt nur beim allerletzten
Glied in der Wertschöpfungskette an. Die Konzerne machen ihre Gewinne aber bei der Förderung, beim Transport, in der Raffinerie, beim Handel und als Letztes eben
an der Tankstelle.
({8})
Transparenz nur an der Tankstelle ist aber keine Transparenz.
({9})
- Das kommt gleich.
Wo liegt angesichts der ökologischen Grenzen die
Macht des Verbrauchers durch den Preisvergleich? Wir
alle wissen, dass der Spritpreis vom Ölpreis abhängt,
und der steigt, weil wir es mit realen Knappheiten zu tun
haben, die obendrein die Spekulationen an der Börse anheizen.
Bezahlbar bleibt Energie langfristig aber nur durch
sinkenden Verbrauch und eine schnelle Energiewende.
Wir müssen uns schlicht unabhängiger von fossilen
Energieträgern machen. Darum geht es doch, und darum
muss es uns doch gehen.
({10})
Wie mächtig sind Verbraucherinnen und Verbraucher,
wenn sie zwar Preise vergleichen können, aber kaum
gleichwertige Alternativen zum Auto haben? Wir brauchen neue, umweltverträgliche und kostengünstigere
Formen der Mobilität. Das wäre es dann!
({11})
Wir brauchen ein gutes, solidarisch finanziertes öffentliches Verkehrsnetz für nah und fern und brauchbare
Rad- und Fußwege. Wir brauchen eine Stadtplanung, die
den Nahraum stärkt, sodass nahezu alle die Möglichkeit
haben, ohne eigenes Auto ans Ziel zu kommen.
({12})
Das wäre eine sozial-ökologische Alternative, und dahin müssten die Überlegungen gehen.
({13})
Die Zeiten billiger fossiler Energie sind vorbei, auch
wenn der Boom beim riskanten unkonventionellen Öl
und Gas für einen kurzen Zeitraum einen äußerst
schmutzigen Aufschub gewährt. Scheinlösungen wie die
Markttransparenzstelle, die nur als Wahlkampfhit dienen
soll, helfen uns hier nicht weiter. Sie reichen nicht aus.
Lassen Sie uns einen sozial-ökologischen Umbau auch
für den Verkehr anfangen!
Danke schön.
({14})
Jetzt hat Oliver Krischer das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Schweickert, Transparenz ist richtig und gut,
und diese Markttransparenzstelle trägt auch dazu bei,
dass das ganze System des Kraftstoffmarkts insgesamt
etwas durchsichtiger wird. Aber zu glauben, dadurch
würde auch nur ein Problem gelöst - Herr Nüßlein hat
das richtig gesagt -, wie Sie das dargestellt haben, ist
meines Erachtens eine absolute Illusion. Bestenfalls
werden wir das Problem in Zukunft besser beschreiben
und vielleicht dagegen vorgehen können, aber dass Sie
damit ein Problem lösen und dass dadurch das Paradies
am Kraftstoffmarkt ausbricht, ist doch nun wirklich eine
sehr überhebliche Darstellung.
({0})
Ich sage Ihnen Folgendes: Sie debattieren das Thema
jetzt, wenn ich das richtig im Kopf habe, zum dritten
Mal. Zum dritten Mal führen wir für diese Verordnung
eine Plenardebatte durch,
({1})
und wir haben eine Regierungsbefragung dazu durchgeführt. Das zeigt mir: Sie wollen kurz vor Ostern - wenn
man herausguckt, hat man nicht das Gefühl, dass wir
bald Ostern haben -, wenn die Debatte über die Preise an
den Tankstellen wahrscheinlich wieder losgeht, hier ein
bisschen Show machen,
({2})
um zu zeigen, dass Sie etwas tun. Den Anforderungen
werden Sie aber überhaupt nicht gerecht.
Die Anforderungen hat Ihr Wirtschaftsminister Rösler
selber gesetzt, als er sich in der Bild-Zeitung hat zitieren
lassen. Ich gebe das einmal wieder:
Da
- bei den Spritpreisen Oliver Krischer
hat sich über die Jahre einiges verzerrt. Das werde
ich ändern. Das ist ein Versprechen an die Verbraucher.
({3})
Dieses Versprechen hat er ja wohl gebrochen, weil
diese Smartphone-App, die Sie hier mit der Verordnung
vorlegen, ja wohl keine Lösung für das Problem ist. Das
bringt uns an dieser Stelle bestenfalls etwas mehr Transparenz, aber keine Gerechtigkeit an den Tankstellen.
({4})
Solche Dinge wie die Smartphone-App, die Sie hier
jetzt in Form der Verordnung beschließen lassen, gibt es
schon lange, zum Beispiel clever-tanken.de. Auf diesen
Portalen können Sie sich das alles ansehen. Das wird
jetzt vielleicht etwas besser, weil die Daten aktueller
sind,
({5})
aber dass Sie damit etwas Neues schaffen, kann ich nun
überhaupt nicht sehen.
Wenn das alles so auf der Hand liegt und selbstverständlich ist, wie Sie das hier jetzt darstellen, dann
staune ich darüber, dass Sie eine ganze Legislaturperiode
gebraucht haben, um uns Ihr Konzept vorzulegen. Warum haben Sie das denn nicht gleich gemacht?
({6})
Warum brauchen Sie einen Verordnungsentwurf mit
35 Seiten, um das Ganze zu beschreiben? Sie wollten
doch einmal die Bürokratie abbauen. Jetzt aber legen Sie
uns ein - ich sage es einmal so - sehr umfängliches Papier vor, was das Gegenteil von Bürokratieabbau ist.
Herr Krischer, möchten Sie zwei Zwischenfragen zulassen, nämlich die von Herrn Schweickert und die von
Herrn Nüßlein?
Gern.
Das scheint mir der Fall zu sein. Dann beginnt Herr
Dr. Schweickert.
Herr Kollege Krischer, vielen Dank für das Zulassen
einer Zwischenfrage. - Darf ich Sie darauf hinweisen,
dass wir den Verordnungsentwurf nicht, wie Sie dargestellt haben, hier zum dritten Mal debattieren, sondern
zum ersten Mal? Der Grund, warum wir hier einen Verordnungsentwurf vorlegen, ist der, dass wir bereits ein
Gesetz auf den Weg gebracht haben, damit sich die
Branche darauf einstellen konnte, damit die Ausschreibungen für den IT-Bereich und sonstige Sachen schon
anlaufen konnten und damit man genau die Punkte, um
die es im Detail ging, klären kann, sodass man nicht
noch Ewigkeiten braucht, bis diese Verordnung mit dem
Gesetz Wirkung entfaltet. Geben Sie mir in dem, was ich
gerade gesagt habe, recht?
Herr Kollege Schweickert, der Verordnungsentwurf
ist hier eingebracht worden. Bevor er eingebracht wurde,
hat die Bundesregierung eigens eine Regierungsbefragung zu diesem Thema durchgeführt. Das heißt, wir haben uns schon eine ganze Stunde im Plenum mit diesem
Thema auseinandergesetzt. Dann haben wir uns im Ausschuss mit diesem Thema beschäftigt. Jetzt machen Sie
schon wieder eine Debatte dazu. Wenn wir zu jeder Verordnung - da gibt es meines Erachtens wahrlich wichtigere - so viele Debatten machen würden, dann wäre das
ein wirklicher Fortschritt. Aber ich glaube, Sie wollen
hier nur eine Show abziehen,
({0})
damit Sie draußen deutlich sagen können: Wir tun etwas
gegen hohe Benzinpreise. - In der Sache selber haben
Sie nichts weiter erreicht.
({1})
Herr Nüßlein, bitte.
Herr Kollege Krischer, ich habe Ihrer Rede aufmerksam gelauscht und höre allerhand Vorwürfe und Ausflüchte, Diskussionen über mehr Bürokratie und was
auch immer. Ich höre von Ihnen aber sehr wenig zum
Thema. Ich meine, Sie beschreiben hier ein Problem, das
wir ähnlich sehen. Jedenfalls haben Sie von einem Problem gesprochen, nämlich zu hohe Kraftstoffpreise.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass die Grünen
vor etlicher Zeit 5 D-Mark pro Liter Benzin gefordert
haben. Demnach sehen Sie vermutlich nicht wirklich ein
Problem an dieser Stelle. Vielmehr müssten Sie eigentlich sagen: Nach dem, was wir propagieren, ist der Spritpreis zu billig. - Dazu möchte ich gerne von Ihnen eine
Stellungnahme. Ist jetzt der Sprit zu billig, oder arbeitet
die Koalition tatsächlich an einem Problem? Wie stehen
denn die Grünen zu der ganzen Geschichte?
Herr Nüßlein, danke ganz herzlich für die Frage, ob
die Grünen einmal 5 D-Mark für den Sprit gefordert haben. Ergebnis Ihrer jahrelangen Politik ist, dass wir da
fast schon angekommen sind.
({0})
Das ist doch die Realität. Mit einer Smartphone-App
- ich darf doch sehr bitten, Herr Nüßlein ({1})
lösen Sie dieses Problem überhaupt nicht.
Was müssen Sie anpacken? Sie müssen die Konzentration am Mineralölmarkt vermindern. Damit müssen
Sie sich auseinandersetzen. Wir erleben seit Jahren, dass
es systematisch Fusionen gibt, dass die Konzentration
immer weiter zunimmt, dass die kleinen Tankstellen verschwinden. Sie haben zum Beispiel ein Geschäftsmodell
der kleinen Tankstellen für Biokraftstoffbeimischungen
kaputtgemacht. Das wäre ein Wettbewerbsvorteil gewesen.
Sie verhindern - die Kollegin Voß hat das eben richtig
dargelegt - in dieser Verordnung, dass wir folgende Fragen stellen: Was ist denn mit dem Großhandel zwischen
Tankstellen und Raffinerien? Wo gibt es da Mitnahmeeffekte? Das wollen Sie gar nicht wissen. Das wollen Sie
auch nicht bewerten.
({2})
Sie wollen nur eine Show machen, damit Sie sagen können: Wir haben eine Smartphone-App gemacht, wir tun
etwas.
({3})
Aber in Wirklichkeit haben Sie an den Strukturen gar
nichts verändert. Genau das ist Ihr Problem.
({4})
Ich sage Ihnen: Es geht noch weiter. Was wir nämlich
tatsächlich brauchen, ist eine konsequente Strategie:
Weg vom Öl!
({5})
Weg vom Öl ist die wirkliche Antwort auf steigende
Benzinpreise. Da kommt von Ihnen absolut gar nichts.
({6})
Ein Mittel dazu wäre zum Beispiel,
({7})
dass Sie sich auf EU-Ebene für schärfere CO2-Grenzwerte einsetzen. Das würde nicht nur der Umwelt nutzen, sondern auch den Verbrauch reduzieren. Vor allen
Dingen eröffnet das deutscher Spartechnik eine Chance.
Das verhindern Sie, weil Sie bestimmte Interessen einzelner Energiekonzerne auf Brüsseler Ebene vertreten.
Sie müssten viel mehr für die Förderung alternativer Antriebe tun. Sie haben 1 Million Elektrofahrzeuge bis zum
Jahr 2020 angekündigt. Schon heute ist klar, dass Sie
dieses Ziel nicht erreichen werden, weil Sie das ganze
Geld an den falschen Stellen versenken. Sie fördern
nicht den Kauf solcher Fahrzeuge. Da machen uns andere europäische Länder etwas vor. Jenseits schöner Internetseiten und großer Propaganda, die Sie betreiben,
hinken Sie hinterher und verschlafen dieses Thema.
Herr Krischer, Herr Nüßlein will Ihnen noch eine
Zwischenfrage stellen.
Aber gerne. So können wir weitermachen.
({0})
Ich habe in Ihrer Antwort auf meine Frage - genauso
wie bisher in Ihrer Rede - viele Ausflüchte und Vorwürfe gehört. Ich hatte eine ganz konkrete Frage gestellt:
Sind Sie für einen Benzinpreis von 2,50 Euro plus X,
oder sind Sie nicht mehr der Meinung, dass der Preis solche Höhen erreichen muss? Die Frage ist ganz einfach
zu beantworten: 2,50 Euro, ja oder nein? Ist ein solch
hoher Benzinpreis weiterhin das Ziel, das die Grünen
verfolgen, oder sind Sie davon abgekommen?
Wir sind gegen Ihre Politik, die die Benzinpreise nach
oben treibt.
({0})
Herr Nüßlein, es ist doch völlig albern, was Sie machen.
Es geht nicht darum, dass die Energiepreise zu hoch
sind. Die Ursache des Problems sind monopolistische
bzw. oligopolistische Strukturen. Dagegen gehen Sie
einfach nicht vor.
({1})
Seinerzeit hat Ihre Partei Wahlkampf an Tankstellen gemacht und gesagt: Wir werden die Ökosteuer abschaffen. - Nun regieren Sie seit knapp acht Jahren. Aber haben Sie etwas unternommen? Habe ich zu diesem Thema
etwas von Ihnen oder der FDP gehört? Nein, Sie haben
konsequent geschwiegen. Sie sollten hier ein Stück weit
ehrlich sein und eine ernsthafte „Weg vom Öl“-Strategie
verfolgen.
Eines ist doch klar: Ursache steigender Energiepreise
und insbesondere steigender Benzinpreise sind schwindende fossile Ressourcen. Dagegen müssen wir etwas
tun. Dagegen tun Sie aber überhaupt nichts. Statt sich
mit dem Thema alternativer Kraftstoffe auseinanderzusetzen, haben Sie selbst - das waren also noch nicht einmal wir Grüne - E 10 eingeführt. Als es konkret wurde,
herrschte bei Ihnen Schweigen. Das Ganze ist ein Riesendesaster. Sie haben es nicht hinbekommen, weil Sie
es nicht richtig kommuniziert haben. Das ist gescheitert.
Sie versuchen nun, das zu kaschieren.
Ein weiteres Thema ist die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs, dieses wunderschönen deutschen Unikums. Es ist doch unglaublich, dass wir mit Steuermitteln spritfressende Autos subventionieren. Das gibt es in
keinem anderen Land der Welt.
({2})
Ich bin froh, dass sich inzwischen auch die Sozialdemokraten dieses Themas angenommen haben und sagen:
Das muss sich in Deutschland ändern. Wir müssen vom
Öl wegkommen und endlich spritsparende Fahrzeuge
fördern. - Das würde den Menschen helfen.
Folgendes kann ich Ihnen auch nicht ersparen: Die
Verordnung zur Markttransparenzstelle für Kraftstoffe,
wie Sie sie so schön nennen, basiert auf dem Gesetz zur
Einrichtung einer Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom und Gas. Bei der ursprünglichen
Markttransparenzstelle ging es also um Strom und Gas,
also um leitungsgebundene Energie.
({3})
- Herr Breil, das darf man doch in der Debatte einmal
richtigstellen.
Wir diskutieren ständig über eine Strompreisbremse.
Wir müssen endlich die Frage klären, warum die gesunkenen Börsenpreise nicht bei den Verbrauchern ankommen. Sie sollten nicht nur über Kraftstoffe und Ihre
Verordnung reden. Ich frage Sie: Wo ist denn die Markttransparenzstelle für Strom und Gas, die endlich die Verbraucher schützt?
({4})
Das überlassen Sie den Gerichten und den Verbraucherzentralen; diese müssen klagen. Darum kümmern Sie
sich an keiner einzigen Stelle.
({5})
Ich kann Ihnen sagen, wie Ihre Politik konkret aussieht. Ich habe bei der Bundesnetzagentur nachgefragt,
wie es um die Markttransparenzstelle für Strom und Gas
bestellt ist. Ich habe die Antwort bekommen: Die Koalitionsmehrheit hat eine komische Konstruktion aus Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt beschlossen. Jetzt
müssen wir erst einmal eine Verwaltungsvereinbarung
zwischen Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt aushandeln. - Das heißt, aufgrund Ihrer unklaren Gesetzgebung streiten sich jetzt zwei Behörden um Kompetenzen, statt sich für die Verbraucher einzusetzen und
endlich für sinkende Strom- und Gaspreise zu sorgen.
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik und nichts anderes.
({6})
- Dankenswerterweise haben Sie meine Redezeit verlängert, sodass ich noch einiges mehr sagen konnte.
Steigende Energiepreise resultieren vor allen Dingen
aus Abzocke durch die Konzerne und Oligopole.
({7})
Dagegen müssen wir etwas tun. Es reicht nicht aus, nur
eine Markttransparenzstelle einzuführen, die bestenfalls
das Problem beschreibt, aber nicht löst. Was wir brauchen, ist Marktmacht für die Verbraucher, was wir brauchen, ist Transparenz, was wir brauchen, ist eine konsequente Strategie „Weg vom Öl“, vor allem im
Mobilitätsbereich. Da kommt von dieser Bundesregierung gar nichts, null und nichts.
Ich danke Ihnen.
({8})
Klaus Breil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine Vorbemerkung zu Frau Voß: Herr
Präsident Mundt hat keineswegs resigniert, nein, er hat
sogar die Überprüfung der Raffinerien eingeleitet. Wir
werden zum Thema der Preisentwicklung noch viel
mehr hören. Zu Ihnen, Herr Krischer, möchte ich sagen:
Es ist Ihnen vielleicht entgangen, dass es einen Parlamentsvorbehalt gibt.
({0})
Seitdem bekannt ist, dass unser Bundeswirtschaftsminister Dr. Philipp Rösler an einer besseren Kontrolle
des Kraftstoffmarktes arbeitet, kann jeder Autofahrer eines ganz genau beobachten: Die Preise für Treibstoff an
den Tankstellen bewegen sich, und zwar erstens wieder
in Abhängigkeit zu den Notierungen der Sorten an den
Börsen und dem Handelsplatz Rotterdam und zweitens
wieder in Abhängigkeit zu dem Wechselkurs Euro zu
Dollar. Jedenfalls kann ich das im Raum München und
Oberbayern beobachten.
Das hat es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben. Durch die Politik dieser Bundesregierung werden
Preisentwicklungen wieder nachvollziehbar. Plötzliche
Anstiege wie zum Beispiel jedes Jahr zu den Osterferien
können auf tatsächliche Ursachen hin untersucht werden. In einer Woche ist es wieder so weit. Wir werden
sehen, wie sich die Tankstellenbetreiber verhalten werden.
Insgesamt hat diese Koalition für einen besseren
Wettbewerb auf dem Kraftstoffmarkt und damit zur Entlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher drei
Schritte vorgesehen. Der erste Schritt war das Verbot der
sogenannten Preis-Kosten-Schere im Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen. Derzeit wird es leider
noch im Bundesrat von der Opposition blockiert. Ich fordere die Opposition hiermit auf, diese Haltung zum
Wohle der Pendlerinnen und Pendler, die auf ihre Fahrzeuge angewiesen sind, zu beenden.
({1})
Der zweite Schritt ist das im Dezember des vergangenen Jahres beschlossene Gesetz zur Einrichtung einer
Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom
und Gas. Dieses Gesetz bildet die Grundlage, auf der wir
heute den dritten Schritt, die Verordnung für den Kraft28844
stoffmarkt, beraten. Mit dieser Verordnung verpflichten
wir Tankstellenbetreiber, jede Änderung ihrer Preise für
Diesel und Benzin in Echtzeit an eine zentrale Stelle, die
Markttransparenzstelle, zu übermitteln.
Jetzt hören Sie gut zu, Herr Kollege Krischer!
({2})
Jetzt können Sie noch etwas lernen.
({3})
Eine Anmerkung sei mir an dieser Stelle zu kleineren
Tankstellen erlaubt, für die eine technische Aufrüstung
aus wirtschaftlichen Gründen keinen Sinn macht. Diese
können sich, sofern sie weniger als 750 000 Liter Treibstoff pro Jahr absetzen, von der Verpflichtung befreien
lassen.
Die erhobenen Daten helfen zum einen dem Kartellamt, Preisabsprachen leichter und schneller aufzudecken, zum anderen werden sie circa 60 sogenannten Verbraucherinformationsdiensten wie beispielsweise dem
ADAC zugänglich gemacht. Diese registrierten Dienste
bauen die Datensätze in Applikationen für Navigationssysteme oder Smartphones ein und stellen sie anderen
zur Verfügung. Damit schaffen wir einen gänzlich transparenten Markt für Diesel und Benzin in Deutschland
zum Wohle der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter hat jetzt das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung kündigt eine Bremse nach
der anderen an: zum einen die Strompreisbremse - leider
wird sie dieser Bezeichnung nicht im Ansatz gerecht -,
zum anderen die Schuldenbremse, die Sie recht unambitioniert angehen, und jetzt die Benzinpreisbremse, die
doch ganz schön Erwartungen weckt. Bei so vielen Bremsen entsteht leider keine Dynamik. Stattdessen verteilen
Sie eher Beruhigungspillen.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Bundeswirtschaftsminister Rösler kurz nach seinem Amtsantritt vor
zwei Jahren zur Debatte gestellt hat, den Mineralölkonzernen zu untersagen, Preise täglich mehrfach zu ändern.
Davon ist heute keine Rede mehr. Ein Jahr später hat der
gleiche Minister als Antwort auf die steigenden Benzinpreise eine Erhöhung der Pendlerpauschale ins Spiel gebracht - mit den Steuern haben Sie es ja immer -, wobei
das eine mit dem anderen eigentlich herzlich wenig zu
tun hat. Bevor man sich an die Mineralölkonzerne herantraut, geht man lieber an das Portemonnaie aller Steuerzahler.
({0})
Keinen Deut besser ist der Verkehrsminister Peter
Ramsauer. Auch er hat sich weit aus dem Fenster gelehnt
und wollte eigentlich das australische Modell einführen,
nach dem Benzinpreise 24 Stunden fest bleiben müssen.
Es gab immer wieder Ankündigungen, mal mehr, mal
weniger, keine durchdachten Vorschläge. Da ist man
mittlerweile ja schon froh, wenn man den Spatz in der
Hand hat anstatt die Taube auf dem Dach. Deshalb tragen wir die Einführung der Markttransparenzstelle mit.
Sie ist ein erster, aber auch nur ein erster Schritt zu mehr
Transparenz - leider auch nicht mehr.
({1})
Es stellt sich schon die Frage, wo der echte Mehrwert
für den Verbraucher liegt. Der Verbraucher kann dann
zwar in Echtzeit die Preisveränderungen sehen, aber ob
eine Manipulation vorliegt oder eine Preisabsprache
stattfindet, kann er nicht nachvollziehen.
Zudem stellt sich die Frage, was eigentlich passiert,
wenn der Schuss nach hinten losgeht, wenn die Tankstellenbetreiber bzw. Spritlieferanten die Preise nach oben
nachziehen. Wird die Bundesregierung dann weitere
Maßnahmen einleiten, um ihrem ursprünglichen Ziel gerecht zu werden, die Preissteigerungen für die Verbraucher zu bremsen?
Herr Staatssekretär Otto, Sie hatten bei der Regierungsbefragung am 20. Februar 2013 keine so richtig zufriedenstellenden Antworten gegeben.
({2})
Sie haben allerdings gesagt, dass „mit Hochdruck an
der technischen Umsetzung gearbeitet“ wird und
dass das quasi bis Ostern - so wurde das in den Raum gestellt - schon in trockenen Tüchern ist. Jetzt ist es kurz
vor Ostern, und leider wird der Verbraucher bei der großen Reisewelle zu Ostern noch nicht profitieren, weil die
Umsetzung noch nicht erfolgt ist. Aber ich gehe davon
aus, dass Sie die Verordnung bis zu den Sommerferien
umsetzen.
({3})
Was aber weder ein Spatz noch eine Taube ist, sondern eine fette Gans, ist eine Stelle in Ihrer Verordnung,
in der es heißt, es entstehen „Gehälter für zwei Projektmitarbeiter im Zweijahreszeitraum mit ca. 1,2 Mio.
Euro“. Das mögen in Anbetracht des Gesamthaushaltes
Peanuts sein, aber an der Stelle finde ich das schon exorbitant.
({4})
Wir werden darauf schauen, dass diese Stellen auch ordentlich ausgeschrieben werden
({5})
und dass sie keine Versorgungsstellen für Mitglieder Ihrer ausscheidenden Regierung werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Matthias Heider für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist noch keine drei Wochen her, da habe ich abends an einer Tankstelle die Erfahrung gemacht, dass sich der
Spritpreis innerhalb von zehn Minuten um fast 15 Cent
ändern kann. Da fragt sich der überraschte Tankkunde:
Was hat sich in den letzten zehn Minuten seit dem Tanken eigentlich verändert? Die Preise auf dem SportMarkt - abends um 20 Uhr wahrscheinlich nicht mehr;
denn der schließt ja auch irgendwann -, der Lager- oder
Transportpreis, die Personalkosten? Alle diese Faktoren
können nicht daran schuld sein.
Meine Damen und Herren, wenige Themen werden in
Deutschland so emotional wie der Spritpreis diskutiert.
Es kann die Menschen nichts mehr auf die Palme bringen, als wenn sich dieser Preis grundlos innerhalb einer
kurzen Zeit sogar mehrfach ändert. Und: Die Kraftstoffpreise werden sich wieder ändern; sie werden zu Ostern
steigen. Sie werden auch in kleinen Etappen wieder abschmelzen, weil es zu den Gesetzen des Marktes und unternehmerischem Handeln auf diesem Markt gehört.
Die Autofahrer werden diese Erfahrungen in den
nächsten Ferien wieder machen können. Sie werden
mehrfach sehen, dass sich die Preise ändern, nicht nur
einmal in der Woche, sondern auch mehrmals am Tag.
Dieses vermeintliche Naturgesetz wird nicht von einer
klaren Logik getragen. Das Ganze ist einzig und allein
darauf angelegt, die Autofahrer, die Verbraucher in
Deutschland zu verunsichern und zu verwirren.
Entscheidender ist die Frage: Sind die Benzin- und
Dieselpreise zu hoch, oder unterliegen sie überhaupt
noch marktmäßigen Gesetzmäßigkeiten? Egal wie, tanken darf auf keinen Fall zu einem Luxusgut werden.
({0})
Frau Kollegin Voß, Herr Kollege Krischer, Sie haben
zwar kunstvolle Pirouetten über Ihre Parteiprogramme
und über Ihre umweltpolitischen Ziele gedreht, es hat
aber nicht einen sachdienlichen Vorschlag gegeben, was
Sie den Verbrauchern in diesem Lande dafür an die Hand
geben wollen.
({1})
Herr Kollege Krischer, so viele Pirouetten, wie Sie gedreht haben: Sie sind ein Pirouettenkaiser an dieser
Stelle.
({2})
Genauso ist auch das Wahlprogramm der Grünen dazu
gestrickt.
Ich will Ihnen sagen, dass die Verbraucher in diesem
Land Ihnen das nicht werden durchgehen lassen. Die
Leidtragenden sind an erster Stelle die Familien, die Berufspendler in den ländlichen Räumen. Sie sind auf Mobilität angewiesen. Sie haben oft keine große Nahverkehrsinfrastruktur. Sie können nicht einfach mal schnell
im Minutentakt zur Kinderbetreuung, zum Einkaufen
oder zur Arbeit fahren.
({3})
- Herr Kollege Krischer, in meinem Wahlkreis im Sauerland ist das ein Umstand, der sehr genau beachtet wird.
Und nun kommen Sie und bügeln einfach darüber hinweg. Das ist nicht in Ordnung. Das müssen wir Ihnen an
dieser Stelle einmal sagen.
({4})
Das Ziel der Verordnung zur Markttransparenzstelle
ist es natürlich, der Preistreiberei entgegenzuwirken.
Ziel ist es aber auch, das verlorengegangene Vertrauen
der Menschen in einen gerechtfertigten Umgang mit
Preiserhöhungen zurückzugewinnen. Beide Ziele können wir erreichen, indem wir für die höchstmögliche
Transparenz sorgen, indem die undurchsichtige Preisgestaltung transparent gemacht wird. Grundlage dafür sind
auf der untersten Stufe eine Meldepflicht und die Weitergabe dieser Daten an die Verbraucher.
Meine Damen und Herren, der Kraftstoffpreis setzt
sich zusammen aus einem staatlichen fixen Anteil, bestehend aus der Energie- und Mehrwertsteuer, und einem
wirtschaftlich bedingten variablen Anteil, der Rohölpreis, Transport, Veredelung und Lagerung beinhaltet.
Dazu kommt eine, wie ich hoffe, angemessene Marge.
Der Grund für die Preissprünge kann wegen der kurzlebigen Dauer denknotwendigerweise nur in dem variablen Kostenanteil oder in der Marge liegen. Die Sektorenuntersuchung des Bundeskartellamtes aus dem Jahr 2011
belegt, dass die Preise beispielsweise am Wochenende
und an Feiertagen deutlich ansteigen. Dies ist aber weder
auf eine Nachfrageentwicklung zurückzuführen noch auf
eine Veränderung der Großhandelspreise. Hieraus
schlussfolgern unsere Wettbewerbshüter - ich zitiere aus
dem Bericht des Bundeskartellamtes -, „dass die zu
Ostern steigenden Kraftstoffpreise auf gezieltes Preiserhöhungsverhalten der Mineralölunternehmen zurückzuführen“ sind.
Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich machen: Es sind nicht die einzelnen Tankstellenpächter, die
wir mit dieser Verordnung in den Fokus nehmen. Sie
kämpfen zum Teil bei geringen Gewinnmargen selbst
ums Überleben. Sie sind ein kleines Glied in einer gigantischen Kette dieses Oligopols - der Kollege Egloff hat
es beschrieben -, dass sich von Bohrlöchern über Raffinerien und Tanklagern bis hin zur Zapfsäule erstreckt.
({5})
Diese Marktstruktur führt zu einer erheblichen Störung
des Wettbewerbs und zu einer fragwürdigen Preisbildung mit Preisausschlägen innerhalb kürzester Zeit.
Was wir brauchen, sind Verfahrensregeln, die den
Preisbestimmern Grenzen aufzeigen und die letztendlich
den Verbotsvorschriften des Untereinstandspreisverkaufs
und der Preiskostenschere Geltung verschaffen.
({6})
Hier wird die Markttransparenzstelle für ein Höchstmaß
an Transparenz sorgen. Wir werden mit dem Gesetz zur
Einrichtung dieser Markttransparenzstelle - das wir
2012 ja in einem ersten Schritt auf den Weg gebracht haben - für Klarheit sorgen. Wir wollen die Spielregeln an
den Märkten nach und nach anziehen. Wenn wir Tankstellenbetreiber mit einem Gesamtdurchsatz von weniger
als 750 Kubikmetern pro Jahr ausgenommen haben,
dann vor allem deshalb, weil der Aufwand für diese so
groß ist, dass man ihnen das nicht ohne Weiteres aufbürden kann.
Mobile IT-Lösungen wie zum Beispiel Apps und andere Informationsdienste werden den Verbraucherinnen
und Verbrauchern an dieser Stelle helfen.
Die Ausschussberatungen haben auf ganz breiter Basis gezeigt, dass die Koalition hier mit Augenmaß vorgeht. Wir freuen uns auch über die Unterstützung aus
den Reihen der Opposition. Es ist an der Zeit, zu handeln, meine Damen und Herren,
({7})
und es ist nicht an der Zeit, Herr Krischer, hier in einer
Vorwahlkampfzeit Schaufensterreden zu halten; das
müssen Sie noch lernen.
Vielen Dank.
({8})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Mechthild Heil
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist noch keine drei Jahre her, dass ich mich
bei der Fahrt von meinem Heimatort an den Flughafen
Köln/Bonn über die Spritpreise geärgert habe. Der Unterschied auf der Strecke - eine Stunde Fahrt - betrug
damals 12 Cent. Das hat wirklich nichts mit Angebot
und Nachfrage zu tun. Der normale Autofahrer fühlt sich
einfach abgezockt.
In Berlin - damals war ich frischgebackene Verbraucherschutzbeauftragte der CDU/CSU-Fraktion - hatte
ich das erste Gespräch mit einem Journalisten. Damit
war das Thema angestoßen.
Ostern, kurze Zeit später, hat sich der damalige Wirtschaftsminister Brüderle mit dem Thema befasst. Ich
muss ehrlich sagen: Ich bin ihm noch heute dankbar dafür. Das war klasse. Er hat wirklich etwas auf den Weg
gebracht.
({0})
Es ist für die Verbraucher überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die Preise so stark schwanken. Warum steigen sie eigentlich ausgerechnet immer zu den Hauptreisezeiten? An den Rohölpreisen liegt das auf keinen Fall.
Das Bundeskartellamt hat die Mineralölunternehmen
und die Tankstellen in zwei großen Sektoruntersuchungen geprüft, konnte aber leider keine illegalen Absprachen feststellen. - Sie haben eben danach gefragt, warum es so lange gedauert hat, bis wir zu Potte gekommen
sind, warum zwei Jahre ins Land gegangen sind. Es lag
an genau diesen Sektoruntersuchungen. Wir handeln
erst, wenn wir Daten und Fakten in der Hand haben.
({1})
Was hat man herausgefunden? Es besteht ein Oligopol.
Was geschieht? Die Konzerne beobachten den Markt
natürlich genau und wissen, was der Sprit bei der Konkurrenz kostet. Shell und Aral - um zwei zu nennen beginnen damit, die Preise zu erhöhen, und die anderen
folgen nach einem exakt festgelegten Zeitraum von 180
bis 300 Minuten. Die Unternehmen haben so ein perfektes System gefunden, ihre Preiserhöhungen durchzusetzen. Andreas Mundt, der Präsident des Bundeskartellamts, hat es wirklich schön formuliert: „Die Unternehmen
verstehen sich auch ohne Worte.“
Wir sorgen nun dafür, dass der Verbraucher mitreden
kann. Wir sind die Ersten, die hier für Transparenz sorgen. Wir sind die Ersten, die hier etwas für die Autofahrer tun. Im November 2012 haben wir das Gesetz zur
Einrichtung einer Markttransparenzstelle beschlossen.
Es verpflichtet die Betreiber von Tankstellen, jede Änderung ihrer Kraftstoffpreise in Echtzeit an die Markttransparenzstelle beim Bundeskartellamt zu übermitteln.
Diese Daten werden dann durch Verbraucherinformationsdienste den Verbrauchern zur Verfügung gestellt.
Was bedeutet das jetzt konkret, meine Damen und
Herren auf den Zuschauerrängen? Was versteht man darunter? Jeder kann im Internet, per App auf seinem
Handy oder auf einem Navigationsgerät sehen, wo die
günstigste Tankstelle ist, in seiner Umgebung oder zum
Beispiel auf seiner Fahrt in den Urlaub.
Außerdem wertet das Bundeskartellamt die Daten aus
und kann so Wettbewerbsverstöße besser aufdecken.
Wir schaffen also Transparenz. Jetzt wissen nicht nur
die Tankstellenbetreiber, wie die Preise in der Umgebung sind, sondern endlich wissen das jetzt auch die Verbraucher. Wir stärken die Kunden. Wir geben ihnen einen Teil ihrer Marktmacht zurück. Sie entscheiden
nämlich, wo sie tanken wollen. Demnächst finden sie
mit einem Klick die günstigste Tankstelle. Das erhöht
den Druck auf die Unternehmen und stärkt den Wettbewerb. Ein starker Wettbewerb ist immer auch gut für die
Kunden, für die Verbraucher.
Manch einer unkt - auch heute bei den Grünen -, dafür brauche man kein Gesetz, da es ja heute schon solche
Apps und Internetportale gebe. Ja, die gibt es, und sie
leisten auch wirklich gute Arbeit. Aber die Markttransparenzstelle ist mehr. Sie wird die Daten von fast allen
14 300 Tankstellen haben, und zwar innerhalb kürzester
Zeit. Das geht weit über das hinaus, was heute an Informationen besteht.
Die Verordnung sieht vor, dass sich nur Tankstellen
befreien lassen können, die weniger als 750 Kubikmeter
pro Jahr absetzen. Das sind maximal 350 Tankstellen,
also gerade einmal 2,4 Prozent aller in Deutschland befindlichen Trankstellen. Wir schützen diese kleinen
Tankstellen. Sie dürfen natürlich freiwillig mitmachen,
wenn sie wollen. Damit wäre dann auch die ganze Bundesrepublik abgedeckt. Egal, wo Sie wohnen, überall
können Sie ab sofort die Preise an den Tankstellen vergleichen und dann auch an der billigsten Tankstelle tanken.
Die Verordnung sieht ebenfalls vor, dass die Daten in
regelmäßigen Intervallen von höchstens einer Minute
über eine Standardschnittstelle zur Verfügung gestellt
werden. Die Daten sind also immer aktuell.
Zwei Dinge werden passieren.
Erstens werden die Preise tendenziell sinken; denn
die Tankstellenbetreiber sind natürlich daran interessiert,
günstiger und damit attraktiver als die Konkurrenz zu
sein.
Zweitens werden die Preise nicht mehr so stark
schwanken. Keine Tankstelle möchte ihre Kunden verärgern, indem sie häufig die Preise ändert, auf die sich die
Kunden beim Abrufen ihrer Daten Minuten vorher noch
verlassen haben.
Zu Beginn der Osterferien werden die Kunden leider
noch nicht in den Genuss dieser Informationen kommen.
Das Bundeskartellamt arbeitet mit Hochdruck daran,
und alle 14 300 Tankstellen müssen sich ja auch umstellen. Aber im Sommer soll es dann endlich so weit sein.
Dann liegt es an den Verbrauchern, die für sie günstigste
Tankstelle auch anzufahren.
Die christlich-liberale Koalition steht für die Bezahlbarkeit von Sprit, weil das sozial ist, wirtschaftlich sinnvoll ist und weil es für den ländlichen Raum gerecht ist.
Aber was macht Rot-Grün? Beim Gesetz haben Sie dagegen gestimmt.
({2})
Da waren Sie nicht mit an Bord. Nicht erst seit Trittin
findet Rot-Grün hohe Spritpreise klasse - das haben wir
in dieser Debatte auch wieder gehört -,
({3})
weil die Grünen die Besserverdienenden, ihre Klientel,
im Blick haben, die es sich leisten können, weil die Grünen nur an städtische Gebiete mit gutem Nahverkehr, der
subventioniert wird, mit vielen Bussen und Straßenbahnen denken - der ländliche Raum ist ihnen egal ({4})
und weil Rot-Grün immer nur auf Steuererhöhungen
setzt. Wir stehen für Spritpreise, die sich am Markt
orientieren.
({5})
Stimmen Sie heute mit uns,
({6})
dann tun Sie für alle Verbraucherinnen und Verbraucher,
vor allen Dingen für alle Autofahrer und für diejenigen,
die auf das Auto angewiesen sind, das Richtige.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu der Verordnung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Markttransparenzstelle für Kraftstoffe. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/12746, der Verordnung auf Drucksache 17/12390
in der Ausschussfassung zuzustimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD
bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Ulla
Schmidt ({0}), Rainer Arnold, Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Paradigmenwechsel im Konzept zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik des Auswärtigen Amtes vom September 2011
- Drucksachen 17/9839, 17/11981 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD vor.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Ulla Schmidt
für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, noch in
Ihrer Koalitionsvereinbarung haben Sie davon gesprochen, dass die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
mehr denn je als Beitrag zur Krisenprävention, zum
Menschenrechtsschutz und zur Freiheitsförderung verstanden werden soll, dass sie das Interesse an unserem
Land, an unserer Geschichte und unserer Kultur fördern
soll, dass sie die europäische Identität stärken und einen
Beitrag zur innereuropäischen Integration leisten soll.
Das alles können wir als Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten unterschreiben; denn für uns war und
ist Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik vor allem ein
offener Austauschprozess für die Emanzipation der Völker, für Entwicklung, für Demokratie, für Freiheit und
für Frieden. Das bedeutet Dialog und miteinander in
Kontakt treten, sich kennenlernen, voneinander lernen
und Vertrauen zueinander fassen.
Aber kaum etwas davon findet sich im Konzept des
Auswärtigen Amtes zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik wieder. Im Gegenteil, das dünne Papier
skizziert einen Paradigmenwechsel: Es reduziert die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik auf Cultural Diplomacy im Dienste deutscher Außenpolitik und verändert das Profil
({0})
in Richtung Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen. Gut ist danach allein das, was Deutschland wirtschaftlich direkt nutzt.
Das ist ein gefährlicher Weg; denn damit zerstören
wir das wichtigste Kapital deutscher Außenpolitik:
Glaubwürdigkeit.
({1})
Deutschland hat nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten über 60 Jahre daran gearbeitet, ein verlässlicher
und hilfsbereiter Partner in der Welt zu sein, ein Freund
unter Freunden. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.
({2})
Natürlich stehen wir im 21. Jahrhundert vor den Herausforderungen der Globalisierung und im Wettstreit
mit aufstrebenden Nationen. Aber die ökonomische
Konkurrenz ist doch nicht die einzige globale Herausforderung. Migration, Demografie, die Ungleichzeitigkeit
von Entwicklungen, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und vieles mehr sind mindestens gleichwertige
Herausforderungen, auf die wir reagieren müssen. Dabei
brauchen wir die Länder, mit denen wir konkurrieren, als
starke Partner an unserer Seite. Die Auswärtige Kulturund Bildungspolitik kann die zentrale Säule sein, die in
der globalisierten Welt kulturelle Brücken baut.
({3})
Aber allein groß angelegte Deutschlandjahre oder
Sprachkampagnen reichen dafür nicht aus. Negativ wirkt
sich in diesem Zusammenhang der Plan des Auswärtigen
Amtes aus, die Aktivitäten der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik im Innern massiv abzubauen. Sie verkennen dabei völlig, dass der Dialog im Ausland und die
Integration im Inland zwei Seiten einer Medaille der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Staatsministerin, das Auswärtige Amt rühmt sich gerne, dass der
Haushalt für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
in Ihrer Regierungszeit um rund 50 Millionen Euro angestiegen ist. Dabei verschweigen Sie nur zu gerne, dass
Sie zusätzliche Mittel aus dem Bildungsetat in Höhe von
243 Millionen Euro erhalten haben, die eingesetzt werden sollten, um zusätzliche Investitionen in Bildung und
Wissenschaft zu fördern.
Ich erinnere an den Beschluss der Koalition: Wir werden bei Bildung und Wissenschaft nicht kürzen, sondern
im Gegenteil 12 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen zur Verfügung stellen. - Es war nie vorgesehen,
dass Sie dieses Geld nutzen, um Haushaltslöcher zu
stopfen, und darüber hinaus weitere Kürzungen bei den
Mittlerorganisationen und an vielen anderen Stellen vornehmen.
Das ist auch der Grund, warum der Haushalt im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in
den letzten beiden Jahren im Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik über alle Fraktionen
hinweg keine Mehrheit gefunden hat. Dafür muss man
schon einiges leisten, um so etwas zustande zu bringen.
({4})
Zusätzlich wurden Kürzungen beim Goethe-Institut
angesetzt. Das Goethe-Institut konnte in den letzten Jahren viel leisten, weil es in Zusammenarbeit mit dem
Deutschen Bundestag einen tiefgreifenden Reformprozess durchgeführt, die Standorte effizienter aufgestellt
und die Netzwerke ausgebaut hat. Aber die willkürlichen
Einsparungen, die Sie auch in diesem Jahr vornehmen,
rühren langsam an der Substanz des Institutes, das von
vielen von Ihnen immer wieder als die Visitenkarte
Deutschlands in der Welt gerühmt wird. Man muss hier
auch einmal sagen, dass die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertreter zu Recht darauf hinweisen, dass die
Rechnung - immer mehr Aufgaben für immer weniger
Geld - mittlerweile nicht mehr aufgeht. Das geschieht
zunehmend auf dem Rücken der Beschäftigten, zulasten
ihrer Gesundheit und sozialen Sicherheit.
({5})
Mir macht das Sorgen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Ich will Ihnen hier ganz
deutlich sagen: Wenn das Goethe-Institut am Ende dieser Sparpolitik nicht viel mehr als eine Deutschlernschule für Erwachsene ist, dann verlieren wir alle hier in
diesem Parlament einen wichtigen Impulsgeber, der uns
mit seiner kulturellen Arbeit und den daraus gewonnenen Informationen und Netzwerken hilft, traditionelle
Entwicklungen und Strukturen besser zu verstehen, religiöse Identitäten zu akzeptieren und darauf zu achten,
uns sensibel zu verhalten.
Frau Kollegin.
Deshalb appelliere ich zum Schluss an Sie von den
Koalitionsfraktionen: Beenden Sie diese willkürlichen
Sparmaßnahmen, und sorgen Sie dafür, dass unsere Mittlerorganisationen ihre Arbeit durchführen können!
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Ruprecht Polenz für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
2006 - es ist jetzt also die zweite Legislaturperiode gibt es den Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“, einen Unterausschuss des Auswärtigen
Ausschusses. Ich möchte zu Beginn dieser Debatte gerne
eine kleine Bilanz seiner Arbeit ziehen, für die ich sehr
dankbar bin.
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik unterstützt die Ziele der Außenpolitik, die mit folgendem
Dreiklang beschrieben werden: Europa stärken, Frieden
sichern, alte Freundschaften pflegen und neue Partnerschaften gründen. Wenn man eine Bilanz für die Zeit
von 2006 bis 2013 zieht, dann fällt schon auf: Es ist im
Haushalt des Auswärtigen Amtes mehr Geld dafür zur
Verfügung gestellt worden, und zwar insgesamt 240 Millionen Euro mehr; das entspricht einem finanziellen Zuwachs von 43,3 Prozent. Im Einzelnen bedeutet das: Den
Goethe-Instituten stehen 28 Prozent mehr zur Verfügung. Bei den Mitteln für Wissenschaft und Hochschulen in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gab
es einen Zuwachs von 52 Prozent. Beim Auslandsschulwesen lag der Zuwachs in diesem Zeitraum bei 48,6 Prozent. Sie sehen, Frau Kollegin: Ich beziehe auch die Zeit
der Großen Koalition ein
({0})
und auch Ihre Arbeit im Unterausschuss „Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik“. Denn dieser Unterausschuss hat die positive Entwicklung engagiert begleitet
und gefördert, und zwar - auch das wollen wir zu Beginn der Debatte sagen - in großem Einvernehmen, auch
über Fraktionsgrenzen hinweg.
({1})
Ich möchte mich deshalb bei Staatsministerin Pieper
und bei der Bundesregierung bedanken, aber auch beim
Vorsitzenden des Unterausschusses, Herrn Gauweiler,
und den Sprecherinnen und Sprechern der einzelnen Fraktionen, Frau Grütters, Frau Schmidt, Herrn Leibrecht,
Frau Jochimsen und Frau Roth. Herzlichen Dank für die
Arbeit im Unterausschuss.
Nun gehört es natürlich zu den Aufgaben der Opposition, Kritik an der Regierung zu üben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Ja.
Darf ich die Frage stellen, ob Sie die Berichterstatter
für diesen Etat im Haushaltsausschuss vielleicht bei Ihrem Dank vergessen haben?
({0})
Denn wir Berichterstatter haben das Geld aufgestockt.
Ich will mir jetzt eine Bemerkung über die mir auch
bekannten Rangeleien zwischen dem Unterausschuss
„Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ und den
Haushältern verkneifen,
({0})
die ich aus Anlass Ihrer Zwischenfrage machen könnte,
und schließe Sie einfach großzügig in den Dank mit ein.
({1})
Es gehört zu den Aufgaben der Opposition, Kritik an
der Regierung zu üben. Aber wenn Sie jetzt Haare in der
Suppe suchen, dann sollten Sie nicht vergessen, dass die
Suppe insgesamt schmackhafter geworden ist - dazu haben auch Sie beigetragen -, und vor allen Dingen, dass
mehr Suppe da ist.
({2})
Daher bitte ich Sie: Lassen Sie die Kirche im Dorf.
Ich selber möchte einen Punkt ansprechen, bei dem
ich allerdings der Meinung bin, dass Deutschland dringend besser werden muss: das Auslandsfernsehen.
({3})
Laut einer Übersicht der Deutschen Welle gab es 1992
drei Sender, die weltweit ausgestrahlt haben: CNN, BBC
und die Deutsche Welle. 2012 sind Frankreich, die Türkei, Russland, al-Dschasira und China hinzugekommen.
Insgesamt konkurrieren jetzt 20 Sender in einem Wettbewerb mit der Deutschen Welle um die Meinungsbildung
der Weltöffentlichkeit.
Ein Blick auf die Ressourcen zeigt, dass der Deutschen Welle für Fernsehen jährlich 88 Millionen Euro
zur Verfügung stehen; das ist mit Abstand das geringste
Budget. Zum Vergleich die Zahlen der anderen Fernsehsender: Der BBC World Service verfügt über 115 Millionen; France 24 erhält 120 Millionen, Voice of America
145 Millionen, al-Dschasira 150 Millionen, Russia Today 275 Millionen, also mehr als dreimal so viel, wie die
Deutsche Welle zur Verfügung hat, um im publizistischen Wettbewerb das Russlandbild in der Welt mit zu
beeinflussen. Nach Medienberichten wendet China etwa
5 Milliarden zum Aufbau eines medialen Auftritts der
Volksrepublik China auf, darunter für zwei Fernsehsender.
Wir haben die Bundesregierung hier im Bundestag
2011 mit breiter Mehrheit aufgefordert, gemeinsam mit
den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der
Länder für eine Ausweitung der Kooperation zwischen
Deutscher Welle, ARD, ZDF und dem Deutschlandfunk
zu sorgen. Seit 2011 tagen Kommissionen; aber so richtig herausgekommen ist dabei bis heute leider nichts.
Ziel muss sein, dass die Deutsche Welle ein Programm
aus dem Besten von ARD und ZDF anbieten kann, das
weltweit konkurrenzfähig ist. Die zusätzlichen Kosten
für Lizenzen und Rechte, Programme weltweit auszustrahlen - das wurde vor fünf Jahren errechnet -, würden
sich auf etwa 70 Millionen Euro belaufen. Diese Summe
- jetzt mache ich einen konkreten Vorschlag - könnte
leicht durch Werbeeinnahmen gedeckt werden. Nicht nur
die deutsche Automobilindustrie würde gerne weltweit
werben; auch andere Global Player wie Bayer, BASF
oder Siemens würden von einer solchen Möglichkeit
gerne Gebrauch machen. Etwas Besseres als ein weltweit ausgestrahltes Deutsche-Welle-Fernsehen mit einem „Made in Germany“-Werbeanteil kann man sich für
die Exportnation Deutschland nicht vorstellen. Die mangelnde Finanzierung wäre dann jedenfalls keine Ausrede
mehr.
Der große Wurf ist möglich, wenn die, die man daran
beteiligen muss, ein bisschen über ihren jeweiligen medienpolitischen Schatten springen würden: die Länder,
die Anstalten und vielleicht auch die Deutsche Welle
selbst. Es ist möglich; man kann es schaffen. Ich würde
mich freuen, wenn diese Debatte einen Impuls dazu geben würde.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss auf einen weiteren
Punkt eingehen. Der Unterausschuss hat sich in besonderer Weise dem deutschen Auslandsschulwesen gewidmet und dessen Ausbau vorangetrieben, vor allen Dingen
in Form von Begegnungsschulen, zu denen Schülerinnen
und Schülern der jeweiligen Gastländer der Zugang ermöglicht wurde. Für diejenigen, die das nicht wissen
sollten: Auch unsere Auslandsschulen werden durch
Schulgeld finanziert.
Man sollte annehmen, dass es selbstverständlich ist,
dass sich Deutschland gegenüber den Ländern, die bei
uns eine Auslandsschule errichten wollen, ebenso verhält wie wir das von anderen Ländern uns gegenüber erwarten: Man organisiert eine Begegnungsschule, mit
Schulgeld finanziert. Leider verweigert die nordrheinwestfälische Landesregierung den Niederlanden aktuell
eine solche Genehmigung für eine internationale Schule
in Münster.
({5})
Aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung
zwischen Deutschland und den Niederlanden betreibt
eine niederländische Stiftung seit 1995 die Hugo de
Grootschool in Münster. Das Datum ist kein Zufall. Seinerzeit wurde das Deutsch-Niederländische Korps in
Münster gegründet. Nach einer Änderung der militärischen Strukturen hin zu einer mehr international aufgestellten Truppe hat die Stiftung 2006 den Auftrag erhalten, eine internationale Schule vorzubereiten. Die Schule
sollte über Kinder von in multinationalen Verbänden tätigen Eltern hinaus - jetzt kommt der springende Punkt für alle in NRW schulpflichtigen Kinder zugänglich
sein. 2011 stellte der niederländische Schulträger einen
entsprechenden Antrag beim zuständigen Ministerium in
Nordrhein-Westfalen, über den bis heute nicht entschieden wurde. Man hat gesagt: Wir entscheiden darüber
auch bis zum Jahre 2015 nicht. Warum? Die Schule solle
sich erst bewähren, dann wolle man entscheiden. Der
Hintergrund ist: In NRW wollen SPD und Grüne keine
Schule genehmigen, für die man Schulgeld bezahlen
muss.
({6})
Die Schule kann aber nur weiterarbeiten, wenn die nötigen Schülerzahlen zum Aufbau einer internationalen
Schule erreicht werden. Das wiederum ist nur möglich,
wenn die Schule anerkannt ist.
In Münster gibt es Bedarf; dort gibt es acht Universitäten und viele international tätige Unternehmen. Es gibt
einen Ratsbeschluss der Stadt, der das unterstreicht. Jetzt
kommt der wichtige Punkt - nur deshalb spreche ich das
in dieser Debatte an -: Ohne eine schnelle Anerkennung
werden die Niederlande den Aufbau stoppen und die
1 Million Euro Aufbaufinanzierung, die sie bereits bereitgestellt haben, zurückziehen. Zudem wird es zu einer
Verstimmung in den Beziehungen mit den Niederlanden
führen. Deshalb meine Bitte an die Bundesregierung,
dass sie sich um diese Angelegenheit kümmert. Wir können nicht für unsere Auslandsschulen überall auf der
Welt bestimmte Rechte fordern und uns für sie einsetzen,
aber sie in unserem eigenen Land nicht gewährleisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Stefan Liebich für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Große Anfrage der SPD bietet Gelegenheit, die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik dieser Legislaturperiode zu resümieren. Die Antwort der Bundesregierung
ist allerdings abwiegelnd und im Vergleich zu den recht
präzisen Fragen der SPD schwach.
({0})
Es ist auch kein Wunder, dass Sie ausweichen; denn
- Frau Schmidt hat es gesagt - es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Das ist auch okay, wenn die Regierung wechselt; aber es muss hier einmal ausgesprochen
werden. Statt Dialog steht nun deutsche Interessenvertretung im Mittelpunkt. Wir jedenfalls finden das falsch.
({1})
Überrascht sind wir aber nicht. Ich habe den Koalitionsvertrag, ehrlich gesagt, insofern anders gelesen, Frau
Schmidt. In ihm wurde das eigentlich schon angekündigt.
Den deutschen Kultureinrichtungen, dem Goethe-Institut, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst,
der Humboldt-Stiftung und den deutschen Auslandsschulen wird darin die Rolle von „Brücken unserer werteorientierten Außenpolitik“ zugewiesen. Weiter heißt es:
In der Zeit der Globalisierung muss der Westen zu
mehr Geschlossenheit finden, um seine Interessen
durchzusetzen und gemeinsame Werte zu bewahren.
Frau Schmidt, das ist nicht gerade das, was Willy Brandt
im Jahr 1969 formuliert hatte. Dialog und politische Offenheit gehen anders.
({2})
Eine kluge Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
könnte doch gerade dazu beitragen, Konflikte zu minimieren, ihnen vorzubeugen und damit auch den Frieden
in der Welt zu sichern.
({3})
Auf der anderen Seite gilt aber auch: Keine noch so gute
Kulturpolitik kann reparieren, was durch Kriegseinsätze
verloren geht.
Auch an Ihrer konkreten Arbeit üben wir Kritik. So
soll die Präsenz der Goethe-Institute nach Brennpunkten
ausgerichtet werden, sagen Sie. Das klingt gar nicht gut
und ist es auch nicht. Die Haushaltsmittel des GoetheInstituts sind seit Regierungsantritt von Schwarz-Gelb
unterm Strich kontinuierlich gesunken.
({4})
Herr Polenz hat hier gesagt, die „Suppe“ sei mehr geworden. Ich sehe das anders. Zunächst musste die
„Suppe“ vor dem Zugriff der hier gelobten Haushälter
- genau genommen: einiger Haushälter - verteidigt werden,
({5})
und dann ist ein Teller Suppe von einem anderen Tisch
herübergenommen worden. Mehr geworden ist sie auf
jeden Fall nicht.
Diese Mittelkürzungen haben ganz konkrete Folgen.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel illustrieren.
Heute ist der Nationalfeiertag der Republik Namibia.
Nach über 100-jähriger Fremdbestimmung erlangte das
Land am 21. März 1990 endlich seine Unabhängigkeit.
Die Parlamentariergruppe für die Staaten des südlichen
Afrika unseres Hauses, deren Vorsitzender ich bin, hat
aus diesem Anlass Kolleginnen und Kollegen des namibischen Parlaments eingeladen, die derzeit in unserem
Land zu Gast sind. Sie haben uns an etwas erinnert,
nämlich daran, dass die Bundesregierung Namibia im
Jahr 1991 in Aussicht gestellt hat, in Windhuk „möglichst bald“ - 1991! - eine Zweigstelle des Goethe-Instituts zu eröffnen. Sie ahnen es: Das ist bis heute nicht
geschehen. Es gibt ein Goethe-Zentrum mit minimaler
finanzieller Ausstattung. Dabei gäbe es für ein GoetheInstitut in Namibia so viel zu tun. Themen wären
ein deutsch-namibisches Jugendwerk, orientiert am
Deutsch-Französischen Jugendwerk, oder die Arbeit an
einem gemeinsamen Geschichtsbuch.
({6})
Die namibische Seite würde sehr gerne, wie der Delegationsleiter Professor Katjavivi in den letzten Tagen immer wieder betont hat, ein neues Kapital in der Zusammenarbeit aufschlagen; aber dazu müssten die Wunden,
die Deutschland in der Kolonialzeit geschlagen hat, geheilt werden. Die Bundesregierung hat viel über Versöhnung gesprochen. Hier könnte ein wichtiges Zeichen gesetzt werden. Auswärtige Kulturpolitik wird hier ganz
konkret.
Ähnliches geschah beim Haus der Kulturen der Welt
hier in Berlin. Die Regelförderung wurde reduziert und
in eine kurzfristige Projektförderung umgewandelt. Damit steht sie in jedem Jahr erneut zur Debatte. So kann
man nicht planen, und so kann man nicht arbeiten.
({7})
Auch die Situation der Auslandsschulen - an dieser
Stelle widerspreche ich meinem geschätzten Vorredner hat sich nicht nachhaltig verbessert.
({8})
Die Probleme bei den Versorgungslasten, die zwischen
Bund und Ländern hinsichtlich der Lehrerinnen und
Lehrer existieren, sind nach wie vor nicht gelöst.
({9})
Ich erinnere schließlich auch noch an die Künstlerakademie Tarabya.
({10})
Auch diese konnte nur wegen des parteiübergreifenden
Einsatzes im Unterausschuss Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik an den Start gehen.
({11})
Mein Fazit: Das Auswärtige Amt verfügt erstens
nicht über die erforderliche Kompetenz im Kultur- und
Bildungsbereich,
({12})
ist zweitens nicht in der Lage, die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen in den Haushaltsdebatten durchzusetzen, und ist schließlich drittens nicht gewillt, sich
bei seinen Entscheidungen auf den Rat der parlamentarischen Gremien zu stützen. Schade eigentlich.
Dem Entschließungsantrag der SPD, der auch unsere
Kritik verdeutlicht, werden wir hier zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Koppelin.
Herr Kollege Liebich, Sie werden erstaunt sein, dass
ich das, was Sie zu Namibia gesagt haben, unterstütze.
({0})
Der Kollege Frankenhauser und ich sind bemüht, dafür
noch Mittel freizubekommen; ich unterstütze, was Sie
zum Goethe-Institut gesagt haben. Das liegt daran, dass
Namibia, das heute seinen Nationalfeiertag begeht, einen
großen Befürworter hat, nämlich Hans-Dietrich
Genscher, der heute ebenfalls Geburtstag hat.
({1})
Das Wort hat nun die Staatsministerin Cornelia
Pieper.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Erstes möchte ich sagen, dass ich für die Große Anfrage
der SPD-Fraktion und die Antwort der Bundesregierung
dankbar bin; denn wir haben normalerweise nie Gelegenheit, hier im Bundestag über die Auswärtige Kulturpolitik kontrovers zu diskutieren. Ich finde, es ist ganz
wichtig, dass wir diese Debatte auch einmal im Deutschen Bundestag führen können.
({0})
Weil die Kritik der SPD aus meiner Sicht falsch ist
- zwischen den Zeilen kann man lesen, dass sie der Meinung ist, dass hier ein Paradigmenwechsel stattfindet -,
möchte ich kurz an die Geschichte der Auswärtigen Kulturpolitik erinnern. Bundesaußenminister Walter Scheel
und sein Staatsminister Dahrendorf haben Ende der
60er-, Anfang der 70er-Jahre die ersten Leitlinien für
eine Auswärtige Kulturpolitik verfasst. Staatsminister
Dahrendorf hat damals geschrieben:
Unsere auswärtige Kulturpolitik ist internationale
Zusammenarbeit im kulturellen Bereich. Sie ist Teil
unserer Außenpolitik, einer Außenpolitik, die der
Sicherung des Friedens in der Welt dienen will. Sie
muß daher zum wechselseitigen Verständnis der inneren Entwicklung der einzelnen Nationen beitragen … vor allem auch helfen, Bande zwischen den
Menschen verschiedener Nationalität zu knüpfen.
Die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, der Bundesaußenminister und ich, wir fühlen uns dieser Traditionslinie der Auswärtigen Kulturpolitik verpflichtet.
({1})
Der von mir sehr geschätzte und bereits genannte HansDietrich Genscher hat 1977 im Bundeskabinett diese
Idee weiterentwickelt und das Konzept der Auswärtigen
Kulturpolitik neu gestaltet.
({2})
Frau Schmidt, das müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen. Auch das aktuelle Konzept zur Auswärtigen Kulturpolitik, das vom Auswärtigen Amt vorgelegt wurde,
zeigt, dass wir uns diesen Ideen verpflichtet fühlen. Sie
können das im Koalitionsvertrag nachlesen. Darin steht
ganz klar, dass wir auf eine werteorientierte Außenpolitik setzen. Ich zitiere:
Heute begreift Deutschland seine Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik noch stärker als Beitrag
zur Krisenprävention, Menschenrechtsschutz und
Freiheitsförderung.
({3})
Deswegen investieren wir auch sehr stark in diese Bereiche.
Ich will Sie nur daran erinnern - das wird hier gelegentlich ausgeblendet -, dass es unter Joschka Fischer
von 1999 bis 2005 bei der Auswärtigen Kulturpolitik
eine Kürzung der Haushaltsmittel von fast 20 Prozent
gab.
({4})
2005 wurden sechs Goethe-Institute und Außenstellen
geschlossen. Das ist auch die Politik der SPD gewesen.
Wir haben erreicht - dafür möchte ich insbesondere der
Regierungskoalition, eingeschlossen die Mitglieder des
Haushaltsausschusses dieses Hauses, Dank sagen -, dass
mit 787 Millionen Euro 2013 der größte AKBP-Haushalt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes beschlossen worden ist. Das Gleiche war schon 2012 der Fall.
Dabei handelt es sich um enorme Aufwüchse.
Man kann sich natürlich wie die Kollegin Schmidt
wünschen, einen noch größeren Haushalt zu haben.
({5})
Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass trotz der von
der Bundesregierung prioritär verfolgten Haushaltskonsolidierung die Aufwendungen für die Auswärtige Kulturpolitik bis zu einem noch nie zuvor erreichten Höhepunkt gesteigert werden konnten. Das ist ein großer
Erfolg dieser Regierung, meine Damen und Herren.
({6})
Ich will auch daran erinnern, dass wir uns konkrete
Projekte vorgenommen haben. Gerade in der letzten Woche habe ich mit dem Kulturminister von Myanmar und
dem Präsidenten des Goethe-Institutes über ein neues
Kulturabkommen mit Myanmar gesprochen,
({7})
weil uns die Freiheitsrechte und die Menschenrechte so
wichtig sind.
({8})
Wir sind das erste Land der Welt, das überhaupt Kulturkonsultationen mit diesem Land führt. Das ist uns sehr
wichtig, weil wir den Demokratisierungsprozess unterstützen und die Zivilgesellschaft stärken wollen. Deswegen wird das Auswärtige Amt dazu beitragen, dass wir
dort noch in diesem Jahr ein Goethe-Institut aufbauen
können. Für die Unterstützung der Abgeordneten dieses
Hauses dafür bedanke ich mich ausdrücklich.
Wir haben ein Auslandsschulgesetz auf den Weg gebracht und gestern, Herr Kauder, im Kabinett beschlossen.
({9})
Das war der Wunsch der Vertreter aller Fraktionen dieses Hauses im Unterausschuss. Diese Regierung hat das
jetzt mit einem Eckpunktepapier auf den Weg gebracht. Darüber kann die Linke lachen;
({10})
aber Sie glauben gar nicht, wie wichtig es für die deutschen Auslandsschulen ist, einen Rechtsanspruch auf
eine Festbetragsfinanzierung für drei Jahre zu haben.
Wir werden das noch im Parlament diskutieren.
Wir haben mit den Ländern über den Versorgungszuschlag gesprochen. Sie haben ein verbindliches Eckpunktepapier vom Auswärtigen Amt übernommen, sodass wir auch da Rechtssicherheit für die Schulen haben.
Die Zahl der Partnerschaftsschulen haben wir ausgeweitet. Auch das ist ein wichtiges politisches Projekt. Bis
2014 wollen wir - ausgehend von heute 1 500 - 2 000
Partnerschaftsschulen in der Welt haben. Das ist wichtig
für den Dialogprozess und für die Stärkung der Zivilgesellschaft.
({11})
Wir haben die Innovations- und Wissenschaftshäuser auf
sichere Beine gestellt und eine Anschubfinanzierung
eingeplant.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, ich weiß, dass das Thema nicht nur
für die Abgeordneten dieses Hauses begeisterungswürdig ist, sondern auch für mich.
Am Ende will ich noch sagen: Wir haben viele neue
Impulse in der Auswärtigen Kulturpolitik gegeben. Dieses Haus hat beschlossen, dass wir die Luther-Dekade
nicht nur im eigenen Land mit Ereignissen feiern,
({0})
sondern auch in Washington 2016 und in Südkorea mit
einer großen internationalen Ausstellung auftreten. Ich
habe schon das Konzept, das ich mit Ihnen demnächst
im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss diskutieren werde, und freue mich darauf.
Frau Kollegin!
Herr Präsident, ich kann nur sagen: Wenn in der Auswärtigen Kulturpolitik ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, dann war es ein Paradigmenwechsel zum
Besseren.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Claudia Roth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist die
dritte Säule in der Außenpolitik. Sie schafft ganz eigene
politische Möglichkeiten; sie kann Türen öffnen und
Brücken bauen, wo sonst nichts mehr geht und wo alles
verschlossen erscheint. Wir haben das bei unserer
schwierigen Reise in den Iran und bei unserer Reise mit
dem DFB nach Nordkorea erlebt.
Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit sind
eigentlich gut. Der Unterausschuss Auswärtige Kulturund Bildungspolitik wird von einer unglaublich offenen
und kollegialen Atmosphäre getragen, in der wir parteilich, aber nicht parteipolitisch für wichtige Kultur- und
Bildungsprojekte kämpfen.
Aber es gibt Probleme. Sie liegen in einer - man muss
es wirklich so sagen - bisweilen festzustellenden Ignoranz der Exekutive gegenüber uns, der Legislative, und
in einem manchmal fast autistischen, verschlossenen
Kommunikationsstil der Führung des Auswärtigen Amtes.
({0})
Ein Beispiel ist das Konzeptpapier selbst, auf das wir
uns heute beziehen. Schon sein Zustandekommen war
problematisch. Das Auswärtige Amt hat die Mittlerorganisationen sehr unzureichend einbezogen. Man hat ihnen
angeboten, sie könnten ihre Vorschläge ja übermitteln.
Wenn das alles ist, dann ist das kein konstruktiver Diskussionsprozess mit dem Goethe-Institut, dem DAAD
und all den anderen Organisationen, die unsere Außenkulturpolitik Tag für Tag mit Leben erfüllen.
Wichtige Bereiche wie der Sport und seine Chancen
spielten am Anfang gar keine Rolle. Auch die fachlich
zuständigen und, wie ich glaube, wirklich kompetenten
Mitglieder des Unterausschusses waren in die Erarbeitung dieses Konzepts mitnichten einbezogen. Wir wurden nur Knall auf Fall zur Präsentation des sogenannten
Konzepts eingeladen. Danach ist nicht viel passiert. Ich
finde, es ist eine Diskrepanz - das bezieht sich nicht auf
Sie, Frau Pieper -, wenn der Außenminister das Hohelied von der dritten Säule der Außenpolitik singt, es aber
nicht für nötig erachtet, in dreieinhalb Jahren auch nur
ein einziges Mal den politisch zuständigen Ausschuss zu
besuchen, um mit den zuständigen Personen zu diskutieren.
({1})
Die Reihenfolge der im Untertitel des Papiers genannten Aufgaben - „Partner gewinnen, Werte vermitteln, Interessen vertreten“ - kann man getrost umkehren.
Die Interessenvertretung rückt eindeutig an die erste
Stelle, und zwar so, dass Kunst und Kultur zum Beiwerk
einer reinen Wirtschaftsförderung werden. Das ist in der
Konsequenz die Entleerung von Auswärtiger Kulturpolitik.
({2})
Wo im Konzept von Kunst und Kultur die Rede ist, geht
es mehr und mehr vorrangig um Sichtbarkeit, um große
Ausstellungsformate oder - man könnte es auch direkter
sagen - um die Show und den Showeffekt.
({3})
Für das konkrete Alltagsgeschäft der AKBP interessiert
man sich deutlich weniger.
Problematisch finde ich auch die Heilsversprechen einer fortschreitenden Privatisierung, unter anderem bei
der Finanzierung von Stipendien, bei Wissenschaftsprogrammen und bei den Auslandsschulen - kein Wort zu
den Gefahren, die da drohen. Ich jedenfalls möchte
nicht, dass nur noch die Kinder der Geldeliten dieser
Welt an deutsche Auslandsschulen geschickt werden
können.
({4})
Genau das macht nämlich den Unterschied zwischen
deutschen und anderen Auslandsschulen aus. Der Eigensinn von Kunst und Kultur wird insbesondere bei den
Deutschland-Jahren verfehlt - Großevents in Schwellenländern, die im Feuilleton schon einmal als neuer deutscher Wanderzirkus bezeichnet werden.
Bei der Suche nach den nachhaltigen Effekten dieses
Formats sind die Antworten auf die Große Anfrage der
SPD nicht wirklich schlüssig. Statt auf solch teure Strohfeuer zu setzen, wäre es doch wirklich besser, die Mittel
für das Goethe-Institut nicht bis tief ins Jahr hinein mit
Haushaltssperren zu belegen. Das wäre zumindest ein
besserer und günstigerer Weg hin zu mehr Nachhaltigkeit. Das gilt übrigens auch für das Haus der Kulturen
der Welt, das seit Jahren darunter leidet, dass ein Teil der
Mittel auf Projektförderung umgestellt wurde. Das bedeutet eine sehr große Unsicherheit bei der Finanzierung
und konterkariert die guten Erfolge des Hauses bei der
Einwerbung von Drittmitteln.
Ich glaube, die völlig unnötigen Konflikte rund um
die Künstlerakademie Tarabya hätten wir uns wirklich
sparen sollen. Ihre Einrichtung war vom Bundestag einClaudia Roth ({5})
mütig beschlossen, musste dann aber nach jahrelangem
heftigem Kampf vor allem gegen Teile der Leitung des
Auswärtigen Amtes durchgesetzt werden. Dabei haben
wir doch allen Grund, den kulturellen Austausch mit der
Türkei auszubauen, einem Land, das in der globalisierten Welt immer größere Bedeutung bekommt und mit
dem wir durch die Migrationsgeschichte seit über
50 Jahren in ganz besonderer Weise verbunden sind.
Lassen Sie mich noch einen Punkt benennen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Nicht zu Tarabya. - Ich weiß schon: Ich habe Sie
nicht gewürdigt; das stimmt. Ich hätte sagen müssen:
Das war ein langer Kampf gegen Teile des Auswärtigen
Amtes und gegen Haushälter wie Sie, Herr Koppelin.
({0})
Ist das ein Ja oder ein Nein zur Zwischenfrage?
({0})
Ich habe ihn vergessen; das tut mir sehr leid. Ich habe
ihn nicht gewürdigt in dem Kampf, den wir gegen ihn
geführt haben.
({0})
Dann ist das erledigt.
Ein wirklich überflüssiges Vorhaben war auch Minister Westerwelles German Academy in New York. Das
Gebäude an der 5th Avenue, ein historischer Ort, an dem
so viel von unserer Geschichte, auch von unserer Nachkriegsgeschichte, hängt, sollte zu einer kulturfreien Präsentationsräumlichkeit der deutschen Regierungs- und
Wirtschaftspolitik umgebaut werden. Wir sind dem Auswärtigen Ausschuss wirklich dankbar, dass er dieses
Vorhaben gestoppt hat.
Ein weiterer Schnellschuss war das Vorhaben, die gewachsenen Präsenzen des Goethe-Instituts in Westeuropa auszudünnen, um ein angebliches Ungleichgewicht
im Verhältnis zu Osteuropa auszugleichen. Ich glaube,
man hat sich da einfach ein bisschen verrechnet. Jetzt
wird nachgerechnet, zum Beispiel was die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen angeht.
Mein letztes Beispiel ist von Vorrednerinnen und Vorrednern, auch von Ulla Schmidt, schon benannt worden:
das groß angekündigte 12-Milliarden-Euro-Sonderprogramm der Bundesregierung für Bildung.
({0})
- 13 Milliarden Euro. - Die Zuflüsse für das Auswärtige
Amt, die daraus resultieren, sind - daran gibt es nichts
zu rütteln - für Bilanzkosmetik, zum Stopfen von Haushaltslöchern benutzt worden, aber nicht für eine Weiterentwicklung der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Das ist wirklich eine Trickserei; das ist nicht seriös.
({1})
Es muss ja Gründe haben, warum die Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker im Unterausschuss den
Haushaltsentwurf für 2013 abgelehnt haben. Noch hat
Rot-Grün nicht die Mehrheit in diesem Ausschuss.
({2})
Also haben andere dazu beigetragen.
({3})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss. - Was wir uns wünschen,
ist nicht nur die Ablehnung von getricksten Haushaltsentwürfen, sondern eine inspirierte Politik, die Gespür
hat für Kunst und Kultur und für die Chancen, die im
Dialog in der Kulturpolitik liegen.
Frau Kollegin!
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, nicht nur in
der Politik, sondern auch in der Regierung.
({0})
Das Wort hat nun Peter Gauweiler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Eine inspirierte Politik wünschen wir
uns alle; aber ich glaube, dass wir die im Bereich der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auch haben.
Ich habe mich nicht nur gefreut, weil Herr Polenz
mich gelobt hat - das ist sicherlich richtig -,
({0})
sondern weil er als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses unsere gemeinsamen Anstrengungen gewürdigt
hat. Jenseits des Spiels von Opposition und Regierung
- das sein muss, aber irgendwo auch langweilt - ist es
doch gut, dass wir die Dinge hier gemeinsam vorangebracht haben. Es ist völlig egal, mit welchem Fremdwort
oder mit welcher Metapher man das beschreibt. Eine
neutrale Stimme - die Sie, das weiß ich, auch achten -,
der Präsident des Goethe-Instituts, Herr Professor
Lehmann, hat vor wenigen Wochen erklärt: Das Jahr
2012 war das erfolgreichste Jahr in der Geschichte des
Goethe-Instituts. - Das ist doch etwas; darauf können
wir alle uns etwas einbilden.
({1})
Die Geschichte von Außenminister Fischer braucht
man nicht zu wälzen. Ich habe selber erlebt, Frau Roth,
wie Herr Fischer auf Ihre Kollegin Antje Vollmer losgegangen ist, wie er sie heruntergebügelt hat, als sie über
einzelne Kulturprogramme geredet hat und wohlerzogen
und artig gefragt hat, ob man da nicht vielleicht doch irgendetwas machen könnte.
({2})
Ich habe als Oppositionspolitiker im Goethe-Institut
erlebt, wie die sehr geschätzte Präsidentin Jutta Limbach
von Ihrem Generalsekretär vor uns allen, was höchst
peinlich war, darauf hingewiesen worden ist, dass man
unter ganz bestimmten Umständen eigentlich auch Insolvenz anmelden müsste.
2006 ist es dann mit Herrn Steinmeier als Außenminister und Frau Merkel als Bundeskanzlerin - das gehört zur Wahrheit dazu - besser geworden.
({3})
Im letzten Jahr hatten wir in Bezug auf die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik einen absoluten Rekordhaushalt.
({4})
- Entschuldigung, nicht „Ach“. - Wenn ich Oppositionspolitiker wäre, was ich nur gelegentlich bin,
({5})
dann würde ich einwenden: Es muss dann aber auch
noch im Kopf stimmen.
({6})
Das Geld als solches macht es nicht aus.
Hier muss man sagen: Es kann doch wirklich keine
Rede davon sein, Frau Schmidt, dass sich unsere Richtungsbestimmung in irgendeiner Weise zum Negativen
geändert hätte. Das krasse Gegenteil ist der Fall.
({7})
- „Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein
System bereiten …“: Das wissen wir ja alle und können
wir bei Mephistopheles nachschlagen.
Schauen Sie sich allein die Programme der GoetheInstitute an, die wir gemeinsam durchgesetzt haben: In
92 Ländern finden Deutschkurse statt, interkulturelle
Kurse, Bildungsoffensive Deutsche Sprache, 1 000 neue
Deutschlehrer für die Türkei, das Programm „1 000 neue
Schulen für Indien“, Berufsstart für 100 Deutschlehrer in
Ägypten,
({8})
die sprachliche Qualifizierung von Fachkräften, die Werbung für Deutsch in Polen - dieser berühmte „DeutschWagen“, für den Sie waren - und in Italien, wo jetzt diverse Fahrzeuge mit riesigen Mengen an Lernmaterialien herumfahren, die Kampagne „Lernt Deutsch“ in
Russland, Tschechien, Frankreich, Großbritannien und
Kolumbien und die Deutsch-Projekte in vielen anderen
Ländern, die ich hier jetzt aus Zeitgründen nicht aufzähle.
Es hat einen einzigen doofen Paradigmenwechsel gegeben, aber der betrifft keinen einzigen und keine Fraktion hier in diesem Raum. Den gab es irgendwo bei einem Beamten
({9})
im Bellevue-Forum. Aus Taktgefühl und Höflichkeit
will ich das jetzt nicht im Einzelnen darstellen, und ich
hoffe, dass das ein einmaliger Ausrutscher gewesen ist.
Schauen Sie sich auch an, was wir in den letzten drei
Jahren in Bezug auf den Deutschen Akademischen Austauschdienst gemacht haben - das war doch mit Ihr Projekt -:
({10})
Deutsches Wissenschaftszentrum in Kairo, Deutsch-Arabische Transformationspartnerschaft, die ganzen doch
sehr teuren, vom Steuerzahler finanzierten Stipendien
für Studenten in Kasachstan, Aserbaidschan und Tschetschenien und das große Projekt in Pakistan.
Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung hat eine absolute Rekordzahl erreicht; das hat es noch nie gegeben.
25 000 Humboldtianer sind hier tätig. Diejenigen, die
sich mit Bayern auskennen, wissen: Das große, weltweite Maximilianeum-Projekt wird von Deutschland aus
geführt.
Es ehrt den Deutschen Bundestag, dass diese ganzen
Beschlüsse dazu einstimmig gefasst worden sind. Reden
Sie hier also nicht von einem Paradigmenwechsel - außer, dass es positiv anzusehen ist!
({11})
Ich will auch sagen: Frau Pieper, wir haben Sie oft genug unterstützt - am liebsten gegen Ihren eigenen Apparat. Was Frau Roth hier sagte, ist aber - das wissen Sie
selber; Sie brauchen das hier jetzt nicht zu sagen - nicht
ganz falsch. Da hat es im Einzelfall genug Probleme gegeben. Es ist aber ein großer Erfolg - das will ich hier
schon auch sagen -, dass Sie es bei all den Schwierigkeiten, die Ihnen hier begegnet sind, geschafft haben, dass
die Bundesregierung Ihren Gesetzentwurf zum Auslandsschulgesetz gestern doch noch verabschiedet hat.
Dafür möchte ich Ihnen an dieser Stelle herzlich gratulieren. Das haben Sie gut gemacht.
({12})
Das heißt nicht, dass wir hier jetzt nicht noch ein paar
Verbesserungsvorschläge machen würden. Zum Teil sind
es Vorschläge, die Sie offen oder verdeckt selber schon
gemacht haben. Wir sind uns klar, dass wir in diesem
Gesetzentwurf noch etwas für die PASCH-Schulen machen müssen und dass wir den Förderkreis so gestalten
müssen, dass die vielen kleinen Auslandsschulen nicht
wegfallen.
Ich habe an dieser Stelle schon einmal gesagt: Ich halte
es für einen kulturellen, zivilisatorischen Erfolg, dass
vorletztes Jahr, vor 20 Monaten, zum ersten Mal seit über
30 Jahren, in Teheran wieder ein deutsches Abitur angeboten worden ist und dieses von 13 Schülerinnen und
Schülern mit Erfolg abgelegt wurde. Wir dürfen dieses
Gesetz nicht so zuschneiden, dass dann solch kleine
Schuleinheiten von der Förderung nicht mehr erfasst werden würden. Da ist ein anderer Konstruktionsschlüssel erforderlich als beim Aufbau und der Organisation einer
Schule in Berlin-Tempelhof oder in München-Bogenhausen.
({13})
Alles in allem glaube ich, dass es gut ist, dass Sie uns
mit der Fleißarbeit dieser Großen Anfrage - 127 Fragen
wollen erst einmal ausgedacht, formuliert, geschrieben
und begründet werden;
({14})
jeder von uns, der an solchen Dingen arbeitet, weiß, dass
darin viel Gehirnschmalz steckt - die Gelegenheit geben, uns im Plenum des Deutschen Bundestages mit dieser Thematik zu befassen.
Das nächste Thema wird das Auslandsschulgesetz
sein. Es wäre ein großer gemeinsamer Erfolg für uns
alle, wenn wir es trotz Wahlkampf schaffen würden, dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Edelgard Bulmahn für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Auswärtige Kulturpolitik ist
nicht nur eine dritte Säule der Außenpolitik, sondern
diese Politik ist es, die häufig Brücken baut, die ganz
häufig erst Türen öffnet und die - so habe ich das oft erlebt - oft überhaupt erst Wege für politische Beziehungen und für gute Partnerschaft und Nachbarschaft ebnet.
({0})
Deshalb lohnt es sich auch, darüber zu streiten: Wie können wir unsere Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
weiterentwickeln, damit sie dieser wichtigen Rolle noch
besser gerecht wird, als das vielleicht in der Vergangenheit geschehen ist?
Ich sage ausdrücklich: Der Unterausschuss spielt dabei eine wichtige und konstruktive Rolle. Was das AA in
seinem Konzept niedergelegt hat, dass Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik dazu beitragen soll, den Dialog,
den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Menschen und zwischen den Ländern zu stärken, das kann
von uns allen sicherlich unterschrieben werden. Dass
dann sogar noch gesagt wird, dass sie auch Beiträge zur
Lösung regionaler und lokaler Konflikte leisten kann,
das unterstreiche ich ausdrücklich.
So weit die Theorie. Die Praxis sieht aber leider oft
etwas anders aus. Wir diskutieren heute jedoch über die
Praxis, nicht nur über die Theorie, weil sich daran die
Qualität von Politik bemisst. Es geht darum, ob das, was
ich als Konzept, als Theorie formuliere, tatsächlich in
die Praxis umgesetzt wird. Die Praxis des AA orientiert
sich jedoch offensichtlich an der Leitfrage: Was nützt
Deutschland wirtschaftlich?
({1})
Das ist der Unterschied zwischen uns.
Ich erkenne durchaus an - das ist überhaupt keine
Frage -, dass Sie die Finanzierung der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik verbessert haben. Ich will allerdings einen Satz hinzufügen. Ich erinnere an das Jahr
2000, in dem wir - damals allerdings seitens des BMBF,
nicht vom AA -, GATE-Germany starteten, Ausgründungen von Hochschulen in Ägypten, Jordanien, Singapur und China starteten und erfolgreich durchführen,
verbunden mit erheblichen Mittelaufstockungen für den
DAAD und auch für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Diese Initiativen im Ausland haben die folgenden
Regierungen weitergeführt. Das freut mich. GATE-Ger28858
many wurde weitergeführt; die Erhöhung der Zahl der
Auslandsstipendien wurde fortgesetzt; das freut mich.
Aber ich sage ausdrücklich: Auswärtige Kulturpolitik
ist aus unserer Sicht noch mehr. Kulturpolitik muss auch
immer gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln.
Sie soll das schöpferische und innovative Potenzial einer
Gesellschaft, eines Landes und das geistige Fundament
darstellen und vermitteln. Auch das ist eine wichtige
Aufgabe der Kulturpolitik, nicht nur die Verfolgung
wirtschaftlicher Interessen.
({2})
Diese Aspekte kommen uns in Ihrer Politik zu kurz.
Ich habe gestern Diskussionen mit über hundert jungen Menschen gehabt, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Worüber haben wir diskutiert? Über die
großen globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir haben über den Klimawandel, das Gefälle in
der Entwicklung der unterschiedlichen Länder sowie
über die große Kluft zwischen Arm und Reich diskutiert.
Es ist notwendig, dass wir genau solche Debatten und
Diskussionen führen. Der Wert der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik misst sich auch daran, welchen Beitrag sie dazu leistet, dass es eine direkte, vorurteilsfreie
Zusammenarbeit von Menschen, Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern sowie Kulturschaffenden, gibt. Ein
freier Austausch von Ideen, Kenntnissen, Erkenntnissen,
Erfahrungen und Sichtweisen sowie zugrunde liegenden
Wertorientierungen, das ist ein Wert an sich, der sich
ökonomischen Kategorien erst einmal entzieht, der aber
ganz erhebliche Bedeutung für das friedliche und produktive Zusammenleben von Menschen hat.
({3})
Die erfolgreiche Bewältigung der globalen Herausforderungen hängt davon ab, ob hier entscheidende Beiträge zur Lösung entwickelt werden können. Das ist,
finde ich, eine der wichtigsten Aufgaben Auswärtiger
Kulturpolitik. Bei aller Liebe, Kolleginnen und Kollegen, das können Sie nicht durch Ausstellungen leisten.
({4})
Das können Sie nur durch das Zusammenführen von
Menschen und die Vergabe von Stipendien leisten. Wir
brauchen davon mehr als bislang.
Ich will einen zweiten Punkt nennen, der mir wichtig
ist. Der Deutsche Bundestag gestaltet die Rahmenbedingungen und stellt die Finanzierung sicher. Aber entscheidend ist, dass die Mittlerorganisationen ihre wichtige
und erfolgreiche Arbeit gut fortsetzen können.
({5})
Dazu gehört Verlässlichkeit bei der Finanzierung und
den Rahmenbedingungen. Da gibt es, ganz offen gesagt,
noch etwas zu tun. Lieber Herr Kollege Vorsitzender des
Unterausschusses, der Unterausschuss hat genau dies
immer in den Mittelpunkt seines Wirkens gestellt: Verlässlichkeit bei Finanzierung und Rahmenbedingungen.
Wenn ich sehe, dass die Goethe-Institute in den letzten
drei Jahren 12 Millionen Euro verloren haben, gleichzeitig aber immer neue Aufgaben und Anforderungen an sie
gestellt werden, dann ist das das Gegenteil von Verlässlichkeit. Wir müssen aber für Verlässlichkeit sorgen.
({6})
Liebe Kollegen, Bildung ist mehr als schulische Ausbildung oder das Erlernen der deutschen Sprache; das
wissen wir alle doch. Bildung ist die Befähigung zu
Emanzipation, Demokratie und Aufarbeitung von Konflikten. Dem konkreten Handeln der Bundesregierung
fehlt es genau an dieser Dimension des Bildungsbegriffs.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb verwundert es mich nicht, dass Kulturvermittler, Fachleute und Politiker nicht nur aus der Opposition, sondern auch aus den Organisationen hier die Bundesregierung kritisieren.
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen. Ich hoffe
sehr, dass der nun erarbeitete Entwurf eines Auslandsschulgesetzes im Deutschen Bundestag noch deutlich
verändert wird. Warum? Weil es nicht angeht, dass nur
ein Drittel der Schulen Mittel erhalten; das ist wirklich
eine falsche Politik.
({0})
Weil es auch nicht angeht, dass die Gemeinwohlorientierung aufgegeben wird. Diese Orientierung ist immer ein
wichtiger Punkt im Hinblick auf die Wertschätzung der
deutschen Schulen gewesen. Weil es auch nicht angeht,
dass die Qualität der deutschen Schulen leidet, weil immer weniger Lehrer - aus unserem eigenen Land - dort
tätig sind und genau das tun, was wir auch wollen, nämlich Kultur vermitteln. Deswegen sage ich ausdrücklich:
Wenn wir wollen, dass die deutschen Schulen weiterhin
hohe Anerkennung finden und dazu beitragen, dass
Deutschland als Kulturnation Wertschätzung im Ausland
erfährt,
Frau Kollegin!
