Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und möchte Sie zunächst davon
in Kenntnis setzen, dass am 4. März der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Thomas Kossendey, seinen 65. Geburtstag und
der Kollege Wolfgang Wieland am 9. März den gleichen Geburtstag gefeiert hat.
({0})
Am 12. März hat der Kollege Matthias Lietz seinen
60. Geburtstag begangen. Ihnen allen wünsche ich auch
auf diesem Wege im Namen des ganzen Hauses alles
Gute für die nächsten Jahre.
({1})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Verhalten von SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN im Bundesrat beim Fiskalpakt({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({3}), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Den Netzausbau bürgerfreundlich und zu-
kunftssicher gestalten
- Drucksache 17/12681 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren-
Ergänzung zu TOP 34
a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur
gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos
- Drucksache 17/12679 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union-
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur Änderung des Pressefusionsrechtes
- Drucksache 17/12680 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({6}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Hochschulpakt aufstocken - Finanzierung von
wachsenden Studienkapazitäten an den Hochschulen langfristig sicherstellen
- Drucksache 17/12690 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Korruption im Gesundheitswesen strafbar
machen
- Drucksache 17/12693 28378
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({8})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell
- Drucksache 17/12697 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({9})-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache-
Ergänzung zu TOP 35
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Monika
Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen umsetzen
- Drucksachen 17/7953, 17/8643 Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön ({11})-
Christel Humme-
Nicole Bracht-Bendt-
Jörn Wunderlich-
Monika Lazar
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({12}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({13}), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen
- Drucksachen 17/11356, 17/11725 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({14})Ulla JelpkeJosef Philip Winkler
ZP 5 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPD
Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn im Hinblick auf die Einhaltung europäischer Grundwerte
ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({15}) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Volker Beck ({16}), Monika Lazar, Ekin
Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
- Drucksachen 17/1429, 17/12731 Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Kauder ({17})
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des
Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts
- Drucksache 17/12677 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({18})Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen
- Drucksache 17/12684 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf
Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord Humanitäre Hilfe für die Opfer
- Drucksache 17/12692 ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und
zukunftsweisend umsetzen
- Drucksachen 17/11664, 17/12671 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({20})
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Finanzstabilität sichern - Regulierung systemrelevanter Finanzinstitute und des internationalen Schattenbankensystems
- Drucksache 17/12686 Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte: Erpressungspotenzial verringern Geschäfts- und Investmentbanking trennen
- Drucksache 17/12687 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({21})Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss
ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck ({23}), Marieluise Beck
({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequent vorangehen für eine atomwaffenfreie Welt
- Drucksachen 17/9983, 17/12733 Berichterstattung:Abgeordnete Roderich KiesewetterUta ZapfDr. Rainer StinnerJan van AkenMarieluise Beck ({25})
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zur Durchsetzung des Leistungsprinzips bei exorbitanten
Managergehältern
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 8 c soll abgesetzt werden.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 29. November 2012 ({26}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({27}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
- Drucksache 17/11468 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({28})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Tourismus -
Ausschuss für Kultur und Medien
Ich frage, ob irgendjemand gegen irgendeinen dieser
veränderten Tagesordnungspunkte Einwände hat? - Das
ist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowie
den Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Eine starke Energieinfrastruktur für Deutsch-
land
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über Maßnahmen zur Beschleunigung des
Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/12638 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({29})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({30}), Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutsch-
land erhalten und stärken
- Drucksache 17/12214 -
Überweisungsvorschlag:-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen
- Drucksache 17/12518 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({31})Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({32}), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Den Netzausbau bürgerfreundlich und zukunftssicher gestalten
- Drucksache 17/12681 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä28380
Präsident Dr. Norbert Lammert
rung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offensichtlich einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Philipp Rösler.
({33})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Wir haben in Deutschland eine starke Volkswirtschaft, einen starken Mittelstand mit einem starken industriellen Kern. Es ist diese
Struktur, die Wachstum möglich macht, die Beschäftigung sichert und damit für den Wohlstand in unserem
Lande steht. Weil wir das wissen, kämpft diese Regierungskoalition genau für diese Struktur. Das gilt insbesondere in dem wichtigen Bereich der Energiepolitik.
Es gibt fünf Felder - Kraftwerke, neue Netze, natürlich erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energieforschung -, in denen es sich besonders lohnt, genau für
diese Struktur zu kämpfen. Die Leitlinien, die für eine
kluge Energiepolitik immer gelten, sind zum Ersten eine
umweltfreundliche Erzeugung, zum Zweiten das wichtige Thema Versorgungssicherheit und zum Dritten die
Bezahlbarkeit von Energie, und zwar nicht nur für Unternehmen, sondern für Menschen und private Haushalte
gleichermaßen.
({0})
Der Aspekt der Umweltverträglichkeit - ich finde, daran kann man zwei Jahre nach der Katastrophe von
Fukushima erinnern - ist der eigentliche Grund für unseren gemeinsamen Beschluss, aus der Kernenergie auszusteigen. Er wurde hier im Deutschen Bundestag gefasst.
Er ist getragen von einer breiten Mehrheit im Bundesrat
und in der Gesellschaft.
Anders als die frühere rot-grüne Bundesregierung haben wir uns nicht darauf beschränkt, einfach nur den
Ausstieg zu beschließen und danach die Hände in den
Schoß zu legen, so wie Sie es sehr selbstzufrieden getan
haben.
({1})
Wir haben gewusst: Wir müssen alles dafür tun, dass das
Ziel, bis zum Jahr 2022 auszusteigen, auch erreicht werden kann. Sie haben sich nach Ihrem Beschluss zurückgelehnt. Wir haben die Hände in die Hand genommen
({2})
- die Dinge in die Hand genommen - und haben angefangen, die Energiepolitik in allen wichtigen Feldern,
gerade im Bereich der Energieinfrastruktur, umzusetzen.
({3})
Der erste Bereich ist der Bereich der neuen Netze.
Wir haben dafür die notwendigen Gesetze beschlossen,
zum Beispiel das Netzausbaubeschleunigungsgesetz.
Unser Ziel ist es, die bisherigen Planungs- und Bauzeiten von derzeit bis zu zehn Jahren auf vier Jahre zu verkürzen. Ein Teil dieser Gesetze beinhaltet die Vorgabe,
einen Netzentwicklungsplan auf den Weg zu bringen,
der die Strukturen, aber auch die weiteren Maßnahmen
für den Netzausbau in Deutschland festlegt. Genau das
ist in enorm kurzer Zeit gelungen. Man darf nicht vergessen: Bisher gab es einen solchen Netzentwicklungsplan nicht. Man musste ihn also im wahrsten Sinne des
Wortes aus dem Nichts heraus definieren, um zu sehen,
wie die neuen Netzstrukturen in Deutschland aussehen
sollen.
Der Netzentwicklungsplan liegt jetzt vor. Wir wissen,
dass 2 900 Kilometer ertüchtigt oder im Bestand erneuert werden müssen. Es gibt weitere 2 800 Kilometer, die
tatsächlich neu gebaut werden müssen. Es ist gut, dass
wir diesen Netzentwicklungsplan haben. Entscheidend
ist aber auch das Umsetzen dieses Netzentwicklungsplans; denn wir haben sehr frühzeitig - schon bei der
Gesetzgebung - gesagt: Wenn wir in Deutschland Industriepolitik betreiben wollen, bedeutet dies das Durchsetzen, das Umsetzen von Infrastrukturmaßnahmen.
Wenn Sie in Deutschland Infrastrukturmaßnahmen
umsetzen wollen, brauchen Sie die Akzeptanz, das Verständnis der Bevölkerung. Deswegen wurde sehr früh
ein Konsultationsverfahren eröffnet, damit die betroffenen Menschen vor Ort und die betroffenen Kommunen
Stellung nehmen konnten. Diese wurden von den Übertragungsnetzbetreibern einbezogen und später auch von
der Bundesnetzagentur.
Es gab in diesem einjährigen Verfahren über
3 300 Einwendungen von Privatpersonen. Alle konnten
in den Diskussionsprozess einfließen. Es ist quasi revolutionär für die Bundesnetzagentur, dass die Behörde die
Anliegen nicht nur in Form von schriftlichen Stellungnahmen behandelt hat, sondern sie ist in die Fläche gegangen, sie hat mit den betroffenen Kommunen und den
betroffenen Menschen gesprochen.
In Stuttgart zum Beispiel wird das, was im Schlichtungsverfahren vereinbart wurde, immer noch nicht umgesetzt, weil man nicht bereit ist, dafür das notwendige
Geld zur Verfügung zu stellen. Da weiß man, was man
an dieser Bundesregierung hat; denn wir sprechen mit
den Menschen, um Infrastrukturprojekte umzusetzen. So
sieht richtige Bürgerbeteiligung aus.
({4})
Als Folge des Netzentwicklungsplans diskutieren wir
heute gemeinsam in erster Lesung das Bundesbedarfsplangesetz. Dabei geht es nicht nur darum, wie die neuen
Trassenverläufe aussehen sollen, sondern wir müssen
uns konkret überlegen, wie wir die Voraussetzung dafür
schaffen, dass Projekttrassen, zum Beispiel für die Erdverkabelung, entstehen können.
Wir sehen auch eine Instanzenwegverkürzung vor,
das heißt, dass man sich mit einer Klage direkt an das
Bundesverwaltungsgericht wenden kann, das dann endBundesminister Dr. Philipp Rösler
gültig entscheidet. Damit können wir die Geschwindigkeit im Bereich Netzausbau erreichen, die wir uns vorgenommen haben, ebendiese vier Jahre.
Was noch viel entscheidender ist: Wir arbeiten hervorragend mit den Bundesländern zusammen. Das ist
keine Selbstverständlichkeit; denn derzeit ist es so, dass
sich mindestens 8 von 16 Bundesländern autonom versorgen möchten, weitere möchten sich in Bezug auf erneuerbare Energien nicht nur autonom versorgen, sondern sie sogar exportieren.
({5})
- Das ist Blödsinn, wenn 16 Bundesländer nur jeweils an
sich denken und nicht an die gemeinsame Umsetzung
dieser Energiewende.
({6})
Wir sagen Ihnen: Der Erfolg wird nur möglich sein,
wenn alle 16 Bundesländer, der Bund und Europa bei
dem wichtigen Thema Netzausbau zusammenstehen.
({7})
Deswegen schaffen wir mit dem Bundesbedarfsplangesetz die Voraussetzung dafür, dass erstmalig auch die
großen und raumbedeutsamen Strecken, die mehrere
Länder übergreifen, in die Planungszuständigkeit des
Bundes, der Bundesnetzagentur übergehen können. Bisher haben wir immer gesehen: Dort, wo zwei Ländergrenzen aneinanderstoßen, kommt es zu Schwierigkeiten, kommt es zu Verzögerungen. Das muss geändert
werden. Deswegen hoffen wir sehr, dass der Bundesrat
bereit ist, auch wenn es um die konkreten Strecken geht,
wenn es auf die einzelnen Maßnahmen ankommt, seine
Zusage einzuhalten und die Zuständigkeiten von den
einzelnen Ländern auf den Bund zu übertragen. Sonst
wird es schwierig mit der Verkürzung von Bau- und Planungszeiten bei dem wichtigen Netzausbau in Deutschland.
({8})
Mindestens genauso wichtig wie die großen Fernübertragungsnetze ist das Verteilnetz. Wir diskutieren
darüber im Rahmen der Netzplattform in meinem Ministerium, aber auch in anderen Gremien. Wir überlegen:
Wie muss ein solches Verteilnetz eigentlich aussehen?
Wir werden ungefähr die gleiche Anzahl an Kilometern
brauchen, nur um das Verteilnetz zu ertüchtigen und zu
modernisieren.
({9})
Hier geht es nicht nur darum, Produktion und Verbrauch
räumlich zusammenzubringen, sondern Sie müssen Produktion und Verbrauch auch zeitlich zusammenbringen.
Deswegen brauchen wir nicht nur Verteilnetze mit vielen
Tausend Kilometern, sondern wir brauchen auch intelligente Netze
({10})
- manche Netze sind intelligenter als manche Zwischenrufe -,
({11})
die in der Lage sind, Produktion und Verbrauch zusammenzubringen. Wenn wir die beiden Dinge zusammenbringen wollen, dann brauchen wir nicht nur die Netze,
sondern dann müssen wir uns auch darüber Gedanken
machen, wie der Markt für den konventionellen Kraftwerksbereich aussieht.
({12})
Ich will hier für die Bundesregierung und die Regierungskoalition sehr klar sagen: Wenn wir aus der Nutzung der Kernenergie aussteigen, werden wir, auch wenn
wir auf den stärkeren Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien setzen, auch in Zukunft konventionelle
Kraftwerke brauchen, Gaskraftwerke genauso wie Kohlekraftwerke.
({13})
Wenn die Grünen beschließen, dass man gerne auf Kohlekraftwerke verzichten möchte, dann ist das den Menschen gegenüber schlichtweg unehrlich; denn irgendwo
muss der Strom für die Menschen und die Unternehmen
ja herkommen.
({14})
Dass wir für Versorgungssicherheit stehen, haben wir
bei der Winterregelung gezeigt, die Sie im Bundestag im
Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes beschlossen haben.
({15})
Natürlich wissen wir, dass all die Maßnahmen, die darin
enthalten sind, nicht vollumfänglich die Schönheit der
sozialen Marktwirtschaft widerspiegeln.
({16})
Aber bei der Abwägung zwischen der Versorgungssicherheit auf der einen Seite und der Schönheit mancher
Instrumente auf der anderen Seite war und ist es immer
richtig, sich für die Versorgungssicherheit der Menschen
und Unternehmen gleichermaßen zu entscheiden.
({17})
Wir brauchen Ähnliches auch bei der Marktstruktur
im Bereich der konventionellen Kraftwerke. Allein auf
den Strom und nicht auf die Erzeugung zu achten, wird
auf Dauer nicht mehr funktionieren. Trotzdem warne ich
davor, zu glauben, dass man nur Kapazitätsmärkte fordern müsse und schon wäre das Problem gelöst. „Kapazitätsmärkte“ ist ein schönes Wort dafür, dass man das
Vorhalten von Kraftwerken mit dem Geld der Stromkunden in Deutschland subventionieren will.
({18})
Wenn Sie ein Problem, das durch die Förderung des Bereichs der erneuerbaren Energien, also durch ein Subventionsgesetz entstanden ist, durch eine weitere Subvention lösen wollen, dann handeln Sie entgegen dem
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Das kann nicht die
alleinige Lösung für das zukünftige Marktdesign in
Deutschland sein.
({19})
Wenn Sie ein solches Marktdesign auf den Weg bringen wollen, gerade für konventionelle Kraftwerke, dann
müssen Sie auch an die Förderung des Bereichs der erneuerbaren Energien herangehen; denn beides gehört
zusammen, die konventionelle Energieerzeugung in
Deutschland und die Erzeugung durch die Nutzung erneuerbarer Energien. Das bisherige Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien ist ein Gesetz, das eigentlich nicht zur sozialen Marktwirtschaft passt. So,
wie es momentan aufgebaut ist, ist es ein planwirtschaftliches Gesetz.
({20})
Es ist damals entstanden, als man eine Nischenbranche
größer machen wollte. Das war absolut gerechtfertigt;
jetzt aber haben wir ein Gesetz, das sich mit einem
Markt befasst, der längst nicht mehr einem Nischenmarkt entspricht, sondern einen Marktanteil von 25 oder
35 Prozent hat. Deswegen dürfen Sie ein solches Gesetz
nicht länger zulassen.
({21})
Das ist ein Gesetz, mit dem der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, den Preis für jede einzelne Erzeugungsart auf den Cent genau festlegt.
({22})
Das ist Planwirtschaft und führt natürlich auch zu all den
Verzerrungen und zu Ineffizienzen, die die Planwirtschaft mit sich bringt.
({23})
- Frau Höhn, gerade Sie haben doch dieses Gesetz auf
den Weg gebracht.
({24})
Es ist doch Ihre Verantwortung, dass wir momentan
- mit all den Verzerrungen - in der Planwirtschaft leben.
({25})
Wenn Sie sich ein Windrad in den Hintergarten stellen
- egal ob Sie einen Netzanschluss haben oder nicht -,
bekommen Sie bis zu 95 Prozent Ihrer Kosten vergütet.
Was ist das für ein Geschäftsmodell?
({26})
Frau Höhn, stellen Sie sich vor, unser Wirtschaftsausschussvorsitzender Herr Hinsken - er ist Bäcker - würde
ständig Brötchen produzieren, die er nicht verkaufen
müsste, und er würde trotzdem 95 Prozent der Kosten als
Vergütung bekommen. Was für ein großartiges Geschäftsmodell wäre das?
({27})
Es hat nur zwei Nachteile: Erstens. Die Menschen in
Deutschland müssten es bezahlen. Zweitens. Es wäre
kein zur sozialen Marktwirtschaft passendes Modell,
und deswegen verzichtet Herr Hinsken auf ein solches
Modell. Das Gleiche gilt auch für die Energiepolitik in
Deutschland.
({28})
- Herr Steinmeier, wir regieren, und es wird - damit wir
das auch gleich geklärt haben - auch nach der nächsten
Bundestagswahl so bleiben.
({29})
Deswegen brauchen wir ein anderes Modell, ein Mengenmodell, mit dem endlich die unterschiedlichen Erzeugungsarten - so, wie es sich für die soziale MarktBundesminister Dr. Philipp Rösler
wirtschaft gehört - in einen Wettbewerb miteinander
gestellt werden.
({30})
Sonst wird Energie am Ende nicht mehr bezahlbar sein.
Wir erleben gerade die Diskussion über eine EEGUmlage in Höhe von 5,277 Cent, die vielleicht bis zum
Ende des Jahres sogar noch auf 6 Cent die Kilowattstunde ansteigen wird.
({31})
Ich finde, diese Zahlen zeigen eines sehr deutlich: Wir
müssen schon jetzt - nicht zum Zweck der Integration
von konventionellem Markt und dem Bereich der erneuerbaren Energien, sondern gerade im Interesse der Bezahlbarkeit von Energie für den Mittelstand, aber auch
für private Haushalte - an einer grundlegenden Reform
des Gesetzes zur Förderung Erneuerbarer Energien arbeiten.
({32})
Die Energiepreise sind das Entscheidende für unseren
Mittelstand und unseren industriellen Kern.
({33})
Die deutsche Wirtschaft steht in einem internationalen
Wettbewerb mit günstigen Energiepreisen in Europa,
mehr aber noch außerhalb Europas. Wir sprechen über
Strompreise für Industrieunternehmen von 10 bis
15 Cent die Kilowattstunde hier in Deutschland und in
Europa. Wir sprechen, was beispielsweise die USA angeht, über Strompreise im Bereich von 2 bis 5 Cent die
Kilowattstunde.
({34})
Wenn künftig viele Unternehmen in Deutschland Investitionsentscheidungen zulasten des Standortes
Deutschland bzw. Europa treffen, indem sie in die USA
gehen, wäre das gerade für unseren industriellen Kern
fatal; denn wir brauchen die gesamte Bandbreite einer
industriellen Wertschöpfungskette. Das betrifft chemische Grundstoffe, Stahl und Aluminium genauso wie
Hightechprodukte. Deswegen ist es notwendig, dass die
Bezahlbarkeit von Energie als prioritäre Aufgabe der
Wirtschaftspolitik anerkannt wird.
({35})
- Auch von Ihnen, Frau Höhn.
({36})
Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ihnen: Die Unternehmen werden sich sehr genau ansehen,
wie Politiker aus Nordrhein-Westfalen agieren, wenn es
darum geht, für die Bezahlbarkeit von Energie zu kämpfen.
({37})
Daran hängen hier Hunderttausende Arbeitsplätze. Sie
zeigen, dass Sie kein Interesse an den Arbeitsplätzen in
Deutschland haben. Das ist doch das wahre Gesicht von
Roten, Grünen und Linken in Deutschland.
({38})
- Die Opposition zeigt - das spüren wir - ihr schlechtes
Gewissen, indem sie umso lauter schreit.
({39})
Sie haben den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie beschlossen
({40})
und nichts für unser Land bzw. für neue Netze getan.
Auch für neue Kraftwerke und den Bereich der erneuerbaren Energien haben Sie nichts getan - und schon gar
nichts für Energieforschung und Energieeffizienz. Im
Gegenteil, bei Energieeffizienz halten Sie es bis heute
nicht für nötig, etwas für die Menschen zu tun. Sie blockieren nach wie vor Gesetze im Bundesrat, bei denen es
darum geht, Energieeffizienz für die Menschen durchzusetzen. Das ist doch Ihr Gesicht, wenn es um Energieversorgung in Deutschland geht.
({41})
Ich halte also fest: Diese Regierungskoalition hält
sich an die drei energiepolitischen Grundsätze
({42})
Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit in den fünf wesentlichen Feldern Netzausbau, Kraftwerksausbau, erneuerbare Energien, Energieforschung und Energieeffizienz.
({43})
Viele Unternehmen aus dem Ausland beneiden uns um
unsere starke Volkswirtschaft. Sie haben sich zu Anfang
die Frage gestellt: Kann Deutschland den Ausstieg bis
zum Jahre 2022 schaffen? Wenn man sich jetzt die Pläne
ansieht, wenn man die Dinge erklärt, wenn man die Vorbereitung erkennt, dann weiß man: Wenn es einer schaf28384
fen kann, dann ist das unser Land. Diese Regierungskoalition steht und kämpft dafür, dass genau das gelingen
kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({44})
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
eben bei der Rede des Kollegen Rösler eine Sekunde die
Augen geschlossen und sich überlegt hätte, wer da eigentlich redet,
({0})
dann hätte man den Eindruck haben können, dass da ein
Oppositionspolitiker die aktuelle Regierung beschimpft.
({1})
Herr Rösler, ich bin nicht sicher, ob Sie es wissen, aber
für all die Probleme, die Sie eben diagnostiziert haben,
sind Sie und Ihr Kollege Brüderle seit fast vier Jahren
zuständig.
({2})
Übrigens, als Sie gesagt haben, dass Sie wieder in der
Regierung sein werden, hat nur die FDP geklatscht, die
CDU/CSU wohl vorsichtshalber nicht. Die Kollegen in
der CDU/CSU ahnen, was bei den Wahlen herauskommen wird.
({3})
Sie können das übrigens heute in der Süddeutschen
Zeitung nachlesen. Sie haben sich ja selber für Ihre Arbeit so gelobt und eben hier versucht, den Schwarzen
Peter anderen zuzuschieben. Dabei sitzt der Schwarze
Peter bei Ihnen ganz in der Nähe am Kabinettstisch.
({4})
Er hat heute auf die Frage der Süddeutschen Zeitung,
was er von Ihrer Arbeit hält, geantwortet - ich lese es
einmal vor -: „Ich urteile grundsätzlich nicht über die
Arbeit befreundeter Kabinettskollegen.“
({5})
Das ist ja einmal ein richtiges Lob. So stellt man sich
Freundschaften bei Ihnen vor.
({6})
Herr Rösler, ich will einmal versuchen, auf ein paar
der Probleme, die Sie, wie ich finde, treffend beschrieben haben, einzugehen - Sie haben sie zwar jetzt beschrieben, aber Sie haben dreieinhalb Jahre nichts getan,
um sie zu lösen - und darauf hinzuweisen, was Sie eigentlich hätten tun müssen. Wie sieht eigentlich der
Stand des Ausbaus der Netze in der Realität aus, nachdem Sie und Ihr Vorgänger Herr Brüderle hier dem Parlament mehrfach große Ankündigungen gemacht haben?
Sie haben Beschleunigungsgesetze eingebracht, Sie haben gesagt, dass Sie den Netzausbau richtig in den Griff
bekommen wollen. Das ist das Versprechen Ihres Kollegen Brüderle - man ist sich bei Ihnen immer nicht so sicher, ob er gerade Nachfolger oder Vorgänger ist - und
auch Ihr Versprechen gewesen.
Ich sage Ihnen: Das Energieleitungsausbaugesetz von
2009 hat die wichtigsten Strecken für den Netzausbau
per Gesetz begründet. Von 2009 bis heute, Herr Rösler,
sind ganze 12 Prozent von Ihnen realisiert worden:
214 Kilometer von 1 834 Kilometern, die Sie bauen
müssen. Keines der damals benannten Pilotvorhaben für
die Erdverkabelung in der Gleichstromtechnik, um die
durch Windkraft im Norden erzeugte Energie zu den
Lastschwerpunkten in den Süden zu bringen, haben Sie
in Ihrer Regierungszeit bis heute umgesetzt.
({7})
16 der 24 Vorhaben von damals sind im Zeitverzug; dieser beträgt ein bis sieben Jahre.
Herr Rösler, damit Sie es nicht völlig verdrängen, erinnere ich Sie daran: Der dafür verantwortliche Minister
sind Sie und nicht Vorgängerregierungen, die übrigens
diesen irren Weg des Ausstiegs nicht gewählt haben.
({8})
Wären Sie beim rot-grünen Energieumstieg geblieben,
hätten Sie diese Probleme nie in dieser Art auf den Tisch
bekommen.
({9})
Sie scheinen ja völlig verdrängt zu haben, was Sie da
angerichtet haben. Sie haben doch in das Herz-Kreislauf-System der deutschen Wirtschaft - das haben Sie
eben zu Recht so genannt; es ist das Herz-Kreislauf-System der deutschen Wirtschaft - eingegriffen. Sie haben
in den letzten dreieinhalb Jahren zweimal am offenen
Herzen operiert. Aber Ihr Ärzteteam - einschließlich der
Chefärztin, die gerade hinausgegangen ist - hat bei diesen Operationen wechselnde Diagnosen gestellt und
wechselnde Therapievorstellungen gehabt. Dass der Patient noch lebt, liegt nicht an der Kunst Ihres Ärzteteams,
sondern an der guten Konstitution des Patienten. Sie haben ihn allerdings fast ans Ende gebracht.
({10})
Wir sind nicht diejenigen gewesen, die erst beschlossen haben, 14 Jahre länger an der Atomenergie festzuhalten, und dann gesagt haben: Nun aber schneller raus!
({11})
Wir haben übrigens auch keinen Prozess verloren, wie
Sie ihn gerade wegen der illegalen Stilllegung von
Atommeilern verlieren.
({12})
Wo im Bundeshaushalt findet man eigentlich die 15 Milliarden Euro, die Sie an Regressforderungen der Energiekonzerne wegen Ihrer damaligen Kumpanei mit ihnen
zu erwarten haben?
({13})
Die waren dann nämlich enttäuscht. Die Rechnung für
die Kumpanei mit diesen Konzernen müssen jetzt die
Steuerzahler bezahlen. Das ist das Ergebnis Ihres Atomausstiegs von vor zweieinhalb Jahren.
({14})
Zurück zum Netzausbau. 12 Prozent wurden bisher
realisiert. Wenn die Bundesregierung beim Netzausbau
in diesem Tempo weitermacht, Herr Rösler, dann wird
die Energiewende tatsächlich ein Jahrhundertprojekt;
das kann man wohl sagen.
({15})
Zwischen der Realität beim Netzausbau in Deutschland
und dem, was Sie hier erklären, gibt es einen Riesenunterschied. Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, nach
dem bis 2022 auf einer Strecke von insgesamt 2 800 Kilometern neue Leitungen gebaut werden sollen; das entspricht der Entfernung zwischen Stockholm und Madrid.
Bei Beibehaltung Ihres bisherigen Schneckentempos
- bisher wurden, wie gesagt, erst 12 Prozent realisiert werden diese Leitungen nicht bis 2022 fertig sein, sondern frühestens 2060. Mit anderen Worten: Sie legen einen Netzausbauplan vor, von dem Sie schon heute wissen, dass er mit Ihrer Regierungskunst nie und nimmer
realisiert werden wird.
Was haben Sie eigentlich die letzten dreieinhalb Jahre
getan, damit das Nord-Süd-Gefälle, dass der Windstrom
im Norden produziert, aber an den Lastschwerpunkten
im Süden und Westen gebraucht wird, endlich abgebaut
wird? Das Gegenteil ist eingetreten: Dieses Gefälle verschärft sich von Jahr zu Jahr. Inzwischen produzieren
wir, weil die Netze verstopft sind, Wegwerfstrom. Wir
bezahlen ihn, aber wir können ihn nicht nutzen. Bezahlen müssen das die Steuerzahler, die Stromkunden und
all diejenigen, die da zur Kasse gebeten werden. Das,
Herr Rösler, ist Ihre Verantwortung. Sie sind derjenige,
der das zulässt.
({16})
- Wir verhindern gar nichts, Herr Kollege. Sie legen
doch noch nicht einmal einen Plan vor, wie man das machen soll.
({17})
- Ich verstehe ja, dass Sie den armen Kerl jetzt verteidigen müssen. Aber ich habe ihn nicht gebeten - ausgerechnet ihn! -, hier eine Regierungserklärung zu seinem
eigenen Versagen während seiner Regierungszeit abzugeben.
({18})
Sie versagen komplett, was die Steuerungskompetenz
angeht. Sie sagen hier: Die 16 Bundesländer können
nicht machen, was sie wollen. - Da haben Sie recht.
Aber sagen Sie einmal: Was tun Sie eigentlich, um mit
Ländern, Kommunen, der Energiewirtschaft und Stadtwerken den geplanten Netzausbau oder eine Kopplung
des Netzausbaus und des Ausbaus der Nutzung erneuerbarer Energien hinzubekommen? Bis heute gar nichts!
Sie beschreiben die Probleme richtig. Aber Sie sind der
Minister, der dafür da ist, sie zu lösen. Das machen Sie
seit dreieinhalb Jahren nicht.
({19})
Kurz vor der Bundestagswahl kommen Sie hierher und
erklären, was man alles machen muss. Wissen Sie, es
gibt ein altes Sprichwort für Leute wie Sie. Es lautet:
Am Abend werden die Faulen fleißig. Das beschreibt,
was Sie machen.
({20})
Herr Rösler, nun können Sie ja sagen: Na ja, es ist
doch klar, dass die Opposition über mich schimpfen
muss; das ist ein altes Spiel im Parlament. - Deshalb lese
ich Ihnen einmal vor, was außerhalb Ihrer eigenen Wirklichkeit, außerhalb dieses Parlaments über Sie, Ihre Regierung und die Kanzlerin gedacht wird.
Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der
Deutschen Industrie, Herr Kerber, meint - ich zitiere -:
Es fehlen eindeutige Verantwortlichkeiten. Der Konkurrenzkampf innerhalb der Bundesregierung muss aufhören. Wir brauchen den Aufbau eines „Kontrollzentrums
Energiestrategie Deutschland“.
Der Vorsitzende der Energiegewerkschaft IG BCE,
Michael Vassiliadis, erklärte vor wenigen Wochen:
Es fehlt der Bundesregierung an Koordination und
Entscheidungen. Wenn das so weitergeht wie bisher, dann wird das nichts mit der Energiewende.
Vor wenigen Tagen wurde der Unternehmer Ulrich
Grillo, zugleich der neue Präsident des Bundesverbands
der Deutschen Industrie, gefragt, wie er das Management der Energiewende durch die Bundesregierung
bewertet - hören Sie gut zu, Herr Rösler! -, und die
Antwort von Herrn Grillo lautete: „Es gibt kein Management.“
({21})
Herr Rösler, sagen Sie das auch Ihrer Kanzlerin; denn
auch sie ist damit gemeint. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft die Kanzlerin die Energiewende zur Chefsache erklärt hat. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beherrscht sie die Chefsache nicht, oder Sie, Herr
Rösler, lassen nicht zu, dass das Ganze geführt wird.
Ich könnte zwar noch mehrere ähnliche Zitate vortragen, aber ich beende diese Aufzählung mit einem Kommentar aus der Passauer Neuen Presse von der letzten
Woche. Unter der Überschrift „Verlorenes Jahr“ fasst der
Kommentator das wie folgt zusammen:
Für das Gelingen der Energiewende wird 2013 ein
weitgehend verlorenes Jahr werden.
Leider hat er recht, meine Damen und Herren.
({22})
Alle, aber auch ausnahmslos alle, Herr Rösler, die in
Deutschland etwas von Energiepolitik verstehen, sagen,
dass diese Regierung ein Totalausfall ist hinsichtlich einer Energiepolitik, die Versorgungssicherheit und bezahlbare Preise während der Energiewende sicherstellen
soll.
Meine Damen und Herren, wie sieht das aus mit der
Chefsache der Bundeskanzlerin, dem neuen Strommarktdesign? Fehlanzeige. Wie sieht das aus mit dem
von der Ethik-Kommission zum Ausstieg aus der Atomenergie dringend geforderten Aufbau eines Kapazitätsmarktes, vor allem mit Gaskraftwerken? Fehlanzeige.
Sie erklären hier, die Bundesländer sollten nicht machen, was sie wollen. Was macht Ihr Koalitionspartner,
die CSU? Ministerpräsident Seehofer hat als Erster erklärt, sein Land, Bayern, würde energieautark.
({23})
Wenn man an den Industriestandort Deutschland denkt,
muss man sagen: Die sind völlig verrückt geworden. Und was passiert? Gar nichts passiert. Im Gegenteil, anstatt dass neue Gaskraftwerke gebaut werden - dafür
sind Sie übrigens verantwortlich -, werden in Deutschland neue Gaskraftwerke stillgelegt, und wir stehen an
den Tagen, an denen die Sonne nicht scheint und der
Wind nicht weht, vor massiven Problemen mit der Versorgungssicherheit und der Stabilität im Netz. Genau das
bewirkt Ihre Politik.
({24})
- Na, hören Sie einmal zu: Sie sind dafür verantwortlich,
das sicherzustellen. In normalen Jahren braucht es zehn
technische Eingriffe, um das Netz stabil zu halten. Jetzt
haben wir 900 gehabt. Das verschweigen Sie hier. Sie
sind sich über die Dimension Ihrer Aufgabe überhaupt
nicht im Klaren - oder jedenfalls Ihr Minister nicht.
({25})
Das geht ja noch weiter: Sie jammern zwar über steigende Strompreise - zu Recht übrigens -, aber gleichzeitig verhindern Sie, dass Effizienzmaßnahmen den
Stromkunden helfen, ihren Stromverbrauch zu senken
und Geld zu sparen. Warum verhindern Sie das eigentlich?
({26})
Sie stehen in Europa auf der Bremse, wenn es um
Energieeffizienz geht. Sie verhindern - gemeinsam mit
Ihrer Bundesregierung und anderen -, dass der europäische Emissionshandel wieder in Gang kommt. Ihrem Finanzminister fehlen jetzt 1 bis 2 Milliarden Euro im
Haushalt, um Maßnahmen zur Energieeinsparung zu finanzieren. Sie erklären öffentlich, wie schlimm das ist,
aber Sie helfen keinem einzigen Verbraucher. Vielmehr
stoppen Sie die Programme, weil Sie die Mittel dafür
nicht mehr haben, weil Sie den Emissionshandel durch
Ihr Verhalten in Europa ruiniert haben.
({27})
Steigende Strompreise, steigende Versorgungsunsicherheit, das ist das Ergebnis Ihrer Politik und nicht etwa
die Schuld von Rot-Grün oder irgendwelcher Außerirdischer. Sie sind Minister, auch wenn Sie es manchmal
nicht glauben können. Wir würden es ja auch gerne anders sehen;
({28})
aber es ist nun einmal so. Dann müssen Sie einmal arbeiten in diesem Land.
({29})
Sie müssen übrigens nicht einmal für irgendetwas kämpfen: Über alles, was wir hier bereden, besteht doch Einvernehmen. Aber Sie setzen nichts um. Bei der Umsetzung der Energiewende sind Sie ein Totalversager; das
ist das eigentliche Problem in Deutschland.
({30})
Jetzt kommt - alle Achtung! - die Strompreisbremse.
Kurz vor Toresschluss erklären Sie: Keine Sorge! Wir
bremsen die Strompreise. ({31})
Wie wollen Sie das eigentlich machen? Obwohl die steigenden Strompreise nach Ihren eigenen Aussagen und
nach Aussagen Ihres Ministeriums praktisch nichts mit
dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu tun haben
- selbst wenn kein einziges Windrad mehr gebaut
würde, würden aktuell die Strompreise steigen -, wollen
Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien und damit die
Energiewende selbst stoppen; das ist Ihr Vorschlag.
Damit nicht genug: Sie beherrschen das kleine Einmaleins eines Wirtschaftsministers nicht, das da lautet:
Wir brauchen Investitionssicherheit und keine ständigen
Veränderungen der Rahmenbedingungen. - Ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister schlägt, gemeinsam
mit seinem Kabinettskollegen Altmaier, vor, in bestehende Verträge einzugreifen. Ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister schlägt vor, dass die im internationalen Wettbewerb stehende Rohstoffindustrie in
Deutschland - von Aluminium über Stahl zu Kupfer jetzt höhere Strompreise zahlen soll. Und so etwas fordert ein FDP-Bundeswirtschaftsminister!
({32})
Was Sie da vorschlagen, ist doch irre. Weil Sie offenbar
von allen guten Geistern verlassen sind, wollen Sie das
jetzt im Schweinsgalopp durchsetzen. Sie müssen wirklich, Entschuldigung, nicht mehr ganz bei Trost sein.
({33})
Keine dieser Maßnahmen, Herr Rösler, behebt die Ursachen steigender Strompreise. Nichts von dem, was Sie
vorschlagen, hält länger als bis zum Wahlabend,
18.01 Uhr. Und jede dieser Maßnahmen verunsichert
sämtliche Investoren. Herr Rösler, Unberechenbarkeit
wird zum Markenzeichen Ihrer Energiepolitik. Das ist
das, was die Investoren in Deutschland von Ihnen lernen.
({34})
Wenn Sie, wie wir auch, Sorgen wegen steigender
Strompreise haben: Warum verdienen Sie in der Bundesregierung dann noch heimlich mit? Aufgrund steigender
EEG-Umlage haben Sie nämlich bis zu 1 Milliarde Euro
Mehreinnahmen über die Mehrwertsteuer. Warum geben
Sie nicht wenigstens das, was Sie über steigende Strompreise sozusagen für Ihren Haushalt abkassieren, an die
Verbraucherinnen und Verbraucher zurück? Warum machen Sie das eigentlich nicht?
({35})
Sie können übrigens mit uns reden, wenn Sie nicht
generell 1 000 Kilowattstunden stromsteuerfrei stellen
wollen, sondern Ermäßigungen lieber an bestimmte
Gruppen geben wollen, zum Beispiel an Familien, Niedrigverdiener oder BAföG-Empfänger. Das alles können
wir machen. Sie können aber doch nicht mitkassieren
und gleichzeitig öffentlich darüber jammern, dass die
Strompreise steigen.
({36})
Ich finde es wirklich eine erbärmliche Bilanz, die wir
hier vorgestellt bekommen. Das alles wird dann auch
noch mit großen Zielen beschrieben.
Es wird Zeit, dass in der Bundesregierung einmal
Ordnung geschaffen wird. Sie müssen erstens aufhören,
über Kompetenzen zu streiten.
Zweitens brauchen wir wirklich auch im Rahmen der
Energiewende eine Gerechtigkeitswende; denn sinkende Börsenstrompreise werden nicht an die Verbraucher weitergegeben, sondern nur an die Großindustrie,
und die von CDU/CSU und FDP massiv ausgeweiteten
Ausnahmen bei der Stromsteuer - weit über die Rohstoffindustrie hinaus - führen dazu, dass der Rest höhere
Strompreise zahlt. Daneben verdienen an Windparks und
Solardächern immer mehr Grundstücks- und Hauseigentümer, während die Mieter die Zeche zahlen.
Es ist völlig klar, was zu tun ist.
({37})
- Entschuldigung, wir machen Ihnen doch Vorschläge.
({38})
Dann stimmen Sie doch zu! Wir wollen den Verbrauchern das zurückgeben. Stimmen Sie doch zu, dass wir
endlich ein neues Strommarktdesign machen!
({39})
Schaffen Sie einen Kapazitätsmarkt! Sorgen Sie dafür,
dass wir endlich zu einer Koppelung zwischen Netzausbau und Ausbau der erneuerbaren Energien kommen!
Das sind Vorschläge, für die Sie hier im Haus eine breite
Mehrheit bekommen würden. Sie müssen es aber umsetzen, Herr Kollege. Es gibt kein Erkenntnisproblem, wir
haben kein Diagnoseproblem, sondern wir haben ein
massives Umsetzungsproblem.
Es gibt böse Zungen, die sagen, Herr Rösler als alter
Freund der Atomenergie habe gar kein Interesse daran,
dass das am Ende funktioniert. Ich glaube, das ist nicht
so. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie die Energiewende wirklich wollen. Offensichtlich ist aber: Parteien, die jahrzehntelang sozusagen auf die „Bruttoregistertonnenmentalität“ der Atomenergie gesetzt haben, scheint die
Fantasie dafür zu fehlen, sich vorzustellen, wie das
Ganze intelligent hin zu mehr Dezentralität umgebaut
werden kann, sodass ein möglichst hoher Anteil erneuerbarer Energie erreicht wird. Sie sind in Ihrem alten Denken verhaftet, und das führte dazu, dass Sie, als Sie sich
hier hingestellt haben und beschrieben haben, was fehlt,
Ihr eigenes Versagen beschrieben haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({40})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Nationalversammlung der
Sozialistischen Republik Vietnam, Herr Dr. Nguyen
Sinh Hung, mit seiner Delegation Platz genommen. Ihn
möchte ich im Namen aller Mitglieder des Bundestages
herzlich begrüßen.
({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sie haben in den letzten Tagen nicht nur in Berlin viele
politische Gespräche geführt. Wir wünschen Ihnen für
die weiteren Reformanstrengungen in Ihrem eigenen
Land viel Erfolg.
({1})
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Michael Fuchs für die CDU/
CSU das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich
sehr, dass unsere vietnamesischen Freunde heute hier
sind. Wir möchten noch auf vielen Gebieten mit ihnen
zusammenarbeiten. Eine ganze Reihe von Punkten haben der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesaußenminister in Vietnam ja schon angeschoben. Gott
sei Dank wird auch in Bälde das Deutsche Haus gebaut.
Darüber freuen wir uns.
({0})
Herr Kollege Gabriel, Freundschaft in der SPD erkennt man schon daran, dass Ihr Kanzlerkandidat bei der
Rede seines Parteivorsitzenden nicht im Deutschen Bundestag war. Daran lässt sich ablesen, wie sich die Situation darstellt. Ich würde an Ihrer Stelle nicht über andere
lästern.
({1})
- Die Bundeskanzlerin war bei der Rede des Bundeswirtschaftsministers anwesend. Die Bundeskanzlerin hat
auch noch ein paar Dinge zu tun, die sie das eine oder
andere Mal daran hindern können, im Plenum zu sein.
Aber wenn Ihr eigener Kanzlerkandidat es noch nicht
einmal für nötig hält, bei der Rede seines Parteivorsitzenden anwesend zu sein, dann ist das bezeichnend dafür, was er von ihm hält, nämlich genauso viel wie ich.
({2})
Herr Kollege, Sie haben eben über das Thema Energieeffizienz gesprochen. Energieeffizienz ist mit Sicherheit eine der besten Möglichkeiten, in Deutschland Energie einzusparen. Da sind wir uns einig. Insofern frage ich
mich, warum Ihre Mehrheit im Bundesrat seit mehreren
Monaten 1,5 Milliarden Euro blockiert,
({3})
die wir in die Sanierung von Häusern stecken wollen,
um sie energieeffizienter zu machen. Das ist doch
scheinheilig, was Sie hier machen. Sie haben doch gar
nicht das Recht, darüber zu reden, wenn Sie nicht einmal
in der Lage sind, solche Dinge umzusetzen.
({4})
Diese Scheinheiligkeit, die Sie hier permanent an den
Tag legen, geht mir ziemlich auf den Geist. Sie wissen
ganz genau, warum diverse Ausbaumaßnahmen nicht
vorgenommen werden. Sie wissen ganz genau, dass Sie
sie vor Ort verhindert haben. Das ist mehr als traurig. In
all den Ländern, in denen wir Ausbaumaßnahmen vorhaben, sitzen Sie zum großen Teil mit in der Regierung.
Und das ist der Grund, warum es nicht vorangeht.
({5})
Meine Damen und Herren, Gott sei Dank ist die
Stromversorgung in Deutschland zuverlässig. Sie funktioniert. Laut der Bundesnetzagentur - und auch das
sollten Sie wissen, Herr Gabriel; Lesen bildet - ist es im
letzten Jahr insgesamt zu nur rund 15 Minuten Stromunterbrechung in Deutschland gekommen. Wir sind damit
Weltspitze. Es gibt kein einziges Land, in dem es so wenige Stromunterbrechungen gab wie bei uns. In den
USA waren es bis zu 500 Minuten, in Frankreich immerhin bis zu 100 Minuten. Die Qualität der Stromversorgung ist gut, und das ist in einem so hoch industrialisierten Land wie unserem auch notwendig. Die
Chipindustrie in Deutschland könnte nicht funktionieren, wenn es eine solch gute Stromversorgung nicht
gäbe.
Wir wissen aber auch ganz genau, dass aufgrund der
Maßnahme, die wir mit vollem Herzen ergriffen haben
- ich meine den Ausstieg aus der Kernenergie und das
Abschalten diverser Anlagen -,
({6})
jetzt eine Kompensation her muss. Es nützt uns überhaupt nichts, darüber zu diskutieren, dass im Jahre
({7})
2020 der Anteil von erneuerbaren Energien bis zu
57 Prozent betragen kann, wenn wir nicht gleichzeitig sicherstellen, dass permanent Strom zur Verfügung steht.
Denn es ist dummerweise so, dass der Wind nicht immer
weht.
({8})
Ich habe mir einmal beispielhaft von der Bundesnetzagentur das Diagramm eines Tages ausdrucken lassen,
das ich Ihnen gerne zeige. Hier sehen Sie den geringen
Beitrag der erneuerbaren Energien zur Lastdeckung am
13. Februar 2013. Die kleine Fläche unten - das können
Sie sogar von Ihren Sitzen aus sehen - zeigt den Anteil
der erneuerbaren Energien.
({9})
Die große Fläche darüber stellt den Anteil konventioneller Energie dar, die erzeugt werden musste, weil dieser
Tag ein wunderschöner grauer Wintertag war, der Himmel voller Wolken und windstill. Es herrschte eine typische Inversionswetterlage, und diese Inversionswetterlage hatten wir in den letzten sechs Wochen leider
permanent. Das zeigt, dass wir nach wie vor einen vernünftigen Kraftwerkspark brauchen, der in dem Moment
anspringt,
({10})
in dem keine erneuerbare Energie produziert wird. Die
einzige grundlastfähige erneuerbare Energie, die es überhaupt gibt, ist die Biomasse. Alles andere ist nicht machbar.
Und machen wir uns bitte auch nichts vor: Wir können noch so viel darüber reden, aber in diesem Land haben wir keine Speicherkapazitäten. Eine Ausnahme sind
die paar Stauseen, die wir haben, und die wenigen Möglichkeiten, mit Hochdruckwasserspeichern zu arbeiten.
Ich würde Ihnen in diesem Zusammenhang einmal raten,
nach Baden-Württemberg zu fahren; dort tragen Sie Regierungsverantwortung. Fahren Sie doch einmal in den
Hotzenwald, und schauen Sie sich an, was Ihre Kollegen
dort machen.
({11})
Ihre Kollegen verhindern dort seit langer Zeit den Bau
eines großen Pumpspeicherwerkes, das uns bei der Sicherstellung der Versorgung helfen könnte.
({12})
- Das ist doch Ihre Gegend. Das müssten Sie eigentlich
am besten wissen.
Dann sage ich Ihnen auch: Wir müssen beim Netzausbau genau so weitermachen. Wer den Netzausbau will,
der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bundesländern umgesetzt wird: Der muss für die Thüringer Strombrücke sorgen.
({13})
Der muss auch in allen anderen Bereichen dafür sorgen,
dass es vorangeht. Das sollten wir schon gemeinsam tun.
Herr Kollege Fuchs, darf Ihnen der Kollege Krischer
eine Frage stellen?
Aber selbstverständlich.
({0})
Herr Fuchs, Sie haben gerade über Pumpspeicherkraftwerke gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die
Firma Trianel ein Pumpspeicherkraftwerk in der Eifel
plant, Ihre Parteifreunde aber nicht bereit sind, ein ergebnisoffenes Genehmigungsverfahren zuzulassen, Ihre
Bürgermeister und Landräte den Bau dieses Pumpspeicherkraftwerks verhindern, ein Mitglied dieser Bundesregierung, in dessen Wahlkreis das geplante Pumpspeicherkraftwerk liegt, nicht bereit ist, einen Aufruf zu
unterzeichnen, wenigstens ein ergebnisoffenes Genehmigungsverfahren zuzulassen, weil man sich dem Populismus vor Ort anheimgibt und sich nicht traut, das
Kreuz gerade zu machen, um diese wichtige Maßnahme
für die Energiewende zu realisieren?
({0})
Ich frage Sie: Ist Ihnen das bekannt?
Ich weiß, dass dieses Pumpspeicherkraftwerk geplant
wird. Wir warten jetzt als Allererstes eine vernünftige
Planung ab, die mit Ihrer Landesregierung erst einmal
abzustimmen ist.
({0})
- Herr Krischer, jetzt hören Sie bitte genauso zu, wie ich
Ihnen staunend zugehört habe. - Ihre Landesregierung in
Rheinland-Pfalz hat beschlossen, autark zu werden.
({1})
Eben wurde gesagt: Das wollen wir gar nicht. Wir wollen nicht 16 verschiedene Energieversorgungen. Im entsprechenden Koalitionsvertrag steht - ich empfehle Ihnen das Lesen dieses Koalitionsvertrages -,
({2})
dass bis zum Jahre 2030 Rheinland-Pfalz autark sein
soll, und zwar mit einer Stromversorgung ausschließlich
aus erneuerbaren Energien. Gleichzeitig soll RheinlandPfalz bei ausschließlicher Versorgung mit erneuerbaren
Energien auch noch zum Stromexporteur werden.
({3})
Wir haben in Rheinland-Pfalz keine Möglichkeit, Energie
sinnvoll zu speichern. Das Trianel-Projekt wird dieses
Problem nie lösen.
({4})
Verspargelung der Landschaft, Zerstörung von Landschaftsschutzgebieten - all das verursachen Sie.
({5})
Es wird höchste Zeit, dass wir gemeinsam in diesem
Hohen Hause bereit sind, den Leitungsausbau stärker zu
unterstützen. Wir haben dazu jetzt die nötigen Gesetze.
Wir haben über den Netzentwicklungsplan entsprechende Möglichkeiten geschaffen. Wir haben auch eine
ganze Reihe von anderen Maßnahmen ergriffen. Gott sei
Dank haben wir beschlossen, dass es - Herr Bundesminister Rösler hat es eben gesagt - nur noch eine einzügige Gerichtsbarkeit gibt. Das ist notwendig, damit wir
überhaupt so schnell wie möglich die Netze ausbauen.
({6})
Wenn wir das nicht tun, dann funktioniert die ganze
Energiewende nicht; denn was nützen uns die schönsten
Offshorewindanlagen, wenn der Strom nicht dahin
kommt, wo er gebraucht wird? Also, sorgen Sie an allererster Stelle in den Bundesländern, in denen Sie Verantwortung tragen, dafür, dass auch dort der Netzausbau so
schnell wie möglich umgesetzt wird.
({7})
Ich sage Ihnen eines: Es ist völlig richtig, dass die
Bundeskanzlerin in diesem Zusammenhang die Ministerpräsidenten eingeladen hat. Diese haben genauso viel
Verantwortung dafür zu tragen, dass die Energiewende
funktioniert. Sie funktioniert nur dann, wenn das gemeinsam geschieht, und zwar in allen Bereichen dieses
Landes. Wenn nicht jeder an seiner Stelle seine Arbeit
macht - ich habe das Gefühl, Sie glauben, wir könnten
das hier alleine machen, ohne dass die Bundesländer
mithelfen -,
({8})
dann funktioniert das nicht. Eine solche Aufgabenteilung kann in unserem Land einfach nicht funktionieren.
Meine Damen und Herren, es wird Zeit, dass die Bundesländer das begreifen und ihre Blockadehaltung im
Bundesrat aufgeben.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dietmar
Bartsch nun das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
freue ich mich, Herr Fuchs, dass Sie die Genossen der
KP so freundlich begrüßt haben. Das ist wirklich sehr
nett. Ich will mich dem ausdrücklich anschließen.
({0})
Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zu Herrn
Rösler. Herr Rösler, ich glaube, Sie waren noch zu sehr
im Parteitagsmodus der FDP. Sie haben auf Ihrem Parteitag die schöne Geschichte von Brüderle und Schwesterchen erzählt, die im Märchen sehr gut ausgeht. So wie
Sie allerdings an die Energiewende herangehen, wird
dieses Märchen leider nicht gut ausgehen. Sie regieren
seit vier Jahren. Wer sich die Ergebnisse anschaut, das,
was Sie gerade auch bei dem heutigen Thema vorzulegen haben, sieht, dass das wirklich mehr als dürftig ist.
Sie haben insgesamt dazu beigetragen, dass es bei den
Menschen und Unternehmen in diesem Land Verunsicherung gibt.
Es wundert mich schon sehr, dass Herr Fuchs auf einmal als Kämpfer für den Atomausstieg dasteht.
({1})
Ich habe das ein bisschen anders in Erinnerung: Da gab
es ein „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“.
All das ist schon sehr eigenartig.
Was wir heute in erster Lesung behandeln, hat mit einem verantwortungsbewussten Beitrag zur Energiewende sehr wenig zu tun. Man fragt sich sowieso immer:
Ist das die Bundesregierung? Ich habe gerade gehört,
dass Herr Altmaier und Herr Rösler gar nicht mehr zusammen in den Umweltausschuss gehen, weil sie sich
dort wahrscheinlich beharken würden. Das ist also wirklich sehr wenig Bundesregierung.
Im Kern handelt es sich schlicht und ergreifend um
einen Gesetzentwurf, durch den die Profite der Energiemonopolisten und die Profite der Netzbetreiber weiter
abgesichert werden sollen. Denen ist es im Übrigen völlig egal, welcher ökologische und welcher soziale Preis
für welche Energie bezahlt werden muss, die transportiert wird. Versorgungssicherheit übersetzt SchwarzGelb letztlich mit Profitsicherheit.
({2})
Natürlich wissen auch wir: Energietransport braucht
moderne Netze. Da muss etwas geschehen. Aber wer die
Energiewende wirklich will, der muss dafür einen Plan
haben, auch was die Netze betrifft. Dabei muss das
Thema Energieverbrauchssenkung natürlich eine wichtige Rolle spielen. Dann kommt man aber im Ergebnis
zu der Erkenntnis, so viel Netz wie nötig, und nicht, so
viel Netz wie möglich.
({3})
In dem Gesetzentwurf geht es um Rechtswegeverkürzung und die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Das alles ist durchaus sinnvoll, aber
löst letztlich kein grundsätzliches Problem. Die Bundesregierung hat eben keinen Plan, was die Energiewende
betrifft.
Sie reden hier davon, dass man sich mit den 16 Ländern ins Benehmen setzen muss. Aber es geht natürlich
nicht, dass die Bundesregierung ansagt und die Länder
zu folgen haben. Warum haben Sie eigentlich nicht die
Bundesratsstellungnahme vom Februar bei Ihrem Gesetzentwurf in irgendeiner Weise beachtet? Es gab auch
eine Stellungnahme auf Initiative des Bundeslandes der
Bundeskanzlerin, das zufälligerweise auch meines ist,
nämlich Mecklenburg-Vorpommern. Ist es Ignoranz oder
handwerkliche Schluderei, dass Sie das einfach nicht beachten? Es darf nicht heißen: „Die Bundesregierung sagt
an, und die Länder haben zu machen“, sondern das muss
gemeinsam umgesetzt werden. Sie müssen sich von diesem hohen Ross herunterbegeben.
({4})
Mit diesem Gesetzentwurf lassen sich die schweren
politischen Fehler bei der Planung und Durchsetzung der
Energiewendepolitik nicht korrigieren. So stärkt man
nicht das dringend notwendige Vertrauen in die Energiewende, und man organisiert sich auch keine Unterstützung bei der Bevölkerung. Es gibt eher eine ganz große
Verunsicherung.
Die wahren Innovationsfeinde sitzen auf der Regierungsbank. Was ist denn innovativ daran, eines der größten Zukunftsprojekte in Deutschland, den Umbau der
Stromerzeugung, zwar politisch auszurufen, aber dann
einfach zu hoffen, dass die notwendige Infrastruktur sich
quasi von alleine plant und baut? Was ist innovativ daran, den großen Energiekonzernen in weiten Teilen diese
Planung zu überlassen, die schon betriebswirtschaftlich
keinen Grund sehen, die alten Kraftwerke der Konkurrenz regenerativer Energien auszusetzen? Was ist innovativ daran, die Netzplanung an den Bedürfnissen dieser
Konzerne und ihrer Lobbygruppen auszurichten, obwohl
technisch eine dezentralere Stromerzeugung in effektiven
Einheiten vor Ort, bürgernah, kostengünstig und flächendeckend möglich ist?
({5})
Sie haben auch über Bürgerbeteiligung und Bürgerinteressen geredet. Ich habe einmal nachgelesen, was in
Ihrem Gesetzentwurf zu Ziel und Problemstellung steht.
Das kommt bei Ihnen überhaupt nicht vor.
Was das Thema Bezahlbarkeit angeht, will ich auf eines aufmerksam machen: Auf Seite 16 ist von einem
„Anstieg der Netzentgelte auf Übertragungsnetzebene
und damit auch der Strompreise“ die Rede. Das ist offensichtlich ehrlich. Sie gehen davon aus, dass die Strompreise steigen. Das ist letztlich ein Offenbarungseid in
Ihrem eigenen Gesetzentwurf, dass Sie hier nichts tun
wollen und die Bürgerinnen und Bürger diejenigen sein
sollen, die letztlich die Energiewende bezahlen. Das
kann nicht sein.
({6})
Ich will auf eines hinweisen: Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass es eine unabhängige Netzgesellschaft geben soll. Das ist ein vernünftiger
Ansatz. Das will die Linke auch. Wir wollen eine in öffentlicher Hand befindliche Netzgesellschaft.
({7})
Was ist in den vier Jahren passiert? Gar nichts ist passiert. Sie haben nichts in diese Richtung gemacht. Darum ist das, was sowohl SPD als auch Grüne vorschlagen, durchaus vernünftig. Wir wollen, dass alles, was
öffentliche Daseinsvorsorge betrifft, in öffentlicher Hand
ist. Das betrifft nicht nur die Bereiche Wohnen, Gesundheit und Bildung, sondern auch die Energienetze. Das
schreiben Sie zwar in Ihrem Koalitionsvertrag, aber Sie
brechen ihn ein weiteres Mal.
Die Energiewendepolitik muss letztlich vom Kopf auf
die Füße gestellt werden. Die Frage ist: Wollen wir dezentrale Energieversorgung in Bürgerhand, oder erhalten
wir die Macht der großen Vier? Es geht dabei nicht an,
zu sagen: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen die Energiewende bezahlen. Es muss vielmehr darum gehen, zu
rekommunalisieren und auch die Neuvergabe von Netzkonzessionen durchzusetzen sowie vieles andere mehr.
Deswegen sage ich ganz klar und eindeutig: Die
Energiewende ist bei dieser Koalition in schlechten Händen und in falschen Händen. Statt einer Politik, mit der
Vertrauen zurückgewonnen werden kann,
({8})
betreiben Sie eine Politik, der alles zuzutrauen ist. Statt
den Menschen Sicherheit zu geben, dass sie morgen
noch Strom, Wasser und Gas bezahlen können, sorgen
Sie sich um die Profite der Energiemonopolisten und der
Netzbetreiber. Diese Politik, meine Damen und Herren,
muss im Herbst abgewählt werden.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Breil für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Latte liegt hoch.
({0})
Aber ich habe viel Sport in meinem Leben gemacht. Ich
bemühe mich immer, auch die Höhen zu erreichen.
Herr Dr. Bartsch, eine Bemerkung vorab: Die Energiewende ist bei dieser christlich-liberalen Koalition in
guten Händen. Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich.
({1})
„Ja zum Netzausbau. Damit die Energiewende gelingt.“ Das ist der Titel, unter dem die Bundesregierung
mit ihrer Informationsinitiative den Bürgerinnen und
Bürgern bundesweit die Dringlichkeit des Netzausbaus
in Deutschland näherbringt; denn nur mit neuen Stromleitungen können wir erneuerbare Energien überall
nutzen. Doch diese Kampagne in Zeitungen sowie an
Hauswänden und Bushaltestellen ist nur das Sichtbare,
sozusagen das, was nach außen passiert. Tatsächlich aber
haben die Bundesregierung sowie die christlich-liberale
Koalition schon eine ganze Reihe von Gesetzen für den
schnelleren Ausbau unserer Stromautobahnen beschlossen und damit zur Erreichung des Zieldreiecks Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit beigetragen.
Gestatten Sie mir einen kleinen Exkurs. Einige von
uns haben gestern an der Veranstaltung der AmCham,
der amerikanischen Handelskammer, teilgenommen.
Dort hat der CEO einer europäischen Tochtergesellschaft eines großen amerikanischen Grundstoffproduzenten der Chemieindustrie ausgeführt, welche Investitionen die Unternehmen für die Zukunft planen. Wenn
wir nicht darauf achten, dass die Energiepreise in
Deutschland bezahlbar bleiben, dann gehen an uns mittelfristig und langfristig wichtige Investitionen vorbei.
Deshalb muss das EEG dringend reformiert werden.
({2})
Zurück zu den Netzen. Wir sind mit dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz einen großen Schritt hin zu
kompakteren Planungs- und Genehmigungsverfahren
gegangen. Meine Damen und Herren von der Opposition, Rot-Grün hat zwar das EEG auf den Weg gebracht,
aber die spätere Entfaltung völlig unterschätzt und für
den Netzausbau nichts getan.
({3})
Das holen wir nun nach. Erst wir haben im Energiewirtschaftsgesetz ein neues, strukturiertes und nachvollziehbares Verfahren zur Planung des Netzausbaubedarfs
eingeführt. Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes über
Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze, über das wir heute in erster Lesung beraten, ist Teil davon. Insgesamt öffnen wir den Prozess der
Netzplanung durch zahlreiche Beteiligungsmöglichkeiten einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist unser
oberster Grundsatz.
Auf Grundlage der angesprochenen Gesetze haben
die vier Übertragungsnetzbetreiber schon Mitte des letzten Jahres den Netzausbaubedarf errechnet. Die Ergebnisse haben scheinbar reflexartig zu viel Kritik aus den
Reihen der Opposition geführt.
({4})
An dieser Stelle sei mir noch ein deutlicher Hinweis
in Richtung Opposition erlaubt: Aus Ihren Reihen sprechen noch immer ein paar Unbelehrbare im Energiebereich von Konzernen, auch bei den Übertragungsnetzbetreibern, und sie suggerieren damit der Öffentlichkeit,
dass diese Unternehmen nur daran interessiert seien,
Atom- und Kohlestrom zu transportieren, und dass sie
nur dafür so viele Netze und Leitungen bräuchten.
({5})
Zu den Fakten: Das Übertragungsnetz mit 50 Hertz
gehört zu 40 Prozent dem australischen Infrastrukturfonds IFM; 60 Prozent gehören einem niederländischen
Netzbetreiber. Das Übertragungsnetz von Amprion gehört unter der Führung der Commerzbank mehreren Unternehmen aus der Versicherungsbranche. Das Übertragungsnetz von TenneT gehört der deutschen Tochter
eines niederländischen Staatsunternehmens. Das Übertragungsnetz von TransnetBW ist eine 100-prozentige
Tochter von EnBW, dessen Hauptanteilseigner das rotgrün geführte Baden-Württemberg ist.
Meine Damen und Herren von der Opposition, sind
das für Sie nicht Hinweise genug, dass dort in den Unternehmen keine Lobbyisten alter Energiestrukturen mehr
sitzen und Sie mit Ihrem notorischen Misstrauen gegenüber Unternehmen vollkommen falsch liegen?
({6})
Oder machen Sie das ebenso mit Absicht wie Claudia
Roth, die der Öffentlichkeit am Montag weismachen
wollte, dass 16 000 Menschen an den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima starben?
({7})
Frau Roth, Sie haben damit in den sozialen Netzwerken
nicht nur einen Shitstorm - Frau Präsidentin, Sie erlauben mir bitte diesen Ausdruck -, sondern einen Tsunami
ausgelöst.
({8})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Argument, dass die Übertragungsnetzbetreiber absichtlich
den Netzbedarf zu hoch veranschlagen, um die Energiewende teuer zu machen, ist ein Musterbeispiel für Ihren
systematischen Populismus.
({9})
Es geht um Baurecht. Baurecht ist Ländersache, und Ihre
Freunde in den Landesregierungen sind dringend aufgerufen, konstruktiv hier mitzuwirken, dass es schneller
geht.
({10})
Ich möchte auf den Ablauf des jetzt etablierten strukturierten Verfahrens zum Netzausbau zurückkommen. Der
von den Übertragungsnetzbetreibern berechnete Netzausbaubedarf wurde der Öffentlichkeit vorgestellt. Mehr als
2 100 Akteure nahmen zum NEP 2012 ausführlich Stellung. Dann überprüfte die Bundesnetzagentur gemeinsam
mit Wissenschaftlern die Plausibilität der Ergebnisse und
lud zu weiteren Konsultationen. Insgesamt kamen bei
dem Konsultationsverfahren weit über 5 000 Stellungnahmen zusammen; diese wurden ausgewertet. Letztes
Jahr, Ende November, lag der Netzentwicklungsplan
2012, kurz: NEP 2012, vor. Er wurde der Bundesregierung als Entwurf für einen Bundesbedarfsplan präsentiert.
Als Vorhaben des Bundesbedarfsplans definieren wir
in dem heute zu beratenden Gesetzentwurf solche Vorhaben, für die die energiewirtschaftliche Notwendigkeit
und der vordringliche Bedarf bestehen. Wir verkürzen
außerdem im Interesse der zügigen Umsetzung des Energiekonzepts der Bundesregierung
({11})
mit dem heute zu beratenden Gesetz zur Beschleunigung
der Realisierung der Vorhaben den Rechtsweg, ohne die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu beschneiden. Dabei wird die Transparenz des Verfahrens natürlich vollständig beibehalten. Das Bundesverwaltungsgericht
wird zukünftig als erste und letzte Instanz für Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf Vorhaben des Bundesbedarfsplans zuständig sein.
Meine Damen und Herren, mit dem Bundesbedarfsplangesetz gehen wir den letzten legislativen Schritt für
einen strukturierten, schnellen und vor allem kontinuierlichen Netzausbau mit umfassender Bürgerbeteiligung;
ich wiederhole: im Interesse der zügigen Umsetzung des
Energiekonzepts der Bundesregierung.
({12})
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - „Kontinuierlich“ sage ich
deswegen, da gerade erst Anfang März der Entwurf für
den NEP 2013 sowie der Offshorenetzentwicklungsplan,
der sogenannte ONEP, von den Übertragungsnetzbetreibern vorgelegt wurde.
Vielen Dank.
({0})
Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben eben ein seltsames Schauspiel erlebt. Diese
Regierung hat wie keine andere Regierung zuvor Planungsunsicherheit geschaffen.
({0})
Denn Sie sind dafür verantwortlich: rein in die Atomkraft, raus aus der Atomkraft. Die Laufzeitverlängerung
war eine absolute Fehlentscheidung, was die Energiewende angeht.
Diese Bundesregierung gefährdet in unserem Land
Arbeitsplätze im Bereich der Energiewende, die Riesenchancen bietet. Schwarz-Gelb vergeigt die Energiewende. Schwarz-Gelb gefährdet Arbeitsplätze in diesem
Land. Herr Rösler, das haben Sie mit dieser Rede nicht
wiedergutmachen können. Sie haben gezeigt, dass Sie es
nicht können. Das wissen wir nun.
({1})
Sie haben einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung
des Netzausbaus vorgelegt. In der Funktion als Wirtschaftsminister sind Sie zwar noch nicht so lange im
Amt. Aber der neue Spitzenkandidat der FDP war zuvor
für das Wirtschaftsministerium verantwortlich.