- dann muss dieser Gesetzentwurf verändert werden.
Da baue ich auf Sie alle.
({0})
Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herzlichen Dank, dass ich nach den ausleitenden Worten von
Frau Bulmahn doch noch vor Einbruch der Dunkelheit
hier sprechen kann.
({0})
Herzlichen Dank im Namen meiner Fraktion und möglicherweise auch aller anderen Kolleginnen und Kollegen
an all diejenigen, die weltweit für Deutschland im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik tätig
sind. Sie sind für das Bild unseres Landes von herausragender Bedeutung. Ihre Arbeit wird sehr geschätzt. Vielen herzlichen Dank für Ihre Arbeit im Ausland.
({1})
Herzlichen Dank an Frau Staatsministerin Pieper für
ihre Worte hier und an Außenminister Westerwelle, der
zur Auswärtigen Kulturpolitik im Auswärtigen Ausschuss gesprochen hat
({2})
und auch den Kulturausschuss besucht hat. Joschka
Fischer hat das nie geschafft.
({3})
Herr Westerwelle war bereits nach wenigen Monaten bei
uns. Auch das muss an dieser Stelle ganz deutlich erwähnt werden.
({4})
- Herr Koppelin - Frau Schmidt, das wissen Sie selber war nie bei uns im Kulturausschuss. Was soll er auch
dort? Denn zeitgleich tagt der Haushaltsausschuss.
({5})
Aber das ist eine technische Frage, die der Bundestag
hier gar nicht klären muss.
({6})
Wenn ich es richtig sehe, formuliert die Opposition in
diesem Entschließungsantrag ungefähr drei wirkliche
Kritikpunkte. Der eine ist, dass sich die Konzeption auf
Bildung konzentriert, der zweite, dass die Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik jetzt auch auf Osteuropa
ausgerichtet wird, und der dritte Punkt ist die Konzentration auf das Wesentliche. Sie nennen das „geostrategische Gründe“. Wir sagen: Genau die drei Punkte, die Sie
kritisieren, sind der Grund für den Erfolg der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik seit 2009.
Auch in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
zeigen wir, dass Bildung der erklärte Schwerpunkt dieser Koalition ist. Das drückt sich nicht nur in den Haushaltszahlen aus, sondern auch darin, dass wir der Bildung Nachdruck und Gewicht verleihen, im Inland und
eben auch im Ausland. National wie international wird
die Bildung für uns immer mehr zur Schlüsselfrage. Es
treten neue Kraftzentren in der Welt auf; sie sind dabei,
in die erste Liga aufzusteigen. Ein rohstoffarmes Land
wie Deutschland muss vor allen Dingen in eine Ressource investieren, und das ist Bildung. Keine andere
Bundesregierung hat das so stark gemacht wie diese
Bundesregierung. Die einzelnen Maßnahmen hat Herr
Kollege Gauweiler eben sehr schön vorgetragen. Die
muss ich nicht wiederholen. Sie sprechen für den Erfolg
und für diese Bundesregierung.
Das alles geschieht in Zeiten knapper Kassen. Dass
die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik aus ihrem
Mauerblümchendasein herausgeholt wird, ist ein Erfolg,
den insbesondere die FDP und das von ihr geleitete Auswärtige Amt für sich verbuchen können. Wir haben es
geschafft, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik
eine Staatsministerin zu berufen, die für Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik zuständig ist.
({7})
Was die Ausrichtung betrifft - das ist ein wichtiger
Punkt -, so muss man sagen: Wir müssen die Welt wahrnehmen, wie sie ist, und nicht so, wie sie war. Für die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik gilt das in ganz
besonderer Weise. Es ist nicht nur Schöngeisterei, die
uns zusammenführt. Bilderausstellungen in Italien oder
Madrid sind von Bedeutung, sie sind wichtig; aber
Sprachkurse in Minsk oder Moskau sind von mindestens
gleich großer Bedeutung. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass Bildung endlich wieder einen ordentlichen
Stellenwert auch im Ausland erhält.
({8})
Die Europäische Union ist natürlich das Fundament
der deutschen Außenpolitik. Aber Herr Westerwelle
sagte ja so schön: Europa ist nicht Westeuropa. - Es
heißt schließlich Europäische Union und nicht Westeuropäische Union. Deswegen kümmern wir uns verstärkt
um Osteuropa. Wir wollen nicht irgendwo etwas wegnehmen, sondern wir wollen Schieflagen beseitigen. Die
sind offenkundig in Osteuropa. Deswegen konzentrieren
wir uns verstärkt auf Bildung, und wir konzentrieren uns
stärker auf Osteuropa.
Letztlich zum Vorhalt, den Sie zu den ökonomischen
Gründen gemacht haben: Wo leben wir denn? Wir leben
in einer Zeit, in der Deutschland im internationalen
Wettbewerb steht, in der wir uns den Luxus von Fachkräftemangel erlauben und in der wir entsprechend reagieren müssen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht nur ein
Wert als solcher ist; Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik kommt vielmehr da zum Tragen, wo die normale
Diplomatie versagt. Dann wird sie ein knallharter Stand28860
Patrick Kurth ({9})
ortfaktor. Das hat diese Bundesregierung erkannt. Sie
führt diese Politik durch und wird sie weiterhin durchführen, weil sie erfolgreich ist.
Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bin einer der wenigen Redner, die nicht
vom Präsidenten aufgefordert worden sind, zum Ende zu
kommen. Ich bedanke mich sehr herzlich.
Danke schön.
({10})
Obwohl auch Sie beinahe eine Minute überzogen haben. Nur, damit Sie nicht zu stolz davonkommen.
Das Wort hat nun Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik war in der Vergangenheit immer ein ganz bedeutsamer Baustein deutscher Außenpolitik. Herr Polenz, Sie haben darauf hingewiesen: Insbesondere die zahlreichen Initiativen des
Auswärtigen Amtes in der Amtszeit von Minister
Steinmeier haben hier Maßstäbe gesetzt. Das gilt im Übrigen für die Steigerung der Haushaltsmittel ebenso wie
für inhaltliche Impulse.
({0})
Frau Staatsministerin, selbstverständlich ist es das
gute Recht einer jeden neuen Regierung, eigene, vielleicht auch tatsächlich neue Schwerpunkte zu setzen.
Von daher haben wir durchaus mit einem gewissen Interesse im Jahr 2011 Ihrem Konzeptpapier zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik entgegengesehen.
Doch nicht allein aus Sicht derer, die sich in besonderer Weise dem Sport verbunden fühlen, war das Papier
eine einzige Enttäuschung. Es löste Reaktionen aus, die
von Kopfschütteln bis hin zu völliger Verständnislosigkeit reichten,
({1})
Letzteres übrigens nicht etwa nur aus den Reihen meiner
Fraktion, sondern gleichermaßen von den bewährten
Partnern aus dem organisierten Sport. Unglaublich, aber
wirklich wahr, Frau Staatsministerin: kein Wort zur
Rolle des Sports im gesamten Papier, erst später, dürftig
nachgebessert, ein dürrer Halbsatz.
Aber, Herr Kollege Koppelin, das passt ja ins Bild einer stetigen Kürzung dieses Haushaltsansatzes für den
Sport im Einzelplan 05 seit 2010. Die Regierung dieser
Koalition trägt die Verantwortung für die Reduzierung
der Mittel in Höhe von 5 Millionen Euro im Jahr 2010
auf mittlerweile nur noch 4,5 Millionen Euro. Das, Herr
Kollege Koppelin, liegt auch in Ihrer Verantwortung.
({2})
- Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Dann können
Sie das gerne tun.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die stiefmütterliche Behandlung des Sports in der Konzeption des
Auswärtigen Amtes steht nur beispielhaft für eine offenkundige Neuausrichtung - die Kolleginnen haben bereits
darauf hingewiesen - der gesamten Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik.
Statt einer werte- und bildungsorientierten, gesellschaftlichen Entwicklungen angepassten Politik auf Augenhöhe wird hier ganz offensichtlich ein Kurswechsel
in Richtung eines von eher wirtschaftlichen, politischen
und geostrategischen Zusammenhängen dominierten
Rahmens angestrebt. Das ist nicht unser Weg.
({4})
Wir fordern deshalb eine Kurskorrektur unter Einbeziehung der Expertise von den Trägern und den zivilgesellschaftlichen Akteuren, die seit vielen, vielen Jahren
durch ihre exzellente Arbeit das Bild Deutschlands in
der Welt mitprägen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin
Bulmahn hat bereits darauf hingewiesen: Im Kabinett ist
ein Entwurf für ein Auslandsschulgesetz verabschiedet
worden. Ein solches Gesetz, Frau Staatsministerin, ist in
der Tat der Wunsch aller Fraktionen, damit unsere Auslandsschulen Planungssicherheit erhalten und die hohe
Qualität der Ausbildung erhalten bleibt.
Für meine Fraktion darf ich Ihnen aber ganz deutlich
sagen: Wir werden einem solchen Gesetz wirklich nur
dann zustimmen können, wenn die Gemeinwohlorientierung gesichert ist, die Planungs- und Finanzierungssicherheit für alle 141 Schulen gegeben ist und auch kleinere Schulen und Schulen im Aufbau Förderung erhalten
können.
({6})
Frau Staatsministerin, Sie haben in Ihren Ausführungen auf den Koalitionsvertrag verwiesen. Dazu kann ich
Ihnen nur sagen: Wohlfeile Worte bedeuten noch lange
nicht gutes Regierungshandeln.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem
Jahr begehen wir den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages in einer Freundschaft zu Frankreich, die noch vor
50 Jahren fast undenkbar schien. Und es ist ja kein Zufall, dass in diesem Vertrag vor allem die Kulturbeziehungen und der Jugendaustausch eine maßgebliche
Rolle spielen. Warum? Weil die friedensstiftende Wirkung dieser Instrumente unbestritten ist, gerade in Zeiten, in denen viele Konflikte weltweit kulturell grundiert
sind, also ethnische und religiöse Komponenten bestimmend sind. Denn dann kommt der Kultur eine ganz besondere Rolle zu.
Eine so verstandene Kultur gibt Auskunft über die
Wertegrundlagen einer Gesellschaft. Sie ist, Frau
Bulmahn, eben nicht nur ein Standortfaktor, sondern
Ausdruck von Humanität.
({0})
Und genau diesem Geist, Frau Schmidt, ist eben auch die
Auswärtige Kulturpolitik in Deutschland verpflichtet.
({1})
Und Herr Liebich, kaum anderswo kann man so augenfällig und konkret wie in der Auswärtigen Kulturpolitik studieren, dass die unmittelbare Nachkriegsordnung substanziell ergänzt worden ist. Bis zum Fall der
Mauer stand das größte Goethe-Institut in Paris. Wo
steht es jetzt? In Moskau! Wollen Sie etwa ernsthaft bestreiten, dass es sinnvoll ist, in Brennpunkten wie in
Myanmar oder in Libyen neue Goethe-Institute aufzumachen?
({2})
Ganz aktuell: Wir haben vor anderthalb Jahren in Nikosia zum zweiten Mal das Goethe-Institut eröffnet, und
zwar an der brisanten Nahtstelle zwischen beiden Inselteilen. Herr Liebich, wollen Sie ernsthaft behaupten,
dass das ein Fehler war?
({3})
Die Bedeutung Europas gerade jetzt als Ausgangspunkt der Vermittlung unserer kulturellen Werte und
eben nicht nur vordergründiger wirtschaftlicher Interessen drückt sich ja darin aus, dass wir in Europa kein Institut schließen, wenn wir woanders ein neues aufmachen. Das bedeutet übrigens auch, die französischen und
italienischen Präsenzen zu stützen, die im Übrigen in erheblichem Umfang mit Ortskräften arbeiten, in denen
die Sprachkurse mehr Geld einbringen, als sie kosten,
({4})
und für die viel mehr Drittmittel eingeworben werden,
als Zuschüsse vergeben werden. Es wäre wirklich ein
grobes Missverständnis, hier Fragezeichen zu setzen.
({5})
Die Arbeit der Goethe-Institute ist für die Integration
in Deutschland wichtig, für die zivilgesellschaftliche
Ordnung und Verantwortung in Europa,
({6})
Frau Schmidt, und auch für die Vermittlung unserer
Werte in der Welt. Gerade da, wo Politik und Diplomatie
an Grenzen stoßen, ist es doch immer wieder die Kultur,
die die Brücken baut.
({7})
Ich erinnere an die große Ausstellung aus München,
Dresden und Berlin, die wir in China, in Peking, durchgeführt haben. So wird Museumspolitik im Dienst der
Menschenrechte gemacht. Damit ist einer halben Million
Chinesen der Geist der europäischen Aufklärung nahegebracht worden.
({8})
Es ist so, dass wir die betroffene Zivilgesellschaft hermetisch abgeschlossener Staatengemeinschaften über
unser Kulturengagement erreichen. In Nordkorea geschah das über einen Lesesaal, in Afghanistan über Mädchenschulen. In Teheran haben wir wieder Verträge mit
DAAD und DAI unterschrieben. In Vietnam wurde der
Parzival aufgeführt - das muss man sich einmal vorstellen -, und in China waren wir vor 14 Jahren die Ersten,
die dort ein Kulturinstitut eröffnet haben. Heute sind wir
die Einzigen, die dort zwei haben.
Wir glauben zwar nicht, dass man den Funktionären
damit den Kopf verdreht, aber für die Zivilgesellschaft,
für die Menschen sind gerade diese Dinge häufig der
einzige Hoffnungsschimmer. Diesem Geist verdankt sich
unsere Auswärtige Kulturpolitik. Natürlich gehört in
diesen Zusammenhang die Eröffnung der Kulturakademie Tarabya. Wir wissen, dass wir in den deutsch-türkischen Beziehungen in den letzten zehn Jahren tatsächlich einiges versäumt haben. Deshalb wollen wir kein
Kulturengagement mit einem beliebigen Nebeneinander
oder Nacheinander wechselnder Veranstaltungen, sondern eher ein Artist-in-Residence-Programm, das stabile
bilaterale Beziehungen in den meinungsbildenden Milieus beider Gesellschaften begründet. Wir wollen also ein
echtes, nachhaltiges Netzwerk. Darauf hinzuarbeiten,
das ist unser Erfolg in der Auswärtigen Kulturpolitik.
Wie Sie wissen - auch Frau Schmidt weiß das ja -, leben wir in Zeiten großer Haushaltsdisziplin. Auch das
sage ich an die Adresse - ich sehe das mit Respekt, Herr
Koppelin - des Haushaltsausschusses. Kürzungen in allen
Ressorts sind nötig; davon nehmen wir nur die Bildung
aus. Das ist eine eindeutige Prioritätensetzung. Davon
profitieren auch die großen Bereiche in der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik. Deshalb haben wir - daran
hat unser Fraktionsvorsitzender mitgewirkt - 8 Millionen
Euro extra aus einem anderen Bereich für die Spracharbeit zur Verfügung gestellt. Herr Gauweiler hat die vielen
erfolgreichen Projekte in den verschiedenen Ländern aufgezählt.
Noch eins muss man sagen - das ist jetzt wichtig; das
ist an alle Ausschüsse hier im Haus gerichtet, auch an
den Haushaltsausschuss -: Wir haben Rekordzahlen bei
Sprachkursen. Sie sind gerade ein riesiger Wachstumsmarkt in Südeuropa. Das haben wir angesichts der Krisensituation dort zwar erwartet, aber das Ausmaß überrascht dann doch. Es gab mehr als doppelt so viele
Anmeldungen. Fast 200 000 Menschen wollen Deutsch
lernen. Darauf müssen wir mit Lehrern, die wir zuerst
ausbilden müssen, reagieren können. Ich bin sicher, dass
wir da auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
({9})
Zum Abschluss. Der deutsche Staat schützt seine Kultur und macht sie durch seine - auch finanziell - großzügige Förderung unabhängig von der Wirtschaft, von
Geldgebern, vom Zeitgeist. Die staatliche Fürsorge für
die Kultur, die ihre Freiheit ja aus sich heraus hat, die
Mut zum Experiment will, die das Risiko des Scheiterns
in Kauf nimmt, diese weltweit beachtete Leistung
Deutschlands für seine Kultur hat einen erheblichen Anteil an unserem hohen Ansehen in der Welt. Statt zu klagen, sollte die Opposition also auch sehen: Kultur ist der
Modus unseres Zusammenlebens. Wir können sie genauso wenig neu bestimmen wie unsere Sprache; beides
war immer schon da. Man kann Kultur, so verstanden,
nicht für etwas einsetzen; man kann sie nicht instrumentalisieren, auch nicht für die Wirtschaft. Sie ist mehr als
alles andere ein Wert an sich. Sie ist das Wie einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft und nicht das Was. Genau
in diesem Geist betreiben wir auch unsere Auswärtige
Kulturpolitik.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/12841. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-
lehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt
- Drucksache 17/12814 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Unterrichtung durch den Deutschen
Ethikrat
Stellungnahme des Deutschen Ethikrates Das Problem der anonymen Kindesabgabe
- Drucksache 17/190 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})InnenausschussRechtsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Ministerin
Kristina Schröder das Wort.
({2})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie doch
bitte Platz. Wenn Sie Ihre Gespräche fortsetzen wollen,
tun Sie dies bitte außerhalb des Plenarsaals.
Frau Ministerin, jetzt haben Sie das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schwer, die Beweggründe einer Mutter zu verstehen,
die ihr Neugeborenes so schnell wie möglich weggeben
will. Überforderung und Hilflosigkeit, existenzielle
Ängste und tiefe Verzweiflung dürften bei allen betroffenen Frauen zu den Motiven gehören. Das bringt sie in
vielen Fällen dazu, ihr Kind ohne Hilfe zu gebären. Sie
finden sich dann in einer Situation wieder, die lebensbedrohlich ist - für Mutter und Kind - und in der sie oft im
Affekt entscheiden, wie sie mit dem Kind umgehen, das
sie verheimlichen wollen oder verheimlichen müssen.
In Deutschland werden jedes Jahr 20 bis 35 Kinder
direkt nach der Geburt ausgesetzt oder getötet. Das sind
die Fälle, von denen wir wissen. Von 2000 bis 2010 wurden außerdem 973 Kinder anonym in Krankenhäusern
geboren, anonym übergeben oder in eine Babyklappe
gelegt. Bestehende Hilfsangebote haben viele Mütter
dieser Kinder nicht erreicht, und die Kinder haben, wenn
sie überlebt haben, später keine Chance, etwas über ihre
Herkunft zu erfahren.
Mit den Babyklappen sind Angebote entstanden, die
zwar manchen Kindern helfen, die aber weder den verzweifelten Frauen einen Ausweg bieten noch den Rechten der Kinder gerecht werden noch die Risiken für Leib
und Leben von Mutter und Kind beseitigen; denn die
Geburt findet meist ohne medizinische Begleitung statt.
Deshalb haben wir den Gesetzentwurf zur vertraulichen Geburt vorgelegt, den wir heute beraten und der
ziemlich genau das umsetzt, was der Deutsche Ethikrat
empfohlen hat. Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnen Ingrid Fischbach, Beatrix Philipp und Miriam
Gruß, die das sehr intensiv begleitet haben.
({0})
Frau Fischbach und Frau Philipp, im Grunde haben Sie
zwölf Jahre an diesem Thema gearbeitet,
({1})
durchaus aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Deshalb
haben Sie mit sich gerungen, und wir haben miteinander
gerungen. Ich bin froh, dass wir jetzt diesen Vorschlag
machen können.
Wie kann man sich eine vertrauliche Geburt aus Sicht
einer schwangeren Frau vorstellen? Zunächst einmal geht
es darum, Schwangere in Notlagen mit Hilfsangeboten
überhaupt zu erreichen. Deshalb ist der Ausbau der Hilfen für Schwangere in Notlagen wesentlicher Bestandteil
des Gesetzentwurfs. Wir werden dafür einen bundesweiten Notruf einrichten, der rund um die Uhr zur Verfügung
steht und der eine Hilfe suchende Frau schnellstmöglich
an eine Schwangerschaftsberatungsstelle in der Nähe
weitervermittelt. Hier erfährt die Frau von Hilfsangeboten und auch von der Möglichkeit der vertraulichen Geburt und kann sich in einer Klinik dafür anmelden lassen.
Natürlich wird der Frau auch dann geholfen, wenn sie unvermittelt und ohne Beratung in die Klinik kommt und ihr
Kind zur Welt bringt. In jedem Fall gibt es die Möglichkeit zur Beratung, notfalls auch nach der Geburt.
Entscheidet sich die Frau für eine vertrauliche Geburt,
werden ihre Daten zwar erfasst, aber in einem Umschlag
versiegelt und beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben hinterlegt. Dann gibt es zwei
Möglichkeiten. Die Mutter kann sich doch noch für ein
Leben mit ihrem Kind entscheiden. Dafür bleibt ihr, wie
in jedem Adoptionsverfahren, bis etwa ein Jahr nach der
Geburt Zeit. In dieser Zeit kann sie ihr Kind zu sich zurückholen, wenn es mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
Oder - das ist die andere Möglichkeit - die Mutter bleibt
bei ihrer Entscheidung. Dann wächst das Kind in aller
Regel in einer Adoptivfamilie auf, und der Umschlag
bleibt im Safe des BAFzA. Nach 16 Jahren kann das
Kind dann die Angaben beim Bundesamt einsehen.
Möchte die Mutter das nicht, kann sie schutzwürdige
Belange geltend machen. Im Streitfall entscheidet das
Familiengericht, ob die Belange der Mutter höher zu gewichten sind als das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft.
Mit der vertraulichen Geburt, meine Damen und Herren, haben wir erstmals ein rechtssicheres Angebot, das
anonyme Geburten, die immer in einer rechtlichen Grauzone stattgefunden haben, durch einen legalen Weg ersetzt.
({2})
Für die bestehenden Babyklappen brauchen wir Standards. Diese Standards lassen wir gerade entwickeln.
Diesen Prozess haben wir vor zwei Monaten beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge gemeinsam mit den Ländern, Organisationen und Verbänden begonnen. Zu solchen Standards gehört aus meiner
Sicht zum Beispiel: die Pflicht zur Meldung eines Kindes, das in die Babyklappe gelegt wurde, beim Standesamt innerhalb von 24 Stunden; die Überprüfung, ob eine
Frau tatsächlich die Mutter ist, wenn sie ihr Kind zurückholen will; und bei jedem Hinweis auf eine Babyklappe auch die Warnung, dass unbegleitete Geburten
Leben und Gesundheit von Mutter und Kind gefährden.
Meine Damen und Herren, viele von Ihnen wissen,
wie schwierig die ethischen und juristischen Abwägungen waren, die wir für dieses Gesetz treffen mussten.
Wir wollten eine Regelung, die das Leben und die Gesundheit von Mutter und Kind schützt, die der Lebenswirklichkeit betroffener Frauen gerecht wird, die Frauen
in Notlagen mit umfassenden Hilfsangeboten erreicht.
Und wir wollten eine Regelung, die den Rechten und
Bedürfnissen aller Betroffenen gerecht wird: denen des
Kindes, denen der Mutter, auch des leiblichen Vaters,
und bei einer späteren Adoption auch denen der annehmenden Eltern. Wir wollten auch eine Regelung, die
Rechtssicherheit für Ärzte und Klinikpersonal schafft.
Es ist völlig klar, dass es dabei Zielkonflikte gibt und
dass man hier Prioritäten setzen musste. Ich bin überzeugt, dass wir die Prioritäten mit dem vorliegenden Gesetzentwurf richtig gesetzt haben: im Sinne schwangerer
Frauen, die dringend Hilfe brauchen, und im Sinne der
neugeborenen Kinder, die dringend Schutz brauchen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, grundsätzlich ist eine gesetzliche
Regelung für eine vertrauliche Geburt zu begrüßen;
keine Frage. Dadurch sollen schwangere Frauen in Konfliktsituationen unterstützt werden, wie Sie es eben auch
geschildert haben. Ihnen, den Frauen, würde damit eine
legale Möglichkeit eröffnet, medizinisch betreut und
versorgt zu entbinden und gleichzeitig für einen gewissen Zeitraum ihre Anonymität zu wahren. Ebenfalls
wäre sichergestellt, dass dem Kind die notwendigen Informationen über die Kenntnis seiner eigenen Herkunft
nicht grundsätzlich vorenthalten werden.
Bedauerlich finden wir, dass die schwarz-gelbe Koalition und Sie, Frau Ministerin Schröder, mit diesem Gesetzentwurf auf halber Strecke stehen geblieben sind.
Denn einerseits wird damit die vertrauliche Geburt geregelt - wie gesagt: das ist zu begrüßen -, und zwar mit
der Hinterlegung von Personenstandsdaten, die das Kind
mit Erreichen des 16. Lebensjahres einsehen kann, mit
einer Stärkung und Erweiterung der Beratungsangebote
sowie mit der Sicherung der medizinischen Versorgung.
Doch andererseits bleiben die anonyme Geburt in Kliniken und das Betreiben von Babyklappen weiterhin ungeregelt. Das finden wir nicht nur inkonsequent, sondern
das ist, wenn es so bleibt, auch nicht akzeptabel.
({0})
Damit wird nämlich weiterhin eine rechtliche Grauzone
akzeptiert und gleichzeitig das verfassungsrechtlich garantierte Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung unterlaufen.
Entlarvend ist in diesem Zusammenhang, dass dieser
Gesetzentwurf die Rechte des Kindes so wenig wie möglich belasten will; das ist auch im Begründungsteil des
Gesetzentwurfes nachzulesen. Aber jedes Kind hat das
Recht auf Kenntnis seiner Abstammung. Dieses Recht
hat aus gutem Grund sogar Verfassungsrang.
Die weitere Duldung der Babyklappen und der anonymen Geburt bringt das Kind um ein elementares
Grundrecht. Der Gesetzentwurf erweckt damit den Anschein, dass jene Angebote neben der Neuregelung der
vertraulichen Geburt sogar legal seien. Aber genau das
sind sie eben nicht. Sie bleiben einfach weiterhin nur ungeregelt. Die Bundesregierung schafft hier keine Rechtssicherheit für alle Beteiligten.
({1})
Momentan erscheint es eher so, als würde die vertrauliche Geburt zu einem Angebot neben einer anderen Alternative werden. Das Vorhaben, damit in Zukunft die
Zahl anonymer Geburten und die Nutzung von Babyklappen zu verringern - so begrüßenswert das wäre -, ist
aus unserer Sicht eher zum Scheitern verurteilt. Die weitere Duldung der anonymen Kindsabgabe in Babyklappen konterkariert unseres Erachtens die Rechte des Kindes.
Das wird auch in einer sehr guten und ausführlichen
Stellungnahme zum Gesetzentwurf von Terre des Hommes
kritisiert. Zu Recht führt Terre des Hommes darin aus,
dass Babyklappen keine Kindstötungen verhindern, aber
das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft verletzen. Immer wieder, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wird das Argument bemüht, Babyklappen würden
dazu beitragen, Kindstötungen zu verhindern. Nur fehlen
dafür Belege. Nach den von Terre des Hommes durchgeführten Recherchen ist die Zahl der tot aufgefundenen
Neugeborenen seit Bestehen der Babyklappen nicht - und
auch nicht im Zuge ihrer immer größeren Verbreitung zurückgegangen.
Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir
inzwischen, dass der Tötung eines Neugeborenen andere
Ursachen zugrunde liegen als der geplanten und vor allem zielgerichteten Aussetzung eines Säuglings in einer
Babyklappe. Mütter, die ihr Neugeborenes töten, befinden sich in einem psychischen Ausnahmezustand und
sind eben nicht mit Beratungsangeboten oder durch Babyklappen zu erreichen. Säuglinge, die in einer Klappe
abgelegt oder die anonym geboren werden, gehören also
nicht zu denjenigen Babys, die an Leib oder Leben bedroht waren.
Deswegen ist Ihre Aussage, Frau Ministerin: „Jeder
Mensch mit Herz ist froh über jedes Kind, das durch eine
Babyklappe gerettet wird“, nichts mehr als eine emotionale, aber eben durch nichts belegte trügerische Hoffnung.
({2})
Besonders besorgniserregend ist auch, dass inzwischen nicht mehr nur Neugeborene, sondern vermehrt ältere Säuglinge und auch ältere Säuglinge mit Behinderungen in Babyklappen ausgesetzt werden. Auch dies
sollte Befürworter der Babyklappen nachdenklich stimmen.
Die Ankündigung von Ihnen, Frau Schröder, strengere Regelungen für Babyklappen zu prüfen, und die im
Gesetz festgeschriebene Evaluierung nach drei Jahren
helfen da nicht wirklich weiter. Hier muss der Gesetzgeber, hier müssen Sie Stellung beziehen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, was ist denn eigentlich mit der elterlichen Verantwortung? Im deutschen Recht bestehen Normen, die das Eltern-Kind-Verhältnis regeln. Eltern sind zur Fürsorge für ihr Kind und
zu seiner Pflege und Erziehung berechtigt, aber auch
verpflichtet. Babyklappen und Angebote zur anonymen
Geburt ermöglichen es ihnen, sich dieser Verantwortung
schlichtweg zu entziehen, und zwar mit Billigung des
Staates durch Nichtregelung. Diese Billigung macht jedoch die Realisierung der Rechte des Kindes auf Herkunft schlicht unmöglich.
Wir von der SPD-Fraktion haben im Hinblick auf
viele zahlreiche Einzelregelungen im Gesetz noch Klärungsbedarf. Der Gesetzentwurf sieht grundsätzlich vor,
dass das Kind ab dem 16. Lebensjahr die hinterlegten
Herkunftsdaten einsehen kann. Allerdings räumt das Gesetz ein Widerspruchsrecht für die Mutter ein. Will die
Mutter ihre Identität gegenüber dem Kind generell nicht
preisgeben, muss - so sieht es der Gesetzentwurf vor ein Familiengericht entscheiden, ob die sogenannten
schutzwürdigen Belange der Mutter gegenüber dem Interesse des Kindes überwiegen. Als schutzwürdige Belange werden befürchtete Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit, aber auch persönliche Freiheit genannt. Auch
hier bleibt der Gesetzentwurf sehr unkonkret. Es stellt
sich die Frage, ob die persönliche Freiheit der Frau mehr
wiegen kann als die Persönlichkeitsrechte des Kindes,
seine Herkunft zu erfahren. Diese Regelung halte ich für
sehr kritikwürdig. Ich hoffe, dass es dazu in der Anhörung eine Klärung und in der Folge Nachbesserungen am
Gesetzentwurf gibt.
Zum Abschluss, meine Kolleginnen und Kollegen:
Die schwarz-gelbe Koalition und die Bundesregierung
hätten unseres Erachtens sehr gut daran getan, sich die
Empfehlungen des Deutschen Ethikrates und die Erkenntnisse aus der Studie des Deutschen Jugendinstituts
bei der Ausgestaltung dieses Gesetzentwurfs mehr zu eigen zu machen.
({3})
So überrascht es auch nicht, dass die Vorsitzende des
Deutschen Ethikrates, Christiane Woopen, die ausdrückliche Billigung von Babyklappen in diesem Gesetzentwurf als schädlich und sogar widersprüchlich bezeichnet. Das Deutsche Jugendinstitut hält Babyklappen für
das schlechteste Angebot, das man Mutter und Kind machen kann. Darum wünschen wir uns, dass das Gesetz
hier klar Stellung bezieht, damit wir uns hier nicht weiter
in einer rechtlichen Grauzone bewegen müssen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin überrascht von dem, was uns gerade von der
SPD vorgetragen wurde. Ich freue mich sehr auf die anstehenden Beratungen und bin gespannt, ob das die Meinung der gesamten SPD-Fraktion ist.
({0})
Meine Damen und Herren, von Hannah Arendt
stammt der Satz, dass mit jeder Geburt ein neuer Anfang
verbunden ist. Ein Mensch kommt auf die Welt und hat
theoretisch ein langes, aufregendes und chancenreiches
Leben vor sich. Für 27 Neugeborene galt dies im letzten
Jahr nicht: 27 Babys wurden 2012 entweder nach der
Geburt getötet oder starben, weil sie nicht versorgt wurden. Ihre Mütter - das darf man annehmen - waren in
schweren Notlagen und sahen keinen anderen Ausweg,
als ihr Kind zu töten. Mit dem hier vorliegenden Gesetz
zur Regelung der vertraulichen Geburt bieten wir nun in
solchen Situationen einen Ausweg an.
Ich bin sehr froh, dass es uns nach langen Verhandlungen gelungen ist, Ihnen heute als Koalitionsfraktionen einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Schwangeren
ein zusätzliches Angebot macht, ihr Kind sicher im
Krankenhaus zur Welt zu bringen und dennoch ihre
Anonymität zu wahren, um sich selbst zu schützen. Für
die Liberalen war es wichtig, den schwierigen Balanceakt zwischen dem Schutzbedürfnis der Mutter, der hier
meines Erachtens unbestritten sein dürfte, Frau Marks,
und dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft
erfolgreich zu bestehen.
Nur wenn die Anonymität gewahrt wird, wird das Angebot der vertraulichen Geburt auf Akzeptanz stoßen.
Deshalb haben wir den Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen eine zentrale Rolle zugewiesen, die durch
ihre jahrelange gute Beratungsarbeit - ich will an dieser
Stelle ein herzliches Dankeschön sagen - gezeigt haben,
dass sie das Vertrauen der Schwangeren eher besitzen,
weil sie trotz ihrer staatlichen Anerkennung als staatsfern betrachtet werden. Sie sollen ergebnisoffen beraten
und Wege aufzeigen, wie Hilfsangebote genutzt werden
können.
Das Gesetz sichert der hilfesuchenden Frau Vertraulichkeit zu, aber es ermöglicht den betroffenen Kindern,
wie bereits erwähnt, ab dem 16. Lebensjahr, ihre eigene
Identität festzustellen. Damit haben wir eine lange Frist
durchgesetzt - ein herzliches Dankeschön an die entsprechenden Berichterstatterinnen, Berichterstatter und
Verantwortlichen in der Unionsfraktion -, nach der mit
einer hohen Wahrscheinlichkeit die Umstände, die die
Mutter nach der Geburt abgehalten haben, ihre Identität
preiszugeben, der Vergangenheit angehören. Falls dem
nach Ablauf der langen Frist immer noch Gründe entgegenstehen, so hat die Mutter die Chance, unter Pseudonym in einer Beratungsstelle vorzutragen oder eine Person ihrer Wahl als Ansprechpartner zu benennen, der im
familiengerichtlichen Verfahren fungiert, um letztendlich Klärung herbeizuführen.
Der zweite Punkt, der uns als FDP wichtig ist, betrifft
die Babyklappen. Natürlich sind wir uns der rechtlichen
Grauzone der bestehenden Babyklappen bewusst und
nehmen auch den Bericht des Ethikrates sehr ernst. Aber
auch hier galt es, einen Balanceakt zu vollbringen: Die
einen wollen Babyklappen verbieten, die anderen sehen
in ihnen die letzte Rettung für Kinder, die ansonsten
- das muss uns allen bewusst sein - getötet oder ausgesetzt würden.
Unser Gesetzentwurf arbeitet nach dem Motto: „Die
vertrauliche Geburt kann helfen, Babyklappen überflüssig zu machen“. Ein Verbot wäre der falsche Weg; denn
schon die Rettung eines einzigen Kindes rechtfertigt die
Existenz von Babyklappen.
({1})
Wenn aber Mütter in schweren psychosozialen Notlagen
wissen und sicher sein können, dass ihre Situation vertraulich behandelt wird, dann werden sie sich aus Sorge
um ihr Kind für eine sichere Geburt im Krankenhaus
entscheiden.
Meine Damen und Herren, wir ergänzen unser Hilfesystem auch noch durch einen zentralen, bundesweiten
Notruf. Nach drei Jahren - so sieht es der Gesetzentwurf
vor - wird evaluiert, wie das Angebot der vertraulichen
Geburt angenommen wurde. Deshalb ist von entscheidender Bedeutung, dass Frauen Kenntnis von dieser
Möglichkeit haben. Das sollte nicht nur Aufgabe des Familienministeriums sein, sondern alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier - ich appelliere an Sie - sollten
in ihren Wahlkreisen über diese Möglichkeit zur vertraulichen Geburt informieren und das Infomaterial, das wir
bereitstellen werden, verbreiten.
Viele Abgeordnete - das ist bereits erwähnt worden haben über Jahre hinweg an einer gesetzlichen Regelung
gearbeitet. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei allen bedanken, die auch in früheren Legislaturperioden mit viel Herzblut versucht haben, eine Lösung
zustande zu bringen. Wir konnten auf ihrer Arbeit aufbauen. Herzlichen Dank dafür!
({2})
Ich denke, Ihnen geht es genauso wie mir: Mir fällt
heute ein großer Stein vom Herzen, dass es uns endlich
gelungen ist, eine gute Regelung auf den Weg zu bringen. Der zweite große Stein wird fallen, wenn die Regelung auch im Gesetzblatt steht und somit ein Angebot
absichert, das Leben retten kann und Frauen Schutz bietet. Bis dahin ist noch ein parlamentarischer Weg zu gehen, aber das Ziel ist in greifbarer Nähe. Wenn wir das
Ziel erreichen, dann ist das ein weiterer Meilenstein
deutscher Familienpolitik, schwarz-gelber Familienpolitik.
Danke schön.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin darauf hingewiesen worden, dass hier Kollegen andere Kollegen
mit dem Handy fotografieren. Ich halte das für keinen
guten Stil. Ich bitte Sie: Wir wollen uns hier nicht wechselseitig fotografieren. Hier geht es um den Austausch
von Argumenten und um nichts anderes, nicht um den
Austausch von Handyfotografien.
Damit hat das Wort Kollegin Diana Golze für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Frau Ministerin, Sie haben in einer
Pressemitteilung, in der Sie den vorliegenden Gesetzentwurf, der die Regelungen zur vertraulichen Geburt enthält, vorgestellt haben, gesagt - ich darf Sie zitieren -:
Jeder Mensch mit Herz ist froh über jedes Kind, das
durch eine Babyklappe gerettet wird. Wir müssen
aber dringend schon viel früher verzweifelten
Schwangeren ein Angebot machen, das ihnen und
dem Kind wirksam und dauerhaft hilft.
Ich gebe Ihnen völlig recht, dass wir dringend ein Angebot brauchen. Ich frage mich aber, warum es so lange gedauert hat, dem Parlament einen Gesetzentwurf zu diesem Thema vorzulegen; denn es ist weder neu noch
besteht eine Erkenntnislücke.
Wir haben ja bereits in der vergangenen Legislatur im
Deutschen Bundestag über Auswertungen der Erfahrungen mit anonymer Geburt und Babyklappe diskutiert.
Damals hat übrigens die Oppositionsfraktion FDP die
Große Koalition angezählt, Frau Gruß. Es wurde gefragt,
warum sie es nicht geschafft hat, in diesem Bereich etwas zu unternehmen, obwohl es doch im Koalitionsvertrag stand. Dieselbe Frage müssen Sie sich jetzt leider
auch von mir gefallen lassen: Warum hat es fast eine
ganze Legislatur gedauert, bis ein Gesetzentwurf vorgelegt wurde?
({0})
Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, wer da wen blockiert hat. Jedenfalls stellt sich die Ministerin jetzt vor
die Presse und preist diesen Gesetzentwurf als großen
Wurf. Wir werden in den Beratungen in den Fachausschüssen und vielleicht auch in einer Anhörung sehen,
ob es sich tatsächlich um einen so großen Wurf handelt.
Denn bei aller Freude über eine längst überfällige Initiative der Bundesregierung muss man doch festhalten,
dass der Gesetzentwurf weit hinter dem zurückbleibt,
was sich diese Regierung in ihrem Koalitionsvertrag für
diese Amtszeit vorgenommen hat. Dort steht:
Frauen können bei einer Schwangerschaft aus unterschiedlichen Gründen in eine Notlage geraten.
Das Angebot der vertraulichen Geburt … [ist] zu
prüfen. Die Entscheidung für ein Kind darf nicht an
finanziellen Notlagen scheitern. Die Bundesmittel
für Schwangerenberatung werden zur Unterstützung eines pluralen Trägerangebotes gleichmäßig
vergeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von diesem „pluralen Trägerangebot“ sind wir, glaube ich, noch weit entfernt. Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf
muss deshalb auch dringend darüber diskutiert werden,
inwieweit sich der Bund einbringen und wie viel er zu
einem solchen pluralen niedrigschwelligen Beratungsangebot für Frauen beitragen will.
Der Ethikrat hat bereits im Jahr 2009 eine umfassende
Stellungnahme zu diesem Thema vorgelegt. Wir werden
in den weiteren Beratungen abschätzen müssen, inwieweit die Bundesregierung dieser Empfehlung des Ethikrats gefolgt ist. Denn es gibt Beratungsbedarf. Das machen die Stellungnahmen aus Fachverbänden und
Institutionen deutlich. Die Stellungnahme von Terre des
Hommes ist bereits angesprochen worden. Diverse
Rechtsstellungen, sowohl des Kindes, aber auch des
Vaters - der ist heute noch gar nicht angesprochen worden -, sind immer noch offen. Sie scheinen nach diesen
Stellungnahmen ebenso unklar wie die Lösung des Problems der rechtlichen Grauzone von Babyklappen und
anonymer Geburt, die ja in ihrer jetzigen Form übergangsweise erhalten bleiben sollen.
Ebenso ist mitnichten klar, wie die verschiedenen Beratungssysteme wie Schwangerschaftskonfliktberatung,
Erziehungsberatung etc. so ineinandergreifen können,
dass sie Schwangeren und jungen Müttern über einen
längeren Zeitraum tatsächlich einen kontinuierlichen Beratungsverlauf ermöglichen. Auch insoweit müssen wir,
wie ich finde, darauf achten, dass das nicht wieder in einem Kompetenzgerangel zerrieben wird; denn, liebe
Frau Ministerin, werte Kolleginnen und Kollegen, die
Betroffenen dürfen nicht wieder, weil sich der Bund auf
die Zuständigkeit der Länder und deren Verpflichtung
zur Umsetzung beruft, während die Länder auf ihre
klammen Kassen verweisen, hinten runterfallen.
({1})
Das ist ein weiteres Beispiel, an dem klar wird, dass
auch von den Macherinnen und Machern der Föderalismusreform von 2006 nicht an alles gedacht wurde und
dass damals auch Fehler gemacht worden sind. Unverbindliche Verpflichtungserklärungen helfen weder den
Müttern noch den Kindern noch allen anderen in diesem
Zusammenhang Betroffenen. Deshalb gibt es bei diesem
Gesetzentwurf noch viel zu beraten. Ich bin darauf gespannt.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Ziele, die mit diesem Gesetzentwurf verfolgt werden, unterstützen wir als Grüne uneingeschränkt. Es ist wichtig, eine rechtssichere Alternative
zu den Babyklappen zu schaffen und Babyklappen möglichst überflüssig zu machen. Frauen, die sich in einer
solchen Ausnahmesituation befinden, dass sie die Babyklappe in Erwägung ziehen, sollen nicht gezwungen
sein, ohne medizinische Begleitung zu entbinden und
damit ihr eigenes Leben und das Leben ihres Kindes zu
gefährden.
Es ist wichtig, durch eine neue gesetzliche Regelung
für das betroffene Kind die größtmögliche Chance sicherzustellen, Kenntnis über seine Abstammung zu erlangen. Wir wissen, dass viele Menschen, die ihre Wurzeln nicht kennen, darunter ein ganzes Leben lang
leiden. Das, was Frau Marks gesagt hat, ist richtig: Bei
der Kenntnis der Abstammung handelt es sich um ein
Grundrecht. Aber wir müssen, wenn sich Frauen in einer
solchen Notlage befinden, zunächst einmal die Voraussetzung dafür schaffen, dass dieses Recht für die betroffenen Kinder auch verwirklicht werden kann. Das ist
schon ein bisschen komplexer, als es unsere Kollegin
Marks hier eben dargestellt hat.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, damit diese Ziele
erreicht werden, müssen die neuen gesetzlichen Regelungen einen für die betroffenen Frauen tatsächlich
gangbaren Weg gewährleisten. Ob das mit diesem Gesetzentwurf gelingt, ob also die Interessen der Mütter
- Stichwort: Anonymitätsbedürfnis - und die Interessen
der Kinder - Stichwort: Recht auf Kenntnis der eigenen
Abstammung - in einen guten und tragbaren Ausgleich
zueinander gebracht werden, ist in meiner Fraktion tatsächlich umstritten. Da gibt es bei uns unterschiedliche
Einschätzungen.
Ich selbst bin an dieser Stelle skeptisch. Das hat mit
dem Anonymitätsbedürfnis der Frauen zu tun. Wir sprechen von Frauen, die in einer aus ihrer Sicht absolut ausweglosen Situation sind. Viele verdrängen die Schwangerschaft. Viele verheimlichen die Schwangerschaft bis
kurz vor der Geburt selbst vor den engsten Familienangehörigen. Ein reguläres Adoptionsverfahren wird aufgrund der eigenen Situation als völlig unmöglich erachtet und das Leben mit dem Kind sowieso. Studien
belegen, dass die Zusicherung der absoluten Anonymität
für diese Frauen eine Grundvoraussetzung dafür ist, sich
überhaupt in einen Beratungs- und Unterstützungsprozess zu begeben, was wir ja alle wollen. Zu diesem Ergebnis kommt auch die DJI-Studie für Deutschland. Es
muss doch unser Hauptinteresse sein, Frauen in einer
Notlage zu erreichen, zu stabilisieren und ihnen Wege
und Alternativen aufzuzeigen. Da ist Beratung eben das
A und O.
({1})
Mit der nun vorgeschlagenen Regelung wird der Mutter aber die Letztentscheidung über die Aufgabe der Anonymität aus der Hand genommen. Ich halte das ehrlich
gesagt für einen Webfehler in diesem Gesetzentwurf. Es
ist sehr schwer vorstellbar, dass es für eine werdende
Mutter, die sich über das Verfahren einer vertraulichen
Geburt beraten lässt, angesichts der beschriebenen Ausnahmesituation akzeptabel ist, dass im Zweifelsfall ein
Familiengericht darüber entscheidet, ob ihre Anonymität
dem Kind gegenüber preisgegeben wird, selbst wenn das
erst nach 16 Jahren der Fall sein sollte.
Es ist ein großer Vorteil einer vertraulichen Geburt
- das ist hier mehrfach erwähnt worden -, dass die Daten
der Mutter hinterlegt werden, weil damit die Möglichkeit eröffnet wird, dass das betroffene Kind Kenntnis
über seine Abstammung erlangt, dass Mutter und Kind
sich eventuell kennenlernen; denn auch viele Mütter
- das wissen wir - haben später selbst das Bedürfnis, mit
ihrem Kind in Kontakt zu treten. Damit die vertrauliche
Geburt für die Mütter ein wirklich gangbarer Weg ist,
halte ich es aber für notwendig, dass beide, Mutter wie
Kind, die Preisgabe der Identität wollen und hier kein
Zwang im Spiel ist.
({2})
Aufgrund meiner Skepsis gegenüber der vorgesehenen Regelung des Verfahrens bin ich persönlich froh,
dass - ich halte das für konsequent und notwendig - die
bestehenden Angebote zur anonymen Kindsabgabe und
die vorhandenen Babyklappen zunächst bestehen bleiben und evaluiert werden. Aber auch dazu gibt es in meiner Fraktion unterschiedliche Einschätzungen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich gehe davon
aus, dass wir in den nächsten Monaten auf breiter Basis
eine Diskussion über den Gesetzentwurf, auch unter Einbeziehung der Expertise der Verbände, organisieren werden. Gegebenenfalls lassen sich die offenen Fragen, die
von unserer Kollegin Diana Golze formuliert worden
sind, noch klären. Eventuell lässt sich auch meine Skepsis noch abschwächen. Ich freue mich jedenfalls auf die
gemeinsamen Beratungen zu diesem Thema, die sicherlich sehr spannend werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist all denen zu danken, die über mehrere Legislaturperioden hinweg dieses Thema beraten haben,
insbesondere Frau Philipp. Aber auch Ihnen, sehr verehrte Frau Ministerin, und Ihrem Haus ist dafür zu danken, dass Sie uns heute diesen Entwurf eines Gesetzes
zur vertraulichen Geburt mit einer sehr ausführlichen
und gut gelungenen Begründung vorlegen.
Wir reden hier, wie Sie richtigerweise gesagt haben,
Frau Dörner, über einen Ausnahmezustand. Das ist ein
menschlicher Ausnahmezustand. Da ist eine Frau
schwanger, und sie freut sich nicht auf die Geburt ihres
Kindes, sondern hat Angst. Sie hat Angst vor ihrem Umfeld. Sie hat vielleicht Angst vor den eigenen Eltern.
Vielleicht hat sie auch Angst vor dem eigenen Mann. Jedenfalls verdrängt sie die Schwangerschaft und die bevorstehende Geburt. Sie verheimlicht ihre Schwangerschaft. Dann steht sie vor der Geburt, und dann bricht
die Panik aus. Es kann dann durchaus dazu kommen,
dass eine solche Frau keinen anderen Ausweg mehr
sieht, als ihr Kind zu töten.
Das kommt nicht ganz selten vor. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen stellt fest, dass
bei Tötungen von Kindern im Alter zwischen null und
sechs Jahren der prozentual höchste Anteil - nämlich
37,2 Prozent - auf die Zeit unmittelbar nach der Geburt
bzw. innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt entfällt.
Das muss uns skeptisch stimmen. Da mag die Babyklappe durchaus - das möchte ich schon sagen - eine
wichtige Funktion haben. Vielleicht kann sie doch Leben
retten. In den Krankenhäusern, wo es sie gibt, sagt man
uns, dass das durchaus möglich ist.
Natürlich wollen wir nicht verschweigen, welche Probleme mit dieser Babyklappe verbunden sind. Sie sind
teilweise schon aufgezählt worden. Die Mutter wird zunächst einmal bei der Geburt allein gelassen. Das ist
schon eine gefährliche Situation. Dann wird sie in ihrem
Schmerz allein gelassen, wenn sie das Kind abgeben
muss, es ein für alle Mal verliert. Später wird sie überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, Kontakt zu ihrem
Kind zu haben. Das ist eine schwierige Situation. Niemand steht ihr bei. Sie ist allein, weil niemand von der
Schwangerschaft und der Geburt Kenntnis hat.
Hinzu kommt, dass das Kind keine Ahnung von der
Mutter hat. Wir wissen aus der Säuglingsforschung, dass
die Säuglinge ganz am Anfang sehr wohl ihre eigene
Mutter an der Sprache bzw. der Stimme und an der Art
und Weise erkennen, wie sie das Kind in den Armen
hält. Dieses Verhalten der Mutter gegenüber dem Kind
vermittelt diesem ein Urvertrauen, das für die weitere
Entwicklung des Kindes unbedingt notwendig ist. Bei
der Babyklappe geht das verloren; da ist das nicht möglich. Das ist ein Verlust, den man sehen muss.
Zu bedenken ist auch, dass das Kind niemals seine
Abstammung erfahren kann. Wir haben längst erkannt
- das wissen wir aus vielen Studien und Forschungsarbeiten -, dass es für die Entwicklung eines Menschen
und seine Identität von entscheidender Bedeutung ist,
dass er seine Herkunft kennt. Bei einer Babyklappe ist
das - auch das müssen wir sehen - nicht möglich. Deswegen ist der vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur vertraulichen Geburt von entscheidender Bedeutung. Es ist
ein wichtiger Gesetzentwurf, auch wenn er nicht viele
betreffen mag. Er ist wichtig mit Blick auf das gesamte
Bewusstsein und auch auf die Kultur unserer Gesellschaft.
Ich will, wenn Sie mir erlauben, noch auf einzelne
Punkte eingehen.
Es ist jetzt eine vertrauliche Geburt möglich, ohne
dass die Mutter ihre Identität preisgeben muss. Sie kann
ins Krankenhaus gehen und dort ärztliche Hilfe bekommen, ohne dass die Ärzte bzw. das Krankenhauspersonal
unbedingt wissen müssen, mit wem sie es zu tun haben.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir die
Frauen - überhaupt die Menschen draußen - auf diese
Möglichkeit hinweisen. Frau Marks hat schon gesagt,
dass wir alles tun müssen, damit dies auch bekannt wird.
Das ist im Gesetzentwurf so vorgesehen. Auch die Beratung, die die Mutter erfahren kann, ist wichtig. Sie kann
anonym, mit einem Pseudonym, zur Beratungsstelle gehen. In der Beratungsstelle kann sie beraten werden, wie
sie mit diesem Thema umgehen kann. Vielleicht gelingt
es den erfahrenen Beraterinnen und Beratern dann sogar,
die Mutter davon zu überzeugen, doch den Versuch zu
übernehmen, mit dem Kind zusammenzuleben. Erst
dann, wenn das nicht gelingt, kommt es zur sogenannten
anonymen Geburt. Dann wird sie darüber unterrichtet.
Das ist der Ausweg, der bleibt.
Entscheidend ist, dass die Mutter dann ihre Daten an
eine Person, der sie vertrauen kann, weitergibt. Das ist
die Beraterin, die wiederum diese Daten an das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
weitergeben muss. Dort werden sie aufbewahrt. Wir wissen, dass das Kind nach dem 16. Lebensjahr das Recht
hat, zu erfahren, wer die Mutter ist. Vielleicht kann es
dann sogar erfahren, wer der Vater ist.
Ich meine, das ist ein vernünftiger Mittelweg zwischen dem Bedürfnis der Mutter, anonym zu bleiben,
dem Recht der Mutter, ihre Identität nicht preisgeben zu
müssen, und dem Recht des Kindes, zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ab dem 16. Lebensjahr, zu erfahren, woher es kommt und wer seine Eltern sind. Ich
glaube, das ist uns mit diesem Gesetzentwurf gut gelungen. Ich hoffe auf eine gute Beratung. Ich bin sicher,
dass wir zu einem guten Ergebnis kommen.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/12814 und 17/190 an die Aus-
schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin-
den. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen.
Somit rufe ich jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a und
8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald
Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tiergerechte Legehennenhaltung stärken
- Drucksache 17/12842 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnungspflicht auf verarbeitete Eier
ausweiten
- Drucksachen 17/9170, 17/9973 Berichterstattung:Abgeordnete Franz-Josef HolzenkampElvira Drobinski-WeißDr. Erik SchweickertKarin BinderFriedrich Ostendorff
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Friedrich Ostendorff
für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zypern
ist dieser Tage in aller Munde. Auf Zypern tummeln
sich, wie wir hören, zahlreiche russische und ukrainische
Investoren. Einer davon heißt Avangardco von Herrn
Oleg Bakhmatyuk. Avangardco ist auf Zypern registriert
und mit 22,8 Millionen Hennen zweitgrößter Eierproduzent der Welt. Avangardco hat in der Ukraine gerade
zwei zusätzliche Legehennenfabriken aufgebaut, die
eine für 3 Millionen, die andere für 5 Millionen Tiere.
Diese Anlagen sind mit überwiegend deutschen Käfigen
ausgestattet, die in Deutschland und der EU schon lange
verboten sind. Aus der Ukraine erreichen uns Meldungen über heftige Proteste gegen Avangardco wegen massiver Luft- und Wasserverschmutzung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Geschäft wurde geschmiert mit
Hermesbürgschaften - also mit Steuergeldern -, die
Minister Rösler bewilligt hat.
({0})
„Deutschland ist Vorreiter beim Tierschutz“ behauptete die FDP per Pressemitteilung vor wenigen Tagen.
({1})
Meine Damen und Herren von der FDP, der Name Avangardco bezieht sich auf den Begriff Avantgarde. Avantgarde, so sagt uns Wikipedia, heißt Vorreiter.
({2})
Avangardco ist für Sie also der Vorreiter in Sachen Tierquälerei. Das ist Avangardco eindeutig.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben die Bundesregierung gefragt, ob die Eier aus den Anlagen von
Avangardco und anderen in die EU geliefert werden. Die
Antwort von Minister Rösler lautete - ich zitiere -:
Nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen exportiert der ukrainische Besteller nicht
in die EU …
Diese Antwort ist falsch. Oder hat der Bundeswirtschaftsminister im September 2012 etwa nicht gewusst,
dass das Abkommen zwischen der Ukraine und der EU
über den Import von Eiern unmittelbar vor dem Abschluss stand? Avangardco selbst erklärt auf seiner
Homepage - ich zitiere -:
Avangardco betrachtet den europäischen Markt als
einen der prioritären Exportmärkte …
({4})
Entweder hat Herr Rösler also nichts von diesem Abkommen gewusst;
({5})
dann hat er sich als Bundeswirtschaftsminister disqualifiziert. Oder er hat davon gewusst; dann hat er das Parlament, also uns alle, bewusst getäuscht.
({6})
Meine Damen und Herren, es ist sehr wahrscheinlich,
dass vor allem verarbeitete Käfigeier von Avangardco
bei uns auf den Markt kommen; schließlich kontrolliert
Avangardco 52 Prozent der ukrainischen Eierproduktion.
({7})
Diese Käfigeier können aber nur unerkannt auf den deutschen Markt kommen, weil sich Ministerin Aigner, wie
vor wenigen Tagen noch einmal bestätigt wurde, weigert, die Pflicht zur Kennzeichnung verarbeiteter Eier
einzuführen.
({8})
Wären diese Eier gekennzeichnet, hätten entsprechende
Produkte auf dem deutschen Markt keine Chance; denn
95 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher kaufen die Eier nicht, wenn auf der Verpackung „Käfigeier“
steht.
({9})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie päppeln nicht nur die Billigkonkurrenz der deutschen Geflügelhalter im Ausland - das haben uns Vertreter der Geflügelwirtschaftsverbände bestätigt, als sie vor wenigen
Wochen hier zu Besuch waren; sie haben wirkungsvolle
Maßnahmen gegen Billigimporte gefordert -, Sie verhindern gleichzeitig, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher die Wahlfreiheit bekommen.
({10})
Für Herrn Rösler und die FDP mag es ja schwer sein, das
ethische Problem dieses Handelns zu erkennen.
({11})
Aber von Frau Aigner, einer Ministerin der ChristlichSozialen Union, erwarten wir allemal, dass sie derartig
unmoralische Geschäfte unterbindet.
({12})
Wir Grüne fordern Frau Ministerin Aigner auf: Machen Sie Schluss mit der Verbrauchertäuschung! Ändern
Sie die Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung, damit auch bei verarbeiteten Eiern endlich Angaben zur
Haltungsform vorgeschrieben werden - wie es bei jedem
unverarbeiteten Ei im Laden heute der Fall ist!
({13})
Setzen Sie sich in Brüssel endlich für eine entsprechende
EU-weite Regelung ein, Frau Aigner! Und stoppen Sie
Hermesbürgschaften für Tierfabriken, egal in welcher
Steueroase die Nutznießer dieser Garantien sitzen!
({14})
Dieter Stier hat jetzt das Wort für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen
uns heute mit zwei Anträgen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen: „Kennzeichnungspflicht auf verarbeitete
Eier ausweiten“ und „Tiergerechte Legehennenhaltung
stärken“.
({0})
Nun will ich Ihnen, lieber Kollege Ostendorff, nach
Ihrer Rede ja nichts unterstellen; aber es ist für mich
schon durchsichtig, wenn Sie pünktlich vor Ostern
({1})
einen fast ein Jahr alten Antrag herauskramen, in welchem es um Eier geht. Damit fällt mir zumindest auf,
dass Sie das nahende kirchliche Fest auch in diesem Jahr
zum Anlass nehmen, um Verbraucher zu verunsichern,
anstatt zur Lösung von Problemen beizutragen.
({2})
Sie haben in dieser Woche einen zweiten Antrag
nachgeschoben, mit dem Sie tiergerechte Legehennenhaltung stärken wollen, merken aber gar nicht mehr, dass
Sie diese tiergerechte Legehennenhaltung mit Ihrem
Agieren im Bundesrat schon fast aus Deutschland vertrieben haben.
({3})
Fakt ist: Seit 2004 gibt es nach EU-Recht eine klare
Kennzeichnung von Eiern. Seitdem haben sich die Haltungsformen für Legehennen in Deutschland grundlegend verändert und auch deutlich verbessert. Nachdem
wir seit 2010 auch noch die Haltung in konventionellen
Batteriekäfigen verboten haben,
({4})
erfolgt die Legehennenhaltung in Deutschland derzeit
noch in Kleingruppen in Boden- und Freilandhaltung
und auch in Biohaltung, und das sogar schon zwei Jahre
früher als nach dem am 1. Januar 2013 in der EU in
Kraft getretenen Verbot der konventionellen Käfighaltung.
({5})
Die Forderung, die Kennzeichnungspflicht auch auf
verarbeitete Eier auszuweiten, zeigt einmal mehr,
({6})
dass die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen noch
nicht begriffen haben, dass wir in einem europäischen
Binnenmarkt leben.
({7})
Konkret bedeutet dies nämlich: Nationale Alleingänge
Deutschlands sind nicht zielführend.
({8})
Sie würden damit - das habe ich hier wiederholt gesagt heimische Produzenten diskriminieren, Betriebe und Arbeitsplätze vernichten. Das würde dazu führen, dass weitere Produktionen ins Ausland verlagert werden. Wir
können doch nicht deutsche Lebensmittelprodukte einer
verschärften Kennzeichnungspflicht unterwerfen und
dabei unsere Unternehmen ohne Not
({9})
Wettbewerbsnachteilen in Europa aussetzen.
({10})
Ihre Forderungen nach zusätzlicher Kennzeichnung richten sich überdies gegen die bäuerliche Tierhaltung, die
Sie doch angeblich fördern wollen, und würden gerade
Kleinbetriebe in Not bringen.
({11})
Die positive Entwicklung in Richtung artgerechter
Haltungsformen ist nicht nur ein überzeugendes Beispiel
für die Macht des Verbrauchervotums, sie wird auch von
der christlich-liberalen Koalition weiter unterstützt, zum
Beispiel mit den in den Bundeshaushalt eingestellten
Mitteln für die Tierschutzforschung.
({12})
Meine Damen und Herren, der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf Änderung der derzeit gültigen Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung wurde vom federführenden Ausschuss, dem Agrarausschuss, beraten
und bereits am 9. Mai des vergangenen Jahres mehrheitlich abgelehnt.
({13})
Eine solche Änderung wäre aus unserer Sicht nur in
Übereinstimmung mit dem EU-Recht möglich. Ein entsprechender Verordnungsentwurf von Österreich ist bereits 2008 - das müsste Ihnen bekannt sein - auf europäischer Ebene gescheitert. Eine Regelung, die alleine
deutsche Produkte der Kennzeichnungspflicht unterwerfen würde, würde zu Nachteilen für unsere Produzenten
führen.
Deshalb befürworten wir vielmehr die Stärkung der
Eigenverantwortung der Tierhalter und auch des Lebensmittelhandels.
({14})
Sie wissen, dass Deutschland auch auf EU-Ebene die
treibende Kraft für ein freiwilliges Tierschutzlabel ist,
das dem Verbraucher umfassende Informationen liefert.
({15})
Aus diesen Gründen schließen wir uns der Beschlussempfehlung des zuständigen Ausschusses auch heute an.
Wir lehnen Ihre Forderung nach einer Ausdehnung der
Kennzeichnungspflicht ganz klar ab.
({16})
Verbrauchermacht und freiwillige Initiativen des Handels wirken in diesem Falle schneller und zielgerichteter
als Staatseingriffe.
({17})
In Ihrem Antrag mit dem Titel „Tiergerechte Legehennenhaltung stärken“ fordern Sie die Bundesregierung
auf, die im Bundesrat beschlossene Fünfte Verordnung
zur Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung unverzüglich in Kraft zu setzen.
({18})
Ich darf Sie daran erinnern, dass sich beim Ausstieg
aus der Kleingruppenhaltung Bund und Länder nicht auf
eine gemeinsame zeitlich befristete Übergangsregelung
einigen konnten.
({19})
- Herr Paula, das ist Ihre Interpretation. - Das BMELV
hatte die Länder gebeten, eine verfassungskonforme und
mehrheitsfähige Lösung für die Übergangsfristen vorzulegen.
({20})
Daraufhin legte sich der Bundesrat auf 2023 bzw., bei
unbilligen Härten, auf 2025 fest.
({21})
Gegen diesen Beschluss bestehen - das wissen Sie auch verfassungsrechtliche Bedenken dahin gehend, dass der
Bestandsschutz für bestehende Haltungseinrichtungen
an deren tatsächlicher Nutzungsdauer orientiert sein
muss.
({22})
Die rot-grünen Landesregierungen haben im Bundesratsverfahren also aus polemischen Gründen einen
rechtskonformen Kompromiss bewusst an die Wand fahren lassen.
({23})
Sie sollten sich jetzt also nicht darüber beklagen, dass
nun die einzelnen Bundesländer selbst gefordert sind,
eine verfassungskonforme Regelung zu treffen.
({24})
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, auch der geforderte Stopp von Hermesbürgschaften
für den Export
({25})
und den Bau von Tierhaltungsanlagen ist aus unserer
Sicht nicht zielführend.
({26})
In vielen Ländern gibt es keine EU-Standards. Diese
Länder sind noch auf dem Weg hin zu mehr Tierschutz.
Sie brauchen auch Zeit und stärkere Anreize, um unsere
und europäische Standards zu erreichen.
Ich möchte hier in aller Deutlichkeit betonen: Voraussetzung für die Übernahme einer solchen Exportkreditgarantie ist natürlich die Einhaltung des Standards des
Bestellerlandes. Laut der von Ihnen zitierten Antwort
der Bundesregierung auf Ihre Anfrage werden diese internationalen Referenzstandards, die sanitäre und veterinärmedizinische Mindeststandards vorschreiben, auch
eingehalten. Damit läuft auch diese Forderung aus unserer Sicht ins Leere.
Meine Damen und Herren, in Ermangelung einer weiteren Gelegenheit, an diesem Rednerpult zu sprechen,
({27})
wünsche ich Ihnen schon heute ein frohes Osterfest.
Essen Sie auch mal ein Ei!
({28})
Trotz mir bewusster einzelner Verfehlungen haben wir in
Deutschland die sichersten Lebensmittel der Welt.
Herr Kollege.
Auch wenn das Gegenteil öfter behauptet wird: Dadurch wird es nicht unbedingt wahrer.
Herzlichen Dank.
({0})
Heinz Paula spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Gäste! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich stand vor einem Jahr an diesem Pult
und plädierte dafür, dass Sie unserem Antrag mit dem
Titel „Kleingruppenhaltung für Legehennen endgültig
beenden“ Folge leisten und eine entsprechende, einstimmig beschlossene Bundesratsinitiative übernehmen. Ich
habe eindringlich an Sie appelliert: Schluss mit der
Kleingruppenkäfighaltung! Schluss mit dem Elend von
über 5 Millionen Käfiglegehennen in Deutschland!
Sie wissen doch ganz genau: Es herrscht eine drangvolle Enge - nicht einmal die Fläche eines DIN-A4-Blattes pro Huhn -, und nicht einmal ansatzweise kann arttypisches Verhalten ausgelebt werden. Die Folgen sind
klar: erhebliche gesundheitliche Schäden, Federpicken
bis hin zu Kannibalismus. Was macht die Regierungskoalition in Anbetracht dieser Tierquälerei? Sie lehnt diesen Antrag ab. Unerträglich, sage ich Ihnen!
({0})
Dass Sie so ganz nebenbei Ihre eigenen Kollegen von
CDU/CSU und FDP in den entsprechenden Bundesländern bloßstellen, das sei einmal Ihr Problem. Aber es
zeigt, dass Ihre eigenen Parteikollegen in den Bundesländern im Gegensatz zu Ihnen die Probleme erkannt haben.
Ich muss feststellen: Ein Jahr später hat diese Regierungskoalition immer noch nichts dazugelernt.
({1})
Man liest die heutige Pressemitteilung der christlichen
Kollegen, und ich muss sagen: Glückwunsch! Sie haben
tatsächlich recht, und zwar mit einem einzigen Satz, dem
ersten Satz - ich zitiere -: „Unwahrheiten werden auch
bei ständiger Wiederholung nicht wahr.“ Wie wahr, Kollege Stier!
({2})
Zu Ihrem ewigen Märchen mit den verfassungsrechtlichen Bedenken kann ich nur sagen: Sie sind doch hier
die Einzigen, die diese Bedenken haben. Das ewige Märchen, dass eine einheitliche Regelung an Rot-Grün gescheitert sei: Vergessen Sie es! An Ihnen ist eine bundeseinheitliche Regelung gescheitert.
({3})
Diese Regierungskoalition gibt sich ständig als der
Schutzpatron der deutschen Landwirtschaft.
({4})
Dabei lassen gerade Sie die ehrsamen Landwirte buchstäblich im Regen stehen. Statt Politik zu machen, kommen Sie mit großen Broschüren an. Das Neueste ist das
Agrarpapier der CDU/CSU. Man muss sich das, was Sie
schreiben, auf der Zunge zergehen lassen. Ich zitiere:
Wir wollen mehr Tierschutz … Dabei geht es um
die Verbesserung der bestehenden Haltungsformen …
({5})
Ich sage Ihnen: Nicht labern - handeln Sie endlich entsprechend!
({6})
Doch diese Schaumschlägerei wird noch - Kollege
Ostendorff hat vorher darauf hingewiesen - durch diese
unsäglichen Hermesbürgschaften gesteigert. Zig Millionen für eine Haltungsform im Ausland bereitzustellen,
die bei uns seit 2009 aus Tierschutzgründen zu Recht
verboten ist, zeugt von einer unerhörten Doppelmoral.
({7})
Zu Recht spricht der Geflügelwirtschaftsverband Rheinland-Pfalz von einem „Hammer auf die Füße der deutschen Geflügelwirtschaft“. Das sind die Folgen Ihrer
Politik.
({8})
Ich werde Sie immer wieder an Ihre weltliche Verpflichtung mit dem Hinweis auf unser Grundgesetz erinnern, Art. 20 a: „Der Staat schützt … die Tiere“, nicht
die Tierquälerei. Ich erinnere Sie auch an Ihre moralische Verpflichtung. Als christliche Politiker hören Sie
zumindest auf Franz von Assisi. Sie wissen: Namensgeber von Papst Franziskus. Zitat:
Gott wünscht, dass wir den Tieren beistehen, wenn
es vonnöten ist. Ein jedes Wesen in Bedrängnis hat
gleiches Recht auf Schutz.
({9})
CDU/CSU und FDP: Handeln Sie endlich entsprechend!
Machen Sie Schluss mit dem millionenfachen Elend von
Legehennen!
Ich bedanke mich.
({10})
Das Wort hat der Kollege Rainer Erdel für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe die Anträge der Grünen zu diesem
Thema sehr aufmerksam gelesen. Lieber Friedrich
Ostendorff, ich habe darin kein Wort über Zypern, kein
Wort über russische Oligarchen gelesen. Ganz offensichtlich war das der falsche Redetext; denn der Inhalt
der Anträge ist ein ganz anderer.
({0})
Ich will auf die Hermesbürgschaften, die Sie erwähnt
haben, nicht näher eingehen; denn der Kollege Stier hat
das Nötige dazu bereits gesagt.
Die Kadenz der Skandale steigt, beginnend mit dem
von Ihrer ehemaligen Landwirtschaftsministerin Künast
so perfekt präsentierten BSE-Skandal, der Hunderte
landwirtschaftliche Betriebe an den Rand des finanziellen Ruins gebracht hat, über Ehec, Dioxineier, Schimmel
im Mais, über Pferdefleisch, das als Rindfleisch verkauft
wurde, bis hin zu Bioeiern, die eigentlich keine sind. Sie
schmeißen alles in einen Topf, rühren um und konstruieren dann eine diffuse und vor allen Dingen gesundheitliche Bedrohung der deutschen Bevölkerung.
Bei all diesen Skandalen muss man sehr deutlich unterscheiden. Es gibt sicherlich betrügerisches Handeln.
Es ist nicht akzeptabel, dass Pferdefleisch als Rindfleisch verkauft wird.
({1})
Es ist nicht akzeptabel, dass konventionelle Eier als Bioeier verkauft werden. Es ist aber genauso wenig akzeptabel, dass Sie einen Skandal daraus machen und dann
eine Verbindung zu internationalen Warenströmen und
dem internationalen Handel herstellen; denn die deutschen Verbraucher profitieren gerade bei Lebensmitteln
durchaus vom internationalen Handel.
({2})
Sie versuchen, einen Keil zwischen die konventionelle
Landwirtschaft und die Biolandwirtschaft zu treiben.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({3})
Im Kern Ihres Antrags geht es um tiergerechte Legehennenhaltung. Sie bauen das Ganze auf den jüngsten
Vorfällen in Niedersachsen auf. Ich empfehle Ihnen die
Lektüre der Unterlagen, die vom niedersächsischen
Landtag zur Verfügung gestellt werden. Dort ist die
Rede davon, dass von 201 untersuchten Betrieben mit
2,6 Millionen Tieren ein Betrieb auffällig war. Dieser
hatte die Besatzdichte überschritten. Er hatte nämlich
den Hühnern zu wenige Nester zur Verfügung gestellt.
Die Grundfläche war in Ordnung. In einem Papier heißt
es, dass 40 Biobetriebe untersucht wurden. In einem anderen heißt es, dass 34 Biobetriebe untersucht wurden,
von denen vier Betriebe auffällig waren. Weiter heißt es,
dass 139 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Am
Ende des Papiers ist zu lesen, dass der niedersächsische
Landwirtschaftsminister ganz offensichtlich den Überblick verloren hat; denn er verwechselt die Überbelegung von Ställen - er hat sicherlich recht, darauf hinzuweisen, dass das den Tierschutzkriterien und den
Vorschriften widerspricht - mit betrügerischen Handlungen wie dem Verkauf von konventionellen Eiern als
Bioeier.
({4})
Das heißt, Sie leben von der Skandalisierung der deutschen Landwirtschaft.
({5})
Mein Kollege Birkner hat vollkommen recht: Sie stochern im Nebel. Sie wollen politischen Geländegewinn
dadurch erreichen, dass Sie die deutschen Verbraucher
verunsichern.
In einem früheren Gesellschaftssystem in Deutschland gab es einmal einen Plan, der mindestens zu erfüllen war. Sie fordern seit neuestem einen Plan, der
höchstens erfüllt werden darf. Sie fordern nämlich Leistungsobergrenzen ein. Eine Kuh darf nicht mehr als eine
bestimmte Menge Milch geben.
({6})
Die Landwirte dürfen nicht mehr den Höchstertrag anstreben. Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie denn?
({7})
Ganz spannend wird es, wenn Sie die Forderung erheben, künftig Produkte aus verarbeiteten Eiern zu kennzeichnen.
({8})
Ich frage Sie: Wie wollen Sie sicherstellen, dass in Zukunft deutlich wird, ob die Eier, die in einer Gaststätte
für ein paniertes Schnitzel verwendet werden, aus Käfighaltung, Bodenhaltung, Freilandhaltung oder von einem
Biobetrieb stammen? Nennen Sie mir einen Wissenschaftler, der einen wissenschaftlichen Nachweis für die
entsprechenden Haltungsformen erbringen kann!
({9})
Wir unterstützen ein freiwilliges Labeling, keine
Frage.
({10})
Wenn sich jemand damit einen Markt erobern kann,
dann ist das durchaus richtig. Aber eine entsprechende
gesetzliche Vorschrift wird letztendlich dazu führen,
dass bestimmte Produktionsformen aus Deutschland
abwandern. Ob das dem Tierschutz als Ganzes dient,
bezweifle ich sehr.
Sie fordern in Ihrem Antrag des Weiteren ein Verbot
von irreführender Werbung. Meine Damen und Herren
von den Grünen, sind Sie der Meinung, dass der deutsche Verbraucher so dumm ist, dass er nicht weiß, dass
es keine lila Kühe gibt und dass es keine Bären gibt, die
mit Milchkannen über Almwiesen im Allgäu laufen? Sie
unterschätzen den Verbraucher nicht nur, nein, Sie verunsichern ihn auch noch.
Ich gehe einen Schritt weiter als mein Kollege
Birkner aus dem Niedersächsischen Landtag. Sie stehen
nicht im Nebel, Sie fahren im Nebel, und zwar mit
Höchstgeschwindigkeit. Das kann äußerst gefährlich
werden.
({11})
Sie betreiben einen Wahlkampf mit der Verunsicherung
der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Sie machen
diesen Wahlkampf auf dem Rücken der deutschen Bauern, indem Sie ihnen, wie es Herr Paula in der letzten
Diskussion getan hat, millionenfache Tierquälerei unterstellen. Das ist nicht akzeptabel. Deshalb gebe ich Ihrem
Antrag keine Zukunft.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Eier und Fleisch sollen nicht
aus einer quälerischen Massentierhaltung kommen. Das
ist der klare Wunsch vieler Verbraucherinnen und Verbraucher. Dazu muss jedoch jeder Mann und jede Frau
an der Ladentheke nachvollziehen können, woher die
Erzeugnisse kommen und wie die Tiere gehalten wurden. Versprechen helfen hier wenig.
({0})
Bilder mit glücklichen Hühnern geben keine Auskunft über deren Herkunft und Haltungsform. Für viele
Konsumentinnen und Konsumenten ist Werbung von
echter Verbraucherinformation kaum zu unterscheiden.
Ich behaupte: Das ist zumindest von der Lebensmittelindustrie durchaus beabsichtigt. Deshalb sind klare gesetzliche Regeln unverzichtbar. Ein bekanntes Beispiel ist
der berühmte Schwarzwälder Schinken, der eigentlich
ein Schinken Schwarzwälder Art ist.
({1})
Der Schinken wird zwar im Ländle geräuchert, die
Schweine aber haben den Schwarzwald nie gesehen. Sie
werden aus ganz Europa herangekarrt. Tierschutz sieht
anders aus.
({2})
Apropos Tierschutz: Das neue blaue Siegel „Für mehr
Tierschutz“ soll auch bei der Geflügelhaltung mehr
Klarheit bringen - natürlich freiwillig. Aber wer nicht
wirklich gut informiert ist und den Unterschied nicht
kennt, den ein Stern oder zwei Sterne auf dem Label ausmachen, hat Pech gehabt. Wer nicht genau auf die Sterne
achtet, erwischt nämlich vielleicht nur die sogenannte
Eingangsstufe mit einem Stern. Die Produzenten sind
nämlich mehr oder weniger noch am Üben. Also, bitte
genau hinsehen beim Einkaufen!
Meiner Meinung nach hat das Verbraucherministerium mit diesem halbherzigen Label lediglich eine
Konkurrenz zu dem seit langem anerkannten und bewährten Neuland-Programm aufgelegt. Gegründet von
verantwortungsbewussten Landwirten, Umwelt- und
Tierschützern, stellt Neuland seit 1988 eine tiergerechte
und umweltschonende Nutztierhaltung sicher. So sieht
Tierschutz aus.
({3})
Krass dagegen ist die Industrialisierung der Legehennenhaltung auch in Deutschland. 29 Millionen Legehennen werden in Beständen mit mehr als 10 000 Tieren
gehalten, insgesamt in nur 600 Betrieben in Deutschland. Das entspricht 83 Prozent aller Legehennen in
Deutschland.
({4})
Probleme bei der Gesunderhaltung dieser Tiere sind damit vorprogrammiert.
({5})
Die restlichen 17 Prozent der Hühner verteilen sich auf
55 600 Betriebe, sagt das Statistische Jahrbuch der
Landwirtschaft 2012.
({6})
Mit dem neuen Label soll der Tierschutz allzu
offensichtlich an die industrielle Erzeugung angepasst
werden. Das schadet der Glaubwürdigkeit im Bemühen
um ernstgemeinten Tierschutz. Die Linke sagt: Verbraucherpolitik darf nicht „herumeiern“.
({7})
Kundinnen und Kunden des Einzelhandels haben ihre
Entscheidung schon lange getroffen: Käfigeier wollen
sie nicht. Bei frischen Eiern sind der Weg vom Stall zum
Teller und die Haltungsform eindeutig nachzuvollziehen, wenn wir vom bandenmäßigen Betrug bei Eierbetrieben in Niedersachsen einmal absehen.
An dieser Stelle muss ich noch betonen, dass entscheidende Hinweise über unsägliche Zustände in Hühnerställen in der Regel von engagierten Tierschützern
kommen. Deren Arbeit wird auch weiterhin notwendig
sein. Deren prüfender Blick in die Ställe, in die Bestände
der Bodenhaltung und der industriellen Biohaltung ist
wirksamer als jede Behördenkontrolle.
({8})
Dennoch kommt jedes zweite Ei, das wir essen, aus
Qualzucht. Der Grund ist: Für verarbeitete Eier fehlt
eine Kennzeichnungspflicht. Wo eindeutige, nachvollziehbare Informationen fehlen, werden uns auch weiterhin Käfigeier untergejubelt. Das nenne ich bewusste
Verbrauchertäuschung.
({9})
Die Linke fordert deshalb, die Angabe der Haltungsform für alle Lebensmittel, die Ei enthalten, verpflichtend einzuführen.
({10})
Die Haltungsbedingungen für Legehennen müssen durch
ein Verbot der Kleingruppenkäfighaltung verbessert
werden. Zudem brauchen wir klare und verbindliche
Regeln für die Aufmachung und Werbung bei Lebensmitteln, um Irreführung und Täuschung endlich zu unterbinden.
({11})
Die Anträge der Grünen unterstützen wir deshalb.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Josef Rief hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich danke zunächst den Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen für ihre Anträge zur Legehennenhaltung. Um es klar zu sagen: Ihre Forderungen
und auch die Debatte heute müssen wir leider wieder
einmal unter „Wahlkampfgetöse“ verbuchen.
({0})
- Das ist so. - Wir haben aber jetzt die Gelegenheit, den
Bürgerinnen und Bürgern noch einmal die tatsächlichen
Fakten klarzumachen.
Die verzerrende Berichterstattung und das ewige
„Skandal!“-Geschrei hilft uns und den Verbrauchern
nicht weiter. Die Mehrheit der Bevölkerung - davon bin
ich überzeugt - durchschaut zum Glück den zeitlichen
Zusammenhang zwischen Ostern und Ihren Eieranträgen.
({1})
Wir sind uns ja alle einig, dass wir die Käfighaltung
in Deutschland nicht mehr haben wollen. Seit 2009 ist
sie bei uns verboten, in der EU seit 2012. Wir waren hier
Vorreiter. Die deutschen Erzeuger haben dies mit Verlusten von Marktanteilen teuer bezahlt. Betriebe hörten auf
oder gingen in Konkurs. Unser Selbstversorgungsgrad
bei Eiern ist von 72 Prozent in 2008 auf unter 58 Prozent
gesunken und erholt sich im Augenblick nur sehr langsam.
Momentan setzt sich unsere Ministerin richtigerweise
dafür ein, dass dieses europaweite Verbot der Käfighaltung auch in allen Mitgliedstaaten durchgesetzt wird.
Am 31. Dezember 2012 stammten immerhin noch
13 Prozent der europäischen Eier aus der alten Käfighaltung. Das muss sich dringend ändern.
({2})
Hier sehen wir, dass Alleingänge schädlich sind und im
europäischen Binnenmarkt niemandem nützen.
({3})
Damit schadet die Opposition den heimischen Bauern
und der Ernährungswirtschaft in Deutschland.
({4})
Nur europaweit abgestimmte und auch von allen
durchgesetzte Erhöhungen von Standards - wenn wir
das schon brauchen - führen zum Erfolg. Niemandem ist
geholfen, wenn wir ausschließlich deutsche Landwirte
zu höheren Standards zwingen und der Markt dann mit
den preiswerter produzierten Produkten von den europäischen Lieferanten überschwemmt wird. Bei Eiern in
verarbeiteter Form passiert nun genau das - und wird
gleichzeitig von den Grünen wieder beklagt.
Die Verbraucher zeigen übrigens mit ihrem Einkaufsverhalten, welcher Haltungsform sie den Vorzug geben.
So sind inzwischen kaum noch Kleingruppeneier im
Handel zu finden. Wer sichergehen will, dass er keine
Eier aus der verbotenen Käfighaltung in verarbeiteten
Produkten mitkauft, kann dies auch heute schon mit dem
Kauf von freiwillig deklarierten Produkten oder von
Bioprodukten erreichen. Das Angebot ist da.
({5})
Der Handel und auch die Verarbeiter richten sich nach
Kundenwünschen. Bisher liegt der Bioanteil aber nur bei
7,5 Prozent. Das gehört eben auch zur Wahrheit.
Ein deutscher Alleingang bei der Deklaration ist hier
die schlechtere Lösung. Denn auch hier gilt: Ein europäischer Binnenmarkt muss einheitliche europäische
Regeln haben, sonst schaden wir der deutschen Ernährungswirtschaft, ohne dem Verbraucher oder den Tieren
zu helfen. Sie wissen ganz genau, dass auf EU-Ebene
momentan an einem Bericht zur Herkunftskennzeichnung von Lebensmitteln gearbeitet wird. Ihn müssen wir
abwarten, bevor wir zu weiteren EU-einheitlichen Regeln kommen können.
({6})
Aber nun zu den Fakten bei der Legehennenhaltung.
Deutschland hat die Käfighaltung abgeschafft.
({7})
- Ich komme sofort dazu, Herr Paula. - Alternativ hatten
wir nun die Kleingruppenhaltung. Viele Landwirte haben dann investiert und ihre Ställe neu eingerichtet. Das
Bundesverfassungsgericht hat diese Neuregelung aus
formalen Gründen kassiert und Bund und Ländern aufgegeben, bis 2012 eine neue Verordnung vorzulegen.
Die Bundesregierung hat fristgemäß eine neue Verordnung zum Auslaufen der Kleingruppenhaltung vorgelegt, die für bestehende Betriebe eine verträgliche Übergangsfrist vorsieht. Sie, meine Damen und Herren von
der Opposition, waren dagegen und haben eine vernünftige Regelung im Bundesrat scheitern lassen. Eine verkürzte Übergangsfrist - das wissen Sie ganz genau, und
dennoch ignorieren Sie das - ist mit der Verfassung nicht
vereinbar.
({8})
Ohne eine neue Bundesverordnung lassen Sie die Geflügelhalter im Regen stehen. Die rot und grün geführten
Länder sind für den föderalen Flickenteppich verantwortlich, der uns in der Legehennenhaltung droht.
({9})
Sie sorgen damit für Unsicherheit bei den Landwirten.
Sie wissen genau, dass wir ohne Verordnung auch beim
Tierschutz deutschland- und europaweit nicht weiterkommen. Der Vorwurf der Untätigkeit an die Bundesregierung ist ebenso abwegig wie die mehrfache Forderung nach Alleingängen in der Deklaration. Wir lehnen
daher Ihre Anträge ab.
Ich wünsche Ihnen - ein bisschen verfrüht - ein frohes Osterfest, hoffentlich mit heimischen Eiern.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Ich gebe das Wort an die Kollegin Elvira DrobinskiWeiß für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren auf
den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland nimmt beim Tierschutz in der Legehennenhaltung europaweit eine Spitzenstellung ein - das sagt
jedenfalls die Bundesregierung -, weil sich der Anteil
der Legehennen, die in Bodenhaltung, Freilandhaltung
oder ökologischer Erzeugung gehalten werden, gegenüber 2008 extrem erhöht hat.
({0})
Na klar ist das so; denn seit 2010 ist die Haltung von Legehennen in Käfigen verboten, und die betreffenden Betriebe mussten umstellen.
Leider wird dem Leser auf der Homepage des
BMELV nicht erklärt, warum sich der Anteil an der Bodenhaltung verdreifacht hat, während der Anteil der
Tiere in ökologischer Erzeugung nur um 3 Prozent stieg.
Sie schreiben nicht, dass für die Landwirtschaft und die
Industrie einfach der Investitionsanreiz fehlt, noch stärker in die ökologische Erzeugung zu investieren.
Im Jahr 2011 hat laut Statistischem Jahrbuch jeder
von uns im Durchschnitt 212 Eier gegessen. Nur einen
geringen Teil davon haben wir jedoch als Schalenei gekauft. Den größten Teil haben wir in Form von verarbeiteten Produkten wie Nudeln, Kuchen, Eis oder in unterschiedlichen Formen als Flüssigei verspeist.
Hier ist das Dilemma: Seit 2004 muss bei Schaleneiern das Haltungssystem der Tiere eindeutig gekennzeichnet sein. Als Verbraucherin habe ich also die Wahl.
Ich kann mich bewusst für Eier aus ökologischer Produktion oder eben aus Bodenhaltung entscheiden. Aber
genau diese Informationen werden den Verbrauchern auf
Produkten, in denen Eier verarbeitet werden, in Gaststätten und auch auf Eiern, die gekocht oder gefärbt werden,
bewusst vorenthalten. Ich unterstreiche: Bewusst werden
den Verbrauchern diese Informationen vorenthalten; die
Stärkung ihrer Marktmacht ist nämlich nicht erwünscht.
Das können Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von den Koalitionsfraktionen, natürlich nicht so offen
sagen. Die Beratung heute zeigt leider wieder einmal,
dass Sie sich bei unangenehmen Themen gerne hinter
der EU verstecken.
({1})
Schnell kam der Satz: Eine Kennzeichnungspflicht
benachteiligt deutsche Firmen in Europa, ein Alleingang
wird abgelehnt.
({2})
Der Kollege Rief hat das gerade auch noch einmal formuliert. Kommt Ihnen, Herr Rief, aber auch den anderen
Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen dieser Satz bekannt vor? Offensichtlich eine Allzweckwaffe, wenn es um Transparenz geht!