Im Koalitionsvertrag haben Sie festgeschrieben, dass
der Netzausbau eine wichtige Sache ist. Herr Brüderle
hat gesagt, das habe höchste Priorität. Herr Rösler, Sie
haben versprochen, dass Sie liefern wollen. Was haben
Sie aber geliefert? Sie selbst sagen, 2 900 Kilometer
Netz müssten ertüchtigt werden, 2 800 Kilometer müssten neu gebaut werden. Sie haben aber noch nicht einmal
300 Kilometer geschafft. Sie haben nicht nur nicht geliefert; Sie haben auch noch Schrott geliefert, Herr Rösler.
An diesen Fakten und an nicht mehr und nicht weniger
werden Sie gemessen.
({2})
Was Sie abgeliefert haben, führt zu einem dramatischen Debakel. Die Windparks sind bis heute nicht angeschlossen. Das hat gravierende Folgen. Denn dadurch
werden Haftungskosten fällig. Was machen Sie aber?
Anstatt das Problem zu lösen, wälzen Sie diese Haftungskosten, die tendenziell steigen, auf die Bevölkerung ab. Damit sind Sie verantwortlich für Energiepreissteigerungen, die die Bevölkerung treffen, Herr Rösler.
Sie haben die Strompreise für die Bevölkerung nach
oben getrieben, weil Sie keine richtige Politik betreiben
und weil Sie nicht dafür sorgen, dass die Windkraftanlagen angeschlossen werden können.
({3})
Wenn Sie etwas machen, dann machen Sie das Falsche. Schauen wir uns einmal das Erneuerbare-EnergienGesetz an. Hierzu hat der Kollege Altmaier einen Vorschlag vorgelegt. Er hat gesagt, dass wir etwas ändern
müssen, weil die Kosten zu hoch sind. Herr Rösler, in einem Vermerk aus Ihrem Ministerium steht zu den vorgeschlagenen Änderungen von Herrn Altmaier: Das bedeutet den faktischen Ausbaustopp für Neuanlagen. - Damit
hat Ihr Ministerium recht. Anstatt das abzumildern, weil
Sie eigentlich erneuerbare Energien fördern müssten, legen Sie noch einen drauf, machen noch mehr Ausbaustopp und sagen, dass das ein Weg ist, mit dem Sie einverstanden sind.
Herr Fuchs hat sich vorhin versprochen. Es ist nett,
dass Sie hin und wieder ehrlich sind, Herr Fuchs. Sie haben sich gegen eine Verspargelung der Landschaft ausgesprochen. Das ist aber genau die Wirkung der Vorschläge, die hier gemacht worden sind. Bei der
Windkraft sollen 40 Millionen Euro eingespart werden.
Das sind gerade einmal 3 Cent pro Monat für einen Dreibis Vierpersonenhaushalt. Wegen 40 Millionen Euro im
Jahr wollen Altmaier und Rösler die Windkraft im Süden stoppen. Damit gefährdet diese Regierung massiv
Arbeitsplätze im Süden. Das ist nicht in Ordnung.
({4})
Das nächste Opfer sind die Windkraftanlagen auf dem
Meer. Diese geplanten Windkraftanlagen werden nicht
gebaut werden. EnBW beispielsweise hat klar gesagt,
die geplanten Windkraftprojekte im Meer nicht umzusetzen.
Zunächst einmal haben Sie mit dem ErneuerbareEnergien-Gesetz die Photovoltaikindustrie kaputtgemacht. Jetzt versuchen Sie auch noch, die Windkraftindustrie kaputtzumachen. Herr Rösler, das ist ein schlechtes Zeugnis für einen Wirtschaftsminister. Ich komme
aus Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie die Windkraft kaputtmachen, zerstören Sie Arbeitsplätze in NordrheinWestfalen. Das wissen Sie sehr genau. Daher lassen Sie
endlich von der Politik ab, Arbeitsplätze in diesem Land
zu vernichten! Das ist nicht die Aufgabe des Wirtschaftsministers.
({5})
Sie feiern einen Bundesnetzplan. Dann verhindern
Sie, dass Windparks, die an diese Netze angeschlossen
werden sollen, gebaut werden können. Das heißt, es werden Netze ins Nirgendwo gebaut, und am Ende zahlen
wieder die Verbraucherinnen und Verbraucher die Zeche. So geht es nicht.
Der nächste Punkt betrifft die Energieeffizienz. Diese
Bundesregierung ist der größte Blockierer, was Energieeffizienz angeht.
({6})
Nie zuvor sind die Ziele der EU so blockiert worden, wie
es diese Bundesregierung macht.
({7})
Sie haben die Einführung von Energiemanagementsystemen verhindert. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass die
wenigen Gelder, die wir noch im Energie- und Klimafonds haben - 90 Millionen Euro -, nicht in den Bereich
Energieeffizienz abfließen, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Am Ende sagen Sie: Okay, wir reißen das Ziel der EU, bis 2020 20 Prozent Energie einzusparen. Wir machen es wie beim Reichtums- und
Armutsbericht und schönen die Zahlen; dann wird das
Ganze schon hinkommen. - Wir werden Ihnen nicht
durchgehen lassen, dass Sie die Realität schönen, sondern werden Sie für diese Realität verantwortlich machen.
({8})
Der nächste Punkt ist der Klimaschutz. Da ist es wirklich so, dass diese Bundesregierung an einem Strick
zieht, aber jeder an einem anderen Ende. Da kommt
nichts voran. Die Folge dessen ist, dass der CO2-Ausstoß
in Deutschland 2012 - nicht 2011, als die Atomkraftwerke abgeschaltet worden sind - wegen des wenig ambitionierten Klimaschutzes erstmals wieder gestiegen ist.
Jetzt laufen Kohlekraftwerke, und die modernsten Gaskraftwerke liegen still.
({9})
Das ist eine Fehlpolitik Ihrer Regierung. Sie haben zu
verantworten, dass im Klimaschutz nichts mehr passiert.
({10})
Sie bremsen den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Sie blockieren die Steigerung der Energieeffizienz. Sie
betreiben beim Klimaschutz eine Totalverweigerung. Sie
entlasten die Industrie und schieben damit den Verbrauchern die Kosten zu.
Es gibt einen Satz - wir konnten ihn vor kurzem hören -, der Ihre Politik insgesamt beschreibt. Der Kollege
Brüderle hat auf dem Parteitag gesagt - das passt, wie
ich finde, genau auf die Politik dieser Bundesregierung
und der FDP -: „Wir lassen nicht diese Fuzzis … unser
Land regieren.“ Genau richtig: Diese Fuzzis, die die
Energiewende vergeigen, lassen wir dieses Land nicht
regieren, meine Damen und Herren.
Frau Höhn.
Wir ändern das.
({0})
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich
habe mir gerade überlegt, was denn draußen in der geschätzten Öffentlichkeit gedacht wird, wenn wir uns hier
gegenseitig die Schuld zuweisen. Ich bin auch dafür bekannt, dass ich mich ganz gern in die eine oder andere
politische Rauferei einmische und dies auch mit großer
Freude und Leidenschaft tue. Aber das, was wir hier tun,
nämlich weit weg von Lösungen zu diskutieren, ist etwas, das draußen sicher irritiert. Wenn es dann irgendwann abstrus wird, dann wird es, glaube ich, noch
schlimmer.
Frau Höhn, Sie sprechen hier von „Arbeitsplatzvernichtung“.
({0})
Ich will betonen: Am Ende Ihrer Regierungszeit hatten
wir 5,5 Millionen Arbeitslose, jetzt annähernd die
Hälfte.
({1})
Man muss doch einmal sagen, wie da die Welt aussieht.
Man kann uns viel vorhalten. Aber uns und dem Wirtschaftsminister vorzuhalten, wir würden „Arbeitsplatzvernichtung“ betreiben,
({2})
verkennt doch die Tatsachen und ist so weit weg von der
Realität, dass einem gar nichts einfällt, was man dazu sagen soll.
({3})
Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren,
dass wir bei allem Wahlkampfgeplänkel einfach mal
feststellen - das ist das Einfachste -: Dieses Projekt ist
nicht trivial; es ist ein schwieriges Projekt, wenn man so
will, ein Generationenprojekt.
Ein Beispiel, das Sie gebracht haben, eignet sich ganz
gut, um dies aufzuzeigen: die Offshoreanbindung. Sie
machen es sich leicht und sagen: Ihr habt da um die
Frage der Haftung und was auch immer gerungen. Sie
sagen weiter, angeblich sei es schiefgegangen - ich bestreite das -, und jetzt müsse man teuer dafür zahlen,
dass es einen Verzug bei der Anbindung der Offshoreparks gibt. Die Realität sieht momentan aber ganz anders
aus. Ich empfehle Ihnen: Sprechen Sie mit den Akteuren!
Aktuell gibt es folgende Situation: Wir bauen Leitungen, aber die anderen Akteure kommen ihrem Versprechen, Windräder aufzustellen, nicht nach, weil sie nicht
über die entsprechenden Kapazitäten verfügen. Wir werden also in Zukunft Plattformen im Meer haben, aber
keine Windräder darauf. Ich sage das deshalb, meine Damen und Herren, weil ich zeigen will, dass die Realität
viel komplizierter ist als die einfache, platte Diskussion,
die wir leider Gottes hier im Deutschen Bundestag führen.
Ich weise auch darauf hin, dass wir immer gesagt haben: Das Ganze wird nicht nur kompliziert, sondern
auch teuer. - Ich gebe für meinen Teil offen zu, dass ich
damals für die Laufzeitverlängerung war, weil ich der
festen Überzeugung war: Wir brauchen die Laufzeitverlängerung, weil wir Zeit und Geld für den Ausbau der erneuerbaren Energien benötigen. Nun hat Fukushima die
Sachlage geändert. Man war dann an dem Punkt, dass
man demokratisch entscheiden musste: Wir schlagen einen anderen Weg ein. - Das war eine demokratische Entscheidung. Die hat aber doch an unserer Motivation, uns
mit dem Kostenthema zu beschäftigen, nichts geändert.
Mir tut es heute noch in der Seele weh, dass man sich
hier teilweise als Atomkraftlobbyist beschimpfen lassen
musste. Das ärgert mich, das sage ich Ihnen ganz offen.
Uns ist es immer um die Wirtschaft gegangen, also um
die Frage: Wie finanzieren wir denn das Ganze?
Natürlich fallen auch mir massenweise Vorwürfe ein.
Ich könnte sagen: Sie - die Grünen als Erste - haben so
getan, als ginge das alles zum Nulltarif. Ich nehme an,
dass viele von Ihnen alte Club-of-Rome-Vorhersagen im
Kopf hatten, die besagten, dass die fossilen Brennstoffe
einmal so teuer würden, dass die erneuerbaren Energien
wettbewerbsfähig sind. Ich könnte auch sagen: Sie haben den Sprengsatz an das EEG dadurch gelegt, dass Sie
mit der Photovoltaik zu früh und zu teuer an den Markt
gegangen sind, was jetzt riesige Kosten verursacht, die
wir als Rucksack mit uns herumschleppen.
({4})
Aber das ist Schnee von gestern. Wir müssen uns
doch jetzt damit beschäftigen, wie die ganze Geschichte
weitergehen kann. Ich sage Ihnen auch: Man kann inhaltlich zu der Strompreisbremse von Peter Altmaier und
Herrn Rösler stehen, wie man will.
({5})
Aber zumindest sind doch auf Ihrer Seite ein paar Kollegen aufgewacht.
({6})
Die SPD hat plötzlich gemerkt: Es geht um ein soziales
Problem. Herr Gabriel hat zu meiner großen Überraschung und Freude jetzt angesprochen, dass es auch um
ein industriepolitisches Problem geht. Klar! Aber, Herr
Gabriel, Sie haben es zugelassen, dass der Herr Trittin
durch die Lande zieht und sagt - teilweise mit verlogenen Argumenten -, wir hätten da ungerechtfertigte Befreiungen ausgesprochen und würden die Industrie begünstigen.
({7})
Ich bitte Sie dringend, dieses industriepolitische Thema
auch einmal bei den Grünen zu verankern.
({8})
Sie haben heute hier eine Lösung angeboten: die
Mehrwertsteuer auf die EEG-Umlage abzuschaffen.
({9})
- So habe ich es verstanden. Sie haben gesagt: Reden
wir an der Stelle über die Mehrwertsteuer.
({10})
- Doch.
({11})
Sie haben an der Stelle klipp und klar von der Mehrwertsteuer gesprochen.
({12})
Das ist ein Punkt, bei dem ich mich frage, wie die Länder darauf reagieren werden.
({13})
Sie kassieren nämlich knapp die Hälfte der Einnahmen
aus der Mehrwertsteuer.
({14})
Auch wenn man sie, was noch europapolitisch ginge, auf
einen niedrigeren Satz reduzieren würde, weiß ich doch,
was die Länder am Schluss von dem halten, was Sie hier
predigen - das ist doch bei der Stromsteuer dieselbe
Thematik -: nämlich gar nichts. Der Kollege Fuchs hat
deutlich darauf hingewiesen, wie groß die Freude und
Spendabilität auf Ihrer Seite war, als es darum ging, bei
der Energieeffizienz Steuervorteile bzw. Steueranreize
zu schaffen. Da war bei Ihnen nichts zu holen.
({15})
Ich sage es Ihnen ganz offen: Das wird bei diesem
Thema wohl genauso sein.
({16})
Ich will jetzt nicht über die Strompreisbremse sprechen,
({17})
weil wir hier ja über Infrastruktur reden. Das ist nämlich
das, was jetzt auf der Tagesordnung steht. Ich will Ihnen
aber auch sagen: Wir vonseiten der CSU werden natürlich dafür sorgen, dass es keine Eingriffe in Bestandsanlagen geben wird, weil wir bei diesem Thema Verlässlichkeit brauchen. So viel kann man an der Stelle sagen.
({18})
Aber es ist ja ein Verhandlungsangebot des Ministers
gewesen, und über das muss man natürlich reden und
diskutieren. Das parlamentarische Verfahren ist so, wie
es ist.
Nun war Bayern hier mehrfach Thema, und ein CSUAbgeordneter vertritt natürlich zuallererst seine Heimat,
also Bayern.
({19})
Man kann natürlich sagen, dass es in Bayern immer einen gewissen Separatismus gibt. Das mag man vielleicht
so sehen wollen.
({20})
- Herr Gabriel, da fallen mir genügend Gründe ein, zum
Beispiel dass es den Bayern langsam stinkt, wenn sie
den Rest der Republik finanzieren müssen.
({21})
Aber dass man uns dann noch gewissermaßen juvenile
Autarkiefantasien unterstellt, das halte ich schon für eigentümlich.
({22})
Was hat denn der bayerische Ministerpräsident gesagt?
Er hat gesagt: Wir brauchen natürlich Wertschöpfung im
Land: im Bereich der erneuerbaren Energien, aber natürlich auch im Bereich der Gaskraftanlagen.
({23})
Das brauchen wir: Wertschöpfung im Land. Ich bitte,
zumindest wenn es um die erneuerbaren Energien geht,
diejenigen, die etwas davon verstehen, anzuerkennen,
dass wir einen gewissen regionalen Ausgleich brauchen.
Es macht doch keinen Sinn, im Norden die Stromproduktion zu konzentrieren und uns dann mühsam zu überlegen, wie man den Strom dorthin bringt, wo er gebraucht wird, nämlich im Süden. Das ist doch nicht das
eigentliche Anliegen.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Ich für meinen
Teil weiß aufgrund der Historie, dass Bayern diesen
wirtschaftlichen Aufstieg einer Entscheidung in den
1960er- und 1970er-Jahren verdankt.
({24})
- Dem Länderfinanzausgleich auch. Aber das, was wir
mal bekommen haben, zahlen wir jetzt zurück, und zwar
komplett, in einem Jahr.
({25})
Das Ganze ist der Tatsache geschuldet, dass kluge
Politik entschieden hat - übrigens hat dies auch die SPD
entschieden -, dass wir im Süden eine eigene Energieversorgung brauchen. Nun kann man darüber diskutieren, ob es damals richtig war, auf die Kernenergie zu setzen.
({26})
Das ist Schnee von gestern. Jetzt aber müssen wir Überlegungen zur Wertschöpfung vor Ort, also im Süden, anstellen und darüber, wie es uns gelingt, über die Netze
den Strom von Norden nach Süden zu transportieren.
Das ist doch eine zentrale Fragestellung. Sie zu behandeln, haben wir wenig Zeit; schließlich werden Grafenrheinfeld 2015 und Gundremmingen Block B 2017 abgeschaltet.
({27})
Wissen Sie, was das letztendlich bedeutet?
Herr Kollege, möchten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Kelber zulassen?
Ja, gern.
Bitte.
({0})
Wir reden ja über Versorgungssicherheit. Gerade in
dem Augenblick, als ich mich zu meiner Zwischenfrage
meldete, haben Sie Grafenrheinfeld erwähnt. Gestern bekamen wir aus Sachsen-Anhalt und Thüringen die Meldung, dass dort in 2012 die im Hinblick auf die Abschaltung von Grafenrheinfeld notwendige Verstärkung der
Netze abgeschlossen wurde. Können Sie mir die Frage
beantworten, warum man bei diesem in mehreren Bundesländern gleichzeitig begonnenen Projekt in zwei
Bundesländern bereits fertig ist, während in Bayern seitens der Bayerischen Staatsregierung noch nicht einmal
das Genehmigungsverfahren gestartet wurde?
Ich kann Ihnen an dieser Stelle keine Fragen für die
Bayerische Staatsregierung beantworten; das wissen Sie
genau.
({0})
Aber Sie können sich, was den Freistaat angeht, darauf verlassen, dass hier von den richtigen Leuten die
bayerischen Interessen so vertreten werden, dass dieses
Problem gelöst sein wird, bis wir den Strom aus dem
Norden brauchen. An uns wird das sicher nicht scheitern. Sie wissen sehr genau - da wird es kein Problem
geben -, dass wir in Bayern die Durchsetzungskraft haben, die Ihnen in anderen Ländern in großem Maße fehlt.
Ich kann mit Blick auf meine Redezeit leider nicht
mehr all das aufzählen, was für den Netzausbau gemacht
wurde.
({1})
- Ich muss es Ihnen auch nicht vorlesen, weil Sie es ja
wissen. Sie bestreiten vorsätzlich, es zu wissen. Sie tun
so, als ob wir da in Verzug wären, weil es Ihnen um
Wahlkampferfolge geht.
({2})
Dem Thema wird das nicht gerecht. Eigentlich müssten
Sie anerkennen, dass wir im Plan sind, dass wir Bauzeiten beschleunigen, dass wir Pläne vorantreiben und Abstimmungen vornehmen. Das Ganze geht letztendlich
voran. Eigentlich müssten Sie Respekt vor dieser Bundesregierung haben. Diesen Respekt werden Ihnen demnächst die Wähler wieder einflößen.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Der Kollege Rolf Hempelmann hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist schon länger klar, dass in dieser
Kernzeit ein energiepolitisches Thema, von der Opposition aufgesetzt, diskutiert werden soll. Vor einigen Tagen
erreichte uns die Nachricht, dass der Wirtschaftsminister
eine Regierungserklärung dazu abgeben will. Ich habe
das erst gar nicht glauben wollen und habe gedacht:
Mensch, hat er jetzt, nachdem der niedersächsische
CDU-Wähler ihm praktisch die Wiederwahl als FDPVorsitzender gesichert hat, die Kraft gewonnen, hier ein
umfassendes Geständnis abzulegen?
({0})
Es wäre ja an der Zeit, und er würde so eine Basis dafür
schaffen, dass es dann wirklich vorangehen kann. Aber
nein, er war wie immer: Vollmundig hat er behauptet,
dass a) alles das, was zurzeit tatsächlich falsch läuft, na-
türlich in der Verantwortung der Opposition liege und
dass b) ansonsten die Regierung voll auf Kurs und äußerst erfolgreich sei. Lieber Herr Rösler, vielleicht sollten Sie doch wenigstens einmal versuchen, die Realität
zur Kenntnis zu nehmen.
Ich war in der letzten Woche in Brüssel. An dem Tag,
als ich in Brüssel war, erklärte das OLG Düsseldorf Ihre
Netzentgeltverordnung für verfassungswidrig. Mit dieser Netzentgeltverordnung entlasten Sie nach Auffassung des Gerichtes einen Kreis von Unternehmen, der
diese Entlastung nicht verdient. Das OLG hat nicht
grundsätzlich Entlastungen kritisiert, sondern die Art
und Weise, wie Sie damit umgehen. Am gleichen Tag
hat in Brüssel die Europäische Kommission ein Verfahren gegen diese Netzentgeltverordnung aus den gleichen
Gründen eröffnet. Sie können doch niemandem vormachen, dass Sie eine erfolgreiche Politik für die deutsche
Industrie machen, wenn Sie mit Ihren Konzepten gegen
die Wand laufen. Sie laufen damit im Übrigen auch Gefahr, dass Sie dann, wenn das Hauptverfahren in der Sache offiziell eröffnet wird, überhaupt keine Entlastungen
mehr vornehmen dürfen.
({1})
Also, Herr Minister, ein bisschen mehr Selbstkritik ist
angesagt. Ihr Haus arbeitet übrigens schon an einer Novelle dieser Netzentgeltverordnung. Wenn diese in eine
Richtung geht, die von Düsseldorf und Brüssel eingefordert worden ist, dann werden wir einer Lösung nicht im
Wege stehen, um zu verhindern, dass gerade die Unternehmen, die zu Recht Entlastungen bekommen sollen,
nicht in die Verlegenheit kommen, ganz auf diese Entlastungen verzichten zu müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder betonen Sie und betont auch dieser Minister, Sie würden anpacken, Sie würden machen - im Gegensatz zu denen,
die vor Ihnen regierten. Die Institute sagen etwas anderes. McKinsey stellt fest: Wenn die Energiepolitik dieser
Bundesregierung so weitergeht, dann werden die Ziele
für 2020 beim Netzausbau, bei der Offshorewindenergie,
aber auch bei der Verringerung des Stromverbrauchs
nicht erreicht. - Das ist das Zeugnis eines unabhängigen
und renommierten Institutes. Das sollten Sie einmal zur
Kenntnis nehmen.
Auch andere Stimmen sind hier schon zitiert worden.
Herr Oettinger, den wir letzte Woche besucht haben,
sagt: Es gibt zu keinem wichtigen energiepolitischen
Thema eine abgestimmte Position dieser Bundesregierung. Es gibt immer mindestens zwei Positionen.
({2})
Damit kann aber weder er in Brüssel umgehen noch
kann Deutschland in irgendeiner Art und Weise auf
Brüsseler Entscheidungen Einfluss nehmen.
({3})
Sie sollten sich einmal überlegen, ob Sie nicht unseren Forderungen folgen, die da lauten: Wir brauchen
endlich eine Stimme. Wir brauchen endlich ein Energieministerium, zumindest aber jemanden, der den Hut auf
hat - möglicherweise im Kanzleramt - und dafür sorgt,
dass Deutschland in Fragen der Energiepolitik in Brüssel
mit einer Stimme vertreten ist. Dieser muss auch dafür
sorgen, dass das, was Sie gerade gefordert haben, gemacht wird, nämlich dass zwischen den Ressorts, aber
auch zwischen Bund und Ländern koordiniert wird. Sie
machen einfach einen Gipfel und meinen, die Sache sei
damit erledigt. Dann sagen Sie hier vollmundig, es kann
nicht sein, dass 17 energiepolitische Konzepte nebeneinander laufen. Verflixt noch einmal, dann machen Sie
Ihren Job! Koordinieren Sie, und sorgen Sie dafür, dass
es ein gemeinsames Konzept zwischen Bund und Ländern gibt! Bisher gibt es überhaupt kein Energiekonzept.
({4})
Bisher gibt es nur Ihr Konzept aus dem Jahr 2010. Das
ist aber ein Laufzeitverlängerungskonzept.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in unserer Regierungszeit den Netzausbau nicht vorangebracht, dann
sage ich Ihnen: Die großen Konzerne RWE und Eon sind
mittlerweile weiter als Sie. Diese haben begriffen, dass
sie im Jahr 2000 einen Fehler gemacht haben, als sie die
Wurst - Laufzeitverlängerung -, die Sie ihnen hingehalten haben, ergriffen haben, obwohl sie vorher Verträge
unterschrieben hatten und obwohl wir ein Gesetz zum
Atomausstieg und zum Ausbau der erneuerbaren Energien gemacht hatten. Diese Unternehmen wissen heute,
dass Ihr Angebot und die Tatsache, dass sie auf Ihr Angebot eingegangen sind, dafür gesorgt haben, dass wir
zehn Jahre verloren haben.
Zehn Jahre gab es keinen Systemumbau, weil die Akteure, die die Atomkraftwerke betrieben, damals auch
die Netze betrieben. Die Netze waren aber die Schlüsselstelle. Der Netzausbau wurde von ihnen nicht vorangetrieben, der Speicherausbau wurde nicht vorangetrieben
und auch nicht die Flexibilisierung der Nachfrage. Das
wäre geschehen, wenn sie das gemacht hätten, was sie
von der Politik sonst immer fordern, nämlich Rahmenbedingungen, die einmal von einer Bundesregierung mit
Einverständnis der Wirtschaft gesetzt worden sind, anzuerkennen und beizubehalten. Die Wirtschaft hat begriffen: Sie haben gegen Ihre eigenen Prinzipien verstoßen,
als Sie damals Ihren Vertrag aufgekündigt und sozusagen Volatilität in der Politik eingefordert hatten. Die hat
das begriffen, Sie hingegen immer noch nicht.
({5})
Sie haben es nicht begriffen und versuchen heute, denen einen Vorwurf zu machen, die schon damals die
richtige Politik gemacht haben: Atomausstieg und Ausbau der Erneuerbaren. Selbstverständlich war uns klar,
dass wir dann auch den Umbau des gesamten Systems
durchführen müssen. Das haben Sie damals verhindert,
und Sie verhindern das durch Ihre Untätigkeit auch jetzt.
Herr Kollege.
Ihr Vorwurf uns gegenüber ist durchschaubar. Die
Menschen lesen Zeitung. Sie wissen, wer alles gegen Sie
klagt. Sie wissen, welche Entschädigungszahlungen Sie
verursachen. Sie wissen, wie sehr Sie den Strom in
Deutschland mit Ihrer Politik verteuern. Sie wissen, dass
wir eine neuere, eine bessere Energiepolitik brauchen.
Vielen Dank.
({0})
Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Selbstverständlich sollten wir ein gemeinsames Ziel haben. Philipp Rösler hat eingangs darauf hingewiesen
- seitdem leider fast keiner mehr -, wie wichtig das
Thema bezahlbare, umweltverträgliche und vor allem sichere Energieversorgung ist.
Um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten,
benötigen wir logischerweise den Netzausbau. Frau
Höhn, uns ist es in den letzten Jahren gelungen, einen
Anteil erneuerbarer Energien von über 25 Prozent in den
Markt zu integrieren. Zu Ihrer Zeit wurden pro Jahr
800 Megawatt durch Photovoltaik erzeugt; in den letzten
drei Jahren, in denen wir die Verantwortung getragen haben, gab es Anlagen, die jeweils 7 000 bis 7 500 Megawatt erzeugen.
({1})
Daran erkennt man, wie weit bei Ihnen Wunsch und
Wirklichkeit auseinanderdriften und wie wenig Sie während der Zeit, als Sie Verantwortung getragen haben, für
den Ausbau der Erneuerbaren getan haben.
({2})
Jetzt beschweren Sie sich darüber, dass bei uns zu wenig
passiert. Daran sieht man schon, wie absurd das Ganze
ist.
Es ist eine Tatsache, dass das gemeinsame Ziel,
Atomkraftwerke abzuschalten, auch zu einer Umstellung
des Netzausbaus führt. Das sollte auch Ihnen klar sein.
Das ist keine neue Nachricht. Sie haben schon einmal einen Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen. Nur, leider
haben Sie im Gleichzug nichts für den weiteren Ausbau
der Netze getan.
({3})
Sie haben sich von Interessengruppen und Bürgerinitiativen feiern lassen. Jetzt lässt sich der Kollege Gabriel
von der Bürgerinitiative gegen die 380-kV-Leitung im
Werra-Meißner-Kreis feiern.
({4})
Auch der Kollege Trittin ist auf der Homepage dieser
Bürgerinitiative zu sehen. Sie präsentieren sich als stolze
Brüder, als Unterstützer der tollen Forderung, an neuralgischen Stellen keine Freileitungen zu verlegen. Auch
daran sieht man, dass Anspruch und Wirklichkeit extrem
auseinanderdriften.
({5})
Dass sich gerade die beiden Exumweltminister dafür
hergeben, ist höchst beschämend. Das ist das Allerletzte.
({6})
Wir haben in den Jahren 2000, 2002, 2005 wie auch
im Jahr 2013 die gleichen Ziele gehabt,
({7})
und Sie beschweren sich darüber, dass in den letzten drei
Jahren nichts passiert ist. Ich erkläre Ihnen jetzt einmal,
was in den letzten drei Jahren passiert ist. Schauen Sie
sich einfach mal an, was im Monitoringbericht der Bundesnetzagentur steht. Sie werden feststellen, dass zum
einen mehr gebaut worden ist, als Herr Gabriel behauptet hat. Wahrscheinlich hatte er alte Zahlen.15 Prozent
haben wir mittlerweile und nicht mehr 12 Prozent.
({8})
Zum anderen haben wir bei der Thüringer Strombrücke riesige Schwierigkeiten. Das ist das größte Problem.
Wir haben gerade darüber geredet. Herr Kelber hat leider
etwas Falsches gesagt. Auf Thüringer Seite sind 27 Kilometer nicht fertiggestellt. Sie können das im EnLAGBericht nachlesen. Es ist nicht so, dass es an Bayern
liegt, sondern es liegt an Thüringen, Herr Kelber. Man
baut von Norden nach Süden. Da im Norden noch 27 Kilometer fehlen, kann bei uns am Anschluss an Marktredwitz nicht weitergebaut werden. Sie schustern Sachverhalte zusammen, die nicht zusammengehören.
({9})
Auf der eben beschriebenen Stromtrasse hatten wir es
im letzten Jahr in 790 Stunden mit einer angespannten
Netzsituation zu tun. Wie sehen denn Ihre Vorschläge
aus, daran etwas zu ändern? In Mecklenburg-Vorpommern Richtung Polen gab es 280 Stunden Netzanspannungen, wo in der Vergangenheit alles relativ problemlos abgelaufen ist. Durch die Einspeisung von Strom aus
erneuerbaren Energien, vor allem aus Windenergie, entsteht ein extremes Problem, das wir in der Vergangenheit
leider nicht gelöst haben.
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen.
2005 - damals war noch Rot-Grün an der Regierung,
Gott sei Dank ist das lange her ({10})
richtete die FDP eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Wir haben gefragt, wie das mit dem Netzausbau
weitergehen soll. Ich lese Ihnen die Antwort vor, die das kann man sagen - wenigstens ehrlich war:
Die Bundesregierung besitzt keine eigenen Kompetenzen, um Einfluss auf die geplanten konkreten
Netzausbauvorhaben zu nehmen.
Das war Ihre Wahrheit. Sie haben gesagt: Wir haben
keinen Einfluss, wir als Bundesregierung können nichts
tun.
({11})
Das ist zwar erfrischend ehrlich, aber es zeigt natürlich
Ihre völlige Unfähigkeit.
({12})
Das zeigt, dass Sie nichts dafür getan haben, damit die
Kompetenzen an den Bund herangeführt werden.
({13})
Das ist im Jahr 2009 das erste Mal passiert. Die
Minister haben sich mit den Ländern zusammengesetzt,
um durch das EnLAG, das Energieleitungsausbaugesetz,
durch das NABEG, das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, und jetzt durch die Bedarfsplanung den Netzausbau
zu beschleunigen.
({14})
Nichts dergleichen gab es zu Ihrer Zeit. Trotzdem tun
Sie so, als wären Sie elf Jahre lang aktiv gewesen. Das
gilt vor allem für die SPD, die auch in der Zeit der Großen Koalition in allen Bereichen, in denen es hätte vorwärtsgehen können, blockiert hat. Nichts haben Sie in
der Vergangenheit gemacht. Jetzt dürfen wir die Scherben wegräumen, die Sie über eine verdammt lange Zeit
produziert und uns hinterlassen haben.
({15})
Und jetzt dieser Katzenjammer! Es ist wirklich in höchstem Maße lächerlich, wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sie
einen ernsthaften Beitrag geleistet. Nicht die Spur davon!
Ich habe es ja gesagt: Wir haben das EnLAG im Jahr
2009, das NABEG im Jahr 2011 und das Energiewirtschaftsgesetz, EnWG, im Jahr 2011 verabschiedet, und
jetzt legen wir den Entwurf eines Bedarfsplanungsgesetzes vor. Und Sie sagen, wir machen nichts? Was haben
Sie denn an Gesetzen vorzuweisen? Wie ist es mit dem
Thema Geschwindigkeit? Erst jetzt können wir schneller
vorgehen und definieren, welche Strecken die wichtigsten sind. Nicht einmal dazu waren Sie in der Vergangenheit in der Lage.
Jetzt aber fordern Sie - das ist Ihr großer Wunsch eine Netz AG. Sie haben nicht für Beschleunigung gesorgt, verlangen von uns aber, eine Netz AG einzurichten,
({16})
und das in einer Zeit, in der wir versuchen müssen, den
Ausstieg aus der Nutzung der Kernkraft durch Strombrücken und Stromtrassen wie die eben genannte Thüringer
Strombrücke zu erreichen.
({17})
Für all das haben Sie keine Vorlage geliefert. Jetzt fordern Sie aber auch noch eine Netz AG. In der Theorie ist
das eine ganz schöne Idee - das haben wir auch gefordert -, aber jetzt geht es darum, dass wir möglichst
schnell Netze bauen.
({18})
Wir können jetzt doch nicht über eine Netz AG debattieren. Sobald irgendwo in Deutschland eine Freilandleitung verlegt werden soll, fordern Sie, verehrter Herr
Gabriel, überall in Deutschland unterirdische Kabel zu
verlegen, obwohl man weiß, dass die Prozesse dann
deutlich länger dauern, obwohl man weiß, dass das deutlich teurer ist, und obwohl man weiß, dass die Forschung
dazu noch gar nicht abgeschlossen ist. In so einer Zeit
- das Kraftwerk Grafenrheinfeld wird abgeschaltet; der
Kollege Nüßlein hat es gesagt - kann ich das nicht fordern, sondern muss schnell sein.
({19})
Es ist absurd, nichts dergleichen zu tun.
Jetzt komme ich zu einer aus meiner Sicht besonders
schönen Geschichte. Es geht um die Antwort auf eine
Kleine Anfrage aus dem Jahr 2005, die ich anspreche,
weil die Grünen hier besonders viel in Bezug auf die
Forschung fordern. Die Bundesregierung sagte:
Aus diesen Gesprächen
- mit Wirtschaft und Wissenschaft hat sich kein spezifischer Förderbedarf bei der Forschung und Entwicklung von Elektroenergieübertragungsanlagen ergeben.
({20})
Wundert es Sie, dass wir jetzt noch nicht so weit sind,
wie wir gerne wären? Wundert es Sie, dass wir nach elf
Jahren Stillstand noch nicht so weit sind, wie wir es
gerne wären? Merken Sie, dass der Knoten geplatzt ist,
seitdem Sie keine Verantwortung mehr tragen und nur
noch ein bisschen daherschwafeln?
({21})
Ich glaube, jeder andere Mensch sollte das erkennen
können.
Herr Krischer, Sie fordern HGÜ-Leitungen, obwohl
Sie selbst nichts dafür getan haben. Darüber muss ich
mich wirklich amüsieren.
Zum Abschluss habe ich noch ein nettes, kleines Bonmot aus dem Jahr 2008 vom geschätzten Kollegen
Gabriel. Ich zitiere:
Bis vor kurzem unterstützte auch Umweltminister
Gabriel den Regierungskurs, 850 Kilometer Freileitungen zu errichten und dies durch ein neues Gesetz
zu beschleunigen.
({22})
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
Doch zur Überraschung von Glos
- damals Wirtschaftsminister hat der SPD-Politiker den bisherigen Konsens nun
aufgekündigt.
Zitat Gabriel:
„Ich halte es nicht für realistisch, dass wir im bisher
vorgesehenen Umfang 850 km Freileitungen neu
bauen“,
({0})
schreibt Gabriel in einem Thesenpapier …
Mit solchen Aussagen kann man natürlich bei Bürgerinitiativen landen. Dass Sie die Energiewende nicht können, ist durch Ihre Aussagen wirklich bewiesen.
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Kelber.
Herr Kollege Meierhofer, Sie haben an zwei Stellen
auf uns Bezug genommen, zum einen beim Thema Netz
AG und zum anderen beim Thema Thüringen.
Zur Netz AG habe ich den Vorschlag: Lesen Sie sich
unseren Antrag dazu einmal durch, um zu verstehen, was
damit gemeint ist. Sie schauen zum Beispiel tatenlos zu,
dass einer der Übertragungsnetzbetreiber zu dem wichtigen Streckenbau seit über drei Jahren erklärt, dass er für
diese Aufgaben keine ausreichenden finanziellen Kapazitäten hat. Es ist, glaube ich, keine gute Lösung, auf
Vorschläge, wie man das ändern kann, nur zu sagen: Wir
machen lieber so weiter wie bisher.
Beim Thema Thüringen haben Sie, um es nett zu sagen, zwei Projekte miteinander verwechselt. Es gibt einmal die sogenannte Thüringer Strombrücke, eine neue
380-kV-Leitung, und dann gibt es noch das Projekt,
durch Neubeseilung mit Hochtemperaturseilen SachsenAnhalt, Thüringen und Bayern stärker miteinander zu
verbinden. Dieses Projekt ist von den beiden Übertragungsnetzbetreibern 50 Hertz und TenneT gleichzeitig
beantragt worden. 50 Hertz hat diese Woche als Beispiel
dafür, dass sie vorankommen, mitgeteilt - das hätten Sie
lesen können -, dass sie ihren Teil in 2012 fertiggestellt
haben. Das heißt also: Sachsen-Anhalt: beantragt, genehmigt und gebaut; Thüringen: beantragt, genehmigt
und gebaut; Bayern: beantragt, aber noch nicht einmal
entschieden, welche Behörde am Ende für die Genehmigung zuständig ist.
({0})
Das ist der entscheidende Unterschied. Ich glaube, der
Wirtschaftsminister in Bayern stammt aus Ihrer Partei.
({1})
Herr Meierhofer zur Beantwortung, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Zum Ersten:
Herr Kelber, Sie selbst haben darauf hingewiesen, wie
schwierig es ist, zu einem Konsens zwischen den Netzbetreibern - das sind 50 Hertz, Amprion und TenneT zu kommen.
({0})
Wenn ich in dieser Phase dafür sorge, dass sich die drei
erst einmal in einer Netz AG verschmelzen bzw. dass sie
zusammengeführt werden, dann wäre das in einer Zeit,
die keine Veränderungen bringt, wünschenswert. Schon
vorhin habe ich gesagt, dass auch die FDP sich das
wünscht. Wir müssen jetzt aber vorwärtskommen. Da
hilft uns das Gefasel aus Oppositionskreisen darüber,
was alles wünschenswert wäre, nichts, sondern jetzt
muss gebaut werden. Dazu bringt Ihre Idee leider überhaupt nichts.
({1})
Deswegen ist das realitätsfremd. Weiter ist es - „verlogen“ ist wahrscheinlich unparlamentarisch - zumindest
nicht aufrichtig, wenn man betont, dass man es tut.
Mein lieber Herr Kelber, zweitens ist es nicht besonders aufrichtig, während der Rede von Herrn Nüßlein
den Eindruck zu erwecken,
({2})
die Strombrücke würde deswegen nicht funktionieren,
weil in Bayern nicht genehmigt wird.
Ich freue mich über HGÜ-Leitungen, Herr Heil. Die
Thüringer Strombrücke ist unser Problem bzw. ein Engpass. Sie muss bis zum Jahr 2015 fertig sein, weil ansonsten Bayern - wenn durch die Abschaltung von Grafenrheinfeld 2 Gigawatt vom Netz gehen - nicht erreicht
werden kann. Genau darum geht es im Moment. Die
Thüringer Strombrücke ist aber nicht fertig; da können
Sie über Forschungsprojekte, die parallel dazu laufen,
reden, wie Sie wollen. Ich würde mich freuen, wenn wir
das alles hätten.
Wir nehmen Priorisierungen vor. Im Bedarfsplan haben wir nämlich festgelegt, was wann gebaut werden
soll. Bei Ihnen wurde erst einmal überhaupt nichts gebaut, da wurde alles gleichzeitig geplant. Das Ergebnis
war: Es wurde während der elf Jahre SPD-Verantwortung überhaupt nichts gebaut. Das sind leider die Fakten.
Deswegen sind wir jetzt in der brenzligen Lage, Ihren
Scherbenhaufen aufkehren zu müssen.
({3})
Jetzt erteile ich dem Kollegen Ralph Lenkert das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Heute geht es um den
Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur
Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. Der
Name ist sperrig, und dahinter stecken knallharte Profitinteressen. Wie erkläre ich Ihnen, was ich meine?
({0})
Wie würde das bei Dagobert Duck sein? Nehmen wir
an, Dagobert besitzt Grundstücke. Eines liegt 80 Kilometer in der Prärie, und zum zweiten führt nur ein Pfad.
Da gerade Steinmangel herrscht, will Dagobert mit
Steinbrüchen „Schotter“ machen. Von den Steinbrüchen
auf seinem Land müssen die Steine über neue Straßen
transportiert werden. Also verlangt Duck vom Minister
Zaster für den Straßenbau. Der Minister gehorcht, plant
Straßen, den Zaster holt er sich von den Bewohnern Entenhausens. Damit Dagobert stets Steine mit Profit verkaufen kann,
({1})
bestimmt der Minister, dass alle Bürger auch noch Lkw
und Sprit bezahlen. Alle? Nein, die Freunde des Ministers bekommen zwar viele Steine, aber für Straßen und
Lkw bezahlen sie nicht.
Haben Sie es verstanden? Ich kläre Sie auf: Dagobert
Duck steht für die Energiekonzerne, die Steine sind der
Strom. Die Steinbrüche sind Offshorewindparks und
Kraftwerke. Straßen sind Stromleitungen. Die Einwohner von Entenhausen sind wir Stromkunden, die Ministerfreunde sind die Energiekonzerne bzw. energieintensiven Unternehmen. Herr Rösler, haben Sie sich erkannt?
Ich habe Ihnen diesen Comic erzählt, weil es genau so
läuft.
({2})
Sinngemäß steht im Entwurf: „Standorte für konventionelle Kraftwerke“ und EEG-Anlagen „werden in der
Regel unabhängig“ vom vorhandenen Stromnetz „ausgewählt“. „Gegenwärtig sind eine Vielzahl konventioneller
Kraftwerke … im Bau bzw. in der Planung, die nicht
zwingend in der Nähe der Verbrauchszentren einspeisen
werden.“ Das heißt, es braucht mehr Stromtrassen. Die
Folge sind steigende Strompreise für die Stromkunden.
Klartext: Die 380-kV-Leitungen werden nicht nur für
Windräder, sondern auch für neue Kohlekraftwerke
- wie die von Vattenfall in Jänschwalde und von der
MIBRAG in Profen - gebaut. Die bestehenden Stromleitungen können dann den gesamten Kohle- und Windstrom nicht mehr nach Süden transportieren. Deshalb
sagt man den Thüringerinnen und Thüringern: Ihr wollt
doch die Energiewende, und Bayern braucht den Windstrom aus dem Norden, also akzeptiert Leitungen.
Entschuldigung, aber der Kohlestrom aus Jänschwalde und Profen soll auch über diese Leitung fließen.
Die Thüringerinnen und Thüringer zahlen 7,1 Cent
Netzentgelt je Kilowattstunde. In Bayern zahlt man nur
5 Cent. Warum? Ein Kraftwerk speist im Norden 1 Million Kilowattstunden ins Netz. Genau für diese Strommenge wird gezahlt - logisch. Durch Netzverluste,
3 Prozent auf 100 Kilometer, kommen in Bayern nur
850 000 Kilowattstunden an. Nur für diese Strommenge
wird von den Bayern gezahlt - logisch. Die 150 000 Kilowattstunden Transportverlust bezahlt der Netzbetreiber logisch. Er legt dies auf uns Thüringer um, weil das Netz
durch Thüringen geht - logisch. Logisch? Wir verdienen
nichts am Strom, unsere Landschaft wird verbaut, und
wir müssen dafür noch zahlen. Das ist ungerecht.
({3})
Deshalb fordert die Linke einheitliche Netzentgelte für
ganz Deutschland. Das wäre logisch.
({4})
Nach unserem Konzept beginnt die Energiewende mit
einem Bedarfsplan für den Stromverbrauch. Danach erfolgt eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Planung zur größtenteils regionalen Stromerzeugung und
Speicherung. Erst dann erfolgt eine Netzbedarfsplanung.
Warum folgt die Regierung nicht dieser einfachen Logik, sondern schaut nur auf den Netzausbau? Es geht um
viel Geld. 10 Milliarden Euro kostet der Netzausbau
nach dem vorliegenden Regierungsplan. Verdienen werden Baufirmen, Projektanten und die Investoren, die die
Netze ausbauen lassen. Sagenhafte 9 Prozent Rendite
gibt es für die investierten 10 Milliarden Euro. 900 Millionen Euro müssen Bürgerinnen und Bürger, kleine und
mittelständische Unternehmen Jahr für Jahr nur für die
Renditegarantie abdrücken. Diese Unverschämtheit lehnt
die Linke ab.
({5})
Es gibt einen Weg, diese Abzocke zu beenden: Die
Netze müssen entprivatisiert werden. Eine Vergesellschaftung der Netze zusammen mit einem Stromverbrauchsplan, dem Stromerzeugungsplan und dem dann
notwendigen Netzausbauplan sichert die ökologische
Energiewende mit sozialen Strompreisen, ohne uns
Stromkunden zu rupfen. Füllen Sie nicht die Geldspeicher der Spekulanten, sondern folgen Sie unseren Vorschlägen!
Vielen Dank.
({6})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Oliver Krischer
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man Herrn Rösler zuhört, dann fragt man sich
schon, in welchem Paralleluniversum dieser Mensch
lebt; denn mit der Realität hat das, was wir hier von ihm
gehört haben, gar nichts zu tun. Gestern im Umweltausschuss hat er noch eins draufgesetzt. Dort hat er gesagt:
Europaweit wird Deutschland wegen seines Netzausbaus
beneidet.
({0})
Was ist das für ein Unsinn? Wir haben in den letzten Jahren 268 Kilometer von 1 800 Kilometern gebaut. Das
sind gerade einmal 15 Prozent. Das ist die Hürde, unter
der Sie hergelaufen sind. Das ist unglaublich. Das ist
kein Erfolg, sondern Versagen.
({1})
Sie kommen hier jetzt immer mit dem Argument, dafür wäre Rot-Grün verantwortlich. Ich sage Ihnen: Seit
acht Jahren gibt es CSU- und FDP-Wirtschaftsminister.
Sie tragen die Verantwortung dafür. In acht Jahren hätten
Sie das alles machen können.
({2})
Wenn man nachfragt, wie weit wir mit der Umsetzung
der Projekte aus dem Energieleitungsausbaugesetz sind,
ist diese Bundesregierung, ist dieser Wirtschaftsminister
nicht einmal in der Lage, im Detail zu sagen, wie es um
diese Projekte steht. Das ist doch ein Zeichen dafür, wie
Sie mit diesem Thema umgehen.
Wenn man in den Medien nachschaut, wozu sich dieser Minister beim Thema Netzausbau geäußert hat, dann
stößt man immer wieder auf ein und dieselbe Nachricht:
Rösler greift die Umweltverbände an, fordert den Abbau
von Naturschutzbestimmungen und Umweltrechten, um
den Netzausbau voranzubringen. Man fragt sich: Was
plant diese Bundesregierung eigentlich? Als Antwort bekommt man: Es gibt gar kein Problem mit dem Naturschutz, es gibt gar kein Problem mit den Umweltverbänden. Ich sage Ihnen: Der einzige Sinn dieser Aktion ist,
die Hoheit über die Stammtische zu gewinnen. Nichts
anderes war von diesem Wirtschaftsminister zu hören.
({3})
Jetzt legen Sie hier den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vor. Diesen Gesetzentwurf hätten Sie schon
vor zwei, drei Jahren vorlegen können. Doch damals haben Sie sich mit Laufzeitverlängerungen beschäftigt,
statt sich um den Netzausbau zu kümmern. Jetzt, am
Ende dieser Legislaturperiode, feiern Sie das als Großtat.
Davon wird aber nicht eine einzige Leitung gebaut.
({4})
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen eines: Sie
machen die gleichen Fehler, die Sie schon beim EnLAG
gemacht haben. Sie sagen zum Beispiel, die Erdverkabelung solle nur auf einer einzigen Pilottrasse möglich
sein. Genau das ist beim Energieleitungsausbaugesetz
das Problem. Sie haben es bis heute nicht geschafft, auch
nur eine Pilotstrecke hinzubekommen. Wir brauchen die
Erdverkabelung aber, um Akzeptanz zu schaffen; denn
gegen den Willen der Menschen werden Sie den Netzausbau nicht durchsetzen können.
({5})
Ich sage Ihnen: 2 000 der 3 000 Einwendungen, die es
gegeben hat, kommen aus dem schönen Ort MeerbuschOsterath. Da hat es ein Planungsdesaster gegeben. Ich
wundere mich, dass die Kollegen von der CDU und der
FDP, die sich vor Ort lauthals äußern, jetzt bei dieser Debatte nicht dabei sind. Vor Ort sprechen sich Vertreter Ihrer Koalition nämlich öffentlich gegen dieses Gesetz aus
und sagen, dass sie es ablehnen werden.
({6})
Sie haben, was dieses Gesetz betrifft, nicht aus dem
Desaster von Meerbusch-Osterath gelernt. Sie haben
das, was der Bundesrat mit seiner Mehrheit beschlossen
hat, nicht aufgegriffen, nämlich dass man Planungen mit
Standortalternativen durchführen und die Menschen mitnehmen muss. Dazu gibt es wegweisende, richtige Beschlüsse des Bundesrates. Die Bundesregierung hat sie
aber zurückgewiesen. Sie werden mit diesem Gesetzentwurf nicht durchkommen. Er wird ein Papiertiger bleiben. Wenn Sie das, was der Bundesrat richtigerweise beschlossen hat, nicht aufgreifen, wird der Netzausbau ein
genauso großes Desaster bleiben, wie er es in der Vergangenheit war.
({7})
Ich sage Ihnen: Wir brauchen einen Netzausbau auf
allen Spannungsebenen. Eine dezentrale Energiewende
braucht den Netzausbau und den Ausgleich der Schwankungen. Aber Sie müssen die Menschen mitnehmen und
sie einbinden. Es hilft nichts, wenn Sie den Klageweg
verkürzen. Da fühlen sich die Menschen übergangen.
({8})
Das führt am Ende wieder zu Ausgrenzung. Sie müssen
die Menschen einbinden, aber das haben Sie nicht verstanden. So werden Sie mit dem Netzausbau auch weiter
scheitern.
Ich danke Ihnen.
({9})
Jetzt hat Andreas Lämmel das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn man diese Debatte verfolgt hat, ist eines
klar geworden: Die Kollegen von SPD und Grünen versuchen, hier im Plenum Wahlkampf zu machen
({0})
und dadurch ihr schlechtes Gewissen zu übertünchen,
({1})
das sie natürlich haben müssen, wenn sie in sich gehen
und darüber nachdenken, warum wir in der Situation
sind, in der wir sind.
Herr Gabriel verwechselt das Plenum des Deutschen
Bundestages mit dem Marktplatz in Wolfenbüttel, wo er
hin und wieder eine schwungvolle Wahlkampfrede hält.
({2})
Frau Höhn versucht, mit schrillen Tönen die Argumente
zu verdecken. Sie wollen einfach nicht zur Kenntnis
nehmen, dass wir vor zwei Jahren hier im Plenum mit
großer Mehrheit die Energiewende beschlossen haben.
({3})
Meine Damen und Herren, das war doch kein anderer
Beschluss als der, den Sie schon vor vielen Jahren getroffen haben, als Sie den Atomausstieg beschlossen haben. Das war nichts Neues. Ich weiß überhaupt nicht,
warum Sie dieses Argument anführen.
Ich will auf die Vergangenheit zu sprechen kommen.
Unter Rot-Grün wurde der erste entsprechende Beschluss gefasst. Es wurde aber nichts getan. Vielmehr
ließ man die Sache laufen.
({4})
Energieforschung - sehen Sie sich einmal die Haushalte
vergangener Zeiten an, Herr Hempelmann; Sie selbst
wissen das ganz genau - fand überhaupt nicht mehr statt.
Die Mittel für die Energieforschung wurden unter RotGrün auf null gesetzt.
({5})
Dann kam die Zeit der Großen Koalition. Da ging es
natürlich auch um den Energieleitungsausbau, weil er
schon damals ein großes Problem war.
({6})
Wir hatten die Idee, den Energieleitungsausbau zu beschleunigen. Dann fand die Diskussion über das EnLAG
statt. Die Große Koalition wollte das sehr bewährte Infrastrukturbeschleunigungsgesetz, welches wir in Ostdeutschland genutzt haben, um die Infrastruktur auszubauen, für den Energieleitungsausbau nutzen. Was war
die Folge? Obwohl Herr Gabriel damals Umweltminister
war, ist das Vorhaben, die Beschleunigung des Energieleitungsausbaus schon 2009 in Gang zu setzen, am
Widerstand der SPD gescheitert. Deswegen musste dann
2011 das NABEG hier im Deutschen Bundestag beschlossen werden. Es war eine logische Folge, noch einmal den Versuch zu machen, mit konkreten Projekten
den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Da sind auch die berühmten vier Kabeltrassen aufgeführt. Herr Krischer, ich weiß gar nicht, warum Sie
sich hier aufregen, dass in dem Bedarfsplan jetzt nur
eine Trasse enthalten ist.
({7})
Es gibt noch keine einzige Trasse von diesen vier Erdkabelprojekten, die im NABEG festgeschrieben sind.
({8})
- Ach, erzählen Sie doch nicht solchen Unfug! Sie wissen doch selbst ganz genau: Erdkabelleitungen baut
nicht der Staat - die Planung erfolgt vor Ort, die Genehmigung erfolgt vor Ort.
({9})
Sie stehen immer an der Spitze der Bewegung, wenn es
gegen den Ausbau von Infrastruktur geht. Dann müssen
Sie sich nicht wundern, dass die Projekte vor Ort nicht
vorankommen.
({10})
Aber dafür können Sie nicht uns die Schuld zuschieben.
({11})
An der Spitze der Bewegung, wenn es gegen irgendetwas
geht, stehen Sie.
Deswegen muss man doch ganz klar sagen: Wenn
man diese Erdkabelprojekte weiter betreiben will, dann
muss man erst einmal Erfahrungen sammeln
({12})
und schauen: Wie ist denn die wirtschaftliche Situation?
Wie ist denn die ökologische Situation? Das fordern Sie
doch immer. Sie wissen ganz genau, dass diese Erdkabelprojekte große Probleme aufwerfen. Wir wollen eben
nicht in die Situation kommen wie beim Offshoreausbau, wo Sie mit Brachialgewalt eine Riesenmenge an
Offshoreprojekten zu generieren versuchen, von denen
wir weder wissen, ob sie technisch wirklich umsetzbar
sind, noch, ob sich die Kosten in den Griff kriegen lassen, und für die wir auch die Anschlüsse gar nicht haben.
Genau diese Fehler wollen wir nicht noch einmal machen,
indem wir die Erdverkabelung sozusagen freigeben. Wir
wollen zunächst Erfahrungen sammeln und schauen, ob
sich diese Projekte bewähren.
Da kann Rot-Grün in Niedersachsen jetzt mutig vorangehen und endlich die Trassen genehmigen und sie
bauen lassen. Dann können wir weiter über dieses
Thema reden.
({13})
Scheinheiligkeit, Herr Krischer, haben wir von Ihrer
Seite schon die ganzen Jahre erlebt; das ist bei diesem
Thema nicht anders.
({14})
Das vorliegende Gesetz ist ein wohltuend kurzes Gesetz, ein Gesetz, das jeder Bürger unseres Landes verstehen kann: weil auf drei Seiten beschrieben ist, um was es
geht. Ich würde mir manches Gesetz wünschen, das genauso konkret ausformuliert ist und bei dem man genau
nachvollziehen kann, um was es geht.
({15})
- Wenn die Grünen an der Macht sind, dann werden die
Gesetze immer dicker, immer unverständlicher: weil sie
versuchen, alles in das Gesetz zu packen. Wir stehen für
klare Gesetze und vor allen Dingen für Gesetze, die umsetzbar sind, Herr Krischer.
({16})
Interessant bei der ganzen Diskussion ist auch, dass
die Anträge, die die Opposition gestellt hat, überhaupt
nicht besprochen worden sind. Das zeigt schon: Sie wollen keine sachliche Debatte, Sie wollen nicht einmal
über Ihre Anträge diskutieren.
({17})
Das Einzige, was Sie wollen, ist eine Bühne für Wahlkampf.
({18})
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
das so weiterbetreiben wollen, dann können Sie das natürlich tun; aber man kommt damit nicht durch.
Die Grundlage für den Anstieg der Strompreise - die
hohe EEG-Umlage - haben Sie doch gelegt,
({19})
und Sie haben die ganzen Jahre alles behindert, was das
Ziel hatte, den Ausbau der erneuerbaren Energien in einem wirtschaftlichen Rahmen zu halten.
({20})
Dazu gehört der Ausbau der Stromleitungen. Man muss
sich nämlich einmal realistischerweise überlegen, wo
welche erneuerbaren Energien ausgebaut werden sollen.
Wenn Sie einmal im stillen Kämmerlein über das nachdenken, was Sie hier politisch angestellt haben, werden
Sie erkennen, dass es eben nicht so weitergehen kann,
dass überall dort eine Windmühle gebaut werden kann,
wo jemand diese Intention hat, und einfach der Netzbe28406
treiber dafür verantwortlich gemacht wird, diese Windmühle an das Stromnetz anzuschließen.
Genauso ist es bei den Photovoltaikanlagen: Es bringt
doch nichts, wenn, nur damit das Ausbauziel erfüllt
wird, in düsteren Ecken, in Wäldern Photovoltaikanlagen aufgebaut werden. Wir brauchen beim Ausbau der
erneuerbaren Energien Wirtschaftlichkeit. Auch beim
Ausbau der Energieleitungen brauchen wir wirtschaftliche Lösungen.
Ich finde, dass der vorgelegte Gesetzentwurf genau in
diese Richtung geht. Sie haben jetzt die Möglichkeit,
dieser Sache mit großer Mehrheit zuzustimmen. Damit
können Sie vor allen Dingen vor Ort beweisen, dass Sie
wirklich für den Netzausbau stehen.
({21})
Heute steht ja unter Tagesordnungspunkt 4 noch ein
weiterer Antrag der SPD auf der Tagesordnung, sodass
wir im Anschluss über solche Dinge noch einmal vertieft
diskutieren können.
Die Linke geht noch ein bisschen schärfer vor. Sie erzählt Comicgeschichten. Aber gut, damit transportiert
sie sich selbst ins Aus. Das ist aber nichts Neues.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich war davon ausgegangen, dass sich zumindest
die SPD ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen
will und es hier nicht sozusagen zu einer Theaterveranstaltung verkommen lässt.
({22})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Jetzt hat Jens Koeppen das Wort für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für mich ist und bleibt die Energiewende das
wichtigste Projekt nicht nur in dieser Legislaturperiode,
sondern sogar in dieser Generation, weil wir unseren
Kindern zum ersten Mal eine saubere und moderne
Energieversorgung übergeben können. Dazu müssen wir
aber noch große Herausforderungen bewältigen. Deswegen ist es bei aller Emotion zu schade, die Energiewende
zum Spielball in einem Wahlkampf zu machen.
Wir müssen uns fragen: Wie kann diese Energiewende gelingen?
({0})
- Auch Herr Hempelmann sollte sich das fragen. - Was
sind die wichtigsten Bausteine? Hier hat jeder seine
Prioritäten und auch Vorlieben.
Für den einen geht es um die Energie an sich, um
Wind- und Sonnenenergie, Biomasse und Geothermie.
Für andere geht es um alte und neue Speichertechnologien und die Elektromobilität. Für mich persönlich kommen der Wasserstoff und die Brennstoffzelle bei der ganzen Diskussion ein wenig zu kurz.
Intelligente und bedarfsorientierte Systeme, Verbrauchsmanagement, Forschung und Entwicklung, Gebäudesanierung, EEG, Zertifikatehandel, Netzausbau:
Das alles wurde heute besprochen. Die einen wollen
ganz große Reformen, die anderen wollen das am liebsten gar nicht anfassen.
Meine Damen und Herren, in diesem System gibt es
sehr viele Botschaften. Das System ist sehr komplex und
neigt dazu, undurchsichtig und unverständlich zu werden. Bei all den benannten Bausteinen kommt es aber
nicht auf das Maximale, sondern auf einen vernünftigen
und harmonischen Mix aus allem und die Akzeptanz der
Menschen für diese Energiewende mit einer gewissen
Kostenübersicht an.
({1})
Das alles gilt natürlich insbesondere für die Energieinfrastruktur. Leistungsfähige Energienetze sind natürlich die Grundvoraussetzung, um Energie überhaupt
transportieren zu können. Ich bin Elektrotechniker und
erzähle Ihnen hiermit nichts Neues: Wenn es keine Leitungen gibt, dann werden Sie aus Ihrer Steckdose zu
Hause auch keinen Strom bekommen können.
Dass wir zusätzliche Übertragungskapazitäten brauchen, ist auch völlig unstrittig. Es wird natürlich über die
genaue Anzahl an Kilometern diskutiert. Das wird aber
wahrscheinlich gar nicht die entscheidende Frage sein.
Dass wir einen Ausbaubedarf haben und dass der Ausbau maßvoll sein muss, ist jedem klar. Dass wir unser
jetziges Netz ertüchtigen müssen, ist wahrscheinlich
auch jedem klar. Wir sollten aber die Kriterien und Bedingungen diskutieren, unter denen wir diesen Netzausbau gestalten. Für mich sind dabei drei Punkte besonders
wichtig:
Erstens. Die Akzeptanz. Wenn wir die Leute ordentlich informieren - das sollte anders aussehen als heute in
den eineinhalb Stunden hier - und sie auf dem Weg der
Energiewende mitnehmen, dann haben wir den ersten
Teil erreicht.
Zweitens. Dieser Ausbau muss zügig vorangehen.
Das heißt, wir brauchen keine Klagewellen, sondern wir
müssen diese Klagewellen vermeiden.
Drittens. Die Kosten des Netzausbaus müssen so gestaltet werden, dass sie für die Menschen auch bezahlbar
sind und dass Energie vor allen Dingen kein Luxusgut
wird.
Hier können wir natürlich sehr schnell Konsens herstellen.
Ich will mich auf zwei Punkte dieser Botschaft konzentrieren, nämlich erstens auf die Instanzenverkürzung
und zweitens auf die Kosten und die Erdkabel.
Zur Kürzung des Instanzenzuges bis zur endgültigen
Gerichtsentscheidung. Es wird damit gerechnet, dass wir
die Dauer der Gerichtsverfahren von zehn Jahren auf
vier Jahre verkürzen können. Das ist eine enorme Zeitersparnis. Bei Ihnen, Herr Krischer, kam das eben so rüber,
als ob wir den Anwohnern Rechte nehmen würden. Ich
sehe das völlig anders. Ich sehe das so, dass wir eine Privilegierung der Klagenden herbeiführen. Denn selbst
wenn die letzte Instanz die einzige Instanz ist, die entscheidet, entscheidet sie nicht anders. Es macht also keinen Unterschied, dass die zwei gerichtlichen Instanzen
vor ihr bereits Entscheidungen getroffen haben. Sie entscheidet schneller,
({2})
und die Beklagte und die Klagenden bekommen mehr
Rechtssicherheit. Das ist ganz klar.
Darüber hinaus erwähne ich die psychische Belastung
der Menschen, Herr Krischer, welche daraus resultiert,
dass sie über viele Jahre sozusagen von einer Instanz zur
nächsten gestoßen
({3})
und mit sehr vielen Klagen, sehr vielen Terminen und
sehr vielen Schriftstücken konfrontiert werden.
Betonen möchte ich auch, dass ein Prozess von Instanz zu Instanz kostenintensiver wird. Denn jedes Gerichtsverfahren ist natürlich teuer.
({4})
Insofern ist eine einzige zuständige Instanz
({5})
mit weniger Kosten verbunden, und deswegen befürworten wir das.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf die
380 000-Volt-Erdverkabelung zurückkommen. In diesem Zusammenhang wird hier sehr viel über das Für und
Wider diskutiert. Ich möchte nicht auf alle Punkte eingehen.
Wir sind keine Gegner von Erdkabelleitungen. Allerdings müssen wir schauen, welcher der bessere Weg ist.
Ich kann die Forderung des Bundesrates, alle Erdkabelprojekte in diesen Plan hineinzuschreiben - das heißt,
die Leute vor Ort sollen darüber entscheiden, ob Projekte mit Erdverkabelung verwirklicht werden sollen -,
überhaupt nicht verstehen. Das ist eine Mentalität nach
dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Auf diese
Weise vergraben Sie die Probleme nicht, sondern sie tauchen woanders auf. Sie beruhigen damit zwar die Bürger
und sammeln vielleicht hier und da ein paar Sympathien,
aber das sind vermeintliche Vorteile, die Sie genießen.
Wissenschaftler und Techniker weisen eindeutig darauf hin, dass sich die Kosten auf das Sechs- bis Zwanzigfache - das gilt für Tunnelanlagen - belaufen. Das
Verlegen einer 1 Kilometer langen 380 000-Volt-Verkabelung kostet momentan 1 Million Euro. Wenn dieser
Kilometer dann 6 Millionen oder 20 Millionen Euro kostet, muss doch auch die Frage gestattet sein, wer diese
Kosten letztendlich tragen soll. Diese Frage müssen wir
beantworten. Es geht nicht, dass wir einfach sagen, dass
die Kosten auf die Netzkosten umgelegt werden, welche
dann wiederum die Bürger zu tragen haben.
({6})
Darüber hinaus liegt die Nutzungsdauer von Erdkabeln bei 40 Jahren. Die Nutzungsdauer von Freileitungen liegt bei 80 Jahren und mehr. Bei Erdkabeln muss
alle 700 Meter - die Kabeltrommel ist schließlich endlich - ein Muffenbauwerk errichtet werden, wahrscheinlich auch in Biosphärenreservaten. Also, es wird alle
700 Meter ein großes Muffenbauwerk auf den Schneisen
stehen. Es wird zu größeren Wartungskosten und längeren Reparaturzeiten kommen, und wenn etwas ausfällt,
werden daraus sehr große Stromausfallzeiten resultieren,
die deutlich länger als die bei Freileitungen sind.
({7})
Auch die ökologischen Eingriffe dürfen wir nicht vergessen. Denn sie sind enorm schwerwiegend. Eine Erdverkabelung bedingt eine Trassenführung in Betonwannen, was eine hundertprozentige Versiegelung bedeutet.
Darüber hinaus müssen Öltransformatoren aufgestellt
werden, um die Kompensation auszugleichen. Es kommt
zu hohen Bodentemperaturen, und auf der gesamten
Schneise kann nichts mehr angebaut werden. Des Weiteren müssen Wartungswege neben der Trasse angelegt
und der Boden komplett ausgetauscht werden. All diese
schwerwiegenden ökologischen Eingriffe darf man nicht
vergessen. Hierüber müssen wir aufklären, und wir sollten Alternativen finden und letztendlich die Vorteile von
Freileitungen - natürlich sehen Erdverkabelungen im
Landschaftsbild besser aus - hervorheben.
Bei allen notwendigen Maßnahmen im Rahmen dieser Energiewende müssen wir in neuen Strukturen denken. Erzeugung und Verbrauch müssen natürlich so dezentral wie möglich erfolgen. Wenn Strom knapp wird,
soll er teurer vergütet werden als dann, wenn er stark
verfügbar ist. Denn das Prinzip „Produce and forget“ das bedeutet, dass Strom immer dann erzeugt wird, wenn
es möglich ist, und nicht dann, wenn er gebraucht wird -,
das jetzt im verkrusteten EEG enthalten ist, macht Unternehmer satt und träge. Wir müssen schauen, dass wir
von der Renditeversorgung zur Energieversorgung kommen. Wir brauchen ein Technologieeinführungsprogramm. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir in den
nächsten Wochen und Jahren weiter eine gute Diskussion führen.