Die Interessen der Wirtschaft zählen abermals eindeutig stärker als die der Konsumenten. Die artgerechte Haltung von Hühnern liegt vielen Verbraucherinnen und
Verbrauchern tatsächlich am Herzen; das lässt sich sogar
in Ihren eigenen Veröffentlichungen erkennen. Danach
steigt die Anzahl der Haltungsplätze für Legehennen in
ökologischer Erzeugung ebenso wie die Anzahl der verkauften Eier aus ökologischer Erzeugung. Warum ignorieren Sie diesen Trend?
Die Anzahl könnte wesentlich stärker steigen, wenn
Sie die Kennzeichnungslücke schließen und damit für
die Tierhalter, die ökologisch erzeugte Produkte vertreiben, einen Ansporn schaffen würden. Doch statt schnell
und unkonventionell zu handeln und der Landwirtschaft
und Industrie durch eine Ausdehnung der Kennzeichnung auf verarbeitete Produkte einen Investitionsanreiz
zu bieten, wartet das BMELV lieber auf den Dezember
2014 - 2014! -;
({3})
denn die EU-Kommission hat für den Termin in Aussicht gestellt, die Herkunftskennzeichnung von Lebensmitteln zu regeln.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir fordern
Sie nochmals auf, diese Kennzeichnungslücke zu schließen. Auch gekochte und gefärbte Eier müssen eindeutig
gekennzeichnet sein. Dann können wir uns in einer Woche wirklich „Frohe Ostern!“ wünschen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12842 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Kennzeichnungspflicht auf verarbeitete Eier ausweiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9973, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9170 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Damit ist die Beschlussempfehlung
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen; die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 7 auf:
11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Unterstützung der Initiative der G 20 und der
OECD zur Bekämpfung der Aushöhlung der
Steuerbemessungsgrundlage und der Gewinnverschiebung internationaler Konzerne
- Drucksache 17/12827 ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Aggressive Steuerplanung und Steuervermeidung internationaler Konzerne bekämpfen
- Drucksache 17/12819 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Verabredet ist es, eine halbe Stunde zu debattieren. Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin, ganz herzlichen Dank. - Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren!
Wir haben in den letzten Jahren einen enormen Wandel
in der Wirtschaft erlebt, vor allen Dingen angetrieben
durch das Internet und durch den E-Commerce, also
durch den elektronischen und digitalen Handel. Dadurch
haben sich der Warenaustausch und die internationale
Arbeitsteilung noch weiter verstärkt. Aber was sich
durch den Handel per Internet auch verändert hat, ist die
Struktur des Warenaustausches und auch die Struktur der
Rechtsgeschäfte, die dahinterstehen.
Wenn man heute bei dem Onlinehändler Amazon ein
Produkt, zum Beispiel ein Taschenbuch, einkauft, dann
meint man, man würde das bei Amazon in Deutschland
kaufen. Man macht in dem Moment, wo man klickt und
die Bestellung aufgibt, aber ein Geschäft mit Amazon in
Luxemburg. Die Umsätze bei Amazon werden demzufolge nicht in Deutschland, sondern in Luxemburg getätigt. Die Gewinne und Erträge, die Amazon in
Luxemburg erzielt, werden über verschiedene Tochtergesellschaften weitergereicht: erst in die Niederlande,
dann nach Irland und schließlich landen sie auf karibischen Inseln. Ähnlich ist auch das Modell von Google in
Deutschland.
Das führt dazu, dass diese Gewinne dem deutschen
Fiskus und dem deutschen Steuergesetzgeber verlorengehen, weil unsere Steuergesetzgebung traditionell bei
den Betriebsstätten in Deutschland anknüpft. Amazon
hat aber im rechtlichen Sinne gar keine Betriebsstätte in
Deutschland, sondern agiert, wie gerade erklärt, von
Luxemburg aus.
Das wiederum führt dazu - der Internethandel wird
weiter rasant wachsen -, dass wir mehr und mehr an
Steuersubstrat, also an Geschäftsmasse, die wir besteuern können, verlieren. Geschäfte, die eigentlich in
Deutschland getätigt werden - die Wertschöpfung findet
also in Deutschland statt -, werden nicht mehr in
Deutschland besteuert. Die Gewinne landen woanders
auf der Welt und bleiben vielfach unbesteuert.
Ein Onlinehändler, der wie der Otto-Versand in
Deutschland versteuert, hat eine normale Steuerquote in
Höhe von 20 bis über 30 Prozent. Google oder Apple
zum Beispiel, große internationale Konzerne, haben
zwar in den USA Konzernsteuerquoten von etwa 20 bis
24 Prozent, aber die ausländischen Gewinne, die auch in
Deutschland gemacht werden, werden nur noch mit 1 bis
3 Prozent besteuert. Das zeigt, dass Gewinne, die in
Deutschland oder Europa gemacht werden, nicht mehr
vernünftig besteuert werden können. Das ist kein Problem, das wir mit unserem deutschen Steuerrecht lösen
können, sondern ein Problem, das wir nur international
angehen können.
Das hat die Bundesregierung jetzt getan. Deswegen
begrüßen wir ausdrücklich die Initiative unseres Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, der gemeinsam mit
dem französischen und dem britischen Finanzminister
dieses Thema angestoßen hat und auf der Ebene der
OECD und der G 20 ein Projekt in die Wege geleitet hat
- BEPS; Base Erosion and Profit Shifting -, mit dem genau überprüft werden soll, wie die Base Erosion, also
das Erodieren der Steuer, abläuft und wie wir eine vernünftige Besteuerung dieser künstlich verlagerten Gewinne erreichen können. Wir begrüßen mit Nachdruck,
dass Wolfgang Schäuble aktiv geworden ist und dieses
Projekt angestoßen hat und dass wir bei diesem Thema
endlich vorankommen.
({0})
Gestern hatten wir ein sehr ausführliches Fachgespräch. Ich fand es sehr bedauerlich, dass vonseiten der
Opposition immer wieder die Fragen aufgeworfen wurden: Was ist mit der Zinsschranke? Geht uns nicht etwas
verloren? Was ist mit der Verlustnutzung und mit diesem
oder jenem Nebentatbestand? Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir haben in Deutschland ein vernünftiges und gutes Unternehmensteuerrecht. Wir haben auch ein gutes
Außensteuerrecht. Bei uns gehen im Wesentlichen keine
Gewinne verloren. Das ist also nicht das Kernproblem.
Das Kernproblem ist das, was ich beschrieben habe,
nämlich der Internethandel der großen multinationalen
Konzerne. Durch diese neuen Strukturen gehen uns Gewinne verloren, weil wir nicht an sie herankommen. Das
Problem müssen wir angehen. Wir sollten aber nicht
weiter darüber nachdenken, wie wir womöglich für unsere heimischen Unternehmen, auch für unseren Mittelstand, der immer mehr dem internationalen Wettbewerb
ausgesetzt ist, die Daumenschrauben anziehen können.
Das gilt beispielsweise auch für Ihre Überlegungen, die
Sie in Ihrem Wahlprogramm vorgestellt haben. Stichwort: Unternehmensteuer, höhere Einkommensteuer,
Zinsschranke verschärfen. Zu Ihren Überlegungen gehört auch, alle Regelungen, die wir zu Beginn dieser
Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben, zurückzudrehen, was dazu führt, dass sich für unsere Unternehmen die Situation am Standort verschlechtert.
Im Gegenteil: Wir müssen jetzt für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen. Das heißt, derjenige, der in
Deutschland Geschäfte macht, muss zu vergleichbaren
Konditionen besteuert werden, unabhängig davon, dass
er seinen Sitz irgendwo im Ausland hat. Ansonsten würden wir unsere deutschen Unternehmen - große, aber
auch mittelständische Unternehmen - massiv benachteiligen. Fairness und gleiche wettbewerbliche Bedingungen im Steuerrecht sind die Stichworte.
({1})
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie in Ihrem Antrag
auch die Schweiz erwähnt haben. In einem Unterpunkt
fordern Sie die Einführung eines automatisierten Informationsaustauschs bei Kapitaleinkünften. Das ist ein
Anliegen, dass man durchaus verfolgen kann; das finde
ich völlig in Ordnung. Aber das erweckt so ein bisschen
den Eindruck, als ginge es dabei um ganz andere Baustellen als die Kernbaustelle, die ich eben erwähnt habe.
({2})
Sie haben in Ihrem Antrag viele Dinge durcheinandergeworfen und eine Menge Nebenthemen genannt.
Das lässt falsche Schlüsse zu. Wir haben aber in erster
Linie kein Problem mit der Schweiz. Wenn Sie dem
Steuerabkommen mit der Schweiz Ende letzten Jahres
zugestimmt hätten, hätten wir jetzt hier wie in der
Schweiz die gleiche Besteuerung von Kapitaleinkünften.
Das hatten Sie in der Hand. Hätten Sie zugestimmt, hätten wir überhaupt keine Schwierigkeiten mit der
Schweiz.
({3})
Damit lenken Sie vom eigentlichen Thema ab, was
ich sehr bedauerlich finde. Die Aufgabe lautet, international vergleichbare steuerliche Rahmenbedingungen
und damit vergleichbare wettbewerbliche Bedingungen
zu schaffen, damit unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb unter den gleichen Spielregeln wie andere große multinationale Konzerne antreten können.
Die wesentlichen Schritte dafür haben wir in die
Wege geleitet. Die OECD wird uns bis zum Juni konkrete Vorschläge in einem Aktionsplan vorlegen. Auf
der nächsten G-20-Finanzministerkonferenz können
dann die nächsten konkreten Schritte in die Wege geleitet werden. Wir unterstützen dabei mit vollem Engagement unseren Finanzminister Wolfgang Schäuble, der
auf dem richtigen Weg ist.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat Lothar Binding das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Middelberg hat die Problemlage hinsichtlich der internationalen Steuergestaltung schon ganz gut beschrieben.
({0})
- Ja, alle sind irgendwie gut, aber manchmal auch nicht
gut genug.
Schauen wir uns einmal an, wie groß das Problem eigentlich ist, und nehmen als Beispiel Google. In der Anhörung zu diesem Thema wurde uns geschildert, dass
Google eine Reihe von Töchtern hat, etwa auf den
Bermudas und in Irland, dass es eine doppelt ansässige
Gesellschaft gibt, dass Gewinne über Lizenzgebührenvereinbarungen verschoben werden, dass es keine Hin28880
Lothar Binding ({1})
zurechnungsbesteuerung auf den Bermudas gibt, wenn
man eine aktive Tochter in Irland hat, und dass Google
neben diesen beiden Töchtern eine weitere Tochter in
Holland hat, über die man die Lizenzgebühren zurück in
das Sitzland von Google verschiebt. Man merkt - ich
hoffe, dass niemand verstanden hat, was ich eben beschrieben habe -, wie kompliziert die Gewinnverlagerung tatsächlich ist.
Jetzt schauen wir einmal in den Antrag der Koalition,
um zu sehen, wie sie versucht, auf diese komplexe Situation zu reagieren. Sie schreiben darin, die politischen
Bemühungen der Regierung sollten fortgesetzt werden,
und Sie fordern die Regierung auf, weiter aktiv mitzuarbeiten und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Wir
glauben, dass dieser Abstraktionsgrad uns nicht weiterhilft. Wir müssen sehr viel konkreter werden.
Offen gesagt hätten wir Ihren abstrakten Antrag dennoch fast unterstützt. Allerdings steht auch darin:
Die Bundesregierung hat das Thema Gewinnverlagerung rechtzeitig erkannt und mit auf die internationale Agenda gebracht.
Außerdem wird Wolfgang Schäuble beglückwünscht,
weil er sich an die Spitze der internationalen Initiative
gesetzt habe.
({2})
Das ist, offen gesagt, blanker Hohn. Schauen wir einmal, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben: Sie
selbst haben Schlupflöcher hinsichtlich der internationalen Gestaltung geschaffen und versucht, sie zu erhalten.
({3})
Wir haben gestern in der Anhörung gelernt, dass die
Zinsschranke ein exzellentes Instrument ist. Sie haben
die Vorschriften zur Zinsschranke aber verschlechtert.
({4})
Der Mantelkauf ist ein Mittel, um strategisch Gewinne
zu vernichten; die Verlustverrechnung ist, anders als Sie
sagen, kein marginales Problem. Außerdem haben Sie
die Funktionsverlagerung in einer Weise erleichtert, die
dem deutschen Fiskus schadet.
Damit den Staaten nicht weiter Steuersubstrat entzogen wird, muss hinsichtlich der Vermeidung der doppelten Nichtbesteuerung und hinsichtlich der Vermeidung
einer unterschiedlichen Situation in Quellen- und Ansässigkeitsstaat sehr viel mehr geschehen. Ihr Antrag ist
deshalb keinesfalls hinreichend.
Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen.
Herr Kollege, bevor Sie zu den Beispielen kommen:
Herr Kollege Middelberg würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich versuche einmal, qualifiziert auf diese Frage zu
reagieren.
({0})
Lieber Kollege Binding, vielen Dank. - Ich habe eine
konkrete Zwischenfrage. Vielleicht können Sie dem
Hohen Haus erklären, welche Rolle die Zinsschranke im
konkreten Fall von Google spielt,
({0})
den wir gestern ausführlich erörtert haben; hier kommt
es ja zu einem erheblichen Verlust von Steuersubstrat.
Ich glaube, uns allen ist gestern deutlich geworden, dass
die Zinsschranke, also die Möglichkeiten, die unser
Steuerrecht in dieser Hinsicht vorsieht, in den Fällen von
Google und Amazon sowie in allen anderen genannten
Fällen, um die es hier geht, keine Rolle spielt.
Modelltheoretisch ist da eine Analogie zu sehen. Die
Zinsschranke funktioniert so: Jemand macht in Deutschland einen Gewinn und will ihn nicht versteuern. Was tut
er? Er gründet eine kleine Tochtergesellschaft im Ausland. Diese Tochtergesellschaft gibt Kredite an die Muttergesellschaft im Inland, und die Muttergesellschaft
überweist ihre Gewinne als Zinsen an die eigene Tochtergesellschaft im Ausland. Diese Überweisung des Gewinns als Zinsen an sich selbst im Ausland führt dazu,
dass der Gewinn in Deutschland null ist. Damit ist natürlich auch das Steueraufkommen null.
({0})
- Einen kleinen Moment.
Hätten wir das Modell der Zinsschranke weiterentwickelt, dann wäre heute Folgendes nicht mehr möglich:
dass man eine Lizenzverwaltungsgesellschaft im Ausland entwickelt und dann die Lizenzen aus Deutschland
an die eigene Tochter im Ausland überträgt,
({1})
um den Gewinn, der bei uns entsteht, als Lizenzgebühren bei der eigenen Tochter im Ausland zu haben, damit
der Gewinn in Deutschland auf null sinkt. Hätten wir die
sehr gute Zinsschranke - das wurde Ihnen gestern bestätigt - modelltheoretisch weiterentwickelt, dann hätten
wir heute sehr viel weniger Probleme mit Lizenzgebühren und anderen Gestaltungsmomenten; dann hätten wir
ein Anrecht, international etwas Entsprechendes einzufordern - von den Iren, von den Niederländern, von denen, die eine solche Gestaltung heute möglich machen.
Wir sind deshalb international so schlecht aufgestellt,
weil wir selbst kein gutes Beispiel geben. Mit der
Lothar Binding ({2})
Weiterentwicklung der Zinsschranke hätten wir ein gutes
Beispiel geben können. Das wäre eine exzellente Sache
gewesen, die man auf internationaler Ebene hätte fortsetzen können.
({3})
Gleichwohl versuchen Sie das mit Ihrem Antrag auch.
Ich habe nur kritisiert, dass Sie meinen, Sie wären an der
Speerspitze der Bewegung. Nein, Sie kommen damit
drei bis vier Jahre zu spät.
({4})
Das erkennt man daran, dass es gegenwärtig Verlagerungen bei Google, Amazon und anderen gibt. Warum gibt
es das gegenwärtig? Sie sind doch seit dreieinhalb Jahren an der Regierung und hätten in dieser Hinsicht schon
etwas tun können. Das ist aber nicht passiert.
({5})
- Ja, wir waren auch schon mal an der Regierung. Aber
wir haben ja gerade von Herrn Middelberg gehört, dass
die Verlagerungen erst in den letzten Jahren verschärft
aufgetreten sind. Zu den letzten Jahren gehören auch die
letzten dreieinhalb Jahre, in denen Sie Verantwortung
getragen haben.
Wir merken, dass das Problem sehr viel komplexer
ist, als Sie es jetzt angehen. Wir meinen, Sie müssen da
etwas tiefer einsteigen. Ich will ein paar Stichworte
nennen:
Zum Beispiel ist die Frage, warum Sie die Ideen, die
die OECD in diesem Zusammenhang hatte, nicht schon
national umsetzen. Es gibt eine ganze Reihe von guten
Ideen, die die OECD schon formuliert hat; aber auf
nationaler Ebene passiert nichts.
({6})
Sie haben sogar etwas ganz Interessantes gemacht:
Sie haben ein Zwölf-Punkte-Programm zur Unternehmensbesteuerung entwickelt, aber Ihr eigenes Programm
- das ist so ähnlich wie bei der Koalitionsvereinbarung nicht umgesetzt. Wir beklagen ja nicht, dass die OECD
keine Ideen hat; wir beklagen vielmehr das Umsetzungsdefizit, das die gegenwärtige Regierung an den Tag legt.
Es gibt natürlich auch Qualifizierungskonflikte und
Probleme mit hybriden Finanzierungen. Es ist völlig
klar: Wenn Fremdkapital und Eigenkapital in den verschiedenen Ländern unterschiedlich qualifiziert werden,
dann kommt es natürlich zu einem Gewinntransfer in einen anderen Staat. Wenn der Quellenstaat die Betriebsausgaben anerkennt, aber die Gewinne bei uns nicht
versteuert werden, hat man ein doppeltes Problem. Das
hätten Sie eigentlich schon lösen können. Aber nein, das
haben Sie nicht angepackt.
({7})
Deshalb ist es so, dass die Dividenden im Empfängerstaat freigestellt sind, und der Gewinntransfer nimmt
seinen Lauf.
So ähnlich verhält es sich mit dem Problem des doppelten Abzugs aufgrund der Qualifikationskonflikte im
Zusammenhang mit Gewinnen in Personengesellschaften. Auch da fehlt eine gute Regelung. Wir glauben, dass
in diese Richtung sehr viel mehr hätte passieren können.
Nun komme ich zu einer Kernlösung. Wir denken ja
schon sehr lange über die Gemeinsame konsolidierte
Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage nach. Die
Frage ist, warum Sie in dieser Richtung - diese Harmonisierung fällt in Europa auf durchaus fruchtbaren Boden nicht einen Schritt weitergegangen sind.
({8})
Es wäre gut gewesen, das auf internationaler Ebene zu
verhandeln.
Es gibt sogar einen ersten kleinen, aber rudimentären
Ansatz in dem gemeinsam mit Frankreich vorgelegten
Grünbuch. Frankreich ist uns sehr weit entgegengekommen. Leider ist es jetzt in der Schublade versackt, und es
ist nichts daraus geworden. Man hat die Verhandlungen
in Europa nicht fortgesetzt. Das ist eine traurige Sache.
Man hätte mit dieser Bemessungsgrundlage sehr erfolgreich Steuergestaltungen vermeiden können. Leider
haben Sie darauf verzichtet.
({9})
Es gibt Leitlinien der OECD zur Zurückverfolgung
von Geldflüssen. Das ist ein wichtiges Instrument, um zu
beobachten: Was passiert da? Sie sind diesen Leitlinien
aber nicht gefolgt. Die OECD hat uns Maßnahmen zur
Verbesserung von Risikomanagementtechniken vorgeschlagen, insbesondere hinsichtlich des ComplianceRisikomanagements. In dieser Richtung ist nichts passiert. Es besteht die Möglichkeit, die Eurofisc auf den
Bereich der direkten Steuern auszudehnen. Auch in
dieser Hinsicht ist nichts passiert. Wir hatten die Möglichkeit, die Mutter-Tochter-Richtlinie zu überarbeiten.
In dieser Hinsicht ist ebenfalls nichts passiert. Auch die
Missbrauchsbekämpfungsbestimmungen wurden nicht
in nationales Recht umgesetzt.
Es wurde vorhin gesagt, die Verlustnutzung bzw.
grenzüberschreitende Gewinngestaltung sei ein „Nebentatbestand“. Das beschreibt sehr genau, wo unser Problem liegt: Wir meinen, die Problemlage sei eigentlich
gar nicht so dramatisch. Dabei ist völlig klar: Internationale Gestaltungen dienen dazu, Nationalstaaten auszuzehren.
Wir können ja mal schauen, welche Gestaltungen neben Google andere Unternehmen vornehmen.
({10})
Lothar Binding ({11})
Ich will aus der Anhörung zitieren. Man muss sich zum
Beispiel fragen, warum ein deutsches Unternehmen
weltweit 2 100 Töchter hat. Die Finanzchefin des Unternehmens erklärte, der Gründung der 2 100 Töchterunternehmen weltweit liege keinerlei steuerliche Motivation
zugrunde. Ich muss schon sagen: Das gibt mir sehr zu
denken. Jetzt wissen Sie, warum ich sage: Man muss
etwas genauer hinter die Kulissen schauen; das führt zu
einer konkreteren Gesetzgebung, zu besseren Lösungen.
Wir hoffen, dass wir gemeinsam Lösungen erarbeiten
können. Eine abstrakte Beschreibung des Problems ist
Ihnen zwar gelungen, aber in der konkreten Umsetzung
ist leider ein Versagen festzustellen; so kann man die
Situation zusammenfassen. Nun werden wir uns auf den
Weg der Gesetzgebung begeben.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Binding, Sie haben
gerade mündlich das wiedergegeben, was sich als Fehler
durch Ihren gesamten Antrag zieht.
({0})
Lassen Sie mich mit Ihrem letztgenannten Beispiel
anfangen. Allein die Tatsache, dass ein Unternehmen
1, 2, 20 oder 2 100 Töchter im Ausland hat, lässt noch
nicht den Rückschluss zu, dass das eine rein steuermissbräuchliche Gestaltung oder Ähnliches sei.
({1})
Zunächst ist festzuhalten: Jedes Unternehmen hat das
Recht auf die freie Entscheidung, wie es sich strukturiert. Sie sollten deswegen auch nicht sofort den Generalverdacht aufbauen,
({2})
alles, was in diese Richtung strukturiert ist, sei steuermissbräuchliche Gestaltung.
In dem von Ihnen vorgelegten Antrag machen Sie genau diesen Fehler. Sie werfen den Begriff „Steuergestaltung“ mit den Begriffen „Steuerhinterziehung“ und
„Steuerbetrug“ in einen Topf.
({3})
Dabei muss man das deutlich auseinanderhalten, wenn
man sich dem Thema „Besteuerung von multinationalen
Unternehmen“ seriös nähern möchte.
({4})
In dem gestrigen Fachgespräch, an dem auch Sie teilgenommen haben, sind die Experten deutlich zu dem
Schluss gekommen, dass wir in diesem Bereich kein
Problem mit der nationalen Gesetzgebung haben. Vielmehr ist es ein Problem der internationalen Zusammenarbeit mit anderen Sitzstaaten von Unternehmen.
({5})
Das muss man berücksichtigen, wenn man sich diesem
Thema seriös nähern will. Es ist kein Problem des nationalen Gesetzgebers. Vielmehr müssen wir dort zu einer
stärkeren internationalen Zusammenarbeit kommen.
({6})
Das hat die Bundesregierung, das hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gemacht. Er ist übrigens der
erste Bundesfinanzminister, der das Thema GKKB, also
die Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, aufgegriffen hat. Das ist wirklich
ein sehr interessanter Ansatz. Ich meine nicht, dass es
angemessen ist, dass Sie hier einzig und allein den Vorwurf erheben, es sei Ihnen nicht schnell genug gegangen.
Vorgänger von Wolfgang Schäuble sind das nämlich
nicht angegangen. Insofern ist das wirklich ein Verdienst
von Wolfgang Schäuble.
Das Bundesfinanzministerium arbeitet in der OECD
und in der Gruppe der G 20 ganz vorne mit, wenn es darum geht, wie wir die internationale Zusammenarbeit
verbessern können, wie wir trotz einer Gewinn- und Verlustverschiebung zwischen den einzelnen Sitzstaaten die
Steuerbemessungsgrundlage sichern können. In dieser
Frage schreitet das Bundesfinanzministerium voran. Ich
denke, das ist tatsächlich ein großes Verdienst auch dieser Koalition. Denn es geht ja auch darum, dass wir mit
diesen Maßnahmen das Thema der Steuergerechtigkeit
mit aufgreifen. Es kann nicht sein - das ist völlig
richtig -, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
hier in Deutschland das Gefühl haben, sie seien die
Dummen, die in die Röhre schauen, während sich große
Unternehmen wie Google oder Starbucks durch irgendwelche Gestaltungen der Besteuerung entziehen. Ich
denke, hierüber herrscht auch Einigkeit in diesem Haus.
({7})
Wenn man international zusammenarbeiten will, dann
muss man aber auch bereit sein, mit den internationalen
Partnern auf Augenhöhe zu verhandeln.
({8})
Damit bin ich beim Thema des Verhältnisses zwischen
Deutschland und der Schweiz.
({9})
Das ist wirklich ein Beispiel dafür gewesen, dass gerade
die andere Seite des Hauses nicht bereit war, auf gleicher
Augenhöhe zu verhandeln.
({10})
Da wurden Begriffe wie „Kavallerie“ und Ähnliches von
einem SPD-Finanzminister in den Raum geworfen, der
sich jetzt anschickt, Bundeskanzler werden zu wollen.
Wenn man eine internationale Zusammenarbeit zu einem
fruchtbaren Ergebnis führen will, dann muss man eben
bereit sein, auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln,
({11})
und muss auch bereit sein, Kompromisse einzugehen.
({12})
Das deutsch-schweizerische Steuerabkommen, das Bundesfinanzminister Schäuble ausgehandelt hat, ist Ergebnis einer solchen Kompromissfindung zwischen zwei
gleichberechtigten Partnern. Das wurde von Ihnen abgelehnt. Es ist am Widerstand der Opposition im Bundestag
({13})
und am Widerstand der von der hiesigen Opposition regierten Bundesländer gescheitert.
({14})
Sie haben damit allerdings erreicht, dass wir weiterhin
den Zustand haben, dass Geld, das in der Schweiz liegt,
nicht vom deutschen Fiskus versteuert wird. Das ist doch
die wirklich schädliche und ärgerliche Konsequenz, die
wir Ihrem Verhalten zu verdanken haben.
({15})
Deswegen ist es wirklich nicht angemessen, dass Sie
sich jetzt hierhinstellen und den Vorwurf erheben, die
Bundesregierung tue nichts gegen den internationalen
Steuerwettbewerb. Auch als Opposition sollten Sie konstruktiv daran mitwirken, in den internationalen Verhandlungen gute Ergebnisse herbeizuführen. Ich fordere
Sie dazu auf; denn das dient wirklich allen Bürgerinnen
und Bürgern in diesem Staat.
({16})
Der Kollege Dr. Axel Troost hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir befürworten natürlich die Absichtserklärung, der
Steuerhinterziehung, der Steuerverlagerung nachzugehen. Aber das, was im Augenblick hierzu vorliegt, ist
eben nur eine Absichtserklärung. Diese hätten Sie auch
in Form einer Pressemitteilung abgeben können.
In Ihrem Antrag dazu wird der Eindruck erweckt
- das ist auch gestern in der Anhörung geschehen -, dass
Sie jetzt die Vorreiterrolle übernehmen. Dazu kann ich
Ihnen nur sagen: Organisationen wie Attac, das Netzwerk Steuergerechtigkeit, die Memorandum-Gruppe und
andere kämpfen seit 15 Jahren gegen die Steuergestaltung zulasten der Finanzeinnahmen.
({0})
Jetzt sagen Sie im Grunde: Es gibt ein paar böse internationale Konzerne, Google, Starbucks und andere. Ansonsten ist aber alles in Ordnung; in der Bundesrepublik
haben wir überhaupt keine Probleme. - Das ist aus meiner Sicht bis ins Letzte verlogen, weil es generell um die
Steuergestaltung international agierender Konzerne geht,
um die, wie wir gestern gehört haben, sogenannte aggressive Steuergestaltung.
Um das an einem konkreten Beispiel zu zeigen - das
ist jetzt schon zweimal angesprochen worden; der Kollege Gambke hat das gestern konkret gezeigt -: Ein Unternehmen mit vielen Untergesellschaften ist die Deutsche Bank. Wenn diese Deutsche Bank in ihrem
Geschäftsbericht schreibt, dass die Steuerquote aufgrund
der „vorteilhaften geografischen Verteilung des Konzernergebnisses“ so gut war, dann weiß man genau, was damit gemeint ist, nämlich dass man Steuerlöcher nutzt,
um möglichst wenig Steuern zu zahlen. Das ist aus unserer Sicht völlig unakzeptabel und muss insgesamt angegangen werden.
({1})
Man soll an dieser Stelle ja nicht zu viel Schleichwerbung machen; aber ich kann alle nur auffordern, in den
Stern der letzten Woche zu schauen, in dem unter dem
Titel „Legale Staatsfeinde“ ein sehr schöner Artikel veröffentlicht wurde. In diesem Artikel wird sehr genau gezeigt, wie Steuergestaltung und Steuerhinterziehung in
der Bundesrepublik funktioniert.
Dass es das gibt, hängt natürlich auch damit zusammen, dass unsere Finanzverwaltungen personell und finanziell ausgesprochen schlecht aufgestellt sind. Die Behauptung von gestern, dass die Steuererhebung bei uns
gut funktionieren würde, ist einfach unsinnig; das weiß
jeder.
({2})
Es gibt Kienbaum-Gutachten, die besagen, dass bis zu
9 Milliarden Euro pro Jahr dadurch verloren gehen, dass
die Länder die ausschließliche Hoheit auf diesem Gebiet
haben. Der Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
Herr Eigenthaler, sagt völlig zu Recht: Wer an der Finanzverwaltung spart, der spart Einnahmen.
({3})
- Das ist nun nicht so witzig.
({4})
Das hat wenig Bezug zum Thema.
Es ist also nicht alles in Ordnung. Auch unsere Konzerne wirken gestaltend. Das, was diese Koalition in diesem Bereich bisher zustande gebracht hat, bewirkte
- das ist schon angesprochen worden - genau das Gegenteil. Man hat im Bereich der Zinsschranke genau das
Gegenteil gemacht: Man hat wieder Öffnungsmöglichkeiten geschaffen. Gestern ist deutlich geworden, dass
die Zinsschranke so gut wie keine Rolle mehr spielt,
weil die eigentliche Idee durchlöchert worden ist.
({5})
Es muss darum gehen, das gesamte Thema „Steuergerechtigkeit und Steuerpflicht international agierender
Konzerne“ in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei geht es
nicht um den kleinen Handwerker oder den kleinen Mittelständler, wie hier gesagt wird, sondern es geht um
große Konzerne, die es mit ihren Steuerabteilungen
schaffen, so gut wie nichts zur Finanzierung des Staates
beizutragen, was völlig unakzeptabel ist.
Danke schön.
({6})
Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat jetzt das Wort
für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema, über das wir heute sprechen, ist in der
Presse intensiv erörtert worden. Dieses Thema hat aufgrund der sehr spektakulären Tatsache, dass einige Firmen - die Namen wurden genannt -, insbesondere internetbasierte Unternehmen, ihre Gewinne mit 1, 3 oder
5 Prozent versteuern, eine besondere Brisanz.
Aber, Herr Middelhoff, wir müssen schon ein bisschen weiterschauen.
({0})
- Das ist immer der Name. Es tut mir leid.
({1})
Wir dürfen uns nicht nur das letzte Jahr und auch
nicht nur diese spektakulären Fälle anschauen, sondern
wir müssen uns auch anderes ansehen. Ich bin ja schon
ein bisschen länger im Bereich der Industrie unterwegs.
Schon 1990 wusste ich, dass Singapur einen Pioneer Status hat und 0 Prozent Körperschaftsteuer erhebt. Schon
damals war bei denjenigen, die das gewusst haben, Fantasie vorhanden. Ich will jetzt keinen Schwarzen Peter
verteilen, aber da wurde in der Tat wenig getan.
Es gibt ein berühmtes Möbelhaus, bei dem die Frage
war: Wie schaffen die das, in Deutschland so wenig
Steuern zu zahlen?
({2})
- Ja, aber die haben Möbelhäuser in Deutschland.
({3})
- Sehen Sie! - Die haben Lizenzgebühren verrechnet. Es
gab übrigens ein Gegeninstrument, die sogenannten Hinzurechnungen, die Sie von der Koalition abschaffen
wollten; denn Sie wollten die Gewerbesteuer kaputtmachen. Das war schon ein wirksames Instrument, welches
man genau deshalb eingeführt hat, um Steuersubstratverlagerungen ins Ausland zu verhindern.
({4})
Das Problem ist schon ein bisschen länger bekannt.
Es gibt noch einen zweiten Punkt, den Sie übersehen.
In Ihrem Antrag steht ein richtiger Satz: Wettbewerbsbedingungen müssen gleich sein. - Das ist richtig. Sie
müssen aber nicht nur im Verhältnis der internationalen
Konzerne zueinander gleich sein, so wie Sie es beschrieben haben. Sie betreiben da so ein bisschen Bashing und
prangern zu Recht Dinge an. Wir müssen auch schauen,
wie die Wettbewerbsbedingungen insgesamt sind.
Ich kenne viele Mittelständler in Deutschland, die sagen: So gehen nicht nur Google und Apple vor, sondern
auch andere. - Da kommt ein Punkt zum Tragen, der bei
Ihrem Antrag vollkommen fehlt. Wie richtig bemerkt
wurde, fehlen eine Menge konkreter Dinge. Es steht
überhaupt nichts Konkretes darin. Herr Troost hat zu
Recht gesagt, dass er sich wie eine Presseerklärung liest.
Wir müssen doch schauen, was wir konkret machen
müssen, um da richtig zu steuern. In diesem Zusammenhang fehlt das Wort „Transparenz“. Der automatische Informationsaustausch ist angesprochen worden. Als
Grüne haben wir einen Antrag vorgelegt, der unter anderem mit „Country-by-Country Reporting“ überschrieben
war. Auf Deutsch heißt das: Wir wollen, dass die Unternehmen ihren Umsatz, aber auch ihre Gewinnsituation
und ihre Kopfzahl länderbezogen darstellen, damit wir
uns ein Urteil machen können und wissen, wo wir eingreifen müssen.
Es hat mich sehr gewundert, dass Herr Meister eine
Presseerklärung herausgegeben hat, die sich so las, als
wolle er auf alle Konzerne eindreschen. Nein, wir wollen
genau wissen, wo die Schwierigkeiten liegen. Dann wollen wir zielgerichtet das tun, was unter anderem im SPDAntrag steht, uns nämlich mit unangemessenen konzerninternen Verrechnungspreisen, Zinszahlungen und LiDr. Thomas Gambke
zenzgebühren befassen. Wir wollen also sehr konkret
werden. Damit wir das tun können, brauchen wir Transparenz. Das vermisse ich in Ihrem Antrag. Deshalb kann
man ihn nur ablehnen. Das ist eine allgemeine Aufforderung.
({5})
Wir brauchen konkrete Maßnahmen, damit wir gegen
diese Gestaltungen vorgehen können, und sollten nicht
nur auf die OECD schauen. Wir vom Finanzausschuss
waren gerade in England und haben uns dort genau mit
diesem Thema beschäftigt. Ich war ein wenig enttäuscht,
als uns Finanzminister Osborne sagte: Na ja, wir
schauen auf die OECD.
In diesem Fall müssen wir sehr viel konkreter werden
und - neben all den internationalen Verpflichtungen, die
richtig genannt wurden - wissen, wo Substrat ins Ausland verschoben wird. Dann müssen wir tätig werden
und Maßnahmen ergreifen. Ein paar sind im SPD-Antrag benannt worden. Da könnten wir noch mehr machen; aber damit müssen wir anfangen. Wir dürfen nicht
warten, bis sich die G-20-Minister zusammengesetzt haben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem vorliegenden Antrag setzt die Bundesregierung
ihre Bemühungen auf der Ebene der G 20 und der
OECD fort, die Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage und Gewinnverschiebungen entschieden zu
bekämpfen. Ziel ist es, die künstliche Gewinnverlagerung international tätiger Unternehmen zu unterbinden,
die Ursachen für niedrige effektive Steuerbelastungen
dieser Unternehmen zu ermitteln, wirksame Maßnahmen
gegen Gewinnverlagerung auf dem internationalen Parkett umzusetzen und gegen den Nebeneffekt der Verlagerung, die Erzielung ungerechtfertigter Wettbewerbsvorteile, vorzugehen.
Das alles soll geschehen, damit auch multinationale
Auslandskonzerne einen fairen Anteil an nationalen
Steuern zahlen. Das sind wir dem Mittelstand, den deutschen Unternehmen als Steuerzahler der Nation schuldig.
({0})
Darum geht es - und nicht um Unternehmen, die Sie mit
einer falschen Zinsschranke beharken wollen.
Natürlich, meine Damen und Herren, haben wir heutzutage eine globale Wirtschaft. Die SPD verwechselt dabei immer die Ursachen und Wirkungen einer Zinsschranke. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, dass
das Globalisierungstempo der letzten Jahre in Deutschland zu gewaltigen Wettbewerbsverzerrungen und zu gewaltigen Wettbewerbsvorteilen für ausländische Großkonzerne geführt hat, die eine unwahrscheinlich niedrige
Konzernsteuerquote haben.
({1})
Darum geht es, meine Damen und Herren.
({2})
Die Bekämpfung der Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage und der Gewinnverschiebung funktioniert
natürlich, da es ja um ausländische Konzernunternehmen geht, nur international. Es geht um die Steuerquoten
ausländischer Konzerne, aber nicht um einen Generalverdacht gegenüber Unternehmen.
({3})
Wir müssen die Fakten betrachten. Es gibt Tabellen,
anhand derer man sie gut deutlich machen kann. Martin
Sullivan von Tax Analysts hat eine solche Tabelle angefertigt.
({4})
Da heißt es: hoher Gewinn, geringe Steuern. Es geht um
die hohen Gewinne ausgewählter US-Konzerne 2010 in
Milliarden Dollar und die geringe Steuerbelastung der
ausländischen Gewinne in Milliarden Dollar. Es ist ganz
eindeutig zu sehen: Apple machte im Jahr 2010 13 Milliarden Dollar Gewinn und zahlte 0,1 Milliarden Dollar
Steuern; das entspricht einer Steuerbelastung von 1 Prozent. Die Steuerbelastung von Google lag 2010 bei
3 Prozent und die von Cisco Systems bei 5 Prozent; das
geht so weiter und ließe sich fortsetzen. Es gibt in dieser
Tabelle kein amerikanisches Unternehmen, das eine
Steuerbelastung von über 19 Prozent hatte.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen kann, muss
man sich allerdings in die Details einarbeiten, statt globale Unternehmen pauschal an den Pranger zu stellen.
({5})
Hier sehen Sie, wie die Besteuerung von Lizenzgebühren auf Bermuda vonstattengeht:
({6})
Die Lizenzgebühren fließen von den USA in eine irische
Holding, dann von der irischen Holding in die Niederlande - alles ganz ohne Besteuerung -, und dann fließt
das Ganze zurück in die USA. Das ist verwerflich. Das
können wir nicht akzeptieren. Darum geht es, meine Damen und Herren. Das sind Fakten, die man zur Kenntnis
nehmen muss.
({7})
Es gibt die Globalisierung, und wir wollen sie natürlich auch akzeptieren. Die Globalisierung eröffnet Chancen, aber eben auch Schlupflöcher, in denen rechtmäßige
Steuereinnahmen auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
International operierende Konzerne führen fragwürdige
Steuergestaltungen durch und nutzen Steueroasen. Leider gibt es solche Steueroasen auch in der Europäischen
Union. Deswegen muss jetzt international gehandelt
werden. Wir wollen die Steueroasen in Zypern, Irland
und anderen Ländern austrocknen. Darum geht es, meine
Damen und Herren.
Steueroptimierungsstrategien, wie sie so schön heißen, haben zum Ziel, Gewinne möglichst in Steueroasen
anfallen zu lassen. Es darf aber nicht sein, dass sich Konzerne mithilfe von Lizenzgebühren und allen möglichen
anderen Konstruktionen Vorteile verschaffen. Deswegen, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns eine ganz
klare und vernünftige Abgrenzung vornehmen! Dass Sie
deutsche Unternehmen unter einen Generalverdacht stellen, ist völlig falsch.
({8})
Hierzulande haben wir ganz andere Konzernsteuerquoten als in den Fällen, die wir vor Augen haben. Es geht
allein darum, dass wir den Missbrauch jetzt auf internationaler Ebene bekämpfen. Deutschland hat in vielen
Bereichen der Finanzmarktregulierung eine Vorreiterrolle übernommen. Wir werden auch bei der Austrocknung der Steueroasen eine Vorreiterrolle übernehmen.
Dabei lassen wir uns von niemandem überbieten, meine
Damen und Herren.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/12827 mit dem Titel „Unterstützung der Initiative der G 20 und der OECD zur Bekämpfung der Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage und der
Gewinnverschiebung internationaler Konzerne“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch
die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Linke
hat sich enthalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12819 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten erhalten Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren
- Drucksache 17/12818 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Damit sind alle einverstanden. Dann verfahren wir so.
Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Josip Juratovic.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In meinem Wahlkreis bin ich regelmäßig in
Betrieben unterwegs. Ich schaue mir nicht nur die schönen innovativen Unternehmen an, sondern auch die Bedingungen, unter denen die Menschen in unserem Land
arbeiten. Überall stößt man auf Klagen der Beschäftigten, dass der Leistungsdruck enorm zugenommen hat.
An vielen Arbeitsplätzen in unserem Land hat sich der
Stress in den letzten Jahren deutlich erhöht.
Besonders in der Pflege wird das sichtbar. Meine Frau
ist als Krankenschwester tätig. Sie steht permanent unter
Zeitdruck. Oft kann sie nicht die Zeit für die Patienten
aufbringen, die diese tatsächlich brauchen, sondern muss
ihre Arbeit hastig erledigen. Durch Leistungsvorgaben
und Dokumentationspflichten, die immer mehr Arbeitszeit verschlingen, steht sie oft unter enormem Druck.
Die in der Pflege tätigen Menschen empfinden persönlich die Verantwortung, jedem einzelnen Menschen
gerecht zu werden. Gleichzeitig müssen sie die Leistungsvorgaben erfüllen. Viele Menschen geraten in
Stress und Verzweiflung, weil im Zweifel die Menschlichkeit, die ihnen selbst so wichtig wäre, wegen der industrieähnlichen und betriebswirtschaftlichen Arbeitsabläufe verloren geht. Das ist kein Einzelfall in der
Kranken- und Altenpflege, einem Bereich, in dem wir
das Menschliche der Arbeit nicht aufgeben dürfen.
Kolleginnen und Kollegen, am Beispiel einer Krankenschwester wird besonders deutlich, dass Stress in der
Arbeitswelt allen schadet: Er schadet der Krankenschwester, weil sie durch psychische Belastungen und
Stress selbst krank wird. Er schadet dem Arbeitgeber,
weil er die Ausfallzeiten seiner Arbeitnehmer zu verkraften hat. Er schadet den Krankenkassen, weil sie bei
Krankheiten, die durch psychische Belastungen entstehen, die Kosten tragen müssen. Er schadet der Qualität
der Arbeit; denn mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz kann keine Krankenschwester wirklich gute
Arbeit leisten. Das schadet natürlich auch dem Patienten.
Das Gesundheitswesen leidet, weil niemand mehr die
psychisch und physisch harte Arbeit in der Pflege machen will - so viel zum Thema Fachkräftemangel. Der
Stress schadet der gesamten Gesellschaft; denn Familien
und Freunde müssen zurückstecken, wenn jemand unter
psychischen Belastungen am Arbeitsplatz leidet.
Kolleginnen und Kollegen, diese Analysen sind bekannt. Es ist offensichtlich, dass wir mehr und besseren
Arbeits- und Gesundheitsschutz brauchen, insbesondere
um psychische Belastungen in der Arbeitswelt zu reduzieren.
Leider haben wir auch im Bereich des Arbeitsschutzes eine Bundesregierung des Zögerns und Zauderns.
({0})
- Ja. - Arbeitsministerin von der Leyen tut in der Öffentlichkeit wieder einmal betroffen und organisiert eine
Konferenz. Aber es gibt kein Ergebnis dieser Konferenz.
Das ist typisch für diese Bundesregierung: Dauernd werden Gipfeltreffen abgehalten und die Ergebnisse werden
zwar medial vermarktet, aber politisch nie umgesetzt.
({1})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Gipfel und Konferenzen helfen keinem Betroffenen. Die
Betroffenen brauchen konkrete politische Handlungen
und keine warmen Worte.
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Sie
haben nun durchgesetzt, dass die Anhörung zu den bisher vorliegenden Oppositionsanträgen zu psychischen
Belastungen in der Arbeitswelt verschoben wird. Vielleicht passiert in der Bundesregierung also doch noch etwas.
Wenn hier noch eine Initiative kommt, dann aber nur
auf massiven Druck aus der Gesellschaft, von den Gewerkschaften sowie von den Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unter psychischen Belastungen leiden. So agiert keine Bundesregierung, die eine
Vision von einem fairen Arbeitsmarkt hat; vielmehr haben wir eine getriebene Bundesregierung ohne eigene
Ideen.
Wir als SPD haben mit unserem Antrag einen klaren
Fahrplan zur Modernisierung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes mit einem Fokus auf die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt.
({2})
Wir brauchen dringend eine Anti-Stress-Verordnung,
in der für Arbeitnehmer und Arbeitgeber klar definiert
ist, wie der Arbeitsschutz im Bereich „Psychische Belastungen“ auszusehen hat.
Wir haben im Arbeitsschutz alle möglichen Verordnungen, beispielsweise auch eine Biostoffverordnung.
Im Bereich „Psyche“ besteht aber eine Regelungslücke,
die wir dringend schließen müssen.
({3})
Die Gefährdungsbeurteilungen, in denen der Arbeitsplatz auf Gefahren hin analysiert wird, müssen deutlich
häufiger als bisher durchgeführt werden. Derzeit führen
trotz gesetzlicher Vorschriften nur 51 Prozent der Betriebe Gefährdungsbeurteilungen durch, und in vielen
Beurteilungen werden psychische Belastungen nicht berücksichtigt. Das muss besser werden.
Betriebliche Akteure müssen bezogen auf den Bereich „Psychische Belastungen“ besser informiert und
qualifiziert werden. Zudem müssen beispielsweise Vereinbarungen zum Abschalten von Firmenhandys getroffen werden, damit die arbeitenden Menschen auch tatsächlich einen Feierabend bekommen.
Wir müssen die Umsetzung des betrieblichen Eingliederungsmanagements verbessern. Wenn einst kranke
Arbeitnehmer in den Betrieb zurückkehren, muss der
Arbeitsplatz so gestaltet worden sein, dass der Arbeitnehmer nicht erneut arbeitsunfähig wird. Für den Fall,
dass das Unternehmen das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht umsetzt, brauchen wir auch eine
Sanktion. Wir schlagen vor, dass der Arbeitgeber die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall dann länger leisten
muss.
Wir fordern, dass die Zusammenarbeit zwischen
Krankenkassen und Arbeitgebern besser werden muss,
um mehr Konzepte für den betrieblichen Gesundheitsschutz zu erarbeiten.
Wir alle wissen, dass es ohne Kontrolle nicht geht.
Deswegen fordern wir umfassendere Kontrollen durch
die Arbeitsschutzbehörden. Fehlender Arbeitsschutz
muss angemessen sanktioniert werden. Die Kürzungen
beim Aufsichtspersonal müssen rückgängig gemacht
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen mit unserem SPD-Antrag detaillierte Forderungen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz vor; denn Arbeitsschutz ist
für die gesamte Gesellschaft wichtig. Leider räumt die
Bundesregierung diesem Thema keinerlei Priorität ein.
Wir müssen den Arbeits- und Gesundheitsschutz aber
dringend modernisieren, damit wieder gilt: Arbeit darf
nicht krank machen.
({4})
Leider hat die Bundesregierung jedoch nur warme
Worte, aber keinen Willen zu gesetzlichen Aktivitäten.
Ich verspreche allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land, die unter psychischen Belastungen am Arbeitsplatz leiden: Wir Sozialdemokraten
werden dafür sorgen, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz aus seinem schwarz-gelben Dornröschenschlaf
geholt wird - spätestens im Herbst nach der Bundestagswahl.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Juratovic, wir teilen natürlich Ihre Sorge und
haben die sich verändernde Arbeitswelt im Blick. Auch
wir beobachten eine zunehmende Verdichtung von Arbeit,
eine Erhöhung von Effizienzanforderungen und eine
neue Präsenzkultur am Arbeitsplatz, Tendenzen einer
allzeitigen Erreichbarkeit. Hier ist es natürlich richtig:
Das Handy ist zwar manchmal ein schönes Spielzeug,
aber manchmal kann es auch ein ganz schöner Fluch
sein.
Wir sehen mit großer Sorge, dass die Zahl psychisch
bedingter Fälle von Arbeitsunfähigkeit zunimmt. Psychische Erkrankungen und Erschöpfungszustände haben
in erster Linie verheerende Folgen für die Betroffenen
selbst, aber auch für die Gesellschaft. Insofern anerkenne ich wirklich, dass wir hier einen Handlungsbedarf
haben.
Sie haben nun den Antrag vorgelegt. Sie haben ihn
am Dienstag in einer Pressekonferenz angekündigt. Am
Mittwoch ließen Sie uns den Antrag zukommen, der
heute debattiert wird. Sie haben natürlich recht: Wenn
Termindruck einer der Belastungsfaktoren ist, dann
sollte man ihn vermeiden, zumal dann, wenn es dabei
um einen so substanziellen Antrag wie den Ihrigen geht.
In der Analyse steckt, Herr Kollege Juratovic, sehr viel
Richtiges und Tiefgründiges. Ich hätte nur gerne mehr
Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
({0})
Sie hatten nach den Anträgen der Linken und der
Grünen im vergangenen Jahr Monate Zeit, den Antrag
zu formulieren, und geben uns nicht einmal einen Tag,
um darüber nachzudenken. Unter dem Gesichtspunkt
des vermeidbaren Stresses ist das etwas unfair. Deswegen will ich auch nur einige erste Hinweise geben.
({1})
Wir haben in einigen Punkten indes - das scheint jetzt
schon klar zu sein - unterschiedliche Auffassungen. Die
SPD schlägt, ähnlich wie die Grünen und Linke das bereits getan haben, den Erlass einer Anti-Stress-Verordnung vor.
({2})
Die ausgeübten Tätigkeiten müssten dann gar der Gesundheit zuträglich sein. Das wirft natürlich die Frage
auf, welche Tätigkeiten der Gesundheit überhaupt zuträglich sind und warum.
Ich kann mir beispielsweise kaum vorstellen, dass es
der Gesundheit der Mitarbeiter der SPD zuträglich ist,
laufend Forderungen zu formulieren, die ohnehin nicht
durchgesetzt werden, oder, noch schlimmer, im Bewusstsein zu arbeiten, dass man vermutlich auch nach
dem 22. September für weitere vier Jahre nicht den Beweis des Gegenteils antreten kann.
({3})
Aber was folgt daraus? Für mich jedenfalls nur die Fragwürdigkeit einer Formulierung, alle Tätigkeiten müssten
der Gesundheit zuträglich sein.
Der Schutz der seelischen Gesundheit im Betrieb
steht und fällt mit einer mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur. Diese basiert insbesondere auf Teilhabe
und Mitgestaltung der Beschäftigten, auf partnerschaftlicher Kommunikation und einem sorgfältigen Umgang
arbeitsplatzbezogener Anforderungen mit individuellen
Fähigkeiten.
Diese Zusammenhänge lassen sich nur schwer im
Wege rechtlicher Vorgaben festlegen. Insbesondere Anforderungen, die auf eine Verbesserung des sozialen
Umgangs gerichtet sind, sind schwer regelbar. Antistress
per Gesetz würde in diesem Bereich also mit großer Sicherheit ins Leere laufen. Das können wir vielleicht ganz
praktisch einmal prüfen, wenn wir unser eigenes Verhalten als Arbeitgeber beobachten. Was nützen die besten
Gesetze, wenn sie nicht in den Köpfen der Führungskräfte angekommen sind? Führen durch Vorbild wäre
hier sinnvoller.
Ich bin auch sehr dafür, die Führungskräfte zu qualifizieren, zu informieren. Ich halte es aber für wenig sinnvoll, wenn sich - diese Tendenz ist in Ihrem Antrag
durchaus enthalten - Arbeit und Führung nur noch als
therapeutische Gesamtveranstaltung verstehen.
Ich meine auch, dass einige grundsätzliche Unterschiede zwischen uns und der SPD deutlich werden. Im
Antrag wird gefordert, die Bundesregierung solle für die
Anwendung des betrieblichen Eingliederungsmanagements Sorge tragen. Sie wollen den Staat als regelnde Instanz in allen Lebenslagen und Bereichen. Wir setzen
auf subsidiäre Lösungen zwischen den Beteiligten vor
Ort, also in dem Fall den Beschäftigten, den Interessenvertretungen und den Betriebsärzten.
({4})
Nachdenkenswert ist meines Erachtens Ihr Vorschlag,
dass Arbeitgeber und Krankenkassen gemeinsame Konzepte zur betrieblichen Gesundheitsförderung erarbeiten
sollen. Das könnte ich mir zwischen den Interessenvertretungen und den Krankenkassen vor Ort noch ein wenig gewinnbringender vorstellen. Dennoch halte ich es
für lobenswert, dass Sie an dieser Stelle unsere Überzeugungen teilen, vor Ort anzusetzen. Auch für überlegenswert halte ich Ihren Vorschlag - Sie haben es eben wiederholt, Herr Kollege Juratovic -, psychische Belastungen in
einer Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutzgesetz
mit zu erfassen. Da sind wir ganz nah beieinander.
Die christlich-liberale Koalition plant, zu diesem
Thema zeitnah einen eigenen Antrag in den Bundestag
einzubringen. Nachdem der Antrag der SPD substanzieller und besser war als der Antrag der Linken und der
Grünen aus dem letzten Jahr, dürfen Sie von uns erwarDr. Matthias Zimmer
ten, dass wir es noch einen Tick besser machen als Sie.
Auf diese Debatte freue ich mich.
Vielen Dank.
({5})
Für die Linke hat jetzt Jutta Krellmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Tolle
an diesem Thema ist, dass es ziemlich viel Übereinstimmung gibt. Der Anstieg der Zahl der arbeitsbedingten
Erkrankungen wegen psychischer Belastungen ist besorgniserregend. Es ist höchste Zeit, dass hier etwas passiert. Die Forderungen der SPD sind in vielen Punkten
mit unseren deckungsgleich - das ist aus meiner Sicht
eine gute Voraussetzung für eine Lösung des Problems -:
die Anti-Stress-Verordnung, die stärkere Kontrolle der
Einhaltung von Arbeitsschutzgesetzen, die größere Rolle
von Betriebs- und Personalräten bei der Arbeitsplatzgestaltung und der Wiedereingliederung. Der große Unterschied ist: Sie behandeln in Ihrem Antrag die Symptome
und nicht die Ursachen. Sie schreiben in Ihrem Antrag,
dass die Zunahme der Zahl der Stresskrankheiten durch
den „Wandel in der Arbeitswelt“ verursacht wurde. Das
ist richtig. Aber woher kommt dieser Wandel der Arbeitswelt? Das alles ist doch keine Naturkatastrophe. Die
Entwicklung wurde durch politische Entscheidungen der
letzten Jahre bewusst herbeigeführt. Deswegen geht es
heute auch um die Deregulierung und Liberalisierung
des Arbeitsmarktes. Das sind die Ursachen. Darüber
müssen wir sprechen. Sonst springen Sie mit Ihren Vorschlägen zu kurz.
({0})
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Erstens. Sie stellen fest: Befristet Beschäftigte stehen unter
erhöhtem Leistungsdruck. - Das sehen wir ganz genauso. Deswegen wollen wir Befristungen ohne Sachgrund verbieten und haben das auch in unseren Antrag
geschrieben. Eine ganzheitliche Betrachtung ist angesagt. Die sachgrundlose Befristung muss weg. Dann
können psychische Erkrankungen aus diesem Grund erst
gar nicht entstehen. Die Ursachen müssen beseitigt werden.
Zweites Beispiel, Leiharbeit. Den Leiharbeitnehmern
wird gesagt: Strengen Sie sich an! Dann haben Sie eine
Chance auf Übernahme. - Blödsinn, sage ich. Die Übernahme in reguläre Beschäftigungsverhältnisse klappt
lediglich bei 7 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und
-arbeitnehmer. Die Situation - dauernde Unsicherheit,
das ständige Gefühl ungerechter Behandlung und hoher
Leistungsdruck - macht Menschen krank. Die Konsequenz kann nur sein: Verbot der Leiharbeit.
({1})
Atypische und unregelmäßige Arbeitszeiten erzeugen
Stress. Auch das ist eine richtige Feststellung. Ihr Antrag
enthält aber leider keine Regelung, aus der hervorgeht,
wie im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes eine Möglichkeit zur Vermeidung von Stress geschaffen werden
kann. Die Betriebs- und Personalräte werden an dieser
Stelle im Grunde alleine gelassen.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, gehen
die Frage der Deregulierung des Arbeitsmarktes nicht
grundsätzlich an, im Gegenteil. Noch letzte Woche haben Sie die Agenda 2010 gefeiert; sie ist überhaupt kein
Grund zum Feiern. Deswegen bleiben Ihre Forderungen
auf halbem Wege stecken und werden unglaubwürdig,
obwohl sie im Einzelnen richtig sind. Wir werden Ihre
Forderungen unterstützen. Aber Sie müssen sich entscheiden, ob Sie den Weg der Agendapolitik fortsetzen
oder konsequent für die Gesundheit der Beschäftigten
sorgen und eintreten.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da wir heute über das Thema psychische Gesundheit am
Arbeitsplatz sprechen, muss man zuerst und ohne jegliche Wertung feststellen, dass in den letzten Jahren die
Zahl der diagnostizierten psychischen Erkrankungen und
dementsprechend auch die Fehlzeiten der Arbeitnehmer
aufgrund dieser Erkrankungen deutlich gestiegen sind.
Mittlerweile gehen 13 Prozent aller Tage, an denen Arbeitnehmer krankgeschrieben sind, auf psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zurück. Vor zehn Jahren waren das gerade einmal
6,6 Prozent. Mit knapp 40 Prozent aller Erwerbsminderungsrentenfälle sind psychische Krankheiten inzwischen Hauptgrund für einen vorzeitigen Rentenbezug.
Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Erschöpfungszustände wie das Burn-out-Syndrom haben
schwerwiegende Folgen für die Betroffenen, aber auch
für die Unternehmen sowie für die Gesamtwirtschaft und
das Sozialversicherungssystem. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes entstehen der deutschen Wirtschaft allein durch psychische Erkrankungen Kosten von
jährlich knapp 29 Milliarden Euro.
Früher war unser größtes Problem, dass Menschen an
ihrem Arbeitsplatz starken physischen Belastungen ausgesetzt waren. Ich selbst stamme aus einer Unternehmerfamilie und habe als Kind im Betrieb beobachten können, wie hart gearbeitet wurde. Seitdem hat sich viel
geändert. Arbeitsabläufe in den Betrieben wurden angepasst, viele der Aufgaben, die früher stark physisch belastend waren, werden heute mithilfe, von oder durch
Maschinen erledigt. Damit rücken natürlich - das ist
klar - auch in der Statistik die psychischen Erkrankungen umso deutlicher in den Vordergrund.
Ich finde es wichtig, dass wir eine Enttabuisierung haben. Die TU München hat festgestellt, dass nur 16 Prozent der Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber überhaupt mitteilen, dass sie Probleme haben. Das ist das gute Recht
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das können
und wollen wir nicht ändern. Aber es muss klar sein,
dass dieser Anstieg auch ein Stück weit den geänderten
Diagnoseverfahren bei psychischen Erkrankungen geschuldet ist. Diese Krankheiten können heute besser erkannt werden, als es früher der Fall war.
Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen - das spielt eine
Rolle bei der Schuldzuweisung -, dass die Hälfte aller
psychischen Störungen sich schon vor dem 15. Lebensjahr, also völlig unabhängig von einer Berufstätigkeit,
entwickelt hat. Ärzte weisen immer wieder darauf hin,
dass psychische Probleme in den ganz überwiegenden
Fällen dann entstehen, wenn auch im privaten Bereich
Schwierigkeiten vorhanden sind. Wenn das private Umfeld nicht als Stütze, als Ressource, wie es im „Stressreport Deutschland 2012“ heißt, vorhanden ist, sondern
wenn das private Umfeld selbst noch belastet, dann wiegen eben auch die Belastungen am Arbeitsplatz umso
schwerer. Wenn diese Belastungen dauerhaft und übermäßig auftreten, dann wird es schwierig; denn - auch
das kann man aus dem „Stressreport Deutschland 2012“
herauslesen - wenn die Arbeitnehmer keine Erholungsmöglichkeiten haben, treten die Probleme konkret und
verschärft auf.
Ich will darauf hinweisen, dass wir als Politiker eine
ganze Menge tun können und auch schon getan haben,
wir also nicht so untätig sind, wie es die Opposition in
ihren Anträgen gerne glauben machen will. Es muss
nicht alles in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung
kommen. Ich will beispielhaft Folgendes nennen: Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat die „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ ins Leben gerufen, die
Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Unternehmer, der Sozialversicherung, des Bundes und der
Länder an einen Tisch bringt, um die Arbeitsqualität der
Beschäftigten zu erhöhen.
({0})
Das Qualifizierungsprogramm „work-life-competence“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend richtet sich vor allem an kleine und
mittlere Unternehmen. Die Koordinationsplattform „Nationale Arbeitsschutzkonferenz“, die an einer gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie arbeitet, und die
gesetzliche Krankenversicherung sind wichtige Stützen
für Unternehmen, um eine umfassende und passgenaue,
am neuesten Stand der Wissenschaft orientierte betriebliche Gesundheitsförderung zu etablieren. Mit der Kampagne „Unternehmen unternehmen Gesundheit“ hat das
Bundesministerium für Gesundheit eine Vielzahl von
Beispielen guter Praxis der betrieblichen Gesundheitsförderung veröffentlicht und motiviert so Arbeitgeber
und Arbeitnehmer dazu, gemeinsam gesundheitsfördernde Angebote zu entwickeln.
Mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ist zudem eine kompetente Ressortforschungseinrichtung im Geschäftsbereich des BMAS geschaffen
worden. Um das öffentliche Bewusstsein und die Sensibilität für das Thema psychische Gesundheit zu stärken,
fördert das BMG zudem das „Aktionsbündnis Seelische
Gesundheit“, das mit seinen über 70 Mitgliedsorganisationen bundesweite und regionale Initiativen zur Aufklärung und zur Förderung der seelischen Gesundheit am
Arbeitsplatz durchgeführt hat. Das stärkt eine sachliche
Diskussion und trägt zu einem präventiven gesellschaftlichen Klima bei, welches insbesondere auch für eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur von großer
Bedeutung ist.
Ich könnte hier noch fortfahren mit der Aufzählung.
Allein, meine Redezeit reicht nicht aus.
Ich glaube, es ist erforderlich, dass wir unsere Öffentlichkeitsarbeit ausweiten auch mit dem Ziel, das Bewusstsein bei den Unternehmen und Unternehmern
selbst zu schärfen. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen ohne große Strukturen ist die Aufmerksamkeit und Sensibilität der Chefs in diesem Bereich wichtigste Voraussetzung. Gerade für kleine und mittlere
Unternehmen in Deutschland brauchen wir Angebote,
die einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen und
geringen Umsetzungsaufwand erfordern, und keine Strategie, die den Unternehmen aufgrund bürokratischer
Vorschriften primär mehr Arbeit macht, aber keinem
einzigen Arbeitnehmer nützt.
Herr Kollege!
Hier vorne blinkt es schon ganz heftig. Ich bitte um
Nachsicht, dass ich so abrupt abbrechen muss, und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Kollegin Beate Müller-Gemmeke hat jetzt das Wort
für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass nun auch die SPD einen Antrag zu psychischen Gefährdungen am Arbeitsplatz vorgelegt hat. Drei
Anträge für die anstehende Anhörung - das ist ein sehr
klares Signal von der Opposition an die Bundesregierung. Wir hoffen, dass dieses Signal auch ankommt.
Denn noch hat die Bundesregierung ja Zeit, aktiv zu
werden.
({0})
Stress gehört zum Arbeitsalltag; das hat der Stressreport 2012 nochmals bestätigt. Bei 43 Prozent der Befragten hat der Arbeitsstress in den letzten zwei Jahren
zugenommen; 52 Prozent arbeiten unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Ein Viertel der Beschäftigten
lässt die Pausen ausfallen, weil sie nicht in den Arbeitsablauf passen oder sonst das Arbeitspensum nicht zu
schaffen ist. Es wundert also nicht, dass die Fehltage
aufgrund psychischer Belastungen in den letzten 15 Jahren laut DAK-Gesundheit um 165 Prozent angestiegen
sind. Stress am Arbeitsplatz macht krank. Diese Tatsache brauchen wir hier nicht mehr zu diskutieren. Handeln ist angesagt.
({1})
Und was kommt von der Bundesregierung? Als der
Stressreport vorgestellt wurde, sagte Frau von der Leyen
- ich zitiere -:
Stress bei der Arbeit kann vorkommen, aber nicht
dauerhaft. Und er darf auch nicht krank machen. …
Ich will dem chronischen Stress den Kampf ansagen und erwarte, dass die Betriebe mitziehen.
Im Gespräch war ja damals eine Anti-Stress-Verordnung. Doch die Arbeitgeber sind dagegen, und daran ist
auch eine gemeinsame Erklärung gescheitert. Kaum
hatte der Kampf von Frau von der Leyen begonnen, war
er auch schon wieder zu Ende. Das war wieder einmal
die folgenlose Ankündigungspolitik der Ministerin.
({2})
Aus dem Kampf wird jetzt eine gesetzliche Miniregelung. Im Arbeitsschutzgesetz soll die Regelung in § 5
durch die Worte „psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ ergänzt werden. Das ist weder eine Kampfansage
an die Arbeitgeber, noch hilft es gegen den Stress am Arbeitsplatz. Damit wird Handeln vorgetäuscht. Das ist
eine Placebomaßnahme. Und das wird dem Thema und
den Beschäftigten nicht gerecht.
({3})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, bei diesem
Thema geht es um die Gesundheit und die Lebensqualität der Beschäftigten. Die Menschen leiden darunter,
wenn sie der Arbeitsverdichtung nicht mehr gewachsen
sind. Psychische Erkrankungen isolieren die Menschen
und belasten zugleich die ganze Familie. Aber es geht
auch um die Betriebe. Sie müssen den demografischen
Wandel und den drohenden Fachkräftemangel bewältigen. Das geht jedoch nur mit einer tragfähigen Arbeitskultur.
Und wenn wir über Stress reden, dann geht es auch
um das Thema Altersarmut, über das die Ministerin
gerne redet, aber bei dem sie nichts zustande bringt. Wer
Altersarmut verhindern will, der muss dafür sorgen, dass
die Beschäftigten auch gesund bis zur Rente arbeiten
können.
({4})
Deshalb fordern auch wir eine Anti-Stress-Verordnung. Die Arbeitgeber müssen sensibilisiert werden. Sie
müssen wissen, wann und wie Stress am Arbeitsplatz
entsteht, und vor allem, wie er vermieden werden kann.
Eine Anti-Stress-Verordnung wäre ein konkretes Werkzeug, das wir den Betrieben an die Hand geben wollen.
Die Ergänzung im Arbeitsschutzgesetz reicht, wie gesagt, einfach nicht aus. Damit verfährt die Ministerin
wieder einmal nach dem Grundsatz: Augen zu und
durch. Das wird der Lebensrealität der Menschen nicht
gerecht. In einer älter werdenden Gesellschaft müssen
die Menschen mit ihren Fähigkeiten, aber auch mit ihren
Belastungsgrenzen im Mittelpunkt stehen. Wir brauchen
eine alters- und alternsgerechte Arbeitswelt.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Beate Müller-Gemmeke. Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU:
Kollege Ulrich Lange. Bitte schön, Kollege Ulrich
Lange.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Lieber Kollege Schaaf, es kommen wahrscheinlich
noch zwei, drei richtige Sätze. - Wir sind uns einig über
die grundsätzlichen Erkenntnisse, dass die psychischen
Erkrankungen in den letzten Jahren stark zugenommen
haben, dass wir insbesondere im Bereich der Erwerbsminderungsrente, wie der Kollege Kolb schon ausgeführt hat, eine eklatante Zunahme an Fällen von psychischen Erkrankungen haben, die dann als Hauptgrund zur
Verrentung führen. Insoweit sind wir uns bei der Analyse der nackten Zahlen sicherlich einig.
Was die Analyse der Ursachen angeht, so haben wir
in gewissen Punkten eine Übereinstimmung. Ja, es ist
gut, dass das Krankheitsbild enttabuisiert ist. Die berühmtesten Fälle haben wir im letzten Jahr insbesondere
im Leistungssport gesehen. Ja, es ist gut und richtig, dass
sich die Menschen inzwischen trauen und keine Scham
mehr haben, darüber offen zu reden, sodass wir bestimmte psychische Belastungen besser als Krankheit erkennen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich noch eins anfügen: Die Ursachenkette ist sicher
deutlich multikausal. Die Ursachen liegen auch in unseren Familien. Eine Ursache ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eine weitere Ursache ist - das möchte
ich ebenfalls sagen - unser persönliches Lebens- und
Freizeitumfeld. Da sollten wir schon auch uns ganz offen einmal selber fragen. Darüber hinaus ist eine Ursache natürlich die wachsende Belastung am Arbeitsplatz selber: der schon mehrfach genannte Termindruck,
der Leistungsdruck, die monotonen Tätigkeiten. Wenn
ich so in unsere Reihen schaue, dann sehe ich auch: Eine
andere Ursache ist das berühmte Multitasking. Jeder von
uns ist dauerhaft und ständig erreichbar. Wir brauchen
uns nicht zu wundern, dass wir mit diesem Vorbild nicht
immer positiv wirken.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - auch hier hat
der Kollege Kolb schon einiges angeführt -, wir arbeiten
an der Verbesserung der Situation. Lieber Kollege
Juratovic, man kann nicht einfach die Schuld für dieses
Phänomen jetzt der Bundesregierung und einer angeblich nicht handelnden Ministerin zuschieben.
({1})
Das kann man wirklich unter der Rubrik „Wahlkampf“
abhaken. Auch dieses reflexartige Schreien nach neuen
Gesetzen und Verordnungen ist nicht das, was mich
überzeugt. Was wir vielmehr brauchen, ist ein gutes soziales Miteinander in den Betrieben.
({2})
Da will ich schon eine Lanze für die Unternehmerinnen und Unternehmer und für die Betriebsräte brechen.
In vielen Betrieben gibt es viele gute Ansätze, und die
sollten wir auch honorieren und akzeptieren.
({3})
Unsere Bundesregierung hat inzwischen viele Initiativen
und zahlreiche Maßnahmen begonnen. Wir sind in der
Umsetzung.
Ich habe vorhin als eine Ursache das familiäre Umfeld genannt. Der Ausbau von Kindertagesstätten ist in
den letzten Jahren massiv vorangekommen. Wir haben
zahlreiche schon vorhandene gesetzliche Regelungen,
die die Gesundheit am Arbeitsplatz gewährleisten, etwa
das Arbeitsschutzgesetz, über das schon gesprochen
wurde, aber auch solche Dinge wie die Arbeitsstättenverordnung oder die Bildschirmarbeitsverordnung. Das
alles sind viele kleine Bausteine, die dazu beitragen, dass
die Arbeitswelt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Hinblick auf ihre Gesundheit ein Stück weit
besser geworden ist. Dort, wo das Ganze nicht funktioniert und gegen gesetzliche Regelungen verstoßen wird,
vertraue ich weiterhin - das habe ich in vielen Reden
schon gesagt - auf unsere Arbeitsgerichte und auf die
Justiz.
Wir haben die vom Kollegen Kolb angesprochene Initiative „Neue Qualität der Arbeit“. Damit haben wir,
glaube ich, gute Zeichen gesetzt. Wir haben die Qualifizierungsprogramme. Wir haben die Koordinationsplattform „Nationale Arbeitsschutzkonferenz“ - auch sie
wurde schon angesprochen - und die Kampagne „Unternehmen unternehmen Gesundheit“. Es gibt viele gute
Beispiele, viele richtige Ansätze, die wir in den letzten
Jahren auf den Weg gebracht oder verwirklicht haben,
zahlreiche Netzwerke, etwa das Deutsche Netzwerk für
Betriebliche Gesundheitsförderung, die Bundesanstalt für
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und den Ausschuss
für Arbeitsmedizin. Überall dort wird fachübergreifend
am Thema „Arbeitsschutz und Gesundheit am Arbeitsplatz“ und damit auch stressvorbeugend gearbeitet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen
- da waren wir in der Debatte heute, glaube ich, schon
auf dem richtigen Weg -, ist eine sachliche Diskussion
in Richtung auf ein gesellschaftliches Klima für eine
präventive, gesundheitsförderliche Unternehmenskultur.
Sie ist von großer Bedeutung. Daran wollen wir gemeinsam weiter arbeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Ulrich Lange.
Unser Kollege Ulrich Lange war auch der letzte Red-
ner in unserer Aussprache, die ich damit schließe.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12818 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Da niemand widerspricht, haben wir die
Überweisung in die Ausschüsse gemeinsam so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Schlichtung im Luftverkehr
- Drucksache 17/11210 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12876 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder ({1})-
Marco Buschmann-
Jens Petermann-
Ingrid Hönlinger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, Heinz Paula, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schlichtung für Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifend einführen
- Drucksachen 17/7337, 17/9228 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder ({3})-
Marco Buschmann-
Jens Petermann-
Ingrid Hönlinger
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Vizepräsident Eduard Oswald
Herbert Behrens, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fluggastrechte stärken
- Drucksachen 17/2021, 17/4125 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder ({5})Marco BuschmannHalina WawzyniakIngrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Alle sind
damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat in unserer
Aussprache das Wort unsere Kollegin Frau Judith
Skudelny für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Frau
Kollegin.
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wenn wir es gewusst hätten: Anfang der Woche
hat es angefangen zu schneien, heute haben die Gewerkschaften angefangen, eine Fluglinie zu bestreiken - es
gibt wieder viele Hundert Verbraucherinnen und Verbraucher, die teils frustriert, teils genervt, auf jeden Fall
nicht amüsiert auf den Flughäfen stehen
({0})
und eines Transports, eines sehr verspäteten Transports
harren -, und gerade in dieser Zeit verabschieden wir in Klammern: endlich - das Gesetz zur Schlichtung im
Luftverkehr.
({1})
2009 wurde bereits die Fahrgastrichtlinie für Bahnund sonstige Reisende beschlossen, damals noch mit einer EU-Richtlinie im Rücken. Für die Verbraucherinnen
und Verbraucher in Deutschland geht diese Regierung,
geht diese Koalition jetzt voran. Es ist auf europäischer
Ebene gerade erst in der Diskussion, eine entsprechende
Richtlinie zu schaffen, und wir verabschieden schon das
Gesetz, das die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher extrem stärkt.
({2})
Bei Nichtbeförderung, beispielsweise wegen Überbuchung oder Annullierung, oder bei extremer Verspätung
kann jetzt nach 60 Tagen die Schlichtungsstelle angerufen werden, nach 60 Tagen deshalb, weil natürlich der
direkte Kontakt zwischen Fluggast und Fluglinie an erster Stelle steht. Wir denken, dass die beiden Vertragsparteien zuerst einmal versuchen müssen, miteinander
klarzukommen. Kommen sie nicht klar, kann der Verbraucher kostenlos die Schlichtungsstelle anrufen mit
dem Ziel, mithilfe der Schlichtungsstelle eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Damit wird der Rechtsweg nicht abgeschnitten. Wird
eine einvernehmliche Lösung nicht gefunden, können
die Gerichte noch immer angerufen werden. Aber der
Einstieg ist einfacher. Wenn früher eine einvernehmliche
Lösung auch nach drei, vier Monaten nicht gefunden
werden konnte, musste der Verbraucher am Ende zum
Gericht gehen und da erst einmal mit Geld in Vorleistung treten. Jetzt kann er sich kostenlos einfach an die
Schlichtungsstelle wenden. Das ist natürlich eine massive Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland.
({3})
Aus der Erfahrung mit anderen Schlichtungsstellen
wissen wir: 90 Prozent der Beschwerden, das heißt ein
sehr hoher Anteil, können in den Schlichtungsstellen
einvernehmlich reguliert werden. Was erreichen wir mit
der Schlichtungsstelle deswegen? Wir entlasten die Gerichte, wir sparen Bürokratiekosten ein, und wir machen
es für die Menschen einfacher, gleichberechtigt, auf Augenhöhe, mit den Verkehrsträgern einvernehmlich Vereinbarungen zu treffen. Über alle drei Punkte freuen wir
uns natürlich.
An dieser Stelle sei ein Dank auch der Ministerin gesagt, weil ich glaube, dass es nicht sehr einfach war, mit
den Fluggesellschaften - die Verhandlungen haben sich
zwei Jahre hingezogen ({4})
diese Vereinbarungen zu treffen.
({5})
Vielen Dank für diese Hartnäckigkeit.
Zurück zum Ausgangspunkt. Wir können und wollen
nicht verhindern, dass es schneit, wir wollen auch nicht
verhindern, dass die Gewerkschaften streiken, wir wollen diese Rechte beibehalten. Wir können aber die jetzige Situation dadurch verbessern, dass, wenn es schneit,
wenn gestreikt wird,
({6})
wenn Fehler passieren, man einfacher zu seinem Recht
kommt, einfacher mit den anderen eine Vereinbarung
treffen kann. Das ist eine Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die diese Koalition geschaffen hat, schneller, als es die EU wollte. Ich bin stolz darauf,
dass wir dieses Gesetz heute gemeinsam verabschieden
können.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Judith Skudelny. Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten: unsere Kollegin Frau Marianne Schieder. Bitte
schön, Frau Kollegin Marianne Schieder.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer kennt es nicht, das wunderschöne Lied von
Reinhard Mey?
Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos
sein.Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man,Blieben darunter verborgen und dannWürde, was uns groß und wichtig erscheint,Plötzlich nichtig und klein.
Aber so ist es nicht. Für so manchen Fluggast sind Ärger und Sorgen über den Wolken ganz und gar nicht vorbei, wenn der Flug zum Beispiel wieder einmal massive
Verspätung hat oder nicht klar ist, ob der Anschlussflug
noch erreicht werden kann, oder die Informationen der
Airline wieder einmal ganz unzureichend waren. Dann
kann man sich gleich auch Gedanken darüber machen,
wie schwer es sein wird und welchen Ärger es bereiten
wird, wenn man sich um die Durchsetzung der Entschädigung bemühen muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 2009
nach langen und intensiven Verhandlungen die Rechte
von Bahnkunden gestärkt. Wir haben dafür gesorgt, dass
Kundinnen und Kunden der Bahn auf klar geregelte
Fahrgastrechte bauen können und nicht mehr als Bittstellerinnen und Bittsteller auf das Entgegenkommen der
Bahn hoffen müssen. Wenn es Probleme gibt, leistet die
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr,
kurz söp genannt, eine hervorragende Arbeit.
Bereits seit Februar 2005 ist die EU-Fluggastrechteverordnung in Kraft. Auf dieser Grundlage sollen die
Fluggäste ihre Rechtsansprüche gegenüber den Fluggesellschaften geltend machen können. Eigentlich sollten
sie es können. Seit Jahren zeigt sich aber, dass das alles
ganz und gar nicht einfach ist und Verbraucherinnen und
Verbraucher, auf sich allein gestellt, oft nicht zum Ziel
kommen. Es gibt keine echte Möglichkeit der außergerichtlichen Streitbeilegung, also keine Schlichtungsstelle. Gerichte müssen tätig werden, um den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu ihrem Recht zu
verhelfen. Fast einmal im Monat entscheidet zum Beispiel der Europäische Gerichtshof über entsprechende
Klagen. In den meisten Fällen werden die Rechte der
Fluggäste gestärkt.
Die Europäische Kommission hat letzte Woche Vorschläge zur Änderung der Fluggastrechteverordnung
vorgelegt. Diese Vorschläge versuchen, wenigstens einen Teil dieser Urteile umzusetzen. Auf diese Vorschläge wird Frau Kollegin Gottschalck noch näher eingehen.
Die meisten Fluggäste aber wollen kein langes und
aufwendiges Gerichtsverfahren. Für sie ist es einfach
wichtig, dass Ansprüche, zum Beispiel auf Entschädigung, unbürokratisch und schnell durchgesetzt werden
können und dann, wenn es zu keiner Einigung kommt,
Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Verfügung stehen, die beraten und unterstützen. Dies kann und
soll über die Schlichtung geschehen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, über den
wir heute diskutieren, ist nicht im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher,
({0})
weil es wiederum zu keiner verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle kommt. Es wird den Fluggesellschaften wieder einmal ermöglicht, ein Extrawürstchen
zu braten. Das kann aber nicht richtig sein; denn die
meisten Verbraucherinnen und Verbraucher benutzen
oft, um an ihr Ziel zu kommen, mehrere Verkehrsmittel
und wollen nicht lange herumsuchen, wer nun wo und
für was zuständig ist. Deswegen brauchen wir eine
Schlichtungsstelle für alle Verkehrsunternehmen, also
auch für den Bereich des Luftverkehrs. Natürlich ist klar,
dass die Schlichtung ein ordentliches Beschwerdemanagement bei den Verkehrsunternehmen selber nicht
ersetzen kann. Aber sie ist eine sinnvolle Ergänzung,
dient der Entlastung der Gerichte und ist im Sinne der
Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wir haben in der Anhörung des Rechtsausschusses
sehr intensiv diskutiert.
Die Mehrzahl der Sachverständigen hat uns hinsichtlich unserer Forderung nach einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle recht gegeben. Ich muss
aber auch in aller Deutlichkeit sagen: Die Uneinsichtigkeit der Vertreter der Fluggesellschaften sucht ihresgleichen.
({1})
Die unübersichtliche Aufsplitterung der Zuständigkeiten - nach Verkehrsträgern und auch danach, ob behördlich oder privatrechtlich organisiert - ist nicht im
Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher und deswegen keine gute Lösung.
Dabei wäre das Ganze so einfach. Ich habe bereits die
söp erwähnt, eine Schlichtungsstelle, die verkehrsträgerübergreifend konzipiert ist und an der sich die Luftverkehrsunternehmen einfach nur beteiligen müssten.
Erfreulicherweise hat Ryanair sich inzwischen entschlossen, sich der söp anzuschließen. Das ist der richtige Weg.
({2})
- Ja, das ist aber nur eine Fluggesellschaft.
Ich hoffe, dass dieses Beispiel Schule macht und unsere Vorstellung von einer verkehrsträgerübergreifenden
Schlichtungsstelle doch noch umgesetzt wird. Das haben
im Übrigen die Verbraucherschutzminister der Länder
schon im Jahre 2010 gefordert und beschlossen.
Marianne Schieder ({3})
Das, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP, uns heute vorlegen, ist nicht verbraucherfreundlich.
({4})
Deswegen müssen wir es leider ablehnen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollegin Marianne Schieder. - Nächster
Redner für die Fraktion von CDU und CSU: Kollege
Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Marco
Wanderwitz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Einführung ist bereits erfolgt. Gegenwärtig sehen wir
wieder, wie es zu Flugausfällen, Annullierungen und
Verspätungen kommen kann. Ein weiterer klassischer
Fall, der sich häufig ereignet, sind Schäden am Gepäck.
({0})
2004 kam die EU-Fluggastverordnung. Wir haben
mittlerweile bei Bahn, Bus und Flugzeug ein Massengeschäft aufseiten der Anbieter - sei es die Deutsche Bahn,
seien es ihre privaten Wettbewerber, seien es die Fluggesellschaften: In vielen Bereichen gibt es relativ einfache,
ähnlich gelagerte Ansprüche, die man als Massengeschäft bezeichnen kann. Diese Ansprüche werden von
den Anbietern zumeist auch in einem außergerichtlichen
Verfahren relativ einfach abgehandelt.
Aber es gibt eben auch eine ganze Reihe von Ansprüchen, die nicht unter dieses Massengeschäft fallen, bei
denen es sich um atypische Fälle handelt oder bei denen
es einer gewissen Prüfung bedarf. Damit das nicht alles
gleich bei Gericht landet, ist eine Schlichtung auf jeden
Fall sehr sinnvoll. Bisher gab es sie noch nicht für Fluggesellschaften.
({1})
- Frau Schieder, Sie haben doch schon vier Minuten relativ laut geredet. Deshalb fände ich es gut, wenn Sie
jetzt einmal zuhören würden.
({2})
Frau Schieder, Sie sind ja selbst Juristin, und wir haben in diesem Hause schon mehrfach über das Thema
gesprochen. Ich kann es wirklich nicht verstehen, wie
Sie immer wieder die falsche Behauptung aufstellen
können, dass wir eine gesetzliche Lösung für eine einheitliche Schlichtungsstelle schaffen könnten, obwohl
Sie ganz genau wissen, dass eine Schlichtung Freiwilligkeit voraussetzt.
({3})
Das, was Sie den Leuten hier vorgaukeln - die Einrichtung einer einheitlichen Schlichtungsstelle -, können
auch Sie nicht liefern, weil unser Zivilrecht es schlicht
nicht zulässt: Man kann niemandem den Rechtsweg abschneiden.
({4})
Deswegen stelle ich mir die Frage, warum Sie hier immer wieder diesen Popanz aufbauen.
Im Übrigen habe ich die Anhörung als weniger intensiv erlebt. Es wurden nämlich ziemlich wenige Fragen
gestellt. Die Anhörung war sehr konsensual. Ich gebe
ganz offen zu: Ja, auch wir hätten uns diese einheitliche
Schlichtungsstelle gewünscht. Ich freue mich deshalb
sehr, dass wir von der söp, der bestehenden Schlichtungsstelle für den Bahn- und Busbereich, die erfreuliche Meldung erhalten haben, dass Ryanair sich ihr
anschließt. Auch der Vertreter des BDL, des Bundesverbandes der Deutschen Luftverkehrswirtschaft e. V., hat
in der Anhörung schon das gesagt, was heute auch wieder in der Pressemitteilung der söp steht, nämlich dass
man sich immer noch in intensiven Verhandlungen befindet. Insofern würden wir uns wünschen, dass es keine
besondere Schlichtungsstelle der privaten Luftfahrtunternehmen geben wird, weil die söp so gut arbeitet.
({5})
- Herr Behrens, ich habe es doch gerade erklärt. Haben
Sie wieder nicht zugehört? Wir können es nicht gesetzlich vorschreiben, weil wir uns hier im Zivilrecht bewegen.
({6})
- Ich glaube, die zuständige Bundesministerin wird sich
wirklich nicht vorwerfen lassen müssen, sich nicht intensiv in die Verhandlungen eingeschaltet zu haben. Die söp
selbst sagt, dass es nach wie vor gute Verhandlungen
sind; gerade heute ist in den Verhandlungen mit einem
Luftfahrtunternehmen ein Erfolg erzielt worden. Deswegen finde ich, dass man gewisse Dinge nicht immer wieder machen muss.
Ich meine, wir sollten unter anderem nicht immer
wieder in der Art und Weise, wie es hier getan wird, auf
die Fluggesellschaften eindreschen. Die Vielzahl der
Fälle wird ordentlich gelöst. Und wir müssen festhalten:
Es gibt auch eine ganze Menge von unberechtigt geltend
gemachten Ansprüchen.
({7})
- Es kann schon sein, dass ich weniger fliege als Sie.
({8})
Wir alle haben aber reichlich mit den Beschwerden der
Fluggäste zu tun. Wir alle haben auch reichlich mit dem
zu tun, was uns die Verbraucherschutzverbände dazu
sagen. Meine Wahrnehmung ist, dass das alles etwas weniger aufgeregt vorgetragen wird.
Ich will auf einige Punkte etwas intensiver eingehen.
An dieser Stelle will ich die Eckdaten benennen: Es soll
eine Bagatellgrenze von 10 Euro geben. Sprich: Ansprüche, die unterhalb von 10 Euro liegen, sind der Schlichtung entzogen. Das hat niemand kritisiert. Auch ich
finde es vernünftig, dass man eine solche niedrige Bagatellgrenze einzieht. Die Obergrenze für die Geltendmachung von Ansprüchen soll bei 5 000 Euro liegen. Auch
diese Grenze ist aus meiner Sicht sinnvoll, weil sie fast
alle Fälle abdeckt, in denen es nicht um Personenschäden geht. Wir haben eine ausdrückliche Öffnungsklausel
eingefügt, die es zulässt, dass es zu einer Öffnung für
Schadensfälle mit Ansprüchen über 5 000 Euro kommt,
wenn sich die Schlichtungsstelle in ihrer Verfahrensordnung darauf verständigt. Bei solchen relativ hohen
Streitwerten macht es aber vielleicht doch Sinn, die Gerichte zu befassen.