Vielen Dank.
({8})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/12638, 17/12214, 17/12518 und 17/12681
an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil ({0}),
Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Deutschland 2020 - Zukunftsinvestitionen für
eine starke Wirtschaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende gestalten, Innovationen fördern
- Drucksache 17/12682 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, anderthalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Hubertus Heil.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben diesen
Antrag eingebracht, weil wir uns Gedanken über die
Frage machen, wie wir es schaffen, dass Deutschland
wirtschaftlich erfolgreich bleibt.
Ohne Frage: Deutschland ist derzeit im Vergleich zu
anderen Volkswirtschaften in Europa ein extrem erfolgreiches Land. Wir sind Exportvizeweltmeister. Die Ursachen dafür liegen zum Beispiel darin, dass wir vor zehn
Jahren den Mut zu politischen Veränderungen hatten,
({0})
die notwendig waren, die zum Teil schmerzhaft waren,
die nicht in jedem Detail richtig waren, aber die mitgeholfen haben, dass Deutschland vor der Krise 2008
besser aufgestellt war als andere Volkswirtschaften in
Europa.
({1})
Der wesentliche Grund aber, warum Deutschland im
Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften bis dato besser
durch die Krise gekommen ist, ist die Tatsache, dass wir
nach wie vor eine Industrienation sind, dass wir eine
breite industrielle Wertschöpfungskette haben: von den
Grundstoffindustrien über den industriellen Mittelstand
bis hin zu den kleinen Hightechunternehmen in diesem
Land.
Das ist keine Banalität, weil wir uns noch sehr gut erinnern können, meine Damen und Herren von der FDP,
wie Sie und Ihre Gesinnungsfreunde vor zehn Jahren
über Industrie in Deutschland gesprochen haben. Sie haben damals geglaubt, die Zukunft liege allein bei Dienstleistungen: Gemeint waren Finanzdienstleistungen.
({2})
Ihr Herr Westerwelle hat uns damals empfohlen, den Irrweg Irlands zu gehen und stärker auf Finanzzockereien
zu setzen. Wir sind Gott sei Dank diesen Weg nicht gegangen, sondern wir haben unsere industrielle Basis erhalten und erneuert.
({3})
Im Jahr 1998 betrug der industrielle Anteil Deutschlands an seiner Wirtschaft 24 Prozent. Großbritannien
hatte einen gleich hohen Anteil. Heute liegt der Wert in
Großbritannien bei 14 Prozent. Wir müssen etwas dafür
tun, damit wir ein erfolgreiches Wirtschaftsland bleiben.
Doch die Sorge, die wir haben, ist, dass Sie sich in den
letzten drei Jahren, seit Schwarz-Gelb dieses Land regiert, auf guter Konjunktur, auf dem Mut von Vorgängerregierungen, auf dem industriellen Fortschritt von Unternehmen und Gewerkschaften einfach ausgeruht haben
und dass wir in der Gefahr sind, den Vorsprung, den wir
uns in Deutschland mühsam erarbeitet haben, wieder zu
verlieren. Der Attentismus, das Chaos dieser Bundesregierung, das Zuwarten im Bereich der Wirtschafts- und
Industriepolitik - im Bereich der Energiepolitik eben
wortreich beschrieben -, ist das eigentliche Standortrisiko für Deutschland, für die Zukunft des Wohlstands
und für die Arbeitsplätze in unserem Land.
Es sind vier große Herausforderungen, vor denen Sie
sich im Moment wegducken und auf die Sie keine Antworten haben. Da ist beispielsweise der veränderte Altersaufbau unserer Gesellschaft, der mittlerweile am Arbeitsmarkt ankommt. Die Politik, die Sie machen, führt
dazu, dass wir in einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt geradezu hineingetrieben werden. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend qualifizierte Fachkräfte, und auf der anderen Seite sorgen Sie
dafür, dass Menschen durch prekäre Beschäftigung und
Langzeitarbeitslosigkeit abgehängt werden. Das kann
sich Deutschland wirtschaftlich nicht leisten. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt, die Menschen
in Arbeit bringt und sie nicht durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse abhängt.
({4})
Dazu gehört der gesetzliche Mindestlohn. Dazu gehört gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Zeit- und
Leiharbeit. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Wenn wir über Fachkräftesicherung sprechen,
Hubertus Heil ({5})
dann müssen wir uns auch über die Potenziale in unserem Land Gedanken machen. Das Wichtigste dabei ist,
dafür zu sorgen, dass die Frauenerwerbsbeteiligung,
auch was Vollzeitarbeit betrifft, in diesem Land endlich
auf europäisches Niveau kommt. Sie führen ein idiotisches Betreuungsgeld ein, das Frauen vom Arbeitsmarkt
fernhalten soll. Das ist das Gegenteil von Fachkräftesicherung.
({6})
Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für junge Männer und Frauen, damit die Potenziale
genutzt werden können. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass nicht weiterhin 60 000 junge Menschen Jahr
für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss verlassen,
dass 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren
ohne berufliche Erstausbildung dastehen.
Der Standortvorteil Deutschlands hat mit der guten
dualen Ausbildung in diesem Land zu tun. Das bescheinigen uns inzwischen sogar amerikanische Präsidenten.
Wir müssen sie erhalten und modernisieren, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass junge Menschen ausbildungsfähig sind. Deshalb brauchen wir mehr Ganztagsschulen
und auch frühkindliche Förderung in Deutschland. Sie
machen das Gegenteil, und das ist wirtschaftlicher Unsinn.
({7})
Die zweite große Herausforderung neben der Frage
von Demografie und ihrer Auswirkung auf den Arbeitsmarkt ist und bleibt die Internationalisierung. Hierbei
muss die Frage angesprochen werden, welche Regeln
wir auf den internationalen Finanzmärkten haben. Es
gibt jetzt viel Gerede vor der Wahl und Papiere von
Herrn Schäuble, die sich endlich auch einmal mit dem
Thema Trennbanken beschäftigen.
({8})
Ich sage Ihnen: Wir brauchen im Interesse der Realwirtschaft und auch der industriellen Basis dieses Landes die Spielregeln auf den Finanzmärkten. Wir wollen
dafür sorgen, dass in Deutschland in Realwirtschaft statt
in Zockerei investiert wird. Dafür müssen Sie Ihre Hausaufgaben machen.
({9})
Die dritte große Herausforderung neben dem veränderten Altersaufbau und der Internationalisierung ist die
Tatsache, dass wir wissenschaftlichen und technischen
Fortschritt in diesem Land haben und brauchen, um erfolgreich sein zu können. Deutschland wird nicht mit
den niedrigsten Löhnen, sondern nur mit den besten Produkten, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfähig sein. Wenn man das in Deutschland erhalten will,
dann muss man dafür sorgen, dass auch der industrielle
Mittelstand in diesem Land stärker an Forschung und
Entwicklung partizipieren kann.
Sie haben im Koalitionsvertrag dem Mittelstand steuerliche Forschungsförderung versprochen. In den Ankündigungsreden höre ich, dass Sie das wieder versprechen. Nur gehalten haben Sie es nicht. Wo ist denn Ihr
Konzept für steuerliche Forschungsförderung in dieser
Legislaturperiode? Wir werden das nach der Wahl ändern.
({10})
Die größte Herausforderung neben der Demografie
für die deutsche Wirtschaft und für unser Land wird die
Frage sein, wie wir mit dem Thema Ressourcenknappheit und Energiewende seriös umgehen. Darüber ist
heute Morgen diskutiert worden.
Ich will eine Begebenheit von gestern schildern. Ich
war auf einer Veranstaltung des Bundesverbands der
Deutschen Industrie, der unverdächtig ist, eine Vorfeldorganisation der SPD zu sein. Dort war ein Vertreter Ihrer Regierungsfraktion - es war, glaube ich, der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion -, der Wert
darauf legte, dass er mit der Energiepolitik seiner eigenen Bundesregierung wenig zu tun hat. Er sprach davon,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion streng genommen eine Nichtregierungsorganisation sei.
Ich kann nur sagen: In der Energiepolitik merkt man,
dass Sie eine Nichtregierungsorganisation sind. Denn
Tatsache ist, dass aufgrund Ihres Vorgehens - das Zerstören der Planungs- und Investitionssicherheit in vielen
Bereichen und das Vergurken der Energiewende - mittlerweile aus einer industriellen Chance, die die Energiewende dem Grunde nach ist, ein wirtschaftliches und soziales Risiko für dieses Land geworden ist.
Wenn Sie auf uns nicht hören, dann hören Sie auf die
Verbände, mit denen Sie sonst immer so dicke sind. Das,
was Sie im Bereich Energiepolitik fabrizieren, ist etwas,
das uns zurückwerfen kann.
Wenn man sich international ein bisschen umtut und
weiß, dass es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch
im Fernen Osten und in Nordamerika aus unterschiedlichen Gründen sehr gute Standortbedingungen für eine
Reindustrialisierung gibt - zum Beispiel durch die
Shale-Gas-Revolution in Nordamerika, weil dort die
Energiepreise mutmaßlich sehr niedrig sein werden -,
und dass diese Länder demografisch anders aufgestellt
sind als wir, dann kann man in Deutschland die Energiewende nicht so vergurken, wie Sie das machen. Sie haben eine Energiewende versprochen, die sauber, sicher
und bezahlbar sein soll. Heute erleben wir Unsicherheit
bei der Versorgung und steigende Preise. Was das Stichwort „sauber“ betrifft, kann man nur sagen: Sie sind
nicht sauber im Arbeiten, was die Energiewende betrifft.
Deshalb müssen wir auch da den Schalter umlegen.
({11})
Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion - es ist ein
interessanter Zufall, dass das am zehnten Jahrestag der
Agenda 2010 ist - einen Vorschlag für die nächsten zehn
Jahre gemacht. Vor zehn Jahren standen wir vor ganz an28410
Hubertus Heil ({12})
deren Problemen am Arbeitsmarkt in Deutschland, als es
heute Gott sei Dank der Fall ist. Die Aufgaben der letzten zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre.
Aber wie wir mit dem veränderten Altersaufbau, Stichpunkt Fachkräftesicherung, und der fortschreitenden Internationalisierung der Bändigung der Finanzmärkte im
Interesse von Realwirtschaft umgehen, wie wir die Energiewende zum Erfolg führen und wie wir dafür sorgen,
dass Deutschland eine starke, wissensbasierte und erfolgreiche Industrienation bleibt: Das sind die Aufgaben,
denen wir uns stellen müssen. Denn Sie haben in den
letzten Jahren dafür gesorgt - dabei rede ich jetzt nicht
mehr von Schwarz-Gelb, sondern die Merkel-Regierung
hat dafür gesorgt -, dass wir den Vorsprung, den wir uns
mühsam erarbeitet haben, wieder gefährden.
Ich sage Ihnen: Wirtschaftlicher Erfolg und soziale
Gerechtigkeit, das sind für uns Sozialdemokraten keine
Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen, wenn
wir erfolgreich sein wollen. Die Art und Weise, wie Sie
das Ganze laufen lassen bzw. verschludern und sich auf
den Lorbeeren der Vorgängerregierungen ausruhen, ist
ein Standortrisiko. Deshalb brauchen wir im Interesse
des Wirtschaftsstandorts Deutschland einen Regierungswechsel im Herbst dieses Jahres.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein
jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Nachdem Sie dieses Thema erneut angesprochen haben,
kann ich Ihnen nicht ersparen, im Zusammenhang mit
Ihrem Antrag noch ein paar Sätze zum Thema Energie
zu sagen.
({0})
Ich will an dieser Stelle ein bisschen ausholen und Ihnen
zunächst versichern - das meine ich so, wie ich es sage -,
dass ich mich über den vorliegenden SPD-Antrag freue;
denn in diesem Antrag stehen viele richtige und wichtige
Sachverhalte. Das meiste ist aber überholt und erfüllt.
Das heißt, Sie fordern Maßnahmen, die wir sehr wohl
umsetzen.
Der Kollege Heil hat gerade insbesondere auf das
Thema Fachkräftemangel abgehoben. Unser Fachkräftekonzept zielt in der Tat zuallererst auf Ausbildung und
Weiterbildung ab. Der Kollege Heil hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass das duale System uns innerhalb und
auch außerhalb Europas wettbewerbsfähig hält. Dieses
duale System kann man nicht nur nicht hoch genug loben, sondern man muss es auch nach vorne bringen. Ich
weise Sie in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
Bildung Ländersache ist. Ich erkenne deutlich, dass es
hier gewaltige Unterschiede gibt. Im Bildungsbereich
geht es dort am besten, wo die Union regiert. Dort kommen wir am sichersten voran.
({1})
Aber überall dort, wo Rot und Grün ihr Unwesen treiben, gibt es die Ihnen sehr wohl bekannten Schwierigkeiten. Wenn man das duale System lobt, dann sollte
man auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, einer
Zwangsakademisierung Vorschub zu leisten. Jedes Mal,
wenn wir - zu Recht - über Chancengleichheit diskutieren, stelle ich eine einseitige Betonung einer Akademisierung fest. Es wird viel zu wenig darüber gesprochen,
was man dafür tun kann, dass unser wunderbares duales
System so gut bleibt, wie es ist. Das halte ich für ganz
wichtig.
({2})
Wenn wir für Chancengleichheit sorgen wollen, dann
müssen wir unser Augenmerk auch auf das Handwerk
richten, das bei der Ausbildung eines erheblichen Teils
der Lehrlinge durch Meister Großartiges leistet.
Wir brauchen natürlich auch die Zuwanderung qualifizierter, guter Leute; das ist ganz klar. Aber wir machen
das anders, als Sie von der Opposition das machen wollen. Wir wollen nicht einfach die Schleusen öffnen bzw.
die Tore aufreißen, sondern sehr differenziert vorgehen.
Vor diesem Hintergrund ist das richtig, was der Bundesinnenminister in letzter Zeit in den Vordergrund gestellt
hat. Wir brauchen keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme.
({3})
Wir haben angesichts der Freizügigkeit gegenüber Rumänien und Bulgarien große Bedenken. Dafür, dass das
dosiert, gesteuert und wohlüberlegt geschieht, ist ein
Unionsinnenminister sicherlich ein Garant.
Ich will nicht näher auf das eingehen, was Sie zur
Energiepolitik und insbesondere zu den Energienetzen
gesagt haben; denn darüber haben wir eben umfassend
diskutiert. Nur so viel: Wenn Sie uns nicht glauben, dass
die Beschleunigung des Netzausbaus zu schaffen ist und
dass wir die Motoren dabei sind, dann bitte ich Sie, das
wenigstens dem Sachverständigenrat zu glauben; denn
dieser würdigt, was dazu in den letzten Monaten beschlossen worden ist.
Im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau lassen
Sie sich in Ihrem Antrag breit und lang über die vorhandenen Defizite aus. Ich weise darauf hin, dass auch dieses Thema nicht einfach zu bearbeiten ist; denn es geht
darum, im Rahmen des Wettbewerbs auch den ländlichen Raum zu erschließen. Der wirtschaftliche Schaden
wäre immens, wenn es an dieser Stelle nicht voranginge.
Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass das von
uns novellierte Telekommunikationsgesetz einen entDr. Georg Nüßlein
scheidenden Beitrag dazu leisten wird, dass der Ausbau
kostengünstig und in der Konsequenz auch flächendeckend gelingt.
Ich finde auch spannend, was Sie zum Thema Verkehr
gesagt haben. Die Ausweitung der Lkw-Maut 2012 auf
ausgewählte vier- und mehrstreifige Bundesstraßen - Sie
fordern noch eine weitere Ausweitung - stärkt aus meiner Sicht den Finanzierungskreislauf des Verkehrsträgers
Straße. Wir haben für dieses Jahr dank des Bundesverkehrsministers, der da sehr vorausschauend ist, zusätzlich 750 Millionen Euro für den Neu- und Ausbau unseres Straßensystems eingeplant.
({4})
- 750 Millionen Euro zusätzlich!
({5})
Das ist etwas, was ich auch angesichts unserer Thematik - davon abstrahieren Sie bei Ihren Forderungen ganz klar unterstreichen möchte. Uns geht es um zwei
Dinge: investieren auf der einen Seite und Haushalte
konsolidieren auf der anderen Seite. Bei Ihnen gibt es einen anderen Gleichklang, und der heißt: investieren auf
der einen Seite und abkassieren auf der anderen Seite.
({6})
Das ist das, was in Ihrem Parteiprogramm für die
nächste Legislaturperiode angekündigt ist, falls Sie dafür
eine Mehrheit bekommen. Ich kann mir das beim allerbesten Willen aber nicht vorstellen.
({7})
Ich habe Ihnen einleitend gesagt: Mich freut dieser
Antrag. Mich freut er auch noch aus einem anderen
Grund, weil Sie darin nämlich neunmal den Begriff
„Wachstum“ verwenden, und zwar in einem positiven
Sinne.
({8})
Nun freut mich das aus einem bestimmten Grund. Ich
bin auch Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“. Da sieht das, was die SPD
an der Stelle vorträgt, komischerweise ganz anders aus.
({9})
Da tun Sie so, als ob wir einem falschen Wachstumsbegriff, ja geradezu einer Wachstumsgläubigkeit anhängen
würden, was aber falsch ist. Noch viel spannender ist:
Die Opposition verkauft in dieser Enquete-Kommission
als Erfolg, dass man uns habe beibringen müssen, dass
Wachstum kein Ziel sei, sondern maximal ein Weg, um
Wohlstand zu erreichen. Sie formulieren in Ihrem Antrag
jetzt aber ganz anders. Sie schreiben, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand und Wachstum seien Ziel der Politik. Ich
finde das nicht schlimm - das ist Wortklauberei, sage ich
Ihnen an der Stelle ganz offen -, aber ich wundere mich,
dass Sie sich mit Ihren Kollegen nicht abgestimmt haben. Die lassen sich in der Enquete-Kommission von
den ganz Linken und den Grünen in Geiselhaft nehmen,
die wachstumsskeptisch wie immer sagen:
({10})
Das alles brauchen wir nicht mehr. Man muss mit Blick
auf die Ökologie - das sind alte „Club of Rome“-Fantasien, sage ich Ihnen - das Wachstum deckeln, beschränken; das alles ist des Teufels.
Insofern geht an die SPD: Willkommen im Klub! Ich
freue mich, dass Sie wieder auf der richtigen Spur sind
und dass Sie sich jetzt mit uns gemeinsam dafür einsetzen wollen, dass uns in dieser Republik Wachstum gelingt.
({11})
Ich halte das auch vor folgendem Hintergrund für entscheidend: Man muss wissen, dass Verteilen schwieriger
ist, wenn ein Kuchen nicht größer wird; wenn er größer
wird, gibt es ganz andere Verteilungsmöglichkeiten. Ich
nehme sehr wohl zur Kenntnis, dass Sie sich auch darüber Gedanken gemacht haben, wie man das Ganze verteilt.
Ich nehme aber ebenfalls zur Kenntnis, dass große
Teile der SPD mit der Agenda 2010 hadern. Ich bin froh,
dass das beim Kollegen Heil offenkundig nicht so ist,
aber ich vermisse schon die Jubiläumsfeiern zum zehnjährigen Bestehen der Agenda 2010; ich vermisse echt
die Festlichkeiten an der Stelle.
({12})
Dadurch, dass wir aufgrund der Bundesratsmehrheit
damals auf diese ganze Geschichte Einfluss nehmen
konnten, hat sich einiges in diesem Land bewegt. Ich bestreite ganz und gar nicht, dass ein Teil dessen, was uns
in der Republik insgesamt geglückt ist, mit guten Unternehmern und fleißigen Arbeitnehmern, darauf zurückzuführen ist, dass Bundeskanzler Schröder seinerzeit im
Rahmen der Agenda 2010 einen guten Weg eingeschlagen hat, nämlich einen Weg, den man von unserer Seite
hat begleiten können. Da sind viele Dinge deckungsgleich. Es ist bei der Agenda 2010 so wie bei Ihrem Antrag: Immer dann, wenn Sie auf unserer Linie sind, sind
Sie auf der rechten Spur.
({13})
Ich will noch etwas dazu sagen, was uns unterscheidet
- ich habe das vorhin schon einmal angedeutet -: Wir
verfolgen mit der qualitativen Konsolidierung der Haushalte ein Konzept für ein nachhaltiges Wachstum. Es
geht uns also nicht um Konjunkturimpulse auf Pump,
wie es sich die linke Seite immer vorstellt. Danach
müsse der Staat den Bürgern das Geld abknöpfen und
wisse genau, wie er es investieren soll. Das ist Quatsch,
meine Damen und Herren. Das geht regelmäßig schief,
das Abkassieren nicht. Das können Sie - das wissen alle
Bürgerinnen und Bürger -, das bekommen Sie gut hin.
Dadurch kann man aber natürlich kein nachhaltiges
Wirtschaftswachstum generieren.
Deshalb warne ich nachdrücklich vor dem, was bei
Ihnen allen angekündigt wird, nämlich vor substanziellen Steuererhöhungen. Dabei geht es nicht nur um Ertragsteuern, sondern auch um Eingriffe in die Substanz,
um Substanzsteuern. Herr Heil, sich dann hier hinzustellen und so zu tun, als stehe man auf der Seite des Mittelstandes, das ist schon unverfroren.
({14})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass nachhaltiges Wirtschaftswachstum dadurch generiert wird, dass man unabhängig von der Gewinnsituation des Mittelstandes in
die Substanz der Betriebe eingreift, dass man über Erbschaft- und Vermögensteuer Geld kassiert. Sie erzählen
ja, man würde damit Wirtschaftswachstum organisieren.
Das ist komplett Schwachsinn, meine Damen und Herren. Diese Rechnung wird niemals aufgehen.
({15})
Sämtliche Kritik, die seit heute Morgen 9 Uhr von der
linken Seite des Hauses an der Koalition geäußert worden ist, muss sich an den Ergebnissen messen lassen.
Ich sage es noch einmal: Sie haben aufgehört mit
5,5 Millionen Arbeitslosen. Das war Ihre Bilanz. Jetzt
sind wir fast bei der Hälfte dieser Zahl Arbeitsloser. Dies
zumindest ein bisschen anzuerkennen, wäre eine gute
Sache.
({16})
- Liebe Kollegin Andreae, dieses Ergebnis ist jedenfalls
nicht den Anträgen zu verdanken, die Sie stellen, sondern einer klugen Regierungspolitik, die wir nach der
Bundestagswahl werden fortsetzen können.
Vielen herzlichen Dank.
({17})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Dr. Gregor Gysi.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, die SPD hat recht, wenn sie sagt, dass wir dringend Zukunftsinvestitionen benötigen. Aber was müsste
die erste Zukunftsinvestition sein?
Wir müssen die Binnenwirtschaft stärken. Wir müssen sie schon deshalb stärken, weil alle anderen Fraktionen zusammen den Export dadurch ruinieren, dass sie
Südeuropa auf absolut desaströse Weise sozial ungerecht
gestalten und damit dafür sorgen, dass dort die Kaufkraft
abnimmt. Das führt dazu, dass unsere Exporte dorthin
nachlassen werden. Es gibt nur eine Antwort darauf
- das Ungleichgewicht muss sowieso überwunden werden -, nämlich dass wir eine stärkere Binnenwirtschaft
brauchen.
({0})
Ich sage Ihnen: Diesbezüglich lag die Agenda 2010
falsch. Herr Nüßlein, ich stimme Ihnen überhaupt nicht
zu: Die SPD hat den Jahrestag gefeiert wie verrückt.
Aber ich finde das völlig falsch, weil die Agenda 2010
der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war.
({1})
Sie können gar nicht leugnen, dass die Armut dramatisch zugenommen hat. Sie können nicht leugnen, dass
der Reichtum dramatisch zugenommen hat.
({2})
23 Prozent aller Beschäftigten sind heute prekär beschäftigt. Das ist etwas, was sich lohnt, worauf Sie stolz
sein wollen? „Prekär beschäftigt“ heißt: Es sind Aufstockerinnen und Aufstocker, es sind Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter; sie sind im Niedriglohnsektor bzw. in
Minijobs beschäftigt. Hinzu kommen die befristet Beschäftigten. Diese zählen gar nicht zu den prekär Beschäftigten.
({3})
- Ich spreche von Grünen und SPD. Union und FDP haben dabei aber mitgemacht und das noch verschlimmert.
Darüber wollen wir gar nicht streiten.
({4})
Von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes bis
zum 35. Lebensjahr haben 52 Prozent ein befristetes Arbeitsverhältnis. Dann kommt die Union und sagt ihnen,
sie sollen Familien gründen und mehr Kinder bekommen. Ja, wie denn? Wie soll denn jemand mit einem
Halbjahresvertrag eine Perspektive haben? Davon kann
niemand ausgehen. So bekommen Sie niemals eine gute
Familienpolitik zustande. Das garantiere ich Ihnen.
({5})
Jetzt kommt immer das Argument - auch von Ihnen
wieder, Herr Nüßlein -, dass die Arbeitslosenzahlen so
sehr zurückgegangen sind. Nehmen Sie bitte eine Tatsache zur Kenntnis: Wir haben jetzt dasselbe Volumen an
Arbeitsstunden wie vor Beginn der Agenda 2010; es hat
sich nichts geändert. Der einzige Unterschied ist, dass
aus einer Vollzeitarbeitsstelle drei Drittelstellen geworDr. Gregor Gysi
den sind. Damit verbessern Sie die Statistik, aber nicht
die Lage der Leute, im Gegenteil: Sie wird nur prekärer.
({6})
Ich sage heute, da wir einen neuen Papst haben: Wenn
Franziskus die Agenda 2010 kennen würde, wäre er
strikt dagegen; er stünde an unserer Seite. Das will ich
Ihnen bloß mal sagen; Sie können darüber nachdenken.
({7})
- Ich wollte, dass Sie mal Reaktion zeigen.
Ich will Ihnen noch sagen: Wenn die Reichen mehr
Geld haben - das muss die CDU/CSU mal zur Kenntnis
nehmen -, dann spekulieren sie mehr. Wenn Arme, Geringverdienende oder durchschnittlich Verdienende mehr
Geld haben, dann kaufen sie mehr Waren und nehmen
mehr Dienstleistungen in Anspruch. Der Binnenwirtschaft können Sie nicht mit mehr Reichtum, sondern nur
mit mehr sozialer Gerechtigkeit helfen.
({8})
Ich führe Ihnen noch einmal die Unterschiede vor Augen. Zwischen 1992 und 2012 ist das Geldvermögen in
Deutschland von 4,6 Billionen Euro auf 10 Billionen
Euro gestiegen; es hat sich also mehr als verdoppelt.
({9})
0,6 Prozent der Haushalte besitzen davon knapp 20 Prozent, nämlich 1,9 Billionen Euro. Die unteren 50 Prozent
der Haushalte - das ist auch interessant - besaßen 1998
4 Prozent des Geldvermögens und besitzen heute nur
noch 1 Prozent des Geldvermögens. Auch das ist ein Ergebnis der Agenda 2010. Warum korrigieren Sie das
nicht und fangen nicht an, ganz anders politisch zu agieren und darüber nachzudenken, wie wir diesbezüglich zu
einer anderen Gesellschaft kommen?
({10})
Wenn wir die Binnenwirtschaft stärken wollen, brauchen wir gerechte, höhere Löhne, Renten und Sozialleistungen. Aber wir müssen endlich auch den Steuerbauch
überwinden; das sage ich Ihnen von der FDP, weil auch
Sie das fordern. Es ist wirklich wahr - das möchte ich
den Leuten sagen -: Der Verlauf unseres Einkommensteuertarifs ist nicht linear, sondern hat einen Bauch, und
zwar bei der Mittelschicht der Gesellschaft, also den
Facharbeiterinnen und Facharbeitern, den Meisterinnen
und Meistern, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern,
den Polizistinnen und Polizisten und vielen Selbstständigen. Sie alle müssen sehr viel mehr Steuern zahlen, als
es gerecht ist. Deshalb muss dieser Steuerbauch weg.
Warum ist der Steuerbauch da?
({11})
Weil der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist. Sie wollen den Steuerbauch beseitigen - so weit sind wir einverstanden -, aber ohne Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
Das geht nicht; denn es bedeutet, die Kommunen noch
mehr pleite zu machen. Sie können sich jetzt schon
kaum Investitionen in Schulen und Kindertagesstätten,
in Kultur und Jugend leisten. Das geht nicht. Deshalb
sage ich Ihnen: Wir brauchen einen Ausgleich, einen höheren Spitzensteuersatz, und dann können wir endlich
den Bauch bei der Mittelschicht beseitigen, der tatsächlich überwunden werden muss.
({12})
Dann haben die auch mehr Netto vom Brutto.
Also: Was müssen wir machen? Wir brauchen einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde. Wir würden auch einem geringeren Mindestlohn zustimmen, aber er wäre falsch. Ich sage Ihnen
noch einmal: Wir brauchen in Deutschland einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.
({13})
Wir brauchen statt prekärer Beschäftigung gute Arbeit,
höhere Renten und höhere Sozialleistungen. Das wäre
die wichtigste Investition für unsere Binnenwirtschaft
und damit für unsere Zukunft.
Sie haben recht: Wir brauchen auch Investitionen im
Energiebereich. Die erneuerbaren Energien müssen gefördert werden. Bis zum Jahre 2020 muss ihr Anteil von
25 Prozent auf 50 Prozent steigen. Was macht die Bundesregierung jetzt? Sie stellen die Förderung ein. Abenteuerlicherweise begründen Sie das auch noch mit den
Strompreisen, Herr Altmaier.
({14})
Das ist der völlig falsche Weg. Wenn wir die erneuerbaren Energien endlich angemessen fördern und trotzdem
Strompreise haben wollen, die sich die Leute leisten
können, müssen wir sieben Schritte machen:
Erstens. Wir brauchen, auch wenn es Ihnen nicht gefällt, eine Strompreisaufsicht; anders geht es nicht.
({15})
Wir müssen die Abzocke durch die vier Konzerne beenden.
Zweitens. Wir brauchen eine Senkung der Stromsteuer in dem Umfange, in dem wir eine Steuer für die
erneuerbaren Energien erheben.
Drittens. Die Privilegierung der Industrie muss, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, abgebaut werden. Es ist
nicht hinnehmbar: Die Unternehmen mit dem höchsten
Stromverbrauch müssen am wenigsten bezahlen.
({16})
Viertens. Wir brauchen einen Sockeltarif für die Bürgerinnen und Bürger. Das wäre eine soziale Maßnahme.
Wir sagen: Pro Haushalt gibt es jährlich 300 Kilowattstunden kostenfrei, zusätzlich 200 Kilowattstunden pro
Person. Das bedeutet: Ein Einpersonenhaushalt erhielte
500 Kilowattstunden - sagen wir es einmal so - gebührenfrei, wenn auch nicht kostenfrei. Ein Zweipersonen28414
haushalt erhielte 700 Kilowattstunden gebührenfrei, und
so ginge es immer weiter. Das wäre sinnvoll.
Fünftens. Wir brauchen eine Abwrackprämie. Wer ein
stromfressendes Haushaltsgerät verschrottet und ein
neues Gerät mit hoher Energieeffizienz - Kühlschrank,
Waschmaschine, Spülmaschine - erwirbt, sollte diese
Abwrackprämie bekommen. Das reizt. Das hilft übrigens auch der Wirtschaft, und gleichzeitig macht es die
Strompreise bezahlbar.
Sechstens. Der Bund muss meines Erachtens für die
Gebäudesanierung 3,5 Milliarden Euro bereitstellen.
Siebtens. Es ist ja wichtig, die Gebäude zu sanieren
- auch eine wichtige Investition -, aber wenn wir das
Geld zur Verfügung stellen, müssen wir den Vermietern,
die dieses Geld nehmen, verbieten, die Mieten zu steigern. Das ist nämlich das Entscheidende, damit das
Ganze sozialverträglich wird.
({17})
Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn Sie eine nachhaltige, ökologische Umgestaltung wollen und sie nicht
sozialverträglich machen, dann erben Sie Blockierer,
und zwar gerade in den armen Schichten der Bevölkerung. Es muss sozial sein, damit wir diese Schichten mitnehmen und für den ökologischen Umbau gewinnen
können.
({18})
Wir müssen natürlich auch in die Infrastruktur investieren, zum Beispiel in Verkehrswege, aber nicht in so etwas Sinnloses und wahnsinnig Teures wie Stuttgart 21,
sondern in die Schieneninfrastruktur, in den Nah- und
Fernverkehr, in Fahrwege, in Bahnhöfe für U-, Stadtund Straßenbahnen, in Omnibusse und - ich sage es
auch im Interesse der Grünen - in sichere Radwege.
({19})
- Nein, aber auch Ihretwegen.
({20})
Wir brauchen außerdem ganz dringend Investitionen
im Bildungsbereich - ich bitte Sie! -, und zwar für die
Schulgebäude, für die Ausrüstung, aber auch für die
Qualifizierung und die Anzahl des Personals. Da muss
investiert werden. Ich möchte Chancengleichheit für
Kinder bei der Bildung. Davon sind wir meilenweit entfernt, übrigens gerade auch in Bayern, weil dort die Kinder schon nach der vierten Klasse getrennt werden. Das
ist nichts anderes als soziale Ausgrenzung. Das geschieht in vielen anderen Bundesländern auch.
({21})
Wir brauchen auch Investitionen in Fachhochschulen
und in Universitäten, überhaupt wieder in Forschung
und Wissenschaft, die vernachlässigt werden, aber vor
allem in Kindertagesstätten. Ab 1. August 2013 gibt es
einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Und
was führen Sie ein? Ein Betreuungsgeld, damit die Eltern ihre Kinder nicht in Kindertageseinrichtungen schicken. Ich bitte Sie! Dort lernen die Kinder soziales Verhalten. Dazu brauchen wir qualifiziertes Personal; das ist
wichtig. Natürlich müssen Kindertagesstätten genauso
wie Schulen ein gebührenfreies, vollwertiges und gesundes Mittagessen anbieten.
({22})
Das Deutsche Institut für Urbanistik hat übrigens festgestellt, dass wir bis zum Jahre 2020 Investitionen von
704 Milliarden Euro benötigen. Jetzt kommt ein Punkt,
der mich auch erstaunt hat: Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Höhe der deutschen Investitionen innerhalb der EU am untersten Rand liegt. Nicht dieses reiche
Deutschland investiert mehr als Länder wie Spanien etc.,
nein, weniger. Ja, sagen Sie mal! Wo leben wir denn hier
eigentlich? Herr Rösler, da müssten selbst Sie erschreckt
und erstaunt sein.
({23})
Ich kann nur sagen: Das geht nicht. Wenn wir nur den
EU-Durchschnitt erreichen wollen, müssten wir 30 Milliarden Euro pro Jahr investieren. Aber die reichen gar
nicht aus. Wie gesagt, das Institut für Urbanistik hat festgestellt: Wir brauchen 704 Milliarden Euro für Verkehr,
für Wasser, für Abwasser, für Kitas, für Schulen. Genau
da muss investiert werden.
Wir haben gesagt: Wir brauchen gute Arbeit und gerechte Löhne. Deshalb sage ich Ihnen noch einmal
- Mindestlohn ist klar -: Leiharbeit möchte ich überwinden. Aber wenn Sie sie nicht überwinden, führen Sie
doch endlich nicht nur den gleichen Lohn für die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wie für die Stammbelegschaft ein, sondern einen Zuschlag von 10 Prozent wie in
Frankreich. Dieser Zuschlag ist mir wichtig. Es muss für
das Unternehmen teurer sein, eine Leiharbeiterin oder
einen Leiharbeiter zu beschäftigen. Außerdem verdienen
die Leute dieses Geld. Dann wird es nämlich zur Ausnahme und nicht Schritt für Schritt zur Selbstverständlichkeit, wie es leider in unserer Gesellschaft geworden
ist.
({24})
- Ja, passen Sie auf. Wir müssen die Befristung verbieten, wenn sie ohne sachlichen Grund erfolgt, wenigstens
das. Ich bin es leid, dass die Leute fast nur noch befristete Verträge erhalten. Fast alle Neueinstellungen erfolgen inzwischen befristet und damit ja auch ohne Kündigungsschutz.
({25})
Herr Kollege.
Sie wollen doch nicht sagen, dass meine Redezeit
schon um ist.
Die ist schon quasi mehr als um. Ich sage das nicht,
aber die Uhr.
Ja, ich höre ja auch auf. Ich hätte Ihnen noch so viel
erklärt,
({0})
wie das Ganze zu finanzieren ist. Aber wissen Sie: Der
Redner vor mir hatte auch elf Minuten, und die dauerten
so viel länger als meine. Daran müssen wir mal was ändern.
Ich wünsche Ihnen trotzdem alles Gute.
({1})
Birgit Homburger hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Angesichts des Antrages, den wir heute diskutieren, war ich doch einigermaßen verwundert, Herr
Heil, über die Rede, die Sie hier abgeliefert haben. Ich
habe den Eindruck: Das war die Rede, die Sie jede Woche hier halten - einmal aus der Schublade gekramt und
wieder runtergeleiert. Jedenfalls steht nichts von dem,
was Sie hier erzählt haben, in Ihrem Antrag.
({0})
Insofern, verehrter Herr Heil, rate ich Ihnen dringend,
diesen Antrag einmal zu lesen.
({1})
Ich habe mir diese Mühe gemacht, und ich kann nur sagen: Das scheint die Zusammenfassung der derzeitigen
wirtschaftspolitischen Forderungen und Kernpositionen
der SPD zu sein. Wenn das alles ist, dann gute Nacht,
Deutschland!
({2})
Wenn ich mir anschaue, über was alles Sie nicht reden
in Ihrem Antrag mit dem großen Titel „Deutschland
2020“, dann stelle ich fest: Sie reden beispielsweise
nicht über Grundvoraussetzungen für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum, nicht über den Arbeitsmarkt, auch
was die Bedeutung von Arbeitskosten angeht. Auch das
Stichwort „Haushaltskonsolidierung“ sucht man erfolglos in diesem Antrag. Über die Bedeutung von Steuern
für die weitere wirtschaftliche Entwicklung reden Sie
ebenfalls nicht. Das ist auch besser so; denn wer 30 Milliarden Euro Steuererhöhungen fordert, der kann eben
nicht über diese Rahmenbedingungen sprechen, die für
die Wirtschaft nur bedeuten, dass es für sie schwieriger
wird und nicht besser.
({3})
Ich finde es ganz besonders apart, dass Sie sich hier
hingestellt und wieder mal die Agenda 2010 für sich reklamiert haben. Klar, das können Sie natürlich; aber Sie
reklamieren die Erfolge, die wir derzeit in der Wirtschaftspolitik und am Arbeitsmarkt haben, für sich und
für die Agenda 2010. Sehr geehrter Herr Heil, ich
möchte, dass Sie sich endlich einmal die Mühe machen,
sich die geschichtliche Wahrheit nicht nur anzuschauen,
sondern vielleicht auch vorzutragen. Sie verschweigen
nämlich, dass Rot-Grün, nachdem Sie 1998 die Regierung übernommen haben, als Erstes eines gemacht hat:
({4})
Sie haben all die Reformmaßnahmen, die wir, SchwarzGelb, 1996/97 durchgeführt haben, rückgängig gemacht,
({5})
um sie Jahre später mit der Agenda 2010 wieder einzuführen. Das ist keine bemerkenswerte Leistung, sondern
es ist eine bemerkenswerte Einsicht, die Sie mit der
Agenda 2010 gezeigt haben.
({6})
Jetzt feiern Sie die Agenda 2010 in großen Festakten.
({7})
Aber in Ihrem Programm schleifen Sie die Agenda 2010.
({8})
Ihre wirtschaftliche Position ist inkonsistent, und das,
was Sie hier in der Wirtschaftspolitik abliefern, ist an
Schizophrenie nicht mehr zu überbieten.
({9})
Das geht bei der Verkehrsinfrastruktur weiter. Natürlich ist es wichtig, dass wir in die Verkehrsinfrastruktur
investieren, und das tun wir auch im Rahmen der Möglichkeiten, die der Haushalt bietet.
({10})
- Sie brauchen gar nicht so zu tun. - Ich will Ihnen nur
einmal sagen: Sie haben in der Vergangenheit, egal in
welcher Regierung Sie waren, in die Verkehrswege weniger investiert als das, was jetzt von uns investiert wird.
Das ist die Wahrheit.
({11})
Unser Investitionsrahmenplan sieht vor, dass in den
nächsten Haushalten das Niveau von 10 Milliarden Euro
für Infrastrukturmaßnahmen erhalten wird. 2013 wirkt zusätzlich ein Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II,
das weitere 750 Millionen Euro umfasst. Wenn Sie, die
SPD, in der Verantwortung sind, dann kürzen Sie die
Verkehrsinvestitionen, und wenn Sie in der Opposition
sind, dann fordern Sie gemeinsam mit den Grünen üppige Aufstockungen, ohne irgendeine Antwort auf die
Frage zu geben, wie Sie das finanzieren wollen.
({12})
Dann kommen Sie daher und fordern in Ihrem Antrag
auch noch ein Investitionspaket zur Finanzierung der
kommunalen Verkehrsinfrastruktur.
({13})
Sie vergessen, dass es immer noch eine Investitionshilfe
vom Bund gibt, obwohl man in der Föderalismuskommission II eine Entflechtung beschlossen hat, und zwar
mit Ihren Stimmen. Trotzdem gibt es bis zum Jahr 2019
Mittel: 1,4 Milliarden Euro jährlich Kompensationszahlungen,
({14})
330 Millionen Euro Bundesmittel und Regionalisierungsmittel für den ÖPNV in Höhe von 7 Milliarden Euro.
({15})
Das ist das, was der Bund für die Kommunen zahlt. Jetzt
gehen Sie her und erklären in Ihrem Antrag, Sie wollten
noch mehr. Ich sage Ihnen eines: So kann man nicht miteinander arbeiten. Sie interessieren sich nur für eines:
Geld abholen und Geld abzocken, wo es gerade geht. Da
ist Ihnen der Bund recht. Wenn es beim Bund nichts zu
holen gibt, dann bei den Bürgerinnen und Bürgern durch
Steuererhöhungen. Das ist Ihre Politik.
({16})
Sie schwadronieren darüber, dass man die industrielle
Basis und den Mittelstand nicht schwächen dürfe. So
steht es in Ihrem Antrag. Wunderbar! Was fällt Ihnen als
Lösung ein? Sie wollen die Lkw-Maut auf alle Bundes-,
Landes- und Kommunalstraßen ausweiten. Das ist eine
wirtschaftliche Katastrophe für die Logistik, das Transportgewerbe und das Handwerk. Wenn man dazu die
Vorstellungen der Grünen von einer Logistikabgabe in
Höhe von 2 Milliarden Euro jährlich und einer Ausweitung und Erhöhung der Lkw-Maut auf alle Lkw über
3,5 Tonnen addiert, kann man nur sagen: Bei Logistik,
Transport und Handwerk gehen mit Rot-Grün die Lichter aus. Das jedenfalls werden wir verhindern, meine Damen und Herren.
({17})
Ein anderes Thema: EEG. Herr Gysi, es war interessant, was Sie dazu gesagt haben. Ich sage Ihnen eines:
Wenn Sie nicht irgendwann anfangen, die Übersubventionierung zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher, die wir im EEG haben, zu reduzieren, dann wird es
nicht funktionieren.
({18})
Deshalb haben wir eine Reform des EEG vorgeschlagen,
weil Energie bezahlbar bleiben muss.
({19})
Das, was Sie auf der linken Seite des Plenums machen,
ist eines: schamlose Klientelwirtschaft. Das muss man
Ihnen irgendwann auch mal sagen.
({20})
Dann fordern Sie in Ihrem Antrag zusätzliche Investitionen für Forschung. Sie können das natürlich gerne
fordern. Aber ich frage Sie, Herr Heil: Warum haben Sie
dies in Ihrer Regierungszeit eigentlich nicht gemacht?
Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP
({21})
hat in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden Euro
mehr in Forschung und Bildung investiert.
({22})
Das ist eine klare Schwerpunktsetzung. Wir stellen per
anno 14 Milliarden Euro Mittel für Forschung und Entwicklung zur Verfügung. Das ist der höchste Betrag, den
wir in diesem Land je zur Verfügung gestellt haben.
({23})
Das haben wir umgesetzt in der Hightech-Strategie, in
der Innovationsstrategie, in einer Zusammenarbeit mit
Universitäten, um Forschungserfolge in Innovationen
umzusetzen. Jetzt wollen Sie noch mehr Geld. Meine
Damen und Herren, wir haben es gemacht. Sie reden nur
davon, und wenn Sie regieren, machen Sie das Gegenteil.
({24})
Sie stellen sich hier hin und reden darüber, dass es in
den USA Preisminderungen bei der Energie durch eine
Revolution bei der Schiefergasförderung gebe. Ja, Herr
im Himmel: Was machen Sie eigentlich in Deutschland?
({25})
Sie betonen die Risiken. Über die Chancen habe ich Sie
an dieser Stelle noch nie reden hören. Also erwecken Sie
nicht den Eindruck, als wenn Sie diese Technologie unterstützen wollten.
({26})
Sie wollen eine Initiative zur Schaffung von Technikverständnis auf den Weg bringen. Auch das ist ganz bemerkenswert, Herr Heil. In Hannover, wo Sie gerade die
Regierung gebildet haben, haben SPD und Grüne beschlossen, dass das Projekt HannoverGEN beendet wird.
Das heißt, das Projekt - ein prämiertes Modell der Initiative „Deutschland - Land der Ideen“ -, bei dem beispielsweise Schüler durch molekularbiologische Experimente an das Thema Biotechnologie herangeführt
werden, um Chancen und Risiken zu diskutieren, schaffen Sie ab. Sie reden auf Bundesebene das eine, aber in
den Ländern, in denen Sie regieren, machen Sie das Gegenteil.
({27})
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
wird in Ihrem Antrag und der Debatte deutlich: Es gibt
einen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-RotGrün.
({28})
Das ist ein klares Bild: Wir wollen eine Stabilitätsunion,
Sie wollen eine Schuldenunion; wir wollen die Haushaltskonsolidierung, Sie wollen Mehrausgaben; wir wollen Leistungsgerechtigkeit, Sie wollen Steuererhöhungen; wir wollen Wettbewerb im Energiebereich, Sie
wollen klientelorientierte Planwirtschaft; wir wollen sozialen Aufstieg durch bessere Bildung, das, was Sie
durch Einheitsschulen in den Ländern machen, bedeutet
Bildungsabstieg. Das ist der Unterschied zwischen uns
und Ihnen.
({29})
Jetzt hat für Bündnis 90/Die Grünen Kerstin Andreae
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, es gibt große Unterschiede zwischen Schwarz-Gelb
und Rot-Grün, und das ist gut so.
({0})
Wir werden die nächsten Wochen und Monate dazu nutzen, diese deutlich zu machen.
Der große Unterschied besteht vor allem darin, dass
Sie Besitzstände und Zugangsbarrieren wahren, dass Sie
sich nicht trauen, Altes zu hinterfragen, dass Sie nicht
nach vorne gehen, dass Sie keinen Mut zur Veränderung
haben, sondern dass Sie beharren und abwarten. Das ist
der große Unterschied.
({1})
Sie ruhen sich auf den Taten von Vorgängerregierungen aus. Sie leben von der Hand in den Mund.
({2})
Wir werden bei den Haushaltsberatungen demnächst
deutlich aufzeigen, dass Sie von der Hand in den Mund
leben, dass Sie nur noch kurzfristig und nicht mehr langfristig in die Zukunft denken und sich nicht mehr trauen,
voranzugehen.
Ja, wir sind ein starker Industriestandort, aber was
waren die relevanten Weichenstellungen der letzten
Jahre, des letzten Jahrzehnts, damit wir dieser relevante
Industriestandort werden? Ja, wir haben vor zehn Jahren
verkrustete Strukturen aufgebrochen. Das war richtig so.
({3})
Es ist auch richtig, sich heute zu fragen: Wo gab es Fehlentwicklungen? Die Ausweitung des Niedriglohnsektors
ist eine Fehlentwicklung, die wir nicht hinnehmen können. Wir brauchen den Mindestlohn, um hier gegenzusteuern.
Es war richtig, verkrustete Strukturen aufzubrechen,
Besitzstände zu hinterfragen. Da muss keiner in die Furche gehen, da muss sich keiner verstecken. Man muss
den Mut haben, zu sagen: Was muss verändert werden,
damit es noch besser wird, damit wir weiter vorankommen? Grüne und SPD tun das.
({4})
Wir haben mit mutiger Industriepolitik die richtigen
Weichen gestellt,
({5})
zum Beispiel mit der Ökosteuer. Ich kann mich noch gut
erinnern: Als die FDP in der Opposition war, wollte sie
immer die Ökosteuer abschaffen; das war ihr Schlagwort.
({6})
- Da würde ich nicht klatschen. - In dem Moment, wo
Sie regiert haben, haben Sie das Thema nicht mehr angefasst, weil Sie zum einen wussten, dass Sie die Einnahmen brauchen, und zum anderen, weil Sie erkannt
haben, dass das Prinzip, Ressourcen, Rohstoffe und
Energie teuer und Arbeit billiger zu machen, grundsätzlich ein richtiges Prinzip ist. Das haben wir durch die
Einführung der Ökosteuer umgesetzt. An diesem Punkt
müssten Sie weiterentwickeln. Das wäre kluge und vernünftige Politik.
({7})
Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir das
große industriepolitische Projekt der letzten Dekade angefasst.
({8})
Wo sind denn die Jobs geschaffen worden? Wo gab es
Wertschöpfung? Wo sind die Zukunftsmärkte im Bereich
Umwelttechnologie? Im Bereich erneuerbare Energien
und Energietechnologie! Dort gibt es Wertschöpfung,
dort sind die Jobs.
Heute Morgen haben wir die Debatte hier verfolgt.
Der Wirtschaftsminister hat über das EEG geredet und
hat über Planwirtschaft fabuliert. Wie war denn die Situation? Vier große Energieversorgungsunternehmen haben sich den Energiemarkt in Deutschland aufgeteilt. Ist
das Wettbewerb gewesen? Nein!
({9})
Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist Wettbewerb
geschaffen worden. Kleine Unternehmen und Stadtwerke sind eingestiegen. Das war Wettbewerbspolitik.
Das hat Zukunft geschaffen; das hat Jobs geschaffen.
Deswegen ist das Fabulieren von Wirtschaftsminister
Rösler über Planwirtschaft der totale Blödsinn.
({10})
Was müssen Sie machen? Sie müssen Investitionssicherheit schaffen. Wir reden immer noch über das
EEG; gerade wurde angedeutet: Eigentlich muss man es
abschaffen. - Die vier EEG-Novellen der letzten zwei
Jahre haben doch nur zu Planungsunsicherheit bei den
Investoren und zu Unklarheit bei den Handwerkern geführt, weil keiner wusste, wie es weiterging. Alles hat
gestockt.
({11})
Letztlich haben Sie die Hand auf die Solarbranche gelegt, anstatt zu sagen: Wir entwickeln weiter, wir gehen
den Weg vernünftig weiter. Sie haben keinen Plan vorgelegt. Sie haben sich als Sargnagel der Solarbranche erwiesen.
({12})
Sie müssen Innovationssicherheit schaffen. Sie müssen Innovationen voranbringen. Wenn wir das alle wollen, dann lassen Sie uns doch gemeinsam die steuerliche
Forschungsförderung beschließen.
({13})
Ja, dann macht doch mal! Im Koalitionsvertrag steht:
Die wollen es. - Wir wollen es auch. Ich sage: Das könnten wir tun. Wir wären jederzeit dabei.
Sie müssen Prioritäten setzen. In diesem Zusammenhang komme ich noch auf die Verkehrsinfrastruktur zu
sprechen.
Bundeskanzlerin Merkel hat vor der baden-württembergischen Wahl Stuttgart 21 zur Richtungsentscheidung
gemacht. Sie haben die Wahl verloren. Sie haben die
Grünen damals als Dagegen-Partei bezeichnet. Ja, wir
sind dagegen, das Geld der Steuerzahler für ein Projekt
aus dem Fenster zu werfen, das einen negativen KostenNutzen-Faktor hat, für ein Projekt, das sich wirtschaftlich nicht mehr rechnet. Das ist kein grünes Projekt, und
das wird kein grünes Projekt.
({14})
Die Frage lautet doch: Wie sieht moderne Infrastruktur der Zukunft aus, und wo setzen wir die Prioritäten?
Das große Drama steht uns ja noch bevor: Der Bundesverkehrswegeplan wird noch vorgelegt. Am schlimmsten ist es immer, wenn über Bundesverkehrswegepläne
in Wahljahren diskutiert wird. Es liegt eine bayerische
Vorschlagsliste vor. Wenn wir die Kosten für diese Projekte aufsummieren, stellen wir fest, dass dadurch alle
Gelder, die überhaupt für Verkehrsprojekte zur Verfügung stehen, aufgefressen würden. In Wahlkampfzeiten
wird jedem alles versprochen. Nein, Sie müssen den Mut
haben, voranzugehen, Entscheidungen zu treffen, Prioritäten zu setzen. Wer das vorbildlich macht, ist die badenwürttembergische grün-rote Landesregierung.
({15})
Sie hat gesagt: Wir schauen uns an, was wir bezahlen
können. - So muss es sein.
({16})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Es tut mir leid, meine Stimme ist weg.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({0})
Das Wort hat nun Ernst Hinsken für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es bedauerlich, dass verschiedene Kollegen,
insbesondere von der linken Seite des Hauses, das Rednerpult hier im Deutschen Bundestag mit der Parteitagsbühne verwechseln.
({0})
Das ist der Sache nicht dienlich. Die Bürger, die unsere
Debatte verfolgen, erwarten Antworten auf bestimmte
Zukunftsfragen, denen sich die heutige Debatte widmet.
Das Thema ist viel zu ernst, als dass man hier nur draufschlagen könnte, ohne sich Gedanken über die Zukunft
zu machen. Deshalb möchte ich sagen: Herr Bundesminister Rösler, Ihre Ausführungen waren wohltuend
und richtungsweisend.
({1})
Das war überzeugend. Das ist der richtige Weg in die
Zukunft. Dieser Weg sollte auch in Zukunft von uns gegangen werden.
({2})
Ein altes Sprichwort lautet: Wer nicht innoviert, der
verliert.
({3})
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind das Land der
Innovationen. Dafür haben wir, dafür hat diese Regierung die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen. Zu
Beginn dieses Jahres können wir alle zusammen mit
Stolz feststellen: Deutschland hat die wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft Europas.
({4})
Unser Land ist das einzige Industrieland, das heute deutlich weniger Arbeitslose hat als vor Ausbruch der Finanzkrise. Wir bleiben der Stabilitätsanker Europas. Das
lassen wir uns auch von Ihnen von der linken Seite dieses Hauses nicht nehmen. Für diese hervorragenden Erfolge zeichnet diese Regierung, die sich seit drei Jahren
im Amt befindet, verantwortlich.
({5})
Diese positive Entwicklung ist aber auch ein Verdienst
der Wirtschaft, insbesondere der mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer sowie deren Mitarbeiter.
({6})
Mit Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und vernünftigen Rahmenbedingungen haben wir
die schwere Rezession überwunden und für neues
Wachstum gesorgt. Ohne Zweifel - auch das möchte ich
sagen, Herr Kollege Heil - wurden die Grundlagen dafür
bereits in der Großen Koalition gelegt.
({7})
Sie haben zumindest mitgeholfen. Damals war ein gewisses Verständnis vorhanden. Damals hat man gewusst,
dass man etwas machen muss. Wenn das heute noch so
wäre, wären Sie sicherlich ein Stück weit besser.
({8})
Besonders anerkennen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze ihrer
Beschäftigten über Kurzarbeit auch in schwierigen Zeiten erhalten haben.
({9})
An dieser Stelle ist auch zu sagen: Gerade was die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt - das wurde heute schon
mehrmals gesagt -, dürfen wir uns glücklich schätzen,
ein duales Berufsausbildungssystem zu haben, das den
jungen Menschen die Möglichkeit gibt, für das spätere
Leben zu lernen, was sie dringend zu lernen haben, damit wir genügend Fachkräfte haben, damit wir positiv in
die Zukunft blicken können und damit all die Aufgaben
bewältigt werden können, die in dieser schnelllebigen
Zeit vermehrt auf uns zukommen.
({10})
Gerade die deutsche Volkswirtschaft mit ihrer Innovationskraft schneidet im globalen Wettbewerb sehr erfolgreich ab. Unsere Wertschöpfung beruht überwiegend auf
forschungsintensiven Produkten und Dienstleistungen.
Das Geheimnis des Erfolges ist: Auch in Zeiten der
Haushaltskonsolidierung setzen wir konsequent weiter
auf Zukunftsinvestitionen, auf Bildung und Forschung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
versuchen mit Ihrem Antrag, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Auch Sie fordern jetzt Zukunftsinvestitionen
für die deutsche Wirtschaft. Mit Ihrem Antrag „Deutschland 2020 - Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende gestalten, Innovationen fördern“ wollen Sie doch nur
verdecken, dass Sie wirtschaftspolitisch völlig ins Hintertreffen geraten sind.
({11})
Der erste Satz Ihres Antrags lautet - da sind Sie
durchaus selbstkritisch -:
Wir brauchen wieder ein klares Bild von Deutschlands Zukunft.
Was soll denn das heißen? Das haben wir doch.
({12})
Wir geben Ihnen gerne Nachhilfeunterricht, wenn Sie
das benötigen.
({13})
Ich schätze viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen.
Sie sind auf der Höhe der Zeit und wissen, worauf es ankommt. Ein Großteil ist aber scheinbar noch nicht so
weit.
({14})
Es ist schade, dass Sie sich mit Ihrem aktuellen Wahlprogramm von dem verabschiedet haben, was Sie noch
während der Zeit der Konjunkturpakete vertreten haben.
All das, was Sie fordern, machen wir schon lange. Meistens waren Sie dagegen. Sie schreiben zum Beispiel:
Technologische Leistungsfähigkeit der Industrie sichern - Innovationen fördern und den Mittelstand
stärken
({15})
Wir handeln doch längst. Der Haushalt 2013 des Bundesforschungsministeriums ist gegenüber dem Vorjahr
um 6,2 Prozent auf insgesamt 13,7 Milliarden Euro gestiegen. Fakt ist: Von 2010 bis 2013 wurden insgesamt
sogar 13,3 Milliarden Euro zusätzlich bereitgestellt. Wir
haben Wort gehalten und sogar noch draufgelegt. Das ist
in Zeiten der Euro-Krise auch international ein viel beachtetes Signal. Wir haben versprochen, die Innovationsausgaben der deutschen Wirtschaft 2012 auf ein
Rekordniveau zu bringen. Fakt ist: Wir haben mit
138 Milliarden Euro ein Rekordniveau erreicht. In diesem Jahr könnte sogar die Schwelle von 140 Milliarden
Euro geknackt werden.
Wir wollen, dass Deutschland gut durch die Krise
kommt. In diesem Zusammenhang möchte ich einen
weiteren Fakt besonders herausarbeiten: Knapp
34 000 Unternehmen forschen und entwickeln kontinuierlich. 1 200 davon sind sogar Weltmarktführer. Darauf
müssen wir weiter aufbauen. Die Hightech-Strategie
zielt in besonderem Maße auf den innovativen Mittelstand. Hier ist Fakt: Die Projektförderung der HightechStrategie wird rund 2,3 Milliarden Euro erhalten. Gegenüber 2009 ist das eine Steigerung von rund 24 Prozent,
gegenüber 2005 sogar um rund 90 Prozent. Wir wollen
eine Steigerung der Investitionen für Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes anpeilen. Hier ist Fakt: Mit 2,9 Prozent hat Deutschland
das EU-Ziel von 3 Prozent nahezu erreicht. - Das sind
doch Zahlen, die sich sehen lassen können. Darauf sind
wir stolz. Auch Sie sollten stolz sein; denn hier geht es
um die gesamte Bundesrepublik Deutschland und nicht
um parteitaktische Hin- und Herschiebereien.
({16})
Die kleinen und mittleren Unternehmer haben ihre
Zukunftsinvestitionen in FuE überproportional um
9,1 Prozent auf 8,2 Milliarden Euro erhöht. Auch das
kann sich sehen lassen. Unsere Politik wirkt. Das möchten wir gerade auch über diese Debatte der Öffentlichkeit vermitteln. So wollen wir erreichen, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, unseren Weg mitzugehen,
damit wir so gut bleiben wie in den letzten Jahren.
Ich möchte auf das verweisen, was mein alter Lehrmeister und Freund Michael Glos einmal gesagt hat: Der
liebe Gott hat den Menschen die Augen nach vorne gesetzt. Deshalb blicken wir nach vorn. - Dabei setzen wir
uns ehrgeizige Ziele. Wir wollen bis 2020 in den Rankings zur Spitzengruppe der technologie- und innovationsfreundlichsten Länder weltweit gehören. Wir wollen bis 2020 die Zahl der forschenden Unternehmen auf
40 000 und die Zahl der innovativen Unternehmen auf
140 000 erhöhen.
({17})
Wir wollen unsere Spitzenstellung als Weltmeister von
Technologieexporten halten und weiter ausbauen. Bewusst haben wir dazu das Bundeswirtschaftsministerium
zur Speerspitze der Innovationsförderung ausgebaut.
Bundesminister Rösler weiß das zu nutzen. Das muss,
meine ich, erwähnt werden.
({18})
Gerade kam der Zwischenruf vom Arbeiterführer der
SPD, von Herrn Barthel, das, was ich hier vortrage, sei
Planwirtschaft. Dazu muss ich sagen: Er versteht unter
Planwirtschaft etwas ganz anderes als ich. Ich bin nicht
bereit, seinen Weg mitzugehen, den er hier oftmals meint
vertreten zu müssen. Damit ist er schon des Öfteren auf
die Schnauze gefallen.
({19})
Schwerpunkt ist das „Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand“. Die Mittel dafür steigen gegenüber 2012
noch einmal an, und zwar auf mehr als 500 Millionen
Euro. Den neuen Ländern sollen 40 Prozent dieser Mittel
zugutekommen. Für die Unterstützung der Forschungsinfrastruktur für den Mittelstand stehen fast 200 Millionen Euro zur Verfügung.
Ich weiß, dass Zahlen ermüdend sind. Aber diese
Zahlen sind wichtig. Wir sollten glücklich und froh darüber sein, dass hier ein Haushalt aufgelegt wurde, der
solche Zahlen enthält. Dadurch wird der Innovationsstandort Bundesrepublik Deutschland weiter nach vorne
gebracht.
Mit insgesamt 83 Millionen Euro werden innovative
Unternehmensgründungen unterstützt. Auch das ist Politik für die Zukunft.
Sie von der SPD fordern den Ausbau der Energieinfrastruktur für die Energiewende. Wir haben auf den
Weg gebracht, was unter Rot-Grün leider liegen geblieben ist. Deutschland übernimmt bei der Energiewende
eine Vorreiterrolle für alle Industrienationen. Hier betreten wir Neuland. Ihnen von den Grünen möchte ich sagen: Sie fordern immer wieder den sofortigen Ausstieg
aus der Kernenergie; aber wenn es darauf ankommt, etwas dafür zu tun, sind Sie dagegen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Deshalb muss ich darauf verweisen, dass wir uns
grundsätzlich von Ihnen unterscheiden.
({0})
Wir gestalten die Zukunft und überprüfen, was sich machen lässt und was möglich ist. Wir wollen die Menschen, die Wirtschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf diesem Weg mitnehmen und weiterhin
insbesondere auf den Mittelstand und auf Innovation setzen;
Herr Kollege!
- denn das hat uns weitergebracht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Gysi, der neue Papst hat es
wirklich nicht verdient, dass er gleich am Anfang seiner
Regentschaft von der Linkspartei vereinnahmt wird. Ich
finde, das ist schon ein starkes Stück.
({0})
Liebe Frau Homburger - ich wollte eigentlich sagen:
Frau Brüderle -, das, was Sie gerade gemacht haben, ist
ebenfalls ein starkes Stück. Ab und zu reicht es, sich an
den Fakten abzuarbeiten. Ihre Partei hat es geschafft,
dem Etat durch die Hoteliersteuer 5 Milliarden Euro zu
entziehen.
({1})
Sie aber stellen sich jetzt hier hin und sagen, dass Geld
fehlt. Sie betreiben wirklich reine Klientelpolitik.
({2})
Ich sage Ihnen: Unsere Klientel sind die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes. Ich finde, genau so sollte es
sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Zukunftsinvestitionen, die für eine starke Wirtschaft und für Beschäftigung wichtig sind, gehört ganz entscheidend die
Infrastruktur. Deutschland ist ein Land mit einer hervorragenden Infrastruktur; das ist auch gut. Die Frage ist
nur: Wie lange noch? Seit letztem Donnerstag ist der
Nord-Ostsee-Kanal für große Schiffe gesperrt. Der
Grund: Minister Ramsauer hat die Mittel für die Schleusen gekürzt. Der Bundestag hat schon vor mehreren Jahren 300 Millionen Euro für neue Schleusenkammern
freigegeben. Aber es musste erst zu einer Sperrung kommen, bis Minister Ramsauer die Ausschreibung nun endlich fertig hat.
({4})
Schlimmer noch sieht es bei den Autobahnbrücken
aus. 302 Brücken sind laut Verkehrsinvestitionsbericht
so marode, dass ihre Vollsperrung droht. Was dies bedeutet, ließ sich bis vorige Woche in Leverkusen besichtigen. Die dortige Rheinbrücke war wegen Baufälligkeit
drei Monate lang für Lkw gesperrt. 13 000 Lastwagen
mussten täglich einen 20 Kilometer weiten Umweg fahren; sie verstopften den Kölner Ring. Das macht zusammen einen Umweg von circa 20 Millionen Kilometern.
Oder anders ausgedrückt: Es fielen ungefähr 20 Millionen Euro höhere Transportkosten an, für Ford, für
Lanxess, für Bayer und andere. Das zeigt doch, dass es
diese Bundesregierung - der verantwortliche Minister
sitzt ja dort - überhaupt nicht schafft, die Verkehrsinfrastruktur zu sichern.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so kann man in
Deutschland keine Verkehrspolitik betreiben, und so
kann man vor allen Dingen keine Industriepolitik betreiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Des Kollegen Vogel?
Ja.
Sehr gern.
Bitte schön.
Aber die Uhr müssten Sie anhalten.
Das ist schon passiert.
Sehr schön.
Kollege Bartol, eine ganz kurze Frage: Könnten Sie
aufzählen, welche Verkehrsminister zwischen 1998 und
2009 im Amt waren, und sagen, welcher Fraktion sie angehört haben?
({0})
Das ist relativ einfach: Die Sozialdemokratie hat die
Verkehrspolitik der letzten Jahre in diesem Land erfolgreich gestaltet.
({0})
Lieber Kollege Vogel, wir waren aber nicht diejenigen,
die einen Finanzierungskreislauf geschaffen haben, bei
dem es heißt: „Straße finanziert Straße“, sondern wir haben gesagt: Alle Verkehrsträger in diesem Lande sind
wichtig, und alle Verkehrsträger brauchen eine Finanzierung.
Da wir gerade über den Nord-Ostsee-Kanal reden,
muss ich Ihnen sagen: Dass Sie versuchen, das, was dort
geschehen ist, uns in die Schuhe zu schieben, ist ein
Witz. Wer hat sich denn im Landtagswahlkampf hingestellt und einen Spatenstich gemacht, aber seitdem nichts
getan? Wer ist denn derjenige, der die WSV-Reform so
durchgeführt hat, dass sie am Ende völlig vermurkst war,
und nun die gesamte Verwaltung völlig durcheinanderbringt?
({1})
In der kurzen Zeit, in der Minister Ramsauer die Verantwortung trägt, haben Sie eine sehr schlechte Verkehrspolitik gemacht.
({2})
Sie haben immer wieder Ankündigungen gemacht,
gleichzeitig aber Geld verloren. Ich glaube, das zeigt,
wer in diesem Lande die Verantwortung für die derzeitige Situation trägt.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Scheuer?
Ja.
Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich stelle fest,
({0})
dass Kollege Bartol die Frage des Kollegen Vogel, wer
im genannten Zeitraum aufseiten der SPD Verkehrsminister war, nicht beantworten kann. Ich möchte ihm
auf die Sprünge helfen und mich dabei auf die Finanztitel beziehen.
Meine erste Frage lautet: Wer hat es in den letzten
Jahren geschafft, mehr Mittel für die Infrastruktur bereitzustellen?
({1})
Zweitens. Können Sie Auskunft darüber geben, in
welchem Umfang die Mittel für Brücken unter Bundesminister Ramsauer in den letzten Jahren gestiegen sind?
({2})
Drittens. Wenn man sich die Diskussionen im Verkehrsausschuss vor Augen führt, muss man sagen: Sie
nutzen die Plattform hier zwar für Parteitagsreden, Herr
Kollege Bartol.
({3})
Mich würde aber viel mehr interessieren, in welchem
Umfang Bundesminister Ramsauer Mittelumschichtungen vom Neubau hin zum Erhalt vorgenommen hat; sie
sind nämlich beträchtlich.
Weil die Kollegin Andreae meine Frage vorhin nicht
mehr zugelassen hat: Könnten Sie mir sagen, wann die
Verträge zu Stuttgart 21 unterschrieben wurden bzw. in
wessen Amtszeit und unter welcher Regierungskoalition
dies geschehen ist?
({4})
Lieber Herr Staatssekretär Scheuer, ich freue mich,
dass die Bundesregierung ein bisschen reparlamentarisiert wird und Sie in dieser Debatte sogar eine Frage
stellen. Ich glaube, Herr Scheuer, dass es nicht immer
nur darum geht, wer am Ende das meiste Geld wie und
wo investiert hat. Vielmehr haben Sie es versäumt, verSören Bartol
nünftige Prioritäten zu setzen und eine verkehrspolitische Konzeption zu entwickeln. Das Einzige, was Sie
und Ihr Minister können, ist, zu sagen: Wir kommen aus
Bayern; Bayern muss es gut gehen, und nach Bayern
muss das Geld fließen.
({0})
Schauen Sie sich nur einmal an, welche Prioritäten Sie in
den letzten Jahren gesetzt haben; das ist relativ einfach.
Ich finde, eine Bundesregierung, ein verantwortlicher
Minister und ein Staatssekretär - als solcher sind Sie in
der Mitverantwortung -, die von der Bahn eine Zwangsdividende
({1})
von über 500 Millionen Euro nehmen und zulassen, dass
das meiste davon einfach im allgemeinen Haushalt verschwindet, brauchen mit uns über Verkehrspolitik überhaupt nicht zu reden.
({2})
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Beck. - Bitte
schön.
Herr Kollege, würden Sie die Auffassung teilen, dass
ein Verkehrsminister dem Wohle des gesamten deutschen Volkes verpflichtet ist? Wie sehen Sie vor diesem
Hintergrund die außerordentlich ungleiche Verteilung
der Verkehrsmittel, von der vor allen Dingen das Land
Bayern profitiert und bei der das Land Nordrhein-Westfalen faktisch leer ausgeht, obwohl es das bevölkerungsreichste und größte Land der Bundesrepublik Deutschland ist?
Lieber Kollege Beck, das ist einer der größten Skandale. Ich frage mich immer: Was wäre, wenn ein Verkehrsminister von einer anderen Volkspartei seine Wiederwahl in den Vorstand dieser Volkspartei damit zu
erkaufen versuchte, dass er in seinem Bundesland landauf, landab Ortsumgehungen verspricht - und dies sogar
in großen überregionalen Zeitungen nachzulesen ist -,
dann aber nichts passiert?
({0})
Ich sage Ihnen, Herr Ramsauer: Hätte jemand von uns
gemacht, was Sie gemacht haben, dann wäre er schon
dreimal zurückgetreten. Insofern kann ich das nur unterstützen: Die Verkehrsmittel sind extrem ungleich verteilt. Das ist eine klare Klientelpolitik. Aber von dieser
Koalition sind wir nichts anderes gewohnt.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich über
weitere Zwischenfragen.
Als Industrie- und Exportland sind wir zwingend auf
eine gute Infrastruktur angewiesen. Schlaglöcher, marode Brücken, gesperrte Kanäle zeigen doch: Wir leben
längst von der Substanz. Allein für die Instandhaltung
von Schienen, Straßen und Wasserstraßen fehlen über
3 Milliarden Euro. Diese Zahl stammt nicht von mir,
sondern von einer Kommission der Verkehrsministerkonferenz, die von einem ehemaligen CDU-Minister geleitet wurde.
Bei Strom und Telekommunikation sieht es kaum besser aus: Der Ausbau der Stromnetze kommt, weil es der
Regierung vor allen Dingen an Koordination fehlt, nicht
voran, und das Fehlen von Stromleitungen behindert immer mehr die Energiewende. Auch bei den Internetanschlüssen hat die Bundesregierung ihr Ziel, bis Ende
2010 eine flächendeckende Breitbandgrundversorgung
zu schaffen, verfehlt. Nach wie vor sind viele ländliche
Regionen von schnellen Internetverbindungen abgeschnitten. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union: Ist das eigentlich Ihre Politik für ländliche Räume?
({2})
Was Deutschland braucht und wofür wir uns als SPDBundestagsfraktion einsetzen, ist eine aktive Infrastrukturpolitik.
({3})
In unserem Projekt „Infrastrukturkonsens“ haben wir die
Grundlagen dafür gelegt. Der Bund muss mehr Geld in
die Infrastruktur investieren; aber es braucht vor allen
Dingen die richtigen Prioritäten. Eine Prioritätensetzung
à la Ramsauer heißt - das hatten wir gerade schon -:
Bayern zuerst, während im Norden und im Westen die
Verkehrswege verrotten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht sein.
({4})
Wir brauchen ein nationales Verkehrswegeprogramm,
durch das Engpässe beseitigt werden, und zwar in ganz
Deutschland. Wir brauchen auch eine deutliche Aufstockung der Mittel für den Erhalt der Verkehrswege, zum
Beispiel des Nord-Ostsee-Kanals. Ebenso brauchen wir
Akzeptanz für Infrastrukturvorhaben. Deshalb sind
Lärmschutz und Bürgerbeteiligung so wichtig. Am Ende
geht es auch um die Lebensqualität der Menschen.
({5})
Bei all dem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP, versagen Sie kläglich, Sie kom28424
men einfach nicht voran. Es ist immer noch eine Frage
des Wohnortes, ob man eine schnelle Internetverbindung
hat. Ich sage Ihnen: Wenn es der Wettbewerb an dieser
Stelle nicht richtet, eine flächendeckende Versorgung
aufzubauen, dann brauchen wir am Ende eben eine gesetzliche Verpflichtung zum Universaldienst. Ich glaube,
dafür müssen wir alle gemeinsam sorgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Lethargie und
Ihre Konzeptlosigkeit schaden der deutschen Wirtschaft.
Deutschland braucht eine Infrastrukturpolitik, mit der
die Bundesregierung ihre bzw. der Staat seine Aufgaben
endlich wieder erfüllt. Ansonsten werden wir die Substanz, die wir haben, niemals erhalten können.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Scheuer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Bei so vielen Unwahrheiten bin ich herausgefordert,
zum Mittel der Kurzintervention zu greifen.
Herr Kollege Bartol, wir haben in unserer Amtszeit
alle Programme, alle Investitionen streng nach Länderquote verteilt.
({0})
Die meisten Zusatzmittel - der erste Platz ist unangefochten - sind nach Nordrhein-Westfalen geflossen. An
zweiter Stelle liegen Baden-Württemberg und Bayern
gleichauf. - Übrigens, Herr Kollege Beck, wenn Sie
keine Ahnung von Verkehrspolitik haben, dann stellen
Sie keine Zwischenfragen dazu.
({1})
Wenn Sie sich die nackten Zahlen anschauen, dann wird
Ihnen das klar.
Wo gibt es denn die meisten Bürgerinitiativen für
Ortsumfahrungen? In Baden-Württemberg. Es geht hier
um Demokratie, und das müssen auch die Kolleginnen
und Kollegen der Grünen hinnehmen. Wenn wir in Baden-Württemberg bei einer Verkehrsfreigabe sind, sagt
der grüne Verkehrsminister stets: Das ist eine sinnvolle
Straße; es gibt aber viele Straßen, die nicht sinnvoll sind.
({2})
Genau da gibt es aber sehr viele Bürgerinitiativen, Bürgerinnen und Bürger, die für die Infrastruktur aufstehen.
Mein Dank geht an diese Bürgerinnen und Bürger.
({3})
Wir müssen das an Versagen abarbeiten, was Sie planerisch und auch vom Verfahren her nicht umsetzen können. Unlängst habe ich einen Tunnel freigegeben, der
mit Bundesgeld errichtet worden ist. Wie ist die Lage?
Die Auftragsverwaltung vor Ort kann die Ein- und Ausfahrten des Tunnels nicht managen. Wir müssen ständig
auf die Auftragsverwaltungen einwirken, vor allem auf
die von Rot und Grün, damit die Infrastruktur, in die wir
Bundesgeld investiert haben, genutzt werden kann.
Nun zu den Zusatzmitteln. Wir haben in den letzten
zwei Jahren zusätzliche Mittel in Höhe von 1 Milliarde
Euro und von 750 Millionen Euro bekommen.
({4})
Mein Dank geht hier an die SPD-Fraktion, die im Haushaltsausschuss neben der Koalition für diese Zusatzmittel gestimmt hat. Danke dafür!
({5})
Wissen Sie, wo die teuersten Projekte sind? Die sind
nicht in Bayern, sondern beispielsweise in Hamburg und
Nordrhein-Westfalen, beispielsweise die Schiersteiner
Brücke etc. Herr Kollege Bartol, hören Sie also auf mit
der Lüge, dass wir die Bundesmittel bevorzugt an Bayern verteilen. Den meisten Bedarf gibt es im Süden. Das
trifft genauso Baden-Württemberg. Wir verteilen diese
Mittel - das geben alle unsere Verlautbarungen auf die
zahlreichen Anfragen, die Sie stellen, wieder; Sie müssen sie eben auch einmal lesen - gemäß der Länderquote. Hören Sie auf, die deutsche Bevölkerung mit solchen unsäglichen Unwahrheiten zu veräppeln! Das ist
nicht der parlamentarische Stil, den ich normalerweise
von Ihnen gewöhnt bin.
({6})
Herr Kollege Bartol, Sie haben das Wort.
Lieber Kollege Scheuer, gleich zu Beginn so viel zu
den Fakten: Mir ist neu, dass die Schiersteiner Brücke in
Nordrhein-Westfalen liegt. Das würde ich an Ihrer Stelle
vielleicht noch einmal nachgucken. - Aber ganz im
Ernst: Ich glaube, wir müssen aufpassen, wie wir das
hier austragen.
Ich erinnere mich an Ihren Parteitag, auf dem es
knapp war für Minister Ramsauer; er wäre fast nicht
wiedergewählt worden. Er ist deshalb herumgezogen,
hat mit den Delegierten, mit einflussreichen Größen, gesprochen
({0})
- das kann man doch alles nachlesen ({1})
und dann einfach ein bisschen versprochen. Ich finde,
das kann man nicht machen. Das ist nicht in Ordnung;
das muss man doch einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Das hat mit einer echten verkehrspolitischen Prioritätensetzung nichts zu tun.
({2})
So viel zum Stil.
({3})
Kollege Scheuer, Ihr Minister gibt mittlerweile Pressemitteilungen heraus, die vor Parteipolitik geradezu
triefen. Nach der verlorenen Landtagswahl in Niedersachsen hat er versucht, die neue Regierung zu treiben,
indem er sagte: Wenn ihr nicht akzeptiert, dass es für den
Ausbau der A 7 ein ÖPP-Projekt geben wird, dann nehmen wir euch die Mittel weg und investieren sie woanders. - Den Gipfel der Bodenlosigkeit hat er sich bei
Stuttgart 21 geleistet. Fazit ist, dass die Fahrpreise der
Bahn steigen werden.
Lieber Kollege Scheuer, zu der Art und Weise, wie
hier Verkehrspolitik betrieben wird, muss ich sagen: So
ein schlechtes Management und so einen schlechten
Minister habe ich in den elf Jahren, in denen ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, noch nicht erlebt.
({4})
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bartol, was erzählen Sie eigentlich für einen
Unsinn mit „Bayern zuerst“? Schauen Sie sich doch einmal die Verkehrssituation im Süden von Bayern an, beispielsweise in der Region, aus der ich komme, dem
Wahlkreis Weilheim. Herr Barthel, der hinter Ihnen sitzt,
kann Ihnen das bestätigen. Dann sehen Sie, was „Bayern
zuerst“ bedeutet.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den Antrag der SPD-Fraktion wurde von den Wirtschaftspolitikern all das gepackt, was es nicht mehr in das Wahlprogramm der SPD geschafft hat. Ich habe das zum Anlass
genommen und mir zusätzlich zum heutigen Antrag das
diese Woche vorgestellte SPD-Wahlprogramm durchgesehen. Dabei teile ich im Kern die Analyse der großen
Herausforderung der Energiewende. Dennoch habe ich
ein paar Ungereimtheiten entdeckt, die ich Ihnen nicht
vorenthalten möchte.
({1})
Meine Damen und Herren, die Überschrift des Energiekapitels im SPD-Wahlprogramm lautet „Sichere und
bezahlbare Energie“. Beim Umweltschutz - habe ich das
richtig verstanden? - darf sich der Wunschkoalitionspartner austoben. Ich erlaube mir dazu nur einen Halbsatz: „Die Geister, die ich rief …“
Die Genossen schreiben in ihrem Antrag:
Trotz der substanziellen Stärke unserer Wirtschaft
- für dieses Kompliment an die christlich-liberale Regierung vielen herzlichen Dank drohen die Wachstumskräfte immer weiter zu erlahmen. In der Energiepolitik geraten Bezahlbarkeit
und Versorgungssicherheit der Energieversorgung
in Gefahr.
Dann frage ich Sie: Wie passt das damit zusammen,
dass Sie in Ihrem Wahlprogramm eine höhere Brennstoffsteuer für Kernkraftwerke fordern? Im Klartext
heißt das, Sie verteuern knapp ein Fünftel der Stromenergieerzeugung in Deutschland.
Keine drei Zeilen darüber soll es dem Programm nach
das Ziel sein, „die Belastungen sowohl für den einfachen
Stromkunden als auch für die in Deutschland produzierende Industrie so gering wie möglich zu halten“. Herr
Heil, diesen Widerspruch müssen Sie mir einmal erklären.
({2})
Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich stundenlang fortführen.
Abschließend möchte ich noch sagen, dass wir große
Teile Ihrer Forderungen aus dem Antrag bereits umgesetzt haben, zum Beispiel die Verbesserungen beim
KWK-Gesetz, die Verordnung zu abschaltbaren Lasten
oder die Koordinierung der Energiepolitik zwischen
Bund, Ländern, Kommunen unter Einbindung von Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft. Dies geschah im Rahmen von Initiativen der
Bundesregierung, manchmal - das muss ich zugeben unter Beteiligung der Opposition. Wir haben den Beirat
der Bundesnetzagentur, das Kraftwerksforum, die Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“ plus Beirat, das
EEG-Dialogforum, die Mittelstandinitiative Energiewende und das 6. Energieforschungsprogramm.
Zuletzt beantworten Sie mir bitte noch eine Frage,
Herr Heil. Weshalb erkennen Sie im Wahlprogramm
plötzlich an, dass von den Bauaufträgen zur energetischen Gebäudesanierung vor allem örtliche Handwerksbetriebe aus dem Mittelstand profitieren, und lassen dennoch die Möglichkeit der steuerlichen Abschreibung
dieser Maßnahmen im Bundesrat scheitern? Das bleibt
mir und sicherlich auch den Wählern sowie den kleinen
und mittelständischen Unternehmern ein Rätsel.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bartol, bei aller inhaltlichen Sympathie für Ihre
Aussagen - sie waren alle richtig -, muss ich Ihnen doch
sagen, dass Sie an einer Stelle einen Fehler gemacht haben.
({0})
Der Papst hat heute nicht seine Regenschaft, sondern
sein Pontifikat begonnen. Ich glaube, das muss klargestellt werden.
({1})
Meine Damen und Herren, was alle Päpste dieser
Welt nicht geschafft haben, hat diese Bundesregierung
geschafft. Sie hat in der Energiewirtschaft eines bewirkt:
einen absoluten Stillstand. Noch nie war es in Deutschland so, dass Sie fragen können, wen Sie wollen - vom
kleinen PV-Anlagenbauer bis zum Großkraftwerkshersteller -, und Ihnen jeder antworten wird, dass nichts
mehr investiert wird. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik,
die Sie hier machen.
({2})
Ich sage Ihnen: Ich hätte es in diesem Land nicht für
möglich gehalten, dass eine Bundesregierung rückwirkend in Verträge und bestehende Zusagen eingreifen
will. Das verursacht Kollateralschäden, die über die erneuerbaren Energien und die Energiewirtschaft weit hinausgehen. Das wird uns noch an vielen Stellen einholen. Ich hoffe: Es ist bald klar, dass das aus der Welt
geschafft wird.
({3})
Ich will jetzt hier gar nicht über die Erneuerbare-Ausbau-Bremse reden, gar nicht über das Quotenmodell,
({4})
das die FDP favorisiert und das gerade im zuständigen
Ausschuss des Bundesrates, von Sachsen eingebracht,
mit 15 Stimmen zu 1 Stimme versenkt worden ist, was
zeigt, wie wenig überzeugend Ihre Konzepte bei den eigenen Parteifreunden in den Landesregierungen wirken.
Darüber will ich nicht reden. Ich will nicht darüber reden, dass Sie 80 Prozent der Windenergieleistung im
Binnenland abwürgen wollen und damit alles kaputtmachen würden.
Ich möchte etwas aufgreifen, was Sie selbst in Ihrem
Koalitionsvertrag stehen haben. Da steht nämlich: Sie
wollen eine Deutsche Netz AG gründen. - Nur: Wir sind
am Ende der Legislaturperiode. Sie haben bei dem
Thema überhaupt nichts gemacht.
({5})
Sie haben alle Chancen verstreichen lassen, wo die Gelegenheit gewesen wäre, diese Idee umzusetzen. Als RWE
und Eon ihre Netze verkauft haben, da haben Sie die
Chance verstreichen lassen. Das ist das Ergebnis einer
FDP-geführten Politik, Privat vor Staat, die diese Chancen kaputtgemacht hat.
Wir haben im Herbst zum Thema Offshorenetzanbindung einen Vorschlag dahin gehend gemacht, dass der
Bund, anstatt die privaten Verbraucher zu belasten, hier
einsteigt und dass dies der Beginn einer Deutschen Netzgesellschaft ist. Ich freue mich, dass die Sozialdemokraten diese Idee aufgegriffen haben und jetzt in ihrem Antrag ein ähnliches Konzept vorschlagen. Ich freue mich,
dass die CSU diese Idee aufgegriffen hat. Ich habe zum
ersten Mal in meinem Leben mit Freude nach Wildbad
Kreuth geschaut und festgestellt, dass Sie dort tatsächlich etwas in Richtung Deutsche Netz AG beschlossen
haben.
Ich frage die Union: Wie lange wollen Sie sich eigentlich noch von der FDP bei diesem Thema am Nasenring
durch die Arena ziehen lassen,
({6})
wenn hier 96 Prozent des Parlaments bei diesem Thema
einer Meinung sind? Packen Sie das endlich an!
({7})
Genauso ist es beim Thema Energieeffizienz. Die
Bundeskanzlerin hat 2007 ausgerufen: Deutschland soll
Energieeffizienzweltmeister werden. - Was wir konkret
erleben, ist Folgendes: Erst blockieren Sie die Richtlinie
in Brüssel und drehen erst in letzter Minute auf politischen Druck hin bei. Jetzt geht es an die Umsetzung.
Was passiert im zuständigen Wirtschaftsministerium?
Dort hat man nichts Besseres zu tun, als mit Taschenspielertricks zu versuchen, dass Deutschland nichts mehr
machen muss. Da werden plötzlich Mehrwertsteuern,
Netzentgelte, die Lkw-Maut und was weiß ich sonst
noch alles zu Energieeffizienzmaßnahmen erklärt, nur
um sagen zu können: Auf diesem Gebiet müssen wir
nichts mehr tun. - Das geht nicht. Sie verschenken hier
die Chancen.
({8})
Wir sagen: Wir brauchen endlich einen Energieeffizienzfonds. Wir brauchen Anreizsysteme, so wie es sie
in Dänemark, in Großbritannien, in Frankreich und in
vielen Staaten der USA, sogar in Texas, gibt. Das Einzige, was Ihr Minister dazu sagt, ist: Sozialismus und
Planwirtschaft! - Ich sage nur: Texas - Hort des Sozialismus und der Planwirtschaft.
({9})
Das ist absurd, was Sie vertreten. Packen Sie das
Thema Energieeffizienz endlich an! Das ist eine Chance
für die deutsche Wirtschaft. Damit können Sie Energie
einsparen. Damit schützen Sie das Klima. Damit generieren Sie Wertschöpfung hier im Land. Das ist ein Erfolgsmodell, ein Exportartikel für die deutsche Wirtschaft.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Krischer, Sie müssen einmal eine neue Platte
auflegen.
({0})
Wir hatten vorhin eine große Diskussion zum Thema
Energie. Anlass war der Tagesordnungspunkt 3 mit vielen Anträgen zum Thema Energie. Offensichtlich haben
Sie gar nicht gemerkt, dass wir eine neue Debatte angefangen haben, dass es nämlich um den SPD-Antrag ging.
Lassen Sie sich einmal eine neue Rede schreiben. Dann
können Sie ja noch einmal Redezeit beantragen.
({1})
Bei der Durchsicht der Tagesordnung des Plenums für
diese Woche - das war sehr interessant - stand auf einmal
ein Antrag auf der Tagesordnung, „Deutschland 2020“,
den es überhaupt noch nicht gegeben hat. Ich dachte:
Das ist bestimmt spannend. - Aber die SPD war erst am
Dienstagabend in der Lage, den Antrag überhaupt zu
verteilen.
({2})
Der Titel des Antrags ist auch interessant: „Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft“ - darin stimmen
wir völlig überein. „Infrastruktur modernisieren“ - toll!
Aber das haben wir von Ihnen noch nie gehört. „Energiewende gestalten“ - auch bei diesem Argument stimmen wir hundertprozentig überein. Gleiches gilt für
„Innovationen fördern“. Also dachte ich mir: Das ist ja
toll; die SPD hat einen völlig neuen Kurs eingeschlagen,
({3})
und man kann heute möglicherweise völlig neue Töne
hören. Aber das war leider eine blanke Fehlannahme.
Die Enttäuschung war groß, als ich den Antrag durchgesehen habe.
Vieles ist schon angesprochen worden. Ich will nur
auf einige Aspekte eingehen. Ein Punkt ist der Breitbandausbau. Ich kann mich erinnern, dass wir in der
Großen Koalition gemeinsam die Breitbandinitiative beschlossen haben - das werden Sie wohl nicht in Abrede
stellen - und dass wir beim Breitbandausbau in Deutschland gewaltige Fortschritte gemacht haben. Darüber,
dass trotzdem noch Probleme bestehen und dass wir
auch im Beirat der Bundesnetzagentur immer wieder darüber diskutieren, wie wir noch schneller vorankommen
können, ohne dass wir Milliarden an staatlichem Geld
für den Breitbandausbau einsetzen müssen, besteht,
glaube ich, Einigkeit.
Dass der Ausbau des mobilen Internets in Deutschland eine einmalige Erfolgsgeschichte ist - nirgendwo in
Europa und in der Welt hat es in kürzester Zeit eine fast
flächendeckende Erschließung mit mobilem Internet gegeben -, kann man in Ihrem Antrag nicht nachlesen. Ich
kann auch darin keinen Vorschlag erkennen. Was ist
denn Ihre Strategie, um die Flächendeckung schneller zu
erreichen? Darüber lohnte es sich doch, zu reden, statt
mit Plattitüden irgendwas festzustellen.
Dann kommt das Thema Innovation, meine Damen
und Herren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dörmann?
Selbstverständlich gern.
Lieber Kollege Lämmel, da Sie das Thema Breitbandausbau angesprochen haben, über das wir uns hier
schon mehrfach unterhalten haben, frage ich Sie: Bestätigen Sie mir, dass wir vor wenigen Monaten einen sehr
umfassenden Antrag der SPD-Bundestagsfraktion genau
zum Thema Breitbandausbau diskutiert haben, wobei
wir unser Konzept sehr detailliert dargestellt haben? Unser Konzept sieht so aus, dass wir erstens eine flächendeckende Breitbandversorgung nicht für fast jeden
Haushalt, sondern für jeden Haushalt sicherstellen
möchten. Das wollen wir durch eine Universaldienstverpflichtung gesetzlich absichern. Wir setzen aber darüber
hinaus bei höheren Bandbreiten auf zusätzliche private
Investitionen und wollen die Rahmenbedingungen hierfür verbessern, damit der Wettbewerb tatsächlich zum
Ergebnis führt.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht auch zuzugestehen, dass wir immer noch nicht das
Ziel erreicht haben, das wir eigentlich in der Breitbandstrategie festgelegt haben, nämlich bis 2010 eine wirklich flächendeckende Versorgung in 100 Prozent der
Haushalte hinzubekommen, und dass im Zweiten Monitoringbericht zur Breitbandstrategie des Bundes die von
der Bundesregierung selbst beauftragten Gutachter festgestellt haben, dass auch das zweite Ziel, nämlich bis
2014 75 Prozent der Haushalte mit mindestens 50 Megabit zu versorgen, gefährdet ist, wenn keine zusätzlichen
Maßnahmen ergriffen werden? Haben Sie den Bericht
gelesen, und bestätigen Sie diesen Befund?
Zum ersten Punkt, dem Antrag, den wir im Plenum
diskutiert haben - das können Sie alles im Protokoll
nachlesen -, ist zu sagen: Wir haben mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes genau darauf reagiert. Genau die Punkte, die Sie in Ihren Anträgen nennen, sind im Prinzip im Gesetz enthalten.
Dass die Gutachter sagen, das Ziel für 2014 sei gefährdet, heißt nicht, dass das nicht stattfindet.
({0})
Ich kann auch behaupten, irgendwelche Ziele bis 2016
sind gefährdet, und ein Gutachten schreiben, Herr
Hempelmann. Sie wissen selbst, wie das mit Gutachten
ist. Darüber brauchen wir uns nicht auszutauschen.
Wir setzen unsere Energie dafür ein, dass wir in dem
Bereich vorankommen und die Maßnahmen, die im Telekommunikationsgesetz stehen, umgesetzt werden, und
dass wir die Initiative, die wir gemeinsam beschlossen
haben, genau in den Etappen umsetzen, wie sie auf dem
Papier stehen.
Das Zweite ist das Thema Innovationen im Mittelstand und in der Wirtschaft. Das ist ein sehr wichtiges
Feld. Komischerweise findet sich in dem Antrag der
SPD gar kein Hinweis darauf, dass die Ausgaben für
Forschung, Technologie und Innovationen in Deutschland einen absoluten Höchststand erreicht haben. Wenn
Sie sich zum Beispiel das erfolgreichste Programm ansehen, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand,
dann müssen Sie feststellen, meine Damen und Herren,
dass wir so viele Anträge wie noch nie bewilligt haben.
({1})
Nachdem im Konjunkturpaket II das Programm für ganz
Deutschland geöffnet worden ist, hat sich das explosionsartig entwickelt. Das ignorieren Sie einfach. Sie wollen
der christlich-liberalen Koalition nicht einen einzigen
Erfolg gönnen und versuchen, mit Plattitüden alles negativ darzustellen.
({2})
- Dazu wollte ich gerade kommen, Herr Heil. Wie Sie
wissen, ist das auch unser Lieblingsthema.
({3})
Sie haben es in der rot-grünen Koalition nicht geschafft.
Wir haben es in der Großen Koalition auch noch nicht
geschafft.
({4})
Aber wir werden es in der christlich-liberalen Koalition
schaffen; darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.
({5})
Wenn nicht, dann machen wir das spätestens zu Beginn
der nächsten Legislaturperiode,
({6})
und zwar in der bestehenden Konstellation.
Dann lässt sich folgende pikante Formulierung in Ihrem Antrag finden:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … mit den Ländern einen Investitionspakt
für die kommunale Verkehrsinfrastruktur zu schließen, bei dem die Länder weiterhin Investitionsmittel für die kommunale Verkehrsinfrastruktur erhalten und sich im Gegenzug verpflichten, die Gelder
zweckgebunden zu verwenden;
Das ist wirklich unglaublich. Sie schreiben im Antrag
extra fest, dass sich die Länder verpflichten, das Geld,
das sie vom Bund bekommen, zweckgebunden zu verwenden. Ich weiß, worauf Sie dabei zielen. Das zielt auf
Nordrhein-Westfalen. Frau Kraft hat es vom Verfassungsgericht praktisch schriftlich bekommen, dass ihre
Haushalte nicht verfassungsgemäß sind,
({7})
da die Neuverschuldung in Nordrhein-Westfalen Höhen
erreicht, die mit der Verfassung nicht mehr in Einklang
zu bringen sind. Des Weiteren zielt Ihre Formulierung
auf Berlin, wo Herr Wowereit schon seit Jahrzehnten
eine ähnliche Politik betreibt wie Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen. Berlin ist das höchst verschuldete Land
und erhält die meisten Mittel aus dem Länderfinanzausgleich. Sie schreiben diesen Passus in Ihren Antrag, weil
in den Ländern, in denen Sie regieren, Mittel zweckentfremdet werden. Daran, dass Sie das in Ihren Antrag
schreiben müssen, kann man sehen, wie weit es mit Ihrer
Politik gekommen ist.
({8})
In Ihrem Antrag steht nicht, dass die christlich-liberale Koalition die Kommunen um 50 Milliarden Euro
bei den Ausgaben für die Grundsicherung im Alter entlastet und dass dieses Geld auf kommunaler Ebene verwendet werden kann, um zum Beispiel Infrastrukturprojekte voranzubringen.
In Ihrem Antrag steht des Weiteren der schöne und interessante Satz: „Wir benötigen einen neuen gesellschaftlichen Konsens,“ wenn es um Infrastrukturprojekte geht.
Da bin ich wirklich gespannt. Ich erlebe, dass überall dort,
wo Aktionen gegen Infrastrukturprojekte stattfinden
- egal ob es sich um Straßen, Brücken, Stromleitungen
oder andere Infrastrukturprojekte handelt -,
({9})
zumeist SPD und Grüne an der Spitze stehen und den
Widerstand organisieren.
({10})
Ich möchte gerne wissen, was Ihr neuer Konsens für Infrastrukturprojekte beinhaltet. Darüber sollten wir reden.
Es gibt eine andere interessante Formulierung in Ihrem Antrag. Sie fordern die Bundesregierung auf, „eine
Initiative zur Schaffung von mehr Technikverständnis
auf den Weg zu bringen“. Wie Sie wissen, komme ich
aus Ostdeutschland, und ich brauche keine neue Initiative. Aber dort, wo Sie seit 30 Jahren Schul- und Bildungspolitik betreiben, braucht man eine solche Initiative, weil Sie einer ganzen Generation junger Leute
Technikfeindlichkeit suggeriert und vermittelt haben:
Technik ist etwas Schlechtes. Wir brauchen nur weiche
Standortfaktoren. Wir brauchen für die Entwicklung des
Landes nichts mehr zu tun.
({11})
Die Fehler, die Sie gemacht haben, gestehen Sie genau
mit dieser Formulierung ein. Ich bin gespannt, wie diese
Initiative aussehen soll.
Ein weiterer Punkt Ihres Antrags, der sehr wichtig ist
und dem ich zustimme - die entscheidende Frage ist allerdings, welche Lösung dabei angestrebt wird -, ist die
Forderung, „die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver
Unternehmen zu gewährleisten“. Toll! Was ich von Ihnen ständig höre, ist aber das genaue Gegenteil.
({12})
Sie wollen die Privilegien der stromintensiven Industrie
und die Netzentgelte abschaffen.
(Hubertus Heil ({13}) ({14}): Quatsch! Das
war der Altmaier, Mann!
Nichts anderes höre ich seit Wochen aus Ihren Reihen.
Nichtsdestotrotz schreiben Sie einen solchen Satz eiskalt
in Ihren Antrag.
({15})
- Herr Heil, Ihre Rede, die Sie heute früh gehalten haben, lag sicherlich schon fertig in der Schublade.
({16})
- Genau. Deshalb fiel Ihnen auch nichts zum Antrag Ihrer Fraktion ein. Sie kennen den Inhalt wahrscheinlich
gar nicht.
({17})
Des Weiteren fordern Sie in Ihrem Antrag, „die Rohstoffgewinnung im Inland zu erleichtern“. Toll! Da bin
ich gespannt. Ich werde diesen Satz immer wieder vortragen, um Sie daran zu erinnern, dass Sie das zwar fordern, aber nicht leben.
Frau Andreae, jetzt muss ich zu Ihrem Beitrag kommen, weil Sie hier im Plenum im Zusammenhang mit
dem EEG wirklich eine große Unwahrheit verbreitet haben. Wir sind immer dafür, die Einführung neuer Technologien zu befördern, aber es kann nicht darum gehen,
nur Masse zu befördern, nur Fläche zu befördern, ohne
Effizienz zu bewirken. Das EEG ist ein Gesetz, das ausschließlich Masse befördert.
Nun haben Sie hier am Pult behauptet, dass die christlich-liberale Koalition in den letzten Jahren für die
Schwierigkeiten der Solarindustrie in Deutschland verantwortlich sei.
({18})
Sie wissen doch genau, dass das eine glatte Lüge ist.
({19})
Wir haben mit dem Geld der deutschen Stromverbraucher, der privaten Verbraucher genauso wie der Industrie, dafür gesorgt, dass in Asien, vor allem in China,
ein enormer Arbeitsplatzaufbau stattgefunden hat. Wenn
Ihr Argument stimmen würde, dann müsste der Markt
für Solartechnik in Deutschland im Prinzip zusammengebrochen sein. Das ist aber gerade nicht der Fall,
sondern er hat Höchststände. Wenn die deutsche Solarindustrie offensichtlich nicht in der Lage ist, sich im
Wettbewerb zu behaupten, dann können Sie doch nicht
sagen: „Das ist eine Folge der Politik“, sondern dann
müssen Sie einmal nachfragen: Wieso kann die deutsche
Solarwirtschaft nicht gegen die Konkurrenz, vor allen
Dingen die asiatische, ankommen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Ja. - Das müssen Sie den Leuten schon erklären!
Sie haben vier EEG-Novellen blockiert. Genau dort
wollten wir regulierend eingreifen, um diese Fehlsteuerung zu vermeiden.
Bitte schön, Herr Lenkert.
Vielen Dank. - Herr Kollege Lämmel, Sie sagten gerade, dass es keinen Arbeitsplatzabbau in der Solarbranche gebe. Diese Äußerung können Sie gern in Frankfurt
an der Oder wiederholen. Diese Äußerung können Sie
gern in meinem Wahlkreis wiederholen, wo Schott Solar
geschlossen hat; fast 300 Leute sind entlassen worden.
Da ging es um die Modulproduktion, nicht um die Installation auf Dächern.
Sie müssen sich gefallen lassen, dass wir Ihnen sagen,
dass die Bundesregierung durch die Verunsicherung an
dieser Stelle dafür gesorgt hat, dass Kreditlinien solcher
Firmen gekündigt wurden, dass die Bundesregierung
keine Maßnahmen ergriffen hat, um einen Ausgleich zu
schaffen, nachdem die Volksrepublik China ihren Solarfirmen zinslose Kredite mit sehr langen Laufzeiten zur
Verfügung gestellt hat und damit die Finanzierung im
Prinzip zu null zu haben war - das ist nach den Richtlinien der Welthandelsorganisation übrigens keine Wettbewerbsverzerrung -, dass sie also nichts dagegen unternommen hat. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, es
habe keine Auswirkungen auf Arbeitsplätze in der Bundesrepublik gegeben, dann gehen Sie nach Sachsen-Anhalt, dann gehen Sie nach Thüringen und erklären es
bitte den Leuten dort und erklären Sie mir hier jetzt
auch, wie Sie diese Äußerung rechtfertigen!
({0})
Herr Kollege, offensichtlich haben Sie verstopfte Gehörgänge oder so etwas. Ich habe überhaupt nicht gesagt,
dass es nicht zu Arbeitsplatzabbau gekommen ist. Es ist
völlig aus der Luft gegriffen, was Sie hier behaupten. Ich
brauche jetzt nicht auf Ihre Frage eingehen, weil das jeglicher Grundlage entbehrt.
({0})
Ich komme noch einmal zum Antrag der SPD. Die
Zusammenfassung des Ganzen lautet: Ihr Antrag ist
praktisch ein buntes Gemisch aus allen Themen. Es sind
einige Punkte enthalten, die durchaus diskussionswürdig
sind, aber 80 Prozent dessen, was Sie in dem Antrag
schreiben, machen wir schon. Deswegen brauchen wir
den Antrag gar nicht, und deswegen ist das aus meiner
Sicht auch kein Konzept 2020. In ein Konzept 2020
müsste man etwas Neues hineinschreiben und dürfte
nicht all das aufführen, was wir bisher schon machen. Insofern war es zwar schön, die Zeit mit Ihnen hier zu verbringen, aber das war in der Sache eigentlich nicht förderlich.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist
Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vertrauensschwund insbesondere der deutschen Wirtschaft gegenüber der Regierung ist mit Händen zu greifen.
({0})
Es sind Konfusion, Konzeptlosigkeit, Flickschusterei zu
beobachten, was mittlerweile der deutschen Wirtschaft
und demzufolge der gesamten Gesellschaft wehtut. Das
müssen wir beenden.
({1})
Ich möchte das an ein paar Themen deutlich machen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie in dem
Antrag finden.
Deutschland 2020 ist ein Prozess, den wir in den vergangenen Monaten und Jahren eingeleitet haben und der
sich auf ganz unterschiedliche Themen bezieht, Herr
Lämmel. In der heutigen Diskussion geht es um drei wesentliche Schwerpunkte, nämlich um die Infrastruktur,
um die Energiewende und um die Innovation. Ich
möchte mich in meinen Ausführungen auf die Energiewende beschränken.
Wer die deutsche Wirtschaft stark machen will, muss
Verlässlichkeit schaffen. Was erleben wir stattdessen?
Wir erleben eine Konfusion innerhalb der Regierung.
Wenn ich es richtig gelesen habe, tagte gestern der Umweltausschuss, und die beiden für die Energiewende verantwortlichen Minister lehnten es ab, gleichzeitig an einem Tisch zu sitzen. Das ist das Sinnbild dafür, dass man
sich nicht grün ist und dass jeder seine eigenen Konzepte
gegen den anderen durchsetzen will und damit Stillstand
erreicht.
({2})
Ich will einige weitere Beispiele aufzählen. In Brüssel
geht es um die Frage des Zertifikatehandels. Das ist ein
ganz wesentliches Instrument, das wir beleben wollen.
Die beiden verantwortlichen Minister schlagen hierzu
jedoch unterschiedliche Konzepte vor. Demzufolge passiert nichts. Das muss geändert werden. Statt Konzeptionslosigkeit und Flickschusterei brauchen wir Planungssicherheit beim Zertifikatehandel.
({3})
Das zweite Thema bezieht sich auf die energieintensiv produzierenden Unternehmen. Wir haben die entsprechende Regelung unter Rot-Grün nicht zuletzt deshalb eingeführt, damit die gesamte Wertschöpfungskette
in Deutschland bleibt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bescheinigt jetzt der Regierung, dass die Ausweitung bzw. die Neupositionierung in diesem Bereich
verfassungswidrig sei. Brüssel hat in diesem Zusammenhang ein Verfahren eingeleitet.
Wie wollen Sie dieser wichtigen Industrie Planungssicherheit bieten, die wir dringend brauchen? Das ist
also wiederum Flickschusterei und Konfusion. Das muss
zu Ende gehen.
({4})
Das dritte Thema bezieht sich auf die Offshorewindgebiete. Da wird der Industrie versprochen: Wenn ihr
Windparks einrichtet, dann werden diese an das Ufer angeschlossen. Damit ist ein Abtransport des Stroms Richtung Süden möglich.
Mein sehr verehrter Kollege Glos hat dafür gesorgt,
dass die Netze privatisiert werden. Nun ist beispielsWolfgang Tiefensee
weise TenneT - im Hintergrund die Niederlande - nicht
in der Lage, den Anschluss zu gewährleisten. Ist das Planungssicherheit? Haben wir einen Minister gesehen, der
in Den Haag dafür sorgt, dass das Eigenkapital gestärkt
wird, damit die Offshorewindgebiete angeschlossen werden? Nein. Planungsunsicherheit für die Industrie. Flickschusterei. Konfusion. Das muss beendet werden.
({5})
Ein weiteres Thema: Es wird immer vom sogenannten NOVA-Prinzip gesprochen - das bedeutet Netzoptimierung vor Ausbau -, das Sie in Sonntagsreden hochhalten. In welchem Gesetz, in welcher Verordnung steht,
dass bei einer Neukonzipierung von Netzen zunächst
dieses Prinzip anzuwenden ist, dass also zunächst die
vorhandenen Netze zu optimieren sind, sodass man über
Pilotprojekte, beispielsweise Erdverkabelung, zu einer
Lösung kommt? Das steht nirgendwo. Das steht zwar in
den Präambeln und in Ihren Sonntagsreden. Es bringt
aber keine Planungssicherheit für diejenigen, die in den
Kommunen und Ländern planen und die Prozesse vorantreiben müssen, weil das nirgendwo steht. Konfusion.
Flickschusterei. Das muss beendet werden.
({6})
Ein weiteres Thema. Dabei möchte ich all diejenigen,
die immer wieder auf dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm herumreiten, insbesondere Herrn Breil, an die
Fakten erinnern: Wir haben den Kommunen, den Eigentümern von Eigenheimen, von Wohnungen und von
Wohnungskomplexen versprochen, dass wir bei der
energetischen Gebäudesanierung vorankommen.
An der gestrigen Ausschusssitzung nahm auch Herr
Dr. Schröder von der KfW teil. Ich habe ihn explizit gefragt: Was halten Sie davon, dass die Bundesregierung
ein bestehendes und gut eingeführtes Programm verändert, nämlich das Programm zur Ausreichung von zinsverbilligten Krediten an die Hausbanken, hin zu einer
steuerlichen Förderung, die niemand will, mit der nur
eine bestimmte Klientel gefördert wird?
Planungssicherheit sieht anders aus. Außerdem ist es
dringend geboten, für mehr Energieeffizienz zu sorgen.
Also auch hier wieder Flickschusterei und Konfusion.
Das muss beendet werden, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({7})
So ließe sich die Reihe der Konfusion und der Flickschusterei weiter fortsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deutsche Wirtschaft, die privaten Investoren und die privaten
Haushalte brauchen Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Sie brauchen eine Vision. Wer nicht zielbewusst ist,
der lässt sich vom Schicksal treiben. Wir mahnen an
- das ist die Quintessenz unseres Antrages -, dass wir
uns klare Ziele vorgeben und auf ihrer Grundlage Projekte entwickeln, die unter Beteiligung der Bevölkerung
und der politischen Mehrheiten umgesetzt werden. Wir
brauchen keine Ankündigungen, wir brauchen keinen
Streit in der Regierung, sondern endlich konkretes Handeln. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
wird es Zeit, dass der September 2013 kommt und wir
die Konzepte, die wir hier vorlegen, tatsächlich umsetzen können.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12682 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Datenbankgrundbuchs ({0})
- Drucksache 17/12635 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})-
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die
abschließende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages
zwischen dem Bund, den neuen Ländern und
Berlin ({2}) und
zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 17/12639 Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss ({3})-
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes
- Drucksache 17/12640 Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss ({4})-
Innenausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic,
Patrick Döring, Petra Müller ({5}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Öffentlich-Private Partnerschaften - Potenziale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen
- Drucksache 17/12696 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Undine Kurth ({7}), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltung von Delfinen beenden
- Drucksache 17/12657 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bienen und andere Insekten vor Neonicotinoiden schützen
- Drucksache 17/12695 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur
gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos
- Drucksache 17/12679 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur Änderung des Pressefusionsrechtes
- Drucksache 17/12680 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({12}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Hochschulpakt aufstocken - Finanzierung von
wachsenden Studienkapazitäten an den Hochschulen langfristig sicherstellen
- Drucksache 17/12690 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({13})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Korruption im Gesundheitswesen strafbar
machen
- Drucksache 17/12693 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({14})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tonnagesteuer statt Steuersparmodell
- Drucksache 17/12697 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({15})Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so.
Dann sind die Überweisungen beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um
die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai
2012 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Korea über die Seeschifffahrt
- Drucksache 17/12336 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({16})
- Drucksache 17/12574 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Ausschuss für Verkehr empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12574, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12336 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung seeverkehrsrechtlicher und
sonstiger Vorschriften mit Bezug zum Seerecht
- Drucksache 17/12348 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({17})
- Drucksache 17/12594 Berichterstattung:Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Verkehrsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12594, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12348 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks
- Drucksache 17/12343 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({18})
- Drucksache 17/12595 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Verkehrsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12595, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/12343 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Fünfundneunzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 17/12226, 17/12441 Nr. 2.1,
17/12728 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({20})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12728, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12226
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken
und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({21}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertzehnte Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste
- Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 17/12227, 17/12441 Nr. 2.2,
17/12729 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({22})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12729, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12227
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linken und
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({23}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Hinweispflichten des
Handels beim Vertrieb bepfandeter Getränkeverpackungen ({24})
- Drucksachen 17/12303, 17/12441 Nr. 2.3,
17/12739 Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12739, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12303 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkte 35 g bis 35 m. Das sind Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Zunächst Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 546 zu Petitionen
- Drucksache 17/12511 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 546 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 547 zu Petitionen
- Drucksache 17/12512 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 547 ist gegen die Stimmen der Grünen vom Haus angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 548 zu Petitionen
- Drucksache 17/12513 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 548 ist angenommen
gegen die Stimmen der Linken.
Tagesordnungspunkt 35 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 549 zu Petitionen
- Drucksache 17/12514 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 549 ist mit den Stimmen von Koalition und SPD gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 550 zu Petitionen
- Drucksache 17/12515 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 550 ist mit den Stimmen der Koalition und der Linken gegen die Stimmen
von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 551 zu Petitionen
- Drucksache 17/12516 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 551 ist mit den Stimmen der Koalition und der Grünen gegen die Stimmen
von SPD und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 552 zu Petitionen
- Drucksache 17/12517 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 552 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({32}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Monika
Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen umsetzen
- Drucksachen 17/7953, 17/8643 Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön ({33})Christel HummeNicole Bracht-BendtJörn WunderlichMonika Lazar
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8643, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7953 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({34}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({35}), Memet Kilic, weiVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen
- Drucksachen 17/11356, 17/11725 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({36})Ulla JelpkeJosef Philip Winkler
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11725, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11356 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPD
Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn
im Hinblick auf die Einhaltung europäischer
Grundwerte
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({37})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn es sich ein Land mit dem Urteil über Ungarn nicht
einfach machen darf, dann unser Land, dann Deutschland. Viel zu viel haben wir den Ungarn zu verdanken.
Europa, auch Deutschland, sähe anders aus, wenn die
Ungarn damals, vor mehr als 23 Jahren, nicht Menschlichkeit gezeigt hätten. Sie waren die Ersten, die den Mut
hatten, den Eisernen Vorhang zu überwinden,
({0})
und sie waren es, die den Weg zur deutschen Einheit frei
gemacht haben.
({1})
Deshalb, das sage ich auch für mich, sind wir Deutschen vielleicht nicht die Ersten, die berufen sind, in moralische Empörung zu verfallen, wenn es um politische
Fehlentwicklungen in Ungarn geht. Aber wir sind weiß
Gott nicht die Ersten. Zu dem, was wir dort gegenwärtig
erleben - gerade weil es uns schmerzt - können wir eben
nicht einfach schweigen. Dazu müssen wir uns verhalten. Das verlangt Position, und Wegducken ist da keine
Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Gestern hat das ungarische Parlament die vierte Verfassungsreform in knapp zwei Jahren auf den Weg
gebracht. Mit jeder dieser Reformen macht sich der Ministerpräsident, machen sich Viktor Orban und die konservative Fidesz den ungarischen Staat mehr und mehr
zur Beute. Mit jeder dieser Reformen wurden Rechtsstaat und Demokratie weiter beschädigt. Jeder, der sich
diesem Kurs entgegenstellt, wird - das war in den letzten
zwei Jahren zu besichtigen - abgestraft. Das Verfassungsgericht wurde seiner Kompetenzen beraubt, als
Hüter der Verfassung entmachtet. Richter und Staatsanwälte wurden massenweise entlassen, durch FideszGefolgsleute ersetzt. Die unabhängige Presse wurde per
Mediengesetz unter Druck gesetzt. Gesetzgebungsbefugnisse des Parlaments wurden eingeschränkt, und das
Wahlrecht wurde zugunsten der Fidesz-Partei zurechtgebogen. Die Religionsfreiheit wurde von Regimetreue abhängig gemacht. In der Summe, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das eben keine
bloße Anpassung an veränderte Realitäten, sondern das
ist Raubbau an Demokratie und Rechtsstaat.
({3})
Aber nicht nur das; begleitet wird das alles von einem
dumpfen und völkischen Nationalismus, und das nicht
nur am äußersten rechten Rand, sondern immer unverhohlener auch in der Mitte der Partei des Ministerpräsidenten, der Regierungspartei. Fremdenfeindlichkeit,
Ausfälle gegen Andersdenkende, all das wird in Ungarn
allmählich gesellschaftsfähig gemacht. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen - da sind wir uns hoffentlich einig -, können wir nicht einfach zuschauen.
({4})
Wir dürfen nicht einfach zulassen, dass europäische
Grundwerte mitten in der Europäischen Union offen und
gezielt missachtet und verletzt werden, auch deshalb,
weil es hier nicht nur um Ungarn geht. Wenn einzelne
EU-Staaten sich in einen vordemokratischen Nationalismus flüchten, dann zerfrisst das am Ende unseren gemeinsamen Wertekanon, und das dürfen wir nicht zulassen.
({5})
Deshalb dürfen wir wohl erwarten, dass die Europäische Kommission zu diesen Vorgängen mehr findet als
nur laue Worte. Deshalb erwarte ich auch, dass eine Gipfelerklärung des Europäischen Rates morgen mehr dazu
enthält als Ausdruck von Sorge und dass vor allem die
deutsche Bundeskanzlerin das Nötige dafür tut. Deshalb
erwarte ich von einer Parteienfamilie, in der die Union
mit der Fidesz ja nicht nur irgendwie befreundet ist, sondern in einer Fraktionsgemeinschaft im Europäischen
Parlament sitzt, auch nicht nur Worte, sondern Maßnahmen. Wir erwarten von der EVP und von Frau Merkel
genau das, was Sie unserer Parteienfamilie im Fall der
Slowakei vor einigen Jahren abverlangt haben - nicht
mehr, aber auch nicht weniger.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Gunther Krichbaum für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ihre Haltung zu den aktuellen Entwicklungen in Ungarn hat die Bundesregierung mehr als
nur einmal deutlich gemacht, zuletzt beim Besuch des
ungarischen Staatspräsidenten diese Woche. Es waren
intensive Gespräche zwischen ihm und Bundeskanzlerin
Merkel und natürlich auch dem Außenminister, Herrn
Westerwelle. Ich darf auch daran erinnern, dass Frau
Staatsministerin Pieper erst kürzlich in Ungarn war und
auch diese Begegnung dazu nutzte, die Position der Bundesregierung hinreichend deutlich zu machen.
Ich glaube, es ist aber auch wichtig, gerade zu Beginn
dieser Aktuellen Stunde darauf hinzuweisen, dass wir
uns in einem Plenarsaal und nicht in einem Gerichtssaal
befinden. Deshalb sitzt hier kein Land auf der Anklagebank. Dem Land Ungarn haben wir in der Tat - Herr
Steinmeier hat es erwähnt - gerade wegen des Jahres
1989 sehr viel zu verdanken. Ohne Ungarn wäre die
deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen.
({0})
Umgekehrt nehmen wir zu den aktuellen Geschehnissen mit Bestimmtheit, aber natürlich auch mit Augenmaß Stellung. Deswegen ist es für mich persönlich
wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei solchen Kommentierungen nicht um die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten eines Landes geht. Warum ist dies der
Fall? Spätestens mit dem Vertrag von Lissabon haben
wir eine Unionsbürgerschaft, das heißt, alle Menschen
innerhalb der Europäischen Union haben den gleichen
Anspruch auf Teilhabe an den gemeinsamen Werten wie
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Deswegen begrüße
auch ich persönlich sehr die Initiative - ausgehend von
vier Außenministern der Länder Deutschland, Dänemark, Finnland und den Niederlanden, mit Herrn
Westerwelle an der Spitze - in die Richtung, dass wir in
Zukunft auf Fehlentwicklungen schneller reagieren können müssen. Wir benötigen einen Ad-hoc-Mechanismus.
Das haben wir schon im letzten Jahr gesehen, als es
Fehlentwicklungen in Rumänien aufgrund eines Amtsenthebungsverfahrens gab. Ganz nebenbei: Schon damals hätte ich mir eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema gewünscht, die dann aber nicht zustande kam.
({1})
Das muss auch gesagt werden können.
Wir haben das sogenannte Verfahren nach Art. 7 des
EU-Vertrages. Das ist aber zu schwerfällig. Die Hürde
hängt zu hoch. Deswegen brauchen wir einen Ad-hocMechanismus. Ich hoffe, dass auch die Initiative von
Herrn Westerwelle dazu beitragen kann, die Kommission davon zu überzeugen.
Das gilt auch deswegen, weil wir spätestens mit John
Locke und Montesquieu den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht nur entwickelt haben, sondern er das Herzstück einer jeden Demokratie bildet. Es geht dabei darum, dass die drei Gewalten - die rechtsprechende, die
vollziehende und natürlich auch die gesetzgebende Gewalt - sich untereinander ausbalancieren und nicht die
eine Gewalt sich die andere gefügig machen darf. Es
darf sich auch nicht die eine Gewalt der anderen überstülpen. Das darf in einer Demokratie nicht geschehen.
Darauf müssen wir hinweisen können und dürfen.
({2})
Die Grundwerte innerhalb der Europäischen Union
- egal ob es die Demokratie, der Rechtsstaat oder die
Friedensstiftung sind - sind identitätsstiftend, worauf
nicht zuletzt Bundespräsident Gauck in seiner Rede hingewiesen hat.
Ein letztes Argument, warum wir den Ad-hoc-Mechanismus so dringend benötigen, sei auch erwähnt. Es geht
nicht nur um die Wahrung demokratischer Prinzipien. Es
geht auch um die Wahrung der Freiheitsprinzipien. Ich
denke hier an ein weiteres Element der jüngsten Änderungen. Studenten, die in Ungarn studiert haben, haben
beispielsweise nicht mehr die Möglichkeit, ohne Weiteres das Land zu verlassen. Sie können es nur mit Restriktionen verlassen. Es geht auch darum, dass eine Bankensteuer Platz gegriffen hat. Dies betrifft das Prinzip der
Marktwirtschaft, weil es ausschließlich ausländische
Banken angeht. Die Prinzipien der Demokratie, der Freiheit und der Marktwirtschaft sind die Kernelemente der
sogenannten Kopenhagener Kriterien, die einen Beitritt
eines Landes erst ermöglichen.
({3})
Im Kern geht es darum, dass die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union eine gemeinsame Verantwortung
tragen, damit die Bürgerinnen und Bürger aller Länder
auch in den Genuss der Werte kommen, die uns ausmachen. Deswegen ist es wichtig, jedes Partnerland darauf
hinzuweisen. Die heutige Debatte darf aber nicht nur
über Ungarn gehen, sondern sie muss mit Ungarn geführt werden und mit allen anderen Ländern, in denen es
um analoge Schwierigkeiten und Fragen geht.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat Stefan Liebich für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Bundeskanzlerin ist besorgt. Gut so; denn die Lage in
dem Land muss einen ja auch besorgt machen. Die Regierungspartei nutzt ihre große Mehrheit für Verfassungsänderungen: erstens zur Einschränkung der Rechte
des Verfassungsgerichts, weil es Gesetze kassiert hat,
zweitens für Regelungen, dass Menschen, die keinen festen Wohnsitz vorweisen können, Geldstrafen oder sogar
Haft drohen, drittens dafür, dass Wahlwerbung für Parteien
nur noch in den Sendern möglich ist, die gegenwärtig von
der Regierungspartei kontrolliert werden. Ja, das sollte
nicht nur Angela Merkel, sondern uns alle besorgt stimmen. Wir reden hier nicht nur über Lukaschenkos Belarus.
Wir reden über einen Mitgliedstaat der Europäischen
Union. Wir reden über Ungarn.
Zur Erinnerung - Frank-Walter Steinmeier hat es angesprochen -: Die Europäische Union ist zwar zunächst
als Montanunion, also als Wirtschaftsunion, entstanden,
sie hat sich aber inzwischen auf gemeinsame Werte verständigt. Im Vertrag über die Europäische Union heißt
es:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte
der Personen, die Minderheiten angehören.
Herr Krichbaum, deshalb reichen der Ausdruck von Besorgnis und die Hinweise mit Blick auf Ungarn im Jahr
2013 nicht mehr aus.
({0})
Herr Orban und seine Fidesz-Partei kamen 2010 mit
einem fulminanten Wahlsieg legitim an die Regierung.
Schon 2011 wurde die Verfassung geändert, was international kritisiert wurde. Dann kam das Pressegesetz, 2012
das Gesetz über die Notenbank Ungarns und schließlich
die Politik gegen Sinti und Roma, gegen Lesben und
Schwule und deren Demonstrationsfreiheit.
Intellektuelle wie György Konrad, Peter Esterhazy
und der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz gelten im
offiziellen Ungarn als unpatriotisch, weil sie die Politik
der Regierung kritisieren. Dafür werden im ganzen Land
unter Beteiligung von Fidesz-Parteipolitikern Denkmale
für Miklós Horthy, dem Reichsverweser, Initiator der
ersten Judengesetze, Verbündeten von Hitler-Deutschland, aufgestellt. Der Friedensnobelpreisträger Elie
Wiesel hat deshalb kürzlich seinen Verdienstorden an
den Parlamentspräsidenten zurückgegeben.
Erst vor wenigen Wochen hat der persönliche Freund
von Viktor Orban und Mitbegründer der Fidesz, Zsolt
Bayer, in einem Artikel über Roma gesagt - es fällt mir
schwer, das hier vorzulesen, aber wir müssen uns mit
dieser Situation konfrontieren -:
Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeignet, unter Menschen zu leben. Sie sind Tiere. Diese
Tiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Das
muss gelöst werden - sofort und egal wie.
So ein Fidesz-Parteipolitiker und Freund von Viktor
Orban, der sich bis heute nicht von ihm distanziert hat.
So etwas dürfen wir nicht akzeptieren. Sorge allein
reicht nicht aus, es muss gehandelt werden.
({1})
Was passiert? Als Mitglied der Parlamentarierversammlung der OSZE, der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa, habe ich es erlebt: Staaten wie Belarus werden wegen der letzten Wahlen kritisiert - zu Recht. Russland wird wegen Magnitskij kritisiert, der in einem Moskauer Gefängnis zu Tode kam zu Recht. Selbst die USA werden wegen illegaler CIAGefängnisse kritisiert - zu Recht. Ein Antrag, Ungarn zu
kritisieren, hingegen wird abgelehnt.
An dieser Stelle muss ich die CDU/CSU ansprechen;
denn wir reden nicht nur einfach über Ungarn, sondern
wir reden auch über die CDU/CSU. Frank-Walter
Steinmeier hat das angesprochen. Die Fidesz ist geachtetes Mitglied Ihrer konservativen Parteienfamilie. Man
bekommt schon den Eindruck, dass Blut dicker ist als
Wasser und dass man sich gegen Kritik von außen schützen will.
Herr Krichbaum, Ihre Rede war - in aller Freundschaft - eine Verteidigungsrede: Augenmaß, nicht auf
die Anklagebank setzen. Dann der schöne Satz, man
möge sich nicht in die inneren Angelegenheiten einmischen. Das habe ich wirklich schon lange nicht mehr
gehört. Hier können wir von der CDU/CSU wirklich
mehr erwarten.
({2})
Ich darf Sie daran erinnern, dass Ihr Parteifreund, unser Bundestagskollege und Vertreter der Bundesregierung, Peter Hintze, ebenso wie Viktor Orban einer der
Vizepräsidenten der Christlich Demokatischen Internationale ist. Wenn Sie nicht handeln, lassen Sie zu, dass
Ihre Parteifreunde offen die Grundrechte von Europäerinnen und Europäern mit Füßen treten.
({3})
Sie müssen sich schon entscheiden, was für ein
Europa Sie wollen. Wollen Sie ein Europa, wie es
Cameron will: einfach einen gemeinsamen Markt und
fertig? Oder wollen Sie eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten gründet?
Der Art. 7 des EU-Vertrages - es ist angesprochen
worden - ermöglicht es, einem Mitgliedstaat zeitweilig
sein Stimmrecht zu entziehen, wenn er die Grundrechte
der EU eindeutig zu verletzen droht oder bereits verletzt.
Schützen Sie nicht Ihre Parteifreunde, sie haben es nicht
verdient. Handeln Sie!
({4})
Das Wort hat nun Joachim Spatz für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu den letzten Worten eben: Dass diese aus der
Ecke einer SED-Nachfolgeorganisation kommen, ist
sehr mutig.
({0})
Wenn wir über Ungarn sprechen, dann sprechen wir
auch über die Folgen der Teilung Europas, mit deren
Überwindung sich die Länder schwertun. Ich will in diesem Zusammenhang erwähnen, dass das nicht die erste
Regierung Ungarns ist, die diese Leistung nicht erbracht
hat. Auch für diese Regierung besteht die Gefahr, durch
die jetzt gewählte Methode die ererbte gesellschaftliche
Spaltung nicht überwinden zu können. Aber ich betone
es noch einmal: Das ist nicht die erste Regierung, die
diesen Versuch erfolglos unternommen hat.
({1})
Die Europäische Union ist in der Tat mehr als eine
Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist und bleibt eine Wertegemeinschaft. Natürlich ist der Rechtsstaat ein wesentlicher Bestandteil, natürlich sind die Grundrechte ein
wesentlicher Bestandteil dieser Wertegemeinschaft. Deshalb hat sich die Bundesregierung eindeutig geäußert,
und zwar sowohl in der Initiative von Guido
Westerwelle zusammen mit Finnland, Dänemark und
den Niederlanden zur Einhaltung der Grundrechte in der
Europäischen Union - es geht dabei darum, das entsprechende Instrumentarium weiterzuentwickeln -, wie auch
durch die Äußerungen von Staatsminister Link, der in einem Namensbeitrag in der FAZ in sehr deutlicher Form
geschrieben hat: „Ungarn muss Rechtsstaat bleiben.“ Ich
glaube nicht, dass es zu viele Politiker in Verantwortung
gibt, die in derart deutlicher Weise die Position der Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen artikuliert haben.
({2})
Natürlich gibt es immer beide Wege. Es gibt den Weg,
auf informelle Weise einzuwirken, und den Weg, auf offizielle Weise zu reagieren. Die Bundesrepublik beschreitet beide Wege, und wir hoffen, dass in Ungarn
entsprechend reagiert wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich ist
es schwer, zu akzeptieren, dass Gesetzgebung bis ins
Detail in Verfassungsrang erhoben wird, weil natürlich
die Gefahr besteht, dass eine momentan bestehende
Zweidrittelmehrheit ihre Politik über den Mehrheitswechsel hinaus prolongieren will.
({3})
Natürlich wird das von uns kritisiert, weil das nicht Teil
des Wertekanons ist, den eine Verfassung absichert. Natürlich müssen wir darauf bestehen, dass diese einfachgesetzlichen Regelungen nach einer Wahl durch eine
neue Mehrheit auch einfachgesetzlich wieder geändert
werden können. Darauf bestehen wir natürlich. Das ist
überhaupt keine Frage.
({4})
Trotzdem muss ich die Kritik in einer Art und Weise
äußern, die dieser Problematik angemessen ist. Es ist
wichtig, dass man nicht oberlehrerhaft auftritt, sondern
auf die Verantwortung hinweist: Eine Mehrheit hat eine
Verantwortung, und eine Zweidrittelmehrheit hat eine
besondere Verantwortung.
({5})
Dabei geht es nicht nur um die formale Zulässigkeit von
Verfassungsänderungen - das wissen wir, und das sagen
wir den ungarischen Partnern auch -, die bei einer Parlamentsmehrheit von zwei Dritteln natürlich gegeben ist,
sondern darum, dass mit einer Zweidrittelmehrheit eine
besondere Verantwortung für die Kohärenz einer Gesellschaft verbunden ist. Auch das fordern wir regelmäßig
ein.
({6})
Es bleibt natürlich immer das Gespräch. Es gibt eine
Einladung des Parlamentspräsidenten von Ungarn an die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nach Ungarn
zu fahren und sich dort der Diskussion zu stellen. Ich
kann nur alle auffordern: Machen Sie mit. Konfrontieren
wir die Kolleginnen und Kollegen des ungarischen Parlaments direkt mit unserer Kritik, und versuchen wir
auch auf diese Weise, mit Blick auf diese unglücklichen
Gesetzgebungsverfahren Änderungen herbeizuführen in aller Kollegialität und in aller Freundschaft. Denn
noch eines ist wichtig: Die Wertegemeinschaft Europas
ist nicht nur eine Wertegemeinschaft Westeuropas, sondern eine Wertegemeinschaft Gesamteuropas. Die Ungarn haben damals ihren Beitrag geleistet, als es darum
ging, den Eisernen Vorhang zu öffnen, die Teilung Europas zu beenden und die Etablierung der Grundrechte in
Osteuropa überhaupt erst zu ermöglichen. Daher gilt ihnen bei aller Kritik auch immer unser Dank.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte am Anfang etwas ganz Persönliches sagen: Wir reden schon seit vielen Jahren über Ungarn. Sie
alle wissen, dass ich kein Mensch knalliger Töne bin und
auch kein Mensch, der für Schlagzeilen arbeitet. Vielmehr ist es so, dass ich - wie viele in unserem Haus sehr viel von diesem Land halte. Deswegen ist es mir
- aus Interesse an dem Land - sehr wichtig, was dort
passiert. Als ich die Nachrichten über die sehr rasche
Veränderung der Verfassung und das, was sie beinhaltet,
bekommen habe, habe ich das schon ein bisschen persönlich genommen. Das möchte ich auch in Richtung
Budapest sagen. Ich habe immer versucht - auch in Bewertung der Grünen im Deutschen Bundestag -, für eine
realistische und treffende Note zu sorgen. Eigentlich
hatte ich das Gefühl, dass aus den Debatten der letzten
zwei Jahre gegenseitig gelernt worden ist.
Wenn ich mir nun vor Augen führe, welche Signale
die EVP in den letzten Jahren intern nach Budapest gesendet hat und dass das Auswärtige Amt in diesem Fall
meiner Ansicht nach recht deutliche Worte gefunden hat,
komme ich nicht umhin, die Nichtreaktion von Angela
Merkel als ein klares Anzeichen dafür zu werten, dass
hier ein Affront stattfindet.
({0})
Dass die EVP, die gegenüber Herrn Orban gesagt hat:
„Wir können nicht gebrauchen, dass du uns immer in so
schlechte Schlagzeilen bringst“, sich jetzt nicht mehr in
der Lage sieht, auf dieses erneute, plötzliche und überraschende Agieren in einer Form zu antworten, dass man
noch ein Plus in Budapest hätte, dass Frau Merkel nicht
öffentlich klar, mit angemessenen und vernünftigen
Worten Stellung bezieht - so wie es das Auswärtige Amt
im Rahmen des genannten Namensbeitrags offenkundig
konnte -,
({1})
zeigt, dass sie hier nicht gut aufgestellt ist und nicht richtig agiert.