Wir haben im parlamentarischen Verfahren eine Veränderung vorgenommen. Frau Kollegin Schieder hat gerade schon den kürzlich vorgelegten Vorschlag für eine
Novelle der entsprechenden EU-Richtlinie angesprochen. Im Regierungsentwurf war eine Frist von 30 Tagen
vorgesehen, die wir den Fluggesellschaften geben wollten, um Themen im Rahmen des eigenen Beschwerdemanagements schon im Vorfeld abzuräumen. Da schlägt
die EU eine Zweimonatsfrist vor. Wir halten eine
Zweimonatsfrist für vernünftig. Deshalb haben wir sie
jetzt in unseren Gesetzentwurf eingearbeitet. Denn ich
halte es für ein tragendes Argument - es wurde häufig
vorgetragen -, dass bei Flügen, anders als bei Bahn und
Bus, sehr oft ein Auslandsbezug vorhanden ist, mit dem
einhergeht, dass es ein Stück weit länger dauert, weil
etwa hier und da die Notwendigkeit besteht, Übersetzungen anzufertigen. Manche forderten auch eine Frist von
90 Tagen. Ich glaube, wir haben mit der Frist von zwei
Monaten eine gute Frist gefunden.
({9})
Wir haben uns des Weiteren auf ein Inkrafttreten zum
1. November geeinigt. Das ist eine relativ kurze Frist.
Sie ist, glaube ich, gut zu begründen: Wir haben lange
genug darüber geredet, insofern gibt es genügend Vorlauf. Gleichwohl geben wir einige Wochen Zeit, in denen man sich darauf einstellen kann, wahlweise eine eigene Schlichtungsstelle für den Luftverkehr einzurichten
oder sich der söp anzuschließen.
Letzter Punkt meinerseits. Ich komme zu dem Einwand, all das sei unheimlich kompliziert. Sollte es zur
Einrichtung einer eigenen Schlichtungsstelle für den
Luftverkehr kommen, dann kann man es, wie schon
angekündigt, über eine gemeinsame Onlineplattform abwickeln. Anderenfalls kann man das sogenannte Y-Modell heranziehen: ein Eingang, zwei Ausgänge. Sprich:
Der Verbraucher findet einen Eingang vor und kann
dann sehr einfach schauen, welchen Ausgang er nehmen
muss, je nachdem, ob er Bahn gefahren, Bus gefahren
oder geflogen ist. Ich meine, dass dieses Modell nicht
die optimale Variante wäre. Aber ich halte es nicht für
ganz so problematisch, wie es hier dargestellt worden ist,
als ob es eine Katastrophe für den Verbraucherschutz sei.
Wir haben ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht;
das ist die eigentliche Botschaft des Tages. Das Gesetz
ist auf dem Weg und wird in Kürze kommen. Das ist ein
guter Tag für den Verbraucherschutz.
({10})
Offensichtlich muss die Koalition dieses Gesetz leider
allein, also ohne Sie, auf den Weg bringen.
({11})
Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. - Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege
Herbert Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Der Laden läuft“, schreibt die Schlichtungsstelle für
den öffentlichen Personenverkehr, söp, in ihrem Jahresbericht 2012. Sie begründet das auch: In den vergangenen drei Jahren haben sich 10 000 Bürgerinnen und Bürger an die söp gewandt, weil sie eine Reise nicht antreten
konnten, weil das Gepäck verschwunden war, weil die
Urlaubsplanung aufgrund massiver Verspätungen zusammenbrach. Egal ob jemand mit der Bahn, mit dem
Fernbus oder mit dem Schiff unterwegs war, klar war:
Im Falle eines Konfliktes ist eine Stelle zuständig.
Im vergangenen Jahr wurden rund 2 700 Schlichtungsverfahren abgeschlossen; knapp 2 300 Schlichtungsempfehlungen aus diesen Verfahren wurden sowohl von den
Reisenden als auch von den Verkehrsunternehmen akzeptiert. Der Streit war damit beendet, ein Gerichtsverfahren
wurde überflüssig. Das ist eine beeindruckende Bilanz.
Allein das wäre schon ein guter Grund, den Luftverkehr mit unter das Dach der söp zu nehmen. Aber die
Bundesregierung behauptet, das ginge nicht - das wurde
eben bestätigt -; denn eine Schlichtung müsse freiwillig
sein, und die Luftfahrtverbände lehnten nun einmal eine
Einbindung in die Schlichtungsstelle der söp ab.
({0})
Verbraucherschützer sprachen sich zwar für eine verkehrsübergreifende Schlichtungsstelle aus; aber für Sie
wiegen Verbraucherinteressen offenbar nicht so schwer
wie Unternehmerinteressen. Das ist bezeichnend für
diese Bundesregierung.
({1})
Nun liegt uns der Gesetzentwurf vor, mit dem eine eigene Schlichtungsstelle für den Luftverkehr eingerichtet
werden soll. Jetzt wird es ein wenig kompliziert - ich zitiere einmal aus dem Gesetzentwurf -: In § 57 Luftverkehrsgesetz geht es um die privatrechtlich organisierte
Schlichtung, in § 57 a um die behördliche Schlichtung.
Sie greift immer dann, wenn ein Luftverkehrsunternehmen der privatrechtlichen Schlichtung nicht beitritt. Dann
haben wir noch § 57 c. Dort heißt es: Das Bundesministerium der Justiz regelt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz und dem Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie durch Rechtsverordnung die
Einzelheiten des Verfahrens zu Kosten und zur behördlichen Schlichtung. - Alles klar?
Der vorliegende Gesetzentwurf ist extrem kompliziert, und er ist sinnfrei. Bis auf die Einrichtung einer behördlichen, also staatlichen Schlichtungsstelle weist er
nichts auf, wofür es überhaupt eines Gesetzes bedürfte.
Selbst wenn sich die Luftfahrtverbände nicht an der
Schlichtungsstelle für öffentlichen Personenverkehr beteiligen wollen, hätten Reisende schon heute die Möglichkeit, ein sogenanntes schiedsrichterliches Verfahren
in Anspruch zu nehmen, wenn es überhaupt nicht mehr
gelingt, sich persönlich zu einigen.
In der Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf ist
es den Experten zum Thema Verbraucherschutz nicht gelungen, Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, von Ihrem Plan abzubringen. Edgar Isermann, der
Leiter der söp, sprach sich gegen die Schaffung zusätzlicher Schlichtungsstellen aus, weil die Verbraucher dann
nicht wissen, an wen sie sich wenden müssen. Außerdem
sei die Kostenentwicklung für die Luftfahrtunternehmen
nicht zu unterschätzen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband sprach sich dafür aus, die bestehende söp als
verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle zu stärken. Diese Anregung wurde nicht aufgenommen.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
hat mit Verbraucherschutz nichts zu tun. Im Gegenteil:
Er entzieht dem Verbraucher den Schutz gegenüber den
mächtigen Luftfahrtunternehmen und deren Rechtsabteilungen.
({3})
Die Linke zeigt in ihrem Antrag, der hier auch zur
Abstimmung steht, verbraucherfreundliche Initiativen
auf. Wir fordern unter anderem die Beteiligung der Fluggesellschaften an einer unabhängigen, verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle. Wir fordern Sie auf,
unserem Vorschlag zu folgen. Machen Sie den Fluggesellschaften klar, dass Verbraucherschutz an erster Stelle
steht und erst dann die wirtschaftlichen Interessen derer
kommen, die Geld damit verdienen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Herbert Behrens. - Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
unser Kollege Markus Tressel. Bitte schön, Kollege
Markus Tressel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem sind wir uns einig: Außergerichtliche Streitbeilegung ist sinnvoll. Die entscheidende Frage ist aber, wie
man das effektiv und verbraucherfreundlich gestaltet. Ihr
Gesetzentwurf ist da nicht der richtige Weg.
Den richtigen Weg haben Sie paradoxerweise in Ihrem Koalitionsvertrag aufgezeigt. Darin heißt es, es solle
eine Schlichtungsstelle für alle Verkehrsträger gesetzlich
verankert werden. Genau das wäre im Sinne der Reisenden. Ich hätte mir gewünscht - das werden Sie aus meinem Munde ansonsten selten hören -, dass wir am Ende
bei dem herausgekommen wären, was Sie in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben. Da ist ja sogar - das haben wir heute schon gehört - Ryanair weiter als Sie, und
die haben nicht gerade einen verbraucherfreundlichen
Ruf. Ryanair ist gestern der söp beigetreten und lässt
seine Streitfälle dort schlichten.
({0})
Das spricht ausdrücklich dafür, dass unser Ansatz mit
der söp wohl nicht so falsch sein kann.
({1})
Ihr Gesetzentwurf steht im genauen Gegensatz dazu,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Er ist verbraucherunfreundlich und - ich sage es nochmals - widerspricht Ihrem eigenen Koalitionsvertrag, in den Sie das damals
vermutlich nicht ohne Grund geschrieben haben.
In keinem Rechtsbereich - das ist eine ganz wichtige
Feststellung - ist die Diskrepanz zwischen Anspruch
und Wirklichkeit momentan so eklatant wie bei den
Fluggastrechten. Die EU-Kommission hat am 13. März
ein durchaus kritisches Memorandum zur Überarbeitung
der Fluggastrechte veröffentlicht. Darin schreibt die
Kommission: Das Hauptproblem besteht darin, dass die
Reisenden Schwierigkeiten haben, ihre Rechte geltend
zu machen. - Um eine Zahl zu nennen: Nur 2 bis 4 Prozent der Fluggäste, die Anspruch auf einen finanziellen
Ausgleich hatten, haben diesen tatsächlich erhalten.
({2})
Deutlicher kann man das nicht sagen. Wir haben ein Problem mit der Rechtsdurchsetzung, und das liegt auch daran, dass sich viele Fluggäste nicht trauen, ihre Rechte
gegenüber den Airlines geltend zu machen.
({3})
Eine Schlichtungsstelle könnte da Abhilfe leisten, wenn
sie entsprechend verbraucherfreundlich gestaltet ist,
wenn sie niedrigschwellig erreichbar ist und wenn die
Fluggäste Vertrauen haben.
({4})
All das gewährleisten Sie mit diesem Gesetzentwurf
gerade nicht. Mit diesem Gesetzentwurf öffnen Sie die
Tür für eine Vielzahl von Schlichtungsstellen.
({5})
Es wurde bereits gesagt: Es gibt die behördliche Schlichtung. Es gibt privatrechtlich organisierte Schlichtung.
Für den Fluggast entsteht ein Wirrwarr, das er im Zweifel nicht überblicken kann; die Kollegin Schieder hat das
schon gesagt. Das ist ineffizient. Es führt zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten, und es führt, was auch
den Fluggesellschaften nicht gefallen kann, zu höheren
Kosten.
({6})
Das hilft dem Verbraucherschutz nicht weiter.
Das Gleiche gilt für Ihre Missbrauchsklausel, die Sie
in diesen Gesetzentwurf aufgenommen haben. Ein Fluggast wird es sich zweimal überlegen, sich unter diesen
Umständen an die Schlichtungsstelle zu wenden, weil er
Angst hat, am Ende vielleicht mit Kosten belastet zu
werden, die er vorher nicht überblicken kann. Hier wird
mit der Androhung eines Missbrauchsentgeltes eine
neue Hürde aufgebaut, die Fluggäste potenziell von der
Schlichtung fernhält.
Zudem schließen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf 40 Prozent der Flugreisenden, nämlich die Geschäftsreisenden,
weiterhin von der Schlichtung aus. Wie soll man denn
einem Freiberufler oder dem kleinen Selbstständigen erklären, dass er von der Möglichkeit außergerichtlicher
Einigung ausgenommen ist? Auch das ist nicht nachvollziehbar. Das macht keinen Sinn.
Insgesamt ist festzustellen: Ein Schritt nach vorne,
zwei Schritte zurück für den Schutz der Fluggäste - das
ist ein verbraucherpolitischer Totalausfall. Deswegen
können wir den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form
nur ablehnen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Erik
Schweickert. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Schweickert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Fluggäste, lieber Markus
Tressel, haben viele Rechte.
({0})
Es mangelt nicht an einschlägigen EU-Verordnungen,
die dem Kunden bei Annullierungen, Verspätungen,
Überbuchungen und verpassten Anschlussflügen einen
umfassenden Schutz geben. Auch die Rechtsprechung
des EuGH hat erst Ende Februar die Rechte gestärkt:
Beim Anspruch auf Ausgleichszahlung ist nicht die Verspätung auf einer Teilstrecke, sondern die Gesamtverspätung am Zielort maßgeblich. Aber es mangelt bisher
an einer kundenfreundlichen Möglichkeit zur Rechtsdurchsetzung.
Allein im Jahr 2010 gingen 4 788 Beschwerden beim
Luftfahrt-Bundesamt ein. Aber das Luftfahrt-Bundesamt
kann keine Vorschläge zur Regulierung zivilrechtlicher
Ansprüche vorlegen.
So gibt es viele Verbraucher, die zwar der Ansicht
sind, von ihrer Fluggesellschaft nicht ausreichend entschädigt worden zu sein; aber nicht jeder Fluggast verfügt über eine Rechtsschutzversicherung. Gerade bei geringen Flugpreisen wird oftmals darauf verzichtet, seine
Rechte auf dem Klageweg durchzusetzen, weil der Aufwand im Vergleich zum Streitwert zu gering erscheint.
({1})
Deshalb ist es der Anspruch dieser schwarz-gelben Bundesregierung, den Kunden zu ihrem Recht zu verhelfen,
und zwar einfacher als bisher,
({2})
und deshalb beschließen wir heute die Einrichtung einer
Schlichtungsstelle Luftverkehr. Diese wird den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit eröffnen,
einen Streitfall außergerichtlich klären zu lassen. Wenn
sich die Fluggesellschaft nicht innerhalb von zwei Monaten mit dem Fluggast auf eine Entschädigungsleistung
verständigen kann, kann der Fluggast das Schlichtungsverfahren beantragen. Damit hat er deutlich mehr
Rechtssicherheit als bisher.
({3})
Gerade die unklaren Streitfälle werden für den Kunden nun besser zu klären sein, zum Beispiel Streitigkeiten darüber, ob es sich bei einer konkreten Verspätung
um höhere Gewalt handelt oder nicht. Diese entscheidende Frage kann man als Fluggast in der Regel nicht
beurteilen; ich weiß nicht, wie es dem Kollegen Tressel
geht. Wenn ein Flugzeug nicht fliegt, wissen wir nicht,
ob der Schaden gerade eben entdeckt worden ist - dann
wäre das höhere Gewalt - oder ob er schon beim Routinecheck aufgefallen ist - dann muss die Fluggesellschaft
zahlen. Wenn ein Kunde an der Version der Fluglinie
zweifelt, kann er das nun von der Schlichtungsstelle klären lassen.
Ich bin sehr froh, dass wir nicht nur die deutschen
Airlines, was mancher hier im Haus angedacht hat, sondern auch die im Board of Airline Representatives in
Germany, BARIG, organisierten ausländischen Fluggesellschaften dabei haben. Wenn Ryanair jetzt Mitglied
bei söp wird, dann ist auch das eine gute Lösung des
Problems. Auch damit kommen wir voran. Es ist unser
Anspruch, eine freiwillige Schlichtung aufzubauen. Wer
nicht freiwillig mitmacht, der wird sich bei uns keinen
schlanken Fuß machen können; denn diese Fluglinien
werden dann einer behördlichen Zwangsschlichtung unterstellt.
({4})
Sie sehen, Schwarz-Gelb lässt keinen Verbraucher im
Regen, heute muss man vielleicht besser sagen: im
Schnee stehen. Wenn dann doch einmal ein Verbraucher
am Flughafen zurückgelassen wird oder sein Reiseziel
mit Verspätung erreicht, dann kann der Flugpassagier
seine Rechte nun einfacher durchsetzen.
({5})
Das ist effizienter Verbraucherschutz der Marke
Schwarz-Gelb.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schweickert. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Ulrike Gottschalck. Bitte schön, Frau Kollegin Gottschalck.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wenn wir im Moment eher noch Frostbeulen
bekommen, steht Ostern vor der Tür. Viele Bürgerinnen
und Bürger, aber sicherlich auch viele Kolleginnen und
Kollegen werden die freien Tage nutzen, um in wärmere
Länder zu fliegen, Sonne zu tanken und ein mildes
Klima zu genießen.
({0})
Ich wünsche Ihnen allen, dass Ihre Reise reibungslos
verläuft und Sie sich nicht über Ausfälle, Verspätungen
oder verlorene Koffer ärgern müssen.
({1})
Seit Februar 2005 gibt es eine EU-FluggastrechteVerordnung, die Standards für Unterstützungs- und Ausgleichsleistungen für Fluggäste festlegt. Aktuell hat die
EU-Kommission festgestellt, dass es für Reisende leider
nicht immer einfach ist, diese festgelegten Rechte geltend zu machen. Kollegin Schieder hat ja recht: Es ist etwas anderes, recht zu haben, als recht zu bekommen.
({2})
Nach einer dänischen Erhebung - Kollege Tressel hat
das schon angesprochen - erhalten nur zwischen 2 und
4 Prozent der betroffenen Fluggäste den finanziellen
Ausgleich, auf den sie einen Anspruch haben. Nach einer aktuellen Erhebung in Deutschland - es wird noch
schlimmer - erhielten mehr als 20 Prozent der Fluggäste,
die eine Beschwerde eingereicht haben, überhaupt
keine Antwort ihrer Fluggesellschaft. Deshalb plant die
EU-Kommission, wirksame Beschwerdeverfahren für
Flugreisende und strengere Durchsetzungs- und Sanktionsmaßnahmen einzuführen. Die EU-Kommission will
eine weitere Stärkung der Fluggastrechte, eine Stärkung
der nationalen Durchsetzungsstellen und die Stärkung
einer außergerichtlichen Schlichtungsstelle.
Ich konstatiere also: Die EU will eine weitere Stärkung der Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Gut so! Leider genießt der Verbraucherschutz bei der
Bundesregierung offensichtlich nicht diesen hohen Stellenwert.
({3})
Dies konnten wir bei Lebensmittelskandalen feststellen,
aber auch bei diesem Gesetzentwurf.
Intermodalität wird heute von jeder und jedem praktiziert. Ergebnisse verschiedener Untersuchungen und
Umfragen zeigen, dass zwei Drittel der Reisenden einen
Mix aus verschiedenen Verkehrsmitteln nutzen. Mit
77 Prozent weist Deutschland von allen europäischen
Ländern die höchste Multimodalität auf. Die Politik
muss die Rahmenbedingungen dafür setzen. Ich kann
nur sagen: Mit Blick auf die Intermodalität wäre eine
verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle, an die
sich Reisende bei Problemen wenden können, zukunftsweisend und hilfreich gewesen.Egal ob Bahn, Flugzeug,
Schiff oder Bus - ein Ansprechpartner, das wäre verbraucherfreundlich.
({4})
Der hier vorgelegte Gesetzentwurf sieht leider das Gegenteil vor. Statt einer verkehrsträgerübergreifenden verpflichtenden Schlichtungsstelle werden Parallelstrukturen
aufgebaut. Behördliche und privatrechtliche Schlichtungsstellen werden zu einer unübersichtlichen Aufsplitterung führen. Das, meine sehr verehrten Damen und
Herren, ist weder verbraucherfreundlich noch effektiv.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marco Wanderwitz?
Ich erlaube gerne eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Kollege Marco Wanderwitz.
Das ist nett, Frau Kollegin. Ich hätte diese Zwischenfrage fast schon dem Kollegen der Grünen gestellt; aber
da war seine Redezeit zu Ende. - Sie beide haben die behördliche Schlichtungsstelle als Teil von Wirrwarr und
schlechten Regelungen kritisiert.
({0})
Was für eine Auffangregelung hätten Sie denn für diejenigen, die Sie, wie ich vorhin ausgeführt habe, nicht in
eine gesetzliche Pflichtschlichtung zwingen können? Es
gibt doch nur die behördliche Schlichtung als Alternative. Oder haben Sie eine andere?
Lieber Kollege, es ist sehr schön, dass Sie diese Zwischenfrage gestellt haben; denn das gibt mir die Möglichkeit, meine Redezeit ein wenig zu verlängern.
({0})
Wir brauchen eine einzige Schlichtungsstelle;
({1})
das ist verbraucherfreundlich. Mich haben Ihre eben gemachten Ausführungen nicht überzeugt.
({2})
- Genau. - Ich bin noch nicht fertig, ob Ihnen das nun
gefällt oder nicht.
Sie bauen mit diesem Gesetzentwurf Parallelstrukturen auf: die behördliche und gegebenenfalls sogar mehrere privatrechtliche Schlichtungsstellen. Stellen Sie sich
das einmal vor: Sie sind ein ganz normaler Fluggast, der
sich tierisch geärgert hat. Vielleicht sind Sie vorher noch
mit der Bahn gefahren. Die Bahn war schuld, dass Sie
den Flieger nicht bekommen haben etc.
({3})
Dann wandern Sie von Schlichtungsstelle zu Schlichtungsstelle. - Eine Schlichtungsstelle ist der beste Ansprechpartner.
({4})
Dann weiß jede Verbraucherin und jeder Verbraucher,
wohin er sich wenden soll.
({5})
Frau Kollegin, es gibt einen weiteren Wunsch nach
einer Zwischenfrage, und zwar von unserer Kollegin
Judith Skudelny. Erlauben Sie die?
Aber bitte, gern. Die nachfolgenden Redner werden
es uns nachsehen.
Bitte schön.
Ich verlängere Ihre Redezeit noch einmal. - Mir ist
nicht ganz klar: 2009 wurde die söp in ihrer jetzigen
Form unter der damaligen Justizministerin eingerichtet.
Können Sie mir sagen, wer damals im Justizministerium
verantwortlich war?
({0})
Sie haben damals die Fluggastrechte nicht dafür zugelassen. Das haben wir jetzt nachgeholt. Warum wurde
nicht schon damals die Regelung eingeführt, zu der Sie
heute reklamieren, dass wir sie nicht bringen?
Darauf antworte ich sehr gerne, Frau Kollegin. Wir
hatten nämlich zu dieser Zeit eine sehr hervorragende
Ministerin.
({0})
Brigitte Zypries war es, die die söp auf den Weg gebracht hat. Diese verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle hat zum Beispiel bei der Bahn hervorragende
Arbeit geleistet. 90 Prozent der Fälle werden von der söp
positiv geschlichtet. Das müssen Sie erst einmal nachmachen.
({1})
Liebe Frau Kollegin, einen Gesetzentwurf kann man
immer nacharbeiten. Wir sind mit einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle gestartet. Die Fluggesellschaften haben sich quergestellt; aber man kann natürlich nacharbeiten. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen.
Sie haben dreieinhalb Jahre Zeit gehabt. Noch dazu haben Sie das im Koalitionsvertrag stehen. Ich kann nur sagen: ein volles Versagen Ihrerseits.
({2})
Die Redezeit läuft wieder.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich, warum Sie die verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle unter dem Dach der söp so scheuen. Die söp leistet
gute Arbeit. Fluggesellschaften wie Ryanair ziehen
schon nach. Die sind also weiter als diese Bundesregierung.
Ich frage mich auch, meine sehr geehrten Damen und
Herren, warum Sie den missbräuchlich erhobenen Beschwerden in Ihrem Gesetzentwurf so viel Raum einräumen. Es steht fest: Bei der söp kommt es nur in 1 Prozent der Beschwerden zu Missbrauch. - Ich finde, das
zeugt von einem unglaublich großen Misstrauen gegenüber allen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Sie wollen damit von Beschwerden abschrecken. Auch das ist
nicht besonders verbraucherfreundlich.
Wir stehen nach wie vor für eine einheitliche Schlichtungsstelle, für eine Schlichtungsstelle, die Ansprechpartner für alle ist.
({0})
Auch die Verbraucherminister haben das schon 2010
überparteilich gefordert.
({1})
Diese Forderung ist nach wie vor richtig. Deswegen
werden wir Ihrem angestaubten und unmodernen Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Letzte Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Marlene Mortler. Bitte schön, Frau
Kollegin Marlene Mortler.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat uns der Frühlingsanfang Schnee beschert. Wir bescheren Ihnen heute
einen guten Gesetzentwurf.
({0})
Das heißt, wir lassen heute hier im Plenum die Sonne
scheinen.
({1})
An diesem Gesetzentwurf waren viele beteiligt, und
viele haben sich konstruktiv eingebracht. Ich richte ein
herzliches Dankeschön an die Regierung,
({2})
an das Bundesjustizministerium,
({3})
natürlich auch an das BMVBS, das Verkehrsministerium,
({4})
und, auch wenn es nur indirekt beteiligt war, an das Verbraucherschutzministerium, das BMELV.
({5})
Warum soll man sich nicht einmal über den Abschluss
eines Gesetzgebungsverfahrens freuen, bei dem es viele
Gewinner gibt? Zu nennen ist hier an erster Stelle der
Verbraucher, der Fluggast.
({6})
Auch für die Fluggesellschaften bedeutet dieses Gesetz
eine Stärkung.
({7})
Ich gebe zu: Einige haben es noch nicht begriffen; aber
sie werden es noch begreifen.
({8})
Ich als Tourismuspolitikerin weiß: Auch der Tourismus
profitiert. Auch deshalb habe ich für den Abschluss dieses Gesetzgebungsverfahrens gekämpft.
Ich betone noch einmal: „Außergerichtliche Streitschlichtung“ heißt das Zauberwort. Entscheidend war
und ist für mich, dass die freiwillige Schlichtung kommt.
Sie war und ist überfällig. Für mich war am Ende nicht
entscheidend, ob sie verkehrsträgerübergreifend umgesetzt wird oder nicht; das ist zweitrangig.
({9})
Wenn Sie ehrlich sind, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, müssen Sie zugeben: Insgeheim
freuen doch auch Sie sich darüber, dass der Verbraucherschutz mit diesem Gesetz unterm Strich gestärkt wird.
({10})
Es ist richtig: Die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr ist im Jahr 2009 von der Großen
Koalition ins Leben gerufen worden. Wir können heute
feststellen: Die söp ist anerkannt. Die Zahl der Verkehrsunternehmen, die unter das Dach der söp gehen, steigt.
Es hat mit der Bahn angefangen, dann kamen Busse und
der Bereich der Schiffsreisen hinzu. Inzwischen gibt es
mutige Vereinbarungen, in denen es heißt: Auch wir
wollen unter das Dach der söp. - Gerade das Beispiel
von Ryanair, einer Fluggesellschaft, die in keinem Branchenverband organisiert ist, zeigt doch, dass auch dieses
Unternehmen erkannt hat: Unter dem Dach der söp sind
wir besser aufgehoben als anderswo.
({11})
Meine Damen und Herren, auch in der Satzung der
söp steht, dass die Schlichtung bzw. die Vereinbarung
freiwillig ist und nur freiwillig sein kann.
({12})
Ich appelliere an dieser Stelle noch einmal an die Branchen und die organisierten Unternehmen, dem Beispiel
Ryanair zu folgen. Kollege Wanderwitz hat den BDL,
den Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft, und BARIG genannt; diesem Verband gehören
internationale Fluggesellschaften an. Auch diese haben
jetzt die Chance, sich anzuschließen. Es gibt ja positive
Aussagen, die sich in diese Richtung bewegen. Ich
denke, spätestens wenn der Gesetzentwurf in Kraft tritt
- zum 1. November 2013 -, wird es hier eine entsprechende Einigung geben.
({13})
Meine Damen und Herren, dass Streitigkeiten bis zu
einem Streitwert von 5 000 Euro kostenlos geschlichtet
werden sollen, ist erwähnt worden. Der Verbraucher soll
mit dieser freiwilligen Schlichtung gerade nicht belastet
werden. Zudem ist und bleibt der Rechtsweg für Zivilgerichte - das möchte ich noch einmal betonen - offen.
({14})
- Ja; aber man muss es immer wieder betonen, weil Sie
als Opposition hier teilweise das Gegenteil behauptet haben.
({15})
Ich wiederhole: Der Rechtsweg für Zivilgerichte bleibt
offen.
({16})
Für Airlines, die sich nicht der freiwilligen Schlichtung
unterwerfen, wird es eine behördliche Schlichtung geben. Auch die behördliche Schlichtung ist für mich ein
zusätzlicher Rechtsschutz für den Verbraucher.
({17})
Ein Letztes: Die Kritik an der Evaluierung bzw. angeblichen Missbrauchsklauseln kann ich so nicht stehen
lassen. Im Gesetz steht klipp und klar: Es geht um unbegründete Fälle und nicht um unzulässige Fälle. Deshalb
ist Ihre Kritik, glaube ich, gegenstandslos.
({18})
Ich bitte am Schluss - ich werbe dafür -, dass Sie dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen. Dann
kann es im Sinne eines stärkeren Verbraucherschutzes,
im Sinne der Fluggastrechte in Kraft treten.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({19})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Unsere Kollegin
Marlene Mortler war die letzte Rednerin in unserer Aussprache, die ich damit schließe.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Schlichtung im Luftverkehr. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12876, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/11210 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Schlichtung
für Luftfahrtunternehmen verkehrsträgerübergreifend
einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9228, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7337 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind
die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich komme nun zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Fluggastrechte stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4125, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/2021 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Linksfraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zu
einem neuen Tagesordnungspunkt. - Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Getto rückwirkend ab 1997 ermöglichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Renten für Leistungsberechtigte des Gettorentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen
- Drucksachen 17/10094, 17/7985, 17/12870 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind
alle damit einverstanden. Dann haben wir dies gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erster hat das
Wort unser Kollege Peter Weiß für die Fraktion der
CDU/CSU. - Bitte schön, Kollege Peter Weiß.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu den besonders perfiden und menschenverachtenden
Methoden des Naziregimes gehörte es, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger dadurch aus der Gesellschaft
auszusondern und in besonders abscheulicher Form auch
zu knechten, dass man diese jüdischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger gezwungen hat, in sogenannten Gettos zu
leben, wo sie zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht wurden.
Deshalb war es ein wichtiger Beitrag des Deutschen
Bundestages, diesen mittlerweile hochbetagten Überlebenden der Gettos ein Stück Gerechtigkeit zuteilwerden
zu lassen, indem im Jahr 2002 das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Getto verabschiedet wurde. Allerdings haben wir in den
ersten Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erfahrung machen müssen, dass das, was der Deutsche
Bundestag eigentlich gewollt hat, in der Verwaltungspraxis nur ungenügend umgesetzt wurde.
Deswegen waren wir, glaube ich, alle froh, dass die
Rentensenate des Bundessozialgerichts mit den grundlegenden Urteilen vom 2. und 3. Juni 2009 dafür gesorgt
haben, dass durch einfachere Leitlinien zur Auslegung
des Gesetzes endlich viele auch zunächst abgelehnte Anträge auf eine Gettorente bewilligt wurden. Wir können
heute feststellen, dass diejenigen, die einen Anspruch
auf eine Gettorente haben, eine solche Gettorente durch
die Deutsche Rentenversicherung erfreulicherweise auch
genehmigt und ausbezahlt erhalten.
Ich sage das deswegen noch einmal so klar und deutlich, weil ich bei allem politischen Streit, den wir hier in
Deutschland untereinander haben, nicht verstehe, dass
sich einige öffentlich so äußern, als würden Gettorenten
Betroffenen versagt. Nein, seit dem Jahr 2009 und der
Umsetzung dieser Urteile des Bundessozialgerichts ist es
so: Wer Anspruch auf eine Gettorente hat, der erhält
auch eine Gettorente. Ich glaube, das ist ein wichtiger
Punkt, den wir festhalten sollten und der es uns Gott sei
Dank möglich gemacht hat, diesen heute noch Überlebenden durch das Gettorentengesetz ein Stück Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
({0})
Nun gibt es eine Problematik, die heute im Mittelpunkt der Debatte steht: Wer eine Gettorente gleich genehmigt bekommen hat, der hat sie, wie es im Gesetz
steht, ab 1997 rückwirkend ausbezahlt erhalten. Wer nun
erst wesentlich später einen erfolgreichen Antrag auf
eine Gettorente gestellt hat, der erfährt, dass ihm diese
nach der allgemeinen Vorschrift des deutschen Sozialrechts, die für alle, die eine Rente oder eine sonstige Sozialleistung beantragen, gilt, nur vier Jahre rückwirkend
und in der Zukunft natürlich jeden Monat ausbezahlt
wird. Allerdings - und das ist das Wichtige -: Diejenigen, die erst später die Genehmigung einer Gettorente
ausgesprochen bekommen haben und diese vier Jahre
rückwirkend erhalten, erhalten monatlich einen höheren
Zahlbetrag als der gleichaltrige Mitbürger, der sie bereits
ab 1997 ausbezahlt erhält.
Warum ist das so? Weil es im Rentenrecht so geregelt
ist, dass für jeden Monat nach Vollendung des 65. Lebensjahrs eine Aufwertung, ein Zuschlag gewährt wird.
In der Regel sind das rund 45 Prozent an monatlicher
Rentenauszahlung im Vergleich zu einer Rentenauszahlung, die rückwirkend ab dem Jahr 1997 gewährt wird.
Je nach Geburtsalter kann das auch deutlich mehr als ein
Plus von 45 Prozent sein.
({1})
Wir sind davon ausgegangen, dass mit dieser speziellen Regelung im deutschen Rentenrecht dieser Unterschied - der eine erhält die Gettorente rückwirkend ab
1997, der andere, der sie zum Beispiel erst im Jahr 2012
beantragt und dann genehmigt bekommen hat, erhält sie
rückwirkend erst ab dem Jahr 2008 ausgezahlt - einigermaßen ausgeglichen wird.
({2})
Nun wird seitens der Oppositionsfraktionen beantragt, wir sollten dies ändern und für jeden Antragsteller
eine rückwirkende Auszahlung der Gettorente ab dem
Jahr 1997 ermöglichen.
({3})
Peter Weiß ({4})
Was hätte das für Konsequenzen? Wer diese höhere
Rente monatlich ausgezahlt bekommt, müsste zunächst
das, was ihm zusätzlich ausgezahlt wurde, an die Rentenversicherung zurückgeben, um sich anschließend
seine Rente neu berechnen zu lassen und nachträglich einen niedrigeren Betrag ausgezahlt zu erhalten.
Allein der Hinweis auf diesen komplizierten Mechanismus zeigt, dass das für die hochbetagten jüdischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger ein äußerst schwerwiegender Prozess wäre, bei dem kaum durchschaubar ist,
was das für finanzielle Konsequenzen hat.
({5})
Nun gebe ich gerne zu, dass trotz des höheren Zahlbetrags, wenn die Gettorente erst später genehmigt wurde,
bei vielen das subjektive Gefühl vorhanden ist, das sei
ein Stück Ungerechtigkeit. Der eine bekommt diese
Rente ab 1997, ein anderer eventuell erst rückwirkend ab
dem Jahr 2008. Deswegen hätte ich mir sehr gewünscht,
wir könnten dieses subjektive Gefühl der Ungerechtigkeit in irgendeiner Weise beseitigen.
({6})
Aber das, was die Oppositionsfraktionen vorschlagen,
führt nicht dazu, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Deswegen müssen wir Ihre Anträge leider ablehnen.
Ich will aber sagen, dass wir gerne mit allen Betroffenen und Beteiligten, auch mit Repräsentanten des Staates Israel und dem Zentralrat der Juden weiter im Gespräch sind, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass trotz
dieser Regelung das offenkundig bei etlichen Betroffenen vorhandene Gefühl einer subjektiven Ungerechtigkeit beseitigt wird.
Was unser Ziel war und ist, steht für uns unzweifelhaft fest: Wir wollten und wir wollen weiterhin mit der
Gewährung einer Gettorente für diejenigen, die so sehr
unter der Nazidiktatur zu leiden hatten, ein Stück Gerechtigkeit schaffen. Das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. - Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
diesen Tagen erinnert die SPD-Bundestagsfraktion und
die SPD in Gänze an Otto Wels. Otto Wels hat vor
80 Jahren, am 23. März 1933, für die damalige SPDReichstagsfraktion begründet, warum die SPD-Reichstagsfraktion den Ermächtigungsgesetzen nicht zustimmt.
Eine mutige Tat von Otto Wels und der SPD-Fraktion!
Die SPD-Fraktion war die einzige Fraktion, die gegen
die Ermächtigungsgesetze gestimmt hat.
({0})
Die Kommunisten, wenn Sie mir erlauben, hatten schon
keine Chance mehr, an der Debatte und an der Abstimmung teilzunehmen.
Die Rede von Otto Wels und der Widerstand von vielen nicht bekannten, aber auch von vielen bekannten
Menschen im Dritten Reich haben uns nach dieser Diktatur die Riesenchance eröffnet, in die Völkergemeinschaft zurückzufinden. Ich bin mir absolut sicher, dass
diese Rede und der Widerstand im Dritten Reich uns die
Chance eröffnet haben, als Nation schnell wieder in der
Völkergemeinschaft anzukommen.
Der berühmteste Satz von Otto Wels, den sicherlich
viele kennen, lautet: „Freiheit und Leben kann man uns
nehmen, die Ehre nicht.“ Die Konsequenz daraus in der
Nachkriegspolitik war, dass alle Generationen von Politikerinnen und Politikern Verantwortung übernommen
haben, zum Beispiel Verantwortung für Wiedergutmachung, mit dem Ziel, das Leid, das wir als Nation über
die Menschen gebracht haben, ein Stück weit zu lindern.
Diese Verantwortung haben Nachkriegsgenerationen
von Politikerinnen und Politikern des Deutschen Bundestages immer übernommen. Bei der Gettorente hätten
wir nun die Chance, eine offensichtliche Ungerechtigkeit
im Sinne dieser Verantwortung abzumildern. Peter Weiß
hat sehr technisch argumentiert. Technisch gesehen hat
er recht. Aber bei der Verantwortung, die ich gerade versucht habe zu beschreiben, geht es nicht um technische
Gründe, sondern um einen moralischen Anspruch beispielsweise der Menschen in Israel.
({1})
Niemand von uns hat behauptet, Peter Weiß, dass die
Menschen keine Gettorente bekommen. Aber wir haben
gesagt: Menschen aus ein und derselben Fallgruppe werden unterschiedlich behandelt, und das ist ungerecht.
({2})
Wir haben 2002 als Deutscher Bundestag geschlossen
gesagt: Wir wollen, dass die Menschen, die in einem
Getto gearbeitet haben, rückwirkend ab 1997 eine Rente
bekommen. - Das war der Wille des Gesetzgebers. Nun
haben wir, die wir als Gesetzgeber Verantwortung für die
Ausgestaltung und Formulierung von Gesetzen haben,
ein Gesetz gemacht, das dazu geführt hat, dass damals
die Ablehnungsquote bei denjenigen, die Anträge gestellt haben, bei 90 Prozent lag. 90 Prozent wurden abgelehnt! Die Betroffenen mussten sich einklagen. 2009 hat
das Bundessozialgericht diesen Menschen recht gegeben. Unser Sozialrecht sieht in der Tat nur eine Rückwirkung von vier Jahren vor. Die Betroffenen bekamen also
nicht das, was der Gesetzgeber gewollt hat, nämlich eine
Rente rückwirkend ab 1997, sondern erst ab 2005.
Man hat versucht, das durch die Einführung eines
Steigerungssatzes ein Stück weit zu reparieren. Dazu
sage ich Folgendes: Derjenige, der seit 2005 eine Rente
von 145 Euro aufgrund des Steigerungssatzes erhält, der
muss - es handelt sich hier um Hochbetagte; Peter Weiß
hat bereits darauf hingewiesen - mindestens bis 2022
diese Rente bekommen, damit er insgesamt den gleichen
Betrag erhält wie derjenige, der seit 1997 eine Rente von
100 Euro bekommt. Wenn der Betreffende vor 2022
stirbt, dann hat er nicht dieselbe Leistung erhalten. Er hat
dann nicht das bekommen, was wir als Gesetzgeber gewollt haben, nämlich eine Rente ab 1997. Der Betreffende hat dann entsprechend weniger Rente bezogen.
Das ist der Sachverhalt.
Übrigens hat das Bundessozialgericht die Verantwortung dafür in seiner Begründung sehr deutlich formuliert. Es ist erstaunlich, dass das Bundessozialgericht die
Verantwortung des Gesetzgebers so deutlich formuliert.
Zu dem Sachverhalt der Rückwirkung um vier Jahre
sagte das Bundessozialgericht:
Die nachträgliche Anordnung der Nichtanwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X im hier maßgeblichen
Zusammenhang ist daher allein Sache des Gesetzgebers; die Rechtsprechung ist hierzu nicht befugt,
auch wenn der Senat
- das ist entscheidend dieses Ergebnis für wünschenswert hielte.
Also auch das Bundessozialgericht war der Meinung,
wir müssten die Zahlbarmachung ab 1997 gesetzlich regeln, wir müssten die Zahlung machbar machen.
Meine Damen und Herren, ich habe auf die Tradition
hingewiesen, auf das, was Verantwortung in der Nachkriegsgeschichte für alle Generationen von Politikerinnen und Politikern bedeutete, und auf die Chance, die
uns Otto Wels und die Widerstandskämpfer im Dritten
Reich gegeben haben. Um ganz ehrlich zu sein - ich
habe es im Ausschuss schon gesagt -: Ich bin beschämt,
dass wir diese Chance als jetzige verantwortliche Politikergeneration nicht wahrnehmen und die Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung an dieser Stelle nicht beseitigen.
({3})
Vielen Dank, Kollege Anton Schaaf. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Anton Schaaf, Respekt für eine große Rede. Ich
bin gestern als Vertreter meiner Fraktion bei der Feierstunde im Otto-Wels-Saal anwesend gewesen. Das hat
mich sehr beeindruckt, muss ich sagen. Der Mut der
93 Reichstagsabgeordneten der SPD steht wirklich beispielhaft für alle Parlamentarier in Deutschland. Das will
ich hier eingangs sehr deutlich sagen.
({0})
Die ganze Stimmung war so, dass einem sehr nachdrücklich auch die Repression in der damaligen Zeit vor
Augen geführt wurde. Deswegen, aber nicht nur deswegen, sind die Beratungen über die Oppositionsanträge,
mit denen eine Neuregelung des Gettorentengesetzes gefordert wird, eines der schwierigsten Themen, die wir in
dieser Legislaturperiode in unserem Arbeitsbereich zu
behandeln haben. Sie sind schwierig, weil das deutsche
Rentenrecht, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt geeignet ist, erlittenes Unrecht wiedergutzumachen.
Aber der Gesetzgeber hat sich 1992 bewusst für den
Weg über das Sozialversicherungsrecht bei der hier in
Rede stehenden Arbeit in einem Getto entschieden, weil
es nicht um Zwangsarbeit geht, für die Entschädigungsleistungen aus dem Fonds der Bundesregierung - EVZStiftungsgesetz - gezahlt worden sind, sondern weil es
hier um die Fälle der Arbeit geht, bei denen nach der Definition des Gesetzes auf der Basis eines eigenen Willensentschlusses unentgeltlich gearbeitet wurde. Allerdings - und das müssen wir uns immer vor Augen
führen - geschah dies unter den allgemeinen Bedingungen von Zwang, Verfolgung und Holocaust.
Das Beschreiten dieses Weges über die Sozialversicherung war mit einem schwierigen Lernprozess für uns
alle, wie ich denke, verbunden. Die Kriterien des Gesetzes wurden zunächst von der Rentenversicherung eng
ausgelegt. Der Nachweis bzw. die Glaubhaftmachung
des Vorliegens der Voraussetzungen war im Einzelfall
schwer bis unmöglich, was zu einer Ablehnung von
90 Prozent der Anträge auf Rente nach dem ZRBG
führte. Bei den im ersten Verfahren genehmigten rund
7 000 Anträgen wurde die Rente dann ab dem 1. Juli
1997 gezahlt. Toni Schaaf hat gesagt, dass wir hier über
Renten reden, die in einem typischen Fall bei einem
männlichen Arbeiter, geboren 1931, etwa 115 Euro bei
einem Zahlungsbeginn ab 1. Januar 1997 ausmachen.
Gegen die Ablehnung gab es - nachvollziehbar - Klagen, die zu einer höchstrichterlichen Rechtsprechung geführt haben. Im Juni 2009 hat das Bundessozialgericht
neue Leitlinien zu den Kriterien „Freiwilligkeit“ und
„Entgelt“ aufgestellt, nach denen die Voraussetzungen
für eine Rente nach dem ZRBG weitaus leichter erfüllt
werden konnten. Das war auch gut so. Alle im Juni 2009
noch offenen Verfahren sind von der DRV im Sinne der
geänderten Rechtsprechung abgeschlossen worden. In
3 500 Fällen führte dies zur Zahlung einer Rente ab, wie
nach der speziellen Zahlung im ZRBG vorgesehen,
1. Juli 1997.
Diese Renten sind nicht Gegenstand der heutigen Debatte. Wir debattieren, weil auch die bereits abgeschlossenen und bis zur Änderung der Rechtsprechung im
Juni 2009 bereits bestandskräftig abgelehnten Rentenanträge erneut überprüft wurden und in rund 21 500 dieser
Fälle nunmehr eine Rente nach den neuen, erleichterten
Zugangsvoraussetzungen bewilligt werden konnte. Dabei hat die Rentenversicherung in Anwendung der allgemeinen im Sozialrecht geltenden Verjährungsfristen von
vier Jahren die Renten ab Januar 2005 gezahlt und nicht
ab 1997.
Insgesamt werden also aktuell in 32 000 Fällen Renten nach dem ZRBG gezahlt. Bei 25 000 Anträgen
konnte keine Bewilligung erteilt werden, da die vom Gesetz geforderten Voraussetzungen auch nach der geänderten Rechtsprechung des BSG nicht vorlagen. Allerdings besteht in den allermeisten dieser Fälle Anspruch
auf die Anerkennungsleistung in Höhe von 2 000 Euro
nach der Anerkennungsrichtlinie der Bundesregierung.
Ich glaube, man kann feststellen: In allen Fällen, in
denen die neuen, erleichterten Voraussetzungen vorlagen, werden heute auch tatsächlich Renten gezahlt. Ich
sage das - das ist unter uns unstrittig - vor dem Hintergrund einer Pressemitteilung, die in diesen Tagen vom
Deutschen Journalistenverband herausgegeben wurde
und in der der Eindruck erweckt wird, vielen dieser
Menschen werde von den deutschen Rentenbehörden
heute noch immer die ihnen zustehende Rente verweigert. Ich glaube, dass dieses Bild, das dort gezeichnet
wird, so nicht zutreffend ist.
Allerdings - und das ist auch der Hintergrund der
heutigen Debatte - stellt sich die Frage, ob in den Fällen,
in denen zunächst eine Ablehnung erfolgt ist, nach Änderung der Rechtsprechung nun doch Renten zu zahlen
sind, und zwar rückwirkend nicht erst ab 1. Januar 2005,
sondern bereits ab 1. Juli 1997.
Für die Antwort auf die Frage, ob den Betroffenen daraus Nachteile entstehen, sind die Regelungen des deutschen Rentenrechts maßgebend - Peter Weiß hat dies
schon ausgeführt -, das für einen Rentenzugang nach
dem Regelrenteneintrittsalter Zuschläge von 6 Prozent
pro Jahr aufgrund des späteren Rentenbeginns vorsieht.
Das bedeutet: Der siebeneinhalb Jahre spätere Rentenbeginn am 1. Januar 2005 führt zu einer auf Dauer um
45 Prozent höheren Rente.
Das Schwierige ist jetzt aber: Je nach den individuellen Verhältnissen und auch unter Einbeziehung der Versorgung von Hinterbliebenen kann sich damit im Einzelfall gegenüber einem Rentenbeginn ab dem 1. Juli 1997
eine niedrigere, gleich hohe oder auch höhere Gesamtleistung ergeben.
Die Opposition fordert die Bundesregierung mit ihren
Anträgen auf, die rückwirkende Zahlung der Renten ab
dem 1. Juli 1997 zu ermöglichen oder bei Verzicht auf
die Verlängerung der Rückwirkung über eine Änderung
der Anerkennungsrichtlinie eine Kapitalzahlung, die
sich aus der Summe der Rentenzahlungen bei einem
Rentenbeginn ab dem Jahr 1997 ergeben hätte, zu ermöglichen.
In der Anhörung am 10. Dezember 2012 gab es gewichtige Stimmen - ich verweise auf die Drucksache
17/12870 - gegen eine rentenrechtliche Lösung bzw.
auch Warnungen vor dem mit einer solchen Lösung für
die Betroffenen verbundenen Aufwand, insbesondere
auch mit Blick auf das Alter der Betroffenen. Gleichzeitig kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Weg über
die Änderung der Anerkennungsrichtlinie zu neuen Ungerechtigkeiten gegenüber den Personen führen würde,
deren Renten bereits von Beginn an, also ab dem 1. Juli
1997, gezahlt werden.
({1})
Die Bundesregierung hat sich vor diesem Hintergrund
nicht dafür entschieden, eine Initiative zur Änderung des
geltenden Rechts zu ergreifen. Die Opposition, wofür
ich Verständnis habe, hat auf die Abstimmung ihrer Anträge gedrängt. Wir haben im Ausschuss gestern gegen
Ihre Initiativen gestimmt. Wir werden das auch heute
tun. Ich kann Ihnen aber für meine Fraktion sagen, dass
wir das weitere Vorgehen der Bundesregierung in dieser
Frage sehr genau beobachten werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb.
Die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau Ulla
Jelpke für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst gerne den Gesandten der israelischen
Botschaft begrüßen, Herrn Emmanuel Nahshon, der
heute hier sitzt, um die Debatte zu verfolgen, und der
sehr für die Opfer gekämpft hat, dafür, dass diese Rente
gezahlt wird.
({0})
Wenn sich die Union und die FDP heute tatsächlich
den Anträgen der Opposition verweigern, die Gettorenten in vollem Umfang - und darum geht es - auszuzahlen, dann bedeutet das nicht nur, dass sich die Opfer erneut verhöhnt fühlen werden, sondern es bedeutet auch
- das finde ich besonders schlimm -, dass sie das Gefühl
haben werden, dass ihnen Gerechtigkeit genommen
wird. Herr Kolb, es geht tatsächlich darum, Gerechtigkeit für alle Opfer und Betroffenen herzustellen.
({1})
Meine Damen und Herren, um es einfach einmal
deutlich zu sagen: Gettorenten sind keine Form von Entschädigung, bei der man darüber streiten kann, wer sie
erhalten soll oder wie hoch sie ausfallen soll. Wir wissen, wie knauserig die Bundesregierung in den vergangenen Jahren mit Entschädigungen umgegangen ist. Es
bedurfte immer Druck von außen, damit überhaupt gehandelt wurde.
Gettorenten liegen - das muss einfach klar sein - rentenrechtlich begründete Ansprüche zugrunde. Die Menschen, die im Getto gearbeitet haben, haben einen Hungerlohn bekommen. Angeblich wurden von den Nazis
Beiträge an die Rentenkassen abgeführt. Dass die Nazis
nie vorhatten, Jüdinnen und Juden oder auch Sinti und
Roma Renten auszuzahlen, wissen wir längst. Heute gibt
es aber eigentlich keinen Grund, ihnen ihre Rentenansprüche nicht zuzugestehen. Ich denke, die Ansprüche
sind seit 2005 völlig klar. Insofern streiten wir jetzt darum, dass die Betroffenen, die diese Rente nicht bekommen haben, Nachzahlungen bekommen.
Der Bundestag hat vor elf Jahren einstimmig beschlossen - das hat der Kollege Anton Schaaf schon gesagt -, die Rentenansprüche rückwirkend ab 1997 auszuzahlen. Aber es gab Fehler. Kaum ein Beamter, kaum ein
Richter hat sich wirklich in die Materie hineinversetzt.
Wer es doch tat, wie zum Beispiel Jan-Robert von
Renesse, wurde unter anderem Opfer von Mobbing und
Schikane.
Über 90 Prozent der Anträge wurden damals abgelehnt, was wirklich ein Skandal war, ein Armutszeugnis
für Deutschland. Nach vielen Jahren sprach dann das
Bundessozialgericht endlich ein Machtwort, woraufhin
die Rentenkassen die Anträge neu überprüfen mussten.
7 000 Berechtigte überlebten diese Überprüfung übrigens nicht. Auch wenn es zynisch klingt, muss man sagen: Dazu ist es auch gekommen, weil hier verschleppt
wurde und weil man offensichtlich Geld sparen wollte.
Aber auch danach setzte sich das Unrecht leider fort.
Die Renten für noch 22 000 NS-Opfer wurden nicht, wie
einmal beschlossen, 1997, sondern erst ab 2005 ausgezahlt. Es fehlten über sieben Jahre. Meine Damen und
Herren von den Regierungsfraktionen, insbesondere
Herr Kolb, wenn Sie jetzt behaupten, durch den höheren
Zugangsfaktor werde der spätere Auszahlungsbeginn
ausgeglichen, ist das schlicht und einfach unwahr.
({2})
Denn dazu müssten die Betroffenen noch viele Jahre leben. Jeder hier im Raum weiß doch, dass 80- bis 90-Jährige einfach nicht mehr sehr viele Jahre leben werden.
Deswegen haben zum Beispiel die Sachverständigen in
der Anhörung sofortigen Handlungsbedarf gesehen. Es
geht zum Teil um Nachzahlungen von wenigen Tausend
Euro. Wir wissen, dass die soziale Situation von Überlebenden des Holocaust häufig prekär ist, und schon deswegen will die Linke eine zügige Lösung.
({3})
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten von
Ihnen allen, dass Sie diese Frage zu einer Gewissensfrage machen. Wollen Sie diese Menschen wirklich um
wenige Tausend Euro bringen, obwohl das ihre Rentenansprüche sind? Ich fordere Sie auf: Verweigern Sie sich
nicht den Anträgen der Opposition. Gewähren Sie den
Überlebenden ihre Rechte, und schließen Sie sich den
Anträgen von Linken und Grünen an. Es ist in der Tat
beschämend für dieses Haus - das ist hier von vielen
schon gesagt worden -, um diese wenigen Tausend Euro
zu feilschen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. - Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön,
Kollege Dr. Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir führen hier eine wirklich
schwierige Debatte, und wir führen sie intern schon seit
über einem Jahr. Die Geschichte des ZRBG ist von meinen Kollegen und von meiner Kollegin richtig beschrieben worden. Es ist wirklich beschämend, dass wir es
während der ganzen Zeit nicht hinbekommen haben,
eine Lösung zu finden. Es wäre dringend notwendig gewesen; das hat nicht zuletzt die Anhörung gezeigt. In der
Tat ist es so, dass niemand in der Anhörung bestritten
hat, dass es einen Handlungsbedarf gibt. Viele haben
sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass unbedingt
gehandelt werden muss.
Besonders beeindruckt hat mich Uri Chanoch vom
Center of Organizations of Holocaust Survivors in Israel. Er hat gesagt:
Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,
es ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-Insassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen und das ist einfach … Es ist wirklich nicht
viel. Ich bin jetzt 85, ich war 17 bei der Befreiung
… Wir haben alle Probleme, ein Überlebender ist
nie heraus von dort, das ist normal. Jeder Einzelne
hat einen Tick, hat schlechte Träume, schluckt Pillen, trotzdem haben sie geholfen und das Land aufgebaut, trotz alledem. Aber jetzt, wenn wir älter
sind, sind wir auch mehr krank. Um Gottes Willen,
ich habe nicht geglaubt, ich würde 85 alt werden …
macht das mit dem Termin 1997 und fertig. Und damit ist dann Schluss, mehr wollen wir nicht von
Euch. Wir bitten nur darum, dass das erledigt wird.
Es wäre möglich gewesen, das zu erledigen.
Ich bin dankbar für die Reden von Peter Weiß und
Heinrich Kolb. Peter Weiß hat gesagt: Es werden weiter
Gespräche geführt. Bei Heinrich Kolb habe ich herausgehört, dass die Tür noch nicht ganz zu ist. Er hat gesagt,
er beobachte weiter, was passiert. - Das klang in den
letzten Ausschusssitzungen ganz anders. Da hieß es: Wir
werden nichts machen. Die CDU/CSU-Fraktion hat am
Dienstag beschlossen, dass dafür nichts mehr gemacht
werden soll. - Das ist ein grober Fehler. Wenn die Tür
jetzt noch einen Spalt offen wäre, sei es auch nur einen
kleinen Spalt, würden wir das sehr begrüßen. Zu sagen,
wir machen nichts, wäre eine Schande, und das wäre für
uns als Parlament wirklich traurig.
({0})
Ich will noch auf ein Argument zurückkommen, das
schlicht falsch ist. Auch wenn es ein bisschen technisch
klingt: Es sind für die Betroffenen in den meisten Fällen
wenige Tausend Euro. Das ist aber für viele Menschen,
die in der Situation sind wie der Herr Chanoch, viel
Geld. Es wäre ein Stück Wiedergutmachung für das, was
passiert ist. Natürlich kann man die Verbrechen mit Geld
nie wiedergutmachen. Ich habe eben aber dargestellt,
wie wichtig den Menschen das aus Gerechtigkeitsgründen ist, selbst dann, wenn es nicht um eine materielle
Leistung ginge.
Es ist schon gesagt worden: „45 Prozent“, das bedeutet, dass jemand, der 1997 65 Jahre alt war, vom heutigen Zeitpunkt an noch mindestens acht Jahre leben
muss, damit die Lücke von 7,5 Jahren ausgeglichen ist.
Das mag für einen durchschnittlichen Menschen von
80 Jahren noch möglich sein - diese acht Jahre entsprechen der durchschnittlichen Restlebenserwartung in dem
Alter -, aber für Menschen, die im Getto gearbeitet haben, gilt das vielleicht nicht unbedingt.
Ich habe von jemandem gesprochen, der 1997
65 Jahre alt war. Er ist demnach Jahrgang 1932, war im
Getto also Kind. Die meisten waren älter. Nehmen wir
als Beispiel jemanden, der zehn Jahre älter ist. In dem
Fall betrüge der Zuschlag 1997 60 Prozent und 2005 sogar 105 Prozent; der Betroffene würde also das Doppelte
bekommen. Aber als jetzt 91-Jähriger würde er noch
15 Jahre leben müssen - 15 Jahre noch als jetzt 91-Jähriger! -, damit das wieder ausgeglichen wird. Das ist das,
was Sie den Menschen zumuten, wenn Sie nichts machen. Sie sagen einem 91-Jährigen: Du bekommst eine
höhere Rente, und wenn du noch 15 Jahre lebst, ist das
ausgeglichen. - Zu Recht fühlen sich die Menschen in
Israel und anderswo, die davon betroffen sind, hinters
Licht geführt und hintergangen.
Ich appelliere noch einmal an alle hier im Hause, dass
wir die Gespräche weiterführen. Gott sei Dank sehen das
einige in der CDU/CSU-Fraktion anders, als es bisher
offiziell klang.
Ich möchte mit einer Meldung schließen, die gestern
Nachmittag vom Evangelischen Pressedienst kam. In
dieser steht:
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen
({1}) reagierte zurückhaltend auf den Beschluss
im Sozialausschuss. Die Ministerin habe den Parlamentariern Vorschläge gemacht, wie das Problem
im Rentenrecht hätte gelöst werden können, sagte
ein Sprecher dem Evangelischen Pressedienst ({2}).
Die Unionsfraktion habe aber den Beschluss gefasst, nichts zu ändern, den NS-Opfern also keine
weiteren Zahlungen zu gewähren. Dieses Votum
respektiere die Ministerin.
Wir respektieren das nicht.
Ich appelliere noch einmal: Lassen Sie uns gemeinsam etwas tun als gerechten Ausgleich für die Menschen, die Gettorenten beanspruchen!
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. - Für
die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner unser
Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kollege Max
Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte ist sicherlich eine schwierige Herausforderung auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir um unsere Verantwortung wissen und wir dieser Verantwortung gerecht werden müssen, soweit dies möglich ist.
Erfahrenes Leid ist nicht mehr reparierbar. Auch das
muss man wissen. Es ist aber entscheidend, dass wir den
Betroffenen und überlebenden Menschen Unterstützung
geben. Ich glaube, dass die Bundesrepublik, dass der
deutsche Staat immer versucht hat, dem Rechnung zu
tragen, Frau Kollegin Jelpke. So haben wir versucht, für
die Zwangsarbeiter und deren Leid Entschädigungen,
soweit das möglich ist, zu leisten.
({0})
Dasselbe gilt auch für Arbeitsverhältnisse in Gettos, die
freiwillig eingegangen wurden und für die Entgelt gezahlt wurde, sicherlich unter unmenschlichen Bedingungen.
Aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts im Jahr 1997 - das war der Anlass - haben wir im
Jahr 2002 versucht, eine gemeinsame rentenrechtliche
Lösung zu finden. Es ist entscheidend, dies immer wieder darzulegen, weil in Pressemitteilungen bzw. Presseinformationen zu lesen war, man würde versuchen, sich
vor der Verantwortung zu drücken, und Rentnerinnen
und Rentnern berechtigte Rentenansprüche vorenthalten.
Sicherlich war die gesetzliche Regelung, die wir 2002
getroffen haben - meine Kolleginnen und Kollegen haben es schon dargestellt - lückenhaft und nicht vollendet
und hat unserem Geist nicht entsprochen. Strittige Fragen wurden dann durch die gerichtliche Entscheidung im
Jahr 2009 geklärt.
Ich möchte vorausschicken, dass es für die Rentenversicherungen und die Sozialversicherungsträger schwierige Rechtsfragen waren, diese Entscheidungen im Einzelfall zu treffen. Dann gab es die Entscheidung im Jahr
2009, die für die Klägerinnen und Kläger bedeutete, dass
sie rückwirkend ab 1. Juli 1997 Rente bekamen. Gleichzeitig wurden die abgelehnten Fälle - das haben meine
Kollegen ebenfalls schon angedeutet - aufgerollt; rund
21 500 von ihnen bekamen eine Rente ab 2005. Gleichzeitig wurde versucht, mit einem Anerkennungsbetrag
von 2 000 Euro, der für die ZRBG-Rentner ursprünglich
nicht vorgesehen war, diesen Umstand abzumildern und
auch der Zeitspanne zwischen dem 1. Juli des Jahres 1997
bis zum 1. Januar 2005 Rechnung zu tragen.
Meine Kolleginnen und Kollegen haben auch schon
darauf hingewiesen, dass es auch einen Höherwertungsfaktor gab. Ich danke dem Kollegen Strengmann-Kuhn
ausdrücklich dafür, dass er an einem Beispiel dargestellt
hat, dass es nicht generell 45 Prozent sind, sondern die
Höhe sich individuell - je nach Alter des betroffenen
Menschen - ergibt. In Ihrem Beispiel, Herr StrengmannKuhn, waren es 105 Prozent, was der doppelten Rente
gegenüber dem Renteneintritt zum 1. Juli 1997 entspricht.
({1})
- Nein, möglicherweise gegenüber dem 1. Januar 1997.
({2})
Insofern ist diese Höherwertung mit zu betrachten.
Deshalb komme ich nicht zu Ihrem Ergebnis, dass das
15 Jahre dauert,
({3})
sondern der Zeitraum ist kürzer.
In der Gesamtwertung aller Rentenleistungen, Herr
Strengmann-Kuhn, gibt es keine Minderauszahlungen.
({4})
- Nein, gibt es nicht.
({5})
Und das ist auch ein entscheidendes Merkmal.
Die Schwierigkeit besteht ja darin, dass, wenn Sie die
Renten auf den 1. Juli 1997 zurückrechnen, neue Ungerechtigkeiten entstehen und zukünftig grundsätzlich
niedrigere Renten gezahlt werden, als es gegenwärtig
der Fall ist. Ich bin der Meinung, dass es den betroffenen
Menschen nicht zumutbar ist, niedrigere Rentenzahlungen an sie zu leisten.
({6})
Ihrem Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liegt
aber zugrunde, dass es niedrigere Rentenleistungen geben wird.
({7})
Wenn wir ihnen ein Wahlrecht geben, ist das wiederum eine Ungerechtigkeit gegenüber den Rentnerinnen
und Rentnern, die bereits seit 1. Juli 1997 eine Rente beziehen, weil sie dieses Wahlrecht nicht ausüben könnten.
({8})
Das muss man auch sehen.
Wir haben uns diese Entscheidung hinsichtlich des
materiellen Aspekts nicht leicht gemacht; das dürfen Sie
uns glauben. Entscheidend in rechtlicher Hinsicht ist andererseits das Urteil des Bundessozialgerichts.
({9})
Bei allen Schwierigkeiten, die mit dieser Entscheidung
verbunden sind, möchte ich allerdings zum Ausdruck
bringen, dass wir weiterhin geschehenes Unrecht so weit
wie möglich aufarbeiten werden. Ich bitte Sie aber darum, auch den rechtlichen Rahmen der Rentengesetze
mit zu berücksichtigen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Der Kollege Max Straubinger war der letzte Redner in
unserer Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/12870.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/10094 mit dem Titel „Rentenzahlungen
für Beschäftigungen in einem Getto rückwirkend ab
1997 ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung
ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7985 mit dem Titel „Renten für Leistungsberechtigte des Getto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997
nachträglich auszahlen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft
- Drucksache 17/12034 28910
Vizepräsident Eduard Oswald
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/12879 Berichterstattung:Abgeordnete Armin Schuster ({1})Michael Hartmann ({2})Gisela PiltzUlla JelpkeDr. Konstantin von Notz
Darf ich Sie bitten, den Wechsel zu vollziehen?
({3})
Insgesamt haben wir vereinbart, für die Aussprache
eine halbe Stunde vorzusehen. Alle sind damit einverstanden? - Dann haben wir dies so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege Armin
Schuster.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bestandsdaten - ein ziemlich trockener Begriff, den
ich zunächst zum besseren Verständnis erklären möchte.
Unter Bestandsdaten verstehen wir Kundendaten wie
zum Beispiel eine Telefonnummer und die dazugehörigen Namen und Adressen, E-Mail-Adressen oder andere
sogenannte Anschlusserkennungen. Für Ermittlungsbehörden können diese Bestandsdaten im Rahmen der
Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung von entscheidendem Wert sein. Dabei kommt es oft auch auf Schnelligkeit an.
Ein Beispiel. In einer Mordermittlung stellt die Polizei fest, dass beim Opfer zuletzt Anrufe mit drei verschiedenen Telefonnummern eingegangen sind. Die entsprechenden Anrufer könnten sowohl wichtige Zeugen
als auch Verdächtige sein. Um diese Spur verfolgen zu
können, benötigt man zu den Telefonnummern die zugehörigen Namen. Es erfolgt also eine Bestandsdatenanfrage beim jeweiligen Telefondienstanbieter, der schon
heute unter bestimmten Voraussetzungen dazu verpflichtet wäre, diese Kundendaten an bestimmte Bundes- oder
Landesbehörden herauszugeben.
Geschätzte Kollegen aus dem Innenausschuss, ich
weiß: Das Beispiel langweilt Sie vielleicht ein bisschen.
({0})
Aber ich hatte bei der Berichterstattung, in den Diskussionen, ja sogar bei der Anhörung den Eindruck, dass der
Unterschied zwischen Bestandsdaten und Vorratsdaten
nicht allen klar war. Deswegen möchte ich noch einmal
sagen: Bei der Bestandsdatenauskunft, die wir heute besprechen, findet keine retrograde Verkehrsdatenübermittlung statt. Diese Klarstellung halte ich für wichtig.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen
Jahr die bisher geltenden Regelungen zur Bestandsdatenauskunft im Telekommunikationsgesetz für teilweise
verfassungswidrig erklärt. Übrigens: Die Richter haben
Passagen eines Gesetzes kassiert, das aus der Feder von
Rot-Grün stammt.
({2})
Das sage ich nicht, weil ich diese Regelung prinzipiell
kritisiere, sondern weil in der öffentlichen Diskussion,
vielleicht auch bei der einen oder anderen Rede, die nach
meiner folgt, der Eindruck entstehen könnte, dass die
Union wieder einmal neue Überwachungsregeln manifestieren will.
({3})
Meine Damen und Herren, diese Regelung wollte ursprünglich Bundesminister Otto Schily von der SPD. Er
hat sie bekommen. Das war auch richtig. Er hat sie halt
nicht gut genug gemacht; und das korrigieren wir heute.
({4})
Was genau hat das Gericht bemängelt? - Ermittler interessieren sich für die Inhaber dynamischer IP-Adressen. Die Zuordnung von IP-Adressen zu Kundendaten
gehört zur Bestandsdatenauskunft. Bedingung ist aber,
dass diese Daten nicht ausdrücklich dafür gespeichert
werden müssen, sondern ohnehin vorhanden sind, und
dass keine Verkehrsdaten abgefragt werden dürfen. Die
Richter erklärten jetzt, dass die bisherige Vorschrift des
§ 113 Telekommunikationsgesetz nicht für die Zuordnung dynamischer IP-Adressen angewendet werden
darf. Auch Zugangssicherungscodes wie Passwörter,
PINs und PUKs können Ermittler abfragen. Hier muss
laut Verfassungsgerichtsurteil klargestellt sein, dass Auskünfte nur erteilt werden dürfen, wenn die gesetzlichen
Voraussetzungen für ihre Nutzung gegeben sind.
Die Richter haben uns aufgetragen, ein sogenanntes
Doppeltürprinzip zu verankern. Das heißt, die eigentlichen Erhebungsbefugnisse sind nach diesem Urteil abhängig vom Anfragezweck jeweils spezifisch in den
Fachgesetzen zu regeln; das gibt es bisher so nicht. Das
geforderte Doppeltürprinzip ist umgesetzt, indem sich
im Telekommunikationsgesetz die Regelungen zur
Übermittlung finden - das ist die erste Tür - und in den
Fachgesetzen die Abrufnorm verankert wird - das ist die
zweite Tür.
({5})
- Ich danke Ihnen, Herr Dr. von Notz. Ich liebe solche
Reden.
Armin Schuster ({6})
In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf beschreiben wir also im TKG die Speicherpflichten der Anbieter
und die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen zur
Übermittlung von Daten. Alle weiteren Regelungen, insbesondere solche, die die Bedingungen der Abfrage von
Bestandsdaten betreffen, finden sich in den Fachgesetzen, also beispielsweise StPO, BKA-Gesetz, Bundespolizeigesetz, wieder. Die Länder werden anschließend
vergleichbare Normen auch in ihren Fachgesetzen zu
verankern haben.
Meine Damen und Herren, im ursprünglichen Regierungsentwurf waren all diese Erfordernisse des Urteils
bereits umgesetzt worden. Das wurde in der öffentlichen
Anhörung durch das Gutachten von Professor
Dr. Schwarz eindrücklich bestätigt.
({7})
Gleichwohl haben wir im gemeinsamen Änderungsantrag der Koalition mit der SPD-Fraktion noch einige
Punkte aufgenommen, die unseres Erachtens zwar nicht
verfassungsrechtlich erforderlich sind, die sich aber im
Laufe der Diskussion in der Koalition und mit der Opposition als rechtspolitisch wünschenswert herauskristallisiert haben.
({8})
Das BMI, dem ich für die konstruktive Begleitung des
parlamentarischen Verfahrens besonders danken möchte,
hat einen Regierungsentwurf vorgelegt, der der Lesart
der Unionsfraktionen entsprach - logisch. Wir hatten
dann eine öffentliche Anhörung, in der uns die Sachverständigen die verfassungsrechtlich notwendige Weiterentwicklung attestierten, allerdings einige Gutachter darüber hinausgehende Wünsche formulierten. Wir haben
dann unseren Entwurf zusammen mit den Kolleginnen
und Kollegen der FDP weiterentwickelt. Dann haben wir
im Lichte des öffentlichen Interesses an diesem Thema
und der Bedeutung für die anschließende Ländergesetzgebung SPD und Grüne mit an den Tisch geholt und
wiederum weitere Veränderungen auf Wunsch der SPDFraktion mit eingebunden. Viel mehr Qualität in einem
parlamentarischen Beratungsverfahren geht wirklich
nicht.
({9})
Die SPD kam gestern im Ausschuss allerdings zu der
bemerkenswert überheblichen Bewertung, ohne sie wäre
es nicht gegangen. Herr Hartmann, so etwas passt zu Ihrem Kandidaten, aber nicht zu Ihnen. Insofern nehmen
wir es in Ihrem Fall mit Humor zur Kenntnis.
({10})
Wir haben also gegenüber dem Regierungsentwurf
noch einmal zusätzlich klargestellt, dass die Abfragen
nur im Einzelfall zum Zweck der Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit bzw. zur Erfüllung
der gesetzlichen Aufgaben erlaubt sind. Es wird ausdrücklich verankert, welche Behörden abfrageberechtigt
sind. Die Provider hatten befürchtet, dass sie zukünftig
die materiellen Voraussetzungen einer Anfrage prüfen
müssen. Auch das haben wir ausgeräumt. Ganz wichtig:
Aufgrund der heute nicht vollständig übersehbaren Wirkung der technischen Umstellung von IPv4 auf IPv6 haben wir der Regierung eine Berichtspflicht zum 31. Dezember 2015 aufgegeben.
Für die Abfrage von Bestandsdaten zu dynamischen
IP-Adressen haben wir eine Benachrichtigungspflicht
und den Richtervorbehalt verankert, und wir haben klargestellt, dass immer nur die Daten zu einer IP-Adresse
anhand eines konkreten Zeitpunkts abgefragt werden
können. Auch für die Abfrage von Zugangssicherungscodes haben wir einen Richtervorbehalt implementiert,
und zwar um auszuschließen, dass ein heimlicher Zugriff auf Daten des Betroffenen ohne richterliche Zustimmung erfolgt. Das heißt: Nur für den Fall, dass der
Betroffene nichts davon erfährt bzw. erfahren haben
könnte oder dass nicht ohnehin ein Beschlagnahmebeschluss für die gesicherten Daten vorliegt, greift dieser
Richtervorbehalt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich gebe zu:
Diese Vorschrift sehe ich mit gemischten Gefühlen. Ich
habe lange hinhaltende Abwehr geleistet. In der gestrigen Debatte im Innenausschuss hat der Kollege
Hartmann sehr richtig die Befürchtung mancher Fachleute dargelegt, dass wir damit einer Entwertung richterlicher Beschlüsse Vorschub leisten könnten. Sie haben
sich dieser Befürchtung zwar dann nicht angeschlossen,
aber ich weiß, dass die Richterinnen und Richter keinen
Wert darauf legen, eine weitere Prüfaufgabe übertragen
zu bekommen, vor allem, weil zu befürchten ist, dass die
Kontrolle aus rein quantitativen Gründen ins Leere laufen könnte. Es kann ja nicht darum gehen, dass ein Richter seine Unterschrift quasi automatisch unter eine Anordnung setzt.
({11})
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern:
Als das Land Niedersachsen im Jahr 2010 den Richtervorbehalt bei Blutentnahmen im Wege einer Bundesratsinitiative streichen wollte, hatte der Deutsche Richterbund dies ausdrücklich begrüßt. Begründung - ich
zitiere -:
Richtervorbehalte sichern die Rechtsförmigkeit des
Verfahrens zum Schutze der Betroffenen und sind
bei der Anordnung bedeutender Zwangsmaßnahmen im Strafprozess wie Freiheitsentziehungen,
Durchsuchungen oder heimlichen Überwachungsmaßnahmen unverzichtbar.
Weiter heißt es:
Eine richterliche Anordnung hat jedoch nur dann
einen rechtsstaatlichen Mehrwert, wenn eine eigen28912
Armin Schuster ({12})
ständige, gründliche Prüfung des Sachverhalts
möglich ist.
({13})
Wer über alle einzelnen Maßnahmen geradezu inflationär das Instrument des Richtervorbehaltes ausgießt,
entwertet unter Umständen diesen und handelt damit
eventuell auch unverhältnismäßig.
({14})
Es wird so getan, als ob alle Maßnahmen gleichermaßen
einhegungsbedürftig seien. Das ist aber nicht der Fall.
Die Erlangung einer PIN oder eines PUK ist allein eine
Hilfsmaßnahme, um eine bestimmte technische Hürde
zu überwinden, die vor der eigentlichen Maßnahme
steht, also ein verhältnismäßig geringer Eingriff. Das hat
auch das Verfassungsgericht so gesehen. Für die Zulässigkeit der eigentlichen Maßnahme danach bleibt es bei
den einschlägigen Anforderungen.
Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, haben wir lange darüber diskutiert - auch wegen mir -, ob
es wirklich sinnvoll ist, einen generellen Richtervorbehalt bei PIN- und PUK-Abfragen zu implementieren.
Wir haben jetzt einen Kompromiss gefunden, mit dem
alle leben können und der eine oder andere auch wird leben müssen. Ich bin gespannt, wie die Länder das umsetzen. Das wird interessant werden. Zugegeben, es waren
harte Verhandlungen, aber ich danke besonders Frau
Piltz und dem Kollegen Hartmann für die konstruktive
gemeinsame Arbeit.
Traurig sieht dagegen das aus, was wir mit den Grünen in puncto Zusammenarbeit erleben durften. Immerhin waren sie 2004 Mitautoren der Ursprungsregelung.
Wir haben ihnen im Sinne eines hohen Grundrechtsschutzes in der Verhandlung viele offene Türen angeboten. Sie haben sich allen Vorschlägen versperrt, wahrscheinlich rein aus Prinzip.
({15})
Das jetzt vorliegende Vorhaben geht in Sachen rechtsstaatliche Schutzmechanismen weit über das hinaus, was
sie selbst seinerzeit als notwendig erachtet haben.
Wir haben ernsthaft um ein sensibles, gesellschaftsrelevantes Thema gerungen und einen sinnvollen Interessenausgleich zwischen Datenschützern, Bürgern, Netzgemeinde,
Richtern und Ermittlern gefunden. Die Unionsfraktion ist sicher die Partei der inneren Sicherheit, also die Fraktion, die
sich besonders für die Belange von Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern einsetzt. Gleichwohl haben wir es
mit unserem Koalitionspartner und mit der SPD geschafft, das weite Meinungsspektrum dieser Gesellschaft
zu diesem Thema auszubalancieren und adäquat in einer
Regelung abzubilden. Insoweit war das anspruchsvoll
und spannend. Als Volkspartei muss man so etwas können. Wir haben es gekonnt, und deshalb bitte ich Sie
ziemlich überzeugt und fröhlich um Zustimmung.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt ein oftmals fast reflexhaftes Agieren und
Diskutieren, wenn es um Sicherheitsgesetze geht. Kaum
fallen Begriffe, die mit Datenübermittlung an den Staat
bzw. an Sicherheitsbehörden zu tun haben, so sagen die
einen: „Es reicht nicht; es muss viel mehr sein“, und die
anderen sagen: „Die völlige Ausspähung der Bürgerinnen und Bürger beginnt.“ Beides ist nicht zutreffend,
weder bei dem Entwurf dieses Gesetzes noch bei anderen Gesetzen. Am Schluss kommt es doch darauf an,
dass wir in der uns immer verpflichtenden Abwägung
zwischen legitimen Sicherheitsinteressen und bürgerlichen Freiheitsrechten die Stange so halten, dass man von
dem Seil nicht zu der einen oder anderen Seite hin abrutscht. Das ist jetzt gelungen. Deshalb wird die SPDFraktion - ich darf das gleich zu Beginn sagen - diesem
Gesetzentwurf schließlich und endlich zustimmen.
Ich habe größtes Verständnis dafür, wenn kritische
Bürgerinnen und Bürger, wenn Initiativen und Vereine
mit größter Aufmerksamkeit und auch größtem Misstrauen beobachten, was im Parlament diskutiert wird,
wenn es um Sicherheitsgesetze geht. Ich habe allerdings
kein Verständnis, wenn sofort Hysterie ausbricht, sobald
das Stichwort „Datenübermittlung an Sicherheitsbehörden“ fällt, und man mit unglaublichen, mittlerweile aber
populär gewordenen Beschimpfungen alle überzieht und
sagt, sie seien Verräter an der guten Sache, ja, sogar der
Verfassung, weil sie für ein Sicherheitsgesetz stimmen.
Meine Damen und Herren, heute reden wir über das
Handwerkszeug, das Polizei und Sicherheitsbehörden im
Bund und in den Ländern, auch in den von Rot-Grün regierten Ländern, brauchen, um ihre Arbeit zu bewältigen.
Das Verfassungsgericht hat uns mit auf den Weg gegeben, das Ganze besser zu machen. Das Verfassungsgericht hat aber an keiner Stelle, zu keinem Zeitpunkt gesagt, das Gesetz sei nicht geeignet, es verletze das
Übermaßverbot oder Ähnliches. Nein, man hat Normenklarheit verlangt. Mit dem, was meiner Meinung nach
wesentlich von uns gemeinsam mit Ihnen verhandelt
wurde, sind diese Normenklarheit und damit die Verfassungsfestigkeit des Gesetzes jetzt endlich gegeben.
({0})
Wir bewegen uns in einem sensiblen Bereich. Daher
sollte man sich einmal genau anschauen, wann diese Bestandsdatenabfrage tatsächlich erforderlich ist, wann sie
Michael Hartmann ({1})
benötigt wird. Es geht zum Beispiel um den Fall, dass
gedroht wird, eine Trinkwasseranlage zu verseuchen. Es
geht um angekündigten Selbstmord. Es geht um Missbrauch von Kindern. Es geht um einen angedrohten
Amoklauf an einer Schule. So ließe sich die Liste fortsetzen. Das heißt, wenn wir der Polizei in diesen Fällen
den Zugriff auf die Bestandsdaten nicht ermöglichen, ist
es weder im Bereich der Gefahrenabwehr noch im Bereich der Strafverfolgung möglich, voranzukommen.
Deshalb brauchen wir dieses Gesetz. Ich hoffe, dass es in
diesem Hause niemanden gibt - egal ob man zustimmt
oder ablehnt -, der sagt: Nein, wir dürfen der Polizei, wir
dürfen den Sicherheitsbehörden diese Kompetenz grundsätzlich nicht geben.
({2})
Das Verfassungsgericht verlangt von uns Normenklarheit. Seitens der Koalition ist, wie immer, wenn es
um Sicherheitsfragen geht, lange Zeit nichts passiert.
Weil die Zeit knapp wurde - bis zum 1. Juli 2013 müssen die Gesetze in Kraft sein, weil es sonst keine Möglichkeit der Bestandsdatenauskunft mehr gibt -, legte die
Koalition dann einen Gesetzentwurf vor, dem wir nie
und nimmer hätten zustimmen können, weil das, was das
Verfassungsgericht verlangt, und das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern schulden, mit diesem Gesetzentwurf nicht geleistet wurde. Die Rechte für die Polizei,
die wir auch wollen, wurden zwar festgeschrieben, aber
es wurden keine Sicherungen eingebaut. Für uns gilt
jetzt und in Zukunft bei allen Sicherheitsgesetzen: Wenn
Polizei und Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse erhalten, dann muss es auch Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten geben. Das ist der rote Faden, an dem wir
uns dabei orientieren.
({3})
Wir sind in den Verhandlungen, die in der Tat nicht
einfach, aber, Herr Schuster und Frau Piltz, wirklich von
Kollegialität getragen waren, so weit gekommen, dass
wir jetzt nicht nur die Anforderungen des Verfassungsgerichts erfüllen, sondern sie sogar übererfüllen. Das ist
ein gutes Zeichen: Wir machen nicht nur das minimal
Mögliche, sondern gehen im Interesse der Bürgerrechte
sogar weit darüber hinaus. Der Rechtsschutz wurde ausgeweitet. Jetzt stehen Mitteilungspflichten, die in dem
abgestimmten Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen
nicht enthalten waren, im Gesetzentwurf, der Richtervorbehalt wird eingeführt, und es ist ein Bericht zur Entwicklung bei den festen IP-Adressen vorzulegen. All das
sind Standards, die über die Forderungen des Verfassungsgerichts hinausgehen. Sie sind aber dringend geboten, um dem Misstrauen einer berechtigterweise kritischen Öffentlichkeit zu begegnen, aber auch, um zu
zeigen, dass der Gesetzgeber sehr darauf achtet, dass bei
Sicherheitsgesetzen das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Die Länder warten händeringend auf das Gesetz. Deshalb müssen wir es nach gründlicher Beratung jetzt
schnellstens auf den Weg bringen. Wir als Oppositionsfraktion haben unsere Bereitschaft zu Verhandlungen
auch deshalb erklärt, weil wir sehr wohl wissen, dass
dieses Gesetz - Herr Schuster, das sagen Sie völlig zu
Recht - aus der Zeit von Rot-Grün stammt. Insofern sehen wir uns auch als Opposition in der Verantwortung
und in der Kontinuität, für die Sicherheit unseres Landes
zu sorgen, statt uns einfach davonzustehlen und irgendwo billigen Applaus zu holen.
Ich bin froh, dass es gelungen ist, gemeinschaftlich zu
verhandeln und, auch aufseiten der Koalition, einen Gesetzentwurf noch einmal aufzubohren, der eigentlich
endabgestimmt war. Das ist in der Tat ein gutes Beispiel
für parlamentarische Zusammenarbeit. Wir haben uns
nichts geschenkt; aber wir haben aus einem Gesetzentwurf, der nicht gut war, einen guten gemacht. Mit Verlaub: Das hat schon ein bisschen damit zu tun, dass Sozialdemokraten am Tisch saßen und mit verhandelt
haben.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Gisela
Piltz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hartmann, am Ende zählt vielleicht, dass wir alle
gemeinsam ein Gesetz, das auch wir so nicht hätten mittragen können, besser gemacht haben. So gesehen machen Sie Ihrem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden alle
Ehre: Es kommt kein Gesetz so aus dem Bundestag heraus, wie es hineingegangen ist.
Ich möchte mich zu Beginn ganz herzlich beim BMI,
bei den Berichterstattern, aber auch bei unseren Mitarbeitern bedanken. Das waren konstruktive Verhandlungen. Ich bin sehr froh, dass uns das gelungen ist. Es ist
schön, wenn sich einmal alle Väter und Mütter darum
streiten, wer eigentlich den größten Anteil hatte. Im Ergebnis haben wir es geschafft, mehr Bürgerrechte durchzusetzen. Ich glaube, das ist die gute Nachricht des
Abends.
({0})
Wir haben gemerkt, dass es - das haben Sie zu Recht
gesagt - Wörter gibt, die quasi Pawlow’sche Reflexe
auslösen. „Bestandsdatenauskunft“ ist so ein Wort. Ich
gebe gerne zu, dass ich früher durchaus ein Gruseln unterdrücken musste, wenn ich das Wort hörte. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf hat das aber deutlich nachgelassen.
({1})
- Herr von Notz, Sie haben es immer noch nicht begriffen. Das tut mir echt leid.
({2})
Das klingt nach Überwachungsstaat und nach Schnüffelei im Internet. Dann noch dazu eine verfassungswidrige
Norm: Das muss schrecklich sein. Da muss man sich
schon mit der Materie beschäftigen. Das haben Sie,
glaube ich, nicht gemacht.
Um klarzumachen, worum es eigentlich geht: Es geht
eben gerade nicht um Verkehrsdaten, sondern es geht um
Bestandsdaten. Mit der Logik mancher Kolleginnen und
Kollegen im Haus dürften Sie auch nicht im Telefonbuch
eine Telefonnummer nachschauen. Auch dürften Sie
nicht checken, wem ein Kennzeichen gehört. Das alles
sind einfache Bestandsdatenauskünfte. Es geht eben gerade nicht darum, wer mit wem telefoniert hat und wer
wie lange auf welcher Homepage war. Das wären Vorratsdatenspeicherungen, die wir weiter ablehnen. Bestandsdaten aber sind in unserem Rechtsstaat unerlässlich für die Verfolgung von Straftaten.
({3})
Weiterhin geht es um die Frage, wem eine dynamische IP-Adresse zu einem - ich betone: einem - bestimmten Zeitpunkt zugeordnet war. Da wird es schon
heikel, weil hier der Schutzbereich von Art. 10 des
Grundgesetzes berührt ist.
Schließlich geht es um Zugangssicherungsdaten, sofern diese überhaupt beim Provider vorliegen, also um wie wir alle gelernt haben - PINs, PUKs und Passwörter.
Das sind natürlich höchst sensible Daten. Deshalb haben
wir für diese Daten auch rechtsstaatliche Sicherungen
eingezogen.
Jetzt, wo deutlich geworden ist, worum es geht, sind
wir uns, glaube ich, alle klar darüber, dass es weiterhin
solche Bestandsdaten geben muss. Auch das haben
meine Kollegen vorhin schon gesagt.
({4})
Für uns war aber auch klar, dass der Staat einen Zugriff
- natürlich keinen unbegrenzten - auf solche Daten haben darf. Diese Grenzen haben wir, die Fraktionen, in
dieses Gesetz eingezogen. Das fängt damit an, dass Daten überhaupt nur dann vom Provider übermittelt werden
dürfen, wenn diese zu Zwecken der Strafverfolgung, der
Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, zur Gefahrenabwehr oder zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der
Nachrichtendienste abgefragt werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon sehr klar
dargestellt, dass mit dieser Eingrenzung Abfragen „ins
Blaue hinein“ - es wird oft behauptet, dass dies geschehen könne - nicht möglich sind. Damit ist klar: Polizei
und Staatsanwaltschaften können nicht einfach Bestandsdaten abfragen, insbesondere nicht im Vorfeld
konkreter Gefahren.
Weil das in der öffentlichen Diskussion war, gebe ich
hier - insbesondere für den Kollegen von Notz - noch
eine Erläuterung zu den Ordnungswidrigkeiten. Ich habe
das auch im Ausschuss schon gemacht. Wer so tut, als ob
Ordnungswidrigkeiten Lappalien wären, hat den Rechtsstaat nicht verstanden.
({5})
Es gibt Ordnungswidrigkeiten, die mit hohen Bußgeldsummen bewehrt sind,
({6})
insbesondere im Umweltbereich. Schönen Gruß an die
eigenen Kollegen!
({7})
- Ich kann das gut. Wenn Sie das nicht können, ist das
nicht mein Problem.