({2})
Insofern ist das kein Konflikt zwischen Regierung
und Opposition; vielmehr geht es hier um die Frage der
europäischen Grundwerte. Sie wissen, dass ich ein großer Freund Ungarns bin. Sie wissen, dass wir als Grüne
unglaublich dankbar für das sind, was Ungarn geleistet
hat, und dass wir - bei großem Bemühen, die richtige
Form zu finden - immer alles mit kritischen und offenen
Worte ansprechen. Aber man muss doch fragen, ob das
Verfahren, die Verfassungsänderungen in 25 Tagen so
durchzuführen, dass die Venedig-Kommission, welche
in den letzten Jahren in die Änderungen eingebunden
war und Möglichkeiten zur Stellungnahme hatte, gar
nicht reagieren konnte, der Stil ist, wie mit der Opposition in Ungarn, aber auch mit den europäischen Partnern,
umgegangen werden kann.
Ich möchte noch etwas sagen, weil ich finde, dass das
ein ziemlich wichtiger Punkt ist. In Art. 2 des EU-Vertrages gibt es die klare Aussage:
Die Werte, auf die sich die Union
- die Europäische Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde,
Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
Ihrer Aussage, Frau Merkel habe sich klar geäußert,
möchte ich nur entgegnen: Wir sind uns nicht mehr sicher, ob die jetzt beschlossenen Änderungen der ungarischen Verfassung noch im Einklang mit diesen Grundwerten stehen. Wir möchten eine klare Aussage der
Bundesregierung als Ganzes und damit auch der Bundeskanzlerin, ob die Bundesregierung der Meinung ist,
dass die Änderungen der ungarischen Verfassung noch
mit den Werten aus Art. 2 EU-Vertrag in Übereinstimmung stehen. Dazu müssen Sie sich äußern.
({3})
Wir haben immer gesagt, dass die Funktionsfähigkeit
der europäischen Demokratie auch davon abhängig ist,
dass sie in allen Mitgliedstaaten funktioniert. Sie wissen
auch, dass wir diesbezüglich in vielen Mitgliedstaaten
Sorge haben. Wir haben in diesem Hause gemeinsam
- auch unter Einschluss der sozialdemokratischen Kollegen - sehr deutliche Worte gegenüber den Ereignissen in
Rumänien gefunden. Das möchte ich hier ausdrücklich
lobend erwähnen. Da hat die SPD im Deutschen Bundestag nicht die Rolle gespielt, die manchmal bei den eigenen Kollegen gespielt wird, nämlich wegzuschauen.
Ich möchte Sie vor dem Hintergrund der Sorgen über
die Entwicklung in der gesamten Region und auch vor
dem Hintergrund der Glaubwürdigkeit, die die Europäische Union bei den Erweiterungsprozessen auf dem
westlichen Balkan benötigt, bitten, dieses Prinzip hier
bei uns gemeinsam durchzuhalten. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Mitglieder der Partei sind, deren Vorsitzende die Bundeskanzlerin ist, wissen, dass
wir an dieser Stelle im deutschen Interesse gemeinsam
klare Worte in Richtung Budapest richten müssen, weil
der von vielen, auch von Gunther Krichbaum richtig beschriebene Konflikt durch die Änderungen hinsichtlich
der Gewaltenteilung in Ungarn nicht nur für Ungarn und
für die Freundschaft zu Deutschland, sondern für die gesamte Region sehr, sehr gefährlich ist. Diese Worte richten wir in Freundschaft, mit großer Sorge und sehr viel
persönlicher Anteilnahme gen Budapest.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Kavallerie soll gegen die Schweiz ins Feld geschickt
werden,
({0})
Piraten sollen nach Zypern schippern, italienische Politiker sollen in den Zirkus,
({1})
und - so nehme ich an -, wenn es nach der SPD und ihrem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl geht, soll
Ungarn auf die Anklagebank. Das ist der Umgang des
Möchtegernkanzlers Steinbrück mit unseren europäischen Nachbarn und mit unseren europäischen Freunden.
({2})
Wer Steinbrück zum Freund hat, braucht keine Feinde
mehr, könnte man fast sagen.
({3})
Offenbar hat er die Beinfreiheit nur eingefordert, um anderen vor das Schienbein zu treten.
Leider nehmen er und seine Partei dabei keinerlei
Rücksicht darauf, wen die Attacken treffen. Respekt
scheint Ihnen ein Fremdwort zu sein,
({4})
vor allem gegenüber anderen Staaten. Sie schaden mit
Ihrem oberlehrerhaften, ja geradezu rüpelhaften Verhalten dem Ansehen unseres Landes.
({5})
Das musste gesagt werden.
Nun zur Sache. Ich stimme vollkommen mit denjenigen überein, die darauf verweisen, dass die Europäische
Union auch eine Wertegemeinschaft ist.
({6})
In dieser Wertegemeinschaft darf uns nicht egal sein,
was in einem anderen Mitgliedstaat passiert. Das gilt natürlich ganz besonders, wenn mögliche Verstöße gegen
Grundwerte im Raum stehen. Auch ich sehe es skeptisch, wenn ein Verfassungsgericht Normen der Verfassung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten
Verfassungsgrundsätzen überprüfen darf. Gerade wir
Deutsche wissen durch unsere Geschichte nur zu gut,
wohin das führen kann. Das heißt aber nicht, dass der
Deutschen Bundestag als selbsternannte oberste moralische und juristische Instanz in Europa auftreten
({7})
und mit dem Finger auf Ungarn zeigen darf, frei nach
dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
({8})
Dies gilt erstens vor dem Hintergrund, dass das ungarische Verfassungsgericht nach meinen Informationen in
den letzten 20 Jahren, also auch vor der jetzigen Verfassungsänderung, noch nie die Kompetenz hatte, Verfassungsnormen inhaltlich auf ihre Verfassungsmäßigkeit
zu prüfen. Bemerkenswerterweise hat sich bisher niemand daran gestört. Das macht die Sache nicht besser,
aber es zeigt die Unehrlichkeit derer, die jetzt mit dem
Finger auf Ungarn zeigen.
Zweitens habe ich den Kollegen von der SPD und von
den Grünen bereits im Europaausschuss vorgeschlagen,
sich an den Europarat und an die EU-Kommission zu
wenden. Ich habe dies getan; denn es geht mir um die
Sache. Diese Institutionen sind für die Überprüfung der
Einhaltung europäischer Grundwerte zuständig, nicht
der Bundestag.
({9})
Wir sind Legislative, nicht Judikative. Wir sind für
die Gesetzgebung in Deutschland zuständig, nicht aber
für die Kontrolle der Gesetze, schon gar nicht für die
Kontrolle von Gesetzen im Ausland. Soweit ich weiß,
haben EU-Kommissionschef Barroso und der Generalsekretär des Europarats, Jagland, bereits eine Überprüfung
der ungarischen Verfassungsänderungen angekündigt. In
diesem Zusammenhang hat auch der ungarische Außenminister bereits die Bereitschaft seines Landes zur Zusammenarbeit erklärt.
({10})
Also lassen wir sie doch erst einmal überprüfen und richten nicht schon vorher.
Ich sage Ihnen: Es geht der deutschen Opposition
nicht um die Sache. Es geht Ihnen allein um eine öffentlichkeitswirksame Ungarn-Schelte. Würde es Ihnen
nämlich um die Sache gehen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, dürften Sie nicht nur Ungarn zum Ziel Ihrer
Attacken machen. Würde es Ihnen um die Sache gehen,
hätten wir heute eine Grundsatzdebatte darüber geführt,
ob die Demokratie in einigen Ländern Europas möglicherweise gefährdet ist.
({11})
In diesem Zusammenhang hätte man einen skeptischen
Blick nicht nur nach Ungarn, sondern auch in andere
EU-Staaten werfen können.
({12})
Die Entwicklungen in Rumänien und Bulgarien stimmen
mich mindestens genauso skeptisch wie die Entwicklungen in Ungarn.
Es geht Ihnen aber nicht um die Sache. Ihnen passt es
nicht, dass es keine linke, sondern eine konservative Regierung in Ungarn gibt.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Demokrat begrüße ich ausdrücklich das Recht der parlamentarischen Opposition, eine Aktuelle Stunde zu einem aktuellen Thema zu beantragen. Bedauerlicherweise ist
dieses Recht vonseiten der SPD heute wieder einmal in
einer eklatanten Weise missbraucht worden.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat Michael Roth für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hier im Deutschen Bundestag sitzen viele Freundinnen
und Freunde Ungarns, insbesondere auch in meiner
Fraktion. Seit 1999 bin ich Berichterstatter für Ungarn.
Ich reise mehrmals im Jahr in dieses Land. Ich weiß, wie
viele meiner Kolleginnen und Kollegen auch, wie dramatisch die Veränderungen in diesem Land sind, das immer schon geprägt war von starker gesellschaftlicher und
politischer Polarisierung.
({0})
Aber, lieber Kollege Holmeier - bei allem Respekt
gegenüber meinem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier,
den Sie vielleicht gemeint haben, und gegenüber unserem Kanzlerkandidaten Steinbrück -: Nicht einer von
den beiden hat die Ungarn dahin gebracht, wo sie derzeit
stehen, sondern die ungarische Regierung hat Ungarn ins
Abseits manövriert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es geht hier überhaupt nicht um das deutsche Wesen.
Es geht hier um die gemeinsame europäische Sache.
({2})
Ich bin immer davon ausgegangen, zumindest in der
Frage: „Auf welchem gemeinsamen Wertefundament bewegen wir uns in der Europäischen Union?“ sei partei-,
fraktions- und gesellschaftsübergreifend ein Konsens zu
erzielen. Aber offenkundig, sind Sie, Herr Holmeier,
CDU/CSU, nicht mehr bereit und in der Lage, diesen
Konsens mitzutragen. Das ist beschämend.
({3})
Hinter der Ungarn-Frage verbirgt sich ja eine noch
viel entscheidendere Frage - in dem einen oder anderen
Redebeitrag ist sie schon angeklungen -: Wie gehen wir
mit der Infragestellung von Demokratie und Grundwerten in der Europäischen Union um? Ich will deutlich
machen, auch gegenüber dem Kollegen Gunther
Krichbaum: Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Nationalstaaten, ein Relikt
des 19. Jahrhunderts, hat in der Europäischen Union keinen Bestand mehr.
({4})
Im Gegenteil, es gibt die Pflicht zur Einmischung. Wir
stehen in der gemeinsamen Verantwortung, dafür zu
sorgen, dass die Grund- und Freiheitsrechte niemals, in
welcher Weise auch immer, relativiert werden. Dabei
müssen wir staaten- und gesellschaftsübergreifend zusammenarbeiten. Wir müssen auch diejenigen bestärken,
die in den betreffenden Staaten für Demokratie, für Freiheit und für die Grundrechte eintreten. Das ist nun wirklich keine Frage von Opposition einerseits und Regierung andererseits. Insofern will ich durchaus respektvoll
sagen: Seit einigen Jahren engagiert sich der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning,
an dieser Stelle sehr. Ich kann sagen, dass auch der ehemalige Staatsminister für Europa, Werner Hoyer, und der
gegenwärtige Staatsminister für Europa, Michael Link,
hierzu deutliche Worte gefunden haben, die wir uneingeschränkt unterstützen.
({5})
Es gibt allerdings keine konsequente Strategie, wie
wir mit der Infragestellung von Demokratie und Grundwerten in der Europäischen Union umgehen. Wir müssen auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass wir mit
zweierlei Maß messen; das gebe ich selbstkritisch zu.
({6})
Wir haben im Falle Italiens möglicherweise zu lange geschwiegen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass
wir die kleinen Staaten strenger als die größeren Staaten
behandeln.
({7})
Oder - noch viel schlimmer -: Mit welcher Verve gehen
wir eigentlich gegen Haushaltssünder vor? Da reden wir
ständig über Sanktionen. Aber wo thematisieren wir eigentlich Demokratiesünder?
({8})
Wo engagieren wir uns gegen Demokratiesünder? Das
ist doch viel wichtiger und viel entscheidender.
Michael Roth ({9})
Leider muss man sagen, dass Viktor Orban überhaupt
nichts dazugelernt hat. Wenn man mit Vertretern der ungarischen Regierung spricht - ich tue das regelmäßig -,
heißt es immer wieder, man habe da etwas nicht richtig
verstanden. 450 Gesetze sind in den vergangenen zwei
Jahren mit Zweidrittelmehrheit durch das Parlament gepeitscht worden; manche demokratische Selbstverständlichkeit ist da mittlerweile erodiert. Nun ist schon zum
vierten Mal die Verfassung geändert worden. Immer
wieder wurde gesagt, wir hätten da etwas missverstanden. Wir haben sehr wohl verstanden, dass an das gemeinsame europäische Wertefundament systematisch
die Axt angelegt wird. Das muss man im Deutschen
Bundestag doch noch sagen dürfen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({10})
Parteipolitische Nibelungentreue ist hier völlig fehl
am Platze. Wir machen die Entwicklungen schon seit
mehreren Jahren zum Thema. Wenn die CDU/CSU
schon vor zwei oder drei Jahren in die Allparteienkoalition eingestiegen wäre und sich mit uns gemeinsam dazu
entschlossen hätte, gegenüber den politisch Verantwortlichen in Ungarn deutliche Worte zu finden - ob nun vor
der Tür oder hinter der Tür; vor allem die Bundeskanzlerin ist da in der Pflicht -, wäre es in Ungarn vielleicht
gar nicht so weit gekommen.
Wenn Sie immer wieder auf uns zeigen, kann ich ganz
selbstbewusst zum Ausdruck bringen: Nicht nur - davon
sprach der Kollege Steinmeier - im Hinblick auf die Slowakei haben wir deutliche Worte gefunden, auch im
Falle Rumäniens haben wir uns klar geäußert. Die Sozialdemokratische Partei Europas hat ja sogar ihren Parteikongress von Bukarest nach Brüssel verlegt, um öffentlich ein Zeichen zu setzen. Kritik wirkt nur dann,
wenn sie öffentlich geäußert wird. Das sollte doch zumindest in der Europäischen Union selbstverständlich
sein.
Zum Schluss möchte ich sagen: Es geht wirklich nicht
nur um Ungarn, und es geht auch nicht nur um unsere eigenen Werte. Es geht auch um die große Frage: Wie tritt
die Europäische Union in einer globalisierten Welt gegenüber denjenigen Staaten auf, die tagtäglich Demokratie und Freiheitsrechte mit Füßen treten? Können wir
wirklich noch glaubhaft für diese Werte eintreten, wenn
wir Zweifel daran lassen, dass wir diese Werte auch innerhalb der Europäischen Union wirklich ernst nehmen?
Ich meine hier nicht Sonntagsreden, sondern die tagtägliche politische und gesellschaftliche Arbeit. Deswegen
ist diese Diskussion dringend überfällig.
({11})
Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wenn wir aus der Debatte, die wir hier
erleben, die innenpolitischen Aspekte ausklammern
würden, würden wir eine ganz große Übereinstimmung
in der Sache erreichen können.
Wir stellen fest, dass die Verfassung in Ungarn geändert wird. Wir stellen fest, dass Dinge, die eigentlich einfachgesetzlich geregelt werden sollten, in Verfassungsrang gehoben werden - ein typischer Trick von Parteien,
ihre politischen Überzeugungen in Verfassungsrang zu
bringen. Wir stellen fest, dass etwa die Religionsfreiheit
- das sage ich jetzt als engagierter Christ - in Ungarn im
Moment sicherlich nicht so behandelt wird, wie wir uns
das wünschen. Wir stellen fest, dass das Verfassungsgericht durch die Ausklammerung materieller Verfassungsprüfungen in seinen Rechten beschränkt wird. All das
sind Dinge, die wir durchaus mit Sorge sehen.
Ich glaube aber, dass wir alle, die wir unterschiedlichen Parteifamilien angehören, gut daran tun, diese
Punkte in Freundschaft zu Ungarn und im Dialog auf
Augenhöhe zu thematisieren und nicht mit innenpolitischem Schaum vor dem Mund.
({0})
Jede Partei - da sind wir doch Realpolitiker genug - hat
doch ihre eigenen Möglichkeiten, auf solche Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Es gibt doch keine Partei
oder Fraktion hier im Deutschen Bundestag, die nicht
schon artikuliert hätte, dass sie die Entwicklungen mit
einer gewissen Sorge betrachtet. Nur, es gibt dafür eben
gewisse Kanäle, zum Teil auf außenpolitischer Ebene:
Michael Link, Werner Hoyer, aber auch Guido
Westerwelle wurden schon genannt; aber auch Frau
Merkel hat sich zu dieser Frage ja durchaus geäußert.
({1})
Wir können, glaube ich, sicher sein, dass hinter verschlossenen Türen auch noch das eine oder andere deutliche Wort mehr gesagt worden ist. Wir sollten einander
also nicht vorwerfen, die einen würden die Entwicklungen in der Verfassungsfrage in Ungarn anders betrachten
als die anderen. Ich glaube, wir können uns, was diese
Entwicklungen angeht, auf einen Konsens aller Demokraten verlassen.
Wie ist es, wenn man feststellt, dass ein Freund in
Teilbereichen eine merkwürdige Entwicklung durchläuft? Wir alle wissen: Man sagt sich nicht sofort von
seinem Freund los und distanziert sich auch nicht in aller
Öffentlichkeit von ihm, sondern versucht, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen.
({2})
Das gelingt denjenigen, die ihm mit der eigenen Parteienfamilie näher stehen, intern vielleicht besser, als
wenn man sie von außen beschimpft.
Wir haben es den Sozialdemokraten auch nicht vorgeworfen, als sie sich etwa im Fall Rumänien sehr schwertaten, gegenüber Herrn Ponta oder seiner Frau, die ja im
Europäischen Parlament sitzt, auch nur ein einziges Wort
der Distanzierung über die Lippen zu bringen.
({3})
Wir haben darauf gesetzt und - ich glaube, mit Berechtigung - darauf gehofft, dass Sie beiden gegenüber im
Rahmen Ihrer Parteienfamilie intern das Notwendige sagen,
({4})
auch wenn Sie es in der Öffentlichkeit deutlich stärker
relativiert haben als etwa bei den Entwicklungen in Ungarn. Deswegen verlassen wir uns auch darauf, dass Sie
beispielsweise gegenüber Herrn Sarrazin oder auch
Herrn Buschkowsky, wenn er mal wieder das Maß des
Üblichen verlässt, intern ein paar notwendige Dinge sagen.
({5})
Ich glaube, diese demokratischen Gepflogenheiten werden von allen in diesem Haus vertretenen Parteien eingehalten.
({6})
Am Ende ist es mir ganz wichtig, den Ungarn noch
einmal zu sagen, dass wir an unserer Freundschaft mit
ihrem Land nicht rütteln. Wir sind Ungarn zu großem
Dank verpflichtet. Ungarn hat in vielen wichtigen Situationen der deutschen Geschichte eine sehr wichtige
Funktion eingenommen. Insofern werden wir mit unseren ungarischen Freunden auf Augenhöhe, in Freundschaft, aber auch in gewisser Sorge über manche Entwicklung sprechen müssen. Das hat auch schon
begonnen. Wir alle sollten unsere parteipolitischen oder
auch unsere institutionellen Kanäle nutzen, um diese Gespräche zu intensivieren. Ich glaube, dann werden wir
am ehesten etwas erreichen. Das ist wirksamer als öffentliche Schuldzuweisungen oder gar mit kleiner parteipolitischer Münze aufzurechnen, dass Abgeordnete der
einen Fraktion hier weniger demokratisch gesinnt seien
als die anderer Fraktionen.
Ich denke, wir alle wollen die Verfassungsentwicklung in Europa und die darauf aufbauende Wertegemeinschaft schützen. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang nicht gegenseitig Dinge vorwerfen, die ein
bisschen zu sehr der Innenpolitik geschuldet sind.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Ruppert, ich würde ja schon gerne aufs
Thema zurückkommen, nämlich auf die Verfassungsänderungen in Ungarn. Bevor ich das tue, will ich hier aber
ausdrücklich sagen, dass Sie selber wissen müssten, dass
Sie danebengegriffen haben, als Sie Heinz Buschkowsky
in einem Atemzug mit Viktor Orban genannt haben. Dagegen verwahren wir uns; das geht nun wirklich nicht.
({0})
Wir reden über Verfassungsänderungen in Ungarn,
die mit einer Zweidrittelmehrheit durchgepeitscht wurden. Wir reden auch darüber, dass Verfassungsänderungen, die 2011 schon einmal kritisiert worden sind und zu
denen es Kompromisse gab, nun wieder vorgenommen
werden sollen. Der Protest dagegen ist auch in Ungarn
selbst sehr groß.
Ich will zwei Beispiele für diese elementaren Veränderungen nennen, die meines Erachtens übrigens noch
nicht einmal in einfachgesetzliche Regelungen und erst
recht nicht in die Verfassung gehören:
({1})
In Ungarn ist demnächst die Obdachlosigkeit verboten. Das wird in der Verfassung stehen. Man muss sich
einmal vorstellen, wie absurd das ist. Man kann sicherlich auch vermuten, dass dahinter eine demagogische
Maßnahme gegen die Roma in Ungarn steht. Was dahinter auch für ein Verständnis von Sozialstaat steht, sollte
uns besorgt machen. Und nicht nur das! Das sollte uns
auch dazu bringen, dass wir darüber gegenüber einem
Partnerland in der Europäischen Union, was Ungarn für
uns ja ist, eben nicht schweigen.
Ein anderes Beispiel für die, wie ich finde, nicht hinnehmbaren Verfassungsänderungen in Ungarn ist die Situation der Religionsfreiheit. Ich will hier ausdrücklich
die CDU/CSU-Fraktion ansprechen; denn Ihr Vorsitzender setzt sich ja immer besonders engagiert für die Religionsfreiheit und für die Rechte verfolgter Christen ein.
Hier geht es eben auch darum, einmal nach Ungarn zu
schauen. Die Fidesz-Partei hat dort ein Kirchengesetz
durchgesetzt, das die Trennung von Staat und Kirche
und die Religionsfreiheit verletzt. Das hat schon zu viel
Kritik geführt. Die Trennung von Staat und Kirche gehört eben auch zu den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Europa. In Ungarn
müssen Glaubensgemeinschaften, die als Kirche anerkannt werden wollen, dies nun im Parlament beantragen.
Der Geheimdienst muss dazu per Votum seine Erlaubnis
erteilen, und das Parlament muss das mit Zweidrittel28444
mehrheit beschließen. Ich glaube, auch das zeigt, wie absurd das ist.
Ich will Ihre Aufmerksamkeit auf zwei ganz aktuelle
Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lenken:
Das erste stammt vom Februar 2013. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat da entschieden, dass
Ungarn gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, einen Vater wegen seiner religiösen
Überzeugung diskriminiert und sein Recht auf Familienleben verletzt hat. Man hat es diesem Vater nämlich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit verwehrt, mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Es
war die Rede von - Zitat - „irrationaler Weltsicht“. Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich gesagt, dass das so nicht geht und dass der Vater aufgrund seiner religiösen Überzeugung diskriminiert
worden ist. Dieses Vorgehen sollten wir uns sehr genau
anschauen, denn es zeigt, dass es um die Menschenrechte in Ungarn wirklich schwierig bestellt ist.
Die Verfassungsänderungen der Regierung Orban,
mit denen auch die Rechte vieler Religionsgemeinschaften beschränkt worden sind, sind eben ein Zeichen eines
Politik- und zunehmend auch Justizsystems, das die
Rechte der Menschen mehr und mehr missachtet. Ich
habe die große Sorge, dass das ein weiterer Schritt hin zu
einer ideologischen Grundüberzeugung ist, die die universelle Rolle und den universellen Wert der Menschenrechte - diese sind ja Gegenstand der europäischen Wertegemeinschaft - missachtet.
Ich will ein zweites aktuelles Urteil ansprechen, das
die Missachtung der Menschenrechte belegt. Es geht
wieder einmal - ein aktuelles Thema - um die Situation
der Roma-Minderheit in Ungarn. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Ungarn beklagt und
verurteilt, weil ungarische Behörden zwei junge Angehörige der Roma-Minderheit in Schulen für geistig behinderte Menschen gesteckt haben. Es fand ein Schultest
statt, der ganz besonders darauf ausgerichtet war, RomaKinder auszusondern. Entgegen der Einschätzung der
ungarischen Behörden haben unabhängige Experten
festgestellt, dass diese beiden Jungen keine geistige Behinderung haben. Die Schuleinstufung war also falsch.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
ausdrücklich gesagt, dass das eine Diskriminierung von
Roma war.
Es bereitet uns große Sorgen, dass die Diskriminierung der Roma in Ungarn System hat und dass der Staat
nichts dagegen unternimmt. Das ist das große Problem.
So lesen wir beispielsweise immer wieder von Aufmärschen der rechtsextremen Jobbik-Partei. Daher wünschen wir uns, dass die ungarische Regierung gegen
diese und auch gegen die schlechten und elenden Lebensverhältnisse der Roma etwas unternimmt.
Ich möchte ausdrücklich etwas dazu sagen - denn das
gehört auch zu dieser Debatte -, wie die Bundesregierung hier mit Menschen umgeht, die in einer elenden Situation leben und unter Diskriminierung und Gewalt leiden. Das, was der Bundesinnenminister, der heute nicht
anwesend ist, macht, ist Populismus gegen Menschen,
die vor bitterer Armut und schlimmer Diskriminierung
flüchten. So kann man damit nicht umgehen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns darin einig sein, dass Diskriminierung von Menschen
wegen ihrer religiösen Überzeugung oder wegen ihrer
Zugehörigkeit zu einer Minderheit mit den Menschenrechten unvereinbar ist. Dabei geht es - viele haben es
schon gesagt; ich will es noch einmal betonen - nicht um
Ausland und Inland, Herr Kollege Holmeier. Dabei geht
es insbesondere vor dem Hintergrund der Lehren aus der
Geschichte darum, dass Europa mehr ist als ein Binnenmarkt. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Gerade aus
unserer Geschichte und aus den Fehlern des 20. Jahrhunderts haben wir doch gelernt - das ist unser historisches
Bewusstsein -, dass die Achtung der Menschenrechte
ein universeller Wert ist und dass wir uns überall, das
heißt in allen Ländern, für die Achtung der Menschenrechte einsetzen müssen. Das müssen wir hier im Deutschen Bundestag immer wieder deutlich sagen.
({3})
Deshalb noch einmal ein Appell an die Bundeskanzlerin, die schon auf dem Weg zum Europäischen Rat ist
- dabei unterstütze ich ausdrücklich, was der Kollege
Steinmeier gesagt hat -: Wir erwarten vom Europäischen
Rat hierzu deutliche Worte. Unser Appell an die Bundeskanzlerin und ihre Fraktion lautet: Bleiben Sie nicht untätig. Sprechen Sie mit Ihrer Schwesterpartei. - Wir tun
dies in unserer Parteienfamilie übrigens sehr intensiv.
Ich kann Ihnen ein paar Beispiele aufzählen, wo wir uns
kräftig mit unseren Parteischwestern und -brüdern auseinandersetzen, wenn es problematische Entwicklungen
gibt.
Frau Kollegin, Sie müssen trotzdem zum Schluss
kommen.
Mein letzter Satz. - Deshalb geht es darum, dass
Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, der Schutz von
Minderheiten, die Rechte der Opposition, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit zu Europa dazugehören und dass es Europa
nicht ohne die Grund- und Menschenrechte gibt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Johann Wadephul für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dem letzten Satz der Kollegin Griese kann sich,
glaube ich, jeder anschließen. Dass das grundlegende
Werte hier in Europa sind und dass wir darüber in einer
europäischen Öffentlichkeit diskutieren, stimmt. Dass
dies auch die Bundesregierung freundschaftlich und in
einem Ton tut, Herr Außenminister a. D. Steinmeier, der
angemessen ist, kann wohl kaum bestritten werden.
Man stelle sich einmal vor, der Bundesaußenminister
hätte sich so, wie sein Amtsvorgänger das heute hier getan hat, öffentlich zu der gesamten Thematik geäußert.
Was wäre dann wohl los gewesen? Sie haben hier heute
von dumpfem, völkischem Nationalismus gesprochen,
({0})
von einem Weg in vordemokratischen Nationalismus.
Meinen Sie, dass das die angemessene Sprache ist? Sie
haben diese schließlich verlangt.
({1})
- Spätestens wenn Herr Liebich hier Beifall klatscht,
sollten die Sozialdemokraten etwas vorsichtig werden
und darüber nachdenken, ob sie noch auf dem richtigen
Wege sind.
({2})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Meinen Sie, dass das in
einem gemeinsamen Europa die richtige Tonalität gegenüber einem ungarischen Volk ist, dem wir Deutsche
wahnsinnig viel zu verdanken haben? Die Ungarn waren
mutig und haben den Eisernen Vorhang niedergerissen.
({3})
Deswegen hätten Sie, Herr Steinmeier, nach Ihren
ersten Sätzen aufhören sollen. Deswegen sollten wir
wirklich nicht die Ersten sein, die oberlehrerhaft durch
Europa gehen
({4})
und alles besser wissen und den Ungarn Demokratie und
Freiheit beibringen wollen. Nein, dafür sind wir die Falschen.
({5})
Ich bedaure auch, dass diese Debatte hier stattfindet
und keiner derjenigen, die sie initiiert haben, anwesend
ist.
Herr Sarrazin, wenn sich die gesamte Opposition und
insbesondere Herr Steinmeier so eingelassen hätten wie
Sie, dann wäre es in Ordnung gewesen.
({6})
Dann hätten wir dem wahrscheinlich auch zustimmen
können.
({7})
Denn Sie haben Fragen gestellt, aber keine Vorverurteilung betrieben. Das ist die Problematik, in der wir uns
befinden.
({8})
Ich hätte es für angemessen befunden, dass diejenigen, die eine solche Debatte hier initiieren, einmal zur
Kenntnis nehmen, dass das ungarische Parlament in dieser Woche, übrigens einstimmig und aufgrund der Initiative der Fidesz-Fraktion, die Einführung eines Gedenktages für die deutschen Vertriebenen beschlossen und
begangen hat. Herr Präsident Lammert ist dabei gewesen. Ich finde, wenn wir heute über Ungarn reden, dann
müssen wir im Sinne der Völkerverständigung in Europa
erfreut und dankbar zur Kenntnis nehmen, dass Ungarn
als Erstes dieser Länder einen Schritt auf uns zugegangen ist. Ich glaube, dass dies eine wichtige Grundlage
ist, die wir zur Kenntnis nehmen und auch würdigen
sollten.
({9})
Im Übrigen ist es - Kollege Ruppert hat darauf hingewiesen - doch völlig unstreitig, dass in dieser Situation
Fragen zu stellen sind. Es ist auch in keiner Weise zu kritisieren, dass man darüber redet: Wie wird dort mit dem
Verfassungsgericht umgegangen? Was wird in der Verfassung mithilfe einer Zweidrittelmehrheit, die den Regierenden zur Verfügung steht, verankert? Angesichts einer solchen Mehrheit setzen sich die Regierenden - das
ist schon zu Recht vom Kollegen Spatz gesagt worden immer dem Verdacht aus, eine Sache gesetzlich zu perpetuieren, also auch für die Zeit zu regeln, in der man
selber keine Zweidrittelmehrheit oder keine einfache
Mehrheit mehr hat.
Natürlich muss man an dieser Stelle Fragen stellen.
({10})
- Herr Liebich, da Sie gerade sagen, dass Sie seit drei
Jahren Fragen stellen, will ich Sie nur einmal darauf hinweisen, dass wir in der Tat hier im Hause eine Debatte
über die Mediengesetzgebung in Ungarn geführt haben.
Ich will Sie einmal fragen, ob Sie wissen, dass mittlerweile der Generalsekretär des Europarates Jagland und
die Venedig-Kommission, die mehrfach erwähnt worden
sind, festgestellt haben, dass Ungarn sämtliche Bedenken ausgeräumt hat und dass der Europarat mit der jetzigen Mediengesetzgebung in Ungarn einverstanden ist.
Das haben Sie hier nicht erwähnt. Sie sind ganz schnell
im Voranklagen; damit sind Sie hier im Parlament die
Schnellsten. Aber sich die Sache in aller Ruhe anzusehen, berechtigte Fragen zu stellen und dann die europäischen Institutionen ihres Amtes walten zu lassen, das ist
der richtige Weg.
({11})
Wir von der Union sind, wie Sie wissen, für eine Stärkung der Europäischen Union und deren Institutionen.
Wir sind für eine funktionierende Gerichtsbarkeit und
für die Überwachung der Einhaltung grundlegender europäischer Prinzipien in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Gegebenenfalls müssen nach Fehlverhalten Konsequenzen gezogen werden. Das ist vollkommen klar, das ist
auch unstreitig. Ein entsprechendes Instrumentarium
gibt es bereits. Man kann von diesem Ort hier die Kommission nur auffordern, dieses Instrumentarium konsequent anzuwenden. Daran gibt es nichts zu kritisieren.
Wir sind der Meinung, dass das richtig und erforderlich
ist.
Wir sind aber nicht der Auffassung, dass einzelne nationale Parlamente, sei es das deutsche Parlament oder
andere Parlamente, die Richter darüber sein sollten, ob
andere Parlamente ihre Kompetenzen überschreiten oder
etwas richtig oder falsch machen. Wo kommen wir hin,
wenn wir im Deutschen Bundestag anfangen, zu entscheiden, ob ein anderes europäisches Land eine Sache
zu Recht und richtig, wie immer man das beurteilen will,
gesetzlich oder verfassungsrechtlich fixiert hat?
({12})
Das ist nicht unsere Funktion. Ich sage in aller Offenheit: Das ist die Aufgabe des Europarates und der europäischen Institutionen in Brüssel und in Luxemburg.
Diese Institutionen sollten wir stärken. Dahin gehört
diese Angelegenheit.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Christoph Strässer. Bitte schön,
Kollege Christoph Strässer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich war bislang immer von einem breiten Konsens
in dieser Frage ausgegangen. Aber nach zwei Redebeiträgen aus der CDU/CSU-Fraktion zweifle ich daran,
dass wir eine gemeinsame Position haben, was die Wertegemeinschaft Europas angeht und wie wir hier im
Deutschen Bundestag damit umzugehen haben.
Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen, Herr Kollege
Wadephul: Wir arbeiten im Europarat sehr gut zusammen. Ich hatte auch immer den Eindruck, dass es ein Europa mit einer gemeinsamen Wertebasis gibt und dass
zur Freundschaft, die hier immer wieder angesprochen
worden ist, aus meiner Sicht unbedingt dazugehört,
Freunde vor Fehlern zu warnen. Ich glaube, das tun wir
heute. Ich finde, es steht uns gerade als Mitgliedsländern
der EU und des Europarates - dazu werde ich gleich
noch etwas sagen - an, uns in dieser Aktuellen Stunde
dazu zu positionieren. Wozu soll ich Fragen stellen? Ich
kann lesen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das ungarische Parlament hat beschlossen,
und es wirft der Venedig-Kommission vor, sie hätte sich
nicht äußern sollen, bevor ein Beschluss kommt. Die Venedig-Kommission hat aber gar keine Gelegenheit dazu
gehabt - der Kollege Sarrazin hat es bereits gesagt -,
sich dazu zu äußern, weil die Einbringung und die Verabschiedung in einem zeitlichen Abstand erfolgt sind,
bei dem eine solche Beteiligung nicht möglich war. Das
sollten wir zur Kenntnis nehmen. Ich sage: Das ist eine
Strategie. Ich bin definitiv der Meinung, diese Strategie
müssen wir ansprechen, und darüber müssen wir auch in
einem nationalen Parlament reden, auf einer gemeinsamen Wertebasis und ohne erhobenen Zeigefinger.
({0})
Jetzt komme ich zu einer Veranstaltung, die heute
auch in diesem Hause stattfindet. Ich kann Sie nur bitten
- auch Sie, Herr Wadephul -, mit den Beteiligten Kontakt aufzunehmen. Im dritten Stock tagt heute im Fraktionssaal der SPD der Sozialausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Man sollte es nicht
glauben: Dort sind auch Kollegen aus Ungarn, und sogar
welche von der Opposition.
Ich habe heute Morgen als Vertreter von Herrn
Hörster, der leider erkrankt ist, diese Veranstaltung eröffnen dürfen. Dort hat mich ein Kollege angesprochen und
gesagt: Helft uns! - Ein Parlamentarier aus Ungarn sitzt
im Deutschen Bundestag und sagt: Helft uns! - Auf die
Frage „Wie sollen wir euch helfen? Was sollen wir tun?“
hat er gesagt: Was in Ungarn geschehen ist, ist nach Auffassung der ungarischen Opposition und im Übrigen
auch internationaler Beobachter - so hat er es auf den
Punkt gebracht - ein Putsch von oben. Das ist das Ende
der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Das ist die Perpetuierung eines Zustandes, der mit den demokratischen Rechten und auch mit der ungarischen Verfassung vor der
Verfassungsänderung durch Orban nichts mehr zu tun
hat.
({1})
Herr Orban sagt: Demokratie hat erst angefangen,
seitdem ich an der Macht bin. - Das ist doch genau der
Punkt auch bei den Änderungen im Hinblick auf das
Verfassungsgericht, nämlich dass sich das Verfassungsgericht nicht mehr auf seine eigene Rechtsprechung vor
der letzten Verfassungsänderung berufen darf, Herr KolChristoph Strässer
lege Silberhorn. Wissen Sie, wo wir als Parlamentarier
stehen würden, wenn wir das im Deutschen Bundestag
machen würden? Auf der allerersten Stufe der Empörung, und zwar zu Recht. Das ist das Zulaufen auf einen
Zustand, der das Ende der Unabhängigkeit der Justiz bedeutet.
({2})
Das muss man einfach sagen, und deswegen finde ich es
richtig, hier darüber zu reden.
Ich bin nicht der Einzige, der Kritik übt. Deshalb bin
ich - das muss ich gestehen - etwas enttäuscht von den
Einlassungen, die vorhin von der FDP gekommen sind.
Ich habe gerade eine Benachrichtigung erhalten - ich
hoffe, sie stimmt -, dass die liberale Fraktion im Europaparlament die Kommission aufgefordert hat, Maßnahmen nach Art. 7 EUV einzuleiten. Das tun Sie nicht. Sie
sagen: Wir müssen uns hier schön bedeckt halten; das ist
ein nationales Parlament. - Ich finde, wenn Ihre Kollegen im Europaparlament - Herr Verhofstadt und andere,
im Übrigen auch Graf Lambsdorff - sagen, das sei ein
Anschlag auf die europäischen Werte, dann ist es doch
wohl angemessen und richtig, dass wir uns nicht zurückziehen und sagen: Das geht uns nichts an; wir diskutieren darüber nicht;
({3})
wir nehmen nur zur Kenntnis, dass nach unserer Auffassung in einem Land der Europäischen Union und des
Europarates die grundlegenden Prinzipien der Trennung
von Legislative und Judikative missachtet werden. - Das
sollten wir nicht tun, und deshalb bin ich sehr froh, dass
wir heute diese Diskussion führen.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, um auch die
eigene Geschichte ins Spiel zu bringen. Die Bundesrepublik Deutschland ist 1951 Mitglied des Europarates geworden. Wir sind dort Mitglied geworden, weil wir wie
alle Mitgliedsländer, die diesem ältesten demokratischen
Staatenbündnis auf europäischem Boden beigetreten
sind, eine Garantieerklärung abgegeben haben, nämlich
zur Einhaltung der Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Sowohl Generalsekretär Jagland, der sich mit Herrn
Barroso gemeinsam geäußert hat, als auch andere haben
sehr klar und deutlich gesagt: Das, was dort geschieht,
ist eine Verletzung der Standards des Europarates. Deshalb haben wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, darauf hinzuweisen und unsere ungarischen Freunde im
ungarischen Parlament, die diesen Weg nicht mitgehen
wollen, zu unterstützen, indem wir sagen: Wir stehen an
der Seite derjenigen, die gegen diese Maßnahmen vorgehen. - Das, finde ich, ist unser gutes Recht.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Christoph Strässer. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Thomas Dörflinger. Bitte
schön, Kollege Thomas Dörflinger.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ungarn macht es seinen Freunden in diesen Tagen alles
andere als leicht. Ich will aus meinem Herzen keine
Mördergrube machen. Wenn die größte Regierungsfraktion in Berlin und die Fidesz in Budapest einer gemeinsamen Parteienfamilie angehören, dann gilt das umso
mehr.
Selbstverständlich gab es, Herr Kollege Steinmeier,
nach den ersten vier Sätzen Ihrer Rede - zu Recht - Beifall auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; denn
bis dahin haben Sie das Verhältnis zu Ungarn in den
richtigen historischen Kontext eingeordnet. Aber ich
kann nur das wiederholen, was der Kollege
Dr. Wadephul vorgetragen hat: Ich hätte mir gewünscht,
dass Sie entweder die Tonalität Ihrer ersten vier Sätze
beibehalten oder nach den ersten vier Sätzen geendet
hätten. Danach gab es aus unseren Reihen zu Recht keinen Beifall mehr.
({0})
Warum? Wir können uns mit Fug und Recht kritisch
darüber auseinandersetzen, was mit Bezug auf die ungarische Verfassung gegenwärtig beraten und bereits beschlossen worden ist.
({1})
Aber zum europäischen Wertekanon gehört nicht nur,
dass wir uns den Menschenrechten, der Pressefreiheit
und einigen anderen Grundwerten gemeinsam verpflichtet wissen, sondern auch, dass wir vernünftig miteinander umgehen.
({2})
Die Tonalität zumindest einiger Reden in der heutigen
Aktuellen Stunde ist dem nicht gerecht geworden.
({3})
- Herr Kollege Sarrazin, ich nehme Sie ausdrücklich
aus. Aber ich hätte mir den einen oder anderen Beitrag in
einer anderen Tonalität gewünscht.
Der Vorwurf an die Bundesregierung, sie sehe dem,
was in Ungarn passiert, tatenlos zu und sei in ihren Äußerungen nicht klar genug, weise ich ausdrücklich zurück. Es dürfte auch dem Bundesaußenminister außer
Diensten nicht verborgen geblieben sein, dass selbstver28448
ständlich nach Spitzengesprächen - ob sie nun auf der
Außenministerebene, auf der Ebene der Regierungschefs
oder zwischen Regierungschefs und Staatsoberhaupt
stattgefunden haben - das anschließende Pressegespräch
nicht aus einem Wortprotokoll dessen besteht, was man
miteinander besprochen hat. Aber ich glaube, dass man
davon ausgehen darf, dass sowohl der Bundespräsident
als auch der Präsident des Deutschen Bundestages, der
im Übrigen am 11. März in Budapest wörtlich zitiert
wurde, sowie die Frau Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister in den Gesprächen der letzten Tage für die
Bundesregierung in ausreichender Weise deutlich gemacht haben, wo wir kritische Punkte und Gesprächsbedarf sehen.
({4})
Aber zur Wahrheit gehört auch, dass nach Auskunft
des Auswärtigen Amtes zumindest bis zum heutigen
Vormittag der Text in deutscher Sprache noch nicht vorliegt, daher die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist und
wir erst dann in eine substanzielle Prüfung der rechtlichen Materie eintreten können, wenn alles auf dem Tisch
liegt. Sie hätten also nicht voreilig aus innenpolitischen
Gründen eine Aktuelle Stunde vom Zaun brechen dürfen.
({5})
Der Kollege Ruppert hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns in vielen Bereichen, insbesondere bei
der Bewertung der bereits vollzogenen Verfassungsänderungen und der angestrebten Verfassungsänderungen in
Ungarn, weitgehend einig sind. Wenn Äußerungen wie
die, dass man mit berittenen Truppen in die Nachbarländer einrücken will, und wenn die Tatsache, dass man Österreich, ebenfalls ein Nachbarstaat von Deutschland,
nur deswegen international auf die Anklagebank und an
den Katzentisch gesetzt hat, weil man sich dort erdreistet
hatte, eine Regierung zu wählen, die der damaligen Bundesregierung nicht in den Kram passte,
({6})
den Hintergrund dieser Aktuellen Stunde bilden, dann
sage ich Ihnen: In diesem Punkt sind Sie alles andere als
glaubwürdig. Das müssen Sie sich sagen lassen.
({7})
Kollege Thomas Dörflinger war der letzte Redner in
unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 17/12678 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit
einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Dorothee Bär. Bitte
schön, Frau Kollegin Dorothee Bär.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Und ganz
besonders: Liebe Betroffene! Wenn wir das Wort „Contergan“ hören, dann ruft das bei uns in Deutschland ganz
klare Assoziationen hervor - natürlich nicht nur in
Deutschland, aber ganz besonders bei uns -, Erinnerungen an einen der größten Arzneimittelskandale, den wir
in unserer Geschichte zu verzeichnen haben, wenn nicht
sogar der größte Skandal.
Wir sprechen heute über Männer und Frauen, die ihr
ganzes Leben lang mit den Folgen leben müssen, dass
ihren Müttern in der Schwangerschaft vorgegaukelt
wurde, dass sie ein harmloses Präparat zu sich nehmen;
sie haben nach der Entbindung dann aber anderes erlebt.
Ich bin das erste Mal als Grundschülerin mit einem
Betroffenen aus unserem Bekanntenkreis in Berührung
gekommen. Wie man als Kind so ist, kann man im ersten
Moment nicht begreifen, dass da jemand ist, der kürzere
Arme hat als andere Menschen. Neben persönlichen Erlebnissen habe ich in den letzten Jahren durch die Darstellung unserer Sachverständigen, durch viele Studien,
durch Briefe und E-Mails, aber auch im Kontakt mit sehr
vielen Betroffenen, die wir hier haben anhören dürfen
und mit denen wir uns haben treffen dürfen, erfahren,
wie schwer der Alltag dieser Menschen ist, aber auch
wie der Alltag gemeistert wird. Ich habe gesehen, wie
jede Einzelne bzw. jeder Einzelne das Schicksal individuell auf ganz besondere Art und Weise meistert. Das
Äußere, die verkürzten Gliedmaßen eben, können wir
sehen, aber es gibt auch noch - das wissen wir - eine
sehr große Schädigung der Organe.
Aus der Familie, aus dem eigenen Freundeskreis bekommen die Betroffenen Mut, Zuversicht, Liebe und
Freundschaft. Vergleichbares können wir als Staat nicht
leisten. Ich bewundere diejenigen, die betroffen sind,
wie sie ihren Alltag mit einem ganz großen Lebensmut
meistern. Ich habe eine Betroffene kennengelernt, die
mit ihrem Mund wesentlich besser malt, als die meisten
von uns mit ihren Händen malen würden, und die eine
ganz große Freude ausstrahlt. Sie sagt, dass es ihr in ihrem persönlichen Alltag gelingt, ein für sie ganz normales Leben, auch ein sehr glückliches Leben zu führen.
Das Leid und die Schmerzen können wir als Staat
nicht ungeschehen machen, aber wir können immerhin
versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten dahin gehend zu helfen, dass der Alltag leichter wird und dass
diejenigen, die unterstützend tätig werden, besser entlastet werden.
Deswegen haben wir schon eine Reihe von Maßnahmen beschlossen und umgesetzt, und wir wollen noch
mehr tun. Wir haben die Conterganrenten zum 1. Juli
2008 verdoppelt. Wir haben die Conterganrenten gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches anrechnungsfrei gestellt. Wir haben Parkerleichterungen
eingeführt. Wir haben bei den Krankenkassen eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Betroffenen erreicht. Wir haben das Conterganstiftungsgesetz
novelliert, sodass mit der Zustiftung und dem vorhandenen Stiftungskapital eine jährliche Sonderzahlung in
Höhe von bis zu 4 200 Euro ausgereicht werden kann,
mit der Bedarfe gedeckt werden, für die sonst keiner aufkommt.
Wir hatten beim Gerontologischen Institut der Universität Heidelberg eine sehr interessante Studie in Auftrag gegeben. Sie zeigt die Folgen der jahrzehntelangen
Belastung durch die Behinderungen, die vorher gar nicht
so klar waren. Die Folgen für die Muskeln, die Gelenke
und vor allem natürlich für die Zähne führen gerade mit
zunehmendem Lebensalter zu weiteren Problemen für
die Betroffenen.
Deswegen haben wir über die bereits verabschiedeten
Maßnahmen hinaus einen dringenden Handlungsbedarf
festgestellt, auf den wir mit der Vorlage des Gesetzentwurfs reagiert haben, den wir heute debattieren. Über die
bereits bestehenden Hilfen hinaus werden wir die contergangeschädigten Menschen rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 jährlich mit 120 Millionen Euro zusätzlich
unterstützen. 90 Millionen Euro davon sind für die Erhöhung der Conterganrenten vorgesehen. Wir können - das
finde ich ganz besonders wichtig - mit diesem zusätzlichen Geld einen Großteil der Zusatzbedarfe pauschal decken, ohne dass es zu aufwendigen Einzelfallprüfungen
kommen muss, die zudem eine psychische Belastung mit
sich bringen.
Weiter fließen bis zu 30 Millionen Euro jährlich in einen Fonds, aus dem auf Antrag Rehabilitationsleistungen, Heil- und Hilfsmittel sowie zahnärztliche und kieferchirurgische Behandlungen bezahlt werden. Man darf
die zusätzlichen Belastungen, denen Mund, Kiefer und
Gebiss ausgesetzt sind, nicht unterschätzen; denn es
muss viel mit dem Mund gemacht werden, wenn die
Gliedmaßen nicht eingesetzt werden können.
Um eine höhere Einzelfallgerechtigkeit gewährleisten
zu können, wollen wir - auch und gerade auf Wunsch
der Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben - das
Punktesystem für die Ermittlung des Schweregrades der
Behinderung anpassen und um weitere Schadensstufen
ergänzen. Deswegen freue ich mich sehr, dass wir über
das gemeinsam für die contergangeschädigten Menschen
schon Erreichte hinaus in dieser Legislaturperiode noch
mehr tun können und dies auch in den nächsten Wochen
beschließen wollen.
Abschließend bleibt mir nur noch, mich bei denjenigen zu bedanken, die uns nicht nur in den vergangenen
Wochen und Monaten, sondern auch in den vergangenen
Jahren mit ihren ganz persönlichen Geschichten einen
Einblick in ihren Alltag gewährt haben. Ein ganz großes
Dankeschön gilt selbstverständlich auch den Familienangehörigen. Dies sind Mütter und Väter - und das darf
man nicht unterschätzen -, die sich ihr ganzes Leben
lang um ihre Kinder gekümmert haben und die heute
teilweise weit über 80 Jahre alt sind. Für diese wird es
immer schwieriger, Hilfestellung zu leisten. Deswegen
ist es gut und richtig, dass wir wenigstens versuchen, mit
Geld dieses Leid etwas zu lindern.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin Marlene Rupprecht.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Januar 2009 haben wir einen Antrag beschlossen. Bei
diesem Thema waren wir uns in diesem Haus fraktionsübergreifend einig, dass wir versuchen wollen, eine einheitliche Position zu erreichen; denn dieses Thema eignet sich nicht zur parteipolitischen Profilierung.
Damals haben uns die Betroffenen eher dafür kritisiert, als dass sie es begrüßt haben, dass wir in diesen
Antrag ein Forschungsprojekt hineingeschrieben haben,
mit dem nicht nur der individuelle Bedarf jedes Einzelnen festgestellt wird, sondern das insgesamt einen Ausblick darüber gibt, welche Hilfen ab einem Alter von
etwa 50 Jahren notwendig sind, wenn man contergangeschädigt ist. Der Zwischenbericht über dieses Forschungsprojekt liegt seit dem Sommer vergangenen Jahres vor. Im Januar 2013 wurde dieser dem Parlament
zugeleitet.
Obwohl wir damit gerechnet haben, dass es nicht gut
aussieht für Menschen mit Conterganschäden, war das
Ergebnis noch viel schlimmer, als wir es gedacht hatten.
Im Bericht steht, dass der Körper eines 50-jährigen Contergangeschädigten so abgenutzt ist wie der Körper eines
80-Jährigen. Die Bedarfe sind also groß. Viele der Betroffenen - diesen Punkt möchte ich hier nennen - können heute nur mit Schmerzmitteln leben, weil sie durch
Abnutzungen massive Schädigungen ihres Körpers erlitten haben.
Ich möchte noch etwas dazu sagen, warum wir damals darauf gedrängt haben, dass dieses Projekt in Angriff genommen wird. Wir sehen immer nur die Fitten,
die sich äußern und sich klar artikulieren können. Wir
sehen aber nicht die mehrfach Geschädigten, die eigentlich ihr ganzes Leben lang auf massive Hilfe angewiesen
Marlene Rupprecht ({0})
sind, deren Eltern, die sie überwiegend versorgt und betreut haben, altersbedingt sterben und deren Geschwister
- manchmal gibt es gar keine Geschwister - häufig damit überfordert sind, die Betreuung zu übernehmen.
Deshalb muss der Bundestag handeln, und er muss
tatkräftig handeln. Die SPD-Fraktion begrüßt eindeutig,
dass die Renten im Rahmen der Reform des Conterganstiftungsgesetzes massiv angehoben werden. Wir haben
die Rente im Zuge der letzten Reform um 100 Prozent
angehoben, von 545 Euro auf gut 1 100 Euro im Monat.
Jetzt liegt die Maximalrente bei gut 6 900 Euro. Man
muss sagen: Diesen Höchstsatz erhalten nicht alle. Aber
hier gibt es eine enorme Steigerung, die man nicht einfach vom Tisch wischen sollte. Sie schafft Unabhängigkeit: Man kann Leistungen einkaufen. Das ist einer der
Gründe, warum wir von der SPD-Fraktion sagen: Wir
werden diesen Gesetzentwurf mittragen.
Man vergisst immer, wofür wir bei der letzten Reform
auch gesorgt haben: Transferleistungen werden nicht
mehr auf andere Zahlungen angerechnet. Das heißt,
wenn ein Betroffener von anderer Stelle Geld bezieht,
wird dieser Betrag nicht abgezogen. Auch diese Regelung ist wichtig und besteht fort. Ebenso bestehen die
jährlichen Sonderzahlungen, die wir damals eingeführt
haben, fort. Die Verteilung der Renten - die Frage, wer
was bekommt - richtet sich nach einem Punktesystem,
so ähnlich wie bei der Sonderzahlung, die jährlich erfolgt. Auch das ist eine Veränderung, die ich begrüße.
Weltweit gibt es noch etwa 2 700 Betroffene. 10 Prozent davon leben im Ausland. Das heißt, in Deutschland
leben etwa 2 400 Betroffene. Sie sind - das kann man
sich vorstellen - nicht gleichmäßig über die Republik
verteilt, weil Contergan damals in der DDR, in den heutigen neuen Bundesländern, nur von denen eingenommen werden konnte, die es aus dem Westen zugeschickt
bekamen; deswegen gibt es dort nur vereinzelt Fälle. Der
überwiegende Teil der Betroffenen wohnt in Westdeutschland; das muss man sich klarmachen.
Es gibt andere Probleme, die mit dem Gesetzentwurf
nicht gelöst werden; wir hatten sie aber schon damals in
unserem Antrag angesprochen. Auf der einen Seite sind
die Ärzte, die bisher die Contergangeschädigten begleitet haben, ins Alter gekommen. Auf der anderen Seite
hat sich das medizinische Wissen verbreitet. Damit dies
so bleibt, brauchen wir nach wie vor Anlaufstellen und
Informationszentren. Das stand in unserem Antrag; aber
diese Forderung ist bisher noch nicht erfüllt worden.
Es ist schon etwas zum großen Thema Sonderbedarfe
gesagt worden. Auch da stimmen wir im Prinzip zu: Die
Sonderbedarfe müssen abgedeckt werden - Frau Bär hat
deutlich gemacht, in welchen Bereichen.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mir noch nicht
gefällt; ich hoffe, dass wir so weit kommen, zusammen
mit der Koalition Änderungen durchzuführen. Schauen
Sie sich die Erläuterungen im Gesetz an! Wir wollten,
dass es einfach, unbürokratisch, zügig und praktikabel
gehandhabt wird. Stellen Sie sich vor, dass ein vierfach
Geschädigter eine neue Hüfte oder was auch immer
braucht. Er muss dann zum Arzt gehen und sich bestätigen lassen, dass diese Maßnahme notwendig ist und dass
es sich nicht um eine normale Abnutzung handelt, sondern um eine Folge der Conterganschädigung. Dann
muss er mit dieser Bestätigung zur Krankenkasse gehen,
die wiederum bestätigt, dass sie die Maßnahme nicht
zahlt. Dann muss er diese Bestätigung einem Gremium
der Stiftung vorlegen, das darüber entscheidet. Ich halte
das nicht für betroffenengerecht.
Wir hatten die Krankenkassen zur Anhörung eingeladen. Die Krankenkassen waren da ganz offen. Sie haben
gesagt: Wir übernehmen die Leistungen und holen uns
im Nachhinein das Geld von diesem Fonds, wenn die
Leistung dem Grunde nach berechtigt ist. - Ich finde,
das kann ein Arzt bestätigen. Das wäre ein unbürokratisches und schnelles Vorgehen. Lassen Sie uns noch einmal über diesen Punkt reden, damit wir den Menschen
wirklich helfen und ihren Bedürfnissen gerecht werden
können. An dieser Stelle sollten wir, wie ich glaube,
wirklich etwas korrigieren. Das parlamentarische Verfahren liegt ja noch vor uns; es beginnt erst jetzt.
Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte
und der auch in der Anhörung ganz massiv zum Tragen
kam, ist die Transparenz der Stiftung. Lassen Sie uns
auch darüber noch einmal reden. In jeder Gemeinderatssitzung gibt es einen öffentlichen und einen nichtöffentlichen Teil. Man nimmt ganz viel Misstrauen weg, wenn
man das so splittet. Damit kann man die Struktur verändern; und es wären kleine Änderungen.
Alle offenen Punkte des Antrages aus dem Jahre
2009, die noch nicht erfüllt sind, sollten wir noch einmal
als Gedächtnisstütze aufnehmen. Ich habe meine persönlichen Befindlichkeiten ganz nach hinten gestellt, weil
ich seit einem Dreivierteljahr angeboten habe, zusammenzuarbeiten. Es war leider nicht möglich. Ich bedaure
das zutiefst. Dann hätte man das vielleicht im Vorfeld
klären können. Nichtsdestotrotz signalisiert die SPD damit, dass sie mit auf dem Gesetzentwurf steht, dass wir
trotz dieser Bedenken und der noch nötigen Nachbesserungen an der Seite der Betroffenen stehen. Auch wir
wollen die Hilfe für die Betroffenen mittragen.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Rupprecht. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau
Nicole Bracht-Bendt. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit
dem Dritten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes übernimmt die Koalition weiter Verantwortung für die Opfer der Contergankatastrophe. Wir
wollen mit der erheblichen Ausweitung der finanziellen
Zuwendungen das Leid der Betroffenen lindern helfen.
Was mir besonders am Herzen liegt, ist, betroffenen
Frauen und Männern ein selbstbestimmtes Leben zu erleichtern.
({0})
Bereits 2008 hat der Bundestag die Conterganrenten
erstmals verdoppelt. Seit 2009 erhalten die Geschädigten
darüber hinaus jährliche Sonderzahlungen. Hierfür hat
die Grünenthal GmbH 50 Millionen Euro in die Conterganstiftung eingebracht, weitere 50 Millionen Euro
kamen aus dem Kapitalstock der Stiftung.
Im neuen, fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf der
CDU/CSU-, FDP- und SPD-Fraktion beschließen wir
deutlich höhere Renten für Conterganopfer: 6 912 Euro
Höchstrente statt bislang 1 152 Euro. Dies soll den Betroffenen helfen, ihr Leben eigenständiger zu gestalten.
Durch meinen intensiven Austausch mit Geschädigten
weiß ich, dass dies der entscheidende Punkt ist.
Am 1. Februar hatten wir im Familienausschuss eine
sehr eindrucksvolle Anhörung. Mehrere Hundert Betroffene hatten sich auf den Weg nach Berlin gemacht, um
uns Abgeordneten noch einmal klarzumachen, was es
bedeutet, mit den Spätfolgen der Conterganschädigung
zu leben.
Die Lebenssituation der rund 2 700 in Deutschland lebenden Betroffenen ist durch häufig sehr schmerzhafte
Auswirkungen aufgrund von Folge- und Spätschäden
geprägt. Die Verluste von Fertigkeiten der Betroffenen
haben sich in den letzten Jahren stark beschleunigt, viel
stärker, als Mediziner einmal vorausgesagt hatten. Im
Klartext: Ein erheblicher Teil der heute meist um die
50 Jahre alten Betroffenen ist gesundheitlich in der Verfassung von 70- bis 80-Jährigen. 85 Prozent der Conterganopfer leiden an chronischen Schmerzen. Die Hälfte
von ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele haben Depressionen. Über zwei Drittel der Männer und
Frauen mussten vorzeitig vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze aus dem Beruf ausscheiden. Warum?
Weil ihre Körper den jahrzehntelangen Belastungen
nicht mehr standhalten.
Sein Leben lang mit den Füßen zu essen, die Haare
mit den Füßen zu waschen, Flaschen mit den Zähnen zu
tragen und zu öffnen, mit den schweren Gehprothesen
aus dem Rücken heraus zu laufen: Dies alles bleibt natürlich nicht ohne Folgen.
Professor Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg bringt es in seinem Abschlussbericht zum Forschungsprojekt über die Lebenssituation contergangeschädigter Menschen eindrucksvoll
auf den Punkt. Er sagte, natürlich habe die Frage der
Rente große Bedeutung. Aber Contergangeschädigte
dürften nicht primär aus der Perspektive der Pflegebedürftigkeit betrachtet werden, sondern aus der Perspektive des Assistenzbedarfs. Der Assistenzbedarf, also die
ganz praktische Hilfe im Alltag, nehme kontinuierlich
zu. Ich zitiere:
Wenn diese substantiellen Veränderungen … nicht
vorgenommen werden, wird man es mit einer massiven Pflegebedürftigkeit zu tun bekommen, mit
nicht mehr ertragbaren Schmerzzuständen, mit einer völligen Überforderung des psychischen Systems. Das dürfen wir fachlich und ethisch in einer
Demokratie nicht zulassen, für die der Begriff der
Menschenwürde so wesentlich ist.
({1})
Herr Professor Kruse, ich danke Ihnen, dass Sie uns
Abgeordnete mit Ihren drastischen Schilderungen nicht
nur betroffen gemacht haben, sondern uns auch bestärkt
haben, dass ein erheblicher Mitteleinsatz vonnöten ist.
Ich möchte aber auch eine Sachverständige zitieren,
die uns mit ihren ganz persönlichen Gedanken neulich
berührte. Sie sprach von ihrer Mutter, die sich für ihr
Kind nichts sehnlicher wünsche als Geld für eine persönliche Assistenz im Alltag. Bislang hat sie diese Assistenz
geleistet. Diese Frau hat also nicht nur über 50 Jahre
lang unter massiven Selbstvorwürfen gelitten, das Mittel
Contergan eingenommen zu haben, sondern sie hat sich
tagtäglich rund um die Uhr für ihre geschädigte Tochter
aufgeopfert. Nun ist sie zu alt. Diese Sachverständige
sagte: Unsere Mütter müssen endlich loslassen dürfen.
Sie müssen uns ausreichend versorgt wissen. - Jetzt wird
die pflegebedürftige Frührentnerin sich eine professionelle Hilfe im Alltag leisten können.
Der Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD ist
ein Meilenstein, weil er zukunftsorientierte Unterstützung vorsieht. Dem Bund entstehen Mehrkosten von
90 Millionen Euro je Jahr für die Anhebung der Conterganrenten sowie bis zu 30 Millionen Euro für zusätzliche Bundesmittel zur Deckung spezifischer Bedarfe,
zum Beispiel für Zahnersatz, nachdem die Zähne jahrzehntelang die Funktion der Hand übernehmen mussten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 120 Millionen Euro
sind kein Pappenstiel, sondern sie sind ein sichtbarer
Ausdruck dafür, dass die christlich-liberale Koalition mit
der SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam einen Beitrag
leistet, der zwei Ziele gleichzeitig verfolgt: Zum einen
wollen wir Solidarität mit den Opfern zeigen. Wir wollen zum anderen aber auch praktische Soforthilfe für ein
selbstbestimmtes Leben der Betroffenen leisten.
Ganz herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Ilja
Seifert. Bitte schön, Kollege Dr. Seifert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, das am Ende dieser Beratungen, noch in dieser
Wahlperiode, erlassen werden soll, muss sich daran mes28452
sen lassen, was es im realen Leben der Conterganopfer
wirklich verbessert. Die Schädigungen, die durch die
Einnahme des Präparats eingetreten sind, können wir
nicht rückgängig machen, auch nicht die vielen Folgen,
die die Conterganopfer und ihre Angehörigen inzwischen tragen mussten. Dass die Lebenssituation von
Conterganopfern und ihren Angehörigen dramatisch ist,
wussten wir schon lange; Kollegin Rupprecht, Sie haben
es erwähnt. Jetzt ist es uns durch den Abschlussbericht
zum Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg
auch noch schriftlich nachgewiesen worden.
Aber wir wissen auch: Ursache für die Schädigungen
sind zahlreiche Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte - Versäumnisse der Bundesregierung, Versäumnisse der Justiz, Versäumnisse der Schädiger. Wir, der
Bundestag, sind in der Pflicht, den Betroffenen ein
selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Bedauerlicherweise ist das durch Ihren Gesetzentwurf noch
nicht erreichbar. Die Handlungsempfehlungen des Abschlussberichts zum Forschungsprojekt der Universität
Heidelberg sowie die Stellungnahmen der Betroffenen
können bei der Suche nach wirklich guten Lösungen
sehr hilfreich sein. Es ist übrigens auch erlaubt, die Stellungnahme des Rechtsanwaltes Dr. Oliver Tolmein - er
war bei der Anhörung als einer der Sachverständigen
anwesend - oder den Antrag der Linken - Drucksache
17/11041 -, der schon im Oktober vergangenen Jahres
eingebracht wurde, zurate zu ziehen.
({0})
Der Familienausschuss hat am 1. Februar dieses Jahres eine sehr beeindruckende Anhörung durchgeführt.
Alle, die dabei waren, haben das erlebt. Über 200 Conterganopfer sind zu dieser Anhörung gekommen und haben deutlich gezeigt, was sie wollen.
Interessant ist, dass die Bundesregierung bzw. die Koalition just am Vorabend dieser Anhörung 120 Millionen
Euro fand - ich weiß nicht, wo -, die sie den Conterganopfern in Zukunft zugutekommen lassen will. Ich finde
das sehr gut. Ich frage mich aber trotzdem, warum das
nur dann möglich ist, wenn eine Anhörung stattfindet
({1})
und wenn die Opfer vor der Tür stehen und sagen: Ab
jetzt reicht es nicht mehr, uns nur über das Köpfchen zu
streichen. Ab jetzt wollen wir unsere Rechte wahrnehmen.
({2})
Insofern ist der vorliegende Gesetzentwurf durchaus ein
Erfolg der Betroffenen. Aber, wie gesagt, es gibt noch
einiges zu tun.
Ich will hier noch auf einige Punkte eingehen. Die
vorgeschlagene Erhöhung der Conterganrente stellt eine
deutliche Verbesserung dar. Darüber gibt es keinen
Zweifel. Das finde ich gut, und das finden auch die Betroffenen gut; das sagen sie auch. Dennoch weiß jede
und jeder - Frau Bär hat es auch gesagt -, dass damit
längst nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden, dass sie
nur für einige ausreicht. Sie reden zum Beispiel weder
von Schmerzensgeld noch von Entschädigung. Diese
Worte meiden Sie wie der Teufel das Weihwasser. Das
kann aber nicht sein. Es geht hier um Schmerzensgeld.
Es geht um Entschädigung für zahlreiche Verletzungen
der Menschenwürde, für die Verletzung ihrer Eigentumsrechte.
Tatsache ist auch, dass die erhöhte Conterganrente
nicht ausreichen wird, den zunehmenden Assistenzbedarf und Pflegebedarf zu decken. Sie haben darauf hingewiesen, dass dies bei der Anhörung eine große Rolle
spielte. Die Assistenz soll von dieser Rente nicht bezahlt
werden.
Dann haben Sie eine neue Schadenspunktetabelle aufgeführt. Wozu brauchen wir eine Schadenspunktetabelle? Wäre es nicht viel logischer, zu sagen: „Jeder
Punkt hat einen bestimmten Wert, zum Beispiel
80 Euro“? Dann kann man ganz leicht ausrechnen, welche Rente einem zusteht, indem man seine Punkte mit
dem Punktwert multipliziert. Dann weiß man, wie viel
Rente einem zusteht, ohne dass diese komischen Tabellen erstellt werden müssen, die nicht nachvollziehbar
sind.
Es ist bisher immer noch nicht geklärt, wie Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden soll, unter Berücksichtigung von spät erkannten Schäden und Folgeschäden ihre Punktanzahl überprüfen und erhöhen zu lassen.
Wir brauchen die jetzt vorgesehenen Bundesmittel in
Höhe von 30 Millionen Euro für die spezifischen Bedarfe. Das wurde bereits gesagt; das ist gar keine Frage.
Aber wieso sind sie gedeckelt? Was wollen Sie tun,
wenn im September eines Jahres noch jemand einen
nachweisbar erforderlichen Betrag beantragt, aber kein
Geld mehr vorhanden ist? Wollen Sie dann sagen: „Ihr
müsst warten bis zum nächsten Jahr“? Die Deckelung
dieses zusätzlichen Fonds ist logisch nicht nachvollziehbar.
({3})
Deshalb müssen wir hier nachbessern. Sie können nicht
sagen: 120 Millionen Euro haben wir irgendwoher, und
von da an ist Feierabend.
Zum Thema Ausschlussfristen. Wenn jemand contergangeschädigt ist, dann ist er es von Geburt an - keine
Frage; das ist klar. Aber Sie berechnen die Höhe der
Leistungen vom Tag der Antragstellung an. Wieso eigentlich? In diesem Sinne müssen alle bestehenden Ausschlussfristen aufgehoben werden. Die bisher vorenthaltenen Leistungen müssen rückwirkend nachgezahlt
werden.
({4})
Das wäre gerecht und würde auch dem Rechtsfrieden
dienen.
Es gibt weiteren Diskussionsbedarf. Das werden wir
im Ausschuss und, wie ich hoffe, in einer weiteren öffentlichen Anhörung beraten. Wir brauchen eine vernünftige Regelung für im Ausland lebende Conterganopfer. Wir müssen die Frage klären, wann Sozialgerichte
und wann Verwaltungsgerichte zuständig sind.
Wir sollten noch einmal über den Namen der Stiftung
nachdenken und über die Frage, welches Bundesministerium zuständig ist; denn das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird es wohl nicht
sein.
({5})
- Ich bin noch nicht fertig, lieber Kollege. - Auch hierzu
gibt es übrigens gute Vorschläge von Herrn Tolmein
oder den Linken.
Reden wir noch einmal über die Stiftung. Die Kritik
an der Stiftung, die am 1. Februar geäußert wurde, war
sehr hart. Im Gesetzentwurf findet sich dazu überhaupt
nichts. Sie muss demokratisiert werden. Sie muss öffentlicher werden. Sie muss transparenter werden. Die Stiftung gehört in die Hände und Füße der Conterganopfer.
({6})
Wir brauchen auch eine Entschuldigung. Ich finde es
toll, dass sich der Kollege Jarzombek von der CDU während der Anhörung persönlich bei den Opfern entschuldigte. Aber ich finde, dass sich auch der Staat entschuldigen sollte. Wir als Bundestag könnten damit anfangen
und die Bundesregierung auffordern, das auch zu tun,
genauso wie die Firma Grünenthal und die Familie
Wirtz.
({7})
Zum Schluss. Vor 40 Jahren wurden die Eltern der
Opfer vor die Entscheidung gestellt: Friss oder stirb!
Nehmt, was ihr jetzt kriegen könnt, oder ihr kriegt gar
nichts. - Jetzt stehen wir vor der Frage: Wollt ihr die
Taube auf dem Dach oder den Spatz in der Hand? Ich
denke, wir sollten so lange beraten, bis den Menschen
die Taube in die Hand fliegt.
({8})
- Lassen Sie mich doch bei meinem Bild bleiben. - Ich
bin der Meinung, wir brauchen eine zusätzliche Anhörung.
({9})
Alle Fraktionen dieses Hauses haben heute die Möglichkeit, feierlich zu erklären, dass das Gesetz zum
1. August dieses Jahres in Kraft treten soll und dass die
Leistungen rückwirkend gezahlt werden, damit niemand
Angst haben muss, dass er oder sie um das gebracht
wird, was er oder sie dringend braucht.
Wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass wir eine gute Lösung finden und nicht nur sagen: Hier sind schnell die 120 Millionen Euro, dann seid
aber ruhig.
({10})
Es geht um mehr als Geld, es geht um die Würde dieser
Menschen.
({11})
In diesem Sinne: Lassen Sie uns zusammenarbeiten.
Grenzen Sie niemanden aus. Ich weiß nicht, warum Sie
uns nicht gefragt haben, ob wir nicht vielleicht an Ihrem
Gesetzentwurf mitarbeiten wollen.
({12})
- Das hat etwas mit eurer Abgrenzung zu tun.
({13})
- Nein, Sie haben uns eben nicht eingeladen, lieber Kollege. Aber wenn es in Zukunft so sein sollte, dann freue
ich mich selbstverständlich sehr, dabei zu sein.
({14})
Vielen Dank, Kollege Dr. Seifert. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Markus Kurth. Bitte schön,
Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Seifert, ich werde in meiner Rede gleich
noch auf die Aspekte eingehen, die verbesserungsfähig
sind. Aber ich muss schon sagen: Wichtig ist, dass wir
noch in dieser Legislaturperiode möglichst weitgehende
Fortschritte in der Sache erzielen. Darüber hinaus besteht sicherlich auch noch Verständigungsbedarf.
Wenn ich Sie allerdings so reden höre, Herr Seifert,
entsteht bei mir der Eindruck: Es geht Ihnen weniger um
den Fortschritt in der Sache, weniger darum, die Dinge
kurzfristig und machbar zu regeln, sondern eher darum,
sich so darzustellen, als seien Sie der letzte Gerechte unter lauter Sünderlein. Das ist kein guter Diskursstil.
({0})
Zu Beginn möchte ich klar feststellen: Ich freue mich,
dass 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung gestellt
werden, um die Situation der Contergangeschädigten zu
verbessern. Das ist deutlich mehr, als in der Vergangenheit geleistet wurde, und es ist bitter nötig.
Wir alle wissen - dies ist schon angesprochen worden -,
mit welchen Problemen contergangeschädigte Menschen
gerade im vorrückenden Alter zu kämpfen haben, zum
Beispiel mit Verschleißerscheinungen. Sicherlich haben
auch viele Kolleginnen und Kollegen und viele, die dieser Debatte folgen, entsprechende Berichte im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen.
Im Zuge der Anhörung hatte ich den Eindruck, dass
zwischen uns Abgeordneten sehr große Einigkeit da28454
rüber besteht, was die Ziele des Gesetzentwurfes anbelangt. Wir wollen den Geschädigten ein Leben in Würde
ermöglichen, sicherstellen, dass sie die notwendigen
Pflege- und Assistenzleistungen erhalten und ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um die
behinderungs- und beschädigungsbedingten Nachteile
unbürokratisch und einfach auszugleichen.
Wir wollen auch, dass die Geschädigten oder ihre Angehörigen nicht in die Sozialhilfe gedrängt werden, sondern dass die Leistungen anrechnungsfrei sind. Das ist
notwendig. Denn wäre damals Grünenthal nicht mit einem vergleichsweise billigen - rückblickend muss man
auch sagen: fragwürdigen - zivilrechtlichen Vergleich
aus der Sache herausgekommen, dann hätten die Geschädigten heutzutage wesentlich höhere privatrechtliche und haftungsrechtliche Ansprüche geltend machen
können.
({1})
Ich glaube, dass wir uns auch darüber einig sind - zumindest im Grundsatz -, dass wir dauerhaften Rechtsfrieden schaffen wollen. In Gesprächen mit den Betroffenen merkt man außerordentlich deutlich, dass sie in
gewisser Weise, sofern das überhaupt möglich ist, einen
Schlussstrich ziehen und einen gewissen abschließenden
Rechtsfrieden haben wollen.
Dazu gehört aus Sicht der Betroffenen auch eine Entschuldigung der Familie Wirtz. Darauf haben wir als
Deutscher Bundestag, als Parlament aber keinen
Einfluss. Ich meine nicht, Herr Seifert, dass wir uns als
Parlament hier entschuldigen sollten. Das ist nicht das,
was die Betroffenen wollen. Wir sind dafür zuständig,
dass die Bundesrepublik Deutschland als Haftungsnachfolgerin der Firma Grünenthal hinsichtlich der Leistungen die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Das muss
man alles sauber auseinanderhalten.
({2})
Wenn wir uns gerade das Thema Rechtsfrieden anschauen, muss man sagen, dass er mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf, zumindest in seiner jetzigen Form, nicht
erreicht wird. Damit werden wir diesem Anspruch nicht
gerecht. Frau Ministerin, Sie sprechen nach mir. Vielleicht können Sie auf drei Aspekte, die ich hier ansprechen möchte, näher eingehen.
Erstens. Es gibt einen Topf zur Deckung der spezifischen Bedarfe im Einzelfall. Das ist grundsätzlich eine
vernünftige Idee. Allerdings können aus diesem Topf
- so ist das bisher vorgesehen - keine Pflege- oder Assistenzleistungen finanziert werden.
({3})
Ich glaube, hier müssen wir noch einmal genau hinschauen und nachbessern. Wir müssen die Möglichkeit
schaffen, dass auch diese Leistungen aus diesem Topf
finanziert werden können, wenn er schon einmal da ist.
Denn sonst passiert das, was wir, wie gesagt, nicht
wollen: Dann sind die Betroffenen, die einen besonders
hohen Unterstützungs- und Assistenzbedarf haben, doch
auf Sozialhilfe angewiesen. Sehr wenige Betroffene haben einen so hohen Bedarf, aber es gibt sie.
({4})
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Die Mittel, die
zur Deckung spezifischer Bedarfe vorgesehen sind - es
geht um den Sondertopf -, werden aus meiner Sicht
nicht sinnvoll verwendet. Bei der Conterganstiftung sollen sechs zuständige Stellen eingerichtet werden. Ärzte,
Kliniken und Pflegedienste sollen Gelder aus diesem
Topf erhalten.
({5})
- Ich merke, Sie diskutieren alle rege. Vielleicht können
Sie das auf die Zeit nach meiner Rede verschieben. - Es
ist natürlich wichtig, dass die Kompetenz des medizinischen und pflegerischen Personals steigt, aber die speziellen Mittel aus diesem Sondertopf sind dafür aus meiner Sicht nicht die richtige Geldquelle.
Auch hören wir, dass die Verbände der Geschädigten,
die gerade Schwerstgeschädigte kompetent beraten,
keine Mittel aus diesem Topf bekommen sollen. Wie ist
das zu erklären, Frau Ministerin? Warum können Ärzte
und Kliniken Gelder erhalten, nicht aber die Betroffenenverbände? Das leuchtet mir nicht ein.
In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht,
möchte ich noch auf einen dritten Aspekt eingehen, der,
wie ich glaube, ziemlich wichtig ist. Es geht um die
Conterganstiftung selbst. Ich nehme an, dass ich nicht
der einzige Mensch bin, der von Contergangeschädigten
Zuschriften erhält. Einhellig kommt in diesen Zuschriften die Unzufriedenheit mit der Arbeit der Stiftung zum
Ausdruck; das wurde auch in der Anhörung deutlich. In
den Gesetzentwurf haben Sie einen Verweis auf das
Informationsfreiheitsgesetz aufgenommen, um dem Vorwurf der Intransparenz zu begegnen. Nun ist es aber so,
zumindest nach meinem Verständnis, dass die Stiftung
dem Informationsfreiheitsgesetz ohnehin Genüge tun
muss. Das ist eine Tautologie. Es wird auf ein bestehendes Gesetz verwiesen. Ich glaube, das reicht nicht aus.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Regelmäßig wird berichtet, dass gegen die Stimmen der Geschädigten, die in
der Stiftung in der Minderheit sind, die Geheimhaltung
beschlossen wird. Wir haben mit Betroffenen, die bei der
Anhörung waren, darüber gesprochen. Sie sehen eine gewisse Blockadesituation. Sie haben vorgeschlagen, zur
Aufhebung dieser Blockadesituation so etwas wie einen
neutralen Mittler, eine dritte Position, eine unabhängige
Vermittlung im Stiftungsbeirat vorzusehen. Wenn solche
Vorschläge zur Herstellung von mehr Transparenz und
einer effektiveren Selbstverwaltung vonseiten der Betroffenen kommen, dann sollten wir diese Vorschläge in
den anstehenden parlamentarischen Beratungen berücksichtigen, wenn wir vorhaben, das in diesem Hohen
Haus gemeinsam zu beschließen.
Leider gab es im Vorfeld keine Beratung über Fraktionsgrenzen hinweg. Anders als die SPD haben wir
deswegen gesagt: Wir setzen unseren Namen noch nicht
über diesen Gesetzentwurf. Aber wir stehen gemeinsamen parlamentarischen Beratungen und Änderungsanträgen im Verfahren offen gegenüber. Vielleicht gelingt es ja, das Ganze an den genannten Punkten
voranzutreiben, sodass wir am Ende des Tages - daran
wäre mir sehr gelegen - gemeinsam zu einem Ergebnis
kommen können.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Markus Kurth. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist Frau Bundesministerin
Dr. Kristina Schröder. Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kein Geld der Welt kann wiedergutmachen, was contergangeschädigte Menschen ertragen mussten und ertragen müssen. Aber Geld kann helfen, mit Einschränkungen umzugehen, Schmerzen zu lindern und vielleicht
auch Barrieren zu überwinden. Mit finanzieller Hilfe
drücken wir auch unsere Achtung aus vor der Kraft und
dem Willen dieser Menschen, mit ihrer Behinderung, so
gut es irgendwie geht, zu leben. Darum geht es bei der
dritten Änderung des Conterganstiftungsgesetzes: um
Hilfe und Linderung, aber auch um Achtung und Anerkennung.
({0})
Mir ist wichtig, dass wir dabei nicht vergessen: Contergangeschädigte Menschen sind aufgewachsen in einer
Zeit, in der unsere Gesellschaft mit Behinderungen und
Fehlbildungen vielfach weniger sensibel umgegangen
ist, als das heute zum Glück überwiegend der Fall ist.
Erfahrungen von Missachtung, Ausschluss und Diskriminierung haben ihre Spuren hinterlassen - physisch wie
psychisch. In vielen Interviews sagen betroffene
Menschen, dass gerade diese Erfahrungen es waren,
weswegen Selbstständigkeit und Eigenverantwortung
für sie so wichtig waren.
Der Bericht des Institutes für Gerontologie der Universität Heidelberg an die Conterganstiftung, der die
Grundlage für den vorliegenden Gesetzentwurf ist,
kommt zu dem Ergebnis, dass sich viele contergangeschädigte Männer und Frauen selbst in die Lage versetzt
haben, ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich zu
leben. Diese Leistung können wir nicht hoch genug einschätzen; aber der Preis war oft die Überforderung des
eigenen Körpers. Die Contergangeschädigten sind heute
in einem Alter, in dem sich die Zeichen eines überlasteten Körpers mehren.
Insbesondere die Heidelberger Studie hat vielen die
Augen geöffnet. Ich bin Ihnen dankbar, Frau Kollegin
Rupprecht, dass Sie noch einmal auf die Skepsis hingewiesen haben, die es gab, als diese Studie in Auftrag gegeben wurde. Ich glaube, heute sind sich alle einig: Wir
können heilfroh sein, dass wir eine Studie in dieser Form
haben.
({1})
Natürlich wussten wir, dass contergangeschädigte
Menschen viel Leid ertragen müssen. Was das aber
konkret und individuell bedeutet und wie sehr sich der
Gesundheitszustand vieler Betroffener - ganz besonders
der Höchstgeschädigten - verschlechtert hat, ist vielen auch mir - erst dank dieser Studie bewusst geworden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir den
Betroffenen helfen, mit den Folgen jahrelanger körperlicher Überbeanspruchung so gut es geht leben zu können.
Wir lassen die contergangeschädigten Männer und
Frauen nicht allein. Wir nehmen 120 Millionen Euro pro
Jahr in die Hand, um ihre Lebenssituation zu verbessern.
Das ist richtig, und das war auch überfällig. Das wurde
auch bei der Anhörung im Februar deutlich, die sehr
viele von uns sehr bewegt hat. Bei der Ausgestaltung der
neuen Regelungen haben wir deshalb intensiv um die
besten Lösungen im Sinne der Betroffenen gerungen.
Für die Erhöhung der Conterganrenten beispielsweise
gab es unterschiedliche Lösungsvorschläge. Warum haben wir uns für eine so deutliche Erhöhung entschieden,
die ja bei den bisherigen Höchstrenten einer Versechsfachung entspricht und die, Herr Kollege Seifert, bei den
Höchstgeschädigten auch überproportional ausfällt? Wir
haben uns für diese Lösung entschieden, weil die hohen
Renten einen Großteil der Zusatzbedarfe - dazu zählt
auch die Assistenz, Herr Kollege Kurth - pauschal abdecken sollen und wir den Betroffenen damit aufwendige
Einzelfallprüfungen ersparen wollen.
({2})
Wir haben uns in dem Bewusstsein so entschieden, dass
es hier um notwendige Hilfe geht, aber eben auch um
Respekt und Würde.
Auch für die Ausgestaltung der Schadensstufen lagen
unterschiedliche Varianten auf dem Tisch. Warum haben
wir die Variante gewählt, bei der die Schadensstufen insbesondere im oberen Bereich weiter aufgefächert werden? Wir wollten damit mehr Einzelfallgerechtigkeit vor
allen Dingen bei den Schwerstgeschädigten erreichen.
Denn bisher ist es so, dass die höchste Rente bereits bei
45 Schadenspunkten beginnt. Im Moment erreichen
60 Prozent der Leistungsberechtigten 45 oder mehr
Schadenspunkte und damit die höchste Rente. Einige
von ihnen sind aber deutlich schwerer geschädigt als andere. Das konnte bisher innerhalb des Systems nicht berücksichtigt werden. Mit der Einführung zusätzlicher
Schadensstufen, insbesondere im oberen Bereich, können wir bei den Schwergeschädigten noch stärker differenzieren und schwerste Schädigungen angemessen berücksichtigen. Eben darum geht es uns bei den neuen
Regelungen. Wir wollen dem individuellen Schicksal so
gut wie möglich gerecht werden.
Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, die Mittel für
die zusätzliche Hilfe bereitzustellen. Ich danke allen, die
mit ihrem Sachverstand und mit ihrem Engagement dazu
beigetragen haben. Auch die SPD-Fraktion unterstützt
unseren Vorschlag, was mich sehr freut. Vor allen Dingen freut mich aber auch, dass die Mehrheit der contergangeschädigten Menschen die neuen Regelungen richtig findet. Natürlich gibt es immer auch noch Kritik; das
ist klar. Aber ich glaube, dass wir uns zumindest in einem Punkt einig sind: Das, was wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf festschreiben, bedeutet für die Betroffenen mehr Hilfe, mehr Respekt und mehr
Gerechtigkeit. Das ist weit mehr als einfach nur mehr
Geld.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Christel Humme.
Bitte schön, Frau Kollegin Humme.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
In der Tat, ich erinnere mich sehr gut daran: Vor sechs
Jahren, 2007, lief im Fernsehen erstmals der Film Eine
einzige Tablette. Auf der einen Seite ist es bedauerlich,
dass ein Film der Anlass für neue Regelungen war, auf
der anderen Seite ist es aber auch gut. Wir konnten uns
in der Großen Koalition auf Verbesserungen für Contergangeschädigte einigen. Ich möchte gerne an Ilse Falk
erinnern. Wir beide haben die Debatte initiiert und darauf hingewiesen, dass wir etwas für die contergangeschädigten Menschen tun müssen. Jeder, der damals dabei war, erinnert sich noch gut daran.
Wir waren nicht sicher, wie erfolgreich wir sein würden, aber im Ergebnis konnten wir die Renten verdoppeln, Sonderzahlungen durchsetzen und letztlich auch
die Renten dynamisieren. Ich denke, das war ein großer
Schritt. Darauf können wir alle - wir haben es fraktionsübergreifend beschlossen - noch heute stolz sein. Das
sollten wir immer wieder in Erinnerung rufen. Damals
war - das wurde vorhin erwähnt - Grünenthal noch dabei. Grünenthal war mit 50 Millionen Euro an der Finanzierung beteiligt.
Aber wir wussten bereits damals, dass das nicht das
Ende der Fahnenstange sein würde; denn das, was wir
damals beschlossen haben, war nicht ausreichend. Wir
ahnten, dass wir erst am Anfang eines Prozesses stehen,
der weitere Verbesserungen für die Männer und Frauen
mit Conterganschädigungen bringen muss, Verbesserungen, die die Betroffenen immer wieder eingefordert haben. Schon damals war uns klar: Wir müssen uns mit den
Folgeschäden bei Menschen mit Conterganschädigungen befassen und sie entsprechend anerkennen.
Deshalb bin ich froh, dass wir seit Dezember letzten
Jahres die Längsschnittstudie des Instituts für Gerontologie der Uni Heidelberg vorliegen haben. Ich danke Professor Kruse ausdrücklich für diese hervorragende
Längsschnittstudie. Diese Studie belegt Schwarz auf
Weiß, was wir eigentlich schon immer von den betroffenen Menschen geschildert bekommen haben. So hat es
zum Beispiel auch Herr Herterich vom Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen in der
Anhörung eindrucksvoll geschildert.
Wenn die Füße die Hände ersetzen und wenn die
Zähne zum Tragen und Öffnen von Flaschen benutzt
werden müssen, dann hat das Folgen für die Entwicklung der Muskulatur und die Zahngesundheit. Frau
Rupprecht hat richtig dargestellt, dass die Körper der
Contergangeschädigten überproportional schnell altern.
In der Tat: In den letzten zehn Jahren haben mit zunehmendem Alter die Folgeschäden rasant zugenommen.
Vor allem in den letzten zwei bis fünf Jahren hat sich die
negative Entwicklung bei Arthrose, Muskelschwäche
und daraus folgenden Schmerzen beschleunigt, Schmerzen, die nicht auszuhalten sind. Viele contergangeschädigte Frauen und Männer können sich nur mit Morphium
und Opiaten am Leben halten, weil sie sonst vor
Schmerzen wahnsinnig würden. Professor Kruse hat das
in der Anhörung sehr deutlich geschildert.
Aufgrund dieser Tatsachen sind besondere Bedarfe
entstanden, beim Zahnersatz, bei der medizinischen
Hilfe, bei der Assistenz und bei der Pflege. Es geht um
eine bessere Mobilität sowohl im als auch außer Haus.
Dazu gehört auch die bessere Kommunikation und soziale Teilhabe. Da müssen wir eindeutig helfen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, jetzt geht es darum, die Ergebnisse der Studie aus Heidelberg zügig umzusetzen. Dafür ist der heute vorliegende Gesetzentwurf
ein wesentlicher Baustein. Wir freuen uns natürlich, dass
jährlich 90 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, um die Renten deutlich zu erhöhen; die
Rente wird je nach Schwere der Beeinträchtigung zwischen 612 und 6 912 Euro betragen. Das wirkt wie ein
persönliches Budget und wird den Menschen mit Conterganschäden helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen.
Genauso positiv bewerten wir, dass jährlich ein Betrag von 30 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt
wird, der für besondere Bedarfe vorgesehen ist. Wir begrüßen das ausdrücklich und danken allen, die das möglich gemacht haben; das gilt vor allem für die Regelung,
dass die Renten rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 gezahlt werden sollen.
({0})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Anhörung
am 1. Februar dieses Jahres wurden von den Betroffenen
immer wieder zwei - ja, ich würde sagen - Herzenswünsche an die Politik geäußert. Die Männer und Frauen mit
Conterganschädigungen wünschen sich eine bessere soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben; wir haben davon heute schon genug gehört. Ich glaube, mit
dem Geld werden wir dazu einen wesentlichen Beitrag
leisten. Auch darum unterstützen wir den Gesetzentwurf.
Wir haben ja gesagt: Das ist unser gemeinsamer Gesetzentwurf. Dieses Thema eignet sich nicht für Parteiengezänk.
({1})
Aber wir haben - auch das gebe ich zu; das hat auch
Frau Rupprecht schon deutlich gemacht - einige Fragen
zu der Ausgestaltung des Gesetzentwurfes. Ich freue
mich, dass es möglich ist - zwar im Nachgang, aber immerhin -, am 15. April dieses Jahres ein Fachgespräch
im Ausschuss durchzuführen. Ich hoffe, wir kommen
dort zu guten Ergebnissen und finden letztlich gute Lösungen. Ich gebe Herrn Kurth durchaus recht: Es gibt
viele Klagen darüber, dass die Beteiligung der Contergangeschädigten in der Stiftung nicht so ist, wie sie sein
sollte. Da ich gerade sehe, dass Herr Hüppe hier vorne
sitzt, möchte ich sagen: Wir haben in der Behindertenpolitik ja ein Motto. Das Motto lautet: Nicht ohne uns über
uns.
({2})
Ich glaube, das gleiche Motto sollte auch im Hinblick
auf die Menschen gelten, die unter Conterganschädigungen leiden.
({3})
Natürlich gibt es großen Beratungsbedarf, was die
Verteilung der spezifischen Bedarfe angeht: Wie werden
sie verteilt? Wie macht man das? Wie bürokratisch ist
das Ganze? Wenn man bedenkt, dass 450 000 Euro, also
fast eine halbe Million Euro, an Verwaltungskosten entstehen werden, muss man sich auch fragen: Wofür? Darüber sollten wir noch einmal reden. Ich glaube, Frau
Hudelmaier vom Bundesverband Contergangeschädigter, die in der Anhörung eine nachhaltige Lösung gefordert und an uns appelliert hat, uns nicht wieder mit Fehlern, die wir hinterher korrigieren müssen, zu belasten,
hat recht.
({4})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ja, es gibt weiteren Handlungsbedarf; das dürfen wir nicht vergessen. Es
geht nicht nur um Folgeschäden, sondern auch um Spätschäden, die in der Vergangenheit nicht sofort offenbar
wurden und noch nicht als vorgeburtliche Schäden anerkannt werden. Frau Blumenthal, die Vorsitzende der
Conterganstiftung, hat angekündigt, dass hierzu in diesem Jahr eine Studie in Auftrag gegeben werden soll. Ich
finde zwar, das ist etwas spät - das gebe ich zu; das hätte
man schon früher machen können -, aber ich bin froh,
dass auch diese Studie, die für unsere Beratungen eine
weitere Hilfe sein wird, durchgeführt wird.
Im Laufe dieses Jahres wird in Nordrhein-Westfalen
eine weitere Studie durchgeführt. Sie beschäftigt sich
mit einem anderen Thema, nämlich mit der Frage nach
psychosomatischen Schäden. Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen man im Rahmen dieser Studie kommen wird. Ich glaube, auch sie werden uns helfen, weitere gute Lösungen für die Menschen zu finden.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass der Bund
120 Millionen Euro jährlich mehr zur Verfügung stellt,
ist eine hervorragende Sache; keine Frage. Aber erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich wünsche
mir, dass auch die Stiftung ihren Einfluss geltend macht,
um nochmals Geld der Firma Grünenthal, die der eigentliche Verursacher des größten Medizinskandals ist, einzuwerben. Auch wenn die Firma Grünenthal rechtlich
nicht dazu verpflichtet ist, so bin ich persönlich sehr davon überzeugt, dass es hier eine moralische Verpflichtung gibt.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Humme. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Patrick
Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind heute hier zusammengekommen, um
über ein Thema zu debattieren, das - das spürt man auch
an der Art und Weise, wie wir die Debatte führen - uns
allen wirklich am Herzen liegt und das uns von den
menschlichen Schicksalen her auch tief bewegt.
Die gesundheitliche Entwicklung der Contergangeschädigten steht, wie es in der Studie der Universität
Heidelberg formuliert wird, an einem Wendepunkt - ich
zitiere -: „Die gesundheitliche Entwicklung … steht an
einem Wendepunkt, eine rasche Verbesserung der Versorgung wie auch eine rasche Ausweitung der Unterstützung sind dringend notwendig.“ Überlastete Gelenke,
schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- und
Unterstützungsbedarf erheblich.
Deswegen ist es gut, dass wir heute über die Grenzen
der Fraktionen hinweg über dieses wirklich zentrale gesellschafts- und sozialpolitische Thema beraten.
Auch ich bin der Ansicht, dass wir mit diesem Gesetzentwurf an einem Wendepunkt stehen, und möchte
allen, die sich an diesem Gesetzentwurf beteiligt haben,
hierfür ein herzliches Dankeschön sagen.
({0})
Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir zu einer
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes kommen, die
für viele längst überfällig war und die jetzt in der Konsequenz der gesamten Beratungen an einen wichtigen
Punkt gekommen ist. Wir stehen hier alle gemeinsam in
der Verantwortung, und wir stehen auch alle zu unserer
Verantwortung. Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn dieses Hohe Haus in einer solchen Debatte seine Menschlichkeit zeigt - sie kam in vielen Wortbeiträgen zum
Ausdruck - und die Fraktionen zusammenstehen, wie
dies ja schon im Jahre 2008 der Fall war.
Im Deutschen Bundestag wurden von 1958 bis heute
viele Debatten über dieses Thema geführt. Als 1971 die
zentrale Debatte über die Errichtung der heutigen Conterganstiftung stattgefunden hat, hat unser damaliger
FDP-Kollege Kurt Spitzmüller Folgendes formuliert
- das war eine große Gemeinsamkeit in diesem Haus -:
Die Einmütigkeit, die das Haus in dieser Frage bewiesen hat, und die Intensität, mit der sich die Ausschußmitglieder dieser Fragen angenommen haben,
beweisen, daß dieses Haus immer wieder in der
Lage sein wird, sosehr die Situation auch draußen
im Lande einmal auf Konfrontation eingestellt sein
mag, sich im Sinne der Hilfe für Bedürftige, für Behinderte, im Sinne einer humanitären Gemeinsamkeit zusammenzufinden.
Dies gilt auch für die Beratungen heute.
({1})
Vor fast genau vier Jahren hat der Deutsche Bundestag für diesen Bereich eine Studie, ein Gutachten in Auftrag gegeben. Schon zum 1. Juli 2008 sind die sogenannten Conterganrenten verdoppelt worden. Ich glaube, dass
es sehr gut ist, wenn wir jetzt mit der Verabschiedung
des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Conterganstiftungsgesetzes noch einmal eine entscheidende Verbesserung erreichen. Trotz der schwierigen
Bemühungen, einen strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen, ist es gemeinsam gelungen, für die 2 700 Conterganopfer die gewaltige Summe
von jährlich 120 Millionen Euro dauerhaft zu verankern.
Ich glaube deswegen sagen zu dürfen, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wir können zwar Leiden nicht in Geld
messen - das wäre weiß Gott vermessen -; aber wir können die Welt in Deutschland mit dieser Entscheidung ein
bisschen gerechter machen und diesen Menschen unsere
gemeinsame Solidarität entgegenbringen. Dafür bin ich
wirklich dankbar.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. - Nächster
Redner für die Fraktion von CDU und CSU ist unser
Kollege Markus Grübel. - Bitte schön, Kollege Markus
Grübel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
können heute mit Fug und Recht sagen: Dieses Gesetz
ist ein Quantensprung. Es ist kein kleiner Schritt und
auch kein großer Schritt, es ist ein Sprung. Um in dem
Bild zu bleiben, das Sie, Herr Dr. Seifert, verwendet haben: Es ist nicht der Spatz in der Hand - es ist für das,
was realistisch war, die Taube auf dem Dach.
({0})
Auf welchem Stern leben Sie? Wer wäre sich vor
zwei Monaten noch sicher gewesen, dass wir hier
120 Millionen Euro zusätzlich bereitstellen können? Ich
habe mir das immer gewünscht und habe dafür gekämpft; das dürfen Sie mir abnehmen. Hinsichtlich der
Frage, ob wir das schaffen, ob wir das durchsetzen, ob
die Haushälter, das Finanzministerium etc. das mitmachen, war ich mir aber unsicher. Darum, glaube ich, sollten Sie das nicht kleinreden und abwerten.
Der Vorsitzende des Contergannetzwerks Deutschland, Herr Christian Stürmer, hat mir gesagt, das sei eine
positive Revolution. Wir haben die Contergangeschädigten und auch ihre Familien nun ein halbes Jahrhundert
lang mit einer vergleichsweise geringen Rente vertröstet.
Mit diesem Gesetzentwurf und diesen zusätzlichen Mitteln schaffen wir es - das ist mir besonders wichtig -,
dass sie ein würdiges Leben leben können.
Im Mai 2008 haben wir die Conterganrenten von
550 Euro auf 1 100 Euro verdoppelt. Das hört sich viel
an. Zu weniges zu verdoppeln, ergibt aber nicht viel, und
vor allem war das nicht ausreichend. Natürlich war das
damals in unserem entsprechenden Rahmen das Mögliche, Frau Rupprecht, Frau Humme, Frau Falk und wie
wir alle heißen, aber das war nicht der große Wurf.
6 912 Euro für die schwerst- bzw. mehrfach Geschädigten: Das ist ein großer Wurf und eröffnet den Betroffenen und ihren Familien die Möglichkeit, ein würdiges
Leben zu leben.
Das ist auch das Ergebnis der Conterganstudie. Diese
Studie der Uni Heidelberg - vom Institut für Gerontologie mit seinem Leiter Professor Kruse - hat uns bestätigt, dass die Klagen zu Recht geführt werden und dass
Handlungsbedarf besteht, weil die Menschen halt nicht
wie 50-Jährige, sondern wie Hochbetagte sind. In diesem Zusammenhang ist auf die schweren Verschleißerscheinungen, die Schmerzen, den Assistenzbedarf und
die Pflegebedürftigkeit hinzuweisen.
Mir ist auch wichtig, zu sagen: Die Angehörigen - oft
die Eltern - haben die Betroffenen im Alltag jahrzehntelang unterstützt und sind jetzt selber in einem Alter, in
dem sie oft Hilfe brauchen. Sie können die Hilfe nicht
mehr leisten, sodass die Familien außerhäusliche Hilfe
brauchen. Ich kann nur sagen: Ich habe höchste Achtung
vor der Leistung, die die Eltern und Familien in den Jahren erbracht haben.
Ich möchte auch an die Kinder der Geschädigten denken. Manche haben keine Kinder, aber es gibt auch viele,
die Kinder haben. Die Kinder werden erwachsen und
sollten doch auch ein selbstständiges Leben führen können. Dafür ist das jetzt auch ein wichtiger Schritt. Es ist
nämlich eine seelische Belastung für die Kranken, Betroffenen, Eltern, wenn sie wissen, dass sie der Entfaltung ihrer Kinder, die vielleicht auswärts studieren oder
eine Arbeitsstelle annehmen wollen und dadurch für die
Hilfe nicht mehr zur Verfügung stehen würden, im Wege
stehen.
Hinzu kommen die Folge- bzw. Spätschäden. Wenn
ein Contergangeschädigter ein Glas Wasser trinken will,
dann muss er seine Wirbelsäule verrenken. Dadurch erleidet er Spätschäden am Skelett, die ein nicht Betroffener nie haben würde. Ein anderes Beispiel: Das Tragen
von Dingen mit den Zähnen macht die Zähne kaputt, und
auch der Zahnersatz wird in der Folge viel schneller beschädigt als der von anderen.
Das Durchschnittsalter der Contergangeschädigten
beträgt 53 Jahre. So alt bin ich auch. Die Contergangeschädigten leben aber in Körpern, die denen von 70oder 80-Jährigen gleichkommen.
Wir handeln nun - das möchte ich ausdrücklich sagen entschlossen, schnell, konsequent und sogar rückwirkend zum 1. Januar 2013, und der künftige Höchstbetrag
beträgt 6 912 Euro. Das ist wirklich einmal ein Betrag,
der viel ermöglicht.
Diese Erhöhung hat den Vorteil, dass die Contergangeschädigten einen Großteil ihres Zusatzbedarfes - zum
Beispiel Assistenz, behindertengerechter Umbau eines
Pkw - pauschal, ohne aufwendige Einzelfallprüfung und
ohne bürokratischen Aufwand decken können. Sie müssen keine Anträge stellen, keine Gutachten beibringen
und nicht mit der Abfolge - das kennt ja auch fast jeder
von uns - „Ablehnung, neues Gutachten, neuer Antrag,
Ärger“ leben. Dazu sind sie ja oft auch nicht in der Lage.
Darum haben wir gesagt: Dreiviertel der 120 Millionen
Euro fließen pauschal in die Rente. Dieser Teil erhöht
also ihre zukünftige Rente. Mit dem anderen Teil werden
zusätzliche Bedarfe abgedeckt.
In allen Gesprächen mit den Betroffenen war klar,
dass sie es schätzen, dass sie die Freiheit haben und
keine Anträge stellen müssen. Ich glaube, das müssen
wir hier auch einmal bewusst machen.
({1})
Ein Viertel, bis zu 30 Millionen Euro, stehen also für
zusätzliche Bedarfe - Reha-Leistungen, Heil- und Hilfsmittel, Zahnersatz, kieferchirurgische Behandlungen zur Verfügung. Hier muss man sagen: Voraussetzung dafür ist natürlich der ablehnende Bescheid durch die
Krankenkassen, weil wir mit dem Geld ja nicht die
Krankenkassen entlasten, sondern zusätzliche Maßnahmen ermöglichen wollen, die die Krankenkassen eben
nicht ermöglichen. Deshalb ist hier einfach ein Verfahren vorgeschaltet.
Ich nehme an, dass das Verfahren dann nicht so aussehen wird, wie es hier geschildert wurde, auch von Ihnen,
Herr Kurth. Der Stiftungsrat wird allgemeine Richtlinien
beschließen, und das Bundesamt, das die Mittel administrativ verwaltet, wird anhand der Richtlinien in einem
kurzen, schnellen Verfahren entscheiden. Der Stiftungsrat bzw. der Stiftungsvorstand wird nicht mit jedem Einzelfall belastet. Darüber können wir aber gern noch einmal reden.
Sehr geehrte Damen und Herren, heute ist mit Sicherheit ein historischer Tag für die Contergangeschädigten
und ihre Familien. 120 Millionen Euro mehr, das ist viel
Geld, wenn man unsere Rahmenbedingungen und die
Haushaltssituation anschaut. Gestern hat der Finanzminister den Haushaltsplan vorgestellt. Wir wollen
Schulden abbauen, wir wollen die nächste Generation
nicht belasten. Angesichts dessen ist das wirklich viel
Geld. Natürlich kann das die Schmerzen und die Leiden
nicht ungeschehen machen.
Ich möchte der SPD danken; sie macht mit. Ich hoffe,
die Grünen können wir auch noch ins Boot holen.
Ich glaube, es ist gut, dass wir nun entschlossen handeln und den Betroffenen schnell und unbürokratisch
helfen. Ich danke allen, die diesen Gesetzentwurf möglich gemacht haben. Ich hoffe auf alle Kolleginnen und
Kollegen, dass sie ihn mittragen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. - Nächster
Redner in der Aussprache ist unser Kollege Thomas
Strobl für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, nach einem halben Jahrhundert der schweren und schwersten Schädigungen durch
Contergan ist heute ein besonderer und ein guter Tag. Ich
erinnere mich noch gut daran, dass vor einem halben
Jahr eine Gruppe contergangeschädigter Menschen einen Besuch im Deutschen Bundestag gemacht hat. Sie
waren von weither angereist, aus allen Teilen der Republik. Der Vorsitzende kam aus meinem Heimatbundesland, aus Baden-Württemberg. Diese Menschen haben
keinen Aufwand, keine Mühe gescheut, über viele Jahre
immer wieder auf ihre Lebensumstände und auf die Nöte
der Contergangeschädigten aufmerksam zu machen.
Wenn wir heute hier stehen und ein Gesetz beraten,
das zusätzliche Leistungen in einem Umfang von
120 Millionen Euro an die Contergangeschädigten vorsieht, dann möchte ich vor allem denjenigen danken, die
nicht lockergelassen haben, die nicht müde geworden
sind, ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Mitbetroffenen zu erzählen und auf ihre Nöte und auf ihr
Schicksal aufmerksam zu machen. Wir stünden ohne
diejenigen, die das immer und immer wieder vorgetragen haben, nicht hier. Sie sind eigentlich diejenigen, denen wir dafür Dank sagen müssen, dass wir heute zu diesem Schritt kommen.
({0})
Ich will aber hinzufügen, weil es einfach die Wahrheit
ist, dass wir ohne unsere Kollegin Bundeskanzlerin
Angela Merkel und ohne den Vorsitzenden der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder heute nicht so
weit wären, wenn die beiden diese Angelegenheit nicht
zu ihrer eigenen, persönlichen Sache gemacht hätten.
Das möchte ich in dieser Stunde einfach sagen. Danke
an Angela Merkel und Volker Kauder!
Thomas Strobl ({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle aus einer E-Mail zitieren, einer von vielen EMails, die ich von Contergangeschädigten erhalten habe:
Meine Mutter hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht, weil
sie nur eine einzige Tablette genommen hat. Als kleiner
Junge sagte ich zu ihr: Nicht traurig sein! Ich werde es
schaffen, und wenn ich groß bin, dann will ich eine
Schiffsreise für dich bezahlen. Da war ich gerade mal
acht Jahre alt, konnte kaum sprechen, weil ich ja taub
war. Mein Vater hat sich immer geschämt, weil ich ein
Krüppel war. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nur
halbtags arbeiten kann, konnte ich meiner Mutter den
Wunsch nie erfüllen. In den nächsten Jahren werde ich
nicht mehr arbeiten können und würde dann gerade mal
400 Euro Rente bekommen. Jetzt wird die Bundesregierung 120 Millionen Euro jährlich für unsere Contis ausschütten. Vielen Dank, dass Sie sich dafür eingesetzt haben!
Er schreibt weiter: Jetzt ist meine Mutter 85 Jahre alt.
Ich hoffe, dass ich ihr diesen Wunsch so bald wie möglich erfüllen kann. Sie wird nicht mehr die große Reise
machen können, aber ich werde ihr symbolisch eine
Fahrkarte geben.
Es ist spät, dass wir als Bundesrepublik Deutschland
unsere Verpflichtung gegenüber den contergangeschädigten Menschen in anständiger Weise wahrnehmen. Es
ist spät, dass die Bundesrepublik Deutschland auch für
ihr Verhalten im Conterganskandal Verantwortung übernimmt. Es ist spät, dass der Deutsche Bundestag den Eltern signalisiert: Wir lassen euch und eure Kinder nicht
im Stich. Es ist spät, dass wir vor allem auch den Müttern Danke sagen, dass sie ein Leben lang so viel Zeit
und so viel Kraft und so viel Liebe in das Leben ihrer
Kinder investiert haben.
In den Gesprächen mit den Contergangeschädigten ist
mir eines ganz besonders deutlich geworden: Das Geld
muss vor allem bei den Betroffenen ankommen. Sie sind
es nämlich, die am besten wissen, wozu sie dieses Geld
brauchen. Sie werden mit diesem Geld am sparsamsten
umgehen. Sie sind es, die ihr Leben - daran ist uns allen
gelegen - ohne Bevormundung führen sollen. Deswegen
ist es wichtig, dass 90 Millionen Euro der 120 Millionen
Euro als monatliche Renten direkt an die Betroffenen gehen. Keine Töpfe! Keine Anträge! Keine Diskussionen!
Keine Bürokratie! Diese Entscheidung ist wichtig und
richtig gewesen!
({2})
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Einwänden, insbesondere der Fraktion Die Linke, gegen unseren Gesetzentwurf machen. Das gilt im Übrigen auch
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Aber, Herr
Kollege, Sie haben eigentlich ganz vernünftig geredet.
Vielleicht sprechen wir noch einmal miteinander darüber, ob Sie sich an diesem Gesetzentwurf der drei
größten Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP beteiligen.
Das Thema ist zu wichtig, als dass wir uns parteipolitisch verhakeln.
Ich möchte an die Adresse des Kollegen Seifert sagen: Wenn wir das jetzt nicht schnell machen, dann wird
das wieder nichts. Ich werde nicht zulassen, dass diese
Sache der Diskontinuität anheimfällt. Wir müssen diese
Sache in dieser Legislaturperiode angehen und nicht zerreden. Das ist der entscheidende Punkt.
({3})
Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Ilja Seifert?
Selbstverständlich.
Lieber Herr Kollege Strobl, wir sind uns doch alle einig, dass wir diese Sache in dieser Legislaturperiode
über die Runden bringen wollen; ganz klar. Ich hatte Ihnen deshalb vorhin vorgeschlagen: Lassen Sie uns gemeinsam und feierlich erklären, dass wir alles dafür tun
werden, dass das Gesetz am 1. August 2013 in Kraft treten kann. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache,
dass wir bis Juni Zeit haben. Wir brauchen hier nicht die
Zustimmung des Bundesrates. Wir können den Gesetzentwurf hier abschließend beraten und vorher eine vernünftige Anhörung durchführen, bei der das Prinzip
„nichts über Contis ohne Contis“ tatsächlich umgesetzt
wird.
Das ist das Einzige, was ich vorgeschlagen habe. Das
würde das ganze Verfahren ein kleines bisschen, um
zwei oder drei Wochen, hinauszögern. Aber in diesen
zwei oder drei Wochen können wir gründlich arbeiten
und dabei in Erfahrung bringen, was die Betroffenen
wirklich wollen, ob es ihnen reicht, eine hohe Rente zu
bekommen, oder ob auch andere Dinge wichtig sind. Um
nichts anderes habe ich gebeten. Nichts anderes habe ich
vorgeschlagen. Keinerlei Verzögerungstaktik! Im Gegenteil: Das Ganze soll so schnell wie möglich, aber
auch so gründlich wie möglich gemacht werden. Was ist
das Problem?
({0})
Kollege Seifert, Sie sagen zunächst einmal, wir
brauchten noch eine Anhörung. Ich habe kürzlich mehrere Stunden an einer Anhörung zu diesem Thema teilgenommen. Dort waren einige Hundert Contergangeschädigte, dort waren Wissenschaftler, die die Probleme
vorstellten. Die Anhörung war sehr beeindruckend. Ich
muss Ihnen sagen: Mir ist in der Sache ziemlich klar,
was zu tun ist. Selbstverständlich sind Sie herzlich eingeladen, sich in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Selbstverständlich kann man auch über Details
sprechen. Ein Gesetzgebungsverfahren ist dazu da,
Dinge zu verändern, selbstverständlich.
Es geht aber nicht, dass wir uns in den Diskussionen
in irgendwelchen Details verhaken; denn dann wird es
mit dem Gesetz in dieser Legislaturperiode nichts mehr.
Mit guten Absichtserklärungen ist den Geschädigten
nicht geholfen. Wenn wir die Gesetzgebung jetzt nicht
Thomas Strobl ({0})
abschließen, ist eine Rückwirkung zum 1. Januar 2013
nicht mehr möglich. Deswegen geben wir jetzt Gas und
bekommen etwas Vernünftiges hin. Sie sind selbstverständlich herzlich eingeladen, mitzumachen.
({1})
Ich möchte ein bisschen an Ihr soziales Gewissen appellieren. Lassen Sie diese parteitaktischen Verzögerungsspielchen. Lassen Sie uns ein gemeinsames Zeichen setzen, dass wir fähig sind, diese Sache miteinander
zu einem guten Ende zu bringen.
Es ist ganz einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Wenn die Linken und die Grünen nicht mitmachen, dann
ist das schade, aber dann machen wir es eben ohne sie.
Dann setzen CDU/CSU, SPD und FDP ein gemeinsames
Zeichen: ein Zeichen für eine neue Zeit für die contergangeschädigten Menschen und ihre Familien und auch
ein Zeichen für ein bisschen mehr Menschlichkeit in diesem Land.
({2})
Kollege Thomas Strobl war der letzte Redner in unserer Aussprache, die ich damit schließe.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12678 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung - Bilanz nach 10 Jahren Agenda
- Drucksache 17/12683 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir dies so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Katja Kipping. Bitte schön, Frau Kollegin
Katja Kipping.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn
Jahre Agenda 2010: Für die SPD ist das ein Grund und
Anlass zum Feiern. Wir als Linke fanden, das ist vor allen Dingen ein Anlass, das Gespräch mit denjenigen zu
suchen, die von den Folgen betroffen sind. Deswegen
waren wir beim Jobcenter, und deswegen waren Bernd
Riexinger und ich bei einem Weddinger Verein, der sich
um die Menschen kümmert, die von Armut betroffen
sind.
Der Vereinsvorsitzende sagte zum Schluss, als ich ihn
fragte, was er mir für den Bundestag mitgeben möchte,
einen bemerkenswerten Satz. Er sagte: Man kann Verbesserungen nur erreichen, wenn man bereit ist, für die
Fehler, die man gemacht hat, einzustehen.
({0})
Man muss bereit sein, für die Fehler, die man gemacht
hat, einzustehen: Das sind die Worte eines Mannes, der
in seiner alltäglichen ehrenamtlichen Arbeit mit den
Auswirkungen von Hartz IV und der Agenda 2010 zu
tun hat. Ich finde, das sollte sich die SPD zu Herzen nehmen.
({1})
Doch wie sieht es die SPD? Der SPD-Vorsitzende
Gabriel spricht davon: Die Agenda 2010 war ein großer
Erfolg. - Schauen wir uns doch einmal an, worin der
große Erfolg von Agenda 2010 und Hartz IV besteht.
Um nur einen Bereich zu nehmen: In der gesetzlichen
Krankenversicherung sind seit der Agenda 2010 immer
mehr Lasten auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abgeladen worden. Leistungen wie Brillen und Krankenfahrten wurden abgeschafft, und die Zuzahlungen
wurden immer mehr nach oben geschraubt.
Seit dem Jahr 2004 sind insgesamt 120 Milliarden
Euro auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abgeladen worden. Das nennt die SPD einen Erfolg. Ich
finde, das ist eine Sauerei. Wir als Linke meinen ganz
klar, die Zuzahlungen müssen gestrichen werden, und
wir wollen den Einstieg in eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.
({2})
Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die
Renten gesunken sind. Um das an einer Zahl zu verdeutlichen: Die Renten für langjährig Versicherte sind durchschnittlich von 1 021 auf 953 Euro im Monat gesunken.
Auch die Reallöhne - das sind die Löhne gemessen an
der Kaufkraftentwicklung - sind zwischen 2005 und
2010 um 5 Prozent gesunken. Am stärksten betroffen
sind die unteren Einkommensschichten.
Also halten wir fest: Die Agenda 2010, erfunden von
Rot-Grün, fortgesetzt von der Großen Koalition und
dann von Schwarz-Gelb, ist vor allen Dingen eins: ein
Angriff auf die Mittelschichten und auf die Rechte von
Erwerbslosen, mit einem Ziel, nämlich den Reichen und
Managern zu gefallen.
({3})
Jetzt greift die SPD in ihrem Wahlprogramm wieder
soziale Fragen auf. Aber ich muss sagen: Was jetzt in Ihrem Wahlprogramm steht, liebe Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten, steht in einem logischen Widerspruch zum Abfeiern der Agenda 2010. Durch Ihr Feiern
der Agenda 2010 beweisen Sie nur eins: Ihr Wahlprogramm ist nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt
wurde.
({4})
Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die Arbeitslosenversicherung quasi pulverisiert wurde. Nur noch
jeder vierte Erwerbslose bekommt überhaupt Arbeitslosengeld I. Diejenigen, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, sind in das System Hartz IV gestürzt worden. Das bedeutet für Millionen Menschen Armut und
Schikane per Gesetz.
Wir als Linke sagen klar: Wir wollen Hartz IV durch
eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen. Die Anhebung des Regelsatzes auf 500 Euro und die Abschaffung der Sanktionen sind erste wichtige Schritte dahin,
({5})
zumal viele dieser Sanktionen widerrechtlich verhängt
werden. Davon zeugen die hohen Erfolgsquoten zum
Beispiel bei Klagen. Mehr als der Hälfte aller Klagen gegen Sanktionen wird stattgegeben. Vor diesem Hintergrund halte ich den geplanten Angriff auf die Prozesskostenhilfe für ein besonderes Problem.
({6})
Wer die Prozesskostenhilfe abschaffen will, der soll
gleich sagen, dass er den Rechtsstaat nur für die Reichen
will. Wir als Linke meinen ganz klar: Dieser Angriff auf
die Prozesskostenhilfe ist ein Angriff auf den Rechtsstaat. Wir wollen, dass sich Arme wie Reiche für ihre
Rechte einsetzen können.
({7})
Die Agenda 2010 wurde eingeführt mit der Behauptung, es gebe einen Reformstau. Dazu sagen wir als
Linke ganz klar: Es gibt keinen Reformstau; es gibt einen Gerechtigkeitsstau. Wenn jetzt Rufe nach einer
Agenda 2020 laut werden, sagen wir: Was wir wirklich
für das Jahr 2020 brauchen, ist eine „Agenda Sozial“,
das heißt statt Hartz IV Mindestsicherung, Mindestlohn
und Mindestrente.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in
unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU
unser Kollege Dr. Carsten Linnemann. Bitte schön, Kollege Dr. Linnemann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich vorausschicken, dass wir trotz mancher
Schieflagen - auf diese werde ich gleich noch eingehen -,
die wir zum großen Teil behoben haben, und trotz mancher Komplikationen der Meinung sind, dass die Agenda
2010 in der Sache richtig war. Den Menschen geht es
heute, im Jahre 2013, besser, Frau Kipping, als noch vor
zehn Jahren.
({0})
Ich möchte aber auch nicht den Eindruck erwecken,
dass die Agenda 2010 maßgeblich dafür verantwortlich
ist, dass es uns heute besser geht. Es gibt vor allen
Dingen zwei große andere Punkte, die man in diesem
Zusammenhang ansprechen muss und die gerade mit der
Union verbunden sind. Der erste Punkt ist die duale Ausbildung. Viele in Europa haben sich in der Vergangenheit über uns lustig gemacht und gesagt: Die Auszubildenden gehen ja zweimal in der Woche in die
Berufsschule. Das ist ja wie Schule. - Als wir, die Mitglieder des Arbeitsausschusses, kürzlich in Spanien waren, kam in jedem Gespräch, das die Spanier mit uns geführt haben, die duale Ausbildung zur Sprache. Die
Spanier wollen dieses System kopieren, und wir helfen
gerne dabei. Wir wollen auf jeden Fall am dualen System festhalten.
Der zweite Punkt, der neben der Agenda 2010 wichtig
ist - auch das sollte einmal angesprochen werden -, ist
die Tatsache, dass es die Union war, die am industriellen
Kern Deutschlands festgehalten hat.
({1})
25 Prozent der Bruttowertschöpfung findet bei uns in der
Industrie statt. In Frankreich ist es nur die Hälfte. Über
Großbritannien und insbesondere über London als zentralem Platz für Finanzdienstleister möchte ich erst gar
nicht reden.
({2})
Aber nun zur Agenda 2010. Die Stoßrichtung war
richtig. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag haben
im Grundsatz Ja zum Prinzip „Fördern und Fordern“ und
zur Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe gesagt. Wir hatten damals das gleiche Ziel: sicherer
Wohlstand und sicherer Sozialstaat. Heute, zehn Jahre
später, ist festzustellen, dass wir das nicht nur damals
konstruktiv begleitet, sondern bis heute fortgeführt haben. Die Zahlen sind absolut eindrucksvoll und sprechen
meiner Meinung nach Bände. 41,5 Millionen Menschen
in Deutschland sind erwerbstätig.
({3})
Im Moment gibt es 1 Million offene Stellen. Die Arbeitslosigkeit, auch die Sockelarbeitslosigkeit, ist signifikant gesunken. Die Erwerbstätigenquote Älterer ist
gut. Ich glaube, hier liegen wir an zweitbester Stelle in
Europa. Die Situation bei der Jugendarbeitslosigkeit ist
sehr gut. 93 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben einen Job. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist unter der
Regierung von Angela Merkel und mit einer Bundesarbeitsministerin Frau von der Leyen um 40 Prozent zurückgegangen. Damit ist auch die Zahl der Kinder, die
im Hartz-IV-Bezug leben, um 40 Prozent gesunken.
({4})
- Entschuldigung, um 260 000, Herr Kurth. - Man kann
das alles schlechtreden.
({5})
Man kann aber auch einmal sagen: Das sind gute Daten.
Diese Koalition hat gute Arbeit geleistet. Wir freuen uns,
dass es so ist.
({6})
Natürlich gibt es immer Schieflagen und Menschen,
die zu Recht sagen: Hier und da geht es nicht gerecht zu.
- Davor darf man auch nicht die Augen verschließen.
Ich nenne Ihnen nur drei Beispiele, die deutlich machen,
wo diese Koalition angesetzt hat, um Schieflagen zu beseitigen.
Wir haben schon damals gesagt, dass Zeitarbeit nur
dazu dienen darf, Auftragsspitzen zu bewältigen sowie
Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten den Einstieg in reguläre Beschäftigung zu ermöglichen. Wenn
Firmen dieses Konzept ausnutzen, Mitarbeiter rauswerfen und die gleichen Mitarbeiter über die Zeitarbeit wieder ins Unternehmen holen, dann ist das schlicht nicht
gesetzeskonform. Wir haben ein Gesetz gemacht. So etwas ist jetzt verboten und findet nicht mehr statt.
Ein weiteres Beispiel: die Hinzuverdienstmöglichkeiten. Wir haben gesagt: Wenn es junge Menschen gibt,
die in einem Ferienjob gern etwas dazuverdienen wollen, dann sollen sie das auch behalten; es wird nicht angerechnet.
({7})
Ein weiteres Beispiel: der Bundesfreiwilligendienst.
Wir haben gesagt: Wenn jemand freiwillig mitmachen
will, dann soll er das Geld auch zum großen Teil behalten.
({8})
- Nein, Frau Kipping. - Ich möchte an dieser Stelle einfach nur sagen: Man bekommt die absolute Gerechtigkeit nicht hin. Aber dort, wo Schieflagen sind, haben wir
das angepackt; ich habe die Beispiele gerade genannt.
({9})
Wenn Sie eine Neiddebatte wollen und in Ihrem Antrag davon sprechen, dass Sie Einkommen mit einem
Steuersatz von 75 Prozent besteuern wollen, dann kann
ich Ihnen nur sagen: Wir haben in Deutschland kein Einnahmeproblem; wir haben ein Ausgabenproblem. Die
Menschen wollen, dass wir mit den Steuergeldern vernünftig umgehen. Wir haben noch nie so hohe Steuereinnahmen gehabt wie im Moment. Es ist Herr Schäuble
gewesen, der gestern gesagt hat: Im Jahr 2015 bekommen wir nach 40 Jahren wieder einen ausgeglichenen
Haushalt hin. - Dahin muss es gehen! Mut! Nach vorn!
Keine Neidgesellschaft! Wir müssen den jungen Menschen sagen: Ihr habt alle Chancen der Welt. Strengt
euch an! Die Welt steht euch offen. - Das begleiten wir.
Gleiche Chancen für jedes Kind, egal aus welchem Elternhaus!
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Linnemann. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte
schön, Kollege Hubertus Heil.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist tatsächlich heute zehn Jahre her, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von diesem
Pult aus eine Regierungserklärung abgegeben hat. Es
lohnt sich übrigens, die noch einmal insgesamt nachzulesen. Sie stand unter dem Motto „Mut zum Frieden und
Mut zur Veränderung“. Es war übrigens die Regierungserklärung - daran seien Sie in der Union erinnert -, in
der er das klare deutsche Nein zum Irakkrieg klargemacht hat ({0})
in einer Zeit, in der es von Frau Merkel noch sehr peinliche Ergebenheitsadressen gegenüber George Bush gegeben hat; aber das nur am Rande.
Wir diskutieren hier über den innenpolitischen Teil,
über die Reformpolitik, die damals begonnen wurde. In
dieser Debatte, an dem, was Frau Kipping und Herr
Linnemann gesagt haben, stört mich vor allen Dingen
eines: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Weder eine
rosarote Brille noch eine Verelendungsdebatte helfen uns
weiter, wenn es darum geht, festzustellen: Was hat sich
in den letzten zehn Jahren getan?
Ich bleibe dabei: Wenn man die Agenda 2010, das
Reformprogramm insgesamt, sieht, wenn man zum Beispiel in Erinnerung hat - Frau Kollegin Kipping, Sie verdrängen das gern, weil das nicht in Ihr Weltbild passt -,
dass Teil der Agenda 2010 auch ein 4 Milliarden Euro
schweres Ganztagsschulprogramm war,
({1})
dass es beispielsweise auch darum ging, die Bundesagentur für Arbeit besser aufzustellen - sie ist heute besser aufgestellt -,
({2})
wenn man etwas über die Vorgeschichte und die wirtschaftliche Situation weiß, in der wir damals waren,
({3})
dann erklärt sich das eine oder andere.
Hubertus Heil ({4})
Katja Kipping hat darum gebeten - das war die Nachricht, die sie gegeben hat -, dass wir einräumen, wo wir
geirrt haben, wo es Fehlentwicklungen gab. Ich komme
gleich dazu.
Aber dem Grunde nach will ich eines ins Gedächtnis
rufen: Wo standen wir 1998? 1998, nach 16 Jahren
Helmut Kohl, hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland ein Reformstau aufgebaut.
({5})
Tatsache war, dass viele Langzeitarbeitslose, die damals
in der Sozialhilfe waren, den Kommunen sozusagen vor
die Tür gekippt wurden. Die sozialen Sicherungssysteme
waren durch die Beitragsentwicklung, weil die deutsche
Einheit falsch finanziert war, am Rande der Handlungsfähigkeit.
({6})
Wir haben dann 1998 angefangen. Wir haben erst einmal versucht, das im guten deutschen System, im Konsens - im Konsens! -, nämlich über ein Bündnis für Arbeit mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, zu
machen. Man muss einräumen, dass dieser Versuch nicht
geklappt hat, weil die Interessengegensätze damals - übrigens im Gegensatz zu heute, wo in der Wirtschaftskrise
Kooperation zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften
stattfand, wo Sozialpartnerschaft wieder höhere Wertschätzung erfährt - zu groß waren. Dieses Bündnis für
Arbeit ist gescheitert, nicht an der Bundesregierung, sondern an Interessengegensätzen, die nicht überwindbar
waren. Die Debatte war von Verbandsdenken geprägt.
Können Sie sich an Hans-Olaf Henkel erinnern, der damals durch jede Talkshow lief?
Dann war zu entscheiden, weil sich die Lage damals,
nach dem Platzen der Dotcom-Blase, verschärfte und
wir in Deutschland auf einmal 5 Millionen Arbeitslose
hatten. Deshalb haben wir angefangen.
Jetzt sage ich Ihnen: Aus heutiger Perspektive gibt es
zwei, drei Fehlentwicklungen, die wir dringend korrigieren müssen. Frau von der Leyen, ich habe heute Ihre Äußerungen gelesen. Ich bin ganz vorsichtig, aber ich kann
mich erinnern, dass Sie 2003 ein anderes Amt hatten. Sie
waren damals frisch gebackene Arbeits- und Sozialministerin in unserem Land, Niedersachsen. Im Übrigen
haben Sie in dieser Funktion damals wesentliche Teile
der Agenda 2010, zum Beispiel das Tagesbetreuungsausbaugesetz, blockiert. Außerdem haben Sie über den
Vermittlungsausschuss mitgeholfen, dass vor allem auch
die Arbeitsmarktgesetzgebung betreffende Punkte in die
Agenda 2010 hineingekommen sind, die sich am Ende
als Fehlentwicklung erwiesen haben.
Wir haben damals beispielsweise gesagt, dass wir die
Zumutbarkeitskriterien auf die Tariflöhne abstellen wollen. Im Vermittlungsausschuss saßen damals Frau von
der Leyen, Herr Stoiber, Herr Koch, Herr Wulff und wie
sie alle hießen, die dagegen waren.
({7})
Das meine ich mit den Fehlentwicklungen, die wir
heute haben. Diese Fehlentwicklungen zeigen sich am
Arbeitsmarkt. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt. Aus heutiger Perspektive wäre es 2003 vernünftig gewesen, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass in der
damaligen Diskussion ein Mindestlohn bis auf die Gewerkschaften NGG, Verdi, IG BAU - auch von großen
Industriegewerkschaften - eher abgelehnt wurde.
Mit Verlaub, es waren auch einige Kolleginnen und
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dagegen. Kollege
Kurth war damals dafür.
({8})
Ich war auch dafür. Es gab aber auch andere - um das
einmal freundlich zu formulieren.
Heute wissen wir, wie wichtig der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ist, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit leben können. Seit 2005 erleben
wir aber, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der diesen Namen auch verdient, an CDU/
CSU und FDP in diesem Land scheitert. Das müssen wir
ändern.
({9})
Schauen wir uns einmal an, welche Fehlentwicklungen es noch gegeben hat. Zur Differenzierung gehört
auch, sich selbstkritisch mit dem auseinanderzusetzen,
was nicht gut gelaufen ist. Dies betrifft den massiven
Missbrauch im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung,
im Bereich der Zeit- und Leiharbeit. Damals ist im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ein Schlupfloch entstanden, das inzwischen scheunentorweit geöffnet wurde
und das zu Missbrauch geführt hat.
Ich bleibe dabei: Arbeitnehmerüberlassung macht
Sinn, um bei Unternehmen Arbeitsspitzen aufzufangen
und Flexibilität zu schaffen. Daraus geworden ist allerdings ein Einfallstor für Lohndrückerei.
({10})
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass „gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ gilt, dass es Höchstüberlassungsdauern
gibt, dass die Mitbestimmungsrechte in diesem Bereich
gestärkt werden und dass das Synchronisationsverbot
wieder eingeführt wird.
Das sind zwei zentrale Baustellen, an denen Veränderungen notwendig sind.
Da Sie jetzt schwadronieren, sage ich Ihnen aber
auch, Frau von der Leyen: In den vergangenen vier Jahren haben Sie ohne unsere Hilfe gar nichts hinbekommen. Wir mussten mithelfen, dass es bei der Jobcenterreform zu einer Lösung kam. Außerdem mussten wir Sie
bei den Regelsätzen treiben, damit es zu einer Lösung
kam.
({11})
Hubertus Heil ({12})
Ich sage Ihnen darüber hinaus ganz deutlich: Die Fragen
des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft in Deutschland
der vergangenen zehn Jahre sind nicht die der nächsten
zehn Jahre. Wir haben jetzt eine Entwicklung, die man
als Gefahr eines tief gespaltenen Arbeitsmarkts beschreiben kann. Immer mehr Unternehmen werden aufgrund
der demografischen Entwicklung am Arbeitsmarkt qualifizierte Fachkräfte suchen. Auf der anderen Seite gibt
es nach wie vor viel zu viele langzeitarbeitslose Menschen, aber auch Menschen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden und somit abgehängt
worden sind.
Wir müssen mehr tun für die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie.
Frau von der Leyen, wenn Sie sich hier hinstellen und
wortreich erklären, dass Sie in Zeiten der Großen Koalition das, was die SPD durchgesetzt hat, auch umgesetzt
haben, dann sage ich dazu: Das mag stimmen. Aber Sie
gehören nach wie vor einer Regierung an, die übrigens
nicht gegen Ihren Widerstand, sondern mit Ihrer Unterstützung - vielleicht gegen Ihre eigene Überzeugung;
das will ich unterstellen - ein idiotisches Betreuungsgeld
ausreicht mit allen Folgen, die das für den Arbeitsmarkt
hat.
Wenn wir das Thema der Fachkräftesicherung ernst
nehmen, dann müssen wir dafür sorgen, dass vor allen
Dingen Frauenerwerbsbeteiligung in Vollzeit in diesem
Land zum Zuge kommt.
({13})
Dass Frau Schröder dieses Thema jetzt entdeckt hat,
ist schön. Aber es gilt auch in diesem Fall, Frau von der
Leyen: Nicht reden, sondern handeln. Mit diesem idiotischen Betreuungsgeld handeln Sie aber in die falsche
Richtung. Die Mittel dafür brauchen wir, um mehr in
Bildung investieren zu können.
Durch diese Entwicklung stellen sich ganz neue Herausforderungen. Mit der Agenda 2010 haben wir - die
Fehler habe ich eingeräumt - dem Grunde nach eine Situation geschaffen, in der Deutschland in den Jahren
2008 und 2009 besser aufgestellt durch die Krise gekommen ist als andere Volkswirtschaften, die heute unter ungemein schwierigeren Bedingungen Strukturreformen
vor sich haben.