({8})
Das gilt aber auch für den Datenhandel. Beim Datenhandel zum Beispiel braucht man vielleicht die dynamische
IP-Adresse. Wenn man sie nicht bekommt, kann man die
entsprechende Ordnungswidrigkeit nicht verfolgen.
Wenn man heutzutage die dynamische IP-Adresse abfragen würde, würde jeder, der davon betroffen ist, wenigstens im Nachhinein benachrichtigt. Als Sie noch regiert
haben, haben Sie darüber nicht einmal nachgedacht.
({9})
Es gab keine nachträgliche Benachrichtigungspflicht.
Das heißt, wir machen den Rechtsstaat hier besser, nicht
Sie.
({10})
Ehrlich gesagt, habe ich auch von den Grünen noch
keinen Aufschrei gehört, wenn ein Kennzeichen als Bestandsdatum für eine Verkehrsordnungswidrigkeit, die
mit einem Bußgeld von 5 Euro bewehrt ist, abgerufen
wird. Ich habe von Ihnen noch nie gehört, dass Sie sich
dagegen wehren.
({11})
Von daher finde ich, Sie sollten sich gut überlegen, was
Sie hier tun.
Wir haben den § 113 TKG noch einmal neu gefasst.
Das war auch ein Ergebnis der Anhörung. Wenn es immer wieder heißt, Anhörungen würden nichts bringen,
kann ich für meine Fraktion sagen: Uns hat die Anhörung doch noch einen Erkenntnisgewinn gebracht, den
wir auch umgesetzt haben. Wir haben insofern rechtsstaatliche Hürden eingezogen, als es einen Richtervorbehalt oder eine Benachrichtigungspflicht geben soll. Für
uns ist auch immer sehr wichtig, dass wir keine neuen
Befugnisse schaffen. Wer etwas anderes sagt, hat den
Gesetzentwurf nicht verstanden.
Von daher kann ich nur sagen: Wir sind sehr gespannt,
wie sich die Länder, in denen Sie an der Regierung beteiligt sind, verhalten werden. Denn eins ist klar: Nicht nur
der Bund muss seine Sicherheitsgesetze ändern, sondern
auch alle Länder müssen ihre Sicherheitsgesetze ändern.
({12})
Wir haben in unserem Gesetzentwurf hohe rechtsstaatliche Hürden vorgesehen. Ich würde mich freuen, wenn
dem alle Länder folgen würden. Ich glaube aber, sie werden es nicht tun. Wir werden sehr genau verfolgen, Herr
von Notz, ob insbesondere die Grünen nur aufschreien
oder ob sie tatsächlich etwas für den Rechtsstaat tun.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Jan
Korte das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal, liebe Kollegin Piltz, lieber Kollege
Hartmann: Ich finde, es ist eine sehr gesunde Entwicklung, dass es bei vielen Bürgerinnen und Bürgern einen
Reflex - von mir aus auch einen Pawlow’schen Reflex auslöst, wenn wir im Bundestag über Bürgerrechte und
Daten diskutieren. Es ist eine gute Entwicklung, dass die
Leute im Hinblick auf das, worüber wir hier diskutieren,
skeptisch sind. Das ist eine hervorragende Entwicklung,
die ich außerordentlich begrüße.
({0})
Nun ist es so: In der Tat ist der Gesetzentwurf, der
heute vorliegt, besser als der Gesetzentwurf, der vorher
vorgelegen hat. Aber er ist deswegen leider noch immer
nicht gut. Liebe Kollegin Piltz, die Kernfrage lautet
doch: Wann rückt man was heraus, und unter welchen
Auflagen tut man das?
({1})
Hier gibt es zwischen uns einen Dissens, was den heute
vorliegenden Gesetzentwurf angeht. Denn - das haben
Sie richtig gesagt - es geht bei PINs, IP-Adressen und
PUKs in der Tat um sehr sensible Daten. Es geht aber
auch um die Frage: Wie regeln wir den Zugriff, den die
Sicherheitsbehörden darauf haben möchten, und zwar
logischerweise in großem Umfang? Richtig ist auch: Das
Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass eine allgemeine Auskunftspflicht verfassungskonform ist. Deswegen diskutieren wir heute über die Ausgestaltung. Da
liegt der Dissens.
Die nächste Anmerkung, die ich machen will. Wenn
eine ganz große Koalition in diesem Haus, also CDU/
CSU und SPD - das muss einen schon skeptisch
machen - zusammen mit der FDP einen Gesetzentwurf
zur inneren Sicherheit hochjubelt, sind größte Vorsicht
und Skepsis geboten.
({2})
Deswegen schrillen bei allen, die sich mit diesem Thema
beschäftigen, die Alarmglocken.
({3})
Nun konkret zu einigen Punkten:
Punkt eins: der hochgerühmte Richtervorbehalt, zum
Beispiel im Hinblick auf PINs und PUKs.
({4})
Er ist in der Tat ein Fortschritt dieses Gesetzentwurfs.
({5})
Aber diese Regelung ist nicht einmal ansatzweise ausreichend, zumal diese Anordnung bei Gefahr im Verzug bekanntermaßen - so steht es im Gesetzentwurf - durch einen Staatsanwalt oder einen Polizeibeamten erfolgen
kann und dann eine nachträgliche Benachrichtigung
stattfinden muss.
({6})
Das geht an der Realität völlig vorbei. Das bedeutet
nämlich konkret die Aushebelung des Richtervorbehalts.
Das kritisieren wir.
({7})
- Ich sage dazu etwas, Kollege Hartmann.
Zweiter Punkt: die Benachrichtigungspflicht. In der
Anhörung war klar: Eine Benachrichtigungspflicht muss
es bei allen Eingriffen geben. Vorgesehen ist aber eine
Einschränkung der Benachrichtigungspflicht - ich darf
aus dem Gesetzentwurf zitieren -:
Die Benachrichtigung erfolgt, soweit und sobald
hierdurch der Zweck der Auskunft nicht vereitelt
wird. Sie unterbleibt, wenn ihr überwiegende
schutzwürdige Belange Dritter oder der betroffenen
Person selbst entgegenstehen.
Übersetzt bedeutet das nichts anderes, als dass es real
zu fast gar keinen Benachrichtigungen kommen wird;
denn diese Formulierung lässt sich immer so interpretieren, dass nicht benachrichtigt werden muss. Das muss
kritisiert werden.
({8})
Übersetzung ist also notwendig bei den schönen Worten,
die Sie hier vorgelegt haben, um das Ganze zu verschleiern.
Dritter Punkt: Die Abfrage von Kommunikationsdaten ist bei allen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten
möglich. Da müssen wir einmal festhalten, dass es krass
unverhältnismäßig ist bei solch sensiblen Daten, damit
Ordnungswidrigkeiten aller Art zu verfolgen. Das kann
hier doch nicht allen Ernstes als fortschrittlich verkauft
werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
- Lieber Kollege Hartmann, man hätte - wie es in der
Sachverständigenanhörung vorgeschlagen wurde; ich
glaube, dieser Vorschlag kam sogar von Ihren Sachverständigen - im Falle der Ordnungswidrigkeiten zumindest konkret etwas aufführen können; aber das ist leider
nicht geschehen.
Vierter Punkt. Durch die Kompetenzen, die hier eingeräumt werden, wird das BKA weiter zu einer allumfassenden Internetpolizei ausgebaut.
({10})
- Das ist eindeutig so. - Auch das ist zu kritisieren. Das
wollen wir nicht.
({11})
Ich fasse zusammen: Was die ganz große Koalition
hier vorgelegt hat und mit großem Brimborium als eine
Verbesserung verkauft, ist, um es einmal in der extremsten Form diplomatisch auszudrücken, Augenwischerei.
({12})
Es ist eine Ausweitung von Überwachungsbefugnissen.
Wir brauchen aber eine massive Beschränkung und Einschränkung von Überwachungsbefugnissen. Deswegen
wird die Fraktion Die Linke diesen Gesetzentwurf
selbstverständlich ganz deutlich ablehnen.
Schönen Dank.
({13})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Dr. Konstantin von Notz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Debatte am späten Abend mutet wirklich
merkwürdig an. Erst hat die Koalition trotz des drohenden Ablaufs der Frist, die das Bundesverfassungsgericht
gesetzt hat, monatelang wichtige Zeit verstreichen lassen, dann hat sie hier in den letzten Tagen einmal mehr
mit heißester Nadel eine ungenügende Gesetzesänderung zusammengestrickt. Jetzt zanken sich SPD, FDP
und Union, wer denn nun den Hauptanteil an dieser fragwürdigen Vorlage hat.
({0})
An Ihre jeweilige Verantwortlichkeit - das kann ich Ihnen heute zusichern - werden wir Sie erinnern, wenn
diese Regelung in Karlsruhe schon bald erneut geprüft
wird, meine Damen und Herren.
({1})
Tatsächlich bringen Sie einen Entwurf ein, durch den
der Grundrechtsschutz nicht erhöht, sondern abgesenkt
wird. Sie erweitern - Frau Piltz, Sie wissen das - die Befugnisse der Sicherheitsbehörden, anstatt sie zu begrenzen.
({2})
Weder das BKA noch das Zollkriminalamt hatten bislang eigenständige, allein auf ihre Zentralstellenfunktion
gestützte Zugriffsbefugnisse. Jetzt bekommen sie sie.
Mit Verdacht oder Gefahr hat das aber auch gar nichts zu
tun. Das ist das Vorfeld des Gefahrenvorfelds. Das gefällt Herrn Uhl bestimmt; aber Ihnen kann das doch
kaum gefallen, Frau Piltz.
({3})
Die nachträgliche Benachrichtigungspflicht, auf die
Sie sich hier berufen, ist nicht einmal ein Feigenblatt; sie
ist die nahezu schwächste Form des Grundrechtsschutzes durch Verfahren.
({4})
Diese Benachrichtigungspflicht läuft, wie etwa bei den
millionenfachen Funkzellenabfragen in Berlin und Dresden, in der Regel ins Leere; der Kollege Korte hat es Ihnen eben erklärt.
({5})
Ähnlich ist es mit dem Richtervorbehalt.
({6})
Der Sachverständige Professor Bäcker - Ihr Sachverständiger, Frau Piltz - hat völlig zu Recht die wachsende
Skepsis der Rechtswissenschaft gegenüber dem Instrument des Richtervorbehalts zum Ausdruck gebracht.
({7})
Gleichzeitig hat er die Bedeutung des Richtervorbehalts
für das Telekommunikationsgeheimnis betont. Er hat
recht: Hier müssen wir den Richtervorbehalt stärken.
SPD, Union und FDP halten den Richtervorbehalt
ausschließlich für PIN- und PUK-Abfragen für angebracht. Das ist zwar ein richtiger Schritt, Herr Kollege
Hartmann; aber er ist eben zu kurz. Der Zugriff auf dynamische IP-Adressen hätte ebenfalls unter den Richtervorbehalt gestellt werden müssen - aber unter einen, der
den Namen auch verdient.
Schließlich: Auch die vom Berliner Datenschutzbeauftragten dringend angeratene unabhängige Evaluation
schlagen Sie aus, Frau Piltz. Wir haben eine Beobachtungspflicht zum Schutz dieses zentralen Grundrechts,
({8})
und dieser Pflicht werden Sie von der FDP, Sie von der
CDU/CSU und Sie von der SPD nicht gerecht.
({9})
Das alles wollen Sie entgegen der Forderung der Datenschutzbeauftragten selbst für Abfragen bei kleinsten
Ordnungswidrigkeiten legalisieren. Ihr neues Interesse
für den Umweltschutz in Ehren, Frau Kollegin, aber es
geht darum, Schwellen einzuziehen, und genau da haben
Sie versagt.
({10})
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält gravierende
neue Eingriffe sowohl in das Telekommunikationsgeheimnis als auch in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
({11})
Wieder einmal werden die Befugnisse der Sicherheitsbehörden ausgebaut statt eingehegt. Dass Sie hier einfach
dreist das Gegenteil behaupten, macht es nicht besser.
Ihr Mantra „Neue Befugnisse werden für die Sicherheitsbehörden mit dem Entwurf nicht geschaffen“ ist
nachweislich falsch.
Der Grundrechts- und Datenschutz sollte ja ein wichtiges Thema der schwarz-gelben Koalition in dieser Legislatur werden. Sie haben auf ganzer Linie versagt: Sie
haben ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vergeigt; Ihre
Stiftung Datenschutz ist eine unterfinanzierte Lachnummer, bei der alle wesentlichen Akteure gar nicht erst mitmachen;
({12})
beim Internetdatenschutz und bei der roten Linie gibt es
einen schwarz-gelben Totalausfall; das Innenministerium weiß bis heute nicht, Herr Kollege Staatssekretär,
welche Agenda es in Sachen Datenschutz-Grundverordnung denn nun hat, und heute kommen Sie - in Reaktion
auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts - im Eilverfahren mit Regelungen um die Ecke, die die Bestandsdaten nicht etwa besser schützen, sondern ihre
massenhafte Abfrage vereinfachen.
Das alles veranstaltet die schwarz-gelbe Koalition zulasten des Daten- und Grundrechtsschutzes der Bürgerinnen und Bürger ({13})
und das Ganze heute unter freundlicher Mitwirkung einer
großkoalitionär blinkenden SPD. Das ist sehr bedauerlich.
Ganz herzlichen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12879, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12034 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Yvonne Ploetz, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz implementieren
- Drucksache 17/11590 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0}) -
Innenausschuss-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sollen mit Ihrer Erlaubnis zu Protokoll
genommen werden.1)
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11590 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Regulierung im Eisenbahnbereich
- Drucksache 17/12726 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem
Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak
Ferlemann das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eisenbahnverkehr kann man betreiben, aber man kann
ihn besonders gut betreiben, wenn es einen Wettbewerb
gibt.
({0})
Wettbewerb führt dazu, dass man mit der gleichen Infrastruktur und der gleichen Ausstattung mehr Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger, für die Fahrerinnen und Fahrer und insbesondere auch für den
Güterverkehr zur Verfügung stellt.
Hierfür sieht die Europäische Kommission im Wesentlichen zwei Ansätze: Entweder trennt man Netz und
Betrieb. Das heißt, auf der einen Seite gibt es den Betreiber der Infrastruktur, und auf der anderen Seite gibt es
viele Betreiber, die den Betrieb sicherstellen. Oder man
hat ein sogenanntes integriertes Modell. Das heißt, es
gibt einen Betreiber der Infrastruktur, der aber durchaus
auch Betreiber des Betriebes, zumindest in Teilen, sein
kann.
Beide Lösungen sind nach derzeitiger Lage im vierten
Eisenbahnpaket vorgesehen. Wir werden es noch intensiv beraten. Der Verkehrsausschuss hat die Beratungen
dazu aufgenommen. Wir werden dazu sicherlich noch
große Debatten haben.
Wenn man sich aber dafür entscheidet - was die Bundesregierung getan hat -, die Bahninfrastruktur in einem
integrierten Modell zu betreiben, dann muss man eine
Regulierung haben. Voraussetzung für Wettbewerb ist
ein diskriminierungsfreier Zugang zum Netz und zu den
Infrastruktureinrichtungen. Hierzu bedarf es der Kontrolle, dass ein Monopolist nicht die Preise festsetzt, die
er möchte, sondern die Preise, die ein Markt festsetzen
würde. Dazu bedarf es einer Simulierung des Marktes.
Deswegen legen wir Ihnen heute den Entwurf eines
Eisenbahnregulierungsgesetzes vor. Dieses Gesetz zählt
sicherlich zu den sehr wichtigen Gesetzgebungsvorhaben im Verkehrssektor in dieser Legislaturperiode.
({1})
Ich bin sehr dankbar, dass so viele Kolleginnen und Kollegen trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit gekommen
sind, um über diesen Gesetzentwurf in erster Lesung zu
beraten.
({2})
Dieser Gesetzentwurf wurde auch im Bundesrat beraten. Der Bundesrat hat viele sehr positive Anmerkungen
gemacht und auch einige Veränderungen vorgeschlagen.
Wir haben viele Änderungswünsche des Bundesrates in
unseren Gesetzentwurf übernommen, einige aber nicht,
weil die Wünsche des Bundesrates häufig weit über die
eigentlichen Regelungen im Gesetz hinausgingen.
So legen wir Ihnen heute eine Entgeltregulierung vor,
die im Wesentlichen mit den Mitteln der Anreizregulierung arbeitet. Das heißt, dass wir den Markt simulieren
und die Bundesnetzagentur, die das für uns macht, mit
diesem Gesetzentwurf deutlich stärken. Das ist gut und
richtig so.
Wir haben uns nach langer Debatte dafür entschieden,
auch die Investitionen in die Infrastruktur der Anreizregulierung zu unterwerfen - mit einer einzigen Ausnahme, da wir - Kollege Burkert, auch Sie haben darauf
hingewiesen - im Bereich der Wartung schon einen
Markt haben. Wir werden hier eine gesonderte Untersuchung durchführen, ob wir auch diesen Markt der Anreizregulierung unterwerfen oder ob der Markt schon so
weit vorhanden ist, dass wir diese Anreizregulierung
nicht brauchen und womöglich mehr Schaden als Nutzen
anrichten würden. Aber ansonsten wenden wir die Anreizregulierung an.
Ich glaube, das ist genau der richtige Weg, um zu
mehr Wettbewerb zu kommen, um die Monopolisten bei
uns, die Eisenbahninfrastrukturunternehmen, zu einer effizienten und effektiven Investition ihrer Mittel zu bringen, damit wir möglichst viel Eisenbahn, Infrastruktur
und Dienstleistung für das bereitgestellte Geld bekommen. Die Nutzer der Schienenwege, der Bahnhöfe, der
Einrichtungen sollen einen einfachen Zugang zu der entsprechenden Infrastruktur haben, und die Dienstleistung,
sei es nun im Personenverkehr oder im Güterverkehr,
soll den Nutzern über die Fahrpreise möglichst günstig
bereitgestellt werden.
Dafür dient der heute vorgelegte Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Ich hoffe, dass wir gemeinsam nach
zügiger Beratung in den Ausschüssen in zweiter und
dritter Lesung zu einer Beschlussfassung kommen und
wir dann möglichst zügig dieses Gesetz umsetzen können; denn es dient dem Wettbewerb. Es dient dem EisenParl. Staatssekretär Enak Ferlemann
bahnsektor. Es dient dazu, dass Menschen Eisenbahninfrastruktur günstiger nutzen können und dass vor allem
der Güterverkehr günstiger genutzt werden kann. Damit
soll der Eisenbahnsektor insgesamt noch leistungsfähiger aufgestellt werden, als er in Deutschland schon ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Sören Bartol
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Latte liegt jetzt hoch. - Worum geht es bei der Neuordnung der Regulierung im Eisenbahnbereich? Die zentralen Fragen sind: Wie stellen wir uns den zukünftigen
Schienenverkehr in Deutschland vor? Welche Kapazitäten an Verkehrsaufkommen soll der Schienenverkehr in
Zukunft überhaupt bewältigen? Bei näherer Betrachtung
Ihres Regierungsentwurfs und Ihrer bisherigen bahnpolitischen Aussagen bekommt man Zweifel, ob Sie überhaupt eine Vorstellung von einem zukunftsfähigen Bahnverkehr haben.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben unser Ziel
klar benannt: Wir wollen einen funktionierenden, leistungsfähigen und bezahlbaren Schienenverkehr. Dies gehört für uns zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Hier ist
für uns der Bund in der Pflicht. Er hat den Ausbau und
den Erhalt des Schienennetzes der bundeseigenen Eisenbahn sowie dessen optimale Nutzung im Personenfernund Güterverkehr als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge zu gewährleisten.
Im Rahmen unseres Infrastrukturkonsenses haben wir
eine neue Netzstrategie für die Schiene entwickelt. Dazu
gehören unter anderem der Ausbau der Kapazität des
Schienennetzes, die Verbesserung des Lärmschutzes,
faire Preise für die Nutzung der Infrastruktur und natürlich ein diskriminierungsfreier Zugang für alle Wettbewerber. Das Thema Eisenbahnregulierung sehen wir daher nicht wie die Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP isoliert als leidigen Aufgabenpunkt einer
Task-Liste, die man eben abzuarbeiten hat, wenn man regiert. Wir sehen sie eingebettet in eine umfassende Netzstrategie. Erst dann ist es sinnvoll, über eine Regulierung
des Schienenverkehrs nachzudenken.
Halten wir also fest: Fragen der Regulierung der Entgelte, des Zugangs zum Netz und den Serviceeinrichtungen sowie die wirksame Kontrolle der Einhaltung vorhandender Regulierungen sind für uns integraler
Bestandteil einer umfassenden Netzstrategie. Dabei halten wir Wettbewerb im Schienenverkehr für notwendig.
Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um
mehr Verkehr zu günstigeren Preisen auf die Schiene zu
bringen und vorhandene Netzkapazitäten besser zu nutzen. Das heißt, wir wollen einen funktionierenden Wettbewerb im Schienenverkehr. Einen solchen Wettbewerb
wollen wir auch fördern. Aber Wettbewerb darf nicht
einseitig auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen
werden und zu Dumpinglöhnen und niedrigeren Sozialstandards führen. Wo Wettbewerb funktionieren soll, benötigen wir Regeln, dies umso mehr, wenn es sich wie
bei der Eisenbahninfrastruktur um ein Monopol handelt.
Was Sie aber machen, ist überholte Theorie aus dem
volkswirtschaftlichen Grundstudium. Ob nun Vollkostenprinzip, Anreizregulierung oder Price-Cap-System:
Sie verlieren dabei das Augenmaß und den Blick für die
Besonderheiten des Eisenbahnsektors.
({0})
Faire und transparente Trassen- und Stationspreise sind
das eine Thema. Aber warum laut Ihres Regierungsentwurfs jeder Fahrkartenschalter auch noch die Fahrkarten
der Mitbewerber verkaufen soll, ist wenig nachvollziehbar. Man stelle sich vor, die Lufthansa solle an ihrem
Schalter jetzt auch die Tickets von Air Berlin verkaufen.
Das gäbe mit Sicherheit eine interessante Diskussion,
die da auf Sie zukäme.
Was aber völlig fehlt in Ihrem Gesetzentwurf, ist noch
etwas grundsätzlich anderes, nämlich die Beantwortung
der Fragen, welche zusätzlichen Befugnisse die zuständige Regulierungsbehörde im Detail bekommt, und wer
diese Regulierungsbehörde eigentlich reguliert. Wie soll
eigentlich das Verhältnis zwischen Eisenbahn-Bundesamt und Regulierungsbehörde aussehen? Da bekommt
die eine Behörde ein bisschen was weggenommen und
die andere eine Scheibe dazu, und dann gibt es da auch
noch den Bundesrechnungshof. Jetzt soll auf einmal alles perfekt geregelt sein.
Hinzu kommt noch ein sehr wichtiger Aspekt: Kompetenz beim Eisenbahn-Bundesamt, bei der Bundesnetzagentur und bei der Deutschen Bahn AG ist schön und
gut. Wir wollen aber, dass auch der Bund als Eigentümer
politische Führung zeigt. Kompetenz im BMVBS ist gefragt. Und was machen Sie? Sie dünnen Ihr Eisenbahnpersonal immer weiter aus und verlieren dadurch Fachwissen und damit Gestaltungshoheit.
Ich bleibe dabei: Ohne Einbettung in eine umfassende
Gesamtstrategie schwebt Ihr Regulierungsentwurf im
luftleeren Raum. Ihr Gesetz löst nicht die Probleme des
Schienenverkehrs. Es ist nicht geeignet, mehr Verkehr
auf die Schiene zu bringen. Ihr Gesetzentwurf lässt wesentliche Fragen offen. Er sollte aber das Gegenteil tun.
Vielen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Oliver
Luksic.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute in erster Lesung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Neuordnung der Regulierung im Eisenbahnbereich, ein wichtiges Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag.
Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode darauf verständigt, das Regulierungsrecht zu überarbeiten.
Insbesondere die Trassen- und Stationspreise wollen wir
einer Anreizregulierung unterwerfen. Wir haben aber
auch den eben angesprochenen Zugang zu Serviceeinrichtungen sowie den Bezug von Bahnstrom und Vertriebsleistungen als regulierungsbedürftig erkannt. Es
geht in der Tat darum, wie Kollege Bartol eben angesprochen hat, die Bundesnetzagentur zu stärken. Damit
ist das, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, aufgegriffen.
({0})
Es geht bei der Entgeltregulierung vor allem um die
Überarbeitung des Regulierungsrechts. Das Ganze ist erforderlich, weil wir eine Behinderung und Diskriminierung von konzernexternen Bahnunternehmen durch die
Preisgestaltung der DB-Infrastrukturgesellschaften verhindern wollen. Wir wollen die Effizienz vor allem bei
der Infrastrukturbereitstellung erhöhen. Der Regulierungsbedarf eines voll integrierten Infrastrukturbetreibers ist durch den Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit der DB-Holdinggesellschaft der
Weisungsbefugnis des Konzernvorstands unterworfen.
Deswegen sieht der Regierungsentwurf vor, die Trassenentgelte für die Nutzung des Schienennetzes, aber
auch die Stationsentgelte für die Benutzung der Personenbahnhöfe zukünftig von der Bundesnetzagentur prüfen und genehmigen zu lassen. Die Bundesnetzagentur
muss daher im Sinne einer Anreizregulierung darauf
achten, die Infrastrukturunternehmen zu Kostenreduzierungen und Effizienzgewinnen zu veranlassen. Ich
glaube, Kollege Bartol, hier sind wir uns einig, dass
durchaus noch Potenziale zu heben sind.
Es lässt sich nicht bestreiten - die Kritik ist nicht ganz
unberechtigt -, dass die Vorlage des Regierungsentwurfs
spät erfolgt. Das liegt daran, dass erste Entwürfe nicht
dem entsprochen haben, was unserer Meinung nach notwendig war.
({1})
Nichtsdestotrotz haben wir das jetzt in einigen Punkten
meines Erachtens klar verbessert. Vor allem haben wir
die Versorgung von Eisenbahnen mit Fahrstrom in das
Gesetz aufgenommen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt,
um für Wettbewerb zu sorgen; denn der Bahnstrom ist
ein wesentlicher Kostenfaktor für die Eisenbahnverkehrsunternehmen, die im Wettbewerb stehen.
Auch die Regulierung von Vertriebsleistungen ist ein
wichtiger Punkt, der aufgenommen werden musste. Bei
den weiteren Diskussionen wird eine wesentliche Rolle
spielen, in welchem Umfang Investitionen und Instandhaltungsmaßnahmen in der Entgeltregulierung von der
Überprüfung durch die Bundesnetzagentur ausgenommen werden. Auch hier haben wir die ersten Entwürfe
ein Stück weit verbessert.
Wichtig war für uns vor allem der eben angesprochene Teil - der steht im dritten Teil des Gesetzentwurfs zur Regelung der Struktur der Unternehmen. Es war für
die Bundestagsfraktion der FDP wichtig, dass wir in diesem Gesetz, in das diese Regelung nicht hineingehört,
keine abschließenden Entscheidungen über Konzernstrukturen treffen. Wir sind der Ansicht, dass es hier eine
Wechselbeziehung zum europäischen Recht gibt. Deswegen haben wir es abgelehnt, falsche Vorfestlegungen
zu treffen; denn je stärker der Eisenbahnsektor in Gestalt
des Konzerns Deutsche Bahn AG vertikal integriert ist,
desto höher ist das Regulierungsbedürfnis.
Es ist bekannt, dass die Bundestagsfraktion der FDP
weiterhin für Unbundlings, also eine stärkere Unabhängigkeit der Infrastrukturgesellschaften von der Konzernleitung, ist; ideal wäre eine konsequente Trennung von
Netz und Betrieb. Auch wenn die Europäische Kommission ein Stück weit von ihren Vorgaben abgerückt ist, hat
sie dieses Thema weiterhin auf der Tagesordnung.
({2})
Klar ist aber auch, dass dieses Thema hier jetzt nicht
auf der Tagesordnung steht. Wir haben es im Ausschuss
- Stichwort viertes Eisenbahnpaket - andiskutiert. Die
Kommission ist zwar nicht ganz so weit gegangen, wie
es sich die FDP erhofft hatte. Aber wir wollen klar festhalten, dass der Fortbestand des jetzigen integrierten
Holdingmodells mit dem derzeit existierenden Beherrschungs- und Abführungsvertrag zwischen Holding und
den Infrastrukturgesellschaften mit dem, was die EUKommission vorlegt, nicht vereinbar ist.
({3})
Deshalb bleibt abzuwarten, wie die Beratungen im
Bundestag laufen. Sie werden mit Sicherheit auch weiterhin spannend bleiben. Deswegen ist es unsinnig, dieses Thema hier im Gesetz aufzugreifen. Das würde die
notwendigen Sachdebatten nur erschweren. Deswegen
haben wir uns auf die wichtigen Passagen konzentriert
und freuen uns, dass der Bundesrat Vorschläge macht,
die nach Meinung der FDP-Bundestagsfraktion bei vielen Punkten in die richtige Richtung gehen. Wir haben,
wie Staatssekretär Ferlemann angesprochen hat, gute
Anregungen aufgenommen. Ich verweise beispielsweise
auf die Ziffer 2, wo es um Ausnahmemöglichkeiten für
Nebenbahnen geht.
Wir müssen uns jetzt aber auf die wettbewerbsrelevanten Bereiche konzentrieren. Darüber werden wir im
Ausschuss diskutieren. Dort wird es eine umfassende
Prüfung geben. Es sind schon einige Aspekte genannt
worden. Ich gehe davon aus, dass Kollegin Wilms den
einen oder anderen Punkt aufgreifen wird.
({4})
Die FDP-Bundestagsfraktion wird entscheiden, in
welchem Umfang sie dem Bundesrat weiter entgegenOliver Luksic
kommen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dass
das vorliegende Gesetz die Schiene stärkt und zu mehr
Wettbewerb durch Regulierung von Trassenpreisen,
Bahnstrom und Fahrkartenvertrieb führt. Deswegen ist
es ein gutes Gesetz. Wir hoffen, dass wir zusammen mit
dem Bundesrat dieses Gesetzesvorhaben zielstrebig und
schnell zu Ende führen können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leidig von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist
nichts Neues, dass wir der Meinung sind, dass Wettbewerb auf der Schiene in Wirklichkeit gar nicht stattfindet, weil auf einer Strecke immer nur ein Zug zu einem
bestimmten Zeitpunkt fahren kann und die Fahrgäste
sich daher keinen anderen Zug aussuchen können. Insofern ist dieses Wettbewerbsgerede ausgesprochen fragwürdig.
Wir finden überhaupt nicht, dass es eine Erfolgsbilanz
gibt, die 1994 mit der Strukturreform der Eisenbahn begonnen hat. Wir sind der Meinung, dass das Gegenteil
der Fall ist, und schließen uns da dem ausgesprochen
findigen und eifrigen Bündnis „Bahn für Alle“ an, das in
diesem Jahr wieder einen alternativen Geschäftsbericht
veröffentlicht hat - Sie haben das vielleicht wahrgenommen -, und zwar pünktlich zur Vorlage der Bahnbilanz,
in der groß tönend wieder ein Supergewinn verkündet
wurde.
({0})
Aber wenn man solche Aktiengewinne der Deutschen
Bahn AG bejubelt, ohne dass die gesamtgesellschaftlichen Kosten in Betracht gezogen werden, dann hat man
von nachhaltigem Wirtschaften wirklich nichts verstanden.
({1})
Der Gewinn in Höhe von 900 Millionen Euro der DB
Netz AG - quasi eine Gewinnmaschine - kommt praktisch ausschließlich aus öffentlichen Mitteln. Dieser Gewinn wird umetikettiert und der demokratischen Einflussnahme entzogen. Zur gleichen Zeit verschlechtert
sich der Zustand des Netzes - das müssen wir immer
wieder konstatieren. Auch gibt es eben keinen gesteigerten Marktanteil der Schiene. Es gibt eine Stagnation im
Fernverkehr und nur Zuwächse im Nahverkehr, wo eine
ganz andere Form der öffentlichen Einflussnahme existiert.
({2})
Ich freue mich, dass der Kollege Bartol von der SPD
inzwischen auch der Meinung ist, dass diese Ausrichtung der Deutschen Bahn AG in Richtung Marktorientierung nicht gut ist. Ich hoffe, dass sich da irgendwann etwas ändert; denn die Börsenausrichtung ist auch unter
Ihrer Mitwirkung organisiert worden.
Wenn ich mir die einzelnen Vorschläge in Ihrem Regulierungsgesetz anschaue, dann kann ich nur sagen: Einige sind interessant. Beispielsweise wollen Sie etwas
für eine leisere Bahn tun, und zwar über lärmabhängige
Trassenpreise. Das kann man natürlich machen, wenn
man marktgläubig ist. Man kann aber auch einfach sagen: Wir wollen, dass die Züge leiser werden, und schreiben deshalb vor - so macht es die Schweizer Bahn -, dass
zu einem bestimmten Zeitpunkt keine lauten Güterzüge
mehr fahren dürfen. Dann braucht man nicht dieses
komplizierte bürokratische Ungetüm der lärmabhängigen Trassenpreise.
({3})
Sie wollen, dass Dritte Fahrkartenautomaten auf den
Bahnhöfen aufstellen können. Das kann man natürlich
machen, wenn man will, dass große Verwirrung entsteht.
Ich kann Ihnen versichern: Das Problem der Fahrgäste,
die die Bahn nutzen, ist nicht, dass sie zu wenig Fahrkartenautomaten vorfinden. Das Problem ist, dass es an den
Bahnhöfen oft überhaupt kein Personal mehr gibt, dass
die dort stehenden Automaten häufig kaputt sind und
dass die Bahnhöfe nicht barrierefrei sind. Ich glaube
nicht, dass irgendeinem Fahrgast damit geholfen ist,
wenn er auch noch zwischen drei verschiedenen Automaten und drei verschiedenen Anbietern von Fahrkarten
auswählen soll. Damit schaffen Sie keine Verbesserung
des Eisenbahnverkehrs.
({4})
Sie wollen eine Anreiz- und Entgeltregulierung einführen, die dann von einem bürokratischen Monstrum
kontrolliert wird.
({5})
Und ich finde es interessant, dass Sie das deshalb machen wollen, weil Sie davon ausgehen, dass Diskriminierung und Missbrauch stattfinden. Diese Diskriminierung
und dieser Missbrauch finden offensichtlich statt, weil
eine Marktorientierung durchgesetzt wird, die die Deutsche Bahn AG dazu bringt, solche Geschäftspraktiken an
den Tag zu legen. Ich glaube, das ist der eigentliche
Punkt.
Man muss, wenn man die Probleme anschaut, sich die
Mühe machen, an ihre Quelle zu gehen. Diese Quelle besteht darin, dass die Deutsche Bahn AG auf Bilanzgewinn getrimmt wird, dass sie am Aktienkurs und eben
nicht am Gemeinwohl orientiert ist. Die Regulierung, die
man braucht, ist - wie es in der Schweiz stattfindet eine politische Vorgabe von Zielen, wie Beförderungskilometern, die angeboten werden müssen, einem vernünftigen Deutschlandtakt, ordentlicher Infrastruktur. Es
darf nicht um Gewinne gehen, die aus dem Netz herausgezogen werden - zulasten der öffentlichen Bahnen, die
in den Regionen fahren, und letztlich zulasten der Fahrgäste.
Jetzt ist Ihre Redezeit aber zu Ende.
Wir wollen eine Bahn für alle, eine Bahn, die am Allgemeinwohl ausgerichtet ist.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin
Dr. Valerie Wilms.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste, die Sie hier noch zu so später Stunde anwesend sind! Sie erleben wieder einmal eine typische Eisenbahndebatte. Solche Debatten finden häufig zu diesen Zeiten statt. Ich muss mich erst einmal beruhigen
wegen des Blicks der lieben Kollegin Leidig zurück in
die Vergangenheit, Stichwort „Behördenbahn“.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab in der Politik
lange einen seltsamen Irrglauben: Es wurde gedacht,
dass mehr Markt in erster Linie weniger Regeln bedeutet. Das alte Schlagwort hieß: Der Markt wird es schon
regeln. Die FDP ist leider dafür bekannt, dass sie dieses
Schlagwort manchmal zu sehr befolgt hat. Der liberalisierte Finanzmarkt hat uns wunderbar vor Augen geführt, was dabei am Ende tatsächlich herauskommt.
Die Realität in der Wirtschaft ist aber genau umgekehrt: Wer mehr Markt will, der braucht auch funktionierende Regeln. Bei der Eisenbahn ist das ein klarer Auftrag an uns, die Politik. Da hier in vielen Bereichen ein
Monopol besteht, müssen wir vernünftig regulieren. Nur
so können wir einen einigermaßen fairen Markt im deutschen Schienenverkehr bekommen. Fairer Wettbewerb
bringt Vorteile für die Nutzer. Wo echte Konkurrenz ist,
da fallen die Preise und werden die Angebote besser.
Das kennen wir von der Post und von der Telekom.
Wir müssen jetzt auch dafür sorgen, dass wir endlich
echten Wettbewerb auf der Schiene bekommen. Deswegen ist das Eisenbahnregulierungsgesetz absolut überfällig. Die Bundesregierung hat das Gesetz lange schleifen
lassen. Jetzt, fast am Ende der Wahlperiode, kommen Sie
endlich in die Gänge. Es besteht ganz klar die Gefahr,
dass wir gar keine Regulierung mehr bekommen. Denn
anscheinend ist das Ganze in der Koalition - wir haben
es eben selber gesehen - heftig umstritten. Ich frage
mich, ob Sie in dieser Koalition in Abwicklung
({1})
auf ein Scheitern spekulieren, weil Ihnen Ihr eigenes Gesetz nicht geheuer ist.
({2})
Dieses Gesetz gefällt nicht unbedingt unserem bundeseigenen Unternehmen Deutsche Bahn. Aber das ist
doch nicht entscheidend. Oder macht jetzt eine Aktiengesellschaft die Gesetze? Das ist immer noch unsere
Aufgabe hier in dieser gesetzgebenden Körperschaft. Es
kommt darauf an, dass öffentliche Gelder auch im Bahnverkehr sinnvoll eingesetzt werden und nicht in der
DB Holding versickern. Ich schaue an dieser Stelle zu
Herrn Kollegen Burkert.
Dieses Gesetz kann wirklich substanzielle Verbesserungen gegenüber dem Status quo bringen. Die Bundesnetzagentur bekommt deutlich mehr Informationsrechte
und könnte die Kosten im Schienennetz und bei den Personenbahnhöfen endlich überprüfen. Damit würde transparent werden, wo Effizienzen bestehen oder wo Geld
verplempert wird.
({3})
- Kollegin Leidig, es hilft nichts, sich aufzuregen. Langfristig würde dies zu echten Produktivitätssteigerungen und damit zu Senkungen der Entgelte führen.
Leider fehlt die absolut letzte Konsequenz; denn Regionalisierungsmittel können weiter direkt bei der
DB Holding landen. Sie sollen aber für bessere Angebote im Personennahverkehr sorgen. Deswegen müsste
eigentlich die Kappung der Gewinnabführung mit in das
Gesetz. Die Koalition schreckt hier aber davor zurück,
diese Konsequenz endlich zu ziehen - außer Kollege
Luksic; er hat es ja eben gezeigt.
({4})
Dabei wäre es nur vollkommen konsequent, schon in
diesem Gesetz auf die Forderungen der EU-Kommission
einzugehen. Wir müssen endlich anerkennen, dass das
deutsche Holdingmodell bei der Bahn ein absolutes Auslaufmodell ist.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der im Kern deutliche Verbesserungen
gegenüber dem derzeitigen Status quo bringen kann. Ich
bin überzeugt, dass wir das Gesetz noch in dieser Legislatur schaffen können, wenn wir es wirklich alle wollen.
Wir brauchen jetzt endlich Regeln für einen funktionierenden Markt und nicht irgendwelche politischen Diskussionen, die uns nicht weiterführen. Die Bahn ist für
uns alle da. Das müssen wir sicherstellen. Dazu gehört
eine vernünftige Trennung von Transport und Netzbetrieb.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege
Martin Burkert.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am Abend werden die Faulen fleißig. - Ein altes
Sprichwort; das trifft hier zu.
({0})
Wenn ich das Pferd einmal von hinten aufzäumen
darf: Was wir sicherlich alle am Ende wollen, ist, den
Umstieg auf die Schiene insgesamt zu stärken. Wir wollen eine größere Nachfrage und höhere Erlöse. Wir wollen sowohl langfristige Beschäftigung als auch den Bestand des Schienennetzes sichern. Darin sind wir uns
sicher einig. Wir werden auch den integrierten Konzern
und die Holding aufrechterhalten; Frau Wilms, das werden Sie erleben.
Die Frage ist, ob das Eisenbahnregulierungsgesetz
das richtige Zaumzeug für das Pferd liefert. Ich habe da
so meine Bedenken. Da zwickt es an allen Ecken und
Enden. Ich darf kurz aus dem Gesetzestext zitieren:
Die Entgelte für den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur … müssen angemessen, diskriminierungsfrei, transparent und dürfen nicht ungünstiger sein,
als sie von den Eisenbahninfrastrukturunternehmen
in vergleichbaren Fällen … angewendet … werden.
Dazu kann man sich schon zwei Fragen stellen, Herr
Ferlemann. Die erste Frage lautet: Inwieweit sind die
Regelungen selbst angemessen? Die zweite Frage lautet:
Inwieweit wird der Verkehrsträger Schiene selbst nicht
ungünstiger behandelt als die anderen Verkehrsträger?
({1})
Diese anderen Verkehrsträger bleiben nämlich von einer verschärften Effizienzkontrolle verschont. Im Straßenverkehr beispielsweise scheint das sogenannte Gebot
einer sparsamen Haushaltsführung völlig auszureichen.
Herr Ramsauer - das wissen wir mittlerweile - hat ein
großes Herz für die Straße.
({2})
Mit der verschärften Regulierung im Schienenverkehr
wird ein neuer Diskriminierungstatbestand gegenüber
den konkurrierenden Verkehrsträgern erst geschaffen.
({3})
Fairer Wettbewerb sieht allerdings anders aus. Wenn
das Regulierungsgesetz Angemessenheit und Diskriminierungsfreiheit fordert, dann sollte es sich an seinen eigenen Grundsätzen messen lassen können. Wer A sagt,
muss auch B sagen.
({4})
Noch etwas bitte ich zu bedenken: Alle Befugnisse,
die wir der Bundesnetzagentur übertragen, sind auf
Dauer außerhalb der politischen Einflussmöglichkeiten.
Der Minister hat da keine Bauchschmerzen. Aber ich,
lieber Kollege Dirk Fischer, zähle hier auf Sie und auf
Ihre Erfahrung, darauf, dass Sie noch einmal einwirken.
({5})
Ich sage Ihnen auch, warum.
Die Bundesnetzagentur wird letztendlich Herrin der
Preise für die Nutzung der Schienenwege und der Personenbahnhöfe werden; denn sie muss sie am Schluss genehmigen - und das auf Grundlage eines ebenfalls von
der Bundesnetzagentur zuvor festgelegten Anreizpfades.
Mit diesem werden für einen Zeitraum von etwa fünf
Jahren Preisobergrenzen für verschiedene Leistungen
festgelegt. Die Entgelte dafür müssen dann von Regulierungsperiode zu Regulierungsperiode sinken. Diese
Kombination der Regulierung ist messerscharf.
Wenn man das weiterdenkt, liebe Kolleginnen und
Kollegen, kommt man darauf: Das Absatzplus bei den
Infrastrukturleistungen, wie gefordert, müsste erst einmal so groß sein, dass es die Umsatzverluste, die aus der
Regulierung folgen, ausgleichen kann. Wenn das nicht
so ist, dann führt das letztlich zum Abbau von Infrastruktur bei der Schiene in Deutschland und zum Abbau
von Personal im Bereich Netz. Das, glaube ich, wird hier
völlig ausgeblendet.
Für einen fairen Wettbewerb der Verkehrsträger brauchen wir einen umfassenden Masterplan Verkehr mit einer verkehrsträgerübergreifenden Regulierung; da hat
die Bundesregierung bis heute versagt. Wir haben keinen
Masterplan.
({6})
Zum Schluss: Es mangelt der Bundesregierung, wie
gesagt, an einem Masterplan; es fehlt das richtige Zaumzeug. Sie versuchen, das Pferd von hinten aufzuzäumen.
Ich sage Ihnen: Nicht einmal das gelingt Ihnen. Ich bin
davon überzeugt: Dieser Gaul wird mit Ihrem Minister
durchgehen.
({7})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Dirk Fischer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Am 2. Dezember 1993 hat der Deutsche Bundestag mit
überwältigender Mehrheit die größte Bahnreform in der
Geschichte unseres Landes beschlossen:
({0})
558 Jastimmen, bei nur 13 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen. Ich durfte damals dabei sein - in der Tat -, als
wir mit der Entscheidung im Bundestag die verlustreichen west- und ostdeutschen Behördenbahnen in eine
unternehmerisch geführte Eisenbahngesellschaft zusammengeführt haben.
Dirk Fischer ({1})
({2})
- Ich habe Ihren Zwischenruf erwartet, Frau Leidig. Die
armen Reichsbahner wären verhungert, wenn nicht
Franz Josef Strauß mit einem Milliardenkredit zu Hilfe
geeilt wäre. Das ist die historische Wahrheit,
({3})
auch wenn Sie uns erzählen, die Deutsche Reichsbahn
wäre ein Profitunternehmen gewesen. - Nun ist auch das
gesagt.
Die staatlichen Schienenwege wurden damals für den
Wettbewerb mit privaten Eisenbahnunternehmen geöffnet, und die Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr vom Bund auf die Länder übertragen - natürlich mit entsprechender finanzieller Begleitmusik.
Dieses entspricht der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland, die keine Monopole in Bereichen, in denen es um Dienstleistung geht,
verträgt. Andere wichtige Reformschritte sind im Laufe
der Jahre hinzugekommen.
Bis heute ist aber das Jahrhundertprojekt Bahnreform
noch nicht vollständig abgeschlossen. Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ist ein weiterer wichtiger Meilenstein, die Ende 1993 eingeleitete
Reform erfolgreich fortzuführen.
Während wir hier im Bundestag das Eisenbahnregulierungsrecht auf eine neue Grundlage stellen wollen,
wird in Brüssel das vierte Eisenbahnpaket verhandelt,
das teilweise deutlich über unsere Zielsetzung hinausgeht. Die Vorschläge der Europäischen Kommission
stellen vielfach eine ordnungspolitische Vorgabe zu dem
dar, was wir jetzt in Deutschland angehen. Mit dem Eisenbahnregulierungsgesetz wollen wir einen fairen Wettbewerb auf der Schiene weiter stärken und vorhandene
überkommene Monopolstrukturen abbauen.
Es wird ein einheitlicher Rechtsrahmen für eine effiziente Regulierung geschaffen. Der Zugang zur Eisenbahninfrastruktur wird noch weiter verbessert. Befugnisse der Bundesnetzagentur werden gestärkt. Herr
Kollege Martin Burkert, Sie selbst sind im Beirat dieser
Netzagentur, in der neun Vertreter aller Fraktionen des
Bundestages und neun Vertreter des Bundesrates darüber
wachen, dass diese Bundesnetzagentur ihren Job korrekt
durchführt. Insoweit ist jedes Misstrauen völlig unbegründet.
({4})
Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes ist die Entgeltregulierung, die darauf abzielt, eine missbräuchliche Behinderung oder gar Diskriminierung von Eisenbahnverkehrsunternehmen zu verhindern. Die Entgelte für die
Pflichtleistungen der Betreiber der Schieneninfrastruktur
und die Entgelte für die Benutzung der Personenbahnhöfe sollen künftig der Genehmigung durch die Regulierungsbehörde unterliegen. Das neue System wird auf einer Anreizregulierung beruhen. Dadurch werden die
Schienenwegbetreiber zu Effizienzgewinnen und damit
zu einer Reduzierung der Kosten veranlasst.
Die Zugangsregulierung hat sich im Grundsatz bewährt. Hier wollen wir nur einige Punkte ergänzen. Das
Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Schienenwegen oder Bahnhöfen wird zum Beispiel ergänzt durch
die Verpflichtung, Rangierleistungen für Dritte zu erbringen, oder durch die Pflicht, auf Bahnhöfen Flächen
zum Fahrscheinverkauf für Wettbewerber bereitzustellen. Was wäre es für eine Welt, wenn wir verschiedene
Unternehmen hätten und wir ihnen mitteilen müssten:
Im Bahnhof ist alles ausgebucht, verkauft eure Karten
sonst wo, nur ein Unternehmen darf ein Reisecenter betreiben. - Das kann doch nicht akzeptiert werden, Herr
Burkert.
({5})
Selbst wenn man ein engagierter Eisenbahngewerkschafter ist, kann man das in einer Wettbewerbsordnung
nicht akzeptieren.
Herr Fischer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Burkert?
Ja.
Das ist in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit aber
auch die einzige Zwischenfrage, die ich zulasse.
({0})
Bitte schön, Herr Burkert.
Ich bedanke mich ausdrücklich, Herr Präsident, dass
Sie die Frage zulassen.
Geschätzter Herr Kollege Fischer, ist Ihnen bekannt,
dass in Rosenheim im schönen Land Bayern - unweit
des Wahlkreises des Bundesverkehrsministers - mittlerweile zwei Fahrkartenausgaben nebeneinander existieren - auf der einen Seite verkauft die Bayerische Oberlandbahn Fahrkarten von Veolia, auf der anderen Seite
die Deutsche Bahn AG Fahrkarten für die Deutsche
Bahn - und es keine Diskriminierung mehr gibt?
Mir ist bekannt, dass das in Bayern so ist. Jetzt gilt
unser Engagement der Übertragung des bayerischen
Vorbilds auf ganz Deutschland. Das muss unser Ziel
sein.
({0})
Es gibt viel zu viele Bahnhöfe, bei denen es noch nicht
so ist wie in Bayern. Ich kann Sie und andere Kollegen
aus Bayern - auch den Minister - nur loben, dass wir das
in Bayern schon haben.
Dirk Fischer ({1})
Außerdem wollen wir, dass die Stilllegung von Serviceeinrichtungen zukünftig der Genehmigungspflicht
unterliegt. Diese galt bisher nur für die Stilllegung von
Strecken und von für die Betriebsabwicklung wichtigen
Bahnhöfen.
Aber auch andere Dinge sind im System sehr wichtig
und müssen deswegen den Wettbewerbern zur Verfügung stehen.
Wir wollen die Rechte der Bundesnetzagentur weiter
stärken. Es ist doch ein Missstand, dass die DB AG sich
bei jedem Bescheid der Bundesnetzagentur bis zur letzten Instanz vor den Gerichten wehrt. Wir verlieren teilweise Jahre, bevor solche Dinge umgesetzt werden können. Deswegen brauchen wir Beschlusskammern bei der
Bundesnetzagentur, damit das flotter vorangeht.
({2})
Wir wollen eine Missbrauchsaufsicht bei der Lieferung von Fahrstrom; das hat der Kollege Luksic schon
ausgeführt. Alle Kunden der DB Energie sollen diskriminierungsfrei zu gleichen Konditionen Fahrstrom beziehen können.
({3})
Dadurch ermöglichen wir der Bundesnetzagentur, zu
handeln, wenn eine marktmächtige Stellung, insbesondere bei der Preisgestaltung, ausgenutzt wird.
Auch für den Vertrieb von Fahrausweisen wollen wir
eine Missbrauchskontrolle durch die Bundesnetzagentur
einführen. Die Anbieter von Vertriebsleistungen im
Schienenpersonenverkehr, die über eine marktbeherrschende Stellung verfügen, sollen im Sinne der Bahnkunden auf kommerzieller Basis ihre Vertriebssysteme
für andere Anbieter öffnen. Auch das ist für den Kunden
wichtig.
Von fairem Wettbewerb auf der Schiene und besseren
Kontrollmöglichkeiten profitieren am Ende alle, insbesondere die Bahnkunden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag dazu.
Mit der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung bereits einige Vorschläge aufgegriffen. Im Ernst: Schmalspurbahnen müssen nun wirklich nicht reguliert werden.
Sachfremde Bereiche können wir in diesem Gesetz
nicht regeln. Dazu gehört der Schienenlärm. Diesbezüglich haben wir uns gerade in der letzten Woche in Vorbereitung der Beschlussfassung im Vermittlungsausschuss
zwischen Bundestag und den Ländern über die Abschaffung des Schienenbonus und eine bundesweite Lärmaktionsplanung verständigt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Im Rahmen der anstehenden Ausschussberatungen
sind wir als Parlament verpflichtet, zu prüfen, ob an dem
Gesetzentwurf eventuell noch Korrekturen notwendig
sind. Ich appelliere an die Opposition, diese Beratungen
konstruktiv zu begleiten. Gleichzeitig appelliere ich an
die Länder, die wichtige Neuordnung der Regulierung
nicht aus plumpen wahltaktischen Gründen im Bundesrat scheitern zu lassen.
Wir haben damals miterlebt, wie eine große, parteiübergreifende Mehrheit die Bahnreform eingeleitet hat.
Lassen Sie uns nun auch den nächsten Schritt auf dem
Weg zur Vollendung dieses Jahrhundertprojekts gemeinsam gehen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12726 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rückkehrrecht auf Vollzeit gesetzlich verankern
- Drucksache 17/12843 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Federführung strittig
Die Reden sollen mit Ihrem Einverständnis zu Proto-
koll genommen werden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12843 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen die Federführung beim Ausschuss für Arbeit
und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen: Federfüh-
rung beim Familienausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Dagegen? - Enthaltungen? -
Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der
Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abge-
lehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen: Feder-
1) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Gegenstimmen der Grünen einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Kreditanstalt für Wiederaufbau und weiterer
Gesetze
- Drucksache 17/12815 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({2})-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Haushaltsausschuss
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Intelligente Verkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zu anderen
Verkehrsträgern ({3})
- Drucksache 17/12371 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({4})
- Drucksache 17/12768 Berichterstattung:Abgeordnete Kirsten Lühmann
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf über Intelligente Verkehrssysteme, IVS,
im Straßenverkehr soll die Richtlinie 2010/40/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli
2010 in deutsches Recht umgesetzt werden. Die Dis-
kussionen im Ausschuss haben gezeigt, dass bis auf die
übliche Verweigerung der Linken alle Fraktionen die-
sem Gesetzentwurf zugestimmt haben, und dies mit gu-
tem Grund: Das IVSG ist sehr sinnvoll und zukunfts-
orientiert. Es wird die Sicherheit im Straßenverkehr
nach sich ziehen, sich aber auch sehr positiv auf die
umweltpolitischen Ziele der christlich-liberalen Koali-
tion auswirken.
Da der Straßenverkehr nicht an den Ländergrenzen
endet, engagieren wir uns nicht nur in Deutschland,
sondern auch auf europäischer Ebene für einen ver-
stärkten Einsatz von IVS und deren Schnittstellen zu
anderen Verkehrsträgern. Denn der Erfolg intelligen-
ter Technologien hängt im Zeitalter des gemeinsamen
europäischen Marktes nicht zuletzt von der erfolgrei-
chen Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern
ab.
Das BMVBS hat deshalb aktiv daran mitgewirkt,
mit der Richtlinie 2010/40/EU, die wir mit dem jetzt
vorgelegten Entwurf des ISVG in deutsches Recht
überführen wollen, für die Einführung „Intelligenter
Verkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnitt-
stellen zu anderen Verkehrsträgern“ einen europäi-
schen Rechtsrahmen zu schaffen, der den Potenzialen
intelligenter Technologien gerecht wird. Diese Richtli-
nie legt einen Rahmen für die koordinierte Einführung
innovativer Verkehrstechnologien innerhalb der Euro-
päischen Union fest. Sie zielt auf die Einführung inter-
operabler und effizienter IVS-Dienste ab. Gleichzeitig
soll jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union selbst
entscheiden können, in welche Systeme er investiert.
Damit Deutschland als Haupttransitland in Eu-
ropa die verkehrspolitischen Herausforderungen des
21. Jahrhunderts im Straßenverkehr meistern kann, ist
der beschleunigte Einsatz Intelligenter Verkehrs-
systeme, IVS, im Straßenverkehr ein unverzichtbarer
Bestandteil unserer Verkehrspolitik. Aktuelle Progno-
sen gehen bis 2025 von einer Zunahme der Leistung im
Straßengüterfernverkehr von derzeit 367 Milliarden
Tonnenkilometern um 84 Prozent auf 676 Milliarden
Tonnenkilometer aus. Der Anteil der Straße an den
Güterverkehrsleistungen wird dabei von heute 70 Pro-
zent auf knapp 75 Prozent steigen.
Die Verkehrsleistung im Personenverkehr auf der
Straße erreichte im Jahr 2004 einen Wert von 887 Mil-
liarden Personenkilometern und wird bis 2025 um
rund 6,5 Milliarden Personenkilometer jährlich stei-
gen. Insgesamt ergibt dies eine Zunahme von 16 Pro-
zent auf 1 030 Milliarden Personenkilometer im Jahr
2025.
Um diese Verkehrszunahme auf unseren Straßen zu
bewältigen, brauchen wir IVS. Im Fokus hierbei stehen
intelligente Fahrzeug- und Straßensysteme, die durch
Kooperation miteinander wesentlich dazu beitragen,
dass der Straßenverkehr sicherer, effizienter und
umweltfreundlicher wird. Um den Verkehrsinfarkt zu
vermeiden, reicht es längst nicht mehr, einfach nur
Straßen zu bauen. Ein Schlüssel zur Optimierung des
Verkehrs liegt in der nahtlosen Verknüpfung der einzel-
nen Verkehrsträger. Stadtzentrum, Bahnhof oder Flug-
hafen, sie alle werden zunehmend zu intermodalen
Knoten, an denen je nach Ziel, Verkehrslage und Wet-
terverhältnissen das passende Verkehrsmittel bereit-
steht.
Das BMVBS hat ein neues nationales Verkehrssi-
cherheitsprogramm erarbeitet. Darin geht es insbe-1) Anlage 3
sondere darum, den geänderten Rahmenbedingungen
und neuen Herausforderungen im Straßenverkehr
Rechnung zu tragen.
Zentraler Dreh- und Angelpunkt zur Erschließung
des Nutzenpotenzials von IVS ist eine entsprechende
IVS-Informationslogistik, das heißt die Organisation,
Steuerung, Bereitstellung und Optimierung von Informationsströmen. Insofern müssen organisationsübergreifende Wertschöpfungsketten im IVS-Kontext als
Prozessketten begriffen werden, in denen der Umgang
mit Informationen von vorrangiger Bedeutung ist. Besonderes Wertschöpfungspotenzial entsteht, wenn es
gelingt, IVS-Akteure und ihre IVS-Dienste im Sinne des
Straßenverkehrsteilnehmers und Reisenden organisationsübergreifend zu vernetzen. Beispiele hierfür sind
die Vernetzung von mehreren Straßenbetreibern - zuständigkeitsübergreifendes Strategiemanagement -,
die Vernetzung kollektiver Verkehrsmanagementsysteme mit individuellen Navigationsdiensten und multimodale Reiseketten als Schnittstellen zwischen verschiedenen Verkehrsträgern.
Der IVS-Aktionsplan mit seinem Maßnahmenplan
bildet das Fundament für die Einbringung deutscher
Vorschläge auf europäischer Ebene. Es wird künftig
darauf ankommen, diesen Aktionsplan kontinuierlich
fortzuschreiben. Dabei setzen wir auf das Engagement
und die Kreativität aller Beteiligten zur Entwicklung
innovativer Lösungen.
Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Intelligente-Verkehrssysteme-Gesetz wird
die CDU/CSU-Fraktion ihre Zustimmung geben. Die
Einführung Intelligenter Verkehrssysteme in Europa
ist deshalb zu unterstützen, weil dadurch europaweit
wichtige Voraussetzungen zur Steigerung der Verkehrssicherheit geschaffen werden. Zu den Begrifflichkeiten möchte ich anmerken, dass mit „Intelligente
Verkehrssysteme“ Systeme gemeint sind, bei denen
Informations- und Kommunikationstechnologien im
Straßenverkehr und an Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern eingesetzt werden. Intelligente Verkehrssysteme optimieren den Verkehr in zentralen Bereichen: erstens bei der optimalen Nutzung von Straßen-,
Verkehrs- und Reisedaten, zweitens bei der Kontinuität
der Dienste Intelligenter Verkehrssysteme in den Bereichen Verkehrs- und Frachtmanagement, drittens bei
Anwendungen für die Straßenverkehrssicherheit und
viertens bei der Verbindung zwischen Fahrzeug und
Verkehrsinfrastruktur.
Bei der Entwicklung dieser technischen Neuerungen für mehr Verkehrssicherheit darf ein Aspekt im
Interesse der Sicherheit nicht zu kurz kommen, der
Schutz der Systeme gegenüber einem ungewünschten
Zugriff von außen. Diese Woche war den Medien eine
Meldung über einen Hackerangriff auf Fernsehsender
und Banken in Südkorea zu entnehmen. Geldautomaten wurden lahmgelegt und mit ihnen die Terminals für
Kartenzahlungen in Restaurants und Geschäften. In
den Redaktionen der führenden südkoreanischen Fernsehsender fielen die Monitore aus, auf manchen Bildschirmen sollen auch optisch eindeutige Hinweise auf
einen Hackerangriff erschienen sein.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie
verhindert werden kann, dass Hackerangriffe auf computergestützten Verkehr Einfluss nehmen. Was passiert
etwa, wenn zukünftige Systeme zur Abstandsmessung
bei Fahrzeugen durch Hackerangriffe manipuliert
werden? Derartiges zu verhindern, darf nicht aus dem
Blick geraten.
Um die Herausforderungen der Zukunft an den europäischen Straßenverkehr zu meistern, ist der Einsatz
Intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr ein
unverzichtbarer Bestandteil unserer Verkehrspolitik.
Im Mittelpunkt stehen dabei intelligente Fahrzeugund Straßensysteme, die durch Kooperation miteinander wesentlich dazu beitragen, dass der Straßenverkehr sicherer, effizienter und umweltfreundlicher wird.
Da es in Deutschland bislang keinen Rechtsrahmen
über Intelligente Verkehrssysteme gibt, besteht hierbei
ein Umsetzungsbedarf. Das Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat aktiv daran
mitgewirkt, einen europäischen Rechtsrahmen zu
schaffen, der den sich rasch entwickelnden Potenzialen intelligenter Technologien gerecht wird. Diese
Richtlinie legt einen Rahmen für die koordinierte Einführung innovativer Verkehrstechnologien innerhalb
der Europäischen Union fest. Sie zielt dabei auf die
Einführung interoperabler und effizienter IVS-Dienste
ab. Gleichzeitig soll jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union selbst entscheiden können, in welche Systeme er investiert. Wichtig ist, dass die Systeme miteinander kompatibel sind, quasi die gleiche Sprache
sprechen.
Für eine zielgerichtete Mitwirkung im europäischen
Prozess ist eine klare nationale Strategie gefragt.
Diese Strategie haben wir. Unter Federführung des
BMVBS wurde durch einen IVS-Beirat ein nationaler
IVS-Aktionsplan Straße erarbeitet, der die Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern einbezieht und den
Zeitraum bis 2020 umspannt. Ich rege an, dass der
Beirat sich insbesondere der Frage von Sicherheit der
Verkehrssysteme gegenüber Hackerangriffen widmet.
Der IVS-Aktionsplan Straße mit seinem Maßnahmenplan bildet das Fundament für die Einbringung
deutscher Vorschläge auf europäischer Ebene. Es wird
in Zukunft darauf ankommen, diesen Aktionsplan kontinuierlich fortzuschreiben. Dabei setzen wir auf das
Engagement und die Kreativität aller Beteiligten zur
Entwicklung innovativer Lösungen.
Wir sprechen heute über Zukunftsmusik, nämlich
über intelligente Verkehrssysteme. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Grundlage für die Einrichtung eines solchen intelligenten Systems geschaffen
werden. Damit setzt die Bundesregierung eine RichtliZu Protokoll gegebene Reden
nie der Europäischen Kommission um. Das ist gut;
denn die Telematik ist ein Handlungsfeld moderner
und zukunftsfähiger Verkehrspolitik.
Gerade in einem europäischen Transitland wie
Deutschland kommt der intelligenten Verkehrssteuerung und Verkehrsleitung eine immer wichtigere Rolle
zu. Die Europäische Union hat in der Richtlinie den
Rahmen für Handlungsfelder abgesteckt. Für die deutsche Forschungslandschaft und für die hier ansässigen
Unternehmen ist es entscheidend wichtig, dass vom
Bund verlässliche Rahmenbedingungen in diesem Bereich geschaffen werden, um erreichte Fortschritte
dann umsetzen zu können. Auch die Bevölkerung begrüßt dieses Vorhaben. Laut einer aktuellen Umfrage
sind 72 Prozent der Bevölkerung dafür, dass Bund,
Länder und Kommunen stärker in intelligente Verkehrssysteme investieren, um Staus und Unfälle zu vermeiden. Die Einrichtung dieser Systeme in der Fläche
ist allerdings ein Projekt von morgen. Aber an manchen Orten hat diese Zukunft schon begonnen.
Auf deutschem Boden spielt sich derzeit in Frankfurt ein Stück weit Realität gewordener VerkehrsScience-Fiction ab: Es handelt sich um den weltweit
größten Versuch mit intelligenter Verkehrstechnik.
Autos kommunizieren miteinander und warnen sich
gegenseitig vor Gefahrenstellen. Die Fehlerquelle
Mensch bleibt quasi außen vor; denn die Fahrzeuge
sind mit schlauer Technik ausgestattet. Detektoren und
Sensoren nehmen ihre Umwelt wahr, teilen diese Informationen mit anderen Kraftfahrzeugen und verständigen sich mit der Infrastruktur. Dabei geht es nicht darum, die Fahrenden überflüssig zu machen oder ihnen
den Fahrspaß zu nehmen; die Technik soll sie lediglich
in risikoreichen Situationen unterstützen.
Aber was bringt uns diese Technik? Was bezweckt
die Europäische Union mit dem Vorantreiben intelligenter Verkehrssysteme? Verfolgt werden drei große
Ziele:
Erstens, Nutzung der gewonnenen Daten. Digitale
Karten können aktualisiert werden; Reise- und Verkehrsinformationen können in Echtzeit privaten und
öffentlichen Akteuren zur Verfügung gestellt werden.
Ein zweites großes Ziel sind die Möglichkeiten, die
sich im Bereich des Verkehrs- und Gütermanagements
eröffnen. Ich denke hier an dringend benötigte Lösungen für die Städte. Der zunehmende Verkehr aufgrund
des stark wachsenden Versandhandels zusammen mit
dem Anlieferverkehr erfordert Verkehrslösungen in
den Innenstädten. Leider hat sich die aktuelle Regierung bei der Bewältigung der Herausforderungen
durch die städtischen Dienstleitungs- und Lieferverkehre in dieser Legislaturperiode zurückgezogen.
Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee hatte 2008 in seinem Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ vorgesehen, umwelt- und klimafreundliche Verkehrskonzepte für den städtischen Verkehr zu entwickeln sowie
übertragbare Standards zu erarbeiten. Davon wollte
sein Nachfolger Peter Ramsauer nichts wissen. Im
„Aktionsplan Güterverkehr und Logistik - Logistikinitiative für Deutschland“ 2010 wird die Initiative für
Logistik im städtischen Raum nicht berücksichtigt.
Das dritte Ziel ist die Erhöhung der Verkehrssicherheit. Verkehrsunfälle sind in über 80 Prozent auf den
„Faktor Mensch“ zurückzuführen. Die moderne und
intelligente Technik liefert in diesem Bereich bereits
jetzt viele gute Antworten: Assistenzsysteme halten
Spur und den richtigen Abstand zum vorausfahrenden
Auto ein; die automatische Notruffunktion „E-Call“
ist bereits beschlossen und wird europaweit ab 2015 in
Neuwagen eingesetzt werden.
Wann wir unseren Verkehr flächendeckend intelligent gestalten können, ist also weniger eine Frage der
technischen Machbarkeit oder dem Mangel an brauchbaren Innovationen als vielmehr eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Daher fordere ich die Regierung auf, auch die einfachen, leicht umsetzbaren
Maßnahmen für eine Erhöhung der Verkehrssicherheit
zu ergreifen. Denn hier können wir nicht einfach auf
morgen warten. Hier müssen wir handeln. Insbesondere auf unseren Landstraßen verlieren immer noch zu
viele Menschen ihr Leben; es sind 60 Prozent aller
Verkehrstoten.
Das liegt unter anderem daran, dass hier immer
noch zu viele ungeschützte Bäume am Straßenrand stehen. Bereits einfache planerische Maßnahmen können
hier große Wirkung haben: Schutzplanken in Alleen,
Erdwälle in Kurven als Anpralldämpfer. An Ortseingängen können Mittelinseln zur Temporeduzierung
dienen, und vor Gefahrenstellen können Rüttelstreifen
die Aufmerksamkeit erhöhen.
Bis die Zukunft vollends intelligent wird, gibt es gerade im Bereich der Verkehrssicherheit noch einiges zu
tun. Herr Ramsauer, dieses Gesetz darf nicht das Ende
Ihrer Bemühungen sein; es sollte der Start einer neuen
Verkehrssicherheitsinitiative werden.
Deutschland als wichtigstes Transitland Europas ist
auf die effiziente Vernetzung aller Verkehrsträger vor
dem Hintergrund des anwachsenden Güter- und Personenverkehrs angewiesen. Mittels intelligenter Verkehrssysteme lassen sich die Verkehrs- und Datenströme auf der Straße, der Schiene, in der Luft und zu
Wasser effizient und auch umweltverträglicher miteinander verbinden.
Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtline
2010/40/EU über Intelligente Verkehrssysteme schafft
zu diesem Zweck den rechtlichen Rahmen für die Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und für deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern.
Durch diesen Rechtsakt werden auch die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine Vereinheitlichung technischer Standards und Systeme in den IVSTechniken und -Systemen fördern. Dies begrüßen wir
ausdrücklich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
Bisher sind in der Richtlinie 2010/40/EU keine
konkreten Anforderungen zur genauen Umsetzung der
Vorgaben enthalten. Wir sollten allerdings nicht abwarten, bis die EU-Kommission die entsprechenden
Spezifikationen zur konkreten Umsetzung der Richtlinie erlassen hat, und erst dann die technischen Standards festlegen, wie die Vorgaben einer einheitlichen
technischen Verknüpfung der Daten aller Verkehrsträger zu erfüllen sind, sondern schon jetzt dafür sorgen, dass Forschung und Wissenschaft in Deutschland
im Bereich der IVS-Systeme und -Technik eine führende Rolle haben, um die noch von der EU zu definierenden Anforderungen zur technischen Umsetzung
bestens erfüllen zu können.
Obwohl die EU-Kommission darauf hinweist, dass
die Umsetzung der Richtlinie 2010/40/EU in der jetzigen Fassung nicht mit Mehrkosten für die Bürger, die
Wirtschaft und die Verwaltungen von der Kommune bis
zum Bund verbunden ist, sollte darauf bereits frühzeitig geachtet werden, dass die von der EU-Kommission
noch auszuarbeitenden Spezifikationen bei einer späteren Konkretisierung nicht doch mit Mehrkosten für
die Betroffenen verbunden sind.
Und auch wenn die Kommission schon darauf hingewiesen hat, dass die Mitgliedstaaten die Kosten für
die Herstellung von Kompatibilität und Interoperabilität bei intelligenten Verkehrssystemen zu tragen haben,
sollte sich die Bundesregierung nochmals ausdrücklich im Ministerrat für Fördermaßnahmen seitens der
EU einsetzen.
Unabhängig davon sollte auch beachtet werden,
dass durch IVS-Systeme in bedeutendem Ausmaß in
gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse eingegriffen wird.
Eine intensive politische Debatte und ein gesellschaftlicher Diskurs sind sicherlich von Vorteil, um ein
Bewusstsein für die vielfältigen Dimensionen dieser
Technologien zu schaffen und die Bevölkerung rechtzeitig über Chancen und Risiken zu informieren. Denn
bei allem Nutzen, den diese Technologien für eine vereinfachte und vereinheitlichte Nutzung von Straßen-,
Verkehrs- und Reisedaten haben - sie werden dazu beitragen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen
sowie Verkehrs- und Frachtmanagement permanent zu
verbessern - sollten wir nicht außer Acht lassen, dass
damit auch hoch sensible Daten von Verkehrsteilnehmern erfasst werden. So können sicherlich noch leichter Bewegungsprofile und Nutzungsverhalten von Verkehrssystemen erstellt werden.
Hier gilt es zu berücksichtigen, dass bei den Vorgaben
der technischen Umsetzung keine Systeme entwickelt
und gefördert werden, die leichtfertig Datenmissbrauch Vorschub leisten bzw. diesen erleichtern können.
Fragen der Erhebungs- und Eigentumsrechte an
den erhobenen Daten, des Datenmanagements, der
Zugangsrechte Dritter und damit allgemein verbundene rechtliche Regulierungsfragen sollten ebenfalls
so früh wie möglich beachtet werden. Den Schutz der
individuellen Freiheitsrechte in Form der Rechte an
den eigenen Daten gilt es unbedingt bei der Spezifikation der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht
zu berücksichtigen.
Mit sicheren und klaren rechtlichen Rahmenbedingungen lassen sich die Vorteile intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zu
anderen Verkehrsträgern optimal nutzen, und sie tragen zu einer wesentlichen Verbesserung der Verkehrsund Warenströme bei. Wir hoffen darauf, dass die EUKommission die entsprechenden Spezifikationen zur
Umsetzung dieser Richtlinie in diesem Sinne erlässt.
Andernfalls fordern wir die Bundesregierung auf, in
diesem Sinne auf die EU-Kommission einzuwirken.
Die Einführung von europaweit einheitlichen Intelligenten Verkehrssystemen, IVS, ist eine sinnvolle
Maßnahme. Diese Systeme können einen Beitrag dazu
leisten, die klimaschädlichen Wirkungen des Straßenverkehrs zu verringern, und sie dienen zudem der Verkehrssicherheit. Sie können sogar Leben retten, wenn
zum Beispiel ein automatisch ausgelöster Notruf rechtzeitig Hilfe organisieren kann. Es gibt Schätzungen,
dass durch das automatisierte Notrufsystem E-Call
jährlich 10 Prozent weniger Menschen auf Europas
Straßen ihr Leben verlieren.
Auch könnte es Tausenden von Berufskraftfahrern
in Zukunft erspart bleiben, stundenlang nach einem
Stellplatz zu suchen. Um die Lenkzeiten nicht zu überschreiten, sind Lkw-Fahrer viel zu oft auf „kreative“
Lösungen beim Rasten angewiesen, die nicht selten
verkehrsgefährdend sind. Die Bereitstellung von Informations- und Reservierungsdiensten für sichere LkwParkplätze kann hier eine wesentliche Verbesserung
der Arbeitsbedingungen von Lastkraftfahrern bringen.
Mit ihrem Gesetzentwurf will die Bundesregierung
die Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht überführen. Wie so häufig ist es der Bundesregierung nicht gelungen, die Umsetzungsfrist einzuhalten und die in
EU-Richtlinien enthaltenen Schwachstellen im Umsetzungsgesetz auszuräumen.
Um es nochmal deutlich zu machen: Die Linke teilt
das Ziel einer technisch gestützten Verbesserung der
Klimabilanz des Verkehrs und der Verkehrssicherheit!
Der vorliegende Entwurf des Umsetzungsgesetzes
ist jedoch mit zu vielen Fragezeichen versehen, als
dass die Linke ihm zustimmen könnte. Wir werden uns
vielmehr enthalten.
Es ist nämlich unverkennbar, dass der in der Richtlinie 2010/40/EG normierte Rechtsrahmen zu weit gefasst und zu allgemein gehalten ist, um die mit der Einführung von IVS verbundenen datenschutzrechtlichen
Probleme angemessen zu berücksichtigen. Es ist nicht
klar, wann der Betrieb von IVS-Diensten zur Erhebung
und Verarbeitung personenbezogener Daten führen
Zu Protokoll gegebene Reden
wird und für welche speziellen Zwecke eine Datenverarbeitung erfolgt.
Der in § 3 des Gesetzes integrierte Verweis, dass
personenbezogene Daten nur genutzt werden dürfen,
wenn dies bundesrechtlich zugelassen oder angeordnet
ist, kann die datenschutzrechtlichen Bedenken nicht
ausräumen.
Es muss viel genauer definiert werden, wer die Verantwortung für den Einsatz der Anwendungen und
Systeme tragen sollte und wer in der Kette der Datenverarbeitenden für die Einhaltung der Datenschutzvorschriften verantwortlich ist.
Bei der Diskussion um Intelligente Verkehrssysteme
im Straßenverkehr kommt nicht nur die Frage nach
den datenschutzrechtlichen Aspekten häufig zu kurz.
Bei aller Faszination, die von technischen Lösungen
ausgeht, gerät viel zu oft die Frage aus dem Blick, welches Problem denn eigentlich mit IVS gelöst werden
soll. Das Grundproblem ist das rasante Verkehrswachstum auf den Straßen Europas, welches durch
herkömmliche Maßnahmen wie den Ausbau der Straßenverkehrsinfrastruktur nicht gelöst werden kann.
Dies sieht auch die Kommission so.
Mit IVS soll das Wachstum des Straßenverkehrs effizienter verwaltet und die Zunahme seiner emissionsbasierten Folgekosten verlangsamt werden. Nebenbei
werden mit IVS auch industriepolitische Ziele verfolgt,
indem ein riesiger Markt für neue technische Produkte
und deren kommerzielle Anwendung geschaffen wird.
Letztlich wird alles getan, um mit dem Einsatz technischer Hilfsmittel Verkehre auf der Straße zu halten trotz des Bewusstseins der schädlichen Folgen dieses
Verkehrsträgers für Mensch und Umwelt. Bisher verfehlen die vorrangigen Maßnahmen der EU das selbstgesteckte Ziel, durch IVS Intermodalität zu fördern.
Mit ihrem verkürzenden Programm verspielt die Kommission bisher die Potenziale der IVS, die sie im Hinblick auf eine ökologische Verkehrswende zweifelsfrei
haben.
IVS kann mehr sein als reines Förderinstrument des
Straßenverkehrs. Dafür müssten jedoch endlich auch
die Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern effektiver gefördert werden, wie es die Richtlinie dezidiert
vorschreibt. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit
noch vollends auseinander - ein Missstand, den es
schnellstens abzustellen gilt.
Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurf
der Bundesregierung über Intelligente Verkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zu
anderen Verkehrsträgern. Wir kommen damit unserer
Verpflichtung nach, die EU-Richtlinie vom 7. Juli 2010
über Intelligente Verkehrssysteme in nationales Recht
umzusetzen.
Ziel der EU-Richtlinie ist es, durch innovative Lösungen und eine intelligente Organisation den Verkehr
europaweit effizienter und umweltschonender zu gestalten sowie allen Verkehrsteilnehmern ein hohes
Maß an Sicherheit zu ermöglichen. Dazu wird die Europäische Union künftig einheitliche Merkmale entwickeln und festlegen, die beschreiben, welchen technischen und qualitativen Anforderungen intelligente
Verkehrssysteme europaweit erfüllen müssen. Ferner
werden die zuständigen Behörden dazu verpflichtet,
diese Spezifikationen künftig anzuwenden. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf werden dafür die notwendigen nationalen Rahmenbedingungen geschaffen.
Das unterstützen wir.
Wenn wir unsere Mobilität nachhaltiger gestalten
wollen, benötigen wir ein integriertes intelligentes Gesamtverkehrssystem in Europa. Dazu müssen wir auch
neue Technologien fördern und harmonisieren. Moderne Fahrerassistenzsysteme können neben anderen
Verkehrssicherheitsmaßnahmen in hohem Maße zur
Verbesserung der Verkehrssicherheit beitragen. So
verringern insbesondere Technologien wie das elektronische Stabilitätsprogramm, ESP, Antiblockiersysteme, Abstandsregeltempomaten, Spurhalteassistenten
und elektronische Abbremssysteme erheblich die Gefahr von Unfällen bzw. sie können helfen, die Unfallschwere zu reduzieren. Großes Potenzial besitzen ferner Abbiegeassistenten, die viele schwere bzw.
tödliche Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern im
sogenannten Toten Winkel verhindern könnten.
Die Verkehrswegeinfrastruktur in Deutschland ist
sehr dicht und weitgehend vollständig ausgebaut - zumindest im Straßenbereich. Weitere Ausbaumaßnahmen sind oft nicht nur ökologisch fragwürdig, sondern
zumeist auch nicht finanzierbar. Deshalb lohnt es sich,
in intelligente Verkehrs- und Mobilitätssysteme zu investieren, denn mehr Asphalt bedeutet nicht gleichzeitig bessere Mobilität.
Intelligenz ist hier nötig und Intelligenz ist auch
möglich. Jeder in intelligente Verkehrssysteme investierte Euro ist daher ein Gewinn und kann teure Straßenbauinvestitionen sparen. Denn Mobilität ist mehr
als nur Verkehr; wir wollen eine bessere Mobilität für
die Menschen erreichen. Aber Ziel kann es nicht sein,
mehr Verkehr zu generieren. Deshalb müssen wir mittels intelligenter Systeme die Verkehrsträger neu und
effizient vernetzen.
Auch für eine bessere Auslastung der Infrastruktur
und zur Stauvermeidung bieten Kommunikationssysteme zwischen Fahrzeug und Infrastruktur gute
Voraussetzungen. Und auch im Bereich des Verkehrsund Frachtmanagements sowie bei der EU-weiten
Bereitstellung von Verkehrs- und Reiseinformation
gibt es noch erhebliche Reserven, die durch intelligente Technologien ausgeschöpft werden können. Es
ist daher aus unserer Sicht gut und richtig, dass wir
mit dem Gesetz die Richtung einer europäischen Harmonisierung intelligenter Verkehrssysteme gehen.
Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille. Bei
allem Zuspruch für den Gesetzentwurf dürfen wir nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
aus den Augen verlieren, dass beim Einsatz intelligenter Verkehrssysteme auch verstärkt Daten gesammelt
werden. Dies birgt ernstzunehmende Datenschutzprobleme. Auch erlauben diese Systeme eine verstärkte
Kontrolle des Arbeitnehmers durch die Arbeitgeber.
Die im Gesetzentwurf festgelegten Grundsätze zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten gehen dabei in die richtige Richtung. Spätestens wenn die EU-Spezifikationen für die jeweiligen
intelligenten Verkehrssysteme feststehen, sollte aber
noch dringend überprüft werden, ob Anpassungen von
Gesetzen und Verordnungen vorgenommen werden
müssen, um den Datenschutz und den Schutz der
Rechte der Arbeitnehmer ausreichend zu gewährleisten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12768, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/12371 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({0}), Gabriele Fograscher, Wolfgang
Gunkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus weiterentwickeln
- Drucksache 17/9975 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1}) SportausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschuss
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden.
Die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sowie aller damit zusammenhängenden Formen von Diskriminierung ist eine
herausragende Aufgabe, die sowohl vom Staat als
auch von der Gesellschaft bewältigt werden muss. Die
Überwindung von Rassismus ist ein überragend wichtiges politisches Handlungsfeld. Die Bundesregierung
verabschiedete daher im Jahr 2008 den Nationalen
Aktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene Intoleranz.
Der Aktionsplan ist zum einen Dokumentation der
vielfältigen schon laufenden Initiativen und Maßnahmen, die zur Bekämpfung von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus
und darauf bezogene Intoleranz in den unterschiedlichsten Bereichen ergriffen wurden. Zum anderen beschreibt er darüber hinaus weitere Anstrengungen und
Maßnahmen, die insbesondere den gesellschaftlichen
Zusammenhalt gezielt fördern und stärken. Ziel ist eine
Gesellschaft, in der rassistische, fremdenfeindliche
und diskriminierende Bestrebungen keinen Halt finden
können. Der Nationale Aktionsplan ist somit ein Beispiel für das kontinuierliche Engagement zur Verbesserung der Menschenrechtssituation.
Der vorliegende Antrag der SPD möchte unrichtig
den Eindruck erwecken, dass die bisherigen Maßnahmen des Aktionsplans gegen Rassismus unzulänglich
sind.
Die SPD fordert eine Überarbeitung des Aktionsplans und übersieht dabei, dass es sich nicht um einen
statischen Maßnahmeplan handelt. Im Text des Nationalen Aktionsplans selbst wird klargestellt, dass mit
der Erstellung des Aktionsplans die Arbeit nicht abgeschlossen ist. Die weiteren Aktivitäten müssten sich an
den getroffenen Zielsetzungen orientieren und messen
lassen. Es wird auch klargestellt, dass die einzelnen
Maßnahmen der Evaluierung und Nachsteuerung bedürfen.
Die Kritik an dem Kapitel „Förderung der Integration von Migrantinnen und Migranten“ verbunden mit
der Forderung, dieses aus dem Aktionsplan zu streichen, zeigt das Unverständnis für die Tatsache, dass
die Bekämpfung von Rassismus eine Querschnittsaufgabe ist, die alle Teile der Gesellschaft und verschiedene Handlungsfelder betrifft. Eine offene Gesellschaft, in der alle Bürger, ungeachtet ihrer nationalen,
ethnischen oder religiösen Herkunft, ganz selbstverständlich akzeptiert und anerkannt werden, ist sowohl
Ziel der Integrationspolitik als auch Ziel des Aktionsplans gegen Rassismus. Unter dieser Maßgabe fügen
sich Maßnahmen zur Integrationsförderung in den Nationalen Aktionsplan ein.
Bereits im ersten Satz der Einleitung des Themas
„Integration“ im Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus ist klargestellt, dass Migranten nicht die Ursache von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind.
Es ist also nicht nachvollziehbar, warum in dem vorliegenden Antrag behauptet wird, dass das Kapitel die
Fehldeutung nach sich ziehen könnte, es gäbe einen
impliziten Zusammenhang zwischen Integrationsleistungen und Rassismus.
Eine solche Fehldeutung ist aufgrund der klaren
Zielsetzung und der klaren Aussagen des Aktionsplans
nicht möglich. Eine Schuldzuweisung für die Tatsache,
dass Migrantinnen und Migranten zur Projektionsfläche rassistisch, ausländerfeindlich oder rechts28932
extremistisch motivierter Vorurteile und Stereotype geraten, wird deutlich ausgeschlossen, und das ist
gerade Grund dafür, die Querschnittsaufgabe der Bekämpfung von Rassismus auch als eine der Herausforderungen für die lntegrationspolitik anzunehmen.
Die Aufklärung über die Fakten, insbesondere die
Ursachen und die Notwendigkeit von Migration, die
sich durch den demografischen Wandel in unserem
Land ergibt, ist ein maßgebliches Mittel zur Bekämpfung solcher Vorurteile und eventuell daraus erwachsender Diskriminierungen. Eine wichtige Forderung
der Integrationspolitik ist die Stärkung der Willkommenskultur. Dies kann nur gelingen, wenn sich die
Grundhaltung der Menschen zum Thema Migration
zum Positiven hin verändert und Migration als Chance
und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Die
Stärkung der Willkommenskultur bedeutet auch eine
Demokratie- und Toleranzförderung, damit Zuwanderung als Chance begriffen wird und Menschen in ihrer
ganzen Vielfalt von Alter, Geschlecht, ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft, körperlicher und psychischer Befähigung, religiöser Zugehörigkeit und sexueller Orientierung wertgeschätzt werden.
Aus diesem Grund sind die Maßnahmen zur Förderung der Integration Bestandteil des Nationalen
Aktionsplans. Ihre Streichung würde das Ausblenden
eines wesentlichen Aspekts und eines wichtigen Handlungsfeldes gegen Rassismus bedeuten.
Die Forderung eines Gesetzentwurfs, um den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz und in den Bundesgesetzen zu ersetzen, wird die Bekämpfung des Rassismus
nicht voranbringen. Die Verwendung des Begriffs
„Rasse“ ist nicht unproblematisch, bedeutet jedoch
keinesfalls die Akzeptanz von Theorien verschiedener
menschlicher Rassen. Es soll deutlich gemacht werden,
dass nicht das Gesetz das Vorhandensein verschiedener menschlicher „Rassen“ voraussetzt, sondern dass
Personen, die sich rassistisch verhalten, eben dies annehmen und zur Rechtfertigung von Diskriminierung
verwenden.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union lehnen kategorisch alle Lehren rassistischer Überlegenheit sowie Theorien oder Lehren ab, die darauf abzielen,
die Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen zu
behaupten.
Auch Art. 3 Abs. 3 GG enthält keine Aussage zur
Existenz verschiedener menschlicher Rassen. Ihm ist
auch keine Akzeptanz bestimmter Rassenkonzeptionen
zu entnehmen. Mit dem Wortlaut des Art. 3 GG wurde
in den Jahren 1948/1949 ausdrücklich ein deutliches
Zeichen gegen den Rassenwahn des Nationalsozialismus gesetzt. Dies ist im historischen Kontext klar ersichtlich.
Ein weiterer Grund, den Begriff beizubehalten, besteht darin, dass „Rasse“ den sprachlichen Anknüpfungspunkt zu dem Begriff des „Rassismus“ bildet und
die hiermit verbundene Signalwirkung zur konsequenten Bekämpfung rassistischer Tendenzen genutzt werden sollte. Die Tilgung des Begriffs „Rasse“ würde
nichts daran ändern, dass bedauerlicherweise der Begriff zur Rechtfertigung von Diskriminierung benutzt
wird.
Anstatt über den Ersatz des Begriffs „Rasse“ zu debattieren, sollten alle Anstrengungen unternommen
werden, um menschenrechtswidrige Erscheinungen wie
Rassismus durch gesellschaftliche Kräfte transparent
zu machen und damit auch besser bekämpfen zu können.