Nur, meine Damen und Herren von der Koalition, eines vergessen Sie, wenn Sie heute wortreich von Strukturreformen in anderen Ländern reden, abgesehen davon, dass Sie selbst noch gar keine hinbekommen haben:
Unsere Strukturreformen waren keine Kürzungsprogramme. Unsere Strukturreformen waren an Investitionen gekoppelt. Ich habe auf 4 Milliarden Euro für das
Ganztagsschulprogramm hingewiesen. Wenn man Strukturreformen macht, ist es notwendig, dass gleichzeitig
investiert wird. Diesen volkswirtschaftlichen Zusammenhang haben Sie nicht gelernt.
Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ich
weiß, dass Sie das nicht einsehen werden. Dennoch
werde ich Ihnen das noch einmal deutlich machen: Wenn
wir damals nicht gehandelt hätten und in den Jahren
2008 und 2009 die Krise ohne diese Reformen erlebt
hätten, dann wäre kein Geld für veränderte Regelungen
zur Kurzarbeit da gewesen, die dazu beigetragen haben,
Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Dann wären
uns die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland um
die Ohren geflogen. Wir haben damals gesagt: Wir müssen selbst modernisieren, oder wir werden überrannt. Das ist der Grund, meine Damen und Herren. Es ist kein
Grund, stolz zu sein, und wir feiern es auch nicht, weil
viele Menschen es persönlich als Härte erlebt haben und
es Fehlentwicklungen gegeben hat; das gehört auch zur
Wahrheit. Natürlich hat meine Partei dafür einen bitteren
Preis gezahlt: Wir haben über diese Auseinandersetzung
Wahlen verloren.
Wir haben aber in den letzten vier Jahren die Zeit genutzt, um unsere Fehler aufzuarbeiten und uns nach
vorne auszurichten. Deshalb sage ich: Es geht nicht
mehr um die Agenda 2010. Jetzt geht es um die Frage,
wie es in Deutschland weitergeht. Da stehen wir Sozialdemokraten für einen klaren Grundsatz: Für uns sind
wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit zwei
Seiten derselben Medaille.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege Hubertus Heil. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Heil, Ihre Rede hat noch einmal sehr anschaulich deutlich gemacht, wie schwer sich Sozialdemokraten immer noch mit dem Thema Agenda 2010 tun,
({0})
auch wenn Sie sich hier sehr nachdenklich gegeben haben. Ich will Ihnen einmal sagen, woran das liegt. Ihr
Parteivorsitzender, Sigmar Gabriel, wird in diesen Tagen
mit Sätzen wie diesen zitiert:
Wir können sehr stolz auf die Agenda 2010 sein. …
Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass die
Agenda 2010 eine große historische Leistung ist,
von der wir heute profitieren.
Das sagt Sigmar Gabriel, der bei der Agenda 2010 als
Abrissunternehmer unterwegs ist
({1})
und bei diesem nach Ihrer Aussage so großen Reformwerk wirklich keinen Stein auf dem anderen lassen will.
Wissen Sie, Herr Hubertus Heil, einer, der so agiert,
kommt mir vor wie ein Vater, der feiertags gerne den
stolzen Papa geben will und werktags nicht müde wird,
zu betonen, wie dumm und hässlich doch das Kind ist.
So einer ist unglaubwürdig, und genau das ist auch das
Problem der SPD; das muss man hier sehr deutlich sagen.
({2})
Ich will einen zweiten Punkt anführen. Frank-Walter
Steinmeier bezeichnet die Agenda 2010 als „das wohl
tiefgreifendste und erfolgreichste … Reformprogramm
in der Geschichte der Bundesrepublik“.
({3})
Dem ist zu widersprechen, Herr Heil.
({4})
Der wesentlichste und umfangreichste Reformanstoß in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde
vor mehr als 30 Jahren mit dem damaligen LambsdorffPapier gegeben. Das war wirklich ein Reformprogramm,
das weit über das hinausging, was damals Standard in
der deutschen Politik gewesen ist. Es hat mit einer
wachstums- und leistungsfördernden Haushaltspolitik,
mit investitionsfördernden Steuermaßnahmen, mit einer
Konsolidierung der sozialen Sicherung
({5})
sowie beschäftigungsfördernden sozial- und arbeitsmarktpolitischen Ansätzen und vor allen Dingen einer
Politik für Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaftlicher Selbstständigkeit einen Rahmen aufgezeigt, der
wirklich nach vorne wies.
({6})
Zu Recht hat Otto Graf Lambsdorff damals gesagt - ich
zitiere -:
Diese Überlegungen gehen über den konventionellen Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehenen Politik hinaus. … Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit gebietet es aber, dass die Politik für die
Wirtschaft einen neuen Anfang setzt …
Das, meine Damen und Herren, sagte damals Otto Graf
Lambsdorff.
So ähnlich ging es auch Ihnen. Bei Lichte besehen, ist
die Agenda 2010 nichts anderes als das Ende einer großen Wahllüge. Rot-Grün hat nämlich damals in der ersten Wahlperiode seiner Regierungszeit alle Reformen,
die zuvor die Regierung Kohl/Kinkel auf den Weg gebracht hatte, zurückgedreht,
({7})
um dann nach einiger Zeit feststellen zu müssen, dass
Sie mit Ihrer verfehlten Politik voll gegen die Wand laufen.
({8})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben dann - der
Not gehorchend, nicht dem Triebe - einen radikalen
Kurswechsel in Ihrer Politik vornehmen müssen.
Das ist die Wahrheit, die man zehn Jahre nach der
Agenda 2010 einmal in diesem Haus sagen muss.
({9})
Mehr war in drei Minuten nicht möglich; aber ich denke,
es war erforderlich, dass es hier einmal kundgetan
wurde.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb. - Nächster Redner
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kollege Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist doch immer wieder interessant, zu sehen, wie Debatten um die Agenda 2010 zwischen Überhöhung auf der
einen Seite und tiefer Dämonisierung auf der anderen
Seite pendeln, wenn man einmal die Rede von Hubertus
Heil ausdrücklich ausnimmt. Ich glaube, wir müssen einmal mit ein paar Mythen aufräumen: Das war weder ein
Masterplan aus einem Guss zum Abbau des Sozialstaats
noch ein Erlösungsprogramm zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, zu dem man sich fortwährend bekennen müsste. Wir müssen einfach nüchtern auf die ganze
Sache blicken.
({0})
Übrigens umfassten die Veränderungen der Sozialgesetze in den Jahren 2002 bis 2004 auch weitaus mehr als
die unglücklich unter dem Schlagwort „Hartz IV“ bekannt gewordene Zusammenlegung der Arbeitslosenund Sozialhilfe.
Was war die Ausgangslage? Im Abschwung 2002/2003
traten einerseits die strukturellen Schwächen im System
der sozialen Sicherung stärker zutage. Gleichzeitig wurden auch die Verteilungskämpfe härter; Hubertus Heil
hat es angesprochen. Von Arbeitgeberseite bzw. den Anteilseignern der Unternehmen wurde die Auseinandersetzung sehr aggressiv geführt, da ja ihre Gewinne
sanken. Es war also keine einfache Ausgangslage für
Reformen.
Zwei Beispiele. Einerseits war offensichtlich, dass
das Nebeneinander von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu Verschiebebahnhöfen zulasten der Betroffenen
geführt hatte, andererseits war ebenso offensichtlich
- das war auch uns Grünen immer klar -, dass bei einem
Reformprozess der Zusammenlegung die Kräfte Morgenluft wittern würden, die faktisch nur eine Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wollten.
Oder Bereich Gesundheit. Es war klar, dass zum Beispiel die Entwicklung der Arzneimittelkosten aus dem
Ruder läuft, dass zahlreiche teure Medikamente ungeöffnet einfach im Müll landeten und dass es dringend einer
externen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle im
Gesundheitswesen bedurfte.
Auch aus unserer Sicht bestand natürlich stets das Risiko, dass diejenigen einen notwendigen Reformprozess
kapern, die nichts als eine einseitige Lastenverschiebung
zuungunsten der Versicherten und der Arbeitnehmerbeiträge wollten. Das könnte man jetzt auch noch durchdeklinieren. Aber hätte man angesichts des Zeitgeistes und
auch des - ich nenne es einmal so - neoliberalen Trommelfeuers, das dort veranstaltet wurde, von vornherein
auf Veränderungen verzichten und nur in der Defensive
verharren sollen?
Wir haben uns durchaus für ein Risiko entschieden,
und wir haben auch einiges erreicht: im Gesundheitsbereich zum Beispiel das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Wir haben Patientenbeteiligung in dem sogenannten Gemeinsamen
Bundesausschuss, den Nachhaltigkeitsfaktor in der gesetzlichen Rentenversicherung und nicht zuletzt die
Strukturentscheidung für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe mit dem Ziel einer einheitlichen Grundsicherung mit einer Unterstützungsinfrastruktur erreicht.
Aber wir sind natürlich in Situationen geraten, in denen wir - das erkennen wir klar an - auch Fehler gemacht haben, und wir sind in Situationen geraten, in denen wir uns gegen - man muss es schon so hart sagen reaktionäre Kräfte auch nicht durchsetzen konnten. Die
Praxisgebühr, die Sie wieder abgeschafft haben, haben
wir etwa Horst Seehofer zu verdanken.
({1})
Wir haben den Niedriglohnsektor der unseligen Rolle
zu verdanken, die Roland Koch im Vermittlungsausschuss gespielt hat.
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Kolb?
Ja, gerne.
Herr Kollege Kurth, Sie sagen ja, dass Sie sich gegen
reaktionäre Kräfte nicht durchsetzen konnten. Mich interessiert in diesem Zusammenhang, dass der Kollege
Trittin vor wenigen Tagen gesagt hat, dass die Grünen
damals einen Mindestlohn bei der Zeitarbeit wollten,
aber die SPD das verhindert hätte. Kann man das unter
diesen Begriff auch subsumieren?
({0})
Es gab eine lebhafte Debatte um die Zumutbarkeitsregelung. Daran erinnern Sie sich vielleicht noch.
({0})
- Nein, es ging ja allgemein um den Mindestlohn.
({1})
- Seien Sie doch bitte still, Frau Kramme.
Wenn immer nur einer reden würde, könnten wir zuhören.
Es ging im Sommer 2003 um die Frage: Ist wirklich
jeder Job zumutbar oder eben nur derjenige, der entweder nach Tariflohn bezahlt wird oder, wenn kein Tariflohn da ist, nach ortsüblichem Lohnniveau? Rot-Grün
hat sich dafür entschieden, den Tariflohn oder das ortsübliche Lohnniveau zum Maßstab zu machen. Das war
der Stand Sommer 2003. Dann ist dieses Gesetz in den
Vermittlungsausschuss gekommen. Dort ist diese Regelung wieder gestrichen worden, und zwar auf Betreiben
von Roland Koch und auch auf Betreiben der FDP-Vertreter, die dort waren.
({0})
Da ich mir dachte, dass Sie die Frage stellen würden,
habe ich extra die Financial Times Deutschland vom
18. Dezember 2003, vom Vortag der Verabschiedung der
sogenannten Hartz-IV-Gesetze, mitgenommen. Lesen
Sie die Überschrift selbst: „Grüne verlangen Zusagen für
Mindestlöhne“.
({1})
Da wird ein gewisser Markus Kurth zitiert.
In der Tat ist es so - Herr Heil hat es angesprochen -:
Es gab natürlich auch bei den Sozialdemokraten und teilweise auch bei den Grünen Leute, die das damals anders
gesehen bzw. nicht anerkannt haben, die in dieser Frage
auf die IG Metall bzw. andere große Industriegewerkschaften gehört haben. Die haben aber sehr schnell erkannt - nachdem ein, zwei Jahre später absehbar war,
wie der Niedriglohnsektor wächst -, dass man dagegenhalten muss.
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Hubertus Heil?
Ja.
Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.
Lieber Markus Kurth, ich frage, weil wir versuchen
wollen, den Kollegen Kolb gemeinsam aufzuklären.
({0})
- Ich sagte ja „versuchen“. Man soll es nie aufgeben. Im
Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als
über 99 Gerechte, habe ich als ordentlicher evangelischer Christ einmal gelernt.
Tatsächlich ging es damals nicht um die Zeitarbeit,
Herr Kollege Kolb.
Sie wollten eine Frage stellen.
Entschuldigung, ich glaube, nach der Geschäftsordnung darf man auch eine Bemerkung machen, Herr Präsident.
({0})
Aber ich kann sie in Frageform kleiden.
Gehe ich recht in der Annahme, Herr Kollege Kurth,
dass damals drei Einzelgewerkschaften, nämlich NGG,
Verdi und IG BAU, für den Mindestlohn waren - die
großen Industriegewerkschaften noch nicht -, mittlerweile aber die Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit für
den gesetzlichen Mindestlohn sind - und wir auch -, und
dass es schon damals einzelne Abgeordnete wie den
Kollegen Kurth und den Kollegen Heil gab, die für einen
Mindestlohn waren - Olaf Scholz und ein paar andere
übrigens auch -, aber dass beispielsweise Krista Sager
- ich sage das, um Jürgen Trittin ein bisschen daran zu
erinnern - nicht dazugehörte? Ist es nicht eine gute Sache, dass wir gemeinsam relativ schnell gelernt haben,
dass der gesetzliche Mindestlohn in diesem Land notwendig ist, und ist es nicht eigentlich ein Drama, dass
die FDP das bis heute nicht begriffen hat?
({1})
Kollege Heil, nach meiner Erinnerung ist es so gewesen - ich habe, wie gesagt, alte Zeitungen ausgegraben -,
dass damals noch nicht einmal die IG BAU für einen
Mindestlohn war. Dafür waren damals wirklich nur die
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten als eine sehr
kleine und mit Organisationsproblemen behaftete Gewerkschaft und Verdi. Das hatte seinen Grund. Die anderen Gewerkschaften haben allesamt gesagt: Der Tariflohn ist aus unserer Sicht besser als der Mindestlohn. Sie
haben noch nicht gesehen, wie die Kombination mit der
Flexibilisierung der Zeitarbeit im Zusammenhang mit
der veränderten Zumutbarkeitsgrenze wirken würde.
Natürlich gab es damals auch Politiker wie Herrn
Ludwig Stiegler - das ist der mit dem roten Pullunder -,
die eine Zustimmung zu einem gesetzlichen Mindestlohn ablehnten. In der Tat gab es auch grüne Politiker,
die an dieser Stelle mehr als skeptisch waren. Das gehört
mit zur historischen Wahrheit.
({0})
Es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass Folgeprobleme, zum Beispiel die Zahl der Aufstocker, teilweise sehenden Auges vom damals verantwortlichen
Minister, dem Darth Vader der Agenda 2010, Wolfgang
Clement, in Kauf genommen wurden. Die entscheidende
Frage aber ist, ob man, wenn man erkennt, dass eine Sache in die falsche Richtung läuft, rechtzeitig die Kraft
und den Mut hat, gegenzusteuern, oder ob man wider
besseres Wissen im Alten verharrt.
({1})
Herr Kurth, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Kipping.
Möchten Sie diese auch zulassen?
Ich muss ja das ganze Spektrum zum Zuge kommen
lassen. - Bitte schön.
Frau Kipping, bitte.
Werter Kollege Kurth, ich möchte von der Möglichkeit, eine Zwischenbemerkung zu machen, Gebrauch
machen.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit erinnert ein bisschen an ein Schwarzer-Peter-Spiel. Man hat das Gefühl:
So richtig will es niemand gewesen sein. Ich kann nur
sagen: Meine Partei war schon damals geschlossen der
Meinung, dass es eines Mindestlohns bedarf und dass
Leiharbeit ein Problem ist.
({0})
Es freut uns sehr, dass sich diese Erkenntnis jetzt ausweitet. Das zeigt ja, dass links wirkt.
Da nun immer wieder die historische Wahrheit bemüht wird und alte Zitate herausgekramt werden,
möchte ich an ein Zitat aus der Zeit vom 13. November
2003 erinnern. Darin hat Herr Steinbrück seine Position
zur sozialen Gerechtigkeit deutlich gemacht. Ich finde
sie bemerkenswert und glaube, die SPD ist gefragt, deutlich zu machen, ob sie immer noch dieser Auffassung ist.
In der Zeit hat Herr Steinbrück gesagt:
Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine
Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun … die Leistung für sich
und unsere Gesellschaft erbringen.
Jetzt kommt es:
Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern.
Das ist eine Absage an soziale Gerechtigkeit für Menschen, die man nicht als Leistungsträger einordnen kann.
Das ist ein klassisches Steinbrück-Zitat, nachzulesen in
der Zeit. Ich finde, auch diese Form einer Absage an soziale Gerechtigkeit gehört zur historischen Wahrheit.
({1})
Frau Kipping, ich kann irgendwie nicht so richtig erkennen, wo jetzt im Kern die Frage an mich persönlich
war. Ich weiß nicht, was ich mit dem Zitat von Herrn
Steinbrück aus dem Jahr 2003 an dieser Stelle anfangen
soll.
({0})
Nach meinem Verständnis jedenfalls streben wir mehrheitlich eine Politik an, die sich an diejenigen, die im Arbeitsleben stehen, und an diejenigen, die außen vor sind,
gleichermaßen richtet. Da wir gerade bei der geschichtlichen Aufarbeitung sind: Man muss sagen, dass damals
diejenigen, die vom System ausgeschlossen waren, häufig nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie
hätten bekommen sollen. Damals gab es eine Struktur
mit Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, die verhindert hat,
dass die Sozialhilfeempfänger auf die Regelförderinstrumente zugreifen konnten. Auch meine Fraktion wollte,
dass stärker gefördert wird und dass diese Menschen
eine Teilhabemöglichkeit haben. Diese Debatte - das
gebe ich zu - war damals umstritten und sehr vielfältig.
Zum Schluss meines Beitrags möchte ich nach vorne
blicken. Wir möchten den 1,1 Millionen Menschen Teilhabemöglichkeiten eröffnen, die seit Einführung des
SGB II dauerhaft im Leistungsbezug sind. Diese Regierung hat die Fördermittel mit dem Verweis darauf gekürzt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen leicht sinkt.
Sie sehen aber nicht, dass diejenigen, die dauerhaft
Arbeitslosengeld II beziehen, eine viel intensivere und
langfristigere Förderung benötigen. Wenn wir das schaffen und wenn wir außerdem vernünftige Garantieelemente in die Altersversorgung einführen, um die Konsequenzen der Agenda 2010 abzufedern, wenn wir soziale
Bürgerrechte, Mitspracherechte und die Rechtsposition
stärken - die Prozesskostenhilfe ist angesprochen worden -, dann kommen wir zu einem sozialen Fundament,
({1})
das für dieses Land auch in Zukunft eine wirtschaftliche
Entwicklung ermöglicht.
Danke.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Heil das Wort.
Herr Kollege Kurth, ich fühle mich von dem, was Sie
gesagt haben, angesprochen. Ich weiß, dass Sie jemand
waren und sind, der mit seinen Überzeugungen für soziale Gerechtigkeit kämpft. Das kann man unterschiedlich machen; aber das Bemühen darum sollte man sich
nicht absprechen lassen. Ich will auch der Linkspartei
nicht absprechen, dass Idealismus dahintersteckt, Dinge
zu verbessern. Die spannende Frage ist, ob das mit den
geeigneten Instrumenten geschieht.
Ich kann aber nicht akzeptieren, Herr Kollege Kurth,
dass Sie mit Zitaten konfrontiert werden, die aus dem
Zusammenhang gerissen sind, und die Fragestellerin, die
nicht einmal stehen geblieben ist, damit Sie auf ihre Bemerkung antworten können, eines nicht weiß - das kann
Sie vielleicht auch gar nicht wissen, weil ein gewisser
Herr Lafontaine 1998 noch Mitglied einer anderen Partei
war -: Es geht hier nicht nur um Idealismus, sondern ein
Stück weit um Heuchelei.
Ich habe es in der Rede eines gewissen Oskar
Lafontaine auf dem Parteitag 1998 - damals war er Mitglied meiner Partei - nach der Regierungsübernahme
durch Rot-Grün nachgelesen. Damals hat dieser Mann
nicht nur die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe gefordert, sondern ausweislich des Protokolls
dafür plädiert, die Arbeitslosenversicherung, also das
Arbeitslosgengeld I, auf Bedarfsorientierung und Steuerfinanzierung umzustellen.
({0})
Frau Kollegin Kipping, Sie haben sich da einen ins Nest
geholt, der nicht Hartz IV wollte, sondern Hartz VIII.
Davon will er heute nichts mehr wissen. Aber auch das
gehört zur historischen Wahrheit.
Herzlichen Dank.
({1})
Herr Kurth verzichtet auf eine Reaktion. - Deshalb
gebe ich jetzt dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Geburtstag und Jubiläum sind Anlass
zum Feiern und zum Zurückschauen, aber auch Anlass,
nach vorne zu schauen. Ich danke meinem Kollegen
Kurth ausdrücklich, dass er gesagt hat: Rückblick - zehn
Jahre SGB II, zehn Jahre Hartz IV, zehn Jahre Sozialreform 2010 - ist das eine. Das andere ist: Wie geht es
weiter? - Lieber Kollege Kurth, im Ausschuss arbeiten
wir dauernd daran, zu korrigieren und nachzusteuern.
({0})
- Das verschlimmert nichts. Nur wenn Sie sich einmischen, verschlimmert es sich.
Ich muss aber einiges richtigstellen, Herr Kollege
Heil. - Wenn der rot-rote Dialog beendet ist, kann ich
fortfahren.
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Heil, dass Sie
vom Redner angesprochen werden sollen. Er legt Wert
darauf, dass Sie ihm zuhören. Vielleicht können Sie sich
nachher mit Frau Kipping verabreden.
({0})
Herr Kollege Heil, herzlichen Dank, für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Dies ist ja nicht selbstverständlich.
Herr Kollege Heil, Sie haben gerade die legendäre
Rede des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder am
14. März 2003 erwähnt. Es ist aber durchaus geboten,
nicht nur zehn, sondern auch elf Jahre zurückzuschauen.
Im Bundestagswahlkampf 2002 hat Ihre Partei der Bevölkerung vorgegaukelt, es ginge alles so weiter, Sie hätten alles im Griff, Sie bräuchten keine Reformen. Nach
der Wahl kam dann die Wahrheit ans Licht: Wir müssen
gegensteuern. - Das war richtig. Deshalb hat die Union
im Bundesrat der Agenda 2010 zugestimmt.
({0})
- Nein, nicht verschlimmert; wir haben sie verbessert,
das ist unstrittig.
Lieber Kollege Heil, wenn Sie mit dem Thema „soziale Gerechtigkeit“ in den Wahlkampf ziehen, dann
denken Sie bitte auch an die Mittelständler und an die
Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, wenn wir
über den Abbau der kalten Progression in Bezug auf die
Steuerbelastung diskutieren. Wir haben im Bundesrat an
der Agenda 2010 konstruktiv mitgewirkt. Wenn Sie sich
in ähnlicher Weise in der Lage sehen würden, die Blockade im Bundesrat in Bezug auf den Abbau der steuerlichen Belastung für die Bezieher kleiner und mittlerer
Einkommen zu beenden, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar.
({1})
Stattdessen, sehr geehrter Herr Heil, schelten Sie
abermals das Betreuungsgeld. Sie haben es als „idiotisches Betreuungsgeld“ bezeichnet; aber dadurch wird
die Situation nicht besser. Wenn Sie die Geburtenzahl in
unserem Land, die für die Entwicklung unserer sozialen
Sicherungssysteme elementar wichtig ist, verbessern
wollen, dann sollten wir gemeinsam überlegen, welche
Angebote wir den jungen Menschen machen können.
Wir haben auf der einen Seite die Krippenbetreuung,
sollten aber auf der anderen Seite die häusliche Betreuung nicht verteufeln. Darum geht es, um nicht mehr und
nicht weniger. Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, die
Geburtenquote zu erhöhen,
({2})
dann werden sich die Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme durch die von Ihnen angesprochene demografische Entwicklung verschärfen.
Der zehnte Jahrestag der Agenda 2010 bietet nicht
nur Gelegenheit, zurückzublicken, sondern auch die
Möglichkeit, nach vorne zu schauen. Herr Heil, bevor
man andere soziale Projekte verteufelt, sollte man sich
etwas zurückhalten und erst einmal über die eigenen
Fehler nachdenken.
Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition beschlossen, 4 Milliarden Euro in den Krippenausbau zu
stecken. Im letzten Jahr haben wir entschieden, für die
weißen Flecken beim Krippenausbau in den diesjährigen
Haushalt noch einmal 580,5 Millionen Euro einzustellen. Wir geben zusätzlich Mittel für den Krippenausbau
aus, ohne das Betreuungsgeld zu vernachlässigen. Es
wird beides gemacht, Herr Heil, nicht alternativ, sondern
kumulativ. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
Frau Kipping, Sie haben angesprochen, dass die Renten in den letzten Jahren gesunken sind. Sie sind aber
nicht wegen der Agenda 2010 gesunken, sondern aufgrund der Bevölkerungsentwicklung - das wissen Sie so
gut wie ich -; denn die Anzahl der Beitragszahler bedingt ein Stück weit das Rentenniveau, und die demografischen Faktoren mussten bei der Rentenberechnung
Berücksichtigung finden. Auch deswegen habe ich eben
den Schwenk auf das Betreuungsgeld gemacht. Ich
finde, dass wir gemeinsam daran arbeiten sollten, dass
die deutsche Bevölkerung mehr Mut zu Kindern hat.
Die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr - einige Vorredner haben bereits darauf
hingewiesen - kann sich durchaus sehen lassen. Über
41,5 Millionen gehen einer Beschäftigung nach, so viel
wie noch nie zuvor in Deutschland. Andere Regierungen
würden sich die Finger danach lecken, nur halb so gute
Ergebnisse zu erzielen. Die Zahl der Erwerbslosen ist
mit durchschnittlich 2,89 Millionen auf dem niedrigsten
Stand seit 20 Jahren. Ganz ohne Regierungshandeln sind
diese Ergebnisse nicht zu erreichen gewesen. Blickt man
über die Grenzen hinaus, so stellt man fest, dass
Deutschland im europäischen Vergleich, insbesondere
was die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstand
am besten dasteht.
Herr Kollege Linnemann hat bereits auf die duale
Ausbildung in Deutschland hingewiesen. Ich will nicht
verhehlen, dass wir die Maßnahmen ergriffen haben, mit
denen wir mit der vor vier Jahren begonnenen Weltwirtschaftskrise richtig umgehen konnten. Die richtigen Entscheidungen wurden damals auch von den Arbeitsministern der Großen Koalition getroffen: die Verlängerung
der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes, die Bildung
von Rücklagen in der Kasse der Bundesagentur für Arbeit, die jetzt sukzessive wieder aufgebaut werden. Neben der dualen Ausbildung verdient ein weiterer Exportschlager die Aufmerksamkeit anderer Länder: das
Kurzarbeitergeld.
({3})
- Meine Truppe darf auch klatschen.
({4})
Einige Länder Südeuropas werden sich die
Agenda 2010 genauer anschauen müssen; denn ohne
eine Sozialreform wird es in einigen verschuldeten Ländern sicher nicht gehen. Wir können noch so viel Geld
nach Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien überweisen: Wenn die notwendigen Reformen dort nicht
ernsthaft angegangen werden, die vor zehn Jahren auch
für Deutschland schmerzhaft waren, dann wird es in diesen Ländern kaum zu einer Lösung kommen. Die Beschäftigungsquote wird sich kaum erhöhen. Wir hatten
das Glück, dass wir vor zehn Jahren - das Inkrafttreten
erfolgte am 1. Januar 2005 - zu einem relativ frühen
Zeitpunkt die stellenweise schmerzhafte Agenda-2010Reform angegangen sind. Dafür gebührt den damals Beteiligten im Bundesrat, aber auch in der damaligen Bundesregierung durchaus Lob. Ich glaube, das war der richtige Weg.
Wir sollten schauen, wie es weitergeht. Sie haben
Missstände im Bereich der Leiharbeit - Equal Pay und
Lohnuntergrenze - angesprochen. Die christlich-liberale
Koalition arbeitet mit Hochdruck daran, diese noch vorhandenen geringen Fehler auszumerzen. Wir werden
diese Arbeit mit Ihrer Unterstützung nach dem 22. September 2013 selbstverständlich gerne fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt hat Johannes Vogel das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn der Kollege Kolb eben zu Recht darauf hingewiesen hat, dass Teile der Agenda 2010 nur Korrekturen Ihrer Rücknahmen von Reformen aus der Regierungszeit vor 2002 waren, ist unbestritten, dass die
Agenda 2010 genauso wie die Politik der jetzigen christlich-liberalen Koalition ein Baustein dafür ist, dass es
Deutschland jetzt so gut geht und die Perspektiven auf
dem Arbeitsmarkt für die Menschen so gut aussehen. Ich
glaube, niemand kann das bestreiten.
Interessanter ist aber die Frage - das kam in den differenzierten Betrachtungen des Kollegen Kurth und des
lieben Kollegen Hubertus Heil nicht so richtig durch -,
ob sich die rot-grüne Opposition zu diesen Reformen
überhaupt noch bekennt.
({0})
Das kann ich nicht erkennen.
({1})
Schauen wir uns doch einmal an, wie Sie auftreten und
was Sie fordern. Wie stünde Deutschland da, wenn wir
tun würden, was Sie fordern? „Rente auf zwei Säulen
und Rente mit 67 wollen wir nicht mehr“, ist die Beschlusslage der SPD.
({2})
Minijobs halten Sie heute für Teufelszeug. Fördern und
Fordern? Das wollen Sie nicht mehr, entnehme ich der
aktuellen Positionierung der Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen. Zeitarbeit? Da wollen Sie das deutsche
Modell direkt killen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn wir
tun würden, was Sie heute fordern, und all Ihre Reformen rückabwickeln würden, dann würde es auf dem
deutschen Arbeitsmarkt schlechter aussehen. Deshalb
tun wir das nicht.
({4})
Behaupten Sie doch nicht, es ginge um die Korrektur
kleinerer Fehlentwicklungen, um Korrekturen aufgrund
kleinerer Missbrauchsfälle. Das machen wir schon sehr
gut.
({5})
Wenn es darum geht, die Finanzlage der Kommunen im
Blick zu behalten - Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter - oder wirkliche Auswüchse bei der
Zeitarbeit zu korrigieren, arbeitet diese Koalition sehr
gut. Nein, das, was Sie betreiben, ist eine Generalabkehr
von Ihrer eigenen Reform.
Johannes Vogel ({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das
sollte eigentlich nicht meine Sorge sein, aber ich sage es
trotzdem: Sie tun Ihrem Kanzlerkandidaten, um dessen
Glaubwürdigkeit es geht, keinen Gefallen, und das
wissen Sie ganz genau.
({7})
Ein Zitat von Peer Steinbrück, Deutscher Bundestag,
2005:
Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang
gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung
verdient …
({8})
Bei den Jusos sagte er 2006, das sei kein Sozialabbau,
sondern ein Sozialaufbau. Das sei mit Zahlen belegbar.
Diese Äußerungen, die richtig sind, passen in keinster
Weise zu Ihrer eigenen Politik, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD. Deshalb sind Sie bei diesem
Thema nicht glaubwürdig. Die glaubwürdige Fortsetzung einer vernünftigen Reformpolitik betreibt diese
Koalition.
({9})
Das sollte nicht meine Sorge sein. Das Problem ist
aber, dass Sie so sehr mit Vergangenheitsbewältigung
beschäftigt sind, dass Sie so sehr damit beschäftigt sind,
Ihren Frieden mit dem zu machen, was Sie für dieses
Land einmal erreicht haben - andere Leute müssen ihren
Frieden mit Fehlern machen; Sie müssen Ihren Frieden
mit dem machen, was Sie für das Land einmal erreicht
haben; das war auch in dieser Debatte wieder spürbar -,
dass Sie sich leider überhaupt nicht auf die Zukunftsherausforderungen konzentrieren. Es geht darum, mehr
Chancengerechtigkeit zu schaffen, wofür wir durch den
Ausbau der Qualifikationsmöglichkeiten sorgen. Es geht
darum, endlich die Dekaden der Staatsverschuldung zu
beenden, wie wir es tun. Das zeigt ein Blick auf den
Bundeshaushalt - gestern vorgelegt -: Er ist erstmals
strukturell ausgeglichen.
({10})
Es geht auch darum, endlich ein modernes Einwanderungssystem zu schaffen, damit Deutschland auch in
zehn Jahren noch gut dasteht. Zu diesem Zweck haben
wir beispielsweise die Bluecard eingeführt. Diesen Aufgaben widmet sich die Koalition. Sie leisten diesbezüglich leider keinen Beitrag. Deutschland wäre sicherlich
damit geholfen, wenn Sie die Beschäftigung mit der Vergangenheit beendigen könnten. Für dieses Wahljahr soll
uns das ganz recht sein.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/12683 an die Ausschüsse zu überweisen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie of-
fensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir so.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 7:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ({0})
- Drucksache 17/6261 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz,
Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der strafund zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern
und minderjährigen Schutzbefohlenen
- Drucksache 17/3646 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz,
Volker Beck ({1}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der
Hemmungsregelungen bei Verletzungen der
sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und
Strafrecht
- Drucksache 17/5774 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 17/12735 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Ansgar Heveling-
Sonja Steffen-
Marco Buschmann-
Jörn Wunderlich-
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan 2011 der Bundesregierung zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Gewalt und Ausbeutung
- Drucksache 17/7233 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})-
Innenausschuss -
Sportausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und
Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“
- Drucksache 17/8117 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD zu ihrem Gesetzentwurf vor.
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marco Buschmann für die FDP-Fraktion.
({5})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die schrecklichen Verletzungen der Seele, die
sexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen immer hinterlässt, heilen nie. Wir waren alle erschüttert, als
wir im Jahr 2010 erfahren mussten, in welchem Umfang
solcher Missbrauch in unserem Land möglich war und
ist. Deshalb war es richtig und gut, dass sich die Politik
gemeinsam mit dem Runden Tisch der Frage angenommen hat, wie wir den Opfern helfen können.
Über einen Teil der Hilfe, die wir anbieten wollen, debattieren wir heute während der zweiten und dritten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Es soll den
Opfern eine Brücke bieten, um Hindernisse auf dem
Weg zu ihrem Recht zu überwinden. Zwar kann niemand
die erlittenen Verbrechen ungeschehen machen; aber der
Zugang zum Recht soll den Opfern nicht unnötig
schwerfallen.
Schon der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt dazu sehr gute Beiträge. So sollen
etwa durch Bild- und Tonaufzeichnungen Mehrfachvernehmungen vermieden werden. Ich denke, jeder kann
nachfühlen, dass erneute Vernehmungen eine ungeheure
Belastung darstellen würden, weil die Opfer gezwungen
wären, die traumatisierenden Erlebnisse in ihrer Erinnerung immer und immer wieder zu durchleben. Wir wollen weiter eine Verbesserung bei der Bestellung eines
Rechtsbeistandes für volljährig gewordene Opfer. Die
Verjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche der Opfer
soll auf 30 Jahre verlängert werden.
Diesen Entwurf hat die Koalition im Laufe des Verfahrens im Rechtsausschuss weiter verbessert. Wir haben die Möglichkeit erleichtert, bei der Vernehmung
nicht nur minderjähriger, sondern auch volljähriger
Opfer sexueller Gewalt die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung einzuschränken. Ein solcher Schritt muss sicherlich gut abgewogen sein, weil die Öffentlichkeit der
Hauptverhandlung für einen transparenten und demokratischen Rechtsstaat ohne Zweifel ein hohes Gut ist. Wer
aber würde nicht auf Anhieb verstehen, dass wir auch
gute Gründe dafür gehabt haben; denn es ist eine massive Belastung des Opfers, sich nicht nur erneut mit den
schrecklichen Erlebnissen auseinanderzusetzen, sondern das auch noch vor Publikum zu tun, und damit dann
gegebenenfalls auch in medial aufbereiteter Form immer
wieder konfrontiert zu werden.
Wir haben in der Tat am längsten über die strafrechtliche Verjährung diskutiert; das hat einen Großteil der Beratungen ausgemacht. Dabei haben wir uns in der Koalition von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend dem
gleichen Ziel, nämlich dem Ziel des Opferschutzes, genähert. Die einen sagen, dass eine möglichst lange Verjährungsfrist bzw. eine möglichst lange Dauer der Hemmung im Sinne der Opfer sei. Sie hätten dann viel Zeit,
um ein Strafverfahren zu initiieren. Das ist die eine Perspektive. Es gibt aber noch eine andere für den Opferschutz ebenso wichtige Position, die von vielen Justizpraktikern vertreten wird. Danach muss bedacht werden,
dass man den Opfern damit möglicherweise Steine statt
Brot gibt. Zwar verspricht eine lange Verjährungsdauer
scheinbar späte Sühne des Täters und ein Stück weit Genugtuung des Opfers. Die gerichtliche Praxis aber zeigt,
dass die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Täters abnimmt, je länger die Tat zurückliegt; denn je mehr
Zeit vergangen ist, desto größer sind die Beweisschwierigkeiten. Hier gilt dann im Strafverfahren: im Zweifel
für den Angeklagten. Eine solche Situation dürfte,
glaube ich, für die Opfer die schlimmste sein, nämlich
sich in einem Strafverfahren wiederzufinden, an dessen
Ende aus Mangel an Beweisen ein Freispruch des Täters
steht, wobei sich das Opfer dann möglicherweise auch
noch der öffentlichen Anfeindung, die Unwahrheit gesagt zu haben, ausgesetzt sieht.
({0})
Was das seelisch bei einem Opfer auslöst, vermag ich
mir nicht vorzustellen.
Wir haben uns in Abwägung all dieser Aspekte für
eine maßvolle Änderung des Verjährungsrechts entschieden, nämlich für eine Hemmung der Verjährung bis zum
21. Lebensjahr. Diese Altersgrenze stellt auch rechtssystematisch den richtigen Schritt dar; denn sie passt in
unser Strafrechtssystem - hier endet auch der Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts -, und sie verhält
sich parallel zu der Regelung in § 208 BGB, in dem es
um die Hemmung der Verjährung für zivilrechtliche Ansprüche aus sexuellem Missbrauch geht.
Ich glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf ein
guter Schritt ist, um den Opfern sexuellen Missbrauchs
auf dem Weg zu ihrem Recht entgegenzukommen, um
ihnen Steine aus dem Weg zu räumen. Dies kann aber
nur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt muss sein,
dass wir den Hilfsfonds für die Opfer sexuellen Kindes28474
missbrauchs möglichst schnell aktivieren und ihn ausreichend finanzieren. Der Bund ist hier mit seiner Zusage
von 50 Millionen Euro quasi in Vorleistung gegangen.
Wir sollten fraktionsübergreifend alle unsere Möglichkeiten nutzen, um dafür zu sorgen, dass die Länder den
Opfern nicht länger das schuldig bleiben, was sie ihnen
versprochen und bereits zugesagt haben.
({1})
Denn die Opfer haben kein Verständnis für politische
Farbenspiele oder Blockaden.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt hat Sonja Steffen das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht viele
Themen sind in der Öffentlichkeit in den letzten drei
Jahren so intensiv diskutiert worden wie der Umgang
mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Im März 2010 wurde bekannt, dass Kinder und
Jugendliche in zahlreichen Einrichtungen über Jahre hinweg Opfer sexueller Gewalt geworden sind: in kirchlichen Einrichtungen, Internaten, Kinderheimen und
Krankenhäusern. Es geht um Zehntausende Fälle, zum
Teil aus den 60er- und 70er-Jahren.
Viele Betroffene fanden jahrzehntelang nicht den
Mut, über den Missbrauch zu sprechen. Das ganze
Leben über sind die Folgen für die misshandelten Menschen furchtbar. Sie entwickeln oft Selbstwertprobleme,
Bindungsstörungen oder Störungen im Umgang mit dem
eigenen Körper. Folgeerkrankungen sind Ängste, Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten
oder Zwänge. Ganz oft stellt sich erst während einer
Therapie heraus, dass Missbrauch die Ursache ist. Die
Opfer verdrängen das Geschehen häufig komplett, sie
spalten es regelrecht ab und erkennen auch nicht den Zusammenhang zu den späteren Symptomen. Erst ein späteres Erlebnis lässt die Erinnerungen wieder wach werden. Das kann der erste Freund oder die Geburt des
ersten Kindes sein. In einem Fall, von dem ich gelesen
habe, war es sogar die Geburt der Enkeltochter.
Der Täter hingegen hat ein großes Interesse daran,
dass der Missbrauch nicht aufgedeckt wird. Kinder werden eingeschüchtert, erpresst oder bedroht, um sie zum
Schweigen zu bringen. Das Kind merkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. In ihm entsteht dann oft das
Gefühl: Ich bin daran schuld. - Das führt dazu, dass es
darüber nicht reden kann. Missbrauchsopfer fühlen sich
oft schmutzig, und ihr Selbstwertgefühl ist schwer beeinträchtigt. Da sie sich selbst verachten, glauben sie,
dass auch Außenstehende sie verachten.
Nach dem ersten Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in den Heimen, die zum Teil zeitlich sehr weit zurückreichen, hat die Bundesregierung etwas sehr Kluges
gemacht: Sie hat den Runden Tisch mit Vertretern von
Opferverbänden, mit Psychologen, mit Experten aus der
Kinder- und Jugendarbeit und mit Verantwortlichen aus
der Politik einberufen. Eine Hotline wurde eingerichtet,
und innerhalb kürzester Zeit meldeten sich dort mehr als
20 000 Betroffene. Das Ziel des Runden Tisches war
hoch gesteckt. In der Gesellschaft sollte sich etwas ändern. Opfer sollten eine Stimme bekommen, und ihnen
sollte geholfen werden.
Der Abschlussbericht des Runden Tisches, 245 Seiten
schwer, enthält eine lange Liste und eine sehr gute Liste
von Ideen, wie Missbrauchsopfern besser geholfen werden kann. Nun haben nach der Vorlage des Berichtes die
Regierung und auch die Oppositionsfraktionen an der
Umsetzung und Konkretisierung einzelner Vorhaben gearbeitet. Ein wichtiger Punkt des Gesetzentwurfes sollte
sein: verbesserter Opferschutz und längere Verjährungsfristen für Sexualstraftaten. Der Entwurf eines Gesetzes
zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, StORMG, wird heute in der zweiten und dritten
Lesung beraten und steht gleich zur Abstimmung.
Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es sehr schade, dass
wir bei einem gesellschaftlich so wichtigen Thema keinen
fraktionsübergreifenden Konsens finden konnten.
({0})
Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auch enthalten.
({1})
Wir haben uns nämlich leider nicht einigen können, wie
weit die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch angehoben werden soll.
({2})
Wir haben uns auch nicht einigen können, wann die Verjährung von Straftaten beginnen soll. Ich will das kurz
erläutern.
Unser Recht unterscheidet, wie die meisten von Ihnen
wissen, zwischen der strafrechtlichen Verjährungsfrist
und der zivilrechtlichen Verjährungsfrist. Im Strafrecht
verjährt der sexuelle Missbrauch von Kindern derzeit bereits nach zehn Jahren. Der sexuelle Missbrauch von
minderjährigen Schutzbefohlenen - genau das sind die
bekannt gewordenen Fälle in den Einrichtungen - verjährt sogar schon nach fünf Jahren. Nach der bisherigen
Rechtslage ruht im Strafrecht die Verjährung bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres. Damit sollte ursprünglich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die
Abhängigkeitsverhältnisse ja erst ab 18 Jahren enden.
Ich habe schon darauf hingewiesen: Die vielen Missbrauchsfälle der 60er-, 70er- und 80er-Jahre in den Heimen und Einrichtungen belegen, dass in Kinderjahren
missbrauchte Opfer so massiv traumatisiert sind, dass sie
erst als Erwachsene und erst Jahrzehnte nach der Tat in
der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Hier, Herr
Kollege Buschmann, hat sich die Regierungskoalition
leider nur auf eine minimale Änderung verständigen
können. Das Ruhen der strafrechtlichen Verjährungsfrist
soll nur um drei Jahre, bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, verlängert werden. Das hilft den
Opfern aus unserer Sicht nicht wirklich weiter - der Gesetzentwurf bietet aus unserer Sicht keine Brücke für die
Opfer -; denn das heißt: Auch zukünftig verjähren
Sexualstraftaten an Schutzbefohlenen bereits mit Vollendung des 26. Lebensjahres.
Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion verlangt daher,
dass die Verjährung erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres beginnt. Darüber hinaus fordern wir, dass die
strafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen auf 20 Jahre erhöht wird. Nur so können wir erreichen, dass die Opfer auch in späteren Jahren noch gegen
die Täter vorgehen können. Das Strafrecht hat neben vielen anderen Funktionen auch eine Genugtuungsfunktion.
Dieser werden wir gerecht, wenn wir jedem Menschen
zumindest die Zeit lassen, die er braucht, bis er das Bewusstwerden und/oder den Mut findet, gegen die Täter
vorzugehen.
({3})
Ich finde, Herr Buschmann, wir müssen das den Opfern
überlassen. Wir dürfen nicht vorweg entscheiden, insbesondere nicht über die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung, auch wenn Jahre dazwischenliegen. Das müssen
wir den Opfern überlassen. Das ist deren Entscheidung.
Es darf nicht unsere sein.
Was das Zivilrecht betrifft - das will ich noch kurz erwähnen -, verhält sich der vorliegende Gesetzentwurf
wesentlich großzügiger; das begrüßen wir. Hier soll im
Gegensatz zur strafrechtlichen Verjährungsfrist die Frist
von drei Jahren auf 30 Jahre erhöht werden. Das ist ein
gewaltiger Sprung von 27 Jahren. Also hat ein Opfer zukünftig in allen Fällen die Möglichkeit, sogar noch im
Alter von über 50 Jahren zivilrechtlich gegen einen Täter vorzugehen, der das Opfer im Kindesalter misshandelt hat. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen.
Aber sinnvoll ist diese Lösung aus unserer Sicht nur,
wenn auch die strafrechtliche Verjährungsfrist auf mindestens 20 Jahre erhöht wird; denn einem Opfer ist allein
mit dem Zivilrecht in aller Regel nicht geholfen. Ein Opfer verlangt berechtigterweise nach Gerechtigkeit und
auch nach Genugtuung. Die strafrechtlichen Institutionen - das wissen wir - helfen ihm hier. Die Ermittlungsbehörden gehen seinem Tatvorwurf nach. Oft ist der Beschuldigte gar nicht ausfindig zu machen. Hier helfen
Polizei und Staatsanwälte. Sie führen die Vernehmungen
durch; denn es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz.
Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir im Rechtsausschuss besprochen haben - der Vorsitzende des Rechtsausschusses hat darauf hingewiesen -: Das sogenannte
Adhäsionsverfahren ermöglicht es dem Opfer, zivilrechtliche Ansprüche, die aus einer Straftat erwachsen,
statt in einem eigenen Verfahren unmittelbar im Strafprozess geltend zu machen. Das ist für die Opfer eine
ganz große Hilfe. Dieses Mittel steht aber nur zur Verfügung, wenn die Verjährung im Strafrecht noch nicht erfolgt ist.
Nach dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition
können strafrechtlich verjährte Taten nur noch isoliert
- zivilrechtlich - verfolgt werden. Das Opfer ist dann
völlig auf sich gestellt; denn es gilt der Beibringungsgrundsatz, demzufolge das Opfer alle relevanten Tatsachen
allein vorbringen muss. Dies ist ohne Unterstützung der
Strafverfolgungsbehörden fast nie zu erreichen, wenn
dazwischen beispielsweise ein Zeitraum von dreißig Jahren liegt. Daher hilft eine Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist allein den Opfern nicht weiter.
Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Kauder,
hat in der letzten Sitzung des Ausschusses etwas gesagt,
was mich sehr berührt hat. Er hat gesagt: Sexueller Missbrauch an Kindern ist Mord an der Seele des Kindes. Er hat recht.
({4})
Sie kommen bitte zum Ende, Frau Kollegin.
Ja. - Ich kann daher nur an Sie alle hier appellieren:
Folgen Sie dem Gesetzentwurf der SPD und verlängern
Sie die strafrechtlichen Verjährungsfristen! Nur so helfen wir den Opfern, die Gerechtigkeit zu finden, die sie
verdienen.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Ansgar Heveling hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Zeitpunkt von Thorstens Anruf hatten wir mit
dem Puzzle … erst begonnen. Von manchen wurden bis dahin die Puzzleteilchen nicht als solche erkannt, weil sie die Erlebnisse verdrängt hatten oder
nicht zuordnen konnten … Einige erkannten sie und
wussten auch, wohin damit. Die wurden vom
Schulgelände gejagt oder in Gesprächen von den
Verantwortlichen belogen, beschwichtigt und bedroht. Rechtsanwälte rieten ihnen ab, die Täter anzuzeigen, Therapeuten wiesen auf die Risiken der
Retraumatisierung hin, die gerichtliche Auseinandersetzungen zwangsläufig mit sich bringen würden.
Und so schlummerten die Puzzleteilchen verstreut
in den Erinnerungen der einzelnen Beteiligten vor
sich hin und stifteten im schlimmsten Falle als eingekapselte Traumata ihr Unheil. Ich bin weit davon
entfernt, alle Puzzleteilchen zu sehen, aber das Bild
ist klar erkennbar. Das Bild des Horrors.
Diese Passage aus dem Prolog zu dem Buch Wie laut
soll ich denn noch schreien? über den sexuellen Missbrauch von Schülern in der Odenwaldschule, das
Andreas Huckele unter dem Pseudonym „Jürgen Dehmers“
2011 publizierte und für das er im November 2012 in
München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, schildert in erschreckender Eindrücklichkeit,
welche Mechanismen über Jahrzehnte mit dazu beigetragen haben, dass sexuelle Gewalt in den unterschiedlichsten Institutionen und Einrichtungen ungeahndet und ungesühnt stattfinden konnte.
Der zitierte Abschnitt offenbart gleichzeitig das Dilemma des Gesetzgebers: Offenbar haben die geltenden
Strafvorschriften - es gibt im materiellen Strafrecht genügend Vorschriften - nicht verhindert, dass es eine so
große Zahl von Opfern insbesondere in Institutionen und
Einrichtungen gab. Was also kann der Gesetzgeber noch
tun, was muss er noch tun?
Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf einen guten ersten Schritt, konkrete
Schlussfolgerungen aus den Beratungen und Beschlüssen und Berichten des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ zu ziehen.
({0})
Er ist ein Anfang auf einem guten Weg, entschieden gegen sexuellen Missbrauch von Kindern vorzugehen und
die Rechte von Opfern zu stärken.
Zunächst - das ist besonders wichtig - sieht der Gesetzentwurf Möglichkeiten vor, Mehrfachvernehmungen
zu vermeiden. Gerade minderjährige Opfer sexuellen
Missbrauchs können es als äußerst belastend und qualvoll empfinden, wenn sie eine emotional und oft auch intellektuell anstrengende Aussage in der ungewohnten
Umgebung eines Strafverfahrens mehrmals machen und
möglicherweise in größeren zeitlichen Abständen wiederholen müssen.
Im Weiteren stärken wir die Verfahrens- und Informationsrechte von Verletzten in Strafverfahren. Dazu gehören Veränderungen bei der Gewährung eines kostenlosen
anwaltlichen Beistandes für die Verletzten. Bisher besteht der Anspruch auf einen solchen Opferanwalt für
Verletzte, die zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig sind. Zukünftig soll es richtigerweise auf den Tatzeitpunkt ankommen.
Daneben werden stärkere Informationsrechte für die
Opfer konstituiert. Es ist vorgesehen, dass bei der Abwägung der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit die besonderen Belastungen, die für Kinder und
Jugendliche damit verbunden sein können, besonders zu
berücksichtigen sind.
Schließlich soll im Zivilrecht die Verjährungsfrist für
Schadenersatzansprüche, die auf der vorsätzlichen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der
Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung beruhen,
auf 30 Jahre verlängert werden. Die Regelverjährung
nach drei Jahren hat sich für die wirksame Durchsetzung
von Schadenersatzansprüchen in vielen Fällen als zu
kurz erwiesen.
Alle diese Schritte sind gut und wichtig. Daher ist es
richtig, dass wir heute ein Gesetz mit diesen wichtigen
Regelungen beschließen.
({1})
Ich will aber auch nicht verschweigen, dass der Gesetzentwurf hinsichtlich der strafrechtlichen Verjährung
auch hinter unseren Erwartungen zurückbleibt. Wir als
CDU/CSU-Fraktion bedauern es durchaus, dass wir uns
bei der schwierigen Abwägung, auf die Herr Kollege
Buschmann aufmerksam gemacht hat - wir haben lange
miteinander gerungen -, nicht darauf einigen konnten,
die Verjährungsfristen zu verlängern. Immerhin ist es
aber zu einer verlängerten Hemmung der Verjährung gekommen, und zwar bis zum 21. statt wie bisher bis zum
18. Lebensjahr. Das ist zumindest schon ein erster
Schritt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir alles gesetzlich regeln: Das Dilemma des Gesetzgebers
bleibt weiter bestehen. Strukturen des Missbrauchs kann
man nicht alleine durch Strafvorschriften beseitigen. Wir
brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber,
dass gerade der sexuelle Missbrauch von Kindern in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen besonders verachtenswert ist, gleichgültig ob er in privaten oder öffentlichen Einrichtungen oder etwa in der Familie geschieht.
Wir reden viel von der Kultur des Hinschauens. Wir
müssen dann aber auch alle wissen, wo hingeschaut werden muss. Um es mit Andreas Huckele, den ich eingangs
schon zitiert habe, zu sagen:
Solange die Kriterien, an denen ich misshandelte
Kinder erkennen kann, nicht Allgemeinwissen sind,
solange ich Strukturen in Einrichtungen, in denen
sich Kinder aufhalten, nicht beurteilen kann, so
lange ist „Hinschauen“ zwar gut gemeint, aber
nicht wirkungsvoll.
Wir beschließen heute ein gutes Gesetz zur Stärkung
der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Darüber
hinaus braucht es aber mehr, um sexuellen Missbrauch
von Kindern wirksam zu bekämpfen. Das aber kann der
Gesetzgeber nicht alleine leisten.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ein Sprichwort sagt: Was lange währt, wird endlich gut. Es hat zwar lange gedauert, bis es jetzt zu der
Beschlussfassung zu diesem Gesetzentwurf kommt, aber
damit ist noch lange nicht alles gut.
Vor nunmehr drei Jahren ging ein Entsetzen durch die
bundesdeutsche Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dass
in manch renommierter Bildungseinrichtung Kinder und
Jugendliche mit sexuellen Übergriffen konfrontiert waren. Dass dies so lange unentdeckt und ungesühnt bleiben konnte, war für viele fast überhaupt nicht begreifbar.
Danach kamen jede Woche neue Entdeckungen ans
Licht. Das geschah auch dank einer medialen Ermutigungskampagne, über die oft Jahrzehnte zurückliegenden traumatischen Erfahrungen zu sprechen und die Verbrechen anzuzeigen. Das hat die Betroffenen auch
Jahrzehnte danach noch viel Mut gekostet.
Sie alle haben gehofft, dass nun ihr Leid nicht nur ins
öffentliche Bewusstsein rückt, sondern dass ihnen so
viele Jahre danach auch Gerechtigkeit wiederfährt, dass
sie Hilfe finden, das Durchlebte zu verarbeiten, sofern
das überhaupt geht, und dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Es war aber schon sehr bald
klar, dass es heute - das gilt auch für die Zukunft - für
die Verfolgung solcher Straftaten ebenso wie für den
Versuch der Wiedergutmachung und noch mehr für die
Verhinderung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und
Jugendliche eigentlich zu wenige gesellschaftlich wirksame Instrumentarien gibt.
Der Runde Tisch hat seinen Abschlussbericht vor
über einem Jahr vorgelegt, in dem er eine Fülle von Defiziten aufzeigt und Empfehlungen gibt, von denen bislang aber kaum etwas abgearbeitet ist. Das hat auch der
Runde Tisch bei seiner Beratung am 20. Februar dieses
Jahres feststellen müssen.
Und es ist schon bezeichnend, dass wir erst heute über
diesen Abschlussbericht im Bundestag reden, ein Jahr
danach. Zwar beschließen wir heute endlich ein Gesetz
über die Verlängerung der Verjährungsfristen und über
die Stärkung der Opferrechte, aber viel zu lange hat der
Bund mit den Ländern über die Beteiligung an dem in
Aussicht gestellten Hilfsfonds für Betroffene gestritten.
Dabei ist Vertrauen verloren gegangen.
Nun nehmen wir zur Kenntnis, dass die Mittel des
Bundes zügig eingesetzt werden sollen und mit klaren
Richtlinien für eine entsprechende Antragstellung untersetzt werden. Das ist gut so. Doch noch immer gibt es
außer vollmundigen Ankündigungen kein ausreichendes
Netz von Beratungsstellen, die von sexualisierter Gewalt
betroffene Kinder aufsuchen können, die aber auch Erziehenden bei Verdachtsfällen Beratung und Hilfe geben. Noch immer gibt es keine verlässliche Finanzierung
solcher Beratung, hangeln wir uns von einem Modellprojekt zum anderen, deren Fortsetzung ungewiss ist.
Was mich als Bildungspolitikerin ganz besonders betroffen macht, sind die offensichtlichen Defizite in der
Forschung zu diesem Thema. Wo aber nicht geforscht
wird, können keine wirksamen präventiven Strategien
entwickelt werden, können Lehrende und Erziehende
zum Beispiel keine Hilfen erhalten, können sie nicht hinreichend sensibilisiert werden. Auch die vom Runden
Tisch entwickelten Leitlinien und auch die Reaktion der
Kultusministerkonferenz darauf können ja nur der Anfang sein.
Hilfreich wäre es aus unserer Sicht zum Beispiel,
Schulsozialarbeit an allen Schulen zu sichern.
({0})
Es wäre hilfreich, eine gute und verlässliche, gut erreichbare schulpsychologische Beratung in den Schulen
zu sichern. Das ist wichtig für Kinder, für Eltern und für
Lehrende. Aber Schulsozialarbeit gibt es längst nicht an
allen Schulen, und dass Schulpsychologen an allen
Ecken und Enden fehlen, wissen wir seit langem. Für
viele dieser möglichen Hilfen fehlt eine verlässliche und
dauerhafte Finanzierung und fehlt teilweise auch eine
gesetzliche Verankerung im Kinder- und Jugendhilferecht.
Wenn das so weitergeht, droht der Runde Tisch zur
Alibi-Veranstaltung zu werden. Wir haben die Pflicht,
das zu verhindern. Die heutige Beschlussfassung darf
niemandem zur Beruhigung dienen.
({1})
Ich wünsche mir darum, dass der Runde Tisch in jedem Jahr zusammenkommt und so lange den Finger in
die Wunde legt, bis die übertragenen Aufgaben abgearbeitet sind. Das sind wir den Betroffenen schuldig, und
diese Schuld ist noch lange nicht abgetragen.
Vielen Dank.
({2})
Ingrid Hönlinger hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über ein Thema, das eine juristische
Seite hat. Es hat aber auch eine zutiefst menschliche, tragische Seite, und das Thema hat in seinen langfristigen
Auswirkungen eine nicht absehbare Wirkung.
Wir alle sind betroffen von dem, was Tausenden von
Kindern und Jugendlichen angetan worden ist, was sie
ertragen und erleiden mussten, nicht für einen Tag oder
eine Woche, nein, oftmals über viele Monate und Jahre
hinweg. Mein Mitgefühl gilt diesen Menschen, die für
die psychische und physische Verarbeitung des erlittenen
Missbrauchs oft ein Leben lang brauchen. Vor diesem
Hintergrund steht meine heutige Rede.
Die Grundfrage lautet: Wie können wir Recht und
Gerechtigkeit möglichst nah zusammenbringen?
Wir Grünen begrüßen es, dass die Bundesregierung
und die Regierungskoalition nun endlich Regelungen zur
Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs
voranbringen. Fast zwei Jahre lang mussten die Opfer
und auch wir darauf warten. Das ist eine zu lange Zeit,
wenn man bedenkt, dass an jedem Tag bis zum Inkraft28478
treten des Gesetzes Ansprüche der Opfer verjähren können.
({0})
Immerhin haben Sie von der Koalition sich während
dieser Zeit in einem Punkt zu einer wesentlichen Verbesserung durchgerungen, die auch im Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen enthalten ist. Die Verbesserung
besagt, dass die Verjährung für die zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer nicht schon direkt nach der Tat beginnen soll, unabhängig davon, ob das Opfer zu diesem
Zeitpunkt noch ein Kind oder schon ein Erwachsener ist,
sondern die Verjährung soll erst im Erwachsenenalter
des Opfers beginnen, und auch der strafrechtliche Verjährungsbeginn soll hinausgeschoben werden. Die Frage
bleibt aber: Wann soll die Verjährung tatsächlich beginnen?
Wir alle wissen, dass selbst junge Erwachsene häufig
emotional noch nicht in der Lage sind, ihre Ansprüche
wegen solcher Taten geltend zu machen. Wir Grünen
schlagen deshalb in unserem Gesetzentwurf vor, dass die
Verjährungsfrist im Zivil- und im Strafrecht erst mit der
Vollendung des 25. Lebensjahres des Opfers beginnen
soll. Zusätzlich wollen wir die zivilrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch auf 30 Jahre verlängern. Das trägt den Erkenntnissen aus den Missbrauchsfällen besser Rechnung als der Verjährungsbeginn mit
der Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie es
im Gesetzentwurf der Regierungskoalition vorgesehen
ist.
({1})
Ihr Gesetzentwurf enthält aber auch Vorschläge, die
massiv in die Prinzipien des Rechtsstaats eingreifen,
ohne die Opfer in ihren Rechten tatsächlich zu stärken.
Es hilft keinem Betroffenen, wenn dem Strafverfahren
gegen den Täter mit juristischen Spitzfindigkeiten der
Makel des unfairen Verfahrens angehängt wird.
Nennen will ich die Fälle, in denen einem mutmaßlichen Straftäter wegen der Schwere seiner Tat zwingend
ein Anwalt beigeordnet werden muss. Wird eine richterliche Zeugenvernehmung durchgeführt, bei der der Beschuldigte oder sein Anwalt nicht anwesend waren, können sie sich in diese Vernehmung nicht mit Fragen
einbringen. Wiederholt das Gericht die Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung nicht, sondern spielt sie
nur per Video vor, kann der Angeklagte seine Verteidigungsrechte nicht ausreichend wahrnehmen. Hier besteht aus unserer Sicht Nachbesserungsbedarf.
Uns Grünen ist aber auch klar, dass die Menschen, die
von sexuellem Missbrauch betroffen sind, jetzt die rechtliche Möglichkeit brauchen, die Verjährung ihrer Ansprüche zu vermeiden und die Täter zur Verantwortung
zu ziehen.
({2})
Wir müssen jetzt ein klares Signal dafür setzen, dass sexueller Missbrauch kein Kavaliersdelikt ist, sondern ein
Angriff auf die Würde und persönliche Integrität der davon Betroffenen. Aus Sicht der Betroffenen ist jetzt
Rechtssicherheit geboten.
Der Gesetzesvorlage können wir Grünen aus rechtlichen Gründen nicht zustimmen. Wir werden uns bei der
Abstimmung enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Michaela Noll hat jetzt das Wort für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle haben in relativ ruhigem Ton gesprochen. Ich hätte mir einfach ein bisschen mehr Freude gewünscht, weil wir heute ein gutes Signal für mehr Opferschutz gegeben haben.
({0})
Ob durch den Runden Tisch oder durch das Gesetz,
das wir heute hier verabschieden wollen: Es ist ein deutliches Signal an die Opfer, an die Betroffenen, dass wir
verstanden haben, dass wir uns kümmern müssen. Kollege Buschmann hatte das Risiko mit den Verjährungsfristen angesprochen. Ich bin ganz ehrlich: An dieser
Stelle hätte auch ich mir etwas anderes gewünscht. Ich
bin Mitglied beim Weißen Ring. Wir wissen, wie
schwierig es gerade im Strafrecht mit den Beweisen ist,
wenn die Tat 10 oder 20 Jahre zurückliegt und vielleicht
das Opfer dazu befragt wird und keine entsprechenden
Auskünfte geben kann. Diese Verunsicherung sehe ich.
Ich glaube zwar, dass wir die Verjährungsfristen anders hätten regeln können, aber ich beziehe mich auf die
Ergebnisse vom Runden Tisch, an dem auch Betroffene
teilgenommen haben. Im Ergebnis kam eindeutig zum
Ausdruck, dass mehrheitlich die Ansicht vertreten
wurde, an den Verjährungsvorschriften nichts zu ändern;
am Tisch saßen auch Betroffene. Ich hätte mir mehr gewünscht, aber wenn die Betroffenen selber sagen, sie
wollen keine Veränderung an dieser Stelle, dann müssen
wir das so lassen.
Kollegin Steffen, Ihnen bin ich dankbar, weil Sie selber gesagt haben: Die Einrichtung des Runden Tisches
war vernünftig, wir haben den Opfern eine Stimme gegeben. - Kollegin Dr. Hein, Sie haben gesagt: Das hat zu
lange gedauert. Ich gebe Ihnen recht: Auch mir wäre es
lieber gewesen, es wäre schneller gegangen. Aber ich
habe das Entstehen des Bundeskinderschutzgesetzes begleitet. Das hat acht Jahre gedauert. Wenn wir etwas Vernünftiges auf den Weg bringen und es dauert, dann müssen wir uns die Zeit nehmen.
Kollegin Hönlinger, ich muss sagen: Im Familienausschuss - ich glaube, ich bin die einzige Familienpolitikerin, die heute zu diesem Thema spricht - ist es anders gelaufen. Ich war sehr froh: Die grünen Mitglieder haben
im Familienausschuss zugestimmt.
Zurück zum Thema. 2010 war es für viele von uns
schockierend, von den Missbrauchsfällen zu hören.
Viele von uns waren auch wütend und haben sich gefragt: Was kann ich als Erwachsener tun, wenn ich
merke, dass ein Missbrauchsverdacht besteht?
A und O ist für mich, das Schweigen zu brechen.
Wenn aber Kinder bis zu sechs Erwachsene ansprechen
müssen, um von dem zu berichten, was ihnen geschehen
ist, und erst der siebte Erwachsene es ihnen glaubt, dann
müssen wir uns fragen: Nehmen wir die Kinder eigentlich ernst? Gehen wir wirklich besonnen genug mit ihren
Nöten um?
Wir haben in den letzten Jahren die Schwachstellen
beleuchtet. Diese Schwachstellen werden von dem Gesetzentwurf aufgegriffen. Ich möchte eines ansprechen,
das ich im Hinblick auf die Kinder sehr wichtig finde:
die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen.
Ich bin seit 2002 im Deutschen Bundestag. Damals
war ich noch auf der Oppositionsbank. Ich habe dafür
gekämpft, dass wir endlich das Mainzer Modell bekommen. Mainzer Modell heißt: Kleine Kinder, die gegen
Täter - oftmals aus dem familiären Bereich - aussagen
müssen, können in einem anderen Raum vernommen
werden. Sie werden nicht mit dem Täter konfrontiert.
Ihre Aussage wird aufgezeichnet und in den Gerichtssaal
übertragen. Das nenne ich kindeswohlorientierte Vernehmung.
Das haben wir 2002 gefordert. Heute sind wir sehr
viel weiter. Statt Mehrfachvernehmungen lassen wir Videoaufzeichnung zu.
Ich stelle gerade fest, dass ich nur noch zwei Minuten
Redezeit habe. Eigentlich wollte ich noch etwas ganz anderes sagen.
Es ist zwar alles richtig, was den Entwurf des
StORM-Gesetzes angeht, aber als Familienpolitikerin
meine ich mit Blick auf die Zukunft, die richtige Richtung muss die Frage sein: Was können wir präventiv machen? Da heißt es für mich: Wir müssen sensibilisieren
und den Kindern vermitteln, Nein zu sagen und Grenzen
zu setzen. Wir müssen den Kindern auch sagen, wo ein
sexueller Übergriff anfängt.
Ich selber habe eine Einrichtung besucht. Wir haben
von dem Berliner Jesuiten-Gymnasium gehört. Ähnliche
Fälle gab es in Nordrhein-Westfalen. Ich habe an dem
ersten Elternabend nach Bekanntgabe von Missbrauchsfällen in einer Schule teilgenommen, die davon betroffen
war. Diesen Elternabend habe ich nicht vergessen. Die
Eltern waren schockiert und verunsichert, ob sie Zeichen, die ihre Kinder ihnen gegeben haben, nicht gesehen haben. Die Eltern wollten Antworten. Es gab einen
kommissarisch eingesetzten Schulleiter, weil der eigentliche Schulleiter, der seit Jahrzehnten die Schule geleitet
hat, versetzt worden war. Der kommissarische Schulleiter war mit Aufklärung und Transparenz komplett überfordert und hat sich mehr Sorgen um den guten Ruf der
Schule gemacht. So können wir mit der Thematik nicht
umgehen.