Die Bundesregierung verfolgt mit dem ganzheitlichen Ansatz zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus dieses Ziel mit
Maßnahmen zur politischen und gesellschaftlichen
Aufklärungsarbeit, beispielsweise über die Bundeszentrale für politische Bildung.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass insbesondere die Forderungen nach der Streichung des Kapitels zur Förderung der Integration und die Ersetzung
des Begriffs „Rasse“ die Arbeit gegen den Rassismus
nicht unterstützen und aus diesem Grund abzulehnen
sind. Wünschenswert wäre eine Unterstützung der bisher
erfolgreichen Maßnahmen und Bundesprogramme, die
im Rahmen des Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus erfolgten.
Wir diskutieren heute, am Internationalen Tag gegen
Rassismus, in erster Beratung den SPD-Antrag „Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus weiterentwickeln“.
Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Er ist
kein Randproblem. Der heutige Internationale Tag gegen Rassismus mahnt uns, antidemokratische und
menschenverachtende Einstellungen umfassend und
entschlossen zu bekämpfen. Dafür muss die Bundesregierung die richtigen Weichen stellen.
Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung
auf, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus weiterzuentwickeln. Dabei ist Weiterentwicklung im engeren Sinne eine Beschönigung; denn seit seiner Verabschiedung 2008 vermodert der Aktionsplan in den
Schubladen der Bundesregierung. Wir wollen ihn da
wieder herausholen und ihn zu einem ernstzunehmenden Instrument im Engagement gegen rassistische, antisemitische, antiziganistische, kurz: gegen menschenfeindliche Einstellungen machen.
Obwohl die Bundesregierung in ihren eigenen Ausführungen innerhalb des Nationalen Aktionsplans erkennt, dass sich die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene
Intoleranz nicht im Kampf gegen den Rechtsextremismus erschöpft, legt sie die Hände in den Schoß.
Lassen Sie mich Ihnen die Aufgaben des Aktionsplans in Erinnerung rufen: Erstens geht es darum, eine
Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rassismus zu
entwickeln. Zweitens soll der Aktionsplan geeignete
Instrumente vorstellen und über Fortschritte bei der
Bekämpfung von Rassismus berichten. Drittens sollen
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
mithilfe des Aktionsplans zukunftsgerichtet Maßnahmen zur Erreichung selbst gesetzter Ziele verankert
werden.
Dabei sind drei Aspekte besonders wichtig, auf die
ich nun Ihre Aufmerksamkeit richten möchte:
Erstens. Man kann Diskriminierungen und Erscheinungsformen von Rassismus nur dann erfassen, wenn
wir uns von unserem historisch bedingt engen Rassismusbegriff lösen. Rassismus fängt nicht erst bei rechtsextremistischen oder neonazistischen Straftaten an.
Lassen Sie mich dazu Bundeskanzlerin Angela Merkels
Worte zitieren, die sie bei der Gedenkveranstaltung für
die Opfer der rechtsextremistischen Gewalt des NSU
am 23. Februar 2012 sagte:
Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur
Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die
Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung
erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und
ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung,
wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und
Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus
Worten können Taten werden.
Durch Forschungsarbeiten wissen wir, dass es in
einem besorgniserregenden Ausmaß durchgängig
antisemitische, rassistische, antiziganistische und
rechtsextreme Einstellungen in unterschiedlichen
Bevölkerungsgruppen der deutschen Einwanderungsgesellschaft gibt. Daher brauchen wir einen neuen
Aktionsplan, der das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen wie Diskriminierung und Rassismus erfasst,
einen Aktionsplan, in dem indirekte und direkte rassistische Diskriminierung von allen hier lebenden Bevölkerungsgruppen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft erhoben werden. Dabei sollte ein besonderes
Augenmerk auf die Situation von Menschen gelegt
werden, die von mehrdimensionalen Diskriminierungen betroffen sind. Nur so können Mehrfachdiskriminierungen und Verschränkungen von rassistischer
Diskriminierung wegen der sozialen Herkunft, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion,
des Alters oder einer Behinderung offengelegt werden.
Zweitens. Der Aktionsplan sollte in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen überarbeitet
werden. Sie sind die Expertinnen und Experten vor
Ort. Sie können Best-Practice-Beispiele liefern und artikulieren, wo der Schuh drückt.
Drittens. Wir brauchen endlich einen verbindlichen
und evaluierbaren Maßnahmenplan zum Abbau von
Rassismus. Dabei müssen natürlich auch Maßnahmen
zur Überwindung indirekter Diskriminierungen entwickelt werden. Nur so kann dem Aktionsplan Leben eingehaucht werden.
Viertens. Das Kapitel „Förderung der Integration
von Migrantinnen und Migranten“ muss im nächsten
Aktionsplan gestrichen werden. Obwohl sie in keinem
Zusammenhang mit Rassismus stehen, findet sich bislang im Aktionsplan eine deskriptive Zusammenfassung von integrationspolitischen Maßnahmen wie beispielsweise die Integrationskurse. Diese Tatsache
könnte suggerieren, dass die Integrationsbereitschaft
von Migrantinnen und Migranten rassistische Motive
und Handlungen hervorruft. Ein fatales Signal!
Fünftens. Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Begriff
„Rasse“ durch eine geeignete Formulierung im
Grundgesetz und in Bundesgesetzen ersetzt. Denn wir
sind der Überzeugung, dass Gesetzestexte zur Bewusstseinsbildung beitragen und eine Vorbildfunktion
haben sollten, insbesondere wenn es um die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus geht.
Auf internationaler und auf EU-Ebene ist die Verwendung des Begriffs „Rasse“ in juristischen und
politischen Dokumenten umstritten. Bereits im Jahr
1950 wies die UNESCO im „Statement on Race“
darauf hin, dass die Terminologie „Rasse“ für einen
sozialen Mythos stehe, der ein enormes Ausmaß an
Gewalt verursacht habe:
Alle Menschen gehören einer einzigen Art an und
stammen von gemeinsamen Vorfahren ab. Sie sind
gleich an Würde und Rechten geboren und bilden
gemeinsam die Menschheit.
Die Formulierung „Rasse“ weckt die Assoziation
eines Menschenbildes, das auf der Vorstellung unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ beruht. Allein
rassistische Theorien gehen von der Annahme aus,
dass es unterschiedliche menschliche „Rassen“ gibt.
Mit dem Glauben an die Existenz von „Rassen“ gehen
Differenzierungen und Hierarchisierung von konstruierten Menschengruppen einher. Vor dem Hintergrund
der geschichtlichen Wirkung von Konzepten und gedanklichen Konstrukten, die mit dem Begriff „Rasse“
verbunden sind, ist kein Grund ersichtlich, an dem Begriff festzuhalten.
Bereits im Zuge des Erlasses der europäischen Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG gab es Unzufriedenheit von Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verwendung
des Begriffs „Rasse“. Einige EU-Mitgliedstaaten verzichten generell in ihrem nationalstaatlichen Rechtswesen auf den Begriff „Rasse“ und regeln den Tatbestand der rassistischen Diskriminierung mit anderen
Formulierungen. Finnland beispielsweise regelt in seiner Verfassung das Verbot aus Gründen der Herkunft
durch die Formulierung „ethnische und nationale
Herkunft“. Österreich normiert im Gesetz zur Nichtdiskriminierung „ethnische Zugehörigkeit“ anstelle
von „Rasse“.
Die bloße Streichung des Begriffs „Rasse“ aus der
Rechtsordnung wäre natürlich nicht ausreichend. Damit würde der Schutzbereich des Grundrechts verengt.
Dennoch ist es die Aufgabe des Hohen Hauses und der
Bundesregierung, hier Abhilfe zu schaffen.
Sechstens und letztens: die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Kaum ein Liberaler oder Konservativer wollte sie. Laut war das Geschrei bei der EinfühZu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({1})
rung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Ich
bin glücklich, dass wir sie haben. In ihr liegt viel Potenzial. Ihr kommt gemäß ihrer Aufgabenbeschreibung
im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierung
in Deutschland zu. Um ihr Aufgabenpotenzial vollumfänglich auszuschöpfen und tatsächlich ein entscheidender Akteur im Abbau von Diskriminierungen zu
werden, muss die - im europäischen Vergleich ohnehin
spärlich mit Kompetenzen und Mitteln bedachte Antidiskriminierungsstelle des Bundes endlich besser
finanziell ausgestattet werden.
Rassismus ist nach wie vor ein Problem in Deutschland. Aus tiefer Überzeugung stellt sich die Bundesregierung rassistischen Ideologien und rassistischer
Gewalt entschieden in den Weg. Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD erweckt jedoch den Eindruck, die christlich-liberale Koalition sei in diesem
Punkt nachlässig in diesem Bereich gewesen. Das Gegenteil ist der Fall. So hat die Koalition die Mittel für
Projekte gegen Antisemitismus und Rassismus im Vergleich zur letzten rot-grünen Regierung beinahe verdreifacht. Wir haben die Präventionsprogramme im
Rahmen der Initiativen „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“, „Demokratie Stärken“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ verlängert, um Planungssicherheit zu schaffen.
Der Bund unterstützt die Antirassismusarbeit nach
Kräften. Gefragt sind hierbei jedoch in erster Linie die
Länder, die im Rahmen der Kultushoheit unter anderem für die schulische Bildung und Erziehung zuständig sind. Wenn die Situation in Deutschland tatsächlich so schrecklich ist, wie Sie beschreiben, könnten
Sie sich zur Abwechslung einmal an Ihre Kolleginnen
und Kollegen in den Ländern wenden - bekanntermaßen sind Sie an fast jeder Landesregierung beteiligt.
Wenn Sie in den Ländern versagen, machen Sie dafür
bitte nicht den Bund verantwortlich.
Stattdessen fordern Sie vor allem, was einen rein
symbolischen Charakter hat. Dabei wissen Sie nicht
einmal selbst, wie Ihre Forderungen konkret umgesetzt
werden können. Das betrifft Ihre Forderungen zu Maßnahmen gegen indirekte Diskriminierung. Indirekte
Diskriminierung ist bereits jetzt in Deutschland verboten. Das schreibt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vor, das Sie 2006 während Ihrer Regierungsverantwortung verabschiedet haben. Das sollten Sie also
wissen. Wenn Sie nun sieben Jahre später fordern, die
Bürger bräuchten staatliche Unterstützung dabei, das
Gesetz zu befolgen, ist das AGG entweder unverständlich oder von Ihnen unzureichend begleitet worden.
Wie ratlos Sie sind, zeigt sich bei Ihrer Forderung,
den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz durch eine andere Formulierung zu ersetzen. Sie selbst führen in Ihrer Begründung aus, dass auch die Begriffe „ethnische
Herkunft“ oder „Ethnie“ problematisch sind, weil
auch durch sie Gruppen unzulässig pauschalisiert
werden. Das sehe auch ich als Problem. Sie liefern dafür aber keine Lösung. Sie machen keinen Vorschlag,
wie eine alternative Formulierung aussehen könnte.
Das ist reine Symbolpolitik. Sie können nicht fordern,
dass wir das Grundgesetz ändern sollen, ohne zu wissen, wie die Änderung überhaupt aussehen soll. Das
machen wir nicht mit.
Letztlich wollen Sie den Begriff „Rasse“ - oder ein
Äquivalent - auch gar nicht fallen lassen. Wenn Sie
künftig Diskriminierung und Rassismus noch weit stärker erfassen und ahnden wollen als heute, kommen Sie
auch gar nicht ohne eine entsprechende Kennzeichnung von Personen aus. In einer immer vielfältiger
werdenden Welt kommen Sie damit aber nicht weit.
Wie wollen Sie bestimmen, welche Herkunft der Täter
und welche Herkunft das Opfer haben muss, damit etwas als rassistisch gilt? Eine umfassende Katalogisierung der Herkünfte lehne ich genauso ab wie eine Erfassung der Herkunft bei Einzelpersonen. Und ganz im
Ernst: Das ist auch gar nicht notwendig. Die Gerichte
bestrafen bereits jetzt kriminelle Handlungen stärker,
wenn sie vor einem rechtsextremistischen oder rassistischen Hintergrund erfolgen. Das zu leugnen, führt an
der Realität vorbei.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Forderungen des SPD-Antrags entweder durch staatliches
Handeln überflüssig sind oder die eigentlichen Adressaten die Länder sind oder die Forderungen rein symbolischen Charakter haben und auch die SPD selbst
nicht sagen kann, wie die konkrete Umsetzung aussehen könnte. Alles in allem ist der Antrag nicht ausgereift.
Heute gibt es an vielen Orten wieder Aktionen gegen Rassismus; denn es ist der Internationale Tag
gegen Rassismus, und die Aktionen sind auch nötig.
Rassismus - das bedeutet die systematische Diskriminierung und Abwertung von Menschen, die in den
Augen großer Teile der Gesellschaft anders sind als
sie: weil sie eine andere Hautfarbe, Herkunft oder
auch Religion haben. Rassismus verletzt nicht nur
Menschenrechte, Rassismus tötet auch.
Die offizielle Statistik der Bundesregierung weist
seit dem Jahr 1990 63 Menschen aus, die aus rassistischen Gründen getötet wurden. Dabei liegt die Zahl
der Ermordeten wesentlich höher; denn oftmals ermittelt die Polizei gar nicht nach einer rassistischen oder
neonazistischen Einstellung der Täterinnen und Täter.
Journalistinnen und Journalisten von „Tagesspiegel“
und „Die Zeit“ haben circa 150 Opfer recherchiert.
Die Amadeu-Antonio-Stiftung listet sogar mehr als
180 Ermordete auf.
Diese folgenschwere Ermittlungspraxis der Behörden ist zuletzt durch die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, NSU, öffentlich geworden. Denn ganz in rassistischer Manier ermittelten die
Behörden in den Familien der Opfer, da diese die
Zu Protokoll gegebene Reden
Gründe für die Mordserie in der „Mafia- und Schutzgelderpressung“ vermuteten. Die eingesetzte Sonderkommission hieß „Bosporus“ und führte Ermittlungen
zu „Döner-Morden“.
Gerade nach dem 11. September 2001 verorteten
auch die deutschen Sicherheitsbehörden die Schwerstkriminalität im migrantischen bzw. muslimischen Milieu. Neun Menschen mit Migrationshintergrund wurden an verschiedenen Orten mit derselben Waffe
ermordet. Die Linke kritisiert, dass die Sicherheitsbehörden angeblich keine rassistischen Motive erkannt
haben wollen, und das, obwohl in den Jahren zuvor bereits Dutzende Menschen aus rassistischen Motiven in
Deutschland ermordet worden waren. Die Linke fordert eine rückhaltlose Aufklärung, und das auch angesichts der Tatsache, dass bereits bevor die NSU-Nazis
im Jahr 2000 zur ersten Hinrichtung schritten,
105 bzw. 125 Menschen umgebracht worden waren.
Die Linke fordert auch, dass Rassismus endlich als
gesellschaftliches Problem erkannt, als solcher benannt und wirksam bekämpft wird. Rassismus ist Alltag in Deutschland: Abschiebeknäste, Residenzpflicht
und die Isolierung von Flüchtlingen sprechen für eine
gezielte Ausgrenzung. Offizielle Diskurse um das Asylrecht und integrationspolitische Themen verstärken
oder legitimieren rassistische Denkmuster, wie die
Diskussion um angebliche Integrationsverweigerer
oder um den angeblichen Missbrauch bei der Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien zeigt. Wer nicht
davor zurückschreckt, rassistische Vorurteile zu schüren bzw. diese parteipolitisch zu nutzen, ist Wegbereiter rassistischer Gewalt.
Polizei, Justiz und Geheimdienste spiegeln die gesellschaftlichen Verhältnisse wider, wie die bereits erwähnten Sonderkommissionen mit Namen wie „Aladin“ oder „Bosporus“, die Opfer rassistischer Gewalt
unter Generalverdacht stellen, oder die rassistische
Bezeichnung „Döner-Morde“. Auch das sogenannte
Racial Profiling ist eine rassistische Polizeipraxis. Dabei werden Menschen insbesondere in Bahnen,
an Flughäfen und auf öffentlichen Plätzen allein aufgrund ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe, einfach wegen ihres vermeintlichen Andersseins kontrolliert.
Die Bundesregierung leugnet das Problem. Rassistische Polizeikontrollen gebe es nicht, weil das ja
grundgesetzwidrig wäre, heißt es schlicht in Verleugnung der vielfach belegten konkreten Alltagserfahrungen Betroffener.
Aus Sicht der Linken ist die Bundesregierung weniger Teil der Lösung als eher Teil des Problems. Denn
sie versagt nicht einfach nur bei der Bekämpfung des
Rassismus. Sie leistet oftmals einem Klima Vorschub,
in dem der tödliche Rassismus ganz im Stile des NSU
möglich ist, so zum Beispiel auch durch die Art und
Weise der Veröffentlichung der Studie „Lebenswelten
junger Muslime in Deutschland“, durch die rassistische Ressentiments und Stereotype befördert wurden.
Damit betätigte sich Bundesinnenminister Friedrich
gerade einmal eine Woche nach der Gedenkveranstaltung am 23. Februar 2012 für die Opfer der NaziMordserie schon wieder kräftig an der Stigmatisierung
von Muslimen.
Von der eigenen Verantwortung und Mitschuld an
den Folgen einer Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung ist seitens der Bundesregierung nie etwas zu
hören. Statt Vorurteilen und Ressentiments entgegenzutreten, errichtet sie den wissenschaftlich längst widerlegten rechtspopulistischen Popanz einer angeblich
verbreiteten Integrationsverweigerung immer wieder
aufs Neue.
Auch aktuell will vor allem die CDU/CSU offenkundig erneut Wahlkampf auf Kosten von Migrantinnen
und Migranten, insbesondere von Sinti und Roma, machen. Fakten spielen dabei auch hier wieder einmal
keine Rolle. Laut Rheinisch-Westfälischem Institut für
Wirtschaftsforschung gehen 80 Prozent der Menschen,
die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2007
aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland gekommen sind, einer Erwerbsarbeit nach. 22 Prozent
von ihnen sind hochqualifiziert und 46 Prozent qualifiziert.
Doch diese Wahrheit stört den Bundesinnenminister
nicht. Er spricht von Sozialbetrug und einer massenhaften Armutsmigration von Migrantinnen und Migranten aus diesen beiden Ländern. Mit der Forderung
nach Wiedereinreisesperren und der Verhinderung der
Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum wird Rassismus vor allem gegen Sinti und
Roma geschürt. Für das soziale Problem hat die Bundesregierung keine Lösung. Mit dem Phänomen Armut
und der Verantwortung dafür will sie sich nicht auseinandersetzen. Stattdessen wird die Armut mit „kulturellen“ Eigenschaften erklärt und damit dem Rassismus und Antiziganismus Tür und Tor geöffnet.
Wie schlampig, desinteressiert und fahrlässig die
Bundesregierung mit dem Thema Rassismus umgeht,
zeigt beispielhaft der 2008 verabschiedete Nationale
Aktionsplan gegen Rassismus. Lustlos wird darin aufgeschrieben, was die Bundesregierung ohnehin tut.
Besonders kritisiert die Linke, dass selbst noch die Integrationspolitik als ein Beitrag gegen Rassismus dargestellt wird - so, als ob Rassismus eine Reaktion auf
mangelnde Integration sei, was absurd ist.
Die Linke fordert eine angemessene Analyse rassistischer Diskriminierung in Deutschland und in die Zukunft gerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus. Das gilt nicht allein für den Alltagsrassismus
in der sogenannten Mitte der Gesellschaft, sondern
insbesondere auch für den institutionellen Rassismus.
Die Bekämpfung von Rassismus erfordert auch die
Herstellung gleichberechtigter sozialer und politischer Teilhabe aller Menschen. Genau hier versagt die
Bundesregierung, allein schon deshalb, weil ihr der
entsprechende Wille fehlt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Insofern ist es an sich begrüßenswert, dass der vorliegende Antrag der Bundesregierung Handlungsmaximen bezüglich der Bekämpfung von Rassismus
aufzeigt. Schade nur, dass Ihre Fraktion, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, selber über Jahre
faktisch untätig geblieben ist. Denn seit der Abschlusserklärung der rot-grünen Bundesregierung auf der
„Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz“ in Durban im Jahr 2001 ließen sie
bis 2008 die Zeit mehr oder weniger ungenutzt verstreichen. Dass wir jetzt also diesen schlechten Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus haben, der durch
Ihre Fraktion mit der CDU/CSU zusammengeschustert
wurde, ist auch Ihr zweifelhaftes Verdienst.
Trotz allem kann die Linke dem Antrag selbst zustimmen. Die Grundkritik wird von uns seit Jahren
geteilt: ein zu enger Rassismusbegriff, vor allem die
Reduzierung des Rassismus auf den sogenannten
Rechtsextremismus, keine überprüfbaren Maßnahmen,
keine eigenen Initiativen der Bundesregierung. Auch
die Forderungen decken sich mit den unsrigen. Die
Linke steht für die Erhebung des Ist-Stands und einen
breiteren Rassismusbegriff, konkrete Maßnahmen,
eine dem Thema adäquate Finanzierung der Maßnahmen und antirassistischen Initiativen und der Antidiskriminierungsarbeit, eine Evaluierung der Maßnahmen in kürzeren Abständen wie zum Beispiel alle zwei
Jahre sowie ein Hinterfragen der Rolle staatlicher Institutionen und Praktiken. Letzteres ist aus Sicht der
Linken deshalb so wichtig, weil rassistische Kontrollen, Pauschalverdächtigungen und Entrechtung für
viele Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten alltägliche Erfahrungen sind.
Diskriminierende und ausgrenzende Gesetze und
Vorschriften wie etwa das Asylbewerberleistungsgesetz, die Residenzpflicht, faktische und tatsächliche
Arbeitsverbote stehen für die Bundesregierung aber
nicht zur Diskussion. Problematisch ist insbesondere,
dass die Bundesregierung in dem Aktionsplan die Förderung der Integration als maßgebliches Mittel zur
Bekämpfung von rassistischen Vorurteilen ansieht. Die
Bundesregierung verkennt dabei, dass rassistische
Vorurteilsstrukturen in der Gesellschaft unabhängig
von der realen Erfahrung mit Migrantinnen und
Migranten vorhanden sind; so auch die Kritik von
etwa 100 Nichtregierungsorganisationen der Antirassismus- und Migrationsarbeit im Positionspapier
„Handlungsfelder für einen Politischen Aktionsplan
gegen Rassismus“ vom Juni 2010, Seite 4, zum Beispiel: http://fachinformationen. diakonie-wissen.de/
node/2966.
Anstatt die von Rassismus betroffenen Menschen
dahin gehend zu stärken, ihnen gleiche Rechte zu gewähren, werden sie weiter ausgegrenzt und diskriminiert. Die Linke fordert deshalb, dass das Kapitel zur
Förderung der Integration von Migrantinnen und Migranten aus dem Aktionsplan verschwinden muss.
Keinen Widerspruch gibt es auch hinsichtlich des
„Rasse“-Begriffs. Dazu hatte die Linke bereits 2010
einen Antrag, auf Bundestagsdrucksache 17/4036, eingebracht. Die Linke forderte darin, dass der Begriff
„Rasse“ keine Aufnahme mehr findet und stattdessen
die Formulierung „ethnische, soziale und territoriale
Herkunft“ verwendet wird.
Der bestehende Nationale Aktionsplan gegen Rassismus lässt nach wie vor konkrete, umsetzbare und
messbare Ziele weitgehend vermissen. Ein kleiner
Schritt in Sachen Antirassismus wäre, dem Aktionsplan gegen Rassismus endlich einen konkreten Handlungscharakter zu geben. Diese Forderung auch mehrerer Verbände und Initiativen unterstützt die Linke
ausdrücklich.
Wir müssen Rassismus erkennen, beim Namen nennen und konsequent ächten. Rassismus ist menschenfeindlich und kostet auch heute noch in Deutschland
Leben. Das belegen die Erkenntnisse rund um die
rechte Terrorserie des NSU, die mindestens zehn Todesopfer forderte. Es ist beschämend, dass die offenkundig rassistischen Hintergründe dieser Morde jahrelang ignoriert und verleugnet wurden.
Insgesamt haben mindestens 182 Menschen in
Deutschland seit 1990 ihr Leben verloren, weil sie
nicht in das rassistische Weltbild der Täter passten.
Die aktuelle Strafrechtsbestimmung gegen Rassismus
führt in Deutschland immer noch dazu, dass rassistisch motivierte Straftaten oft nicht als solche untersucht werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, eine lückenlose Aufklärung aller rassistischen Straftaten voranzutreiben. Neben der Aufarbeitung des Versagens der
Sicherheitsbehörden muss entschieden und kontinuierlich gegen jegliche Form von Rassismus in Deutschland vorgegangen werden.
Rassistische Einstellungen und gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit beschränken sich bei weitem
nicht auf Neonazis, sondern sind in der sogenannten
Mitte der Gesellschaft breit verankert. Wissenschaftliche Untersuchungen, wie die „Deutschen Zustände“
der Universität Bielefeld oder „Die Mitte im Umbruch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen dies:
Rassistisches Denken und eine abwertende Haltung
gegenüber anders Denkenden, Lebenden und Liebenden sind leider fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft.
Viele Menschen werden weiterhin Tag für Tag aus
rassistischen Gründen diskriminiert, entwürdigt und
ihrer Rechte beraubt. Rassismus bedeutet für die Betroffenen konkrete Benachteiligung zum Beispiel in der
Arbeitswelt oder in der Schule.
Eine Studie der Universität Konstanz von 2010 belegt, dass Bewerberinnen und Bewerber aufgrund eines türkischen Nachnamens bei gleicher Qualifikation
deutlich schlechtere Chancen haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes berichtet, dass sich die Fälle von ethnischer Diskriminierung
in den ersten sechs Jahren ihres Bestehens verdoppelt
haben. Die Bundesregierung muss endlich mit konkreten Maßnahmen gegen jede Form von Rassismus und
andere Ideologien der Ungleichwertigkeit tätig werden.
Bereits 2001 hat unter der Leitung der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte die dritte Weltkonferenz
gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz
in Südafrika stattgefunden.
In der Abschlusserklärung hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, einen Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus aufzustellen und konkrete
Maßnahmen zu implementieren. Mit einer sechsjährigen Verspätung hat sie es erst 2007 geschafft, einen
Aktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene
Intoleranz zu erarbeiten und 2008 zu verabschieden.
Die Bundesregierung hat sich nicht nur viel Zeit für
die Erarbeitung des Aktionsplans gelassen, sondern es
auch versäumt, konkrete Ziele zu formulieren. Der Aktionsplan enthält weder eine Analyse der aktuellen Situation in Deutschland noch konkrete Maßnahmen und
Instrumente zur Bekämpfung von Rassismus. Stattdessen wird Rassismus mit Integrationsdefiziten von Migrantinnen und Migranten gerechtfertigt und dem
Aktionsplan ein zu eng gefasster Rassismusbegriff zugrunde gelegt, der sich überwiegend auf rechtsextreme
Handlungen beschränkt. Dies wurde bereits 2007 von
zahlreichen Nichtregierungsorganisationen kritisiert.
Geändert hat sich daran bisher nichts.
Stattdessen zeigen die Ergebnisse der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ oder die
Plakataktion „vermisst“ des Bundesinnenministers
Friedrich, dass die Regierung weiterhin versucht, die
Migrantinnen und Migranten selbst für ihre Diskriminierungserfahrungen verantwortlich zu machen, statt
Rassismus beim Namen zu nennen und zu bekämpfen.
Mit der Implementierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und der Einrichtung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sind Schritte in die
richtige Richtung gegangen worden. Es ist aber weiterhin weder eine umfassende Strategie noch eine ernst
gemeinte Bekämpfung von Rassismus durch die aktuelle Bundesregierung festzustellen. Rassismus darf
sich nicht in unserer Gesellschaft breitmachen, und
Menschen dürfen nicht länger aufgrund von Zuschreibungen ausgegrenzt und benachteiligt werden.
Der Antrag der SPD verweist deshalb zu Recht auf
eine dringend notwendige Weiterentwicklung des Aktionsplans, die Bündnis 90/Die Grünen unterstützen.
Notwendig sind eine konsequente und offene Auseinandersetzung mit Rassismus sowie eine umfassende
Analyse der aktuellen Situation in Deutschland und ein
kontinuierliches Monitoring.
In einem zweiten Schritt gilt es, konkrete und verbindliche Maßnahmen und Instrumente zur Bekämpfung von Rassismus zu implementieren. Ein konsequent
umgesetzter Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus
wäre ein wichtiges Signal, dass sich die Politik in
Deutschland klar und eindeutig gegen Rassismus positioniert.
Um Rassismus und andere menschenfeindliche Haltungen erfolgreich zu bekämpfen, brauchen wir aber
insbesondere eine starke Zivilgesellschaft und die Verstetigung bisher bereits erfolgreich arbeitender Strukturen. Kontinuierliche Aufklärung, Sensibilisierung,
Beratung und politische Bildung müssen ermöglicht
und ausreichend finanziert werden.
Wir fordern deshalb ein Bundesprogramm gegen
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, das mit
50 Millionen Euro jährlich ausgestattet und langfristig
angelegt ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9975 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Handelsübereinkommen vom 26. Juni 2012 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits sowie Kolumbien und Peru andererseits
- Drucksache 17/12354 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksachen 17/12810, 17/12875 Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Barthel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Martin Lindner.
({1})
- Der Kollege Dr. Martin Lindner soll die Rede zu Pro-
tokoll gegeben haben.1)
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({2})
- Das werden wir feststellen.
Dann hat jetzt das Wort der Kollege Klaus Barthel für
die SPD-Fraktion.
({3})
Herr Präsident, vielleicht bekomme ich ein bisschen
Redezeit vom Kollegen Lindner. Die könnten wir gut gebrauchen. - Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Frage eines Handelsübereinkommens mit Kolumbien und Peru im Ausschuss
ungewöhnlich emotional behandelt. Angesichts der Vorgeschichte ist es komisch, dass wir dieses Thema zu dieser späten Stunde beraten. Wenn dieses Abkommen, wie
wir sicher von Vertretern der Koalition heute noch hören
werden, so unproblematisch und gut wäre, wenn das Abkommen so wichtig wäre, dass es unbedingt heute verabschiedet werden sollte, wenn es gute Gründe für die Eile
und Hektik gäbe, die dazu führte, dass wir nicht einmal
die Anhörung vernünftig auswerten konnten, dann ist
insgesamt doch die Frage: Warum verstecken Sie die
Diskussion am heutigen Donnerstagabend unter einem
der letzten Tagesordnungspunkte? Offensichtlich gibt es
doch etwas zu diskutieren.
({0})
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns über die
grundsätzliche Bedeutung dessen klar werden, was wir
heute diskutieren. Denn nach dem Scheitern der WTORunde in Doha wird die Zahl der bilateralen und biregionalen Abkommen zunehmen.
Für uns stellt sich die Frage: Wie gestalten wir, wie
gestaltet die Europäische Union ihren Anspruch, um diesem Abkommen und anderen internationalen Abkommen zu den Menschenrechten und den sozialen und ökologischen Standards, zum Beispiel den ILO-Standards,
zum Durchbruch zu verhelfen? Wie wollen wir zum Beispiel die Entschließung des Bundestages - wir waren
schon einmal weiter - vom 16. Juni 1999 umsetzen? Damals ging es um das Partnerschaftsabkommen mit Mexiko. Da hieß es - ich darf zitieren -:
Aus menschenrechtlicher und humanitärer Sicht
sollte verstärkt auf die Implementierung der menschenrechtsbezogenen Vereinbarungen des Abkommens geachtet werden. Aus diesem Grunde sollten
regelmäßige Konsultationen, regelmäßige Berichte
und ein Monitoring der Menschenrechtslage unter
Einbeziehung mexikanischer Nichtregierungsorganisationen seitens der EU vereinbart werden.
Das war vor fast 15 Jahren. Damaliger Berichterstatter war der Kollege Fritz, der gleich sprechen wird. Er
wird sich vor seinen eigenen Reihen rechtfertigen müssen, dass CDU/CSU und FDP dem Beschluss damals zugestimmt haben.
Heute stellt sich die Frage: Was ist zum Beispiel im
Fall von Mexiko geschehen, um den Menschenrechten,
der Sicherheit usw. zum Durchbruch zu verhelfen - außer dass deutsche Waffen dorthin geliefert wurden?
Wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen, die
entsprechenden Standards in einem solchen Abkommen
zu verankern. Das Abkommen, über das wir heute reden,
hat viele Seiten. Es enthält viele Details, viele Begriffsbestimmungen, viele Verpflichtungen: Ausschüsse, Unterausschüsse, Streitschlichtung. Fast alle Artikel - 310
von 337 Artikeln - drehen sich nur um Handelsfragen
und um Detailfragen. Was aber fehlt, ist Verbindliches
zur Menschenrechtsfrage, zu den Standards, die ich angesprochen habe. Es fehlen auch Maßnahmen zur Geldwäschebekämpfung usw.
Jetzt sagen Sie: Was maßen wir uns eigentlich an,
über Menschenrechte und Arbeitsstandards in Kolumbien und Peru zu diskutieren? Ist das nicht Neokolonialismus? Diese Debatte hatten wir ja geführt.
Dazu kann ich nur sagen: Wenn man durch solche detaillierten Vereinbarungen in das Wirtschaftsleben anderer Länder eingreift, wenn man den Handel liberalisiert
und Vereinbarungen zum Agrarhandel, zu Industriedienstleistungen, zur Daseinsvorsorge, zum öffentlichen
Auftragswesen, zu Agrarexporten und zu Fragen der Privatisierung trifft, dann verändert das die Lebensverhältnisse der Menschen dort ganz enorm. Gerade in Ländern
wie Peru und Kolumbien, wo es maximale Ungleichheit,
Gewalt, Kriminalität, Unterdrückung von Gewerkschaften und von Minderheiten sowie einen schwachen
Rechtsstaat gibt, wäre eine solche Rahmensetzung unmittelbar notwendig gewesen; denn sonst sind wir wieder beim Kolonialismus.
Es geht nicht darum, dass jetzt plötzlich peruanische
oder kolumbianische Bauunternehmen auf deutschen
Baustellen ihre Dienste anbieten, sondern es geht darum,
dass dort Leistungen erbracht werden. Wenn dort solche
Verhältnisse auch bei europäischen Anbietern herrschen
und nichts bei der Sicherheit, im Bereich der Arbeitnehmerrechte sowie bei sozialen und ökologischen Standards geschieht, dann sind wir beim Kolonialismus.
Es geht nicht darum, in die Rechte anderer Ländern
einzugreifen. Vielmehr sollten wir für die notwendigen
Rahmensetzungen sorgen, um Liberalisierungen, um den
Freihandel tragfähig zu machen.
({1})
In den beiden Ländern, um die es hier geht, gibt es
Reform- und Friedensprozesse. Das unterstützen wir.
Aber die Roadmap, die das Europäische Parlament beschlossen hat, ist nicht verbindlich genug, um diese Reformprozesse - in diesem Zusammenhang gibt es immer
noch Opposition und Gewalt - nachhaltig zu unterstützen.
Deswegen haben wir heute einen Entschließungsantrag eingebracht. Wir werben dafür, ihn zu unterstützen.
Wir können dem Freihandelsabkommen in der heute
vorliegenden Fassung nicht zustimmen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Erich Fritz von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herzlichen Dank an alle, die heute Abend noch den Weg
hierhin gefunden haben!
({0})
Herr Kollege Barthel, Sie haben wieder versucht, zu
unterstellen, wir hätten nicht ausreichend Zeit gehabt; es
sei gar nicht möglich gewesen, sich mit der Sache richtig
auseinanderzusetzen. Richtig ist, dass dieses Thema natürlich nicht spontan und kurzfristig auf die Tagesordnung kam, sondern dass wir uns schon lange damit beschäftigen. Das ist mandatiert worden. Es ist auch kein
Abkommen, das die Europäische Union Peru und Kolumbien aufgezwungen hat. In Ihrer Rede klang es fast
so, als wenn das etwas gewesen wäre, das man diesen
Ländern mit Gewalt hätte beibringen müssen.
Nein, das ist schon ein Abkommen zwischen souveränen Partnern. Das muss man, glaube ich, akzeptieren,
damit man sich nicht selbst erhebt und überheblich mit
den Vertragspartnern umgeht. Das haben sie nicht verdient.
({1})
Denn in beiden Staaten sind - Sie haben es selbst gesagt Prozesse in Gang, die wir mit großem Interesse, zum
Teil mit Sympathie, aber auch mit Kritik, begleiten.
Es gibt keinen Zweifel, dass es Länder sind, in denen
es viele Missstände gibt und grundlegende Standards
zum Teil nicht eingehalten werden, und dass wir allen
Anlass haben, nicht wegzuschauen, sondern uns zu kümmern. Aber zu unterstellen, jeder, der für dieses Abkommen ist, sei gegen die Verwirklichung der Menschenrechte in diesen Ländern,
({2})
gegen Umweltstandards und gegen Sozialstandards, ist
ein bisschen übel. Ich nehme es auch übel, wenn dies so
verbreitet wird. Dann müssen Sie nämlich Ihren Kollegen der SPD und in der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament sagen: Ihr habt alle nicht verstanden, worum es geht.
({3})
- Darauf komme ich gleich. - Denn das Europäische
Parlament hat mit fast drei Viertel der Stimmen gegen
die Stimmen der europäischen Grünen und der Linken
diesem Abkommen zugestimmt.
Ich wiederhole, was ich schon im Wirtschaftsausschuss gesagt habe: In Wirklichkeit ist dieses Abkommen ein revolutionäres Abkommen,
({4})
weil es ein solches in der Geschichte der Freihandelsabkommen noch nie gab. Wenn Sie sehen, wie China mit
lateinamerikanischen Ländern Verträge schließt, dann
müssen Sie doch zu einer etwas abgewogeneren Position
kommen, als Sie sie jetzt einnehmen.
({5})
- Nein, ich will es nicht mit China vergleichen. Ich will
nur sagen, welche Chancen für die beiden Länder in diesem Abkommen stecken, was auch der Grund dafür ist,
dass sie sie abgeschlossen haben.
Denn worum geht es bei diesem Abkommen, zunächst einmal im Freihandelsteil? Welche Vorteile gibt
es dabei? Natürlich hat es für uns Vorteile: für Deutschland und die europäischen Länder, aber auch für Kolumbien und Peru. Das wissen Sie; Sie waren selbst dort.
({6})
- Zunächst einmal für diese Länder, die einen Entwicklungspfad verfolgen. Auf diesem Entwicklungspfad halten sie es auch für wichtig, die einseitige Bindung zu den
USA - auch die wirtschaftliche Bindung über Wanderarbeiter und Importe - zu verändern. Sie wollen Europa als
Partner. Das ist doch etwas, worin viele Chancen stecken, und die müssen wir erst einmal wahrnehmen.
Dann hat die Europäische Kommission gesagt: Ihr
müsst uns gar nicht mit Abkommen kommen, die nur
reine Freihandelsabkommen sind.
({7})
- Aber natürlich steht etwas anderes darin.
({8})
- Wenn Sie es nicht gelesen haben, dann sollten Sie auch
nicht darüber reden.
Es ist das erste Abkommen überhaupt, in dem etwas
zu Menschenrechten und zu Standards enthalten ist.
({9})
Freilich ist es asymmetrisch.
({10})
Aber haben wir denn das, was Sie wollen, wirklich in
der Hand, nämlich einen so langen Hebel, dass man
diese Länder veranlassen kann, genau das zu machen,
was Sie wollen? Wenn Sie das glauben, dann haben Sie
wirklich keine Vorstellung davon, wie solche Verhandlungen ablaufen.
({11})
Wir beklagen gemeinsam, dass wir mit dem multilateralen System nicht vorankommen. Wir beklagen das vor
allem, weil wir glauben, dass multilaterale Übereinkommen dem Schutz der kleineren Staaten dienen und sie als
Verpflichtung für alle bilateralen Abkommen vorzuziehen sind.
Wir haben aber gemerkt, dass alle Ansätze der Europäischen Union, wenigstens biregional vorzugehen, wenn
ein multilaterales Vorgehen schon nicht möglich ist,
nicht funktionieren, weil es vergleichsweise homogene
Regionen mit einem ähnlich hohen Integrationsstand wie
in der Europäischen Union auf der Welt nicht noch einmal gibt. Deshalb klappt das mit ASEAN nicht, und deshalb hat das auch mit Mercosur und den Andenstaaten
nicht geklappt. Wenn es nun aber zwei Staaten in einer
solchen Region gibt, die sagen: „Für uns steckt eine
große Chance darin, wenn wir das zu zweit machen“,
dann finde ich es nicht in Ordnung, wenn das zunächst
einmal hauptsächlich diskreditiert wird. Dann muss man
schauen, dass man aus den Prozessen, die dadurch möglich werden, das Beste macht.
({12})
- Ich will Ihnen nur Folgendes sagen: Wir waren uns
hier immer einig, dass wir hohe Standards haben. Wir
haben früher an vielen Stellen versucht - dazu haben Sie
gerade ein Zitat angeführt -, die Sache voranzubringen.
Sascha Raabe weiß das. Er war auf einer WTO-Konferenz, auf der die Entwicklungsländer gesagt haben:
Wenn nur Sozialstandards und Umweltstandards auf der
Tagesordnung stehen, dann fahren wir wieder nach
Hause.
({13})
- Ja. Wer handelt denn? - Und heute haben wir ein Abkommen, in dem so etwas steht. Wenn das kein Fortschritt ist, dann weiß ich nicht, womit man zufrieden
sein soll. Dass man das nicht abhaken und zur Tagesordnung übergehen kann, sondern Dialogprozesse, die
weiterführen, in Gang bringen muss, ist doch klar. Tatsächlich ist vorgesehen, dass das Abkommen sogar ausgesetzt werden kann, wenn da nichts passiert.
({14})
- Schauen Sie doch einmal genau hinein.
({15})
Dass jemand, der für einen ganz hohen, lupenreinen
Standard eintritt, das nicht ideal findet, ist verständlich.
Mit einem solchen Anspruch kann man vielleicht Wahlkämpfe führen, damit kann man auch Kampagnen gestalten, aber damit kann man leider keine Fortschritte im
konkreten Umgang mit den Partnern erzielen.
({16})
Dazu muss man den Partnern schon auf Augenhöhe begegnen und angemessene Verhaltensweisen an den Tag
legen. Und nicht jede Verhaltensweise, die ich in dieser
Hinsicht in den letzten Monaten gesehen habe, ist geeignet, das Verhältnis zu Partnern so zu gestalten, dass man
bei den entscheidenden Punkten Einfluss hat.
Deshalb bitte ich Sie sehr, sich noch einmal zu überlegen, wie Sie mit diesem Abkommen umgehen wollen.
Sie können mit Ihrem Verhalten innenpolitisch durchaus
Punkte sammeln. Sie können auch so tun, als ob
Deutschland in der Lage wäre, dieses Abkommen scheitern zu lassen. Wir sind aber in nur drei kleinen, aber wesentlichen Punkten zuständig, zum Beispiel hinsichtlich
der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Das gemischte Abkommen können Sie höchstens so interpretieren, dass Sie sagen: Die Aussage zu Standards
rechtfertigt auch schon ein eigenes Verfahren. - Tatsache
ist aber, dass das Abkommen aufgrund der Ratifizierung
durch das Europäische Parlament in Kraft ist.
Mit Ihrem Entschließungsantrag ziehen Sie - das ist
durchaus verständlich und parteipolitisch völlig in Ordnung - die moralische Fahne auf. Ihr Entschließungsantrag leidet aber darunter, dass er an der Substanz, an
dem, was machbar ist, nichts verändert. Im Gegenteil: Er
verstellt den Blick für das, was man wirklich machen
könnte. Dass Sie uns nun auffordern, die Bundesregierung bei dem jetzigen Stand des Ratifizierungsverfahrens zu veranlassen, das Paket, das auf dem Tisch liegt
und vom Europäischen Parlament beschlossen wurde
- es wurde übrigens auch vom Bundesrat einstimmig beschlossen, also auch mit den Stimmen der SPD und der
Grünen -, noch einmal aufzuschnüren und neu zu verhandeln, kann man nur als Aktionismus verbuchen, aber
nicht als ernsthafte Politik.
Ich bin der Überzeugung, dass dieses Abkommen
- wie alle Freihandelsabkommen - Chancen für beide
Seiten birgt. Auch bin ich davon überzeugt, dass es Risiken beinhaltet. Es gibt überhaupt keine Einordnung eines Entwicklungslandes in die Weltwirtschaft, die ohne
schwierige Anpassungsprozesse verläuft. Übrigens fand
die Eingliederung Deutschlands in die internationale Arbeitsteilung auch nicht ohne solche Anpassungsprobleme statt. Wenn wir die Vorstellung vom Festhalten an
Strukturen gehabt hätten, wie Sie sie haben, gäbe es
zwar im Münsterland immer noch viele Textilbetriebe;
aber die Leute wären leider arm. Vielleicht hätten wir
dann auch noch Stahlwerke. Dies würde uns aber nicht
helfen. Weiter hätten wir noch viel Konsumgüterindustrie; aber die Leute könnten die Produkte nicht kaufen.
Wenn Sie Asien bzw. Südasien als Beispiel nehmen,
können Sie feststellen, dass die Integration in die internationale Arbeitsteilung und in den Welthandel auch
neue Partizipationsbestrebungen der Bevölkerung auslöst. Weiter werden Sie feststellen, dass diese Prozesse
nicht zu gestalten sind, wenn die Regierungen nicht umschalten und in die Menschen - in Bildung und Gesundheit - sowie in die Infrastruktur und die Entwicklung ihres Landes investieren. Wenn das aber geschieht, werden
sie fähig sein, viel mehr dieser Prozesse selbst in die
Hand zu nehmen.
Wenn man diese Zusammenhänge ausblendet und
meint, man müsse nur Instrumente finden, mit denen
man von außen diese Dinge beeinflussen und sozusagen
erzwingen kann, wird das keinen Erfolg haben,
({17})
sondern dann wird man höchstens Vorurteile oder Vorbehalte zu spüren bekommen. Man wird dann nichts verbessern.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Hänsel von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Fakt
ist: Wir stimmen heute Abend über ein Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien ab, womit sich die
Europäische Union einen verbesserten Zugang zu den
Absatzmärkten, zu den Rohstoffen und zu billigen Arbeitskräften in Lateinamerika sichern will.
Sie sprechen hier, Herr Fritz, von Kolumbien und
Peru. Sie haben die Frage nicht beantwortet: Für wen
machen Sie denn Politik? Sie machen hier Politik für die
Reichen und Vermögenden, für eine kleine Elite in Kolumbien und Peru ({0})
genauso wie Sie es in Europa machen. Deswegen lehnen
wir diese Politik ab.
({1})
Es sind vielleicht 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung, die
von diesem Abkommen profitieren werden. Für die
Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern wird es
verheerend sein, weil sie ihre Existenzgrundlagen verlieren. Das ist uns in den Anhörungen ausführlich erklärt
worden.
Ich muss noch einen Satz dazu sagen: Ich war als Entwicklungspolitikerin das erste Mal bei einer solchen Anhörung im Wirtschaftsausschuss und war schockiert über
das Verhalten von Mitgliedern der Fraktionen der Koalition.
({2})
Sie fühlten sich von Experten belästigt, die ihnen über
die sozialen Folgen dieser Abkommen berichtet haben.
({3})
Diese Mitglieder Ihrer Fraktionen haben gesagt: Wir
können das hier beenden, wir können das abkürzen, wir
wollen jetzt abstimmen. - Sie waren nicht einmal bereit,
die Leute, die wir aus verschiedenen Ländern eingeladen
haben, ausreden zu lassen bzw. sie anzuhören. Das wissen Sie ganz genau. Es war eine wirklich unwürdige Diskussion, die Sie dort organisiert haben.
Das zeigt ganz klar: Sie haben kein Interesse, sich mit
den Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
({4})
mit sozialen Rechten und mit Entwicklung auseinanderzusetzen. Das belästigt Sie nur.
({5})
Frau Kollegin Hänsel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Hänsel, widersprechen Sie mir, wenn
ich feststelle, dass wir uns in dieser Angelegenheit dreimal zu Anhörungen getroffen haben und dass Sie meistens durch Abwesenheit geglänzt haben? Einmal waren
Sie da, und jetzt plärren Sie große Töne hinaus. So geht
es doch wirklich nicht. Sie treffen hier eine Schuldzuweisung, die hinten und vorne nicht stimmt. Sie haben
keine Ahnung, wie Anhörungen durchzuführen sind; es
gab da eine zeitliche Vorgabe. Ich bitte Sie, dies zur
Kenntnis zu nehmen und nicht so daherzureden, wie Sie
es eben getan haben. Sie haben gesagt, dass man die
Sachverständigen überhaupt nicht hätte zu Wort kommen oder dass man sie nicht hätte ausreden lassen. Das
entspricht nicht der Wahrheit; das ist falsch.
({0})
Ich bitte Sie, das sofort zurückzunehmen.
({1})
Ich nehme das überhaupt nicht zurück. Ihr halbstarkes
Auftreten hier trägt dem auch gar nicht Rechnung; das
sage ich Ihnen.
({0})
Wir sind hier nicht im Bayerischen Landtag oder sonst
wo,
({1})
sondern wir führen hier ernsthafte Auseinandersetzungen.
({2})
Sie als Vorsitzender des Ausschusses hatten die Sache
leider nicht im Griff. Sonst hätten Sie Ihre eigenen Kollegen einmal ermahnt.
({3})
Erstens war ich bei beiden Anhörungen dabei, und
zweitens kann ich Ihnen die Namen nennen. Es waren
Herr Lindner, Herr Solms und Frau Homburger, die genervt waren und sagten: Wir können zum Ende kommen. Sie haben ihre Kopfhörer abgenommen und gesagt: Das
sind Schwätzer; wir wollen den Leuten nicht mehr zuhören.
({4})
Ich habe das gehört. Das ist kein Umgang miteinander.
So will ich mich nicht ernsthaft mit Ihnen über die Auswirkungen von Entwicklung auseinandersetzen.
({5})
Ich kann Ihnen nur sagen: Da haben Sie ein sehr schlechtes Bild abgegeben.
Jetzt würde ich gerne mit meiner Rede fortfahren. Sie
können sich wieder hinsetzen. Herzlichen Dank.
({6})
Ich bitte Sie, Herr Präsident, zu erlauben, dass ich
fortfahre. Ich möchte nämlich gerne noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen kommen.
Ich bremse Sie nicht. Sie können ruhig fortfahren.
Danke schön.
Bitte.
Erst heute Morgen hatte ich Besuch von zwei kolumbianischen Menschenrechtsaktivisten.
({0})
Sie haben mich noch einmal eindrücklich davor gewarnt,
dieses Abkommen zu unterzeichnen. Sie alle wissen ja:
Es geht nicht nur um die Frage, ob es in Kolumbien zukünftig Menschenrechtsverletzungen geben wird. Kolumbien ist jetzt für Gewerkschafter immer noch das gefährlichste Land der Welt. Jährlich werden Dutzende von
Gewerkschaftern ermordet. Im Jahr 2011 wurden 69 Gewerkschafter aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit ermordet. Wie wollen Sie garantieren, dass die
Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
diesem Land überhaupt durchgesetzt werden?
Außerdem kommt es zu Vertreibungen von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen. Es gibt in Kolumbien 6 Millionen Hektar illegales Land und 5 Millionen vertriebene
Menschen, die aufgrund von Profitinteressen, etwa weil
dort Ölpalmen angebaut werden sollen, kein Land mehr
zur Verfügung haben. Viele Menschen werden von Paramilitärs eingeschüchtert, und es herrscht große
Straflosigkeit. Wie wollen Sie es verantworten, jetzt
ein Freihandelsabkommen mit diesem Land und mit
Peru abzuschließen? Das geht nicht! Sie tragen Verantwortung für diese Situation.
({1})
Herr Fritz, Sie sagten, das alles sei auf gleicher Augenhöhe geschehen. Ich will Ihnen sagen: Venezuela und
Bolivien haben sich, weil sie erkannt haben, was für eine
Ausbeutungspolitik hier betrieben wird, ganz bewusst
gegen Freihandelsabkommen gewandt und andere Vorschläge gemacht. Beide Länder hatten keine Möglichkeit, in irgendeiner Form zu anderen Verhandlungen zu
kommen. Dann wurden sie ausgeschlossen. Es gab keine
Möglichkeit, auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Die
EU hat diktiert.
({2})
Nur die Länder, die sich den Interessen der EU unterwerfen, haben die Möglichkeit, zu handeln. Diese neokoloniale Politik lehnen wir ab.
({3})
Ich komme zum Schluss. Wir stimmen natürlich gegen das Freihandelsabkommen. Das tun wir übrigens im
Namen vieler sozialer Bewegungen in Lateinamerika
und in Europa, die gegen die Politik, die Sie organisieren
wollen, in zunehmendem Maße auf die Straße gehen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sollten einmal kurz durchatmen und uns wieder dem
Handelsabkommen mit Peru und Kolumbien widmen.
({0})
Ich will klarstellen: Wir Grünen sind grundsätzlich
für Handelsabkommen. Wir sehen im Handel die MögThilo Hoppe
lichkeit, den Wohlstand für alle Beteiligten zu mehren,
wenn die Bedingungen stimmen. Die Kanzlerin hat sogar selber einmal eine UN-Charta für menschenrechtsbasiertes nachhaltiges Wirtschaften vorgeschlagen.
Wir müssen uns, wenn es darum geht, ob wir Handelsabkommen abschließen, doch die Frage stellen, was
diese Abkommen, die wir abschließen wollen, bewirken
und welche Auswirkungen sie haben. Herr Fritz, es geht
nicht darum, zu beurteilen: „Ist ein Land menschenrechtlich weit entwickelt?“, und zu überlegen: „Benutzen wir
das jetzt als einen Hebel, um etwas zu verändern?“ - Wir
müssen aber die direkten Auswirkungen der Verträge,
die wir abschließen, untersuchen. Sogar eine Folgeabschätzung der Europäischen Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses Handelsübereinkommen
drei gravierende negative Auswirkungen haben kann.
({1})
- Ja, höchstwahrscheinlich haben wird; so etwas kann
man nie mit Sicherheit sagen. - Die erste Folge - das ist
schon erwähnt worden -: Mit diesem Abkommen werden nach einer Blaupause, die älter als 20 Jahre ist, der
Bankensektor und die Kapitalzuflüsse liberalisiert. Wir
sind inzwischen eigentlich weiter: Wir merken an den
vielen Krisen, die wir gerade erleben, dass mehr Regulierung notwendig ist. Mehrere Experten sagen uns:
Wenn dieses Abkommen umgesetzt wird, werden Geldwäsche und Steuerhinterziehung erleichtert. Das steht im
Gegensatz zu dem Trend, der momentan diskutiert wird.
Die zweite Folge: Durch dieses Abkommen werden
Peru und Kolumbien gezwungen, mehr als 90 Prozent
ihrer Einfuhrzölle zu kassieren. Das heißt, sie können
sich nicht mehr wehren, wenn zum Beispiel hochsubventionierte Agrarexporte aus der Europäischen Union
ihre Märkte überschwemmen. Wir haben im Entwicklungsausschuss schon viel darüber diskutiert, welche
gravierenden negativen Folgen es hat, wenn zu Dumpingpreisen zum Beispiel Milchpulver und andere
Agrarprodukte die Märkte überschwemmen. Peru und
Kolumbien werden, wie gesagt, nicht mehr die Möglichkeit haben, sich mit Zöllen dagegen zu wehren. Das wird
für die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Peru und Kolumbien - diese Kleinbauern haben keine große Lobby höchstwahrscheinlich gravierende Folgen haben. Die
großen Agrarexporteure an der Küste können von dem
Abkommen möglicherweise profitieren; aber die Kleinbetriebe werden höchstwahrscheinlich in den Ruin getrieben.
Die dritte Folge: Ein Bereich wird durch dieses Abkommen wahrscheinlich stimuliert: der Bergbau. Wir
sind schon mit mehreren Delegationen in der Yanacocha-Goldmine und sonst wo in Peru gewesen. Es gibt
dort überall große Konflikte: Teilweise werden indigene
Kleinbauern zwangsumgesiedelt für die Ausweitung des
Bergbaus, teilweise werden Flüsse verseucht. Bei einer
weiteren Stimulierung dieses Sektors sind also soziale
und ökologische Verwerfungen zu befürchten.
Wir haben uns in der Grünenfraktion viel Zeit genommen: Wir haben ein Jahr lang mit Wissenschaftlern, mit
Experten, mit NGOs - auch mit Wirtschaftsvertretern über ein Positionspapier zur Neuausrichtung der Handelspolitik beraten und dieses beschlossen. Da sagen wir
ganz klar, dass Folgendes verändert werden muss:
Es braucht mehr Transparenz: Jeder muss mitverfolgen können, was da eigentlich verhandelt wird.
Es muss verbindliche Folgeabschätzungen geben nicht nur vor dem Abkommen, sondern auch wenn man
die ersten Erfahrungen gesammelt hat, was dieses Abkommen anrichtet.
({2})
Im Falle negativer Auswirkungen muss es Klauseln geben, die es ermöglichen, einige Passagen im Vertrag zu
verändern.
Im Handelskapitel gibt es mehrere solcher Klauseln.
Dort, wo es um Sozialstandards, Umweltstandards,
Menschenrechtskriterien geht, bleibt es bei den schönen
Worten einer Präambel; für diese Bereiche sind keinerlei
Streitschlichtungsmechanismen, keinerlei Sanktionsmechanismen vorgesehen.
Wenn man dieses Abkommen an dem Raster misst, das
wir in der Grünenfraktion mit Wirtschaftsexperten, Entwicklungsexperten, Menschenrechtsexperten einstimmig
beschlossen haben, muss man dieses Abkommen durchfallen lassen. Die Folgen, gerade für verletzliche Gruppen, können so gravierend sein, dass es nicht zu verantworten ist, dieses Abkommen in der jetzigen Form
passieren zu lassen.
Deshalb wollen wir Nachverhandlungen. Dies ist
auch möglich. Es gibt unterschiedliche Rechtsauffassungen, was passiert, wenn der Bundestag das Abkommen
ablehnt. Ob dann das ganze Abkommen hinfällig wird
- und neu verhandelt werden muss - oder nur ein Teil
hinfällig wird, ist noch nicht geklärt.
Ich bin sehr froh, dass alle drei Oppositionsfraktionen
dieses Abkommen ablehnen werden. Das ist ja ein Prozess, der durch Anhörungen stimuliert wird. Ich hoffe,
dass wir jetzt vielleicht auch über den Bundesrat agieren
können und dieses Abkommen tatsächlich noch aufhalten oder zumindest Nachverhandlungen erreichen können.
({3})
Das wäre sehr gut. Dann käme es vielleicht zu einer
neuen Handelspolitik der Europäischen Union: zu einer
Handelspolitik mit wirklich menschlichem Antlitz.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Trotz später Stunde erleben wir in diesem
Moment eine wahrlich historische Stunde: Zum ersten
Mal in der Geschichte kann der Bundestag als nationales
Parlament bei einem Handelsabkommen, das normalerweise Gemeinschaftsaufgabe der Europäischen Union
ist, mitbestimmen.
Dieses Recht haben wir uns hart erstritten. Der Kollege Fritz hat zu Recht gesagt, dass er und ich und einige
Kollegen uns schon seit über zehn Jahren mit dem Handelsbereich beschäftigen. Wir haben uns gegenüber dem
Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission immer dafür eingesetzt, dass der Bundestag hier
mitbestimmen darf.
Das haben wir aber nie aus Selbstzweck getan, nach
dem Motto „Hauptsache, wir wollen mitreden“, sondern
für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten war
das deshalb wichtig, weil wir immer auch in der WTO
verankert haben wollten, dass Freihandel immer mit klaren ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen
Standards einhergeht und dass diese auch in den Freihandelsabkommen verbindlich verankert werden, damit
der Handel eben allen zugute kommt, auch den armen
und ärmsten Menschen und nicht nur den Unternehmerinnen und Unternehmern.
Deswegen: Wenn wir heute als SPD-Fraktion dieses
Abkommen ablehnen und die Europäische Union zu
Nachverhandlungen auffordern, damit menschenrechtliche, soziale und ökologische Standards verbindlicher
verankert werden, dann richtet sich unser Nein nicht gegen Peru oder Kolumbien und auch nicht gegen den
Freihandel generell.
Wir anerkennen auch, dass sich insbesondere in Kolumbien, aus dem Bürgerkrieg kommend, viele Fortschritte entwickelt haben. Auch die MDGs werden fast
alle erreicht, und die Armut geht stark zurück. Trotz aller
Probleme sind diese Länder sicherlich auch von uns darin zu unterstützen, dass sie aus der Armut herauskommen. Wenn wir dort auch mit wirtschaftlichen Impulsen
etwas verstärken können, dann wollen wir das gerne tun.
Das geht aber nicht ohne Regeln.
Auch das Europäische Parlament hat es bedauert, dass
in diesem Handelsübereinkommen keine verbindlichen
Streitbeilegungsmechanismen vorgesehen sind. Das genau ist unser Kernkritikpunkt. Es nützt eben nichts,
wenn in dem Kapitel „Nachhaltige Entwicklung“ in diesem Abkommen das schärfste Schwert lediglich das ist,
dass man einmal miteinander darüber geredet hat. Es ist
völlig unlogisch, dass nicht der gleiche Streitbeilegungsmechanismus, der für den Handelsteil gilt, auch für diese
wichtigen menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Fragen angewendet wird.
({0})
Deswegen fordern wir in unserem Entschließungsantrag dazu auf, dass die EU nachverhandelt, damit menschenrechtliche, soziale und ökologische Standards sowie
entsprechende Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen in dem allgemeinen Streitbeilegungsmechanismus
verankert werden; denn wir glauben, nur dann, wenn am
Ende auch damit gedroht werden kann, dass ein solches
Abkommen ausgesetzt wird, ist auch genug Druck vorhanden, damit die Menschenrechte und die sozialen und
ökologischen Standards eingehalten werden.
Wir wollen, dass ein solches Abkommen den Menschen dient, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
und den Ärmsten. Deswegen bitten wir Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen und sich diese Chance
des Deutschen Bundestages, bei der Europäischen Union
ein Wort einzulegen, jetzt nicht aus irgendwelchen parteipolitischen Gründen entgehen zu lassen.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns für ein faires und gerechtes Freihandelsabkommen streiten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Handelsübereinkommen vom 26. Juni 2012 zwischen der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits
sowie Kolumbien und Peru andererseits.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung - Drucksachen
17/12810 und 17/12875 -, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12354 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12877. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von SPD und Grünen und Enthaltung der Linken
abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger
Veit, Rainer Arnold, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Syrische Flüchtlinge schützen
- Drucksache 17/12820 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0}) -
Auswärtiger Ausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.1)
1) Anlage 6
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12820 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Keine Rüstungsforschung an öffentlichen
Hochschulen und Forschungseinrichtungen Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen
- Drucksachen 17/9979, 17/12800 Berichterstattung:Abgeorndete Florian HahnRené RöspelDr. Martin Neumann ({2})Nicole GohlkeKrista Sager
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen auch
hier die Reden zu Protokoll genommen werden.
Der wirtschaftliche Erfolg und Wohlstand unseres
Landes baut auf der Erforschung und Entwicklung
neuer Technologien auf. Dabei konnte Deutschland
besonders im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung
in den letzten Jahren ein neues Feld mit gut vernetzter
Akteurslandschaft schaffen und entwickeln. Dank der
Bundesregierung, die sich Bildung und Forschung auf
die eigene Fahne geschrieben hat, konnten wir somit
weitreichende Erfolge vermelden, die dem Schutz der
Bevölkerung unseres Landes dienen. Angesichts der
globalen Bedrohungsszenarien der letzten Jahre ist es
wichtig, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie den Schutz kritischer Infrastrukturen durch systematische Forschungsaktivitäten zu erhöhen.
Mit dem Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ der Bundesregierung werden ausschließlich
rein zivile Vorhaben betrachtet. Die hier geforderte
Überarbeitung ist somit überflüssig und abzulehnen.
Unsere Aufgabe ist es, durch Forschung die Sicherheit
und die daraus resultierende Freiheit der Bürger unseres Landes zu gewährleisten. Die Fördergelder aus
dem BMBF werden ausschließlich für Forschungsaktivitäten vergeben, die an zivilen Szenarien ausgerichtet
sind. Nun unterstellen die üblichen Verschwörungstheoretiker in den Reihen der Opposition, dass die
Gelder - durch die Hintertür - zur Finanzierung der
Wehrtechnikindustrie dienen. Ich kann an dieser Stelle
nur immer wieder betonen, dass diese Unterstellung
schlichtweg falsch ist.
Unser Programm für zivile Sicherheitsforschung
dient ausschließlich dem Ausbau der internationalen
Vorreiterstellung deutscher Anbieter ziviler Sicherheitsprodukte und der Weiterentwicklung interdisziplinärer akademischer Ausbildungsstrukturen. Dass einige dieser Forschungsergebnisse für den Schutz
unserer Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden
können, ist eher ein Segen. Das von Ihnen angesprochene Projekt des „Detektoren Array“ dient beispielsweise der Analyse chemischer und explosiver Stoffe,
die bei einem Chemieunfall auftreten können. Der Detektor dient dem Schutz der Einsatzkräfte und der Zivilbevölkerung. Diese Forschung zu verbieten, würde
eine Gefahr für Menschenleben darstellen. Die alte
Leier der unrechtmäßigen Doppelnutzung wird nicht
stichhaltiger, umso mehr Sie darauf herumreiten. Im
Gegenteil: Die Doppelnutzung von Forschungsergebnissen in dieser Sparte ist kein Fluch, sondern ein Segen.
Neben der hier dargestellten Gleichgültigkeit gegenüber unseren Einsatzkräften spiegelt sich ein weiteres problematisches Verständnis der Linken in diesem Antrag wider. Sie fordern zum wiederholten Male
die Verankerung von „Zivilklauseln in den Statuten der
Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie in
den jeweiligen Landeshochschulgesetzen“. Dies stellt
meiner Meinung nach einen höchst bedenklichen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Forschungsfreiheit dar. Auch scheint Ihnen der Begriff des
Geschäftsgeheimnisses nicht geläufig zu sein. Sie fordern die Offenlegung von Kooperationsverträgen der
Hochschulen und greifen somit in sensible Geschäftsdaten ein. Eine derartige Maßnahme würde verfassungsrechtlich ebenfalls einen äußerst bedenklichen
Eingriff darstellen; ganz zu schweigen von dem erheblichen Schaden, den die deutsche Wirtschaft davontragen würde.
Zuletzt möchte ich noch ein paar Sätze zu Ihrer Forderung nach einer „Ausfinanzierung der Hochschulen
in der Breite“ sagen. Sie können unserer Regierung
nun wirklich nicht vorwerfen, zu wenig in die deutschen Hochschulen investiert zu haben. Trotz der primären Verantwortung der Länder wurden mehr Bundesmittel als jemals zuvor an die Hochschulen
vergeben. Allein 4,8 Milliarden Euro wurden in den
Hochschulpakt 2020 investiert.
Zusätzlich wollen wir die Länder sogar dauerhaft
mit Bundesgeld für die Hochschulen unterstützen. Anstatt der Änderung des Art. 91 b GG zuzustimmen, verweilen Sie lieber in Ihrer Blockaderolle. Es sind die
rot-grünen Länder, die sagen: Wir nehmen das Geld
nur, wenn wir zusätzlich auch noch eine finanzielle Zuwendung für die Schulen bekommen. - So werden die
Hochschulen von der Opposition in Geiselhaft genommen, um deren leere Landeskassen zu füllen.
Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch auf
eine weitere Stümperhaftigkeit dieses Antrags eingehen. Anscheinend hat sich die Linke noch nicht einmal
die Mühe gemacht, sich ihren eigenen Antrag genau
durchzulesen. Dort ist auf der vierten Seite zu lesen,
dass an Hubschrauberstrukturen und Rotorblättern für
„den Militärhubschrauber Eurocopter“ geforscht wird.
Vielleicht sollten sie sich das nächste Mal genauer informieren. Es gibt eine Firma mit dem Namen Eurocopter, die verschiedene Arten von Helikoptern, unter
anderem den NATO-Helikopter 90, NH-90, entwickelt.
Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass die
Forderungen im Antrag der Linkspartei allesamt überzogen und nicht vertretbar sind. Sie sehen über sämtliche verfassungsrechtlichen Grundsätze hinweg, Sie
machen keinen Halt vor der Unabhängigkeit der
Hochschulen, die föderale Struktur unseres Landes
scheint Ihnen fremd zu sein. Und was ich noch schlimmer finde: Sie weisen eine äußerst ignorante Einstellung gegenüber den deutschen Soldatinnen und Soldaten auf.
Den Antrag gilt es daher abzulehnen.
Die Themen Rüstungsforschung und zivile Sicherheitsforschung sind zwei auch für uns Forschungspolitikerinnen und -politker relevante Politikbereiche, die
wir in der Vergangenheit immer wieder diskutiert haben.
Wie ich bereits in meiner Rede im Herbst letzten
Jahres zum Thema ausführte, haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber große Bedenken
mit dem jetzt zu diskutierenden Linkenantrag. Ich hatte
gehofft, dass die Ausführungen zu dem Antrag im Ausschuss den einen oder anderen Teilbereich erhellen
würden. Aber leider Fehlanzeige.
Stattdessen zeigt der Antrag, wie auch die Argumente der Linken in der Diskussion, wie tief die Linken
auch bei diesem Thema in einem Schwarz-weiß-Denken verhaftet sind. So simpel ist die Welt aber leider
nicht.
Sicherheitsforschung ist nun mal nicht automatisch
Rüstungsforschung. Bei der einen Forschung geht es
um Ergebnisse fürs Militär, bei der anderen um Produkte für THW, Polizei, Feuerwehr oder Krankenhäuser. Rüstungsforschung wird in Deutschland durch das
Bundesministerium der Verteidigung finanziert, zivile
Forschung hingegen durch das Bundesministerium für
Bildung und Forschung, BMBF, gefördert. Diese politische Trennung ist richtig und wird nach allen mir bekannten Informationen auch eingehalten. Man muss
nicht jedes Produkt der Sicherheitsforschung für sinnvoll erachten - wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tun dies auch nicht -, Rüstungsforschung ist
es deshalb noch lange nicht. Und ja, es gibt in
Deutschland Unternehmen, die ihr Geld mit Rüstung
wie auch mit zivilen Produkten verdienen. Und wenn
sich diese Unternehmen mit ihrer zivilen Sparte an
Programmen des BMBF beteiligen, dann ist auch dies
nicht automatisch Rüstungsforschung.
Um es klarzustellen, auch ich sehe Rüstungsforschung und -produktion sehr kritisch. Anstatt hier aber
zwei Dinge zu vermischen, sollte man den Blick lieber
auf die vorhandenen Tatsachen konzentrieren. Das zivile Sicherheitsforschungsprogramm des BMBF existiert. Und in dem mittlerweile ausgelaufenen ersten
Programm hatten auch wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten so manche Frage nach der Sinnhaftigkeit des einen oder anderen Projekts. Das haben wir
auch deutlich geäußert. Das neue Programm des
BMBF wurde wohl auch deshalb an entscheidenden
Punkten verbessert. Die Linken sehen also, dass konstruktive Kritik durchaus ankommt. Fundamentalkritik, wie sie sie uns häufig im Bundestag vorführen,
bringt hingegen gar nichts.
In unserer Ausschusssitzung haben wir - nicht zum
ersten Mal - intensiv über die sogenannte Dual-UseProblematik gesprochen. Also über Technologien oder
Erkenntnisse, die zivil wie auch militärisch bzw. zum
Schutz wie auch zum Angriff genutzt werden können.
Dieser Problematik stehen Ingenieure der Luft- und
Raumfahrt genauso wie Informatiker, Virologen oder
Sozialwissenschaftler gegenüber. Forschung bedeutet
eben nun einmal, dass man oft noch nicht weiß, welche
Ergebnisse am Ende herauskommen und zu welchem
Zweck sie verwendet werden. Wichtig ist es deshalb,
die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die Problematik zu sensibilisieren. Wie man hingegen die Forschung, welche möglicherweise auch einen militärischen Nutzen haben könnte, bereits zu
Beginn kategorisch ausschließen will, ist mir auch
nach der Ausschussberatung immer noch ein Rätsel.
Ich habe vielmehr die Befürchtung, dass sich die Linken mit der Dual-Use-Problematik einfach noch nicht
ausreichend befasst haben.
Am Ende vielleicht noch mal etwas Grundsätzliches. Am Anfang ihres Antrags versuchen sich die Linken ja in einem historischen Abriss des Themas für
Deutschland. Dabei lassen sie aber ein paar wichtige
Daten und Fakten weg. Unter anderem gehen sie überhaupt nicht auf die Situation in der DDR ein. Wie sah
denn dort die Verquickung von Militär und Wissenschaft und Bildung aus? Nach meinem Wissen war in
den Klassen 9 und 10 „Wehrkunde“ Pflichtfach. Und
sogenannte Pioniermanöver gab es bereits in der
Grundschule. Zivile Friedenserziehung klingt für mich
anders.
Frau Gohlke als Münchnerin mag das nicht kennen,
aber sie möge doch mal ihre Kolleginnen und Kollegen
aus dem Osten fragen. Und falls diese schweigen sollten, kann ich auch gern ein paar Zeitzeugen aus meiner Fraktion nennen. Die können dann gern erzählen
wie Verquickung von Militär und Forschung und Lehre
auf ostdeutschem Boden so aussah. Ich finde es ehrlich
gesagt scheinheilig, wenn sich die sogenannte Linke
als die große Friedenspartei hinstellt, die Vergangenheit ihrer Partei aber einfach ignoriert. Dass ich nicht
falsch verstanden werde, es geht mir nicht darum, die
Linken für die Vergangenheit eines Teils ihrer Partei
anzuklagen, ich erwarte aber, dass sie dazu stehen und
sich inhaltlich damit auseinandersetzen. Der AnfangsZu Protokoll gegebene Reden
text ihres Antrags wäre eine Chance gewesen, damit
anzufangen. Sie wurde leider nicht genutzt. Schade.
Ablehnen werden wir den Antrag aber nicht für all
das, was fehlt, sondern aufgrund der unrealistischen
bzw. falschen Forderungen, die auch noch an die falschen Adressaten verschickt werden.
Der Antrag „Keine Rüstungsforschung an öffentlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen Forschung und Lehre für zivile Zwecke sicherstellen“
von der Fraktion Die Linke wurde in den Ausschüssen
des Deutschen Bundestages ausgiebig beraten. Wir
Liberale sind jedoch im Laufe der Beratung in keiner
Weise davon überzeugt worden, dem Antrag zuzustimmen. Wir lehnen den Antrag ab, weil wir die Auffassung nicht teilen können, die Die Linke von Forschungsfreiheit und unserem Wissenschaftssystem hat.
Konkret bemängeln wir Liberale Folgendes am Antrag: Die Freiheit der Forschung, die durch Art. 5 GG
geschützt wird, soll durch eine gesetzliche Verankerung von Zivilklauseln in den Landeshochschulgesetzen eingeschränkt werden. Damit nimmt Die Linke der
Wissenschaft, den Hochschulen und Forschenden die
Freiheit, selbst zu entscheiden, welche Forschungsprojekte angenommen werden und in welchen Bereichen geforscht werden darf. Wir Liberale wollen aber,
dass der Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und selbst entscheidet, welche Kooperationen und
Aufträge er annimmt. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit
ernst nehmen - wie Sie mit Ihrem im März 2012 eingebrachten Antrag „Freiheit von Forschung und Lehre
schützen“ versuchten, glaubhaft zu machen -, dann
müssen Sie auch akzeptieren, dass die Wissenschaftler
und die Hochschulen für sich selbst entscheiden, ob sie
sogenannten Zivilklauseln folgen möchten oder nicht.
Im Übrigen stimmen selbst die schärfsten Kritiker
der Militärforschung darin überein, dass die Zivilklausel kein Allheilmittel ist. Es genügt eben nicht, alleine
eine Zivilklausel zu verordnen. Diese muss - wie es so
schön heißt - gelebt werden durch eine ständige Auseinandersetzung. Das bedeutet nichts anders als das,
was wir Liberale stets fordern. Der Forschende steht
in der Verantwortung, seine Forschung und deren Ergebnisse erklären zu müssen. Das impliziert eine gesellschaftliche Verantwortung. Und meiner Erfahrung
nach sind sich Wissenschaftler in Hochschulen und in
Forschungseinrichtungen auch dieser Verantwortung
bewusst. Die Max-Planck-Gesellschaft beispielsweise
formulierte 2010 in ihrem Papier „Hinweise und
Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken“ für sich und ihre Mitglieder die Grenzen von Forschung. In den Mittelpunkt wurde die
Person, der einzelne Wissenschaftler als Verantwortungsträger, gerückt.
Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Dual-UseProblematik. Im Antrag von Die Linke wird selbst
konstatiert, dass Forschungsergebnisse sich nicht
nach ziviler und militärischer Nutzung voneinander
trennen lassen. Dennoch wird im Antrag das von der
christlich-liberalen Koalition aufgelegte Programm
„Forschung für die zivile Sicherheit“ kritisiert. Dabei
wurde sowohl von der Bundesregierung als auch von
uns in der Ausschussberatung mehrfach darauf hingewiesen, dass die Forschungsfragen im Programm
„Forschung für die zivile Sicherheit“ entlang ziviler
Sicherheitsszenarien verlaufen.
Als einen letzten Kritikpunkt sei auf die Forderung
nach einer Ausfinanzierung der Hochschulen verwiesen. Für die Grundfinanzierung der Hochschulen sind
noch immer allein die Länder verantwortlich. Deshalb
wird ähnlich pauschal, wie diese Forderung in jedem
Antrag von Die Linke formuliert wird, von uns diese
auch abgelehnt. Zudem sei darauf verwiesen, dass von
Die Linke bislang alle konkreten Schritte dieser christlich-liberalen Koalition abgelehnt wurden, die zu einer
Beteiligung des Bundes in der Hochschulfinanzierung
geführt hätten. Kritik, die wider besseres Wissen und
gegensätzliches Handeln erhoben wird, ist scheinheilig. Wenn Die Linke wirklich an der Finanzierung der
Hochschulen mitwirken möchte, ist diese gerne eingeladen, unsere Anstrengungen einer Grundgesetzänderung im Bundesrat zu unterstützen.
Der Antrag von Die Linke möchte ideologische
Denkverbote gesetzlich verankern. Diese lehnen wir
wie den Antrag ab.
Das renommierte Stockholm International Peace
Research Institute, kurz: SIPRI, hat diese Woche eine
neue Studie zu den weltweiten Waffenexporten veröffentlicht. Wie auch schon in den letzten Jahren ist
Deutschland traurigerweise wieder ganz vorne mit dabei: Mit 7 Prozent der weltweiten Exporte landet
Deutschland auf Platz drei, vor ihr nur die USA und
Russland.
Dass die Bundesrepublik der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist, ist eigentlich schon Skandal
genug. Aber dass die Entwicklung von Kriegs- und
Mordwerkzeug auch an öffentlichen Hochschulen und
Forschungseinrichtungen stattfindet, setzt noch eins
drauf und bringt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende in erhebliche ethische
Schwierigkeiten.
Laut den Antworten auf eine Kleine Anfrage der
Linken erhielten in den letzten zehn Jahren mindestens
47 Hochschulen Forschungsaufträge aus dem Verteidigungsministerium, und Kooperationen der Hochschulen mit der Rüstungsindustrie, zum Beispiel mit
EADS, mit Eurocopter, mit Krauss-Maffei und Rheinmetall nehmen stetig zu.
In den letzten Jahren ist darum an den Hochschulen
eine neue Bewegung entstanden, die erfreulicherweise
stetig wächst: eine Bewegung gegen Rüstungsforschung und für Zivilklauseln, also für die VerpflichZu Protokoll gegebene Reden
tung der Hochschulen auf friedliche und zivile Forschung und Lehre. In einer Urabstimmung an der Uni
Frankfurt sprachen sich jüngst 76 Prozent für die
Einführung einer Zivilklausel aus, die Universitäten
Tübingen und Rostock sowie die Hochschule Bremen
haben die Zivilklausel direkt in ihre Statuten aufgenommen.
Dies zeigt, dass es immer mehr Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Beschäftigten an den Hochschulen eben nicht egal ist,
woransie arbeiten, dass ihnen nicht egal ist, in welche
Produkte sie ihr Wissen und ihre Kompetenz stecken,
dass sie moralische Skrupel haben, wenn sie sich der
Entwicklung von Senfgas, von Kampfhubschraubern
oder Drohnen beteiligen. Immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende wollen
nicht an der Entwicklung militärischer Güter beteiligt
sein, und darüber darf man sich freuen - gerade in Anbetracht der deutschen Geschichte.
Im Grundgesetz ist die Friedensverpflichtung der
Bundesrepublik konstitutiv verankert. Dieser Verpflichtung haben die Regierungen - ob Bund oder
Land - in allen gesellschaftlichen Bereichen nachzukommen - und natürlich auch im Hochschul- und Wissenschaftsbereich.
Insbesondere SPD und Grüne schlagen ja in der
Rechtfertigung der von ihnen sehr gewollten und befohlenen, aber in der Gesellschaft äußerst unpopulären Kriegseinsätze in Jugoslawien oder Afghanistan
große Pirouetten, um den Begriff „Frieden“ bis zur
Unkenntlichkeit zu verzerren und so weit zu dehnen,
bis am Ende aus „Frieden“ „Krieg“ wird.
Zuletzt erklärten mir ja die Grünen im Bildungsausschuss in der Debatte zu unserem Antrag, „friedlich“
und „zivil“ sei seit dem Ende des Kalten Krieges nicht
mehr dasselbe. Im Gegenteil sei jetzt der Kriegseinsatz
die Ultima Ratio - Krieg also als ultimative Waffe für
den Frieden.
Liebe Grüne, liebe SPD; das ist nicht nur Sophismus in Reinform, sondern auch zynisch bis zum Umfallen.
Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern endlich Maßnahmen für den Schutz und die Absicherung der
grundgesetzlich geforderten Friedensabsichten der
Hochschulen ergreift: Zivilklauseln sollten flächendeckend in den Statuten der Hochschulen und in den
Landeshochschulgesetzen verankert werden, damit
dem Forschen für den Krieg und für Waffen eine klare
Absage erteilt wird.
Weil ich die Koalition schon erwidern höre, dass das
Sache der Länder und der Hochschulen sei: Wir haben
natürlich auch einen Vorschlag, wo die Bundesregierung ganz konkret handeln kann: Die Bundesregierung
kann ganz einfach und unverzüglich ihre öffentliche
Mittelvergabe an die Hochschulen und Forschungseinrichtungen nach zivilen Kriterien ausrichten. Und sie
kann dafür sorgen, dass ihre eigenen Aufträge an
Hochschulen offengelegt werden, und sie kann für
Transparenz sorgen bei Kooperationsverträgen zwischen Wirtschaft und Hochschulen. Die existierende
Praxis der Geheimhaltung ist für eine demokratische
Hochschulöffentlichkeit absolut indiskutabel. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende und
Beschäftigte müssen über Forschungsprojekte, Gelder
und Forschungsziele informiert sein. Projekte öffentlich zu machen und zu diskutieren, ist ein Mehr an Wissenschaftsfreiheit im Hochschulalltag.
Und nicht zuletzt hat es die Bundesregierung in der
Hand, in welchem finanziellen Zustand die Hochschulen sind. Darum fordern wir, die Hochschulen mit öffentlichen Mitteln so auszufinanzieren, dass die Hochschulen nicht mehr angewiesen sind auf Kooperationen
mit finanzstarken Großkonzernen, um alleine Forschung und Lehre aufrechterhalten zu können.
Von Gegnerinnen und Gegnern der Zivilklausel
wird gerne das Argument ins Feld geführt, eine Zivilklausel kollidiere mit der Wissenschaftsfreiheit. Es gibt
die Sorge vor einer vermeintlichen „Tendenzuniversität“, die sich nur mit bestimmten gesellschaftlichen Interessen identifiziert und anderes dafür ausschließt.
Keine Frage: Die Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes
Gut - ebenso wie die Friedensverpflichtung grundgesetzlich verankert -, und wir sollten nicht leichtfertig
damit umgehen. Aber wir müssen auch ausdrücklich
sagen, dass die Friedensfinalität im Grundgesetz ausdrücklich kein „bestimmtes gesellschaftliches Interesse“ ist, sondern ein konstitutives Motiv der Verfassungsgesetzgebung und in verschiedenen Art.n des
Grundgesetzes wiederholt wird.
Ausdrücklich bejaht wird durch das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit von interessenmäßig gebundener Forschung, außer wenn die Pluralität der
wissenschaftlichen Disziplin infrage steht.
Eine Einführung von Zivilklauseln, die Verpflichtung auf den Frieden auch in der Wissenschaft ist sicherlich keine Einschränkung der Pluralität.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben
angesichts der historischen Erfahrungen eine besondere Verantwortung: Zwei Weltkriege, für die Deutschland verantwortlich war, und die Nazidiktatur haben
gezeigt, welche unmenschliche Rolle Wissenschaft
spielen kann.
Genau deswegen gab und gibt es eine Vielzahl
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie
Werner Buckel - ehemaliger Präsident der Deutschen
und der Europäischen Physikalischen Gesellschaft oder Carl Friedrich von Weizsäcker, die sich einer
Tradition der verantwortlichen Wissenschaft verpflichtet fühlten und fühlen.
Aufgabe von Politik ist es, diese Haltung und dieses
Begehr zu unterstützen und es nicht durch Unterfinanzierung des Hochschulsystems und aufgrund der engen
Zusammenarbeit mit der Waffenlobby zu untergraben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich schließe mit den Worten Albert Einsteins: „Das
Denken der Zukunft muss Kriege unmöglich
machen“ - diese Worte sind Verpflichtung für Wissenschaft wie für die Politik gleichermaßen.
Wir werden den vorliegenden Antrag der Linken ablehnen. Ihm liegen hochschul-, forschungs- und friedenspolitische Auffassungen und Annahmen zugrunde,
die wir nicht teilen. Wir halten es für falsch, dass die
Politik den Hochschulen Leitbilder für ihre eigene
Entwicklung von oben aufoktroyiert.
Wenn eine Hochschule sich an friedenspolitischen
Maßstäben orientieren und ausrichten will, ist es umso
wichtiger, dass dem ein gründlicher Diskussionsprozess in der Hochschule selbst vorausgeht.
Ohne diesen Diskussionsprozess wird das Leitbild
einer Hochschule eine leere Papiererklärung bleiben
und nicht mit Leben zu füllen sein.
Leitbilder sollen nach unserer Überzeugung dem
Autonomiebereich der Hochschulen vorbehalten sein.
Die Linke geht weiterhin davon aus, dass die Begriffe „zivil“, „friedlich“ und „friedlichen Zwecken
dienend“ identische Inhalte beschreiben.
Schon das halten wir für einen Kurzschluss.
Die Auffassung der Linken, man müsse nur alles
„nicht Zivile“ aus der Forschung beseitigen, dann würde
das Militärische zunehmend verschwinden und damit
die Welt per se friedlicher werden, halten wir für einen
weiteren Kurzschluss.
Ich hatte bereits in der Debatte im September 2012
darauf hingewiesen, dass die Gleichsetzung von „zivil“ und „friedlich“ gedanklich stark mit dem friedenspolitischen Diskurs der Nachkriegszeit und der
Zeit der Blockkonfrontation verbunden ist.
Das internationale Völkerrecht bejaht inzwischen
die Schutzverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft, um schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder zu beenden. Dies schließt als
Ultima Ratio auch die Anwendung militärischer Mittel
ein.
Die Linke lehnt als einzige Fraktion im Deutschen
Bundestag den völkerrechtlichen Grundsatz der responsibility to protect ab.
Dies kann aber nicht der politische Maßstab für ein
Parlament sein, das die deutsche Beteiligung an internationalen Missionen regelmäßig demokratisch legitimiert. Wer die bestmögliche Vorbereitung und Ausrüstung von mandatierten Einsatzkräften verantworten
muss, kann Forschung nicht auf rein zivile Zwecke beschränken. Dies würde im Übrigen auch die Entwicklung von Technologien zur Minenräumung, schutzsicheren Westen oder die Verbesserung der medizinischen
Behandlung von Verletzungen durch Kampfstoffe ausschließen. Denn auch dies sind Maßnahmen in einem
militärischen Kontext.
Falsch ist auch die Vorstellung, Forschung folge
immer einem deutlich erkennbaren Zweck und dieser
Zweck sei dann nach „zivil“ oder „nicht zivil“ zu unterscheiden. In der Forschung werden Zwecke oft in einer viel späteren Phase deutlich, weil sich erst dann
sehr unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten herauskristallisieren.
Gerade im großen Bereich IT-gestützter Entwicklungen sind zahlreiche zivile und militärische Einsatzmöglichkeiten denkbar, und eine militärische Nutzung
kann im Stadium von Forschung und Entwicklung
nicht ausgeschlossen werden. Moderne Armeen benutzen heute außerdem Wissen aus zahlreichen nicht typisch mit militärischen Zwecken assoziierten Forschungsfeldern, wie zum Beispiel Psychologie und
Betriebswirtschaftslehre.
Gefordert ist also vor allem die Politik, durch Regelungen für Rüstungsexportbeschränkungen, vertragliche Rüstungsbeschränkungen, Ächtung bestimmter
Waffentypen, wie Landminen, einen Beitrag für eine
friedlichere Welt zu leisten. Forschungsverbote über
eine politisch verordnete „Zivilklausel“ halte ich nicht
für einen erfolgversprechenden Weg. Unterstützenswert ist, dass an den Hochschulen kritische Diskurse
über ethische Grenzen in der Forschung und über ethische Guidelines geführt werden.
Transparenz in der Forschung ist dafür eine wichtige Voraussetzung.
Eine Verantwortung der Wissenschaft, ihr Tun gegenüber der Gesellschaft offenzulegen und in einem
Diskussionsprozess zu reflektieren und zu legitimieren,
wird von uns ausdrücklich bejaht. Dazu wurden von
uns eigene Anträge in den Bundestag eingebracht. Den
Antrag der Linken halten wir für einen solchen Verantwortungsdiskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft für ungeeignet.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12800, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/9979 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen
Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Krista Sager, Wolfgang Wieland, Kai
Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung des
Doktorgrades aus dem Passgesetz, dem Gesetz
über Personalausweise und den elektronischen
Identitätsnachweis, der Personalausweisver28950
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ordnung sowie dem Aufenthaltsgesetz und der
Aufenthaltsverordnung
- Drucksache 17/8128 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/11908 Berichterstattung:Abgerdnete Stephan Mayer ({1})Gabriele FograscherManuel HöferlinUlla JelpkeWolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen auch
diese Reden zu Protokoll genommen werden.
„In Deutschland hat der Doktorgrad über den Forschungs- und Wissenschaftsbereich hinaus ein hohes
Ansehen. Es hat sich die Tradition entwickelt, den
Doktorgrad wie einen Bestandteil des Namens zu behandeln und auf Wunsch in Personaldokumente wie
den Pass und den Personalausweis einzutragen.“ Das ist eine der wenigen richtigen Feststellungen im
vorliegenden Gesetzentwurf der Grünen. Vor diesem
Hintergrund lässt sich natürlich über das Anliegen der
Grünen diskutieren, ob der Doktorgrad zukünftig noch
im Reisepass oder Personalausweis eingetragen werden kann oder nicht. Man braucht allerdings auch gute
Argumente für eine solche Forderung. Und hier erscheint einem die Begründung im Gesetzentwurf der
Grünen eher wie eine lose Gedankensammlung und
nicht wie eine durchdachte Argumentation.
Da wird an der einen Stelle richtigerweise davon
gesprochen, dass der Doktorgrad kein Namensbestandteil nach § 12 BGB ist, sondern ein akademischer
Grad. Dann wiederum soll er im Pass oder Ausweis
gestrichen werden, weil es angeblich bei Grenzkontrollen für Irritationen sorgt, wenn der „Dr.“ für die
Anfangsbuchstaben des Familiennamens gehalten
wird. Nicht nur, dass Sie einen Beleg für diese Behauptung schuldig bleiben. Sie können auch nicht erklären,
warum der Doktorgrad als zusätzliche Angabe in Ausweisdokumenten, die ursprünglich zur besseren Unterscheidung dienen sollte, jetzt außerdem zu Verwechslungen und Unklarheiten führt.
Sie argumentieren, dass es aufwendiger wird, die
Gleichwertigkeit ausländischer Abschlüsse mit dem
deutschen Doktorgrad zu prüfen und dass dies die Behörden vor Probleme stellen würde. Auch das belegen
Sie nicht. Vonseiten der Länder, die letztlich auch über
die kommunalen Behörden für die Anerkennung in der
Praxis verantwortlich sind, wird genau das aber nicht
bestätigt. Zu dem von Ihnen als Referenz angeführten
Gesetzentwurf aus dem Jahr 2007 hat der Bundesrat in
seiner Stellungnahme doch gerade darauf hingewiesen, dass in der weitaus größten Anzahl der Fälle die
Eintragungsfähigkeit nicht infrage steht und die geringe Anzahl zweifelhafter Fälle, die einen erhöhten
Prüfbedarf erfordert, hingenommen werden kann, zumal es bewährte Verfahren zur Feststellung der
Gleichwertigkeit ausländischer akademischer Grade
mit dem deutschen Doktorgrad gibt.
Dann wird in Ihrem Gesetzentwurf argumentiert,
man müsse bei Beibehaltung des Doktorgrades in Ausweisdokumenten erklären, warum nicht weitere akademische Grade wie der Master of Arts, der Diplom-Ingenieur oder der Professor eingetragen werden. Auch
hier zeigt sich, dass die Begründung des Gesetzentwurfs nicht durchdacht ist. Denn der Unterschied eines Doktorgrades zu anderen akademischen Abschlüssen liegt gerade darin, dass der „Dr.“ in der Regel
nicht der berufsqualifizierende Abschluss ist, sondern
eine wissenschaftliche Zusatzqualifikation, die durch
eine aufwendige und eigenständige wissenschaftliche
Arbeit erreicht wird und über den „normalen“ Studienabschluss hinausgeht. Genau das unterscheidet
ihn von Abschlüssen wie Bachelor oder Master oder
Diplomen. Auch der akademische Titel eines Professors ist nicht ausschließlich durch eine eigene wissenschaftliche Arbeit zu erreichen, sondern bedarf immer
einer Berufung. Genau diese Unterschiede rechtfertigen die Beibehaltung des Doktorgrades in Pass und
Ausweis.
Schließlich kommt der Gesetzentwurf irgendwann
zu seinem Kernargument, nämlich dass der Doktorgrad durch die Aufnahme in Ausweisdokumente gesellschaftlich überhöht sei und damit auch in irgendeiner
Form Plagiatsversuchen bei der Promotion Vorschub
leisten soll. Wenn es Ihnen wirklich darum gehen
würde, wissenschaftliche Standards zu verbessern oder
Fälschungen im Promotionsverfahren entgegenzutreten, würden Sie aber nicht diesen Gesetzentwurf vorlegen. Denn damit ändern Sie an diesem Problem rein
gar nichts. Eine Streichung des Doktorgrades in Ausweispapieren würde nichts daran ändern, dass Doktoranden im wissenschaftlichen oder beruflichen Umfeld
promovieren und dann den Doktorgrad in diesem Umfeld auch als Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation tragen.
Es geht den Grünen bei diesem Entwurf also offensichtlich nicht um technische Verbesserungen beim
Personalausweis und Reisepass oder um eine Vereinfachung der Verwaltungspraxis oder um wissenschaftliche Standards beim Erwerb des Doktorgrades.
Vielmehr dokumentiert dieser Gesetzentwurf den gescheiterten Versuch, die parteipolitische Instrumentalisierung von Plagiatsfällen am Leben zu erhalten, um
daraus Kapital zu schlagen. Dabei wird in Kauf genommen, dass der Eindruck entsteht, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Doktorgrad
erwerben, um ihn als Titel zur Steigerung der gesellschaftlichen Reputation zu nutzen und nicht als Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation. Genau das ist
nicht der Fall, sondern der deutsche Doktorgrad genießt national wie international hohes Ansehen, weil
dahinter eine hohe Qualifikation und hohe wissenschaftliche Anforderungen stehen.
Wer also wissenschaftliche Standards fördern will
und wer die im Zuge der Plagiatsfälle ans Licht gekommenen Probleme bei der Qualitätssicherung der
Promotion beheben möchte, der macht das über vernünftige Wissenschafts- und Forschungspolitik und
stärkt die Universitäten bei ihren Bemühungen auf diesem Feld. Wer ein wirkliches Interesse daran hat, der
legt Anträge und Gesetzentwürfe zu genau diesen Fragen vor oder unterstützt zumindest die Initiativen der
Bundesregierung und der Koalition in diesem Bereich.
Der Doktortitel ist der höchste akademische Grad
in Deutschland. Er wird durch Promotion an einer
Hochschule mit Promotionsrecht erlangt. Durch die
Promotion wird dem Kandidaten die Fähigkeit zum
selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten bescheinigt. Der Doktortitel ist die Auszeichnung für eine wissenschaftliche Arbeit, ob in der Medizin, den Rechtswissenschaften, den Wirtschaftswissenschaften, den
Naturwissenschaften, der Philosophie oder einer anderen wissenschaftlichen Richtung.
Der Doktortitel ist die Belohnung für eine wissenschaftliche Arbeit und kein Bestandteil des Namens
und auch kein Namenszusatz. Das haben sowohl der
Bundesgerichtshof als auch das Bundesverwaltungsgericht festgestellt. Deshalb gehört er unserer Ansicht
nach weder in die Personaldokumente noch in die Melderegister. Denn warum sollte man einen Doktortitel in
die Personaldokumente eintragen lassen können, andere akademische Titel, die man durch Abschluss eines
Diplom- oder Masterstudiengangs oder durch das Bestehen eines Staatsexamens erzielt, hingegen nicht?
Und was ist zum Beispiel mit dem Meistertitel?
International steht Deutschland mit Österreich und
Tschechien bei diesem Thema ziemlich alleine da. Deshalb ist es an der Zeit, diese überholte Konvention zu
beenden.
Hinzu kommt, dass es für die zuständigen Behörden
einen bürokratischen Aufwand bedeutet, vor allem bei
der Anerkennung ausländischer Promotionen, die oftmals mit deutschen Promotionen nicht vergleichbar
sind, wenn diese in die Ausweisdokumente eingetragen
werden sollen.
Auch im internationalen Reiseverkehr und bei
Grenzkontrollen führt der Doktortitel in deutschen
Ausweisdokumenten zu Irritationen, denn oftmals wird
das „Dr.“ als Teil des Vornamens oder Nachnamens
angesehen.
Das können wir ändern, wenn wir den Doktortitel
aus den Personaldokumenten streichen. Zu dem Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Meldewesens
hatte Bündnis 90/Die Grünen einen Änderungsantrag
in den Innenausschuss eingebracht, der den Verzicht
der Speicherung des Doktortitels im Melderegister
zum Inhalt hatte. Auch dieses Vorhaben haben wir als
richtig angesehen. Der Verzicht auf die Angabe des
Doktortitels in Melderegistern führt zu einer Entlastung der Meldebehörden und somit zum Bürokratieabbau.
Leider sehen CDU und CSU dieses Ansinnen als
Karneval und Schaufensterpolitik an. Der Kollege
Schipanski erklärte in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes von Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung
des Doktortitels, dass dieser Gesetzentwurf der „hohen Reputation unserer akademischen Abschlüsse“
schade und „die akademische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland“ beschädige. Ich halte diese Aussagen für falsch, denn es steht jedem, der einen
Doktortitel erlangt hat, frei, ihn zu führen, ob auf
Briefköpfen, Visitenkarten oder sonst wo. Es geht
schließlich nur um die Streichung des Doktortitels aus
den amtlichen Personaldokumenten. Dass das die
„Ehre unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ beschädige, wie der Kollege Schipanski
ausführte, kann ich nicht nachvollziehen.
Besonders kurios sind diese Äußerungen, wenn man
bedenkt, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zusammen mit uns in der Großen Koalition bei der
Einführung biometrischer Daten in Pass und Reisedokumente eine ebensolche Streichung des Doktortitels gefordert hatte, und das nicht nur in Pass und
Personalausweis, sondern auch bei den Eintragungen
im Melderegister.
Leider stimmten die Bundesländer, unter anderem
auf Initiative von Bayern, dann doch für die Beibehaltung der noch gültigen Regelung; der Bundestag folgte
diesem Wunsch.
Mit diesem Gesetzentwurf könnten wir die Behörden
von Bürokratie entlasten und einen Beitrag zur einheitlichen Gestaltung der Pässe innerhalb der Europäischen Union leisten.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen.
Der Name und der Doktorgrad haben nichts miteinander zu tun. Die einschlägigen Gerichtsurteile sind
weithin bekannt. Umso erstaunlicher finde ich nun, dass
die Grünen, aufbauend auf dieser Argumentationslinie,
nun einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Und vor
allem die Gründe, mit denen die Grünen hier versuchen, ihrem Antrag Bedeutung zu verleihen, halte ich
für falsch. Ich werde diesen Antrag ablehnen, auch
wenn ich der Idee, den Doktorgrad aus Ausweisdokumenten zu streichen, grundsätzlich positiv gegenüberstehe. Meine Beweggründe dafür möchte ich Ihnen
gerne darlegen.
Auf der einen Seite bekräftigen die Grünen, dass
Name und Doktorgrad nichts miteinander zu tun
haben. Wieso soll der Doktorgrad dann aber das Risiko der Verwechslungsgefahr oder einer falschen
Identifizierung erhöhen? Der Doktorgrad als zusätzliche Information in offiziellen Dokumenten reduziert
Zu Protokoll gegebene Reden
doch genau dieses Risiko. Hier ist Ihre Argumentation
unschlüssig, sehr geehrte Damen und Herren der Grünen-Bundestagsfraktion.
Als Erläuterung zu dieser Behauptung schreiben Sie
dann - ich zitiere aus Ihrem Antrag mit der Drucksachennummer 17/8128 -: „Die Praxis der Eintragung … sorgt für Verwirrung, wenn zum Beispiel die
Buchstaben „Dr.“ für die Anfangsbuchstaben des
Familiennamens gehalten werden.“ Das, meine sehr
geehrten Damen und Herren der Grünen, halte ich für
eine sehr weit hergeholte Konstruktion, derer Sie sich
da bedienen. Also bitte bemühen Sie sich bei Ihrer Antragsbegründung um stringente Erläuterung! Und
nicht um Dinge, von denen Sie meinen, dass irgendjemand davon verwirrt sein könnte. Nennen Sie für Ihre
Position gute Belege. Das erwartet man von Ihnen genauso wie von uns.
Damit noch nicht genug! Die Grünen stellen die
These auf, dass der Doktorgrad angeblich häufig
- auch hier zitiere ich - „nicht als Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation“ erlangt wird, sondern von
den Inhabern des akademischen Grades genutzt wird,
ihre gesellschaftliche Reputation zu verbessern. Wenn
Sie eine gesellschaftliche Debatte über die Bedeutung
akademischer Abschlüsse für den sozialen Status führen wollen, was ich persönlich durchaus für bedenkenswert halte, dann sollten Sie diese Debatte in der
Gesellschaft offen führen und nicht irgendwelche
Verfahrensfragen im Deutschen Bundestag erörtern!
Dass Sie nun noch das Wort „Plagiat“ einbringen,
überrascht dann auch niemanden mehr. Und: Dass das
Thema Plagiate fast eine halbe Seite Ihres Antrags in
Anspruch nimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, zeigt ganz deutlich, dass es Ihnen hier nicht
darum geht, eine tatsächliche Änderung in der Politik
zu bewirken, sondern dass Sie hier vor allem Doktortitel breittreten wollen, die die früheren Inhaber entweder längst abgegeben haben oder um die sie gerade
Rechtsstreite führen.
Die grundsätzliche Idee, den Doktorgrad aus Ausweisdokumenten zu streichen, finde ich überlegenswert. Er hat nichts mit dem Namen zu tun. Und die
Frage, warum man genau diesen speziellen akademischen Grad personenstandsrechtlich erfassen muss,
konnte bis heute niemand so recht befriedigend beantworten. Momentan hilft der Doktorgrad dabei, eine
Person genauer zu identifizieren. Das muss aber nicht
notwendigerweise so bleiben. Aber: Man muss sich
dann überlegen, warum man den Doktorgrad aus Personenstandsurkunden streichen möchte. Die Gründe,
die die Grünen hier in ihrem Antrag aufführen, überzeugen mich nicht. Hier wird die Wahlkampfmaschinerie mit billigen Vorwürfen gefüttert. So etwas möchte
ich nicht. Ich lehne den Antrag der Grünen daher ab.
Wir beraten abschließend einen Gesetzentwurf der
Grünen, mit dem der Doktortitel aus dem Pass und allen weiteren Personaldokumenten gestrichen werden
soll. Dieser Gesetzentwurf ist vor dem Hintergrund der
Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Guttenberg entstanden.
Der Gesetzentwurf verweist in seiner Begründung
auf die internationale Praxis. Nur in wenigen anderen
Staaten wird der Doktortitel wie ein Namensbestandteil in Passpapieren genannt. Der Verzicht auf den
Doktortitel im Pass entspricht also internationalen
Gepflogenheiten. Zudem stellt sich den Ausweisbehörden regelmäßig das Problem, wie sie mit im Ausland
erworbenen akademischen Abschlüssen verfahren sollen, die dem hiesigen Doktorgrad entsprechen. Dies
betrifft keineswegs nur Ausländerinnen und Ausländer
in Deutschland, sondern auch deutsche Staatsangehörige, die einen ausländischen akademischen Grad erworben haben, der dem deutschen Doktor entspricht.
In diesen Fällen müssen die zuständigen Behörden
aufwendige Prüfungen vornehmen, wenn ein Passinhaber den entsprechenden Titel in seinen Ausweis aufgenommen sehen will. Diese Prüfungen würden mit
der Streichung des Doktortitels entfallen und die zuständigen Behörden entlastet.
Zudem ist es doch recht willkürlich, dass einzig der
Doktorgrad als akademischer Titel in Ausweisdokumente eingetragen wird, nicht aber andere akademische Titel. Und dies, obwohl es auch bei Ingenieuren
und Professoren durchaus üblich ist, diese Titel als
eine Art Namensbestandteil zu betrachten. Akademische Grade sind aber eben kein Namensbestandteil,
und deshalb kann auch in Personaldokumenten auf sie
verzichtet werden.
Der Gesetzentwurf verweist noch auf ein weiteres
Phänomen. Ein Doktortitel werde häufig nicht mehr
zum Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation, sondern vielmehr zur Steigerung gesellschaftlicher Reputation erworben. Der Erwerb der Doktorwürde gehört
in bürgerlichen Kreisen heutzutage sozusagen zum guten Ton. In vielen Fachgebieten folgt auf den Abschluss des Studiums fast automatisch eine Promotion,
ohne dass dadurch zwangsläufig auch ein Beitrag zur
wissenschaftlichen Debatte geleistet wird. Dass dabei
in einzelnen Fällen auf Plagiate zurückgegriffen wird,
um das Fehlen eigener wissenschaftlicher Originalität
zu verdecken, ist da nur die Spitze des Eisbergs. Die
Streichung des Doktorgrades, so zumindest die in der
Gesetzesbegründung ausgedrückte Hoffnung, werde
dazu führen, ihn von seiner gesellschaftlichen Überhöhung zu entlasten und auf seine eigentliche Funktion,
den Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation, zurückzuführen. Auch wenn ich Zweifel habe, ob das allein durch eine Änderung des Passgesetzes möglich ist,
teile ich diese Hoffnung. Die Linke wird diesem Gesetzentwurf deshalb zustimmen.
Deutlich über ein Jahr ist es nun her, genauer: Im
Dezember 2011 war es, als wir hier erstmalig über den
grünen Gesetzentwurf zum Verzicht auf die Eintragung
des Doktorgrads in Pass- und Personaldokumenten
Zu Protokoll gegebene Reden
berieten. Damals hatte ich deutlich gemacht, dass
diese Eintragungspraxis überflüssig, aufwendig und
im Übrigen international völlig unüblich ist.
Den Doktorgrad im Ausweis oder Pass einzutragen,
führt auch weg von der eigentlichen Bedeutung der
Promotion. Es waren Kritiker aus dem Wissenschaftsbereich, die im Zusammenhang mit der Diskussion
über prominente Plagiatsfälle darauf hinwiesen, man
solle die Promotion auf ihre ureigenste Bedeutung
zurückführen, nämlich als Nachweis der besonderen
wissenschaftlichen Qualifikation. Heute können wir
feststellen, dass sich die Stimmen derer, die den Doktorgrad von gesellschaftlichen Überhöhungen entlasten wollen, vermehrt haben.
Die Eintragung in die Personaldokumente leistet
dem Missverständnis Vorschub, es ginge beim Doktor
um die herausgehobene ehrenvolle Bezeichnung einer
Person statt um einen Qualifikationsnachweis. Zum
Teil wird der Doktorgrad hierzulande auch heute noch
wie eine Art „bürgerlicher Adelstitel“ oder Namensbestandteil behandelt. Das hat auch gerade mit dieser
Konvention zu tun, dass der Doktor auf Wunsch in
Pass und Personalausweis eingetragen werden kann
und also wie ein Bestandteil des Namens erscheint.
Tatsächlich ist der Doktor aber weder ein persönlicher Titel noch ein Namensbestandteil. Zur Identifikation einer Person ist der Doktorgrad nicht notwendig. Auch ist die Eintragung in die Personaldokumente
mit überflüssigem bürokratischem Aufwand verbunden.
Vor diesem Hintergrund haben wir in einem Gesetzentwurf beantragt, den Doktorgrad künftig nicht mehr
in Pass und Personalausweis einzutragen. Durch die
Streichung fiele ein Anreiz weg, den Doktor vor allem
aus Gründen der gesellschaftlichen Reputation oder
gar „Titelhuberei“ zu erlangen. Ganze Beratungsagenturen gründen auf derlei Motivationslagen ihr einträgliches Geschäftsmodell: Sie bieten an, Dr.-Interessierten bei der Mühsal der wissenschaftlichen Arbeit unter
die Arme zu greifen. Das Ergebnis sind dann Promotionen, deren Sinn für den Inhaber einzig darin liegt,
mit dem Titel glänzen zu können.
Leider haben Sie in der Koalition bislang die
Chance verpasst, sich in der Sache zu bewegen. Ich erinnere daran, dass Bundesinnenminister Schäuble bereits 2007 in einer Initiative für die Abschaffung der
Eintragung des Doktorgrads in Pass und Personalausweis geworben hat. Seitens der Bundesländer ist das
einzig an den Einwänden von Bayern und Thüringen
gescheitert.
Erfreulicherweise besteht bei den Oppositionsfraktionen zumindest großes Einvernehmen, dass der Doktor in Pass und Ausweis nichts zu suchen hat. Insofern
sehe ich sehr gute Chancen, dass sich hier bei einem
erneuten Anlauf in der kommenden Legislaturperiode
etwas tut und wir in Bundesrat und Bundestag eine
Mehrheit dafür erreichen können, diese Sondersituation in Deutschland zu beenden. Schwarz-Gelb allerdings scheint auch in dieser Frage wieder mal nicht
die Kurve zu kriegen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11908, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8128 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
der übrigen Fraktionen abgelehnt. Damit entfällt die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verschleierung verhindern - Berichterstattung über Armut und Reichtum auf eine unabhängige Kommission übertragen
- Drucksache 17/12709 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen auch
diese Reden zu Protokoll genommen werden.
Es ist schon erstaunlich, mit welchen Themen und
mit welchen Anträgen sich das Hohe Haus beschäftigen muss. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich
bin gern bereit, eine Debatte über die soziale Situation
in Deutschland zu führen, über die Verteilung von Vermögen und Einkommen, über Chancengerechtigkeit
und vieles mehr. Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht
der Bundesregierung bietet eine hervorragende Grundlage für eine solche Debatte.
Aber der Vorwurf, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen wollten eine Berichterstattung verschleiern oder die politische Diskussion über eine vermeintlich soziale Ungleichheit ersticken, ist einfach
töricht. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sorgen
für umfassende Transparenz. Der Berichtsentwurf, der
Ende letzten Jahres in die Ressortabstimmung gegangen ist, ist bekannt und für jeden Bürger in unserem
Land recherchierbar. Und der Bericht nach der Ressortabstimmung in der Fassung, wie er vom Bundeskabinett beschlossen worden ist, ist für Interessierte
zugänglich. Jeder kann beide Berichte nebeneinanderlegen und Satz für Satz abgleichen. Und genau das ist
ja auch geschehen. Es war in der öffentlichen Berichterstattung viel von Schönfarberei die Rede; interessierte Kreise haben versucht, den ganz normalen
Vorgang einer Ressortabstimmung politisch zu skandalisieren, die Fraktion Die Linke übrigens auch.
Aber weil wir so transparent vorgegangen sind und
uns der massiven - in der Sache haltlosen - Kritik gestellt haben, kann man uns doch keine Verschleierung
vorwerfen. Ihr Vorwurf ist unlogisch und in der Sache
völlig abwegig.
Und noch ein Wort zur Transparenz: Schauen Sie
auf die Homepage des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales. Das Ministerium hat dort zahlreiche
Forschungsprojekte dargestellt. Alle Berichte können
heruntergeladen werden, die wissenschaftliche Basis
für den 4. Armuts- und Reichtumsbericht ist bekannt.
Mehr Transparenz ist kaum möglich. Deshalb ist der
Vorschlag nach Einsetzung einer unabhängigen Kommission in der Sache völlig unbegründet. Sie mögen
die politischen Schlussfolgerungen der Regierung
nicht teilen, das ist aber kein Grund, die wissenschaftliche Expertise infrage zu stellen. Am Bericht haben
doch ganz überwiegend diejenigen mitgearbeitet, die
auch in eine vermeintlich unabhängige Kommission
berufen werden würden. Vor diesem Hintergrund halte
ich Ihren Vorschlag nicht für zielführend. Und Sie haben selbst im Jahr 1999 als PDS-Fraktion in einem
Antrag noch gefordert, dass die Bundesregierung einen Bericht über die Entwicklung von Armut und
Reichtum vorlegen soll. Von einer unabhängigen Kommission war seinerzeit nicht die Rede. Was damals
richtig war, soll heute falsch sein. Nur weil Ihnen die
politische Bewertung der Regierung nicht passt.
Das kann Ihnen auch bei einer unabhängigen Kommission passieren. Wir haben es letztes Wochenende
aus dem Mund des Vorsitzenden der SPD erlebt, der
den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Zusammenhang
mit der Diskussion um die Einführung von Mindestlöhnen massiv angegangen ist. „Sachverständige, die ihre
Gutachten an der Lebenswirklichkeit vorbei schreiben,
brauchen wir nicht“, so tönte Sigmar Gabriel. Das
zeigt: In der politischen Debatte ist niemand sakrosankt. Auch eine vermeintlich unabhängige Kommission muss sich der Kritik stellen und ist nicht frei von
Kritik.
Abschließend noch ein Wort zu Ihrer Analyse. Ich
weiß nicht, in welchem Land Sie leben, in Deutschland
offenbar nicht. Ich finde, die Daten im 4. Armuts- und
Reichtumsbericht belegen sehr deutlich die positive
Entwicklung der Lebenslagen für die Bürger in unserem Land. Die Langzeitarbeitslosigkeit als eine der
gravierendsten Ursachen für Armut haben wir nachhaltig abgebaut: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist
zwischen 2007 und 2012 von 1,73 auf 1,03 Millionen
gesunken. Auch die Zahl derjenigen, die auf Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen
sind, ist stark rückläufig: Heute stehen 270 000 Kinder
unter 15 Jahren und über 800 000 erwerbsfähige Menschen weniger im Leistungsbezug als im Jahr 2007.
Dabei blieb der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten
weitgehend stabil. Deutschland weist in der Europäischen Union gegenwärtig die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit auf. Deutschland gehört nach Berechnungen der OECD zu den Staaten, in denen die
Ungleichheit der Markteinkommen mit am stärksten
durch Steuern und Sozialtransfers reduziert wird. Die
Sozialleistungsquote liegt in Deutschland bei rund
30 Prozent und damit über dem EU-Durchschnitt. Das
zeigt: Der Sozialstaat in Deutschland funktioniert. Ihre
Vorwürfe sind haltlos. Sie zeichnen ein Zerrbild von
der Lebenswirklichkeit in unserem Land. Sie wollen mit
dem Thema „Armut in Deutschland“ Wahlkampf machen und Neiddebatten schüren. Ihr Antrag ist ein reiner Schaufensterantrag. Deshalb werden wir den Antrag in den Ausschüssen auch ablehnen.
Der Antrag der Linken ist nicht nur sachlich in weiten Teilen unzutreffend, auch die von der Linksfraktion
abgeleiteten politischen Forderungen helfen weder
den von Armut betroffenen Menschen noch die Qualität künftiger Armuts- und Reichtumsberichte zu verbessern.
Unverständlich ist mir die Äußerung der Linken, es
fehle der Bundesregierung der politische Wille zu einer sozialpolitischen Kurskorrektur. Wenn wir auf die
Rahmendaten schauen, dann stellt sich schon die
Frage, welche Kurskorrektur hier vorgenommen werden soll: Den Menschen in der Bundesrepublik geht es
gut; sie sind nicht massenweise von Verelendung betroffen, wie es die Linke behauptet. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Die
Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2007 um rund
40 Prozent gesunken. Deutschland weist die niedrigste
Jugendarbeitslosenquote in der EU auf - sogar als einziges Land einen signifikanten Rückgang der Quote einen Tiefstand im Hartz-IV-Bezug, einen Höchststand
bei der Beschäftigung, und auch die Löhne steigen
spürbar, insbesondere dort, wo die Tarifbindung hoch
ist. Kurzum: Wir haben eine insgesamt gute arbeitsund sozialpolitische Gesamtsituation.
Ein alter Schuh der Linksfraktion: Die Unterstellung, die Bundesregierung hätte massiv Leistungen bei
der Arbeitsförderung gekürzt. Sie verschweigen allerdings, dass wir die Mittel für Programme der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsförderung auf dem Höhepunkt der Krise deutlich nach oben gefahren haben.
Trotz der danach vorgenommenen Reduzierung geben
wir heute pro Kopf mehr für die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt aus als vor der
Krise. Ginge es nach den Linken, müssten wir nicht
nur bei steigender Arbeitslosenzahl mehr Geld für
Arbeitsmarktpolitik ausgegeben, sondern auch, wenn
es weniger Arbeitslose gibt. Das ist fiskalisch und ordnungspolitisch Unfug.
Noch interessanter ist die paradoxe Forderung der
Linken nach einer unabhängigen Kommission, die zusammengesetzt sein solle aus Vertretern von „Wissenschaft, Gewerkschaften, Verbänden sowie Interessenvertretungen der von Armut und sozialer Ausgrenzung
betroffenen Personen“. Man kann ja durchaus eine
Diskussion über eine unabhängige Kommission fühZu Protokoll gegebene Reden
ren. Aber wenn die Linken dies fordern, können sie
doch nicht im nächsten Halbsatz ihre eigene Forderung konterkarieren, indem sie Interessenvertreter in
eine solche „unabhängige“ Kommission berufen wollen. Genauso absurd ist in diesem Zusammenhang, der
Kommission bereits im Antrag nahezulegen, welche
normativen Schlussfolgerungen sie aus ihrer Analyse
zu ziehen hat. Damit würde die von ihnen geforderte
Kommission zum Sprachrohr der Linken pervertieren.
Ich frage mich, welcher wirklich unabhängige Experte
sich hierfür freiwillig instrumentalisieren lassen
würde.
Im Übrigen hat die Bundesregierung über den
Beraterkreis und das wissenschaftliche Gutachtergremium die wesentlichen gesellschaftlich relevanten
Akteure beratend in die Berichterstattung einbezogen.
Der Austausch mit Vertretern der Wissenschaft war bereits im Vorfeld der Neukonzeption des Armuts- und
Reichtumsberichtes besonders intensiv. Mehrere Workshops des Ministeriums begleiteten die Arbeiten. Das
wissenschaftliche Gutachtergremium setzte sich dieses
Mal etwa zur Hälfte aus neu berufenen und bereits für
die bisherige Berichterstattung berufenen Wissenschaftlern zusammen. Die neu berufenen Experten
bearbeiteten entweder Forschungsaufträge für den
4. Armuts- und Reichtumsbericht oder konzentrierten
ihre Forschungsarbeiten auf die Schwerpunkte der
diesjährigen Berichterstattung, etwa Analysen zu
Übergängen im Bildungs- und Ausbildungssystem
oder die Messung subjektiver Einstellungen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die Zusammenarbeit mit den Experten auch mit Blick auf den
nächsten Bericht fortsetzen.
Ebenso steht die Bundesregierung unter Federführung des BMAS im Rahmen des gemeinsamen Monitorings, auch „Sozialmonitoring“ genannt, in einem
konstruktiven Dialog mit den Spitzenverbänden der
Freien Wohlfahrtspflege. Unerwünschte Aus- und
Wechselwirkungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der aktuellen Sozialgesetzgebung stehen,
werden hier in regelmäßigen Abständen partnerschaftlich gemeinsam diskutiert.
Unsere Aufgabe als Politik ist es, dafür zu sorgen,
dass sich Armutsrisiken für bestimmte gesellschaftliche Gruppen nicht über Generationen verfestigen und
dass Chancen zur sozialen Mobilität, also zur sozialen
Verbesserung der Lebenslage, in ausreichendem Maße
vorhanden sind. Die Regierung Merkel trägt dafür
Sorge, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft weiterhin die Freiheit des Marktes mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbunden bleibt. Die Linken zielen
mit ihrer Politik auf eine leistungsfreie und damit anstrengungslose Daseinsgestaltung, finanziert durch
die Expropriation derjenigen, die etwas leisten. Das
hingegen können wir uns als Nation, die auch aus den
Fehlern des zu Recht untergegangenen sozialistischen
Experiments gelernt hat, nicht leisten - ich gebe allerdings zu, dass dieser Lernerfolg einigen bisher versagt
geblieben ist.
Ist nicht alles schon zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht, ARB, gesagt? Die Regierung hat getrickst.
Entscheidende und richtige Feststellungen wurden gestrichen oder in 549 Seiten versteckt. Somit hat der an
sich gute Bericht sehr gelitten und ist weit unter seinen
Möglichkeiten geblieben.
Denn: Deutschland ist ein reiches Land, das sich
aber zunehmend mehr Armut und Armutsrisiken leistet. Deutschland ist ein Land der Chancen, die aber zunehmend ungleicher verteilt sind. Deutschland ist
zwar ein Land mit enorm hoher Beschäftigungsquote
und geringer Arbeitslosigkeit, doch können viele Menschen nicht von ihrem Lohn leben.
Es kann daher nicht wundern, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zunehmend mehr verletzt ist. Eine Bundesregierung, die einen solchen Satz
aus dem wichtigsten Dokument zum Themengebiet,
nämlich dem 4. ARB, streichen lässt, steht nicht zu den
Menschen und dem Land.
Der heute zur Debatte stehende Antrag der Linken
beschreibt die Situation richtig, und seine Kritik ist zutreffend; denn eine erneute Verschleierung der Tatsachen durch einen Bericht der schwarz-gelben Bundesregierung muss verhindert werden.
Allerdings greifen die angebotenen Lösungen zu
kurz. Für die künftige Berichterstattung will die SPDBundestagsfraktion sicherstellen, dass folgende Forderungen in der Armuts- und Reichtumsberichterstellung umgesetzt werden:
Erstens. Bessere Einbindung eines Beraterkreises,
Transparenz der Berichterstellung durch die Veröffentlichung des Beratungsprozesses sowie der abschließenden Vorschläge und Kommentare, des Beraterkreises im Anhang des Berichtes.
Zweitens. Verbesserung der Indikatoren, Umsetzung
der Forderungen, die im Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ,,Vorbereitung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung in der 17. Wahlperiode Armuts- und Reichtumsberichterstattung weiterentwickeln“, Bundestagsdrucksache 17/4552, aufgeführt
sind.
Drittens. Stärkere Nutzung und Einbeziehung des
vorhandenen Datenmaterials, zum Beispiel zur Genderfrage und zum Reichtum.
Viertens. Vernetzung der Ergebnisse anderer Berichterstattungen wie zum Beispiel Gleichstellungsbericht, Berichte zu Familie, Kindern und Jugendlichen,
Senioren, Bildung, Migration, Renten, Städtebau und
Nutzung ihrer Kernaussagen.
Fünftens. Vernetzung mit den Sozialberichten der
Länder und Kommunen.
Sechstens. Ausweitung der Berichterstattung um
Fragen wie: Wem nützen gesellschaftlich notwendige
Dienstleistungen? Wer nutzt bestehende TeilhabechanZu Protokoll gegebene Reden
cen nicht und warum? Stichwort: Verwirklichungschancen.
Siebtens. Was bedeuten Leistungseinschränkungen
und Privatisierung für die Lebenslagen verschiedener
Gruppen, vor allem derer im Armutsrisiko?
Zusammenfassend möchte ich feststellen: Wir brauchen einen ARB mit klaren Analysen, die deutliche
Handlungsempfehlungen zulassen. Hierbei handelt es
sich um ein zutiefst politisches Feld, das in die Mitte
des Parlaments gehört und dort entschieden werden
muss.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute
beraten, fordert eine grundsätzliche Umkehr des bisherigen Vorgehens bei der Erarbeitung der Armutsund Reichtumsberichte. Dabei verkennen Sie jedoch
vollständig, dass die Armuts- und Reichtumsberichte
keine reine Sammlung von statistischen Daten sein sollen und auch bisher nicht waren, sondern dass die erhobenen Daten auch bewertet werden und dass aus ihnen politische Schlussfolgerungen gezogen werden
müssen.
Würde man Ihrem Vorschlag folgen, würden die beiden letzten von mir angesprochenen Aspekte entweder
komplett entfallen. Oder sie würden von Wissenschaftlern statt der Politik vorgenommen. Würden die Bewertungen und Schlussfolgerungen entfallen, hätte der
Armuts- und Reichtumsbericht keinerlei Mehrwert
mehr. Die reinen statistischen Daten und wissenschaftlichen Gutachten gäbe es auch ohne einen Armuts- und
Reichtumsbericht. Die Daten, die in den Berichten genannt werden, sind uns meist vorher schon aus anderer
Quelle bekannt oder werden als allgemeingültig akzeptiert und von uns allen verwendet. Das Interessante
an den Armuts- und Reichtumsberichten sind ja gerade
die politischen Bewertungen und die Schlussfolgerungen, die aus dem Bericht gezogen werden.
Es kann auch nicht Aufgabe der von der Linken geforderten Kommission sein, die politischen Handlungsanweisungen vorzugeben. Dies muss weiterhin
Sache der Politik sein und darf nicht auf Wissenschaftler übertragen werden, die keine demokratische Legitimation besitzen.
Ich kann ja verstehen, dass die Opposition versucht,
die guten Daten im Bereich des Arbeitsmarktes und im
Bereich der Sozialpolitik durch Kritik am bisherigen
Verfahren der Regierung unter den Tisch fallen zu lassen. Wenn Sie jedoch die normale Abstimmung eines
Regierungsberichts zwischen den Ministerien zum Anlass für eine Skandalisierung nehmen, dann halte ich
das für grundfalsch. Es scheint mir eher ein übliches
politisches Spiel zu sein, den jeweils Regierenden unlautere Methoden vorzuwerfen.
Am 20. Mai 2008 schrieb „Die Welt“: „Olaf Scholz
soll Armutsbericht geschönt haben. Experten und
Opposition werfen Arbeitsminister Olaf Scholz, SPD,
vor, an seinem Armutsbericht ‚herumgefummelt‘ zu
haben. Scholz stelle die Lage weit positiver dar, als sie
sei, kritisieren sie. Besonders die Kinderarmut sei gravierender als der Bericht suggeriert - die alarmierenden Zahlen würden unter den Tisch fallen.“
Grüne und Linke werden darin zitiert, dass im Besonderen Daten zur Kinderarmut geschönt worden
seien. Im Übrigen gab es damals keine Kritik vonseiten
der SPD am Vorgehen ihres Ministers.
Ich möchte nicht im Nachgang beurteilen, welche
Qualität der damalige 3. Armuts- und Reichtumsbericht hatte, aber sie sehen, dass der Vorwurf des „Herumfummelns“ am Bericht kein neuer ist.
Was ich aber weiß, ist, dass sich die Daten zwischen
dem 3. und dem 4. Armuts- und Reichtumsbericht deutlich verbessert haben. Wir haben weniger Arbeitslose.
Wir haben weniger Bezieher von Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch II. Wir haben weniger Kinderarmut.
Wir haben mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das sind die Fakten, die auch eine Kommission
nicht anders darstellen kann, weil es Fakten sind und
keine politische Deutung.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auch unwahre Behauptungen, die Sie in Ihrem Antrag im Zusammenhang mit der Erstellung des 4. Armuts- und
Reichtumsberichtes aufführen, zurechtzurücken. Im
Antrag erheben Sie den Vorwurf, dass die Passage,
dass in den vergangenen zehn Jahren die unteren Einkommen preisbereinigt massiv gesunken seien, entfernt
wurde. Hierfür gibt es jedoch triftige Gründe.
So hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am 25. Oktober 2012 neue Datenanalysen mit
neuen und revidierten Daten des Sozioekonomischen
Panels präsentiert, die eindeutig belegen, dass die
Einkommensungleichheit seit 2005 gesunken ist. Das
DIW aktualisiert und bestätigt damit die Analyse des
Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung, die
feststellt, dass die Einkommensungleichheit maßgeblich zwischen 1999 und 2005 zugenommen hatte und
danach relativ konstant geblieben ist. Durch Vorlage
dieser Fakten erübrigte sich auch die Aussage zum
Gerechtigkeitsempfinden, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen.
Zudem halte ich es für bezeichnend, dass sie in Ihrem Antrag die Erfolge, die der Armuts- und Reichtumsbericht in vielen Feldern zeigt, mit keinem Wort
erwähnen. Die verfügbaren Einkommen nehmen spürbar zu. Das ist Ergebnis der positiven Beschäftigungsund Lohnentwicklung sowie der Entlastungen bei
Steuern und Abgaben. Die gute Arbeitsmarktentwicklung entlastet hilfebedürftige Familien: Die Zahl der
Hartz-IV-Empfänger, der erwerbsfähigen Hartz-IVEmpfänger - und der Bedarfsgemeinschaften war
2012 die jeweils niedrigste seit Einführung der
Grundsicherung im Jahr 2005. Allein seit 2007 sind
800 000 Erwerbsfähige und 270 000 Kinder weniger
im Leistungsbezug der Grundsicherung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das sind die Erfolge der Politik dieser christlich-liberalen Regierungskoalition.
Bereits am 17. September 2012 hatte die Bundesregierung einen ersten Entwurf zum 4. Armuts- und
Reichtumsbericht vorgelegt. Dieser Bericht hatte es in
sich - und zwar so sehr, dass die FDP hellauf empört
über die darin beschriebene Wahrheit in diesem Lande
eine massive Aufhübschung des Berichts gefordert und
leider auch durchgesetzt hat.
Im ersten Berichtsentwurf stand noch - ich zitiere:
„Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die
Progression in der Einkommensteuer hinaus privater
Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann“.
Die FDP hat diese Passage im Handumdrehen
streichen lassen. Das dürfen wir CDU, CSU und FDP
nicht durchgehen lassen.
Das private ({0})Vermögen hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen. Das
Nettovermögen der privaten Haushalte hat sich von
knapp 4,6 Billionen Euro 1992 auf rund 10 Billionen
Euro mehr als verdoppelt. Selbst in der Krise zwischen
2007 und 2012 ist das Vermögen um 1,4 Billionen Euro
gestiegen. Das Vermögen in Deutschland ist aber extrem ungleich verteilt, und die Spreizung nimmt dramatisch zu.
Wenige werden immer reicher - und viele werden
immer ärmer. Mit Leistung hat das alles aber rein gar
nichts zu tun. Und mit Gerechtigkeit schon gar nicht.
Genau das muss im Bundestag nicht nur diskutiert
werden, sondern genau das muss hier geändert werden.
Auch mit der Lohnentwicklung stimmt etwas nicht:
In den Jahren von 1998 bis 2008 haben die untersten
40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten reale Lohnverluste erleiden müssen. Wörtlich heißt es im ersten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts: „Eine solche
Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.“ - Das stimmt. Doch
die FDP hat diese Einsicht ganz schnöde wegzensiert.
Das ist schäbig.
Eine Studie des DGB zeigt die bittere Wahrheit: Inzwischen arbeiten 4,7 Millionen Menschen, die sozialversicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigt sind, im
Niedriglohnbereich. Das ist mehr als ein Fünftel aller
Vollzeitbeschäftigten. Insgesamt arbeiten fast 8 Millionen Menschen für einen Niedriglohn, also für weniger
als 9,15 Euro brutto pro Stunde. Das sind über 1 Million Menschen mehr als noch vor zehn Jahren. 1,4 Millionen Menschen arbeiten sogar für weniger als 5 Euro.
Das alles schreit doch förmlich nach starken Gewerkschaften und nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Mit dieser elendigen Billiglohnpolitik muss endlich Schluss sein.
Im März dieses Jahres zählte die Bundesagentur für
Arbeit bundesweit mehr als 1,3 Millionen Menschen,
die arbeiten gehen und trotzdem aufs Amt müssen und
Hartz IV beziehen. 20 Prozent dieser sogenannten Aufstockerinnen und Aufstocker haben sogar einen Vollzeitjob. Das ist doch nichts anderes als Lohndrückerei
per Gesetz. Dieses Gesetz gehört auf den Müllhaufen
der Geschichte. Stattdessen müssen wir endlich eine
sanktionsfreie soziale Mindestsicherung einführen.
Das skandalöse Vorgehen der schwarz-gelben Regierung lässt doch nur einen Schluss zu: Wir brauchen
eine von der Regierung unabhängige Kommission, die
sich ernsthaft, ohne ideologische Verschleierungsbrille und vor allem fernab von Wahlkampfinteressen
der Armuts- und Reichtumsberichterstattung annimmt.
Diese Kommission muss aus unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, aus Gewerkschaftern sowie aus Vertreterinnen und Vertretern aus
Verbänden und Interessenvertretungen von Betroffenen zusammengesetzt sein. Wichtig ist zudem, dass die
Kommission mit einem eigenen Budget ausgestattet ist
und ein unabhängiges Büro unterhalten kann. Auf
diese Weise kann und muss die Kommission Gutachten
in Auftrag geben, Expertinnen und Experten anhören
und dadurch gewonnene Erkenntnisse zeitnah veröffentlichen.
Im Mittelpunkt steht dabei das Interesse, unser Wissen über das Ausmaß, die Ursachen und die Auswirkungen von Armut und Reichtum zu verbessern und
Strategien zur Vermeidung und Bekämpfung von grober Ungleichheit zu entwickeln. Einseitige Beschränkungen auf bestimmte Ansätze, wie ihn die von CDU,
CSU und FDP gebildete Bundesregierung mit dem Lebensphasenansatz vorgegeben hat, müssen vermieden
werden.
Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht, den das Kabinett vor zwei Wochen verabschiedet hat, hat schon
Monate vor seiner Verabschiedung einen Sturm der
Entrüstung ausgelöst. Die methodische Anlage weicht
von den vorherigen Berichten ab, das Datenmaterial
wurde ausgesprochen selektiv berücksichtigt, und zu
guter Letzt wurden kritische Wertungen auf Betreiben
des Wirtschaftsministers aus dem Bericht gestrichen.
Der Bericht der Bundesregierung gibt daher keine adäquate Auskunft über die Verteilung von Armut und
Reichtum und wird damit seiner Funktion nicht gerecht. Das - so weit teile ich die Kritik der Fraktion
Die Linke - ist ein unguter Zustand, vor allem weil die
Bundesregierung im Vorfeld der Verabschiedung von
Experten, Fachverbänden und Sozialverbänden zu
Korrekturen aufgefordert worden war. Die Chance zu
Nachbesserungen bestand und wurde schlicht vergeben.
Vor diesem Hintergrund scheint die Forderung der
Linken, die Berichterstattung zukünftig durch eine
unabhängige Kommission sicherzustellen, zunächst
plausibel. Es lohnt jedoch, sich den ersten Beschluss
Zu Protokoll gegebene Reden
des Gesetzgebers zur Erstellung des Armuts- und
Reichtumsberichts in Erinnerung zu rufen. Dann erkennt man, dass eine solche Auslagerung politisch das
falsche Signal setzt.
Als die Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts 1999 beschlossen wurde, waren die Anforderungen an diesen Bericht, sein Zweck und damit die
Aufgabe der Bundesregierung eindeutig formuliert. Im
Antrag, Bundestagsdrucksache 14/999, heißt es unmissverständlich, dass die Berichterstellung folgende
Anforderungen erfüllen solle: „({0}) Die Analyse von
Armut und Reichtum muß in die Analyse der gesamten
Verteilung von Einkommen und Lebenslagen eingebettet sein. Armuts- und Reichtumsberichterstattung benötigen eine qualifizierte Datengrundlage. ({1}) Die Berichterstattung muß der Komplexität und
Vielschichtigkeit von Armut und Reichtum Rechnung
tragen. Sie muß über individuelle und kollektive Lebenslagen Aufschluß geben. In dem Bericht sollte auch
der Frage nachgegangen werden, in welcher Form
und in welchem Umfang Arme selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln können. Der Bericht sollte
besondere Problemgruppen gesondert berücksichtigen. ({2}) Die Berichterstattung muß die Ursachen von
Armut und Reichtum darlegen. ({3}) Der empirische Teil
des Berichts soll unter verbindlicher Beteiligung von
Armuts- und Reichtumsforschern unter Federführung
des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung
erstellt werden. Er kann auf die Erfahrungen aufbauen, welche bei der Berichterstattung in den Kommunen und Ländern gewonnen wurden. Darüber hinaus sollte ein internationaler Vergleich ermöglicht
werden. Die Erstellung des Berichts soll von einem Beratungsprozeß begleitet werden, an dem alle Organisationen und Verbände beteiligt werden, die sich mit
dem Thema befassen. Der Bericht soll grundlegende
gesellschaftliche Perspektiven und politische Instrumentarien zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut
entwickeln. Die regelmäßige Berichterstattung hat die
Aufgabe, die Wirkungsweise und Effizienz dieser Instrumente darzulegen.“
Das Problem ist also nicht, dass die Anforderungen
an den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung unzureichend wären, sondern dass die schwarzgelbe Bundesregierung diese schlicht ignoriert hat.
Und ich möchte unterstreichen: Der damalige Gesetzgeber konnte sich nicht vorstellen, dass eine Bundesregierung die ihr übertragene Aufgabe ebenso absichtsvoll wie deutlich verfehlen würde.
Aber auch wenn die schwarz-gelbe Bundesregierung an dieser Stelle einen Negativpräzedenzfall geschaffen hat, ist das kein Grund, das Kind mit dem
Bade auszuschütten. So richtig die Forderung nach einem objektiven Bericht ist, so wichtig ist die Funktion
des Armuts- und Reichtumsberichts. Natürlich soll er
einen Sachstandsbericht liefern. Vor allem aber ist er
ein sozialpolitischer Rechenschaftsbericht. Es geht darum, dass die Bundesregierung das Thema „Armut“
auf der Agenda hat - und zwar über die gesamte Legislaturperiode - und dass sie geeignete Maßnahmen ergreift, um Armut zu beseitigen. Das aber setzt eine ehrliche Auseinandersetzung voraus. Darum ist der
Armuts- und Reichtumsbericht für den politischen Gestaltungsprozess einer Bundesregierung von unmittelbarer Bedeutung, und genau diese Aufgabe kann eine
rein wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas durch
eine unabhängige Kommission nicht leisten.
Und noch eines: Wenn man sich die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema anschaut, dann fällt
auf, dass ihre Anzahl nach 2001 sprunghaft ansteigt.
Ich darf daran erinnern: 2001 wurde der 1. Armutsund Reichtumsbericht von der damals rot-grünen Bundesregierung veröffentlicht. Dieser Bericht hat eine
Diskussion über Armut und Reichtum angestoßen, und
zwar über den Deutschen Bundestag hinaus. Inzwischen legen auch die Länder Armuts- und Reichtumsberichte vor. 2010 war das Europäische Jahr gegen
Armut und soziale Ausgrenzung. Dass Gewerkschaften, Sozialverbände und auch die Wissenschaft den
diesjährigen Bericht der schwarz-gelben Bundesregierung so vehement kritisiert haben, zeigt für mich vor
allem eines: dass das Thema „Armut und Reichtum“
gesamtgesellschaftlich präsent ist. Der Armuts- und
Reichtumsbericht einer Bundesregierung leistet dazu
einen wichtigen Beitrag und sollte zugleich ein politisches Aushängeschild sein. An der Art und Weise, wie
dieser Bericht verfasst wird, lässt sich gut ablesen, wie
ernst eine Regierung dieses Thema nimmt.
Aus diesen Gründen können wir einer Übertragung
der Berichterstattung auf eine unabhängige Kommission, so wie es die Linke fordert, nicht zustimmen. Für
uns Grüne gehört der Armuts- und Reichtumsbericht
in den Verantwortungsbereich der Bundesregierung,
und aus dieser Verantwortung sollte sie auch nicht entlassen werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Einführung eines transparenten und
unabhängigen Staateninsolvenzverfahrens
- Drucksachen 17/8162, 17/10031 Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerDr. Gerhard Schick
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten kämpfen viele Entwicklungs- und Schwellenländer mit dem Problem einer nicht mehr tragfähigen Überschuldung. Dadurch
kann es zu Hindernissen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung dieser Staaten sowie bei der Bereitstellung staatlicher Fürsorgeleistungen kommen. Der
Antrag der Opposition erwägt als Lösung die Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens.
Zurzeit gibt es noch kein offizielles geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten, sondern nur das sogenannte Pariser-Club-Verfahren. Dies hat zum Inhalt,
dass für Staatsschulden, deren Gläubiger ebenfalls ein
Staat ist, eine Abwicklung erfolgt, also für Entwicklungshilfekredite und garantierte Lieferantenkredite.
Ferner gibt es das sogenannte Londoner-Club-Verfahren für private Gläubiger. Hier werden Inhaber von
Staatsschuldverschreibungen und Banken, die Direktkredite an Staaten vergeben, in die Haftung genommen.
Diese Systeme funktionierten einigermaßen gut,
deshalb bedurfte es damals keines Insolvenzrechts für
Staaten. In den 1990er-Jahren brach jedoch das Vertrauen in diese beiden Systeme zusammen, weil die
Handhabung der Schuldenkrise in Ländern wie Russland, der Ukraine, Argentinien und Moldawien und in
geringerem Maße in Pakistan und Ecuador die Realwirtschaft massiv in Mitleidenschaft zog. Deshalb verlangten immer mehr Stimmen eine Reform, was dazu
führte, dass schließlich im Jahr 2001 die Vizepräsidentin der Weltbank, Anne Krueger, einen offiziellen Vorschlag unterbreitete. Seither ist das Thema auf der
Agenda.
Wenn man ein geordnetes Staateninsolvenzverfahren befürwortet, sollte dieses folgende vier Ziele verfolgen:
Erstens. Nachdem die Regierung des Schuldnerlandes den finanziellen Staatsnotstand erklärt hat, sollten
die Gläubiger wie im üblichen Insolvenzverfahren
stillhalten. So kann ein Abfließen von Devisen verhindert werden und die Auswirkungen der Krise auf die
Realwirtschaft begrenzt bleiben.
Zweitens. Das Verfahren sollte Anreize für Schuldner und Gläubiger vermitteln, Auslandsschulden nicht
sorglos oder gar bedenkenlos auszuweiten. Dies umfasst bei Hilfszusagen für den umzuschuldenden Staat
die Möglichkeit, dem Schuldnerland von außen schwere
Lasten und Reformschritte aufzuerlegen.
Drittens. Es sollten bei wirtschaftspolitischen Auflagen im Schuldnerstaat, die unter anderem in der
Absenkung von Staatsausgaben, Lohnsenkungen und
Steuererhöhungen bestehen, Mindeststandards für die
Gewährleistung essenzieller Staatsfunktionen gewährleistet werden.
Viertens. Das Verfahren sollte von einer unabhängigen Person oder einem unabhängigen Ausschuss koordiniert werden, der weder eigene Interessen verfolgt,
noch von den Interessen anderer Beteiligter abhängig
ist und in der Lage ist, eine vernünftige Interessenabwägung vorzunehmen.
Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass andere Staaten in Sachen Staateninsolvenzverfahren mitunter andere Positionen vertreten und Fortschritte in
internationalen Verhandlungen nur schwer zu erzielen
sind. Diese Komplexität der internationalen Verhandlungsführung muss berücksichtigt werden. Der Antrag
der Grünen greift daher zu kurz.
Die Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens
kann keine Lösung sein. Es müssen vielmehr die Ursachen, die zu einer Staateninsolvenz führen, von vornherein vermieden werden. Hier wären Missstände in
den Wirtschaftssystemen zu nennen.
Innerhalb der Euro-Zone ist jeder Staat systemrelevant, eine Staateninsolvenz ist daher nicht angebracht,
vielmehr sollten die Staaten gerettet werden. Und es
muss viel früher angesetzt werden.
Die Bundesregierung setzt sich entgegen der im Antrag der Grünen vertretenen Auffassung sehr intensiv
dafür ein, in diesem Bereich voranzukommen. Der
Hauptansatz der Bundesregierung ist jedoch eher,
Wege zu finden, um einer Schuldenkrise vorzubeugen.
Das sollte der Ansatz zum Handeln sein und nicht die
Bankrotterklärung einzelner Staaten.
Das Prinzip muss sein: aktives Handeln statt passiven Aufräumens.
Die Opposition verkennt in ihren Anträgen, dass
eine geordnete Insolvenz kein Automatismus mit Erfolgsgarantie ist. Auch bei einem vorab transparenten
Insolvenzverfahren können Phasen der Unsicherheit
und der politischen Spannungen auftreten. Um die Insolvenz eines Staates von vornherein zu vermeiden,
müssen Wachstumsanreize und Produktivitätswachstum geschaffen werden. Jede Handlung muss darauf
ausgerichtet sein, die Ursachen der Probleme zu behandeln.
Innerhalb der Euro-Zone ist zum Beispiel die neue
haushaltspolitische Überwachung hervorzuheben: Der
Fiskalvertrag und neue Haushaltsregelungen im Stabilitäts- und Wachstumspakt sorgen dafür, die Staatsverschuldung in den Mitgliedstaaten zu reduzieren, zu begrenzen und strukturelle Defizite künftig ganz zu
vermeiden. Zur Kontrolle müssen die Mitgliedstaaten
im Rahmen des Europäischen Semesters regelmäßig
an die Europäische Kommission berichten. Dies wird
unterstützt durch die neue wirtschaftspolitische Steuerung. Diese beabsichtigt, durch eine gemeinsame
Wachstumsstrategie, einen Pakt für Wachstum und Beschäftigung und den Euro-Plus-Pakt die Euro-Länder
wettbewerbsfähiger zu machen. Das Verfahren zur
Vermeidung und zur Korrektur gesamtwirtschaftlicher
Zu Protokoll gegebene Reden
Ungleichgewichte hilft künftig bei der Koordinierung
und Überwachung der Wirtschaftspolitik.
Der Finanzmarkt bekommt durch nationale, europäische und weltweite Regulierungsmaßnahmen einen
neuen Ordnungsrahmen, durch den die Finanzwirtschaft ihre dienende Funktion für die Realwirtschaft
zurückerlangt.
Zu guter Letzt konnte die Bundesregierung Stabilitätsmechanismen schaffen, um Krisensituationen schnell
in den Griff zu bekommen. Hier greifen mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, und dem temporären Schutzschirm, EFSF, wirkungsvolle Hilfsmechanismen, die die Idee einer Staateninsolvenz obsolet
machen.
Die Opposition ist mit dem Verteilen von Geldern
unserer Steuerzahler schnell bei der Hand. Dieses
Geld gehört jedoch weder der Opposition noch der Regierung, sondern dem deutschen Steuerzahler. Bei dem
hier vorliegenden Antrag drängt sich die Vermutung
auf, dass die Grünen wollen, dass Deutschland für die
Schulden anderer Länder aufkommt. Bei Schulden gilt
jedoch: Irgendwer haftet immer, Schulden lösen sich
nicht in Luft auf - auch bei einer Staateninsolvenz
nicht. Aber: Das Subsidiaritätsprinzip gilt nach wie
vor. Unsere Bürger dürfen nicht für die Schulden anderer Länder in Haftung genommen werden. Es muss das
Prinzip gelten: Jedes Land in Europa ist für sein eigenes Handeln - auch in wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht - in erster Linie selbst verantwortlich.
Es ist eine Illusion, zu glauben, dass trotz eines
rechtlichen Rahmens für ein Insolvenzverfahren die Insolvenz eines Euro-Landes ohne entsprechende Verwerfungen durchgeführt werden könnte. Die Ansteckungsgefahr innerhalb der Euro-Zone wäre groß, das
Vertrauen in unsere Währung würde schwinden.
Ziel muss es daher sein, alles daranzusetzen, dass
die Maßnahmen des Fiskalpaktes und des Europäischen Semesters umgesetzt werden. Wenn dies wirklich
erfolgt, dürfte es keine Insolvenz eines Euro-Staates
geben. Vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit einem zu frühen Euro-Beitritt einzelner Länder
sollten die Regeln für einen Beitritt in die Euro-Zone
verschärft werden. Der gegenwärtige Automatismus
für den Euro-Beitritt gemäß Lissabon-Vertrag ist nicht
ausreichend.
Der Antrag der Grünen, über den wir debattieren,
stammt vom Dezember 2011. Die Beschlussempfehlung und der Bericht des Finanzausschusses sind vom
18. Juni 2012. Erledigt ist die darin aufgeworfene
Frage der Einführung eines transparenten und unabhängigen Staateninsolvenzverfahrens aber nicht.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise in Zypern
ist die Frage weiterhin erlaubt, ob wir nicht ein geordnetes Verfahren zur Schuldenrestrukturierung von Staaten benötigen. Wenn ein Land, auch ein EU-Staat, aufgrund wirtschaftlicher Umstände oder einer unsoliden
Haushaltspolitik nicht mehr in der Lage ist, seine
Schulden zu bedienen, oder sich aufgrund vollkommen
überhöhter Zinsen am Markt nicht mehr refinanzieren
kann, muss vielleicht auch eine staatliche Insolvenz im
Rahmen eines zuvor festgelegten und organisierten
Rahmens möglich sein.
Wir wissen alle, dass ein Staatsbankrott erhebliche
und im Moment unabsehbare Folgen mit sozialen und
wirtschaftlichen Verwerfungen nach sich ziehen kann.
Dies liegt aber auch daran, dass er nahezu ein Tabu ist
und es kein geordnetes Verfahren gibt. Das ist die eigentliche Gefahr, die wir bereits von den Banken kennen und die mit einem Restrukturierungs- und Abwicklungsregime gebannt werden soll.
Eine vernünftige Prophylaxe, wie sie von der Bundesregierung seinerzeit im Finanzausschuss dargestellt
wurde, sollte einhergehen mit einem international vereinbarten System für den Umgang mit hochverschuldeten Staaten. Dies gilt insbesondere für Entwicklungsländer, aber es macht auch Sinn für andere Länder.
Der Antrag der Grünen macht hierzu einige vernünftige Vorschläge.
Zumeist wird gegen die Idee eines geordneten Insolvenzverfahrens argumentiert, die politischen und sozialen Kosten seien für die betroffenen Länder, aber
unter Umständen auch für vernetzte Staaten unüberschaubar und letztlich nicht tragbar. Innerhalb der
Euro-Zone könnten die Zahlungsunfähigkeit und ein
Insolvenzverfahren eines Staates eine Diskreditierung
der gesamten Euro-Zone nach sich ziehen. Die Kredibilität der Euro-Zone und ihrer Länder wäre unter
Umständen in Gänze in Gefahr. Bisher erreichte Konvergenzschritte in den letzten Jahren würden mit einem
derartigen Schritt zunichtegemacht.
Fakt ist, dass eine Insolvenz - und dies wissen wir
aus der unternehmerischen wie der privaten Insolvenz eine Last für die Betroffenen ist. Die Staateninsolvenz
würde zweifelsohne eine enorme politische, wirtschaftliche und soziale Belastung bedeuten. Aber man sollte
den Schritt gehen, auch wenn es nicht einfach ist.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Überbrückungsmaßnahmen wie Hilfskredite oder gestreckte
Kreditlaufzeiten nicht immer geeignet sind, ein Land
aus einer echten und großen Verschuldung zu befreien.
Die ständige Bedienung hoher Schulden führt zu einer
Belastung von Staaten, die sie erdrücken kann, eine
Konsolidierung unmöglich macht und auch keinen
Neustart ermöglicht. Der Sinn eines Insolvenzverfahrens ist jedoch ein Neustart und die Befriedigung der
Gläubiger in dem Rahmen, der noch möglich ist.
Ein Land, das sich im Teufelskreislauf übermäßiger
Verschuldung befindet, kann kaum Wachstum generieren. Eine Fremdbestimmung und die signifikante Abführung von Steuereinkommen ins Ausland zur Bedienung der Schuldenlast können größere politische
Belastungen bedeuten als ein geordnetes Insolvenzverfahren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir sollten keine unbegründete Angst vor einem
Staateninsolvenzverfahren entwickeln, sondern uns
- ähnlich wie jetzt im Finanzsektor - um ein Restrukturierungsregime bemühen und damit klare Regeln
aufstellen. Auch für eine Umschuldung muss es eindeutige Rahmenbedingungen geben. Dies hilft, Kosten
zu reduzieren und das Verfahren kalkulierbar zu halten.
Ein geordnetes Staateninsolvenzverfahren ist in jedem Fall einem ungeordneten Bankrott vorzuziehen,
bei dem Kunden die Banken überrennen, Gläubiger
Umschuldungsbedingungen diktieren und die Lage eines Landes möglicherweise dauerhaft instabil bleibt.
International wird bereits seit Jahren über ein geordnetes Verfahren diskutiert, der Schuldenrückführungsmechanismus - der sogenannte Sovereign
Debt Restructing Mechanism - ist ein solches Beispiel.
Nach dem finanziellen Kollaps in Südamerika
wurde vom IWF 2001 ein von verschiedenen internationalen Fachgremien gebilligtes Programm vorgeschlagen. Man kann natürlich auch über andere Wege
nachdenken.
Die Bundesregierung ist bisher bei dieser Problematik völlig untätig geblieben, obwohl CDU/CSU und
FDP in ihrem Koalitionsvertrag ein Staateninsolvenzverfahren vorgeschlagen haben. Ein weiteres Beispiel
dafür, dass dieser Koalitionsvertrag das Papier nicht
wert ist, auf das er gedruckt wurde.
Eine vernünftige Regelung muss natürlich international vereinbart werden. Der G-20-Rahmen wäre geeignet, eine entsprechende Vereinbarung anzustoßen
und zu beschließen. Aber es braucht den Willen des Finanz- und Entwicklungsministers, solche Prozesse anzustoßen.
Was man nicht machen sollte, ist, nicht darüber
nachzudenken und nicht zu handeln.
Die Einführung eines verbindlich geregelten und
verlässlichen Resolvenzverfahrens für Staaten ist in
der Tat ein wichtiges Anliegen und gewinnt in unserem
global immer mehr vernetzten Weltfinanzsystem fortlaufend an Bedeutung. Gerade deshalb ist es wichtig,
dass wir es richtig machen, und der vorliegende Antrag greift hier eindeutig zu kurz.
Es beginnt damit, dass Sie von einem Insolvenzverfahren sprechen. Im Falle von Staaten wäre es aber
eher ein Resolvenz- oder Restrukturierungsverfahren.
Ein deutscher Alleingang oder einer der Euro-Länder
hilft dabei niemandem ernsthaft weiter.
Ziel für ein geordnetes und verbindliches Resolvenzverfahren sind gegebenenfalls nicht nur EU-Länder,
sondern schließlich auch Entwicklungs- und Schwellenländer, die man über Institutionen wie den IWF wesentlich besser erreicht als durch Vorgaben aus dem
Euro-Raum. Ein funktionierendes Staatenresolvenzverfahren muss also ein globales sein und auch als solches akzeptiert sein, wenn es erfolgversprechend sein
soll.
Gerade in den Schwellen- und Entwicklungsländern, in denen zahlreiche internationale Investitionen
getätigt werden, ist es von fundamentaler Wichtigkeit,
dass Rechtssicherheit besteht. Zum Beispiel müssen
Bauunternehmen nach der Vollendung von Infrastrukturprojekten einerseits ihrem Anspruch auf Vergütung
auch im Falle von Zahlungsschwierigkeiten nachgehen können; andererseits müssen sie ihr Risiko von
Anfang an auch einschätzen können, da sonst niemand
mehr in diesen Ländern Geschäfte machen wird.
Man darf auch nicht mehr ausschließlich darauf
schauen, wie man in Schieflage geratene Volkswirtschaften einfach nur schnell entschulden kann. Denn
wo ein Schuldner ist, da ist auch immer ein Gläubiger.
Ziel muss immer die Resolvenz sein - eine durch gemeinsame Anstrengungen gegebene Wiedererlangung
der Zahlungsfähigkeit. Hierfür primär geeignete
Schritte bestehen aus einem Paket von Maßnahmen
zur Konsolidierung des Haushalts und der Beteiligung
der Gläubiger. Wer unter Erwartung hoher Renditen
entsprechende Risiken eingeht, muss diese im Fall des
Scheiterns auch mittragen.
Staaten aber einfach zu entschulden und die Gläubiger komplett im Regen stehen zu lassen, darf ebenfalls
nicht Geschäftsmodell werden. Eine Rettung durch andere Staaten als Normalfall anzusehen, darf auch nicht
Realität werden, wenn man noch Anreize für solide
Haushalte setzen möchte.
Ein international akzeptiertes Staatenresolvenzverfahren allein kann jedoch auch nicht als Lösung sämtlicher Probleme von Schuldenkrisen dienen. Neben
sinnvoller Prävention und verantwortungsvollem
Haushalten müssen weitere Werkzeuge herangezogen
werden, die Hand in Hand mit der Resolvenz gehen. So
kann die konsequente Verwendung von Collective Action Clauses als Bedingung bei Anleihen, bei denen die
mehrheitlichen Beschlüsse der Gläubiger für den Rest
bindend sind, helfen, eine geordnete Abwicklung zu ermöglichen. Ein Schuldenschnitt, den die Mehrheit als
tragbar empfindet, kann so beispielsweise nicht mehr
von Einzelparteien blockiert werden, was das Verfahren enorm vereinfacht und Sackgassen in der Einigung
vorbeugt. Das trägt nicht nur zur Disziplinierung von
Gläubigern beim Eingehen von Risiken bei, eine
schnelle Einigung von Schuldner und Gläubiger ist
auch im Falle einer Staateninsolvenz bares Geld wert.
Wir stehen zu unseren Plänen im Koalitionsvertrag,
und die Bundesregierung steht auch bereits in internationalen Verhandlungen, aber diese gehen aufgrund
der zahlreichen Verhandlungspartner und verschiedenen Interessen, wie Sie sich sicher vorstellen können,
nicht von heute auf morgen über die Bühne. Die Welt
ist nicht immer so einfach, wie sie sich die Antragsteller gerne denken. Eine Resolvenzordnung, die nur in
bestimmten Teilen der Welt akzeptiert ist, kann nicht
funktionieren, wenn zahlreiche Parteien, seien es
Zu Protokoll gegebene Reden
Gläubiger oder Schuldner, in dem Verfahren international verstreut sind und nicht unter den Geltungsbereich der Ordnung fallen.
Wer an eine einfache Entschuldung glaubt und
denkt, es würde danach nachhaltiger gewirtschaftet,
wenn der Schuldner nicht auch selber in den sauren
Apfel beißen muss, täuscht sich ebenfalls. Wir als
FDP-Fraktion stehen für ein Verfahren, welches den
Dreiklang von globaler Akzeptanz, haushalterischer
Nachhaltigkeit und Eigenverantwortung vereinheitlicht, und werden Ihren Antrag daher ablehnen.
Der Antrag nimmt eine Forderung auf, die schon
seit vielen Jahren für die Entschuldung der Entwicklungsländer vorgebracht worden ist und die in der
Euro-Krise neue Aktualität erreicht hat. Letztlich geht
es um die Frage, wer die Zeche zahlen soll, wenn ein
Staat unter seiner Schuldenlast zusammenzubrechen
droht oder schon zusammengebrochen ist.
Ziel eines solchen Staateninsolvenzverfahrens muss
zweierlei sein. Erstens muss es den betreffenden Staat
soweit entschulden, dass er ökonomisch von der Schuldenlast nicht erdrückt wird und ein wirtschaftlicher
Neuanfang möglich wird.
Zweitens muss es darum gehen, dass der Staat seinen Pflichten als Sozial- und Rechtsstaat nachkommen
kann und nicht die soziale Verantwortung des Staates
gegenüber seinen Bürgern von den Interessen der
Gläubiger in den Hintergrund gedrängt wird.
Oft wird gegen den Begriff „Insolvenzrecht für
Staaten“ eingewandt, man könne einen Staat ja nicht
wie ein bankrottes Unternehmen zerschlagen und
auflösen. Das ist selbstverständlich richtig. Ein Staateninsolvenzrecht war aber nie vom Konzept der Unternehmensinsolvenz inspiriert, sondern vom Insolvenzverfahren für überschuldete Kommunen, wie es
das US-Insolvenzrecht kennt. Dort ist nämlich explizit
festgelegt, dass in einem solchen Falle die grundlegenden Verpflichtungen der Kommune - zum Beispiel die
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Verwaltung, des Bildungswesens etc. - nicht zugunsten der
Gläubiger vernachlässigt werden dürfen.
Hierzulande können wir uns eine Staateninsolvenz
auch analog zu einer Privatinsolvenz vorstellen.
Grundsätzlich haben Staaten ebenso wie Privatpersonen ein Anrecht auf ein Existenzminimum, das die
Gläubiger nicht antasten dürfen. Vorrang hat daher
unter anderem die Verpflichtung des Staates, sich um
ein menschenwürdiges Existenzminimum seiner Bevölkerung zu bemühen und die sozialen, wirtschaftlichen
und kulturellen Menschenrechte sicherzustellen, wie
sie zum Beispiel in den UN-Pakten für die sozialen und
zivilen Menschenrechte festgelegt sind.
Besonders wichtig ist bei einem solchen Verfahren,
dass es von einer neutralen Instanz durchgeführt wird,
die weder einseitig nur die Schuldner- oder nur die
Gläubigerinteressen vertritt. Wir denken daher - ähnlich wie es zum Beispiel das Bündnis „erlassjahr.de“
seit vielen Jahren vorschlägt -, dass ein Staateninsolvenzverfahren unter Leitung eines unparteiischen
Schiedsgerichts ablaufen könnte, wenn die Öffentlichkeit und Transparenz des Verfahrens gesichert ist.
Gegenstand des Verfahrens muss daher auch eine öffentliche Bestandsaufnahme sein, wo die jeweilige
Mitverantwortung für die Überschuldungssituation
auf Gläubiger- und Schuldnerseite zu suchen ist. In
vielen der südeuropäischen Krisenländer wurden daher zu Recht öffentliche Schuldenaudits gefordert, um
überhaupt erst einmal zu erfahren, wer die Gläubiger
sind, für welchen Zweck die Schulden aufgenommen
wurden und wieweit Gläubiger- und Schuldnerseite
sich dabei ehrlich und ökonomisch umsichtig verhalten haben.
Als Linksfraktion haben wir die Forderung nach einem Insolvenzverfahren für Staaten stets unterstützt.
Gerade im Zuge der Euro-Krise ist aber umso deutlicher geworden, dass bei drohenden staatlichen Überschuldungen in einem Währungsraum nicht nur die
Entschuldung, sondern auch die Zweit- und Drittrundeneffekte berücksichtigt werden müssen. Eine Staateninsolvenz Griechenlands oder Zyperns bleibt solange ein Problem, wie die anderen kriselnden
Euroländer auf das Wohlwollen der Finanzmärkte angewiesen sind. In der Summe ist nämlich wenig gewonnen, wenn Griechenland eine Schuldenerleichterung
erfährt, dafür aber Spanien oder Italien mit doppelt so
hohen Zinsen am Kapitalmarkt abgestraft werden. In
so einem Fall kann es sogar in der Summe billiger
sein, die griechischen Schulden zu bedienen und die
Schulden statt über einen Schuldenschnitt über Einnahmeerhöhungen des Staates - zum Beispiel in Form
von Vermögensteuern und Vermögensabgaben - abzutragen und dadurch zu reduzieren.
Wir haben daher einige Voraussetzungen für ein
Staateninsolvenzverfahren in der Euro-Zone formuliert, damit dieses zum Erfolg führen kann. Erstens
muss gesichert werden, dass ein Schuldnerstaat seine
Reichen und Unternehmen in hinreichendem Maße an
der Staatsfinanzierung beteiligt. Zweitens müssen Refinanzierungsinstrumente in Form von inflationsneutralen EZB-Krediten und Euro-Bonds sichergestellt
werden, damit ein Staat auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens seinen laufenden Betrieb weiter finanzieren kann; denn die privaten Finanzmärkte werden spätestens nach Beginn des Insolvenzverfahrens
dem Schuldnerland erst einmal den Geldhahn zudrehen.
Der Antrag der Grünen sieht ausdrücklich vor, dass
für Staatenbünde und Währungsunionen Sonderregelungen bei der Anwendung des Insolvenzverfahrens
möglich sein sollen. Das ist grundsätzlich mit unseren
Vorbedingungen vereinbar; wir würden sie uns aber
noch konkreter wünschen.
Wir stimmen dem Antrag also zu, sehen aber gerade
mit Blick auf die Euro-Krise die Notwendigkeit, parallel dazu neue Instrumente der Staatsfinanzierung zu
Zu Protokoll gegebene Reden
etablieren, um den Finanzmarktakteuren nicht ausgeliefert zu sein. Das Wichtigste dazu ist ein neues Verständnis von Zentralbankpolitik. Hier ist die EZB zwar
schon einen Schritt weiter als die Politik der Bundesregierung, aber es bleibt für beide noch sehr viel zu tun.
Ein Staateninsolvenzverfahren schützt den Schuldnerstaat vor dem Diktat der Gläubiger. Insofern hätte
es das Diktat der Troika gegenüber den Euro-Krisenländern in dieser Form in einem unparteiischen
Staateninsolvenzverfahren nicht gegeben. Es ist aber
ebenso notwendig, dass der Schuldnerstaat seinen sozialstaatlichen Aufgaben nachkommt - und die niedrigen und mittleren Einkommensgruppen im Schuldnerland schützt.
Bereits seit der lateinamerikanischen Schuldenkrise
vor über 30 Jahren ist klar: Staaten können pleitegehen. Seitdem sind immer wieder Entwicklungs- und
Schwellenländer unter hohen Schuldenbergen zusammengebrochen, und mittlerweile kämpfen sogar
mehrere EU-Mitgliedstaaten mit dem Staatsbankrott.
Trotzdem gibt es bislang kein geregeltes Verfahren zum
Umgang mit Staatspleiten.
Die Finanzkrise hat die Staatsverschuldung weltweit in die Höhe getrieben und besonders ärmere Länder hart getroffen. Die enorme Schuldenlast ist ein fast
unüberwindliches Hindernis für die wirtschaftliche
und soziale Entwicklung dieser Länder. Statt Armut
wirksam bekämpfen zu können, sind sie gezwungen,
Schulden zurückzuzahlen. Für viele Menschen in Europa bedeutet die Schuldenkrise bereits schmerzhafte
Einschränkungen. Für die Menschen in Entwicklungsländern kann die Schuldenlast ihrer Länder jedoch
tödlich sein, etwa wenn dringend benötigte Gelder für
die medizinische Grundversorgung durch den Schuldendienst aufgefressen werden.
Unser Antrag auf Einführung eines fairen und
transparenten Staateninsolvenzverfahrens müsste bei
den Koalitionsfraktionen eigentlich auf Zustimmung
stoßen, immerhin haben sie sich in ihrem eigenen Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, ein solches Verfahren
international voranzutreiben. Im Entwicklungsministerium war eine Zeit lang sogar zaghaftes Bemühen in
diese Richtung erkennbar. Immerhin wurde eine Fachtagung organisiert. Passiert ist danach leider nichts
mehr, und das Finanzministerium will von dem Thema
gleich gar nichts wissen.
Unser Antrag soll die Debatte um ein Staateninsolvenzverfahren wiederbeleben und beschränkt sich daher darauf, Kernelemente eines fairen und transparenten Verfahrens zu beschreiben. Wichtig ist, dass
zukünftig nicht mehr die Gläubigerclubs in London
oder Paris die Bedingungen einer Entschuldung diktieren, sondern eine unabhängige Instanz einen fairen
und offenen Ausgleich zwischen Schuldnern und allen
Gläubigern ermöglicht. Länder, die ein Insolvenzverfahren in Anspruch nehmen, brauchen zudem gewisse
Schutzrechte zur Gewährleistung eines menschenwürdigen „Existenzminimums“ ihrer Bevölkerung. Ein
transparentes Entschuldungsverfahren könnte vielen
Ländern darüber hinaus helfen, endlich objektiv mit
dem Problem illegitimer Schulden umzugehen. Dabei
geht es um Schulden, die durch unverantwortliche Kreditvergabe westlicher Geber an nicht mehr im Amt befindliche, kleptokratische Regime entstanden sind.
Die Euro-Krise bietet ein anschauliches Beispiel für
die politische Unsicherheit infolge eines fehlenden institutionellen Rahmens zum Umgang mit Schuldenkrisen.
Seit wir den vorliegenden Antrag im Dezember 2011
eingebracht haben, brauchte mit Spanien nach Irland,
Portugal und Griechenland ein weiteres Land Finanzhilfen aus den Euro-Rettungsschirmen. Auch Zypern
hat derweil ESM-Hilfen beantragt. Und wenn ich mir
die aktuellen Haushalts- und Wirtschaftsdaten der
Euro-Zone anschaue, bin ich mir alles andere als sicher,
ob die derzeitige Euro-Krise ihren Höhepunkt schon
erreicht hat, oder nicht eher noch weitere Euro-Staaten
Rettungshilfen beantragen werden. Drei Jahre nachdem Griechenland erstmals in Zahlungsschwierigkeiten geriet, ist das Thema für die Euro-Zone also noch
immer hochaktuell: Nur mittels Milliarden-Hilfen aus
den Euro-Rettungsschirmen gelang es in mindestens
vier Staaten, die Staatspleite abzuwenden.
Warum ist ein Staateninsolvenzverfahren auch für
die Euro-Zone nach wie vor erforderlich? Die Beteiligung des Privatsektors an den Kosten der Krise ist
noch immer völlig unzureichend. Das gilt für die Investoren von Banken und Staaten gleichermaßen und
erschwert die effektive Krisenbewältigung. So wäre es
dringend erforderlich, endlich auch ein funktionsfähiges Abwicklungs- und Restrukturierungregime für
Banken auf EU-Ebene einzuführen, damit Banken
nicht länger „too big to fail“ sind und auf Kosten der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gerettet werden
müssen. Nur so kann für die Zukunft verhindert werden, dass - wie in Spanien und Irland bereits geschehen - Bankschulden zu Staatsschulden werden und
Staaten in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit geraten,
weil sie ihre Banken retten müssen. Auch die Einführung eines Staateninsolvenzverfahrens könnte eine
solche erforderliche Beteiligung des Privatsektors auf
geordnetem Wege sicherstellen. Rendite und Risiko das gehört zusammen, auch bei Staatsanleihen, auch
von Euro-Staaten.
Auch zur Prävention künftiger Staats-Schuldenkrisen würde ein - richtig ausgestaltetes - Staateninsolvenzverfahren einen wichtigen Beitrag leisten.
Denn derzeit sind für Investoren und Marktteilnehmer
die Beteiligungen des Privatsektors völlig unvorhersehbar und daher unkalkulierbar. Wer hätte zum Beispiel vor einer Woche gedacht, Europa würde ernsthaft
über die Beteiligung von zyprischen Kleinsparern an
der Bewältigung der Krise in Zypern diskutieren? Damit Märkte ihre wichtige Preis- und Informationsfunktion ausüben können, sind deshalb Regeln nötig, die
eine Beteiligung des Privatsektors in offenkundigen
Überschuldungssituationen vorhersehbarer machen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Erst dann werden die Preise von Staatsanleihen ihre
wichtige Informations- und Warnfunktion wieder besser ausüben können. Übrigens sprechen sich auch die
fünf Wirtschaftsweisen dafür aus, in der Euro-Zone ein
Staateninsolvenzverfahren einzuführen.
Die Idee eines Entschuldungsverfahrens für insolvente Staaten ist aber keineswegs neu. Eine Reihe von
Vorschlägen zur Ausgestaltung eines solchen Verfahrens liegt bereits auf dem Tisch. 2001 stellte sogar der
IWF seine Vorstellungen eines „Sovereign Debt Restructuring Mechanism“ vor. Jetzt kommt es darauf an,
diese Vorschläge weiter voranzutreiben. Gerade die
Bundesrepublik, die vor 60 Jahren mit dem Londoner
Schuldenabkommen selbst in den Genuss eines fairen
Verfahrens zur nachhaltigen Reduzierung ihrer Schuldenlast gekommen ist, sollte dabei eine Vorreiterrolle
einnehmen. Es wäre tragisch, wenn wir der nächsten
Schuldenkrise ebenso unvorbereitet begegnen würden
wie der aktuellen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10031, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8162 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Kornelia Möller, Inge Höger, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg schließen
- Drucksachen 17/5757, 17/8388 Berichterstattung:Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({1})Michael GroschekJoachim SpatzPaul Schäfer ({2})Agnes Brugger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen.
Seit den 30er-Jahren leidet die Bevölkerung im
Raum Siegenburg unter dem Luft-Boden-Schießplatz,
und seit Jahrzehnten kämpfen Bürger aus der Region
gemeinsam mit den Politikern vor Ort und der Bürgerinitiative gegen den Fluglärm. Auch ich habe mich seit
Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit im Deutschen Bundestag für die Entlastung der Menschen
rund um die Siegenburg Range mit dem Ziel der
Schließung eingesetzt.
In all den Jahren wurde die Schließung vom Bundesverteidigungsministerium - übrigens auch unter
Rot-Grün - stets mit dem Hinweis abgelehnt, dass der
Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg militärisch unverzichtbar sei. Im Interesse der bestmöglichen Ausbildung der Piloten sei die Schließung nicht zu verantworten. Deshalb war mein Ziel - solange sich an der
militärischen Beurteilung nichts ändern sollte - auf
jeden Fall die Belastung der Bevölkerung so weit wie
möglich zu mindern. Dies konnte auch erreicht werden: Die Zahl der Überflüge sank innerhalb von rund
20 Jahren um über 90 Prozent. Auch zahlreiche weitere Verbesserungen für die fluglärmgeplagte Bevölkerung konnten erwirkt werden, wie zum Beispiel Flugpausen während Ferienwochen sowie an Sonn- und
Feiertagen. Außerdem wurden der geplante Nutzungsumfang und eine planerische Obergrenze festgelegt,
die weit unter den Einsatzzahlen der 90er-Jahre liegen
und darüber hinaus tatsächlich deutlich unterschritten
wurden.
Im Rahmen der Bundeswehrreform wurde dann der
Standort Siegenburg auf seine weitere Notwendigkeit
überprüft. Das in diesem Zusammenhang erstellte
Standortkonzept für die gesamte Bundesrepublik
hat schließlich die entscheidende Voraussetzung geschaffen: Wie der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt, MdB, mir Anfang März mitgeteilt
hat, sieht die Bundesregierung seitens der Bundeswehr
nach der Auflösung des Jagdbombergeschwaders 32 in
Lechfeld keinen Bedarf mehr und plant, den Bombenabwurfplatz Siegenburg mangels Auslastung in absehbarer Zeit zu schließen. Auch seitens der US-Luftwaffe
besteht kein weiteres Interesse mehr an der Nutzung,
wie vom Bundesverteidigungsministerium dieser Tage
nochmals bestätigt wurde, weil die bisher in Spangdahlem stationierten A-10-Kampflugzeuge, die Siegenburg in erster Linie bisher nutzen, noch 2013 abgezogen werden.
Endlich ist es also soweit! In den letzten Wochen bedurfte es noch einmal verstärkter Anstrengungen, aber
der Einsatz hat sich gelohnt. Wir stehen unmittelbar
vor unserem gemeinsamen Ziel: Der Bombenabwurfplatz Siegenburg wird geschlossen. Allen, die
noch Zweifel haben, kann ich versichern: Die Würfel
sind gefallen. Der politische Wille des Bundesverteidigungsministeriums ist eindeutig, wie mir der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt, MdB,
versichert hat: Es geht nicht mehr um das Ob; der
Übungsplatz wird geschlossen.
Ich freue mich, dass der jahrzehntelange Einsatz
von Kommunal-, Landes- und Bundespolitikern sowie
der Bürgerinitiative zum Erfolg geführt hat. Allen, die
zu diesem Erfolg beigetragen haben, danke ich herzlich, ganz besonders natürlich dem Parlamentarischen
Staatssekretär Christian Schmidt, mit dem ich insbesondere die letzten Wochen und Monate intensiv über
die Schließung verhandelt habe.
Leider ist von einigen in den letzten Tagen vor Ort
eine, wie ich meine, unschöne und peinliche öffentliche
Debatte darüber geführt worden, wer sich den Erfolg
auf die Fahnen schreiben könne, anstatt sich einfach
darüber zu freuen. Ich möchte dazu noch einmal ganz
klar feststellen - und das kommt auch in unserem Informationsblatt unmissverständlich zum Ausdruck -:
Dieser Erfolg ist das Ergebnis einer großartigen langjährigen Gemeinschaftsleistung.
Freuen wir uns also gemeinsam, dass Jahrzehnte
unter Fluglärm bald der Vergangenheit angehören!
Mit der Schließung der Siegenburg Range wird die
Lebensqualität, aber auch die Sicherheit in der gesamten Region erheblich zunehmen - eine gute Nachricht
für unsere Heimat.
Bereits vor zwei Jahren formulierten die für Siegenburg zuständigen Bundestagsabgeordneten aller hier
im Haus vertretenen Fraktionen einen parteiübergreifenden Entwurf zur Zukunft des dortigen Luft-BodenSchießplatzes. Vorangegangen war eine Empfehlung
des Bundesrechnungshofes aus dem Jahre 2007, diesen aus Kostengründen aufzugeben.
Damals stand allerdings noch die Planung für
den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock in der KyritzRuppiner Heide im Raum.
Damit sollte die Belastung der Bevölkerung durch
Übungseinsätze gegen Bodenziele auf deutschem
Gebiet, die bislang ausschließlich in Siegenburg und
Nordholz stattfanden, gleichmäßiger über Nord-, Südund Ostdeutschland verteilt werden. Das Nutzungskonzept für die deutschen Luft-Boden-Schießplätze aus
dem Jahr 2008 ging noch von bis zu 300 Übungseinsätzen jährlich in Siegenburg aus.
Die Planungen für Wittstock wurden bekanntlich
2009 von dem damaligem Verteidigungsminister Franz
Josef Jung aufgegeben. Insofern war die zusätzliche
Schließung Siegenburgs problematisch: Sie hätte wiederum zu einer Mehrbelastung der Anwohner von
Nordholz als einzigem verbliebenen Luft-BodenSchießplatz in Deutschland geführt. Dieses Training
ist aber notwendig. Die Notwendigkeit einer umfassenden und hochwertigen Ausbildung ergibt sich schon
aus der Fürsorgepflicht für die Besatzungen, die zur
Gewährleistung unserer Sicherheit einen gefährlichen
Dienst tun. Demgegenüber steht die Belastung der Bevölkerung durch den Übungslärm.
Als Mitglied sowohl im Verteidigungs- als auch im
Tourismusausschuss ist mir dieser Konflikt sehr bewusst, zumal die Situation in meinem Wahlkreis ganz
ähnlich ist. Über 80 Prozent dieser Einsätze werden
bereits im Ausland oder über See geflogen.
Die Solidarität mit unseren Verbündeten gebietet jedoch, nicht die gesamte Belastung auf sie abzuwälzen.
Um die amerikanischen Stützpunkte wie Holloman
etwa, wo die Luftwaffe einen großen Teil ihrer Ausbildung durchführt, wohnen schließlich auch Menschen.
Das ist nicht alles nur Wüste, wie manchmal behauptet
wird, zumal auch unter mitteleuropäischen Bedingungen trainiert werden muss, und zwar sowohl von den
deutschen als auch den verbündeten Streitkräften.
Statt über Anträge zu diskutieren, galt es daher erst
einmal, im Stillen konstruktiv zu arbeiten, um die notwendigen Bedingungen für eine Verringerung des
Übungsbetriebs zu schaffen. Das haben alle Beteiligten auch getan, ausgenommen die Linke, über deren
Antrag wir heute entscheiden.
Durch die kurz bevorstehende Auflösung des Jagdbombergeschwaders 32 in Lechfeld im Rahmen der
aktuellen Bundeswehrreform sowie die amerikanischen Pläne zur Verringerung ihrer Truppenpräsenz in
Deutschland - hier insbesondere der Kampfflugzeuge
in Spangdahlem bis Ende dieses Jahres - haben sich
diese Bedingungen nun ergeben.
In Süddeutschland fallen damit die bisherigen
Hauptnutzer von Siegenburg weg, sodass der Erhalt
des nur zweieinhalb Quadratkilometer großen Schießplatzes nicht mehr gerechtfertigt scheint.
Zur Zeit finden daher Verhandlungen mit der amerikanischen Seite über die Aufgabe der Nutzung statt.
Der Antrag der Linken hat sich damit ohne großes öffentliches Getöse erledigt.
Ein Problem allerdings bleibt: Mit der Schließung
Siegenburgs wäre der gesamte verbleibende LuftBoden-Übungsbetrieb über Land in der Bundesrepublik auf Nordhorn konzentriert. Das Bundesverteidigungsministerium strebt zwar eine Lösung an, die
keine Mehrbelastung an anderer Stelle beinhaltet. Als
einzig verbliebener Schießplatz wäre in Nordhorn aber
von der solidarischen Lastenteilung zwischen den
Regionen Deutschlands, die einst mit dem Betrieb von
Wittstock angestrebt wurde, nichts mehr zu spüren.
Ich weiß, die Lösung der Linken wäre einfach: kein
Nordhorn mehr, keine Übungsflüge mehr, überhaupt
keine Bundeswehr mehr. So weit die sozialistischen
Träume von einer perfekten Welt.
In der echten Welt brauchen wir die Bundeswehr
und Übungseinsätze - auch in Deutschland - weiterhin. Damit auch linke Träumer in der Sicherheit leben,
die notwendig ist, um öffentlichkeitswirksame Anträge
zu formulieren.
Das bitte ich die Kollegen, die sich für die Schließung Siegenburgs eingesetzt haben, allerdings auch
den Menschen in Nordhorn zu vermitteln.
Vorab: Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich bei
diesem Antrag der Fraktion Die Linke zur Schließung
des Luft-Boden-Schießplatzes Siegenburg enthalten.
Diese Enthaltung haben wir bereits in den Ausschussberatungen vorgenommen, die vor fast einem Jahr
stattgefunden haben. Die Position hat noch mein Vorgänger im Mandat, Herr Michael Groschek, vertreten.
So richtig es ist, die künftige Verwendung des Areals
als Schießplatz infrage zu stellen, so fahrlässig ist es
Zu Protokoll gegebene Reden
aber auch, den vom Betrieb belasteten Anwohnern
eine schnelle Änderung ihrer Situation in Aussicht zu
stellen. Abgesehen davon gibt es zu diesem Platz vor
Ort gar keinen Konflikt, außer vielleicht mit den Linken. Aber das hat andere Gründe, die eher in der
grundsätzlich gegen die Bundeswehr gerichteten Position der sogenannten Linken liegen.
Nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion müssen wir als Teil der Europäischen Union auch anderen
Staaten die Möglichkeit geben, sicherheitspolitische
Kernkompetenzen und militärische Fähigkeiten gemeinsam zu trainieren; denn nur im Bündnis mit anderen EU- und NATO-Mitgliedstaaten kann Deutschland
seinen Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit und Schutz
gewähren sowie glaubwürdig für den Frieden in der
Welt eintreten.
Die Bundeswehr benötigt gerade auch als Armee im
Einsatz vielfältige Übungsmöglichkeiten, die den Anforderungen möglicher Einsätze nahekommen. Dies ist
richtig und notwendig. Als Mitglieder des Deutschen
Bundestages müssen wir für die bestmögliche Ausbildung unserer Soldatinnen und Soldaten Sorge tragen.
Es darf nicht der Fall sein, dass wir die Bundeswehr in
teilweise sehr gefährliche Auslandseinsätze entsenden,
aber an der Einsatzvorbereitung sparen. Schließlich
ist eine sehr gute Ausbildung immer auch der beste
Schutz für unsere Soldatinnen und Soldaten. Insbesondere modernen, computergestützten Ausbildungsmitteln wie Simulatoren kommt eine ständig wachsende Bedeutung zu, aber auch in Echtzeit im Gelände muss die
Einsatzlage simuliert werden. Deshalb benötigen wir
Übungsmöglichkeiten gerade auch für die Luftwaffe.
Die kostenintensiven Übungsmöglichkeiten in den
USA reichen für eine in Übung zu haltende bundesdeutsche Luftwaffe nicht aus. Grundsätzlich ist es notwendig, im Rahmen von Pooling and Sharing eine europaweit taugliche Übungsmöglichkeit zu finden. Wie
schwierig das ist, ist beispielsweise im Fall der Senne
zu sehen. Die Briten ziehen zwar ihre Truppen ab, sind
aber auf noch nicht absehbare Zeit auf die Nutzung des
Truppenübungsplatzes Sennelager angewiesen, da sie
über keine eigenen, geeigneten Übungsplätze verfügen.
Im Rahmen der dringend zu überarbeitenden Konzeption der Übungsplätze besteht die klare Anforderung an die Bundesregierung, endlich zu praxisnahen
Lösungen zu kommen. Das ist die wirkliche Herausforderung. Zwar wurde zum Anfang der Legislaturperiode von Schwarz-Gelb versprochen, die Konzeption
der Übungsplätze zu überarbeiten, aber Fehlanzeige.
Bisher sind keine Aktivitäten seitens der Bundesregierung hin zu einem Übungsfelderkonzept zu erkennen.
Und damit ist auch den vom Fluglärm betroffenen
Anwohnerinnen und Anwohnern von Siegenburg nicht
geholfen. Nur ein europäischer Truppenübungsplatz
könnte hier für Abhilfe sorgen. Das wäre ein Engagement mit hoher Intensität wert.
Meine Fraktion wird sich enthalten, weil es richtig
wäre, durch eine Konzeption für die Übungsplätze zu
einer Lösung zu kommen, die den Standort Siegenburg
in Niederbayern überflüssig macht. So könnten auch
die Anlieger profitieren. Der Ansatz der Linken lässt
aber leider kein wirkliches Interesse an einer Lösung
der komplexeren Problemlage erkennen.
Nach Informationen des Bundesverteidigungsministeriums kann der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg
in absehbarer Zeit geschlossen werden. Diese Nachricht hat verständlicherweise für großen Jubel vor Ort
gesorgt. Die Belastung von Anwohnern in der Nähe
militärischer Übungsplätze ist naturgemäß hoch, vor
allem aufgrund des im Zusammenhang mit Flugbewegungen entstehenden Lärms. Als FDP-Bundestagsfraktion beglückwünschen wir daher ausdrücklich die
vielen hochengagierten Bürgerinnen und Bürger vor
Ort zu ihrem beharrlichen Engagement und sprechen
ihnen unseren Dank für die jahrzehntelange Duldung
der mit dem Betrieb des Übungsplatzes einhergehenden Belastungen aus.
Wir haben immer betont, dass bei der Nutzung militärischer Übungsanlagen ein schwieriger Abwägungsprozess zwischen den Interessen der betroffenen
Anwohner und der Notwendigkeit von Ausbildungsmöglichkeiten unserer Soldatinnen und Soldaten vollzogen werden muss. Beides liegt uns am Herzen. Beide
Anliegen stehen aber in einem Spannungsverhältnis
zueinander und können nicht einseitig aufgelöst werden.
In einer solch komplexen Frage gibt es keine einfachen Lösungen, wie es die Linken in ihrem vorliegenden Antrag suggerieren. Auch wenn es schwerfallen
mag, wir müssen in solch komplexen Fragen die Anstrengung unternehmen, ein für beide Seiten angemessenes Ergebnis zu finden.
Daher haben wir in der Vergangenheit immer betont
und das auch im Deutschen Bundestag mehrfach so
formuliert, dass wir die Bundesregierung ausdrücklich
in ihrem Bemühen unterstützen, bei allen Entscheidungen hinsichtlich der Nutzung inländischer Truppenübungsplätze zwischen operationellen Notwendigkeiten für unsere Bundeswehr auf der einen und den
berechtigten Interessen der betroffenen Bürger auf der
anderen Seite abzuwägen. Dem Bundesministerium
der Verteidigung obliegt dabei die schwierige Aufgabe, den Ausbildungs- und Einsatzflugbetrieb in dem
gerade erforderlichen Maße zu planen, um damit die
Belastungen der Bevölkerung durch notwendige militärische Flüge in Deutschland auf das unvermeidbare
Maß zu begrenzen und auch weiterhin minimalinvasiv
auszugestalten.
Mit der geplanten Auflösung des Jagdbombergeschwaders 32 in Lechfeld Ende März 2013 und dem
angekündigtem Abzug der bisher in Spangdahlem stationierten A-10-US-Kampfflugzeuge hat sich eine neue
Situation ergeben. Mit dem damit verbundenen Wegfall
Zu Protokoll gegebene Reden
der bisherigen Hauptnutzer des Luft-Boden-Schießplatzes in Siegenburg ist nun ein Verzicht auf die Anlage insgesamt möglich, und zwar unter Wahrung der
Interessen aller Beteiligten, der Anwohner, der Kommune und der gesamten Region auf der einen Seite und
der Angehörigen unserer Luftwaffe auf der anderen
Seite.
Alle Beteiligten stehen nun vor großen Herausforderungen. Die Möglichkeiten einer potenziellen Nachfolgenutzung werden nun zu erörtern sein. Belange des
Naturschutzes werden dabei mit Sicherheit eine wichtige Rolle spielen. Wir wünschen den handelnden Personen vor Ort eine glückliche Hand und stehen gerne
bereit, den weiteren Prozess zu begleiten.
„Die Schließung des Platzes ist in greifbare Nähe
gerückt.“ Mit diesem Satz war bereits im Sommer 2003
Hoffnung auf ein Ende der militärischen Nutzung des
Bombenabwurfplatzes Siegenburg entstanden. Heute,
im Jahr 2013, ist der Platz nach wie vor in Händen der
US-Airforce und wird nach wie vor überwiegend von
der Bundeswehr genutzt.
Nun wird in einem Flugblatt der CSU, das in den
Kommunen rund um Siegenburg verteilt wurde, erneut
angekündigt, der Schießplatz „soll möglichst schnell
geschlossen werden“. Das wäre wirklich schön. Allerdings macht es die frühere Erfahrung mit vagen
Ankündigungen schwer, angesichts dieser Mitteilung
bereits von einem sicheren Ende der Belastung für die
Region auszugehen. Es gibt keine Zusagen der US-Airforce, es gibt keinen Zeitplan und es gibt nichts, was
rechtlich verbindlich regelt, dass die militärische
Nutzung wirklich bald der Vergangenheit angehört.
Solange es diese verbindlichen Regelungen und Zusagen nicht gibt, muss und wird der Protest gegen die militärische Nutzung weitergehen. Ich bin froh, dass die
„Bürgerinitiative gegen den Fluglärm“ genau das bereits angekündigt hat.
Dass auch die Grünen unserem Antrag nun nicht
mehr zustimmen wollen, weil die Schließung ja schon
beschlossen sei, das zeugt nicht nur von Naivität. Es
macht wieder einmal klar, dass Grüne äußerst unzuverlässige Kooperationspartner sind, besonders wenn
es um Militärpolitik geht. Während der Verhandlungen
über einen möglichen interfraktionellen Antrag wollten Sie unseren Antrag nicht übernehmen, weil er Forderungen zur zivilen Nachnutzung und zur Finanzierung der Dekontaminierung enthielt. Nun erklären sie,
dass sie unserem Antrag nicht zustimmen wollen, weil
diese Fragen, die ja die Zukunft des Platzes betreffen,
in unserem Antrag nicht enthalten seien. Der Antrag
der Fraktion Die Linke ist aber nach wie vor der gleiche. Wir halten in der Friedensfrage entschieden unseren Kurs.
Das Verhalten der CSU ist ebenfalls von Widersprüchen geprägt. Sie versucht ganz offensichtlich nicht
nur, die Erfolge der Bürgerinitiative für sich zu instrumentalisieren. Sie vernebelt auch vorsätzlich wesentliche Tatsachen. Der Standort ist bereits heute in öffentlichem Besitz, auch wenn er von der US-Airforce
betrieben wird. Wer schreibt, der „Standort wird wohl
in das Eigentum der Bundesrepublik zurückkehren“,
der suggeriert, das Gelände wäre in den letzten Jahrzehnten nicht in deutschem Besitz gewesen. Damit
wollen die Verfasser des Flugblatts erkennbar von der
eigenen Verantwortung für den Status quo ablenken.
Jahrzehntelang war das, was der Öffentlichkeit gehört, nicht für diese zugänglich. Mehr noch, die
Nutzung als Bombenabwurfplatz hat das öffentliche
Wohl gefährdet, durch Lärm, durch Unfallgefahr,
durch Umwelt- und Wasserverschmutzung.
Und wofür das Ganze? Für die „Sicherheit unseres
Landes“, wie die CSU glauben macht? Davon kann
nicht die Rede sein: Auf Siegenburg Range wurde nicht
die Verteidigung Deutschlands geübt - gegen welchen
Feind auch? Auf dem Übungsplatz wurden Angriffskriege vorbereitet wie etwa der Irakkrieg. Damit
wurde die Sicherheit von Millionen von Menschen in
vielen Teilen der Welt gefährdet. Im Interesse der Bevölkerung in der Region um Siegenburg lagen diese
Kriegsvorbereitungen definitiv nicht.
Es wird höchste Zeit, dass der Platz wieder zivil genutzt wird und dass diese zukünftige Nutzung endlich
wirklich dem Wohl der Menschen dient. In Absprache
mit den zuständigen Behörden und unter demokratischer Beteiligung der Betroffenen muss umgehend mit
der Vorbereitung der zivilen Nutzung begonnen
werden.
Ich unterstütze den Wunsch der BI nach einem Naturpark in Siegenburg Range und nach dauerhaftem
Schutz des Grundwassers im Dürnbucher Forst nach
Kräften. Doch dafür muss der Bund seiner Verantwortung gerecht werden und die nötigen Mittel für die
Dekontaminierung des Platzes zur Verfügung stellen.
Auf dem gesamten Platz finden sich die Hinterlassenschaften aus dem militärischen Übungsbetrieb seit den
Zeiten des Nationalsozialismus. Dazu gehören nicht
explodierte Kampfstoffe, Munitionsreste und möglicherweise Uranmunition. Wenn diese Gefahrenquellen
nicht entfernt werden, dann tickt auf Siegenburg Range
auch nach Abzug des Militärs eine gefährliche Zeitbombe.
Die Menschen rund um Siegenburg haben es verdient, ein Naherholungsgebiet zu haben, das sie auch
unbeschwert nutzen können. Dass eine solche zivile
Nutzung auch ökonomische Vorteile mit sich bringt,
das haben die Erfahrungen aus anderen ehemaligen
Übungsplätzen gezeigt. Ein interessantes Beispiel ist
der ehemalige Truppenübungsplatz Münsingen, der
heute des Kernstück des Biosphärenreservates Schwäbische Alb bildet. Dessen zivile Nutzung hat aus der
schrumpfenden Garnisonsstadt eine prosperierende
Tourismusregion gemacht. Ich hoffe nur, dass man in
Siegenburg aus den Fehlern lernt, die in Münsingen
beim nur sehr unvollständigen Dekontaminieren des
Platzes gemacht wurden. Dann gibt es wirklich gute
Zu Protokoll gegebene Reden
Aussichten für Siegenburg. Wenn es so weit ist, gebührt
der Dank dafür auf jeden Fall voll und ganz der „Bürgerinitiative gegen den Fluglärm“.
Am Samstag vor gut einer Woche hat die CSU in einem Faltblatt an alle Haushalte im Ort Siegenburg
und in einer gleichlautenden Presseerklärung über die
Entscheidung des Bundesverteidigungsministeriums
informiert, dass der Luft-Boden-Schießplatz Siegenburg geschlossen werden soll. Damit ist der Antrag,
über den heute abgestimmt werden soll, gegenstandslos geworden. Wenn die Fraktion Die Linke den Antrag
dennoch heute zur Abstimmung stellt, dann offensichtlich deshalb, weil sie in irgendeiner Weise für sich reklamieren möchte, dass sie an der Schließung des Platzes beteiligt war. Das ist genauso fragwürdig wie das
Vorgehen der CSU, die in der schon erwähnten Presseveröffentlichung den Eindruck vermitteln möchte, sie
hätte Anteil daran, den Platz zu schließen.
In Wahrheit will die CSU vergessen machen, dass es
der CSU-Abgeordnete Dr. Götzer, Stimmkreisabgeordneter des betroffenen Wahlkreises Landshut-Kelheim,
war, der sich im Sommer 2011 vom Acker gemacht
hatte, als es darum ging, einen vorabgestimmten überfraktionellen Gruppenantrag zur Schließung des LuftBoden-Schießplatzes Siegenburg zu unterschreiben mit dem windigen Argument, der Antrag werde keine
Mehrheit bei Grünen und SPD erhalten. Fakt ist, dass
nicht ein einziger Abgeordneter der CSU unterschreiben wollte und im Gefolge der CSU auch die FDP ihre
Unterstützung wieder kassierte. Wichtige Forderung
im Gruppenantrag war, die Folgen einer Schließung
des Platzes in Siegenburg für den einzig dann noch
verbleibenden Luft-Boden-Schießplatz Nordhorn in
Niedersachsen zu untersuchen, eine Forderung, die im
Antrag der Linken gar nicht auftaucht.
Es war also die CSU, die es versäumte, Druck auf
das Verteidigungsministerium zu machen, ein schlüssiges Konzept für alle Luft-Boden-Schießplätze vorzulegen. Es waren dann mehrere Schreiben und öffentliche
Aufforderungen von meiner Seite notwendig, bis
Staatssekretär Schmidt erst Anfang dieses Jahres nach
langem und mehrmaligem Drängen sich auf den Termin Sommer 2013 für eine Entscheidung festlegte.
Aber wir kennen das in Bayern nur zu gut: Die CSU
reklamiert regelmäßig, dass sie den Chiemsee ausgehoben und die Alpen aufgeschüttet hat, genauso wie
Herr Dr. Götzer den erstaunten Lesern der örtlichen
Medien nach dem Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung aus der Atomkraft verkündete, er habe den
Atommeiler Isar 1 bei Landshut abgeschaltet. Wie sagen wir dazu in Niederbayern: „Wir sind nun gerade
auch nicht auf der Brennsuppen dahergeschwommen.“
Auf Hochdeutsch gesprochen: „Für blöd lassen wir
uns nicht verkaufen.“
Zum Glück haben das die örtlichen Medien verstanden. Die Mittelbayerische Zeitung titelte: „CSU steht
mitten im Bombenhagel“. Recht hat sie; denn es waren
die Bürger, vor allem die Bürgerinitiative gegen den
Fluglärm e.V., die sich seit fast 35 Jahren gegen Fluglärm und Gefährdung durch die niedrigfliegenden Militärjets am Schießplatz wehrt, mit vielen, vielen Aktionen, die oft eben gerade nicht durch die CSU
unterstützt wurden. Und deshalb empfanden die Bürger vor Ort zu Recht die Öffentlichkeitskampagne der
CSU als ziemlich anmaßend. Aber jeder blamiert sich
halt, so gut er kann.
Die Bürgerinitiative, angeführt von einem sehr aktiven Vorstand und unterstützt vom Landrat in Kelheim,
hatte gerade in den letzten Jahren immer wieder mit
neuen Fakten aufgewartet - Fakten, die eine Schließung des Platzes nicht nur aus den Gründen der Belastung für die Bürger, sondern letztlich aus ökonomischen Gründen haben sinnvoll werden lassen. Machen
wir uns nichts vor: Die Schließung des Platzes ist im
Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Größe
des Platzes für moderne Waffen nicht geeignet ist. Mit
den heute ausschließlich eingesetzten Lenkwaffen
kann in Siegenburg nicht geübt werden, und mit ungelenkten Waffen zu üben ist ein wenig wie auf der Gorch
Fock eine Ausbildung für die moderne Seeschifffahrt
zu machen. Und anders als bei der Gorch Fock sind
vom Flugbetrieb eben die anliegenden Bürger erheblich betroffen - deshalb darf man die Fliegerei dort in
Siegenburg aus nostalgischen Gründen nicht zulassen.
Hinzu kommt noch der Abzug von Flugzeugstaffeln
aus Süddeutschland, der die Nutzung des Platzes obsolet macht. Leider wurde die Bevölkerung sehr lange im
Unklaren gelassen. Schon vor mehreren Jahren hätte
die Schließung des Platzes avisiert werden können, nur
die CSU hatte kein Interesse daran. Viel Energie hätte
gespart bzw. auf andere Projekte verwendet werden
können. Diese Arroganz der CSU und des Verteidigungsministeriums kann nicht scharf genug kritisiert
werden.
Der Antrag der Linken aber ist Schnee von gestern.
Und ihm fehlen die Themen, die jetzt angepackt werden müssen. Da die Linke auf Abstimmung besteht,
wird sich meine Fraktion der Stimme enthalten. Denn
statt über die Vergangenheit zu debattieren, müssen
wir an der Zukunft arbeiten.
Wir haben zwei zentrale Forderungen. Erstens muss
der Platz umgehend und zulasten des Bundes von eventuellen Restkampfmitteln geräumt werden, und diese
müssen gegebenenfalls sicher entsorgt werden.
Der Platz muss dann zweitens an die kommunalen
Gebietskörperschaften übergeben werden, die ihrerseits aufgefordert sind, den Platz in ein Naturschutzgebiet zu überführen, um damit der Einmaligkeit der
Flora und Fauna dieses Geländes Rechnung zu tragen.
Das muss jetzt zügig angepackt werden. Ein Aussitzen der Folgefragen ohne klare Entscheidungen wäre
nach 35 Jahren Bürgerinitiative gegen den Fluglärm
wirklich fatal. Ich bin gespannt auf die Ausführungen
von Staatssekretär Schmidt zu diesen beiden Punkten
Zu Protokoll gegebene Reden
beim vereinbarten Round Table im Landratsamt Kelheim nächste Woche. Ich erwarte dann einen klaren
Aktions- und Zeitplan für die Überführung des Platzes
in eine zivile Nutzung. Da werden die Bürger mit Sicherheit weiter Druck machen, und wir Grünen werden sie dabei tatkräftig unterstützen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8388, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5757 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltungen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit
machen für die Kooperation mit fragilen Staaten
- Drucksachen 17/10791, 17/11961 Berichterstattung:Abgeordnete Sibylle PfeifferStefan RebmannJoachim Günther ({1})Heike HänselUte Koczy
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Wir beraten heute den Antrag „Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit machen für die Kooperation
mit fragilen Staaten“ bzw. die Beschlussempfehlung
dazu, deren Inhalt aufgrund ihrer Aktualität sehr wichtig für die Entwicklungszusammenarbeit und im
Grunde ja für unsere gesamte Außenpolitik sind. Dennoch finden sich darin einige Punkte, über die es noch
einmal zu diskutieren gilt.
Zunächst zur Aktualität des Themas: Mit Mali hat
sich in den vergangenen Monaten ein weiteres Land in
die Liste der fragilen Staaten eingereiht, das viele von
uns dort so nicht erwartet hätten und das uns die Wichtigkeit einer kohärenten Strategie im Umgang mit fragilen Staaten wieder einmal verdeutlicht hat.
Mali war ein Musterland für Demokratie und wirtschaftliches Wachstum in ganz Afrika, und jeder
konnte sich von den wirtschaftlichen, sozialen und
politischen Fortschritten des Landes überzeugen. Als
wir 2011 mit dem Ausschuss dort Projekte besucht haben, konnte ich mir persönlich einen Eindruck über die
positiven Entwicklungen in diesem Land verschaffen.
Mittlerweile haben wir es in Mali mit einem zumindest teilweise zerfallenden Staat zu tun. Denn der unterentwickelte Norden ist zu einem Rückzugsgebiet für
islamistische Terroristen geworden. Der Nährboden
dafür waren ein Mangel an politischer Teilhabe für
alle Gruppen der Gesellschaft und die große Armut
der Menschen in den abgelegenen nördlichen Regionen. Sicherlich wird uns die Frage, wie es zu dieser
Situation kommen konnte, noch eine Weile beschäftigen, und wir müssen daraus Konsequenzen ziehen für
die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit. Wir müssen künftig genauer hinschauen. Und wir sollten
Warnzeichen, wie sie im Falle Malis beispielsweise bereits 2009 vom African Peer Review Mechanism aufgezeigt wurden, ernst nehmen und entsprechend schnell
präventiv und in Abstimmung mit unseren internationalen Partnern reagieren.
Gleichzeitig können wir aber an der aktuellen Lage
in Mali erkennen, dass eine global einheitliche Definition von fragilen Staaten schwer zu finden ist, und ich
möchte behaupten, dies wäre vielleicht auch zunächst
nicht zielführend. Denn: Mali reiht sich nun ein in eine
Liste von Staaten, die unterschiedlicher nicht sein
könnten. Da sind die Demokratische Republik Kongo,
Jemen und Somalia, Afghanistan, Südsudan und Bangladesch. 1,5 bis 2 Milliarden Menschen leben heute
weltweit in Staaten, die wir als fragil einstufen können.
Sie alle eint, dass sie in einem Umfeld leben, in dem
Menschenrechte nicht geachtet werden, in dem ein demokratisches System nicht wachsen und sich nicht entfalten kann. In einem solchen Land lässt sich das staatliche Gewaltmonopol nicht durchsetzen. Es gibt kein
funktionierendes Finanz- und Wirtschaftssystem. Es
herrscht bittere Armut, und für die soziale Grundversorgung der Bevölkerung ist nicht gesorgt.
Dennoch ist kein fragiler Staat mit einem anderen
vergleichbar. Nicht umsonst warnen derzeit Experten
davor, Afghanistan mit Mali gleichzusetzen. Eine verbindliche und einheitliche Definition, wie im vorliegenden Antrag gefordert, wäre deshalb schwer zu finden, und vor allem birgt sie die Gefahr, dass der eine
oder andere Staat, so wie Mali jetzt, zu lange „durch’s
Raster“ fällt und eben nicht berücksichtigt wird, wenn
es vielleicht darum geht, auch schon frühzeitig präventive Maßnahmen einzuleiten.
Vielmehr sollten wir in Zukunft - basierend auf den
Ressortübergreifenden Leitlinien für eine kohärente
Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten vom September 2012 - einen konkreten Maßnahmenkatalog zusammenstellen und die beinhalteten
Strategien so ausarbeiten, dass sie vor allem schnell
umsetzbar und sehr langfristig angelegt sind. Fragile
Staaten wie Afghanistan, Haiti oder der Südsudan benötigen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft langfristig. Das können wir nicht alleine
schaffen. Hier benötigen wir einen multilateralen Ansatz.
Es ist ganz klar: Für einen international abgestimmten und vernetzten Ansatz bei unserer Arbeit in
fragilen Staaten benötigen wir vor allem eine gut funktionierende Kommunikation und Abstimmung mit
unseren Partnerländern. Hierfür sind die in den Leitlinien vorgesehenen Arbeitsstäbe die richtige Grundlage, um auch international agieren zu können. Damit
haben wir für das deutsche Engagement in fragilen
Staaten vor allem eine realistische und pragmatische
Basis geschaffen. Wie die Verfasser des Antrags zur
Einschätzung kommen, dass diese Leitlinien - welche
vor genau sechs Monaten vorgestellt wurden - keine
Wirkung entfalten würden, sei dahingestellt.
Außerdem haben wir mit dem Ressortkreis „Zivile
Krisenprävention“ und mit dem Beirat für Zivile
Krisenprävention bereits sehr gute Instrumente und
Verfahren zur Koordinierung unserer Maßnahmen in
fragilen Staaten entwickelt.
Das Elend fragiler Staaten betrifft uns alle; denn
aufgrund der immer stärkeren Interdependenzen auf
globaler Ebene sind wir mittlerweile ganz direkt von
der Armut und von der gesellschaftlichen Ungleichheit
in Ländern wie Burundi, Südsudan oder Bangladesch
betroffen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Burundi
sind etwa 73 Prozent der Bevölkerung unterernährt;
beinahe 15 Prozent aller Kinder sterben vor ihrem
fünften Lebensjahr. In Afghanistan liegt die Lebenserwartung bei knapp 49 Jahren im Durchschnitt. Diese
Länder sind eine Brutstätte für Extremismus und Gewalt. Die Menschen dort können nicht in Sicherheit leben, und nur wenn wir durch angepasste Maßnahmen
für eine nachhaltige Entwicklung sorgen, können wir
Politik, Wirtschaft und vor allem auch die Gesellschaft
auf eine solide Basis stellen, sodass auch dort „Hilfe
zur Selbsthilfe“ umgesetzt werden kann. Sicherheit,
Bildung, Gesundheit und schließlich auch wirtschaftliche Stabilität sind die besten Maßnahmen gegen Terrorismus und Gewalt. Bis dorthin kann es ein langer Weg
sein. Aber genau dies ist unsere Verantwortung - auch
in unserem eigenen Interesse.
Dies bringt mich zu einem weiteren Kritikpunkt am
vorliegenden Antrag. Würden wir militärisches Eingreifen in zerfallenden und fragilen Staaten von vornherein ausschließen, könnten wir in vielen Fällen den
Weg zum Aufbau eines soliden Staates gar nicht schaffen. Verstehen Sie mich nicht falsch - gewaltsame
Konflikte können ein Land in wenigen Monaten um
Jahrzehnte zurückwerfen, und deshalb sollte der Einsatz von Waffen das äußerste Mittel sein. Die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft muss oberste Priorität haben; denn dies ist die wirklich solide Basis für
nachhaltige Entwicklung und Frieden. Wer aber
glaubt, wir könnten lediglich so fragile Staaten vor
dem Zerfall bewahren, sieht die aktuelle Realität nicht.
Ich erinnere da nur beispielsweise an Südsudan, wo
die Waffengewalt nach wie vor das Land an Fortschritten bei der Entwicklung hindert.
All dies schaffen wir aber nicht alleine. Wir sind
hier ganz besonders auf die Zusammenarbeit mit unseren multilateralen Partnern angewiesen. Ein sehr guter Rahmen ist hier beispielsweise durch den „New
Deal for Engagement in Fragile States“ im Dezember
2011 in Busan geschaffen worden. Auch die „Peacebuilding and Statebuilding Goals“ der OECD aus dem
gleichen Jahr sehen Legitimität, Sicherheit, Gerechtigkeit bzw. Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Stabilität
sowie staatliche Dienstleistungen, die durch Einnahmen des Staates finanziert werden können, als die
Grundlage von Fortschritt in diesen Ländern.
Um auf die Herausforderung von fragiler Staatlichkeit angemessen zu reagieren, müssen wir global vernetzt agieren. Wir müssen effektiv und effizient arbeiten. Hier hat Deutschland in den vergangenen Jahren
und vor allem in den letzten Monaten noch einmal verstärkt Maßstäbe gesetzt. Wir haben hervorragende
Strategien erarbeitet, die es nun weiterhin umzusetzen
und vor allem immer wieder anzupassen gilt. Wer
glaubt, wir hätten hiermit ein allgemeingültiges Rezept
gefunden, der irrt sich. Kein fragiler Staat lässt sich
mit einem anderen vergleichen. Dennoch können wir
aus den bereits gemachten Erfahrungen lernen und so
angemessen reagieren und agieren - so wie wir dies
bereits heute in Ländern wie Afghanistan, Jemen,
Somalia, Südsudan und Burundi tun.
Meist beschäftigen wir uns mit fragilen Staaten wie
Mali, Afghanistan oder Somalia immer dann, wenn die
Handlungsunfähigkeit staatlicher Institutionen zu einem internationalen Sicherheitsproblem angewachsen
ist. Immer dann, wenn gewaltsame Konflikte drohen
oder bereits eskalieren, werden politische und militärische Handlungsmöglichkeiten abgewogen, vorrangig
mit dem Ziel, regionale und internationale Sicherheitsbedrohungen abzuwenden, so zuletzt im Fall Mali.
Fragile Staaten werden deswegen oftmals leider völlig
verkürzt lediglich als Sicherheitsproblem wahrgenommen.
Fragile Staaten sind aber nicht nur ein sicherheitspolitisches Thema. Sie sind vor allem eine zentrale entwicklungspolitische Herausforderung. Ein Blick auf
die Faktenlage macht dies mehr als deutlich: Nicht eines der Länder aus der Gruppe fragiler oder von Konflikten betroffener Staaten hat bisher auch nur eines
der Milleniumsentwicklungsziele erreicht. Nicht eines!
Und es steht nicht zu erwarten, dass sich dies bis zum
Jahr 2015 ändern wird. Auf diese Gruppe entfallen die
Hälfte der Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Geburtstag sterben, ein Drittel aller Sterbefälle von Müttern und ein Drittel aller Menschen, die mit weniger
als einem Dollar am Tag überleben müssen.
Immer wiederkehrende Gewaltkonflikte haben in
den betroffenen Gesellschaften darüber hinaus tiefe
Gräben und Traumata hinterlassen. Die 1,5 Milliarden
Menschen in diesen Ländern und damit rund 20 Prozent der Weltbevölkerung drohen von der internationaZu Protokoll gegebene Reden
len Entwicklung gänzlich abgehängt zu werden. Wir
brauchen endlich wirksame und nachhaltige Strategien und Konzepte, um dieser katastrophalen Fehlentwicklung erfolgreich zu begegnen.
Bisherige Ansätze in der Entwicklungszusammenarbeit haben sich im Kontext fragiler Staatlichkeit meist
als wenig wirksam und nachhaltig erwiesen. Zu umfassend sind die Herausforderungen in einer Situation, in
der die Voraussetzungen für Entwicklung eigentlich
erst noch geschaffen werden müssen. Viele Geber haben sich von diesen Schwierigkeiten abschrecken lassen. Die Schwankungen der Mittelzuflüsse sind bei der
Entwicklungsförderung fragiler Staaten deswegen besonders ausgeprägt, und sie stellen ein zusätzliches
Problem dar. Die OECD warnt davor, dass gerade unter den Vorzeichen finanzieller Krisen und knapper öffentlicher Kassen, wenn auch die Haushaltsmittel für
Entwicklungszusammenarbeit und ihre Verwendung
unter zusätzlichem Erklärungsdruck stehen, die Unterstützung für fragile Staaten ins Hintertreffen geraten
könnte.
Allzu oft fokussieren Geberregierungen in solchen
Zeiten auf Projekte und Programme, die nationalen Interessen dienen und schnelle, sichtbare Erfolge bringen, die sich gut rechtfertigen und vermitteln lassen.
Doch nachhaltiges Engagement in fragilen Staaten
funktioniert anders. Hier geht es vor allem um langfristige Perspektiven, die Rückschläge in Kauf und Erfolge auf lange Sicht in den Blick nehmen. Das ist
kurzfristig nicht immer leicht darzustellen und zu vermitteln, aber umso notwendiger.
Die Entwicklungsförderung in fragilen Staaten bedarf unserer langfristigen, zuverlässigen Unterstützung,
damit nachhaltige Entwicklung eine Chance bekommt.
In Afghanistan haben wir diese Notwendigkeit deutlich
vor Augen. Doch während Afghanistan zumindest im
Moment noch aufgrund westlicher Sicherheitsinteressen im Fokus internationaler Aufmerksamkeit steht,
erfahren andere Länder mit fragiler Staatlichkeit weit
weniger Unterstützung. Wir müssen unser Engagement
in Afghanistan verlässlich weiterführen, dürfen aber
auch die anderen nicht aus dem Blick verlieren.
Wir müssen deswegen der Entwicklungszusammenarbeit mit fragilen Staaten materiell wie konzeptionell
besondere Aufmerksamkeit schenken. Dazu gehören
politischer Mut und Durchhaltevermögen; dazu gehört
aber auch eine Aufstockung der ODA-Mittel mit besonderem Blick auf fragile Staaten. Die von der Bundesregierung präsentierten Eckwerte für den Haushalt
2014 weisen da leider genau in die falsche Richtung.
Die besonderen Herausforderungen bei der nachhaltigen Friedens- und Entwicklungsförderung fragiler
Staaten machen deutlich, dass hier auch eine bessere
Koordination und Kooperation sowohl im nationalen
als auch im internationalen Rahmen unabdingbar ist.
Der vorliegende Antrag fordert zu Recht eine kohärente ressortübergreifende Strategie im Umgang mit
fragilen Staaten, die kohärent vor allem im Interesse
von Entwicklung und Menschenrechten wirkt. Diese
darf sich nicht nur auf Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik beschränken, sondern muss beispielsweise auch die Wirtschaftspolitik verpflichten, zum
Beispiel durch eine restriktive Rüstungsexportpolitik.
Die 2012 von Auswärtigem Amt, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und dem Verteidigungsministerium vorgelegten Leitlinien für eine kohärente Politik gegenüber
fragilen Staaten greifen in dieser Hinsicht jedoch nach
wie vor zu kurz. Entwicklungspolitisches Engagement
in fragilen Staaten kann nur im multilateralen Rahmen
und ausgerichtet an lokalen Prioritäten erfolgreich
sein. Es ist deswegen von besonderer Bedeutung, dass
die Entwicklung von Strategien und gemeinsamen Instrumenten auch multilateral, beispielsweise im Rahmen der Vereinten Nationen und auch der Europäischen
Union, vorangetrieben wird.
Wir unterstützen deswegen den vorliegenden Antrag
zur entwicklungspolitischen Kooperation mit fragilen
Staaten, der wichtige Ansatzpunkte benennt und die
Bundesregierung auffordert, sich dieser zentralen Herausforderung endlich umfassend und konsequent zu
stellen.
In der Tat handelt es sich beim Thema „Fragile
Staaten“ um einen äußerst komplexen, schwierigen
Diskussionsgegenstand; denn jedes einzelne Land, jeder einzelne Staat hat seine ganz spezifischen Ausgangspunkte und Hintergründe. Fragilität stellt sich in
jedem Entwicklungsland anders dar. Wann bezeichnet
man einen Staat eigentlich als fragil? Der „Duden“
hilft uns mit dem Begriff „zerbrechlich“, aber hilft uns
das weiter?
Die Antragsteller betonen ganz richtig die Einzigartigkeit eines fragilen Staates, aber fordern andererseits in ihrem Antrag eine einheitliche Definition von
fragilen Staaten. Dies widerspricht sich per se.
Nun möchte ich hierzu erst einmal feststellen, dass
es doch in der Hauptsache nicht um eine theoretische
Definitionsbeschreibung, an der man alles festmacht,
gehen sollte. Wirklich wichtig ist doch der Umgang mit
jenen Staaten, die Destabilisierungspotenziale in sich
bergen. Denn bei fragilen Staaten handelt es sich sicherlich unumstritten um schwache staatliche Gebilde,
die eine Herausforderung für die globale Sicherheit
darstellen. Dazu gehören grenzüberschreitende Problemfelder wie Menschen-, Waffen- und Drogenhandel
oder auch Rückzugsräume terroristischer Netzwerke.
Die internationale Staatengemeinschaft steht zunehmend vor der riesigen Aufgabe, einen Referenzrahmen
für den Umgang und die Zusammenarbeit mit solchen
fragilen Staaten zu finden.
Der Kernforderung des Antrags von Bündnis 90/Die
Grünen, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit
mit fragilen Staaten müsse erst einmal in den Fokus
der Bundesregierung gerückt werden, widerspreche
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
ich vehement. Dies ist bereits durch verschiedene Instrumente erfolgt, wie die Leitlinien der Bundesregierung für eine kohärente Politik gegenüber fragilen
Staaten, den Ressortkreis „Zivile Krisenprävention“,
den Beirat für Zivile Krisenprävention sowie länderspezifische Koordinierungsprogramme. Das Thema ist
längst in den Fokus des Regierungshandelns gerückt,
und auch entgegen dem im Antrag formulierten
Vorwurf mangelnder Koordinierung wurden auf nationaler Ebene sehr wohl die bereits vorgenannten Verfahren entwickelt.
In ihrem grundsätzlich multilateral ausgerichteten
Engagement sieht die Bundesregierung als prioritäres
Ziel eine wirksame Krisenprävention, die in Kooperation mit europäischen und internationalen Partnern
betrieben werden muss. Dabei agiert die Politik in dem
Handlungsrahmen, wie er durch die internationale
Einbindung Deutschlands vorgezeichnet ist.
Die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure ist
eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche
Transformation in fragilen Staaten; Sicherheit für die
Bevölkerung in fragilen Staaten hat jedoch für die
Bundesregierung oberste Priorität, weshalb militärische Einsätze nicht völlig ausgeschlossen werden können und oftmals notwendig sind, um den Weg für zivile
Akteure zu bereiten.
Es hat sich gezeigt, dass bei internationalen Engagements mit militärischen und bzw. oder polizeilichen
Komponenten ein quantitativ angemessenes und ausreichend robustes Profil gerade zu Beginn des Einsatzes als Erfolgsfaktor gelten kann. Zentrale Bedeutung
hat die Herausbildung einer rechtlich abgesicherten
und institutionalisierten Staatlichkeit, die die Rechte
von Frauen, Kindern und Minderheiten ausreichend
berücksichtigt. Dabei ist der Einfluss externer Akteure
beschränkt, und es verbleibt ein Rest an Eigenverantwortung bei der Bevölkerung fragiler Staaten. Das
deutsche Engagement verfolgt einen realistischen und
pragmatischen Ansatz, bei dem Rückschläge einkalkuliert werden und die Grenzen, die die Realität aufweist,
gesehen und ausreichend gewürdigt werden.
Anstatt diese Leitlinien zu begrüßen, konzentrieren
sich die Antragsteller auf pauschale Kritik, die teilweise sogar widersprüchlich ist. So wird einerseits die
Bewahrung von Menschenrechten gefordert, an anderer Stelle aber die Kürzung von Budgethilfen bei
schlechter Regierungsführung kritisiert. Auch wird der
Fortschrittsbericht zu Afghanistan als unzureichend
kritisiert und eine unabhängige Evaluierung von Entwicklungsmaßnahmen gefordert - diese Forderung ist
jedoch durch Bundesminister Niebel mit Gründung des
unabhängigen EZ-Evaluierungsinstituts längst erfüllt
worden.
Um die Bundesregierung zu kritisieren, wird weiterhin auf einen DAC-Prüfbericht von 2010 verwiesen
- die deutsche EZ sei unzureichend auf die ärmsten
Länder ausgerichtet: ebenfalls unter Niebel korrigiert und bewusst ignoriert, dass diese Kritik nur dem BMZ
unter Bundesministerin Wieczorek-Zeul gegolten haben kann. Folglich ist der Antrag abzulehnen.
Ich freue mich jedoch, dass wir jetzt fraktionsübergreifend eine gemeinsame öffentliche Anhörung mit
dem Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und
vernetzte Sicherheit“ zum Thema „Entwicklungsarbeit
mit fragilen Staaten“ am 12. Juni 2013 beschlossen
haben.
Wir haben vielfach Einvernehmen in Hinsicht auf
fragile Staaten: Die Entwicklungspolitik allein kann
die Lage der Länder mit Rechtsunsicherheit, Kriegsund Bürgerkriegssituationen, Flüchtlingen, Hunger,
Armut und Not nicht verbessern. Entwicklungszusammenarbeit würde so wenig hilfreich sein.
Ein Zusammenwirken von Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik ist unbedingt notwendig. Somit
fordere ich Sie auf: Suchen wir gemeinsam nach bewährten Konzepten und Instrumenten zur Problemlösung.
Die Grünen machen sich mit diesem Antrag das
sehr fragwürdige Konzept „fragiler Staatlichkeit“ zu
eigen, das Länder im neokolonialen Sinne in „good
performers“ und „bad performers“ einteilt. Die Antragsteller wollen sich vom Ansatz der „vernetzten Sicherheit“ distanzieren, dabei spielen gerade bei der
Integration von Sicherheits- und Entwicklungspolitik
die sogenannten fragilen und gescheiterten Staaten
eine entscheidende Rolle, die zu Beginn des Jahrtausends in den westlichen Strategiepapieren zur zentralen
Bedrohung und Legitimation zur Aufrechterhaltung
von interventionsfähigen Militärstrukturen erklärt
wurden. Dies spiegelt sich auf der ersten Seite der National-Security-Strategie der USA wider, in der die
weltweite Bedrohung für Frieden und Freiheit nicht
von Staaten ausgeht, die erobern, sondern von denen,
die zerfallen. Sicherheitspolitische Erwägungen dominieren auch die nun von den Planungsstäben des Auswärtigen Amtes, des „Bundesverteidigungsministeriums“ und des BMZ gemeinsam erarbeiteten Leitlinien
„Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“. Gleich einleitend heißt es:
„Heute sind vor allem schwache staatliche Gebilde
eine große Herausforderung für die globale Sicherheit.
Sie bilden grenzüberschreitende Destabilisierungspotentiale, dienen als Umschlagsplätze für Waffen-,
Drogen-, und Menschenhandel, als Rückzugsräume
für terroristische Netzwerke und sie bedrohen den legalen Handelsverkehr. Inaktivität birgt meist große Risiken auch für unsere eigene Sicherheit.“ Von der Sicherheit der Menschen, die in diesen Staaten leben, ist
an dieser Stelle keine Rede. Die Grünen betonen den
„Primat des Zivilen“, wollen aber gleichzeitig - ich zitiere aus dem Antrag - „Ressourcen der Diplomatie,
der Entwicklungszusammenarbeit, der zivilen Friedenskräfte, der Polizei, und des Militärs auf nationaler, internationaler und lokaler Ebene, ressort- und inZu Protokoll gegebene Reden
stitutionenübergreifend abstimmen“. Dies ist nichts
anderes als ein zivil-militärischer Ansatz.
In dem Antrag vermissen wir eine gründliche Analyse der Ursachen. Staaten zerfallen nicht einfach,
sondern werden von außen destabilisiert, militärisch,
politisch und wirtschaftlich. Vielfach sind es ja die
strategischen und wirtschaftlichen Interessen des Nordens, die die Existenzgrundlagen der Menschen und
Ökosysteme in den betroffenen Regionen bedrohen.
Dazu kommen Waffenlieferungen und militärische Kooperationen, oft auch mit den Nachbarstaaten, die eine
Region zusätzlich destabilisieren. Beispiele dafür gibt
es genug, von Irak, Afghanistan, Haiti, Libyen bis
Mali. Mali gilt als eines der ärmsten Länder der Erde
und als „gescheiterter Staat“. Mali war lange durch
einen Klienten Frankreichs geführt worden, Amadou
Toumani Touré, kurz ATT. Sein Regime hatte jedoch
abgewirtschaftet, und laut Verfassung durfte er Anfang
2012 auch nicht mehr zu den Wahlen antreten. Infolge
des Libyen-Krieges gab es einen Tuareg-Aufstand im
Norden und einen Putsch im Süden. Obwohl die Putschisten nicht gerade profranzösisch waren, konnte
das Frankreich gerade recht sein: Die Destabilisierung und zuletzt die Intervention konnten sie nutzen,
um die Souveränität auszuhebeln und zu intervenieren.
Die politische Zukunft Malis ist dadurch fest in französischer Hand. Nun soll der „fragile Staat“ militärische
Hilfe und Ausbildung erhalten, die das Land und die
Region weiter militarisieren werden. Für die Linke
muss Entwicklungspolitik Teil einer aktiven Friedenspolitik sein, die konsequent Friedenskräfte vor Ort
stärkt, imperiale Interventionen, Waffenlieferungen
und militärische Kooperationen ablehnt und erst recht
jeden Ansatz der „vernetzten Sicherheit“. Deshalb
lehnen wir den Antrag der Grünen ab.
Die globalen Krisen von Klima, Hunger, Armut sowie des Wirtschafts- und Finanzsystems spitzen sich
zu - auf Kosten der globalen Gerechtigkeit. Auch erleben wir, wie die Armut sich global umgruppiert. Während viele Länder bemerkenswerte Fortschritte etwa
bei der Einschulung, dem Zugang zu sauberem Wasser
oder der Steigerung der Lebenserwartung machen, andere reiche Eliten ausbilden bei zugleich großer Armut, setzt sich gleichzeitig in den fragilen Staaten eine
hartnäckige Armut fest. Dort leben die extrem Vernachlässigten in einer Spirale von Gewalt und Not. In
diesen Fällen steht die Weltgemeinschaft vor besonderen Herausforderungen. Aus diesem Grund halten wir
es für wichtig, über die Konzepte von fragiler Staatlichkeit zu diskutieren, und freuen uns über Zustimmung.
Laut Weltentwicklungsbericht der Weltbank von
2011 hat bislang keines der als fragil oder von Konflikten betroffenen Länder auch nur eines der Millenniumsentwicklungsziele erreicht. Dort steht die Zeit
still - viel zu oft wird die Uhr sogar zurückgedreht,
statt dass es für die Menschen ein Vorwärts gibt.
Ich sage, auch hier muss sich die Entwicklungspolitik umorientieren. Und: In fragilen Staaten müssen die
Voraussetzungen für Entwicklung erst noch geschaffen
werden. Da können wir nicht mit dem klassischen Instrumentenkasten auflaufen und „business as usual“
machen. Wer hier etwas zur Veränderung beitragen
will, braucht Mut zum Risiko, denn die Erfolge wird es
nicht unmittelbar geben. Gleichzeitig braucht es viel
Vorsicht und kleinteilige Schritte.
Und es braucht einen langen Atem. Die Weltbank
hat darauf hingewiesen, dass es in fragilen Staaten im
Durchschnitt zwischen drei und fünf Jahrzehnten dauern kann, bevor staatliche Institutionen funktionieren.
Ich denke, diese Mischung aus Geduld und Langfristigkeit, Sensibilität und Flexibilität sowie einem frühen
und international abgestimmten Vorgehen des Engagements sind große Herausforderungen.
Ich möchte es konkret machen. Afghanistan, Somalia, der Kongo, das sind die bekanntesten Beispiele
fragiler Staatlichkeit. Aber auch Mali wird uns unter
dieser Überschrift für lange Jahre begleiten. Hier sind
die Anzeichen der Fragilität nicht als Warnzeichen gesehen worden. Das Einsickern von Milizen vor allem
aus Libyen war nur der Auslöser, die Ursachen lagen
viel tiefer. Die Eskalation in Mali ist eine Folge der
langjährigen Abwesenheit von Staatlichkeit im Norden, islamistischen Terroristen und organisierter Kriminalität seit insbesondere 2003, verbunden mit alten
separatistischen Strömungen der Tuareg. Die dauerhafte Armut, Dürren und Perspektivlosigkeit tragen
zur Verschärfung der Situation bei. Gleichzeitig ist die
Lage in Mali auch im Kontext der Fragilität der gesamten Region zu sehen: transnational organisierte
kriminelle und terroristische Netzwerke, insbesondere
illegaler Drogen- und Waffenhandel sowie Entführungen. Deren Wege führen auch nach Europa, insofern
haben die Konflikte in Mali sehr viel mit der europäischen Politik zu tun.
Die Lage in Mali ist hochkomplex. Mali hatte vor
der Eskalation eine deutlich bessere strukturelle Ausgangslage für Entwicklung als viele andere afrikanische Staaten. So lag es etwa im „Failed States Index“
des „Fund for Peace“ vor Indien und hatte bessere
Korruptionswerte als Russland. Gleichzeitig hat Mali
die zweithöchste Kindersterblichkeit weltweit; 50 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Das
zeigt uns: Mali braucht Unterstützung. Die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung waren da; das
Land ist jetzt aber weit zurückgeworfen. Wir sollten
uns aber dennoch fragen, ob diese tragische Situation
nicht durch eine kohärente und vorausschauende Politik vielleicht hätte verhindert werden können.
Denn die Voraussetzung für Entwicklung schaffen,
das leistet Entwicklungspolitik nicht alleine. Sie muss
Hand in Hand gehen mit der Außen-, der Sicherheits-,
der Drogen-, der Innen-, der Wirtschaftspolitik. Das
geht nicht national oder bilateral: Es braucht ein geschlossenes Handeln der internationalen Gemeinschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
In der Analyse der Situation in fragilen Staaten besteht große Einigkeit. Ich möchte es in diesem Zusammenhang sehr begrüßen, dass wir im Juni eine gemeinsame Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung mit dem Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ organisieren. Das belegt die Bedeutung des Themas, auch bei uns im Parlament, und es kann ein
Beispiel sein, wie wir im Parlament nicht nur Kohärenz predigen, sondern sie auch leben.
Hier versagt die Bundesregierung leider. Zwar versucht sie, ihre Hausaufgaben zu machen. Im Januar
legte das BMZ sein Strategiepapier „Entwicklung für
Frieden und Sicherheit“ vor, ein Papier, das fachlich
auf dem aktuellen Stand ist. Ich frage mich allerdings,
welche Relevanz dieses Papier hat. Es ist bislang das
Papier nur eines Ministeriums, eben des BMZ. Für den
ressortübergreifenden Ansatz wird sich auf die Leitlinien der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten
vom vergangenen September bezogen.
Doch wo bleibt denn die Strategie der Bundesregierung im Umgang mit Ressourcenknappheit, kriminellen Netzwerken, Terrorismus, Armut? Die Kriegsfürsten in fragilen Staaten leben von Drogen- und
Waffenhandel, von Rohstoffexporten und Korruption
sowie von internationalen Steueroasen. Doch die Bundesregierung ist nicht willens, die nötigen Maßnahmen
in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik zu ergreifen,
um dieser Schattenwirtschaft konsequent einen Riegel
vorzuschieben. Dem Anspruch eines ressortübergreifenden kohärenten Ansatzes wird die Bundesregierung
nicht gerecht, wenn sie weiterhin munter Panzer und
U-Boote in die Konfliktregionen dieser Welt exportiert.
Unterm Strich bleibt für mich: Die Bundesregierung
tut zwar etwas, aber sie hängt es nicht auf der richtigen Ebene auf. Die dringend benötigte Kohärenz in
Bezug auf den Umgang mit fragilen Staaten sieht anders aus!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11961,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/10791 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ulrich Schneider, Katrin
Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweckgebundene und steuerfreie Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen
für bürgerschaftliches Engagement nicht auf
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch anrechnen
- Drucksachen 17/9950, 17/11253 Buchstabe c Berichterstattung:Abgeordneter Markus Kurth
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, fordern Sie, dass
Aufwandsentschädigungen für bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtlich tätige kommunale Mandatsträger sowie Übungsleiterpauschalen nicht auf
das Arbeitslosengeld II oder die Sozialhilfe angerechnet werden. Gleichzeitig kritisieren Sie, dass die gesetzliche Neuregelung eine Verschlechterung für jene
Konstellationen bedeute, bei denen gleichzeitig sowohl
Einkommen aus Übungsleitertätigkeiten oder anderweitigem bürgerschaftlichem Engagement als auch
weiteres Erwerbseinkommen erzielt wird.
Ich denke, wir sind uns alle bezüglich der gesellschaftlichen Bedeutung des Ehrenamtes einig. In
Deutschland engagieren sich mehr als 23 Millionen
Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich und bereichern
durch ihre Arbeit das soziale Miteinander und stärken
den Zusammenhalt in unserem Land. Bürgersinn und
persönliches Engagement sind Grundpfeiler für die
Gemeinschaft eines freiheitlichen Staates und einer
solidarischen Gesellschaft.
Daher tragen wir diesem gesellschaftlichen Engagement auch im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch Rechnung. Nach den seit dem 1. Januar 2011
geltenden Anrechnungsregeln im SGB II werden Einnahmen aus Ehrenamt ausdrücklich gegenüber Einnahmen aus Erwerbstätigkeit privilegiert.
So gilt beispielsweise für pauschale Aufwandsentschädigungen ein erhöhter Absetzbetrag in Höhe von
175 Euro, welcher an die im Steuerrecht geltenden
Regelungen angelehnt ist. Bei darüber hinausgehenden Entschädigungsleistungen - zum Beispiel bei ehrenamtlichen Bürgermeistern - liegt eine Erwerbstätigkeit vor. Dennoch gilt auch in diesen Fällen ein
erhöhter Grundfreibetrag in Höhe von 175 Euro zusätzlich zu dem Erwerbstätigenfreibetrag, mit dem
weitere 20 Prozent der Einnahmen zwischen 100 und
1 000 Euro abgesetzt werden können.
Des Weiteren unterliegen Zuwendungen, mit denen
tatsächliche Aufwendungen ersetzt werden sollen, der
Anrechnungsfreiheit.
Hintergrund dieser Regelung ist, dass auch Tätigkeiten als Übungsleiter nach § 3 Nr. 26 EStG als Erwerbstätigkeiten angesehen werden, die jedoch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung - wie bereits
ausgeführt - durch einen erhöhten Grundfreibetrag
privilegiert werden.
Eine zusätzliche Besserstellung durch einen doppelten Freibetrag bei einem zusätzlichen Minijob erscheint mir daher nicht angebracht, zumal in dieser
Konstellation die tatsächlichen Werbungskosten, die
für den Minijob anfallen, abgezogen werden.
Gleiches gilt für das bürgerschaftliche Engagement,
bei dem eine pauschale Aufwandsentschädigung aus
öffentlichen Kassen gezahlt wird. Auch diese ist nach
§ 3 Nr. 12 EStG bis zur Höhe von 175 Euro steuerfrei.
Sollte der tatsächliche Aufwand höher sein, kommt
auch hier eine Geltendmachung über die Werbungskosten in Betracht.
Eine diesbezügliche zusätzliche und weitergehende
Privilegierung im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem SGB II wäre anderen erwerbstätigen Leistungsbeziehern nur schwer vermittelbar und zugleich auch nicht gerechtfertigt.
Vor diesem Hintergrund ist an der geltenden
Rechtslage im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, wonach es keine Kumulation von Ehrenamtsfreibetrag und sonstigem Erwerbstätigenfreibetrag gibt, festzuhalten.
Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle auch nicht
unerwähnt lassen, dass bereits zum 1. Januar 2011
eine Ergänzung der Einkommensfreilassung im Bereich des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch stattgefunden hat, die der Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements ebenfalls Rechnung trägt.
Die geltenden gesetzlichen Regelungen würdigen
und stärken das Ehrenamt in angemessener Weise und
sorgen dafür, dass es keine finanzielle Schlechterstellung bei einem ehrenamtlichen Engagement gibt. Zudem sorgt die Einkommensanrechnungsgrenze auch
für die zahlreichen Verbände, Vereine und gemeinnützigen Organisationen für eine Entlastung, da deren
bürokratischer Aufwand reduziert wird.
Das verantwortungsvolle Engagement von HartzIV-Beziehern, die sich in Vereinen etc. einbringen, wird
entsprechend honoriert und ermöglicht nicht nur die
Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte, sondern erhöht auch die Chancen bei einem beruflichen Wiedereinstieg.
Betrachtet man die Berichterstattungen in den Medien, wird den Parteien immer wieder die mangelnde
Unterscheidbarkeit vorgeworfen. Die vorliegenden
Anträge widerlegen diese Darstellung allerdings vortrefflich, denn sie zeigen, welche grundlegenden Unterschiede in unseren Auffassungen bestehen. So gehört es
zum Selbstverständnis der Union, dass Solidarität und
Eigenverantwortung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Auf Themen bezogen, die den Bereich der
sozialen Fürsorge berühren, heißt das: Jeder muss darum bemüht sein und alle Möglichkeiten nutzen, seinen
Lebensunterhalt selbst zu finanzieren. Erst wenn er es
aus eigenen Kräften nicht schafft und allein nicht mehr
weiterkommt, springt der Staat respektive die Solidargemeinschaft unterstützend und hilfegebend ein. Diese
Unterstützung und Hilfestellung sind aber aus unserer
Sicht gleichzeitig mit der Verpflichtung für den Hilfeempfänger verbunden, sich nicht in den Schoß der Gemeinschaft zurückfallen zu lassen, sondern alle Kräfte
darauf auszurichten, in eine Erwerbstätigkeit zu kommen und den Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können.
Bevor ich konkret auf Ihre Forderung eingehe, erlauben Sie mir ein paar Anmerkungen zum Thema Ehrenamt. Ich selber komme aus einem ländlichen Wahlkreis, in dem das Ehrenamt großgeschrieben wird. Das
reicht von den Tätigkeiten im Sportbereich, wie das
Trainieren einer Jugendmannschaft im Fußball, über
Schützenvereine bis hin zu Vereinen, die sich dem Erhalt von Kunst und Kultur verschrieben haben. Eins
wird mir immer wieder deutlich, wenn ich mit den
Menschen, die hier aktiv sind, spreche: Sie gehen ihren
Aufgaben mit großer Begeisterung nach, ja sie gehen
regelrecht darin auf. Und es gibt noch etwas anderes,
was sie eint: die innere Überzeugung, einer guten Sache zu dienen. Was ich sagen will: Die Motivation dieser Menschen besteht nicht darin, mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit möglichst viel Geld zu verdienen.
Diesen Menschen geht es um die Sache an sich und um
einen ganz persönlichen Gewinn, der mit Geld nichts
zu tun hat.
Gerade dieser Gewinn über das Materielle hinaus
ist es, was Menschen, die sich im SGB-II-Leistungsbezug befinden, eine Brücke bauen kann, eine Brücke in
die Mitte der Gesellschaft und möglicherweise zurück
in die Erwerbstätigkeit. Denn leider stellt der Leistungsbezug häufig auch einen gesellschaftlichen Rückzug dar, die Empfänger von Hilfeleistungen ziehen sich
verschämt zurück. Im Ehrenamt ist aber jede Hand gefragt, soziale Statussymbole spielen hier keine Rolle.
Deshalb behandeln wir im Ehrenamt alle gleich. So
wie die 175 Euro bei Beschäftigten in der Steuererklärung nicht berücksichtigt werden, werden die 175 Euro
bei SGB-II-Beziehern nicht bei den Einnahmen angerechnet. Erhalten SGB-II-Leistungsempfänger Aufwandsentschädigungen über den Betrag von 175 Euro
hinaus, liegt eine Erwerbstätigkeit vor. Man kann also
davon ausgehen, dass sich der Leistungsempfänger
überdurchschnittlich engagiert und sein Fokus nicht
auf der Suche nach einer Beschäftigung liegt. Beträge
über der 175-Euro-Grenze werden daher wie Erwerbstätigkeit behandelt und mit den entsprechenden Grenzen auf die gesetzlichen Leistungen angerechnet. Ausgenommen von diesen Anrechnungsgrenzen sind
natürlich geldliche Leistungen, denen ein tatsächlicher Aufwand, zum Beispiel Spritgeld bei Fahrten der
Jugendmannschaft, gegenübersteht.
Wir sind daher der Meinung, dass wir bereits eine
gerechte Lösung für Arbeitnehmer und LeistungsbezieZu Protokoll gegebene Reden
her gefunden haben. Meine Fraktion lehnt daher die
hier vorliegenden Anträge ab.
Die Freiwilligen und Ehrenamtlichen leisten in unserem Land einen bedeutenden Beitrag für unsere Gesellschaft und für eine Kultur des Miteinanders. Unsere
Demokratie lebt von dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger.
Mir ist eine starke und lebendige Bürgergesellschaft
wichtig, in der sich die Menschen füreinander einsetzen, die Freiheit nutzen, ihre Meinung zu äußern, und
sich in Initiativen, Verbänden und Vereinen zusammenschließen. Dieses freiwillige Engagement ist eigentlich
unbezahlbar und verdient unser aller Respekt und
Hochachtung. Ich möchte die Menschen ermutigen,
sich in die Gemeinschaft einzubringen, sich zu engagieren und das gesellschaftliche Leben mitzugestalten.
Denn in der demokratischen Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger liegt die Stärke unserer Städte und Gemeinden. Dadurch sind sie so liebens- und lebenswert.
Mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland
sind in über 500 000 Vereinen, Initiativen, Organisationen und Stiftungen organisiert. Die ehrenamtlich
Engagierten erbringen eine unschätzbare Leistung, indem sie sich mit Leidenschaft und Hingabe in vielen
Bereichen unserer Gesellschaft für andere betätigen.
Diese unschätzbare Leistung muss gesellschaftlich gewürdigt und durch gute gesetzliche Rahmenbedingungen gefördert werden.
Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und
zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch hat aber Anfang 2011 zu Verschlechterungen für ehrenamtlich Aktive geführt, vor allem für
Arbeitsuchende im SGB-II-Bezug. Diese schwarzgelbe Bundesregierung wollte die Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen als Einkommen auf die Regelleistungen anrechnen.
Die Pläne hätten bewirkt, dass in Phasen, in denen
keine Teilhabe am Erwerbsleben möglich ist, auch die
Ausübung eines bürgerschaftlichen Engagements und
damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht
anerkannt und somit behindert wird. Bestraft worden
wären Arbeitsuchende, die eine Übungsleiterpauschale erhalten, zum Beispiel für ein Engagement als
Chorleiter oder Dirigent eines Jugendorchesters, als
Trainer im Sportverein oder als Engagierter im Rettungswesen.
Damit wäre das Engagement von Arbeitsuchenden
im Vergleich zu dem von Erwerbstätigen diskriminiert
worden. Es stand zu befürchten, dass diese Regelung
negative Folgen auf das ehrenamtliche Engagement
von Arbeitsuchenden gehabt hätte.
In unserem Initiativantrag zur Ermittlung der Regelbedarfe hatten wir das bereits im Dezember 2010
kritisiert. In den Verhandlungen zum RegelbedarfsErmittlungsgesetz konnte die SPD im Vermittlungsausschuss zwar verhindern, dass der erhöhte Freibetrag für
Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die sogenannte Übungsleiterpauschale, nicht gestrichen wird. In bestimmten
Fällen ist es dennoch zu Verschlechterungen gekommen. Das ist inakzeptabel.
Welche Auswirkungen das hat, kann jeder leicht
nachrechnen. Für einen ehrenamtlich Aktiven mit einem Minijob in Höhe von 400 Euro bedeuten die
schwarz-gelben Änderungen finanzielle Einbußen.
Konnte er vor den schwarz-gelben Änderungen insgesamt 335 Euro aus seiner Aufwandsentschädigung und
seinem Einkommen behalten, sind es nun nur noch
270 Euro. Das könnte 1,2 Millionen ArbeitslosengeldII-Bezieher, die Einkommen aus Erwerbstätigkeit vorweisen können, betreffen.
Mit der Änderung hat diese schwarz-gelbe Bundesregierung Arbeitsuchende diskriminiert, die einem
bürgerschaftlichen Engagement nachgehen. Sie hat Anreize für die Aufnahme bzw. für die Fortführung eines
bürgerschaftlichen Engagements für die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeld II zerstört. Diese Benachteiligungen sind aus meiner Sicht nicht begründbar.
Wenn die Steuerbefreiung für Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen gerechtfertigt sind,
muss dies auch für die Anrechnungsfreiheit auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch gelten. Das gebietet uns das Gleichbehandlungsgebot.
Studien zeigen, dass ein einmal aufgegebenes bürgerschaftliches Engagement häufig auch zum Ende einer engagierten Biografie führt. Der Wiedereinstieg
wird mit zunehmender Länge der Phase, in der kein Engagement ausgeübt wird, unwahrscheinlicher.
Gerade für Arbeitsuchende ist das fatal. Denn durch
bürgerschaftliches Engagement können Kompetenzen
erworben, aufrechterhalten oder gar vertieft werden,
die für eine erfolgreiche Arbeitsuche immer wichtiger
werden.
Durch bürgerschaftliches Engagement können Erfahrungen gemacht werden, die Eigenschaften wie
Zuverlässigkeit, Eigeninitiative, Verantwortungs- und
Leistungsbereitschaft fördern.
Diese Zusammenhänge hat Schwarz-Gelb einfach
ignoriert. Für die SPD ist jedoch klar, dass bürgerschaftliches Engagement Brücke und nicht Hürde für
den Wiedereinstieg in eine Erwerbstätigkeit ist. Deshalb wollen wir, dass auch arbeitsuchende Engagierte
durch das Anreizsystem für ihren bürgerschaftlichen
Einsatz belohnt werden.
Daher unterstützt die SPD den Antrag der Grünen
mit der Forderung, die Übungsleiterpauschale analog
zu den Regelungen im Einkommensteuerrecht in Höhe
von 175 Euro nicht auf Leistungen des SGB II und
SGB XII anzurechnen.
Der Antrag der Grünen, den wir heute debattieren,
beschäftigt sich mit der Förderung des Ehrenamtes Zu Protokoll gegebene Reden
ein Thema, dass der christlich-liberalen Koalition und
auch mir persönlich sehr am Herzen liegt. Deshalb haben wir Anfang des Jahres das Gesetz zur Stärkung des
Ehrenamtes verabschiedet und damit ein Entlastungspaket für alle Ehrenamtlichen und Vereine in Deutschland geschnürt: Die Haftung von Vereinsmitgliedern
haben wir auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit begrenzt, die Ehrenamtspauschale von 500 auf 720 Euro
und die Übungsleiterpauschale von 2 100 auf 2 400 Euro
erhöht. Vereine haben dank unseres Gesetzes nun mehr
Rechtssicherheit, da sie künftig eine verbindliche Bescheinigung darüber erhalten, ob ihre Satzung die Voraussetzungen für die Anerkennung als gemeinnützig
erfüllt. Auch ihre Mittel können gemeinnützige Vereine
und Stiftungen nun zeitlich flexibler verwenden.
Wer in Sport- oder Kulturvereinen, sozialen oder
ökologischen Initiativen, Kirchen oder Parteien ehrenamtlich Verantwortung übernimmt, der leistet einen
wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft - im besten, liberalen Sinne. Ob dieser Beitrag
von sozialverischerungs- und steuerpflichtig Beschäftigten in ihrer Freizeit erbracht wird oder von Arbeitslosen, ist dabei unerheblich. Jedes ehrenamtliche
Engagement ist gleich wertvoll und sollte gleich unterstützt werden.
Deshalb haben wir mit dem Ehrenamtsstärkungsgesetz analog zur Anhebung der Übungsleiterpauschale
im Einkommensteuerrecht auch die entsprechenden
Nichtanrechnungsbeträge auf Arbeitslosengeld II und
Sozialhilfe in gleichem Umfang angehoben. Der
Antrag der Grünen, der von einem Freibetrag von
175 Euro pro Monat spricht, ist also nicht auf dem aktuellen Stand - kann ja passieren beim Kopieren alter
Anträge. Wir haben den Betrag bereits auf 200 Euro
monatlich, sprich 2 400 Euro jährlich erhöht.
Chorleiter, Trainer oder Jugendbetreuer können für
ihre ehrenamtliche Arbeit pro Jahr bis zu 2 400 Euro
als Aufwandspauschale steuerfrei erhalten. Wenn sie
stattdessen Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten, wird der gleiche Betrag nicht auf ihre Bezüge
angerechnet: 200 Euro monatlich, also 2 400 Euro
jährlich. Warum die Grünen hier von einer Benachteiligung der ehrenamtlich tätigen Leistungsempfänger
sprechen, kann ich nicht nachvollziehen.
Es geht hier nicht um eine Entlohnung, sondern um
eine Aufwandsentschädigung, die für Steuerpflichtige
bis zur Grenze von 2 400 Euro als Pauschale steuerfrei
gestellt ist. Für Leistungsempfänger nach SGB II und
XII gelten entsprechend Freibeträge. Sind die Aufwendungen belegbar höher, können Leistungsbezieher jederzeit Einzelnachweis führen, um eine Anrechnung
auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe zu vermeiden.
Auch für alle berufstätigen, zusätzlich ehrenamtlich in
der Kommunalpolitik Tätigen sind über eine bestimmte
Grenze hinausgehende Aufwandsentschädigungen zu
versteuern. Eine vollständige Nichtanrechnung bei Leistungsempfängern wäre eine Besserstellung gegenüber
ehrenamtlich engagierten Berufstätigen und somit
nicht gerechtfertigt.
Ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches
Engagement dürfen kein Ersatz für reguläre Erwerbstätigkeit sein. Auch dürfen sie nicht dazu führen, dass
eine sozialversicherungspflichte Beschäftigung nicht
aufgenommen wird. Ein solcher Anreiz entsteht, wenn
Aufwandsentschädigungen für kommunale Mandatsträger, die gerade in Großstädten erheblich sein können, generell nicht auf Sozialleistungen angerechnet
würden.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist in dieser
Hinsicht kontraproduktiv und zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements auch nicht notwendig.
Schwarz-Gelb hat hier bereits gehandelt. Daher werden wir den Antrag ablehnen.
Der Antrag der Grünen beginnt vielversprechend:
„Bürgerschaftliches Engagement ist wichtig für unsere
Gesellschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Dies ist absolut richtig, solange die Engagementbereitschaft der Bevölkerung in Zeiten angespannter Haushaltslagen und des Sozialabbaus nicht
als Lückenfüller für fehlende sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und eine unzureichende soziale
Infrastruktur, zum Beispiel in Pflege und Kinderbetreuung, ausgenutzt wird.
Im Weiteren gehen die Grünen ein Problem aus der
Schnittmenge von Engagement-, Steuer- und Sozialpolitik an. Sie kritisieren zu Recht die Anrechnungsregelungen für Aufwandsentschädigungen und Übungsleiterpauschalen im Sozialgesetzbuch II und XII
- SGB II bzw. SGB XII -, wie sie seit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz von 2011 gelten. Es geht hier
also um Anrechnungen auf Arbeitslosengeld II, ergänzendes Arbeitslosengeld II, auf Hilfen zum Lebensunterhalt und die Grundsicherung im Alter.
Bis April 2011 galten Einnahmen aus Aufwendungsentschädigungen bis zur Höhe des halben Regelsatzes
- das waren etwa 175 Euro - als anrechnungsfrei. Seit
April 2011 werden diese Einnahmen als Einkommen
gewertet, für die jedoch ein höherer Freibetrag von
175 Euro im Monat, 2 100 Euro im Jahr galt - statt
vorher 100 Euro Freibetrag. Mittlerweile wurde das
Ehrenamtsstärkungsgesetz verabschiedet, wodurch
sich der Freibetrag rückwirkend zum 1. Januar 2013
auf monatlich 200 Euro erhöht, entsprechend auf
2 400 Euro im Jahr. Das heißt, pauschale Aufwandsentschädigungen, die oberhalb eines Betrages von
200 Euro im Monat liegen, werden unter Berücksichtigung des Erwerbstätigenfreibetrags nach § 11 b Abs. 2
SGB II nunmehr komplett auf Leistungen des SGB II
angerechnet.
Dass Entschädigungen seit April 2011 als Einkommen zählen und voll angerechnet werden, ist eine klare
Verschlechterung gegenüber früher. Die Linke nimmt
es nicht hin, dass bürgerschaftlich engagierte GrundZu Protokoll gegebene Reden
sicherungsbeziehende noch weiter finanziell bestraft
werden.
Die Grünen verfolgen vermeintlich das Ziel, Erwerbstätige und Erwerbslose gleich zu behandeln, und
wollen soeben skizziertes Problem in ihrem mittlerweile veralteten Antrag wie folgt lösen:
Zum einen soll die Übungsleiterpauschale bis zu einer Höhe von 175 Euro nicht auf Grundsicherungsleistungen angerechnet werden. Übungsleitertätigkeiten
sind nebenberufliche Tätigkeiten für eine gemeinnützige Organisation oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts beispielsweise als Ausbilder oder
Erzieher sowie künstlerische Tätigkeiten, die Pflege
behinderter, kranker oder alter Menschen, gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Tätigkeiten.
Zum anderen sollen aus öffentlichen Kassen gezahlte pauschale Aufwandsentschädigungen - zum
Beispiel für kommunalpolitische Tätigkeiten - analog
zu den Regelungen im Einkommensteuerrecht in Höhe
von monatlich 175 Euro und analog zu den diesen Betrag übersteigenden Freibeträgen der jeweiligen Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder ebenfalls nicht auf Leistungen des SGB II und XII
angerechnet werden. Aus Linker Sicht sind diese veralteten Forderungen aber weder ausreichend noch sorgen sie für Gleichbehandlung!
Wir wollen umfassende soziale Gerechtigkeit auch
für bürgerschaftlich engagierte Grundsicherungsbeziehende und Geringverdienende. Die Grünen bleiben
wie die SPD zu sehr in der Agenda-Logik gefangen.
Sie geben sich bestenfalls mit einer „Gerade-so-sozial“-Politik zufrieden, wohingegen die Linke 100 Prozent sozial ist.
Die Linke fordert daher, dass Aufwandsentschädigungen, einschließlich der Übungsleiterpauschale, für
bürgerschaftliches Engagement sowie für kommunale
Mandats- und Amtsträger überhaupt nicht angerechnet werden. Wir haben dazu bereits im November 2011
zwei eigene Anträge eingebracht, die im April 2012
und Anfang Februar dieses Jahres im Plenum des Bundestages debattiert wurden.
Ich frage Sie: Warum sollen Leistungsberechtigte in
der Grundsicherung weniger Ansprüche gegenüber
dem Jobcenter haben, nur weil sie bürgerschaftlich engagiert sind und genau dafür eine pauschale Aufwandsentschädigung bekommen? Allein der Begriff
zeigt doch schon, dass diese Gelder nur für den mit
dem jeweiligen Engagement entstehenden sachlichen,
finanziellen und zeitlichen Aufwand entschädigen.
Aufwand ist Aufwand und kein Einkommen. Daher
sage ich: Diese Gelder sind als Entschädigungen gedacht und dürfen nicht zu reduzierten Grundsicherungsleistungen führen.
Zudem bleiben zwar tatsächlich nachgewiesener
Aufwand bzw. zweckgebundene Entschädigungen anrechnungsfrei, doch in der Praxis ist gerade der Nachweis im ersteren Fall unverhältnismäßig und in vielen
Fällen kaum durchführbar. Jede verschickte E-Mail,
jeder neue Stift müssten dokumentiert werden. Belege
würden sich zu einem undurchdringbaren Dickicht
ausformen. Der Verwaltungs- und Organisationsaufwand des Einzelnen würde Engagement ad absurdum
führen. Es ist hierbei höchst ungerecht, dass Ehrenamtliche ohne ALG-II-Bezug ihre Aufwandsentschädigung zwar versteuern müssen, aber selbst ohne Vorlage entsprechender Belege behalten dürfen.
Besonders drastisch sind die finanziellen Verluste in
solchen Fällen, wenn ein bürgerschaftlich engagierter
Hartz-IV-Bezieher nicht einzelzweckbestimmte Aufwandsentschädigungen, sondern eine Übungsleiterpauschale erhält, die in der Folge zum Beispiel voll
mit einem Minijob von 450 Euro verrechnet wird.
Es liegen bereits zahlreiche Beispiele vor, die zeigen, dass sich Menschen aufgrund der Anrechnungsregelungen aus ihrem Engagement zurückziehen. Das ist
für die Linke nicht akzeptabel. Es konterkariert die angebliche Absicht der Bundesregierung, bürgerschaftliches Engagement in der Breite zu stärken und besser
anzuerkennen.
Machen Sie Schluss mit Ihrer Doppelmoral. Sie sagen als Bundesregierung vorneherum das eine, nämlich
Stärkung des Engagements, und hintenherum werden
bestimmte Gruppen aus dem Engagement gedrängt.
Mit steuerlichen Entlastungen für besserverdienende
Engagierte und Stiftungen sind sie dagegen immer ganz
schnell bei der Hand. Einen eigenartigen Engagementbegriff haben Sie. Sie sorgen für engagierte Menschen
erster und zweiter Klasse - das darf nicht sein.
Wieder zurück zum Grünen-Antrag. Dort wird ausgeführt, dass die von mir eben geschilderte Forderung
der Linken für Grundsicherungsberechtigte eine „Bevorzugung gegenüber Erwerbstätigen“ sei. Wer bitteschön geht ernsthaft davon aus, dass Grundsicherungsbeziehende gegenüber Erwerbstätigen in irgendeiner
Hinsicht bevorzugt werden? In welcher Welt leben Sie
denn? Können sich die Abgeordneten von den Grünen
vorstellen, dass der Grundsicherungsbezug aufgrund
von Erwerbslosigkeit in aller Regel keine frei gewählte
Lebenssituation, sondern eine höchst dramatische Notlage ist? Hartz IV bleibt Armut und Ausgrenzung per
Gesetz - das haben die Grünen immer noch nicht verstanden!
Ferner übersehen die Grünen in ihrem Antrag, dass
Erwerbstätige Entschädigungen, sofern sie oberhalb
der Freigrenzen liegen, abzüglich der individuellen
Versteuerung behalten dürfen. Grundsicherungsbeziehende bekommen hingegen jenseits der 175, mittlerweile 200 Euro Grundfreibetrag 80 Prozent der Einnahmen abgezogen. Um das zu verdeutlichen: Sie
dürfen gerade einmal 20 Prozent davon behalten. Ab
1 000 bis 1 200 Euro dürfen sie sogar nur 10 Prozent
behalten. Das ist weder motivierend noch gerecht. Engagement erscheint so als Bestrafung. Ich weiß hier
vielmehr nicht, wie die Grünen ernsthaft von einer
Zu Protokoll gegebene Reden
„Gleichbehandlung“ von Erwerbstätigen und Grundsicherungsbeziehenden sprechen können.
Die Linke ist der Auffassung, dass bürgerschaftliches und politisches Engagement keine Frage des
Geldbeutels sein darf. Würde die Anrechnung von Aufwandsentschädigungen für bürgerschaftliches Engagement sowie für kommunale Mandats- und Amtsträger komplett wegfallen, wäre dies immerhin ein
Fortschritt.
Aber grundsätzlich muss mit dem ganzen Hartz-System und der Agendalogik gebrochen werden, weswegen wir unter anderem eine sanktionsfreie, armutsfeste
Mindestsicherung, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn und „Gute Arbeit“ statt Leiharbeit
oder Minijobs brauchen. Wir brauchen eine Agenda
Sozial.
Ich möchte mit einer Zahl beginnen: Im Jahr 2012
waren in der Bundesrepublik über 25 Millionen Bürgerinnen und Bürger Mitglied in einem Sportverein. Das
heißt, ein Drittel der Bevölkerung treibt in Vereinen
Sport. Zugleich ist der Bereich „Sport und Bewegung“
derjenige, in dem sich die meisten Personen ehrenamtlich engagieren.
Worum geht es? Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat Ehrenamtliche, die sich im SGB-II-Bezug
befinden, schlechtergestellt. Mit dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe von 2011 werden die pauschalen Aufwandsentschädigungen, die Übungsleiter
für ihre ehrenamtliche Arbeit erhalten, wie Einkommen
aus Erwerbsarbeit behandelt. Damit reduzieren sich
die Zuverdienstmöglichkeiten für Leistungsbezieher,
die eine monatliche Übungsleiterpauschale erhalten.
Ich habe diese Rechnung schon einmal vorgetragen:
Eine Person, die eine monatliche Übungsleiterpauschale in Höhe von 175 Euro erhält und zusätzlich
160 Euro im Rahmen eines Minijobs verdient, kann
nicht mehr 335 Euro, sondern nur noch 270 Euro behalten. Das ist ein Minus von 65 Euro, was für Personen im SGB-II-Bezug ausgesprochen schmerzlich ist.
Dabei ist völlig unklar, weshalb diese Anrechnung
auf den Zuverdienst bei Leistungsbezieherinnen und
Leistungsbeziehern vorgenommen wird, während für
Erwerbstätige, die sich ehrenamtlich engagieren, ab
2013 bis zu 2 400 Euro und damit 200 Euro pro Monat
einkommensteuerfrei sind. Dieser Freibetrag hat seinen Grund: Bürgerschaftliches Engagement ist ({0})
durch Freiwilligkeit, ({1}) die Ausrichtung auf das Gemeinwohl und ({2}) - das ist entscheidend - durch die
fehlende persönliche materielle Gewinnabsicht charakterisiert. Diese Grundmotivation gilt für alle ehrenamtlich Tätigen - egal ob sie erwerbstätig sind oder
Leistungen aus dem SGB II beziehen. Darum muss die
Anerkennung der ehrenamtlichen Arbeit, die mit dem
Freibetrag in der Einkommensteuer zum Ausdruck gebracht wird, analog auch für Personen im SGB-II-Bezug gelten.
An dieser Stelle möchte ich an den rechtlichen
Grundsatz erinnern, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Wenn die ehrenamtliche Arbeit, die Übungsleiterinnen und Übungsleiter in
den über 91 000 Sportvereinen leisten, auch finanziell
anerkannt werden soll, indem ein fixer Betrag gerade
nicht als Einkommen angerechnet wird, dann muss
diese finanzielle Anerkennung allen Übungsleiterinnen und Übungsleitern gleichermaßen gewährt werden - egal ob sie erwerbstätig sind oder nicht.
Schließlich bemisst sich die Höhe der Übungsleiterpauschalen ja auch nicht danach, ob die jeweilige Person erwerbstätig oder arbeitslos ist.
Jenseits des Gleichbehandlungsgrundsatzes geht es
aber auch um die Folgen, die die Kürzung des Freibetrags hat. Hier werden ganz klar die falschen Akzente
gesetzt. Wir fordern die Rückkehr zu einem Freibetrag
von 175 Euro. Die Gewährung dieses Freibetrags, der
nicht auf die Leistungen des SGB II angerechnet wird,
ist ein klarer Anreiz, sich ehrenamtlich zu engagieren
und damit trotz Erwerbslosigkeit sozial eingebunden
zu bleiben. Denn bürgerschaftliches Engagement ist
nicht nur eine tragende Säule des gesellschaftlichen
Zusammenhalts, sondern auch ein zentrales Element
der sozialen Teilhabe.
Insgesamt sind die Weichen hier falsch gestellt. Das
bestätigen auch die Zahlen. Nach einer TNS-InfratestStudie, die seit 1999 unter Arbeitslosen in den neuen
Bundesländern eine kontinuierliche Zunahme an gemeinschaftlich Aktiven verzeichnet, steht nun zu befürchten, dass die Gesetzesänderung von 2011 diese
Entwicklung bremst. Das kann unmöglich Anliegen
des Gesetzgebers sein, zumal ein Blick in die Statistiken einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Armut und ehrenamtlichem Engagement zeigt. Mit anhaltender Dauer der Armut sinkt die Bereitschaft zu
sozialem Engagement. Die finanzielle Schlechterstellung, die durch die aktuelle Anrechnung der Übungsleiterpauschale auf den Zuverdienst entsteht, ist für die
Betroffenen mitunter massiv. Schlussendlich können
die bereits erwähnten 65 Euro im Monat eine gefühlte
Armut durchaus mindern. Angesichts der Tatsache,
dass sich 27 Prozent der Arbeitslosen ehrenamtlich engagieren und dementsprechend von dieser Regelung
betroffen sind, besteht also dringender Handlungsbedarf.
Nicht zuletzt kann sich das Engagement in Sportvereinen durchaus auch positiv auf die Jobsuche auswirken, weil die Betroffenen Anerkennung erfahren und
ihre Sozialkompetenz belegen. Diese Win-win-Situation, die gerade beim ehrenamtlichen Engagement Erwerbsloser besteht, wird durch die Anrechnung der
Übungsleiterpauschale auf die Leistungen nach dem
SGB II und XII torpediert. Das sollte schnellstmöglich
rückgängig gemacht werden. Den Leistungsbeziehern
muss wieder der Freibetrag in Höhe von 175 gewährt
werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11253, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9950 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. März 2013, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.