({1})
Die Eltern wollten Aufklärung und Transparenz. Die
Schule hat dann ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hat
Leitlinien herausgebracht, sich mit den Eltern zusammengesetzt und aufgeklärt. Das ist der richtige Weg, mit
solchen Fällen umzugehen. Nur so können wir wieder
Vertrauen schaffen.
Mir ist es wichtig: Wir müssen die Elternarbeit verstärken, das heißt, wir müssen den Eltern Möglichkeiten
geben, Handlungsstrategien zu entwickeln und zu erkennen, ob das Kind Opfer einer Handlung in dieser Form
war. Wir müssen den Kindern helfen, damit sie selber sagen: Dort ist die Grenze erreicht. Das ist besonders
schwierig, wenn die Täter aus dem häuslichen Bereich
kommen.
Wir haben gerade durch den Runden Tisch sehr viele
Empfehlungen bekommen. Wir haben eine neue Kampagne mit dem Theaterstück „Trau dich!“ gestartet. Damit
werden Kinder von acht bis zwölf Jahren für ihre Situation, ihr körperliches Empfinden und dafür sensibilisiert,
wie sie selber Grenzen setzen können. Es gibt auch die
Kampagne „Kein Raum für Missbrauch“ des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, deren Spots fast jeden Abend um kurz nach
20 Uhr im Fernsehen laufen.
Unser Appell muss sich an jeden Einzelnen in der Gesellschaft richten, den Kindern und den Eltern zu helfen
sowie die Lehrer zu sensibilisieren. Denn unsere Aufgabe, Missbrauch zu verhindern, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die die Politik nicht alleine erfüllen
kann.
Ich bin der Ministerin dankbar: Ins Kinderschutzgesetz haben wir das erweiterte Führungszeugnis aufgenommen, das immer vorgelegt werden muss, wenn sich
Personen in Bereichen wie Kindergärten bewerben, weil
Täter meistens besonders die Orte suchen, die Nähe zu
Kindern ermöglichen. Mit der Vorlage des erweiterten
Führungszeugnisses können wir zumindest ausschließen, dass einschlägig Vorbestrafte in Kindergärten beschäftigt werden.
Wir haben Kindern einen Anspruch auf Beratung eingeräumt. Das hat es in der Form noch nie gegeben. Es
gibt das Programm „Kein Täter werden“ an der Charité
in Berlin, das ein sehr gutes Projekt ist. Das heißt, wenn
Männer erkennen, dass sie pädophile Neigungen haben,
können sie sich selbst in Therapie begeben.
Das sind alles Projekte, die uns zeigen: Wir sind auf
dem richtigen Weg. Wir haben einen sehr guten Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden können. Ich würde
mich freuen, wenn wir dafür eine Mehrheit finden. Denn
bei so einem Thema dürfen wir uns nicht inhaltlich auseinanderdividieren.
Ich appelliere an alle, die sich jetzt enthalten wollen:
Bitte stimmen Sie zu! Es wäre ein deutliches Signal an
die Betroffenen, dass wir gemeinschaftlich hinter ihnen
stehen. Ich würde mich freuen.
In diesem Sinne vielen Dank.
({2})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs.
Es liegt eine Reihe von Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vor.1) Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/6261 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP. SPD, Linke und
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Dagegen
hat niemand gestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjäh-
rungsfristen bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3646 abzulehnen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12737 vor. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustim-
mung durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben
gestimmt CDU/CSU, FDP und Grüne. Die Linksfraktion
hat sich enthalten.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung abgelehnt bei Zustimmung durch SPD-
Fraktion und Linke. Alle anderen haben dagegen ge-
stimmt. - Wie ich höre, gab es einzelne Enthaltungen bei
der CDU/CSU-Fraktion und bei der Fraktion Die Linke.
Ich komme zur Abstimmung über den von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungs-
fristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen
bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zi-
vil- und Strafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/12735, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/5774 abzulehnen. Wer
dem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Da-
mit ist der Gesetzentwurf abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion und einen Großteil der
Linken. Die Gegenstimmen kamen im Wesentlichen aus
den Koalitionsfraktionen. Enthalten hat sich die SPD-
Fraktion. Es gab aus allen Fraktionen auch Enthaltun-
gen, bis auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion der FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung abgelehnt. Die dritte Beratung entfällt nach
unserer Geschäftsordnung.
Interfraktionell wird zudem die Überweisung der Vor-
lagen auf den Drucksachen 17/7233 und 17/8117 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann werden wir so verfahren.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
8 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Lisa Paus, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur abschließenden Beendigung
der verfassungswidrigen Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften
- Drucksache 17/12676 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})-
Innenausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Monika Lazar, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleiches Recht für Lebenspartnerschaft und
Ehe beim Adoptionsrecht - Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar
2013 jetzt umsetzen
- Drucksache 17/12691 ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({3}) gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Volker Beck ({4}), Monika Lazar, Ekin
Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
- Drucksachen 17/1429, 17/12731 Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Kauder ({5})
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des
Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts
- Drucksache 17/12677 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({6})-
Innenausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO1) Anlage 2
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht
heute um gleiche Rechte für homosexuelle Partnerschaften in dieser Gesellschaft. Die Union und die Koalition
debattieren darüber heftig. So viel von Respekt, von geheucheltem Respekt wie in dieser Debatte habe ich lange
nicht mehr gehört.
({0})
Nur einige wenige schrille Töne von Herrn Dobrindt,
von Herrn Geis und von Frau Steinbach-Hermann zeigen, wo sich der Widerstand in der Debatte nährt. Bei
Herrn Dobrindts Wort von der schrillen Minderheit, die
gegen die scheinbar schweigende Mehrheit sich durchsetzen wolle, musste ich an Franz Josef Strauß denken
und an sein Wort, dass er lieber ein kalter Krieger sein
wolle als ein warmer Bruder. Da kommt ans Licht, was
hinter dieser Debatte steckt.
Aber selbst Herr Kauder sagt uns heute:
Wir haben nichts gegen Homosexuelle. Ich habe
gerade in der Kulturszene viele homosexuelle Bekannte.
Dieses „Respekt ja, aber“ ist echt Klischee, Herr Kauder.
Das sollten Sie mal lassen.
({1})
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren.“ So heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wer Menschen gleiche Rechte
abspricht, spricht ihnen damit auch ihre Würde ab. Alles
andere als Gleichberechtigung ist verfassungswidrige
Diskriminierung.
({2})
Deshalb schlagen wir heute in einem Gesetzentwurf
gemeinsam mit der SPD vor, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Das würde das ganze unerträgliche Gewürge um die einzelnen Rechtsfolgen der
Lebenspartnerschaft mit einem Schlag beenden, und das
wäre im Endeffekt auch ziemlich konservativ. Dazu will
ich einen britischen Kollegen zitieren. David Cameron
sagte richtig - das sollten Sie sich in Ihrer programmatischen Debatte einmal hinter die Ohren schreiben -: Ich
unterstütze die Öffnung der Ehe für schwule und lesbische Paare, nicht obwohl ich konservativ bin; ich unterstütze sie, weil ich konservativ bin. - Ja, es geht darum,
Verantwortung und das Einstehen füreinander zu stärken. Das können schwule und lesbische Paare genauso
gut wie heterosexuelle Paare. Deshalb müssen sie auch
die gleichen rechtlichen Möglichkeiten bekommen.
({3})
Verfassungsrechtlich, durch die Entwicklung im internationalen Recht - selbst im Heimatland des neuen
Papstes ist die Ehe geöffnet -, in der Meinung der Bevölkerung ist diese Frage längst durch. Da hat ein gesellschaftlicher Wandel des Begriffs der Ehe stattgefunden.
({4})
Deshalb können wir verfassungsrechtlich diesen Schritt
gehen. Er ist der einzig konsequente. Mit der Öffnung
der Ehe schaffen wir gleiches Recht. Wer nichts gegen
Homosexuelle hat, kann auch nichts gegen ihre Gleichberechtigung haben, Herr Kauder.
({5})
Wir wissen: Die Öffnung der Ehe wird mit dieser
schwarz-gelben Koalition nicht zu machen sein. Dafür
braucht es eine neue Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Die wollen wir am 22. September mit der Unterstützung
von vielen Schwulen, Lesben, Transgendern schaffen.
({6})
Ich bin da ganz zuversichtlich. Die Ungerechtigkeit in
dieser Debatte regt die Menschen auf. Auch Schwule
und Lesben, auch Transgender-Personen haben Familien. Diese Familien fühlen sich herabgewürdigt, wenn
Sie ihren Kindern, ihren Brüdern, ihren Schwestern, ihren Eltern die gleichen Rechte verwehren.
({7})
Aber wir sind ja nicht so. Wir versuchen immer, zumindest das hinzubekommen, was gerade noch geht.
Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
die Lebenspartnerschaft in allen Punkten, beim Steuerrecht, beim Adoptionsrecht, bei den diversen Berufsrechten - das sind 27 Seiten - endlich mit der Ehe
gleichstellt. Das haben Sie den Wählerinnen und Wählern in Ihrem Koalitionsvertrag bereits versprochen. Nun
geht es an die Umsetzung.
({8})
Meine Damen und Herren, beim Adoptionsrecht gibt
es keine Diskussion mehr. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die Sukzessivadoption gilt seit
dem 19. Februar, und Sie müssen Ehe und Lebenspartnerschaft bei der Adoption in allen Punkten gleichstellen, weil es für eine Differenzierung nach der Ansicht
des Gerichts keine Rechtfertigung gibt.
({9})
Das Gleiche wird Ihnen das Gericht auch beim Steuerrecht sagen. Herr Papier, der eigentlich Ihrem Lager
angehört, hat gegenüber der Bild-Zeitung, die nicht gerade unsere Hauspostille ist, ganz klar gesagt:
Volker Beck ({10})
Die Privilegierung der Ehe im Verhältnis zur eingetragenen Lebenspartnerschaft ist rechtlich nicht
mehr zu halten.
Herr Kollege!
Wenn Sie das in der Koalition nicht hinbekommen,
helfen wir Ihnen gern durch einen Gruppenantrag oder
durch die Freigabe der Abstimmung.
Jetzt sind Handlungen gefragt. Herr Kauder hat gesagt, die Koalition werde es nicht machen. Wir machen
es gerne mit den Gutwilligen in Ihrer Koalition zusammen, aber: hic Rhodus, hic salta.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Ute Granold.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Beck, wir haben an dieser Stelle schon unzählige Male über das Thema der Lebenspartnerschaften
debattiert.
({0})
Zu Beginn bitte ich darum, dass wir ganz sachlich miteinander debattieren und die schrillen Töne, die Sie vorhin
vorgebracht haben, einfach lassen.
({1})
Das ist zwar ein emotionales Thema, dennoch bitte ich
um Sachlichkeit.
Wir debattieren heute über verschiedene Anträge, die
teilweise widersprüchlich sind. Das betrifft die Gleichstellung der Ehe mit der Lebenspartnerschaft, die Öffnung der Ehe und auch die Volladoption. Wir wollen das
alles in Ruhe prüfen.
({2})
Über die Sukzessivadoption, die Sie gerade angesprochen haben, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Das wird auch umgesetzt.
({3})
Dazu bedarf es aber keiner Eile, weil die Sukzessivadoption schon heute möglich und der Gesetzgeber aufgerufen ist, bis zum nächsten Sommer eine gesetzliche Regelung herbeizuführen.
Es gibt das eine oder andere, was wir noch einmal diskutieren müssen. Was ist denn zum Beispiel, wenn Eltern ihr Kind zur Adoption freigeben, aber nicht wollen,
dass ihr Kind in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung
aufwächst? Was ist damit? Wie soll das umgesetzt werden?
({4})
An dieser Stelle möchte ich namens der Union sagen,
dass für uns Ehe und Familie die Keimzelle der Gesellschaft, das Fundament der Gesellschaft sind. Wir legen
Wert darauf, dass wir jede andere Beziehung, die Menschen in unserer Gesellschaft leben, respektieren und
achten. Wir werben für Toleranz, und wir sind gegen
jede Form von Diskriminierung. Das gilt aber auch für
Sie, Herr Beck.
({5})
- Lassen Sie mich bitte etwas sagen, weil Sie in Ihrem
Übereifer leider Gottes etwas durcheinander gebracht
haben. Wir sollten schon bei der Sache bleiben.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Sukzessivadoption zugelassen. Das heißt, wenn ein Mann oder
eine Frau ein Kind adoptiert hat, kann der andere Partner
der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft dieses
Kind auch adoptieren. Das ist insofern konsequent, als
das Bundesverfassungsgericht auch die Stiefkindadoption zugelassen hat, sodass das leibliche Kind des Partners vom anderen Partner adoptiert werden kann. Nicht
mehr und nicht weniger hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, und das wird umgesetzt.
({6})
Ich möchte an dieser Stelle etwas zur Volladoption sagen - mein Kollege Geis wird zu anderen Punkten Stellung nehmen -, weil das ein ganz anderes Thema ist.
({7})
Hierbei geht es darum, dass ein fremdes Kind von zwei
gleichgeschlechtlichen Partnern, also von zwei Frauen
oder zwei Männern, adoptiert wird.
({8})
Ich bin sehr davon überzeugt, dass Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gut aufgehoben sind, versorgt werden und auch von ihren Eltern geliebt werden.
Wir wollen das aber aus der Perspektive des Kindes betrachten,
({9})
nicht aus der Sicht der Lebenspartner.
({10})
Ich möchte gerne begründen, warum wir das genau so
meinen und warum die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deshalb nicht auf die Volladoption angewandt und entsprechend umgesetzt werden kann.
Kinder brauchen für eine gedeihliche Entwicklung
Mutter und Vater. Beide Rollenbilder sind für die Entwicklung des Kindes wichtig.
({11})
Ich nenne eine Reihe von Beispielen. Bei Scheidungsverfahren ist es so, dass wir hinsichtlich des Sorgerechts,
hinsichtlich des Umgangsrechts und bei allen anderen
Aspekten zusehen, dass Väter und Mütter Umgang mit
bzw. Kontakt zu den Kindern haben, weil es für die Entwicklung von Kindern wichtig ist, dass sie es mit beiden
Geschlechtern zu tun haben.
({12})
Auch im Bereich der frühkindlichen Erziehung ist das
so. Wir bemühen uns immer darum, dass es in den Kitas
auch Erzieher gibt und dass es in den Grundschulen auch
Lehrer gibt,
({13})
damit das andere Geschlecht die Kinder in der frühkindlichen Entwicklung auch begleitet. Das ist für uns ganz
wichtig. Dazu muss ich sicherlich nicht mehr erzählen.
({14})
Frau Kollegin?
Ich lasse keine Zwischenfrage zu. - Beide Perspektiven sollen hier eine Rolle spielen.
Zu den wissenschaftlichen Untersuchungen. Das BMJ
hat 2009 eine Studie in Auftrag gegeben. Es wurde die
Situation von 693 Kindern evaluiert. Davon waren drei
Kinder aus einer Fremdadoption. Die Studie zu den Kindern wie auch die Elternbefragung haben ergeben, dass
es keine verwertbaren, fundierten Aussagen zur Situation der Kinder in diesen Partnerschaften gibt. Die Autorinnen haben gesagt, dass die Datenlage nicht ausreicht,
um eine gesicherte Empfehlung abzugeben. Es empfehle, Seite 99 des Gutachtens zu lesen.
Auch die Anhörung im Rechtsausschuss im Jahr 2011
hat ergeben, dass die Datenlage noch nicht ausreichend
ist. Die Sachverständigen haben gesagt - das ist im Protokoll der Anhörung nachzulesen -, dass weitere Studien
erforderlich sind und eine bessere Datenlage vorhanden
sein muss, um eine verbindliche Entscheidung treffen zu
können.
({0})
Wenn wir das Adoptionsrecht betrachten, erkennen
wir, dass es eine Fürsorgepflicht des Staates gibt. Es ist
nicht erwiesen, dass es für Kinder gleich gut ist, wenn
sie in einer anderen Partnerschaft aufwachsen und nicht
in einer Partnerschaft, in der Mutter und Vater da sind
und eine gedeihliche Entwicklung der Kinder sicherstellen. Wenn es keine gesicherten Daten gibt, hat der Staat
im Bereich der Fremdadoption und der Volladoption im
Zweifel seiner Fürsorgepflicht nachzukommen. Der
Maßstab ist auch in diesem Bereich allein das Kindeswohl.
Wenn wir sehen, dass in Deutschland derzeit 859 Kinder zur Adoption freigegeben sind und es über 5 900 Eltern gibt, die gerne ein Kind adoptieren würden, aber es
nicht können - das ist ein Verhältnis von 1:7 -, dann
müssen wir schauen, dass wir zunächst einmal die Kinder in einer Beziehung unterbringen, in der Mutter und
Vater zugegen sind.
({1})
Ich empfehle, die Situation in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen: Wir haben über 8 Millionen Familien,
und weit über 90 Prozent der Kinder leben in einer Familie, in der Mutter und Vater vorhanden sind, oder aber
in einer Beziehung, in der nur die Mutter oder der Vater
mit den Kindern vorhanden ist.
({2})
Wir respektieren jede andere Lebensform; aber wir haben eine besondere Schutzpflicht gegenüber unseren
Kindern. Demzufolge werden wir dann über das Thema
diskutieren, wenn eine gesicherte Datenlage, wenn Studien vorhanden sind. Solange das nicht der Fall ist, wird
es mit uns keine Änderung geben.
Ich muss auch sagen, dass Ehe und Familie nach
Art. 6 des Grundgesetzes privilegiert sind. Man kann
dieses Grundrecht nicht schleichend außer Kraft setzen.
Dann müssten wir über eine Verfassungsänderung nachdenken, und dazu bedarf es bekanntlich einer Zweidrittelmehrheit.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin
Biggi Bender das Wort.
Frau Kollegin, ich fühle mich von Ihnen persönlich
angesprochen, weil Sie gesagt haben, ein Kind brauche
für ein gedeihliches Aufwachsen das Zusammenleben
von Mutter und Vater.
({0})
Ich habe als Kleinkind meinen Vater verloren, weil er
gestorben ist. Ich bin deswegen mit einer alleinerziehenden Mutter und meiner Schwester aufgewachsen. In den
60er-Jahren wurde mir in meiner Kindheit deswegen
oftmals entgegengehalten, dass das doch eigentlich ein
defizitäres Lebensmodell sei, wenn kein Vater im Haus
sei; da könne doch nichts Gescheites dabei herauskommen. - Wollen Sie im Jahre 2013 allen Ernstes dieses
blöde, diskriminierende Geschwätz, das mich in meiner
Kindheit schon genervt hat, weiter aufrechterhalten?
({1})
Frau Kollegin Granold, bitte, zur Antwort.
Frau Kollegin, ich habe weder Sie noch jemand anderen diskriminiert.
({0})
Ich bin seit 30 Jahren als Familienanwältin tätig. Ich
kenne die Situation in Familien und habe unzählige kinderpsychologische Gutachten gelesen, gerade in Bezug
auf das Sorgerecht und das Umgangsrecht. Es heißt immer: Die Kinder brauchen eine Mutter, einen Vater, also
auch eine Bezugsperson, die dem jeweils anderen Geschlecht angehört.
({1})
Als Beispiele habe ich die Erzieher bzw. Lehrer in der
Kita und der Grundschule aufgezählt.
Ich habe auf die Volladoption Bezug genommen. Es
geht um die Kinder, die keinen leiblichen Vater und
keine leibliche Mutter mehr haben und zur Adoption
freigegeben sind, also keinen Bezug mehr haben. Diese
Kinder sind in einer besonderen Situation, weil sie keine
leiblichen Eltern mehr haben.
Ich erwähne hier noch einmal die Fürsorgepflicht und
die Schutzfunktion des Staates. Ich habe die Zahl von
860 Kindern genannt, die 2011 zur Adoption vorgemerkt
waren. Angesichts der Zahl von knapp 6 000 Eltern, die
diesen Kindern gegenüberstehen, sollte man versuchen,
die Kinder an diese zu vermitteln. Das habe ich vorgeschlagen.
Ich habe niemanden diskriminiert. Ich bitte darum,
sachlich zu sein und mittel- und langfristige Studien abzuwarten, um zu sehen, wie sich die Situation der
Kinder, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft
leben, darstellt. Diese Studien gibt es bislang nicht. Vom
Bundesministerium der Justiz wurde eine Studie in Auftrag gegeben, um uns gesicherte Daten zu geben.
({2})
Lesen Sie es doch einfach nach.
({3})
Da steht geschrieben: Es gibt noch keine gesicherte
Datengrundlage. Man möge weitere Gutachten einholen. - Das ist bis zur Stunde nicht geschehen.
({4})
Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau
Granold, ehrlich gesagt, ich bin erschüttert - nicht nur
ich, sondern, ich glaube, ganz viele Menschen hier in
diesem Parlament - über das, was wir gerade hier gehört
haben.
({0})
Ich selbst habe drei Töchter und lebe mit meinen
Töchtern allein. Die Konsequenz aus der Situation, die
Sie jetzt gerade geschildert haben, wäre die, dass ich mir
Sorgen machen müsste, dass mir irgendwann jemand
meine Kinder wegnimmt.
({1})
Ich rede hier nicht für mich allein, sondern ich rede
für einen Großteil der Menschen in unserer Gesellschaft,
die mit ihren Kindern allein leben oder mit gleichgeschlechtlichen Partnern zusammenleben. Das, was wir
uns gerade hier von Ihnen anhören mussten, war wirklich das Letzte.
({2})
Ich will jetzt einmal versuchen, das Ganze wieder auf
ein auch für mich vernünftiges Level zurückzubringen.
({3})
Lassen Sie mich kurz auf das eingehen, was uns im Augenblick in der Rechtsprechung beschäftigt. Ich denke,
wenn wir ehrlich sind - vielleicht bis auf ein paar Ausnahmen; herzlich willkommen, Herr Geis -, dann gehen
wir doch alle hier im Parlament davon aus, dass das
Bundesverfassungsgericht noch vor der Sommerpause
zum sechsten Mal feststellen wird, dass Lebenspartnerschaften im Vergleich mit Ehen ungleich behandelt werden und dass dies verfassungswidrig ist.
({4})
Seien wir ehrlich: Wie kann es sein, dass Lebenspartnerschaften nicht vom Ehegattensplitting profitieren dürfen, obwohl die gleichen gegenseitigen Pflichten wie
zwischen Ehepartnern bestehen? Das versteht kein
Mensch. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten
Jahren Schritt für Schritt die Lücken in den Rechtsbereichen geschlossen, in denen Lebenspartner gegenüber
Ehepartnern benachteiligt wurden. Die Ungleichbehandlung wird also über kurz oder lang Geschichte sein.
Die Diskriminierung von Homosexuellen ist damit
aber noch nicht beendet. Der Kollege Beck hat es vorhin
schon geschildert. Es ist zwar erfreulich, dass die Menschen bei uns heute frei darüber entscheiden können, ob
sie einen Mann oder eine Frau heiraten wollen. Jedoch
kann aus dieser Entscheidung bereits eine Ungleichbehandlung resultieren. Die Zuweisung in Ehe und Lebenspartnerschaft, die der Staat an dieser Stelle vorgibt,
kann negative Folgen im Leben der Menschen haben.
Denn leider sind Lesben und Schwule auch heute noch
Anfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Wir
haben vorhin ein schönes Beispiel dafür gehabt - hier im
Parlament. Das kann schon in dem Moment anfangen, in
dem man Formulare und Anträge ausfüllen muss.
Stellen Sie sich einmal vor: Den Status „verheiratet“
dürfen Lebenspartner nicht angeben. „Ledig“ wäre in einer Bewerbung des Lebenspartners zum Beispiel falsch.
Somit bleibt nur die Formulierung „nicht verheiratet“,
die man bei einer Bewerbung verwenden darf, auch
wenn man verpartnert ist. „Verpartnert“ wäre wahrscheinlich juristisch korrekt. Wie auch immer man es
dreht und wendet: Zumutbar ist das alles doch nicht
mehr.
({5})
Im schlimmsten Fall hat die Angabe, Lebenspartner
zu sein, leider immer noch sehr unangenehme Folgen,
zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder im Arbeitsleben. Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung hat ergeben, dass die Hälfte aller Schwulen und
Lesben ihre sexuelle Identität am Arbeitsplatz für sich
behält. Insgesamt haben sogar drei Viertel der Befragten
dieser Studie von Schwierigkeiten im Berufsalltag berichtet, die auf ihre Homosexualität zurückzuführen
sind.
Vor kurzem hat die Zeit dazu getitelt: „Homosexualität gilt noch immer als Karrierekiller.“ Dagegen können
wir etwas tun. Die rechtliche Debatte, die wir hier führen, kann Toleranz in unserem Land nur fördern, und wir
können jetzt dafür sorgen, dass Paare wegen ihrer
sexuellen Orientierung wenigstens vom Staat nicht mehr
unterschiedlich behandelt werden.
({6})
Es gibt keine Argumente mehr. Das war auch schon in
der letzten Sitzung des Rechtsausschusses zu beobachten. Da haben wir diese Debatte schon einmal geführt,
wenn man sie überhaupt so nennen kann; denn die
Unionsparteien hatten keine Argumente mehr. Also: Wie
viel Weile brauchen Sie, Frau Granold, und Sie, sehr geehrte Kollegen von der Unionsfraktion, eigentlich noch,
um diesen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen?
Eigentlich wollten wir heute über die Änderung des
Lebenspartnerschaftsgesetzes abstimmen. Den entsprechenden Gesetzentwurf haben Sie einfach von der Tagesordnung genommen. Es ist lächerlich, immer noch
dagegenzustimmen, nach dem, was das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, nach dem, was die Mehrheit unserer Bevölkerung sagt, und nachdem aktuelle
Umfragen zeigen, dass selbst die Mehrheit der CDUAnhänger - man höre und staune - die Homo-Ehe befürwortet.
Frau Kollegin.
Lassen Sie sich also nicht noch einmal vom Bundesverfassungsgericht auf den Hinterkopf schlagen, wie es
der Kollege Beck in der letzten Debatte so schön formuliert hat. Lassen Sie uns ein Gesetz beschließen, das auch
gleichgeschlechtlichen Paaren Eheschließungen ermöglicht.
Vielen Dank.
({0})
Michael Kauch hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gleiche
Pflichten, gleiche Rechte - das ist der Grundsatz unserer
Verfassung, und es ist nicht verständlich, warum dieser
Grundsatz nicht auch für gleichgeschlechtliche Lebenspartner gelten soll.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren, spricht sich
meine Fraktion für die volle Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit der Ehe aus. Und: Ich unterstütze nachdrücklich auch im Namen meiner Fraktion
die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
Denn es macht eben einen Unterschied - das hat die Vorrednerin gerade sehr klar an einigen Beispielen dargestellt -, ob man seine sexuelle Orientierung aufgrund der
Angabe seines Familienstandes in jeder Situation offen28486
baren muss, etwa bei Bewerbungen. Da muss ich sagen:
Das wäre ein Schritt zur Entdiskriminierung von Lebenspartnern; denn es gibt eben immer noch Diskriminierung in dieser Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, als gäbe
es keine gleichgeschlechtlichen Ehen in Deutschland. Das
Bundesverfassungsgericht hat nämlich eine Bestimmung
des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt.
Es enthielt eine gesetzliche Regelung mit der Forderung,
sich vor einer Geschlechtsumwandlung scheiden zu lassen. Dazu hat das Verfassungsgericht mittlerweile gesagt: Das verstößt gegen Art. 6 des Grundgesetzes; deshalb ist diese Regelung nichtig. Daher gibt es heute in
Deutschland gleichgeschlechtliche Ehen, und dieses
Land existiert immer noch. Wir haben kein Problem
durch diese gleichgeschlechtlichen Ehen bekommen.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Sukzessivadoption klar entschieden. Es ist erkennbar, wohin die
Reise geht. Das gilt auch für andere Entscheidungen, die
anstehen. Wenn das Verfassungsgericht schon bei einer
Entscheidung, in der es nicht nur um die Lebenspartner,
sondern auch um ein Kind geht, den Gleichheitsgrundsatz nach vorne stellt und sagt: „Der bloße Verweis auf
Art. 6 rechtfertigt keine Ungleichbehandlung“, welches
Argument gibt es denn dann noch, dass das Verfassungsgericht anders entscheiden sollte, wenn es nur um die
Lebenspartner und deren gleiche Unterhaltspflichten
geht? Kein Mensch hier in diesem Saal glaubt doch, dass
hier eine andere Entscheidung zu erwarten ist. Dieses
Parlament ist nicht gewählt, um der Notar des Bundesverfassungsgerichts zu sein. Dieses Parlament ist gewählt, um verfassungswidrige Zustände selbst zu beseitigen.
({2})
Deshalb ist diese Debatte für die FDP nicht beendet. Debatten in der Koalition werden gemeinsam beendet, oder
sie werden geführt. Diese Koalition sollte in dieser und
in anderen strittigen Fragen handeln; denn wir werden
dann als Koalition erfolgreich sein, wenn wir die Projekte, die einer der Koalitionspartner wichtig findet,
während der andere Koalitionspartner sie vielleicht nicht
will, zu einer Lösung führen, statt uns gegenseitig zu
blockieren.
({3})
Frau Granold hat gerade angeführt, dass das Schutzrecht nach Art. 6 Grundgesetz immer weiter ausgehöhlt
wird. Liebe Frau Granold, der Ehe wird nichts weggenommen.
({4})
Alle Schutzrechte, die die Ehe nach unserer Verfassung
hat, bleiben bestehen. Es ist auch nicht so, dass ein Paar
mehr eine heterosexuelle Ehe eingeht, weil es dafür
Steuervorteile gibt. Ein schwuler Mann wird keine Frau
heiraten, weil ihm bei einer Lebenspartnerschaft die
Steuerprivilegien verwehrt werden und bei der Ehe gewährt werden. Das ist doch lebensfremd. Deshalb ist die
Ehe in keiner Weise betroffen.
({5})
Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Granold zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Kauch, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass ich mich zum Thema Splitting überhaupt
nicht geäußert habe, sondern nur zum Thema Volladoption. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass in
Art. 6 Grundgesetz Ehe und Familie privilegiert werden.
Das haben die Väter unseres Grundgesetzes so gesagt.
({0})
Das bedeutet, dass wir dies jetzt nicht nivellieren können. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass Ihr
Vorhaben eine Widerlegung dessen ist, was die Väter
und Mütter des Grundgesetzes uns damals ins Buch geschrieben haben? Art. 6 Grundgesetz sagt: Ehe und Familie sind privilegiert. Würden Sie mir zustimmen, dass
es, wenn man will, dass sie nicht mehr privilegiert sind,
sondern nivelliert werden sollen, einer Verfassungsänderung bedarf?
({1})
Ich stimme Ihnen hier nicht zu; denn das Bundesverfassungsgericht hat bisher in all seinen Entscheidungen
anders geurteilt. Man überlege sich einmal, in welcher
historischen Situation dieser Artikel zustande gekommen ist: Es handelt sich hier um ein Grundrecht der Familie gegen den Staat.
({0})
Vor dem, was während des Nationalsozialismus geschehen ist, als der Staat in die Familien eingegriffen und die
Erziehung verstaatlicht hat, wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Menschen in Deutschland
schützen. Das geschieht durch Art. 6. Das ist kein
Grund, andere Lebensgemeinschaften zu diskriminieren.
Das sagt das Verfassungsgericht ganz klar.
({1})
Herr Kollege, möchten Sie jetzt auch noch die Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck zulassen?
Bitte sehr.
Bitte schön.
Die Kollegin Granold hat gerade angesprochen, dass
die Frage der Volladoption - das heißt eigentlich nur,
dass es um gleiche Rechte bei der Adoption geht - noch
strittig ist. Würden Sie als FDP-Fraktion mit mir die
Rechtsauffassung teilen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 19. Februar 2013 relativ eindeutig war? Dort heißt es:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht ….
Daraus ergibt sich ja ziemlich klar, dass das Bundesverfassungsgericht von diesem Hohen Haus erwartet, spätestens bis zum Sommer nächsten Jahres gleiche Rechte
bei der Adoption für Lebenspartnerschaft und Ehe zu
schaffen.
Lieber Kollege Beck, ich denke, dieses Zitat des Bundesverfassungsgerichts spricht für sich.
Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, die
Frage zu stellen, welche politische Wirkung es hat, dass
die Sukzessivadoption vom Bundesverfassungsgericht
entsprechend ausgeurteilt ist. Das heißt konkret, dass es
möglich ist, dass ich erst alleine adoptiere und zwei
Jahre später mein Lebenspartner adoptiert. Ist das im Interesse des Kindeswohles? Ich glaube nicht.
Aus meiner Sicht gibt es noch ein weiteres Argument.
Wir haben in Berlin seit Ende der 90er-Jahre Pflegefamilien, in denen gleichgeschlechtliche Paare Kinder aufziehen.
({0})
Es ist im Kindeswohlinteresse, und zwar jeweils im Einzelfall, dass auch hier eine gemeinschaftliche Adoption
möglich ist.
({1})
Liebe Frau Granold, ich war über Ihre Einlassung etwas schockiert.
({2})
Sie haben gesagt: Die abgebende Mutter beispielsweise
möchte vielleicht nicht, dass ihr Kind von einem gleichgeschlechtlichen Paar adoptiert wird. Wenn wir die Argumentation zulassen, dann stellt sich die Frage: Wo
enden wir? Heißt das dann, ich kann ankreuzen: keine
Schwarzen, keine Migranten? Ich glaube, das führt zu
nichts; das führt auf eine schiefe Bahn.
({3})
Es muss um das Kindeswohl gehen und nicht um die
Vorurteile, die bestimmte Personen hier haben.
({4})
Es wird viel mit Rollenbildern argumentiert. Meine
Damen und Herren, glauben Sie denn, Rollenbilder werden nur von Vater und Mutter gelernt? Haben die Kinder
kein soziales Umfeld, keine Tanten, keine Onkel, keine
Freunde? Nein, es gibt im sozialen Umfeld natürlich
überall Frauen und Männer. Auch da frage ich mich, was
diese Argumentation soll.
Aus der heutigen Aktuellen Stunde des Sächsischen
Landtages gibt es ein sehr schönes Zitat eines CDUAbgeordneten. Nach Medienberichten hat Alexander
Krauß gesagt, man müsse ungleich behandeln; denn man
brauche - so haben ja auch Sie argumentiert - die Rollenbilder. Weiter heißt es:
Wenn ich meinen Sohn angucke, dann kann ich mit
ihm Skifahren. Meine Frau kann das nicht.
Meine Damen und Herren, Frauen können auch Skifahren.
({5})
Tausende von Kindern leben in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die wenigsten davon sind adoptiert. Schwule und Lesben können Kinder kriegen - das
tun sie auch -, und die Kinder wachsen gut auf, weil sie
von ihren Eltern geliebt werden.
({6})
Das Entscheidende ist doch, dass sie in ihrem Leben
Liebe erfahren.
Wichtig ist, dass wir erkennen, dass die Gesellschaft
das mehrheitlich anders sieht, als wir das hier teilweise
dargestellt bekommen.
({7})
Die Debatte um die schrille Minderheit möchte ich hier
nicht führen. Der Bundesaußenminister hat sehr klug ge28488
sagt: Wenn die Gesellschaft weiter ist als eine Partei,
dann ist das nicht das Problem der Gesellschaft.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Steffen, ich muss Ihnen leider widersprechen: Was die CDU/CSU hier abliefert, ist nicht lächerlich, das ist einfach bösartig.
({0})
Ich finde es skandalös, dass Sie alle, wie Sie hier sitzen, beschlossen haben, dass Herr Geis, nach dem, was
er in der letzten Sitzungswoche abgeliefert hat, wieder
sprechen darf, und dass Frau Granold hier solche Thesen
aufstellen darf.
({1})
Ich bin ebenfalls alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Wollen Sie mir demnächst amtlich jemanden zur
Seite stellen, möglichst einen Mann, damit ich meine
Aufgaben richtig mache? Oder wollen Sie Zwangsheirat? Oder wollen Sie Scheidung verbieten? Wie hätten
Sie es denn gerne? Was hier geboten wird, ist eine Beleidigung, nicht nur für Schwule und Lesben, sondern für
alle alleinerziehenden Männer und Frauen.
({2})
Frau Höll, Frau Steinbach würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, haben Sie wahrgenommen, dass Sie
nicht mehr in der DDR leben, sondern in einem freien
Land, in dem jeder Abgeordnete reden kann, was er
möchte,
({0})
und in dem jeder Abgeordnete das Recht hat, in Reden
seine Auffassung zu vertreten?
Wir müssen Sie ertragen,
({1})
und das ist schlimmer als alles, was Sie in einer Demokratie ertragen müssen.
({2})
Frau Steinbach, zum Ersten: Es gibt in den alten und
in den neuen Bundesländern viele Bürgerinnen und Bürger, die sehr wohl bedacht haben, warum sie die Linke in
den Bundestag wählen. Mit dieser Äußerung beleidigen
Sie Wählerinnen und Wähler, nicht uns Abgeordnete
hier im Parlament.
({0})
Zweitens möchte ich fragen: Wenn es so ist, dass jeder und jede seine Meinung äußern kann, warum haben
Sie den Fraktionszwang dann nicht aufgehoben? Warum
haben Sie die Abstimmung heute hier verhindert?
({1})
Warum gestatten Sie der FDP nicht, aus der Zwangsumklammerung Ihrer Fraktion herauszukommen? So viel
zu Ihrem Freiheitsbegriff.
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Normalerweise ist
es so, dass Rednerinnen und Redner hier im Namen ihrer
Fraktion sprechen oder ausdrücklich betonen, dass es
sich um ihre Einzelmeinung handelt. Also hat Frau
Granold im Namen ihrer Fraktion gesprochen, und auch
Herr Geis, der gleich wieder so argumentieren wird wie
vor 14 Tagen, spricht für seine Fraktion. Er vertritt eine
Auffassung, die zeigt, dass Sie zutiefst homophob sind. Danke.
({2})
Herr Geis, da Sie sich vor 14 Tagen zum Verteidiger,
zum Retter der Ehe aufgeschwungen haben, sage ich Ihnen Folgendes: Im Schnitt zerbricht mehr als die Hälfte
der bürgerlichen Ehen und Familien, und die Geburtenraten sind niedrig. Aber nach wie vor soll die Ehe gesetzlich vor ihrem angeblichen Verfall geschützt werden? Und der Verfall soll ihr insbesondere durch
schwule und lesbische Paare drohen? Merken Sie nicht,
wie dumm diese Argumentation ist? Da bleibt einem fast
nichts mehr zu sagen.
({3})
Heute diskutieren wir über zwei Gesetzentwürfe und
einen Antrag. Wir als Linke haben im Juni 2010 einen
Antrag zur Öffnung der Ehe eingebracht. 2011 hat die
SPD noch dagegen gestimmt. Ich freue mich, dass Sie
jetzt diesen Schritt gegangen sind und ebenfalls sagen:
Das einzig Konsequente ist die Öffnung der Ehe.
({4})
Schauen wir uns einmal an, was ein Kompromiss,
wenn er überhaupt zustande käme, bedeutete: Demzufolge würden wir die Lebenspartnerschaften, die heute
schon die gleichen Pflichten wie die Ehe beinhalten, und
die Ehe rechtlich völlig gleichstellen, aber die verschiedenen Namen beibehalten. Dann hätten wir zwei
deckungsgleiche Rechtsinstitute; sie hätten nur zwei verschiedene Namen. Daraus spricht doch der Versuch, mit
der Macht der Worte krampfhaft Ungleiches, Andersartigkeit zu definieren. Welches Denken steckt dahinter?
Es geht dabei darum, eine heterosexuelle Normalität im
Konstrukt „Vater, Mutter, Kind“ hochzuhalten, etwas,
was der gesellschaftlichen Realität nicht mehr entspricht. Genau deshalb hat das Bundesverfassungsgericht über die Jahre hinweg seine Meinung geändert,
korrigiert - immer im Rahmen des Grundgesetzes.
({5})
Wir müssen hier endlich einmal darüber diskutieren,
was es heißt, dass im Grundgesetz vom Schutz der Ehe
die Rede ist. Das heißt nicht automatisch finanzielle Privilegierung. Nein, auch das Ehegattensplitting ist 1953
unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen gekommen. Es ist wichtig und richtig, heute die Ungerechtigkeit zu beseitigen. Das kostet pro Jahr nur etwa 20 Millionen Euro im Gegensatz zu den 20 Milliarden Euro,
die das Ehegattensplitting kostet. Das sind in etwa die
Zahlen, über die wir hier sprechen. Es geht also darum,
genau zu schauen: Fördern wir tatsächlich das, was uns
förderungswürdig ist, ausreichend und zielgerichtet, zum
Beispiel das Leben mit Kindern und die geleistete Pflegearbeit?
Abschließen möchte ich mit einem Hinweis. Ich habe
gestern in Leipzig an der Verleihung des Leipziger
Buchpreises zur Europäischen Verständigung teilgenommen. Den Preis bekam Professor Klaus-Michael Bogdal
für sein Buch Europa erfindet die Zigeuner - Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Er zieht ein
alarmierendes Fazit:
Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist den europäischen Gesellschaften nicht abhandengekommen.
Ich glaube, solche Debatten mit solchen Äußerungen
sind Beweise dafür, wie dünn das Eis der Zivilisation
zum Teil leider ist.
Danke.
({6})
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Geis.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist guter parlamentarischer Brauch, dass man
auch einmal eine andere Meinung erträgt. Ich bitte darum: Lassen Sie mich auch meine Meinung noch einmal
sagen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es dürfte eigentlich unter uns nicht streitig sein, dass Ehe und Familie zu den Grundlagen unseres Staatswesens und unserer
Gesellschaft zählen.
({1})
Daran kann eigentlich niemand ernsthaft zweifeln.
({2})
Das Grundgesetz hat Ehe und Familie deshalb unter den
besonderen Schutz des Staates gestellt.
({3})
Das gilt nicht nur für das Grundgesetz, sondern auch für
viele Länderverfassungen der Bundesrepublik Deutschland. Das muss man auch einmal zur Kenntnis nehmen.
Es ist nun einmal so, dass Vater, Mutter und Kind die
Grundlagen menschlicher Gemeinwesen bilden.
({4})
Der Großrabbiner von Frankreich, Herr Bernheim, hat
in einem Traktat, in welchem er sich mit der GenderIdeologie auseinandersetzt,
({5})
folgenden Satz geprägt: Die wahre Familie sind Vater,
Mutter und Kind. - Auch das muss man doch zur Kenntnis nehmen.
({6})
Zumindest muss ich das sagen dürfen.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wollen
mit Ihrem Gesetzentwurf die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften der Ehe vollkommen gleichstellen.
Das ist Ihr Weg.
({8})
- Ich schlage Ihnen vor, erst einmal abzuwarten. - Sie
machen das mit der Begründung, in der Ehe würden
Mann und Frau genauso füreinander sorgen, wie das in
den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften der
Fall ist.
({9})
Das ist für Sie die Begründung der Privilegierung. Ich
gebe zu, dass auch das Verfassungsgericht dies sagt. Das
ist aber deswegen nicht richtig.
({10})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 etwas
ganz anderes gesagt hat. Es hat da nämlich noch festgestellt, dass die Ehe mit der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft gar nicht vergleichbar ist.
({11})
Meine Damen und Herren, die Privilegierung der Ehe
im Grundgesetz
({12})
- vielleicht ist es möglich, dass Sie mich in Ruhe aussprechen lassen - ist nicht deshalb gegeben, damit der
Staat die Ehe in besonderer Weise schützt, sondern deshalb, weil niemand sonst als Vater und Mutter das Leben
weitergeben können.
({13})
Deswegen ist die Privilegierung gegeben. Das ist ständige Rechtsprechung. So steht es übereinstimmend in allen verfassungsrechtlichen Kommentaren.
({14})
Herr Geis, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck zulassen?
Ich will noch Ausführungen zu einem zweiten Grund
machen, dann kann er die Zwischenfrage stellen. - Es
gibt noch einen zweiten Grund, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Der zweite Grund besteht darin,
dass niemand sonst als Vater und Mutter, wenn sie zusammenleben, dem Kind besser Daseinskompetenz und
soziale Kompetenz - sie gehen der schulischen Kompetenz voraus - vermitteln können. Das geht zwar auch auf
anderem Wege. Hier aber geht es um die generelle Regelung. Auch das müssen Sie berücksichtigen. Sie können
in allen Kommentaren nachlesen, dass das der Grund ist,
weshalb Ehe und Familie privilegiert werden.
({0})
Das kann die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft
in diesem Sinne nun einmal nicht leisten.
({1})
Wenn Sie im Übrigen nur darauf abstellen, dass man
in der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft füreinander sorgt wie in der Ehe - ich gebe Ihnen das ohne
Weiteres zu -, müssen Sie aber - das hat Herr Papier
übrigens auch gesagt und geschrieben - alle anderen
Einstandsgemeinschaften genauso behandeln. Warum
werden die dann diskriminiert? Das geht doch nicht.
({2})
Das wäre nämlich eine Diskriminierung anderer Lebensgemeinschaften, in denen man auch füreinander einsteht.
Deswegen gibt es aber nicht die Privilegierung. Warum
privilegiert wird, habe ich vorhin dargestellt. Das ist der
Grund, weshalb es so im Grundgesetz steht. - Bitte, Herr
Beck.
Herr Beck, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Da Sie ein Zitat aus einem Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli
2002 gebracht und behauptet haben, das Verfassungsgericht habe damals etwas anderes als das gesagt, was es
uns seit 2009 immer wieder als Schlag auf den Hinterkopf präsentiert, frage ich: Sind Ihnen die Leitsätze 3
und 4 des Urteils bekannt, in denen eine Antwort auf die
von Ihnen gerade gestellte Frage gegeben wird? Leitsatz 3
lautet:
Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche
Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert
den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen
durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die
miteinander keine Ehe eingehen können.
Zu Ihrer Frage der fantasierten möglichen anderen
bunten Lebensformen - Kardinal Meisner wollte schon
Fahrgemeinschaften mit der Ehe gleichstellen - heißt es
im Leitsatz 4 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts:
Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass
nichtehelichen Lebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Personen und verwandtschaftlichen Einstandsgemeinschaften
- das ist Ihr Lieblingsbeispiel der Zugang zur Rechtsform der eingetragenen Lebenspartnerschaft verwehrt ist.
Es geht dem Verfassungsgericht im Grundsatz um eines: In der Lebenspartnerschaft sind Verantwortung und
Einstehen mit dem gleichen Unterhaltsrecht und im
Volker Beck ({0})
Lebenspartnerschaftsfolgenrecht gleich, wie im Ehefolgenrecht geregelt. Deshalb ist es nach Art. 3 Abs. 1
gleich zu behandeln.
Können Sie mir bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht insofern seit 2002 nichts anderes sagt als
das, was es uns auch im Jahre 2013 gesagt hat?
({1})
Herr Beck, wenn ich Sie so höre - Sie haben jetzt
noch einmal eine Rede gehalten und ungefähr das Gleiche gesagt wie vorhin, jedenfalls dem Inhalt nach komme ich zu dem Schluss: Man sollte Zwischenfragen
von Ihnen nicht mehr zulassen - ich werde es auch nicht
mehr tun -,
({0})
denn Sie nutzen jede Gelegenheit, um hier Ihre Meinung
zu deklamieren. Sie stellen ja gar keine wirklichen Fragen. Aber ich will Ihnen die Frage beantworten.
({1})
- Denken Sie, ich kenne das nicht? Ich kenne das sehr
gut. Ich weiß, was das ist, und ich weiß auch, was darin
steht.
In den Gründen des Urteils des Verfassungsgerichts
steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist,
ein Institut neben die Ehe zu stellen, das identisch ist mit
der Ehe.
({2})
- Damals ging das Verfassungsgericht noch davon aus,
dass ein Unterschied besteht.
({3})
- Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht zuhören
wollen, dann kann ich mir die Mühe sparen. - In den
Gründen steht es ganz klar. Ich bitte Sie, das einmal
nachzulesen. Ich bitte wirklich darum. Ich bitte auch Sie,
Herr Beck, das einmal nachzulesen.
({4})
Denn wenn Sie das tun würden, würden Sie nicht ständig
dieselben Fragen stellen, die längst beantwortet sind. In
den Gründen steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber
verwehrt ist, ein Institut neben die Ehe zu stellen, das
identisch ist mit der Ehe. Lesen Sie es nach; das steht
drin. Es hat keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Sie dürfen sich wieder setzen.
({5})
Herr Geis, es gibt noch eine weitere Zwischenfrage
der Kollegin Vogler aus der Linksfraktion. Möchten Sie
diese zulassen?
Nein, ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Das
hat ja keinen Sinn.
({0})
Ein Austausch von Argumenten ist hier ja nicht mehr
möglich.
({1})
- Nein, Sie verschließen sich einfach den Argumenten.
({2})
Mein Wort an die FDP: Meine sehr verehrten Damen
und Herren von der FDP, ich habe in den langen Jahren
der Zusammenarbeit immer wieder festgestellt, dass die
FDP eine Verfassungspartei ist. Wenn die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe
gleichgestellt werden sollen - das ist ja der Inhalt des
Gesetzgebungsantrags -,
({3})
dann ist das keine Verfassungsänderung, die man über
ein einfaches Gesetz machen kann. Dies wäre vielmehr
eine massive Verfassungsänderung, die Sie gemäß
Art. 79 des Grundgesetzes nur mit einem Gesetz machen
können, das von einer Mehrheit von zwei Dritteln in
Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird. Ich bitte
Sie sehr herzlich, dies mitzubedenken. Es verstößt meiner Meinung nach gegen die Verfassung, wenn wir so
vorgehen, dass wir sagen: Das können wir mit einem
einfachem Gesetz tun. Die Verfassung kann in diesem
Punkt nur über den Weg, der in Art. 79 Grundgesetz beschrieben ist, geändert werden.
Lassen Sie mich ein weiteres Wort dazu sagen, meine
sehr verehrten Damen und Herren:
({4})
In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass Elternschaft biologisch zu verstehen sei. Es ist von der sogenannten biologischen Elternschaft die Rede. Das wird dem Begriff der
Elternschaft, das wird dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht mehr gerecht. Wir müssen bei dem Begriff
„natürliche Elternschaft“ bleiben, weil wir unter Natur
viel mehr verstehen als Biologie.
Herr Geis.
Unter Natur verstehen wir auch, dass der Mensch von
Anfang an seine Würde hat; dies hat ihm das Verfassungsgericht in zwei großartigen Urteilen zugebilligt.
Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja. Ich komme auch zum Ende.
({0})
Dieses Thema kann ich hier nicht in sechs Minuten abhandeln.
({1})
- Frau Kollegin, ich kenne Sie als ernsthafte Kollegin.
Lassen Sie doch diese Zwischenrufe!
({2})
Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende!
({0})
Ich komme zum Ende. - Meine sehr verehrten Damen
und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich, diese Diskussion
nicht mit der Aufgeregtheit zu führen, mit der Sie sie
führen. Ich bitte, wirklich sachlich zu diskutieren. Dann
werden wir vielleicht auch gemeinsam zu sachlichen Ergebnissen kommen. Das ist bisher immer gelungen.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich frage mich, warum ich für diese Debatten
eigentlich immer noch eine Rede schreibe, wenn ich sie
nachher sowieso nicht halten kann.
({0})
Ich, Herr Geis - wenn ich auf Ihre Frage einmal ganz
sachlich eingehen darf -, bin aufgewachsen in einer
ziemlich spießigen Familie: Vater, Mutter, drei Kinder.
({1})
Ich finde es auch vollkommen richtig, dass keiner etwas
dagegen hat und dass wir alle das gut finden. Das betrifft
nämlich die Mehrheit der Menschen in diesem Lande.
Keiner möchte dieser Mehrheit etwas wegnehmen. Keiner findet das schlecht. Wir sind alle so aufgewachsen.
Das ist alles wunderbar. Aber darum geht es in dieser
Debatte nicht.
({2})
Es geht darum, dass man, wenn man Schwulen und Lesben die gleichen Rechte und auch die gleichen Pflichten
gibt, niemand anderem etwas wegnimmt. Darum geht es.
({3})
In dieser Debatte, Herr Geis, haben Sie und Frau
Granold es ernsthaft geschafft, alle anderen Lebensformen, die es in diesem Land gibt, einmal voll gegen die
Wand zu kacheln und zu beleidigen, und zwar auf eine
ziemlich üble Art und Weise. Das ist unerträglich.
({4})
Das ist der Grund, warum alle Fraktionen hier geklatscht
haben, als der Kollege Kauch einfach einmal durchdekliniert hat, was die Wahrheit ist. Als ich zu Ihrer Fraktion
geblickt habe, habe ich gesehen: Die Mitglieder Ihrer
Fraktion waren bei Ihrer Rede peinlich berührt, und bei
der Rede von Frau Granold haben etliche den Kopf geschüttelt.
({5})
Ernsthaft: Wie wollen Sie als große Volkspartei noch
klarkommen, wenn Sie jede andere Lebensform diskriminieren?
({6})
Das kann doch nicht angehen! So kann das doch nicht
laufen!
({7})
Da Sie das Verfassungsgericht bemüht haben: Erika
Steinbach - da sie gerade hier sitzt - hat nach einem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts einmal getwittert:
„Wer schützt eigentlich unsere Verfassung vor den Verfassungsrichtern?“
({8})
Ich glaube, dazu könnte man relativ viel sagen. Wenigstens so viel: Das, was Sie und Herr Geis hier laufend
abliefern, ist für die CDU/CSU kein Ruhmesblatt. Das
heißt, Sie sind in der Realität in diesem Land nicht angekommen. Das, Frau Steinbach, bedeutet, dass Sie Ihre
Berechtigung nach und nach verlieren.
Würden Sie doch auf Herrn Schäuble hören! Herr
Schäuble hat Anfang März dieses Jahres gesagt:
Wenn die CDU Volkspartei bleiben will, dann muss
sie veränderte Realitäten zur Kenntnis nehmen.
({9})
So gerne ich sonst anderer Meinung bin als Herr
Schäuble und mich mit ihm streite: In diesem Fall hat er
recht. Direkt danach hat die CDU die Wahl in Wiesbaden verloren. Sie können sich genau überlegen, wer daran unter anderem beteiligt war.
({10})
Herr Kollege?
Sie verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung, weil
die Menschen merken, dass das, was Sie vertreten, absurd ist. Es geht nicht gegen die Ehe. Es geht nicht gegen
Familien mit Kindern. Im Gegenteil: Das finden wir alle
gut, unterstützenswert und richtig. Es geht darum, auch
andere, alternative Lebensformen zuzulassen und Unterstützung zu geben, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Wenn Sie das nicht verstehen,
dann sind Sie hier falsch, dann sollten Sie sich schämen.
({0})
Jetzt gerne, Frau Steinbach.
Die Frage ist, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau
Steinbach zulassen möchten; das geht nämlich nur innerhalb Ihrer Redezeit.
Aber immer doch.
Frau Steinbach, bitte.
({0})
Herr Kahrs, Sie haben gesagt: „Wenn jemand in einer
spießigen Familie aus Vater, Mutter und drei Kindern
aufwächst“. Das ist Diskriminierung.
Ich habe von mir geredet.
Jetzt frage ich Sie: In unserer Demokratie mit Gewaltenteilung ist doch keine unserer Institutionen eine heilige Kuh, noch sind sie unfehlbar wie der Papst, sondern
alle Einrichtungen müssen sich - auch wenn sie von ihrer Arbeit überzeugt sind - Kritik gefallen lassen. Wenn
ich der Überzeugung bin, dass das Bundesverfassungsgericht einmal auf dem falschen Bein „Hurra!“ geschrien
hat, dann sage ich das auch. Konrad Adenauer hat das
übrigens auch schon gemacht.
({0})
Frau Steinbach, einmal angenommen, jemand wie ich
- der zugegebenermaßen relativ spießig ist: Ich lebe seit
zwanzig Jahren mit meinem Freund zusammen; verglichen mit der Dauer mancher Ehen von Kollegen Ihrer
Koalition ist das ziemlich spießig ({0})
will seinen Freund heiraten. Dann verstehe ich ganz im
Ernst nicht, warum Sie nicht wollen, dass zwei Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen und
auch die Pflichten übernehmen, nicht auch die gleichen
Rechte bekommen sollen. Spießig ist nicht immer
schlecht - wie gesagt: Ich bin es auch.
({1})
In der Sache muss man einfach zur Kenntnis nehmen:
Es soll doch in diesem Lande ein jeder leben, wie er will.
({2})
Es soll in diesem Lande ein jeder glücklich werden, wie
er will. Es soll in diesem Lande möglich sein, dass einer,
der die gleichen Pflichten übernimmt, auch die gleichen
Rechte bekommt. Wenn Sie das nicht verstehen, dann
tun Sie mir leid.
Was das Bundesverfassungsgericht angeht, Frau
Steinbach: Man kann natürlich die Verfassungsorgane
gegeneinander ausspielen und sie abwatschen. Das Bundesverfassungsgericht war nicht nur meiner Meinung, es
hat diese auch sehr ausgewogen begründet. Ich finde,
dass man mit Verfassungsorganen vernünftig umgehen
muss. Die Art und Weise, wie Sie das tun, und die Art
und Weise, wie Herr Geis das Bundesverfassungsgericht
missbraucht, indem er dieses Urteil falsch interpretiert,
({3})
halte ich inzwischen für unerträglich.
Übrigens, Herr Geis: Ihre Ausführungen zu diesem
Thema sind peinlich.
({4})
- Herr Geis, überlegen Sie einmal, warum - es wurde
vorhin gesagt - die Hälfte aller Schwulen und Lesben
sich am Arbeitsplatz nicht zu sagen trauen, dass sie
schwul oder lesbisch sind. Es ist wegen Menschen wie
Ihnen, von denen sie diskriminiert werden. Das kann
nicht angehen, das ist eine Schande.
({5})
Herr Kauch, ich fand Ihre Rede wunderbar - ich habe
immer geklatscht -; aber am Ende gab es ein kleines
Problem für mich: Wenn das, was Sie gesagt haben, alles
richtig war: Warum stimmt die FDP dann nicht richtig
ab?
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Nun hat der Kollege Volker Beck das Wort zur
Geschäftsordnung gewünscht. Ich erteile ihm das Wort.
Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich
der Kollege Kauder beruhigt hat, dann kann ich sagen:
Dass hier Menschen für ihre Rechte streiten und andere
diesen Kampf unterstützen, ist kein Meinungsterror, sondern eine wichtige gesellschaftspolitische Diskussion.
({0})
Sie versuchen hier, Opfer und Täter zu vertauschen.
({1})
Ich beantrage für meine Fraktion, dass wir heute über
einen Antrag abstimmen, durch den Sie, Frau Justizministerin, aufgefordert werden, im Namen der Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar
2013 umsetzt. In diesem Urteil - das haben wir vorhin
gehört - heißt es: Die Sukzessivadoption gilt sofort, und
bei den Adoptionsmöglichkeiten müssen gleiche Rechte
hergestellt werden. - Das wäre die Hausaufgabe. Sie
kennen dieses Urteil, Frau Justizministerin. Deshalb ist
diese Frage entscheidungsreif.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich bin
mit der Rede des Kollegen Kauch in der Sache völlig
einverstanden gewesen. Aber dann bleibt die Frage:
Wann wird diese Sachposition tatsächlich in politisches
Handeln überführt? Es ist heute an Ihnen, diese Entscheidung zu treffen.
({2})
Es ist doch absurd, wenn wir hier im Deutschen Bundestag diskutieren und dann über die Frage abstimmen müssen, ob wir abstimmen.
Die Frage ist entscheidungsreif. Es gibt bei Ihnen unterschiedliche Positionen; das mag so sein. Die Koalition
hat in dieser Woche mit ihren Stimmen im Innenausschuss einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung bei der
Adoption abgelehnt. Da wissen wir, wohin die Sache
geht.
({3})
Entscheiden Sie sich jetzt endlich einmal! Wollen Sie
in dieser Legislaturperiode das Adoptionsrecht regeln
und zu einer Gleichstellung kommen? Dann müssen Sie
heute unserem Antrag zustimmen. Und erzählen Sie den
Leuten draußen nicht, Sie seien zwar für die Gleichstellung, würden aber immer wieder, hundertmal in der
Wahlperiode, total entschieden gegen die Gleichstellung
stimmen.
({4})
Meine Damen und Herren, der Kollege Kauder hat
laut dpa am Dienstag erklärt, die Debatte über die Lebenspartnerschaft und über die Gleichstellung sei für die
Koalition beendet.
({5})
- Ja.
({6})
- Das bezieht sich auf die Tagesordnung und darauf, ob
wir abstimmen. - Er hat die Koalitionstreue des Kollegen Brüderle gelobt, der garantiert habe, man stimme
nicht mit wechselnden Mehrheiten ab.
({7})
Im Koalitionsvertrag steht die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften. Wenn ein Koalitionsvertrag gilt,
dann gilt er sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch hinsichtlich des Verfahrens.
Bei uns war auch nicht alles einfach, aber so sind wir
miteinander umgegangen und haben die Sachen am
Ende vorangebracht. Sonst hätte es das Lebenspartnerschaftsgesetz nie gegeben. Herta Däubler-Gmelin wollte
das nie anpacken. Wir als rot-grüne Koalition haben die
Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag dann aber dank
Leuten wie Peter Struck auch gemeinsam durchgesetzt.
Volker Beck ({8})
Wenn es bei Ihnen so nicht geht, dann müssen Sie heute
dafür sorgen, dass die Abstimmung freigegeben und
endlich über diese Sache entschieden wird. Sie ist entscheidungsreif; neue Argumente sind nicht ersichtlich.
Bewegen Sie sich!
({9})
Seit 2001 liegt unser Gesetzentwurf vor, 2011 gab es
die Anhörung, und Sie wollen uns hier erzählen, Sie hätten noch Beratungsbedarf. Das ist doch ein Stück aus
dem Tollhaus.
Sie haben in dieser Frage nur noch für eines eine Gemeinsamkeit in der Koalition, nämlich dafür, dass Sie
die Abstimmung verschieben. In der Sache habe Sie
keine gemeinsame Position. Sie sind nicht handlungsfähig. Deshalb gehören Sie weg, wenn nicht die Leute, die
unserer Meinung sind, endlich sagen: Wir stimmen gemeinsam mit der Opposition für die Gleichstellung der
Lebenspartnerschaft und schaffen hier faire Bedingungen in unserem Land.
({10})
Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? - Das ist nicht der Fall.
Damit kommen wir zu den Abstimmungen.
Zunächst einmal kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 a sowie zum Zusatzpunkt 7. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/12676 und 17/12677 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 8 b. Es
geht um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12691. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die
Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Rechtsausschuss
und mitberatend an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wir stimmen nach ständiger
Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb, wer für die beantragte Überweisung stimmt. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Somit ist die Überweisung mehrheitlich beschlossen.
({0})
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 17/12691 in der Sache nicht ab.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der
Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe ({2})
- Drucksache 17/9695 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 17/12732 Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingBurkhard LischkaJörg van EssenHalina WawzyniakIngrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die ihr nicht zu folgen wünschen, den Saal zu verlassen, damit die übrigen der Aussprache folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jörg van Essen von der FDP-Fraktion
das Wort.
({4})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es geht um ein Thema, das nicht so viele
Emotionen hervorruft wie das Debattenthema, das wir
gerade behandelt haben, und trotzdem ist es eine heiß
diskutierte Frage. Es geht nämlich um die Frage der
Kronzeugenregelung.
Ich selbst komme aus der Staatsanwaltschaft und verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass meine Kollegen die Bedeutung der Kronzeugenregelung ganz außerordentlich schätzen. Es gibt insbesondere einen Bereich,
von dem man sagen muss, dass die Justiz viele ihrer Erfolge ohne eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung, nämlich in § 31 des Betäubungsmittelgesetzes,
nicht verzeichnen könnte. Deshalb kommt von meiner
Seite zunächst einmal ein klares Ja zur Kronzeugenregelung, weil sie der Schlüssel dafür ist, beispielsweise auch
in abgeschottete Kriminalität, insbesondere organisierte
Kriminalität, einzudringen.
({0})
Wir haben den § 46 b StGB schon seit einiger Zeit,
und trotzdem ist die Diskussion darüber, ob der § 46 b
so, wie er im Strafgesetzbuch steht, richtig ausgestaltet
ist, nicht beendet. Diese Diskussion findet immer wieder
statt, und ich habe auch Verständnis dafür, dass sie stattfindet. Denn das, was dem Kronzeugen gewährt wird,
nämlich Strafnachlass, ist ein Durchbrechen des Prinzips, dass es eigentlich eine schuldangemessene Strafe
geben soll. Deshalb gibt es durchaus auch Unverständnis, wenn diese Strafe beispielsweise gemildert wird und
dabei Dimensionen erreicht werden, bei denen ein objektiver Betrachter das Gefühl hat, dass Schuld und
Strafe nicht mehr in einem vernünftigen Zusammenhang
stehen.
Einer der besonderen Kritikpunkte, mit dem wir uns
auseinandergesetzt haben, ist die Frage, worüber ein
Kronzeuge berichten muss, damit er mit einer Strafreduzierung rechnen kann. Ich glaube, dass der Vorschlag,
den wir heute unterbreiten, ein guter Schritt ist - ich
glaube es nicht nur, sondern ich bin davon überzeugt -;
denn wir legen fest, dass bei demjenigen, der sich als
Kronzeuge zur Verfügung stellt, nur Angaben strafmildernd berücksichtigt werden, die mit der eigenen Tat in
Zusammenhang stehen.
({1})
Das führt dazu, dass all das, was er sagt, sich immer
auf die eigene Tat bezieht. Wenn man es wie bisher zulässt, dass er beispielsweise auch über andere Straftaten,
mit denen er selbst gar nichts zu tun hat, berichten kann,
dann kann natürlich eine Neigung bestehen, jemand anderen falsch zu bezichtigen, um so möglicherweise Vorteile für sich selbst herauszuschlagen. Es tut dem
Rechtsstaat nicht gut, wenn das von Staats wegen mit einer entsprechenden Vorschrift im Strafgesetzbuch unterstützt wird.
Daher eine klare Ansage von meiner Seite: Wir machen einen guten Schritt in Richtung mehr Rechtsstaatlichkeit. Ich freue mich deshalb, dass unser Vorschlag
heute eine breite Mehrheit findet. Die Koalition steht
hinter dem Vorschlag. Ich freue mich, dass auch die SPD
hinter dem Vorschlag steht. Das ist ein gutes Zeichen,
dass wir in einer so wichtigen Frage quer durchs Haus zu
einer gemeinsamen, vernünftigen Lösung kommen können.
Vielen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ingo
Egloff.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 2009 verabschiedete die Große Koalition das Gesetz
zur Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe, das mit der verfassungsrechtlichen Aufgabe des
Staates zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten
begründet wurde. Nach diesem Gesetz kann die Strafe
eines Kronzeugen unter der Voraussetzung gemildert
werden, dass seine Aussage tatsächlich zu einem Aufdeckungserfolg oder der Verhinderung bestimmter Straftaten führt.
Das war eine bewusst weit gefasste Regelung, die von
der damaligen Koalition getroffen wurde. Wir wollten
damals - so lange ist das noch nicht her - vor allem den
hermetisch abgeriegelten Täterstrukturen der organisierten Kriminalität zu Leibe rücken. Aber von Anfang an
war es in der Fachwelt hoch umstritten, ob diese Regelung angemessen ist und den staatlichen Strafanspruch
angemessen berücksichtigt, weil Strafen nicht nur abschrecken sollen, sondern auch den Sühnegedanken aufseiten der von einer Straftat Betroffenen berücksichtigen
sollen.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt auf eine Einschränkung dieser Kronzeugenregelung ab. Demnach soll zukünftig ein Strafnachlass nur
dann gewährt werden können, wenn sich die Offenbarung des Kronzeugen auf eine Tat bezieht, die mit seiner
eigenen Tat im Zusammenhang steht. Der Kollege van
Essen hat es eben schon dargestellt: Die Taten müssen
zwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich stammen,
aber zwischen den Taten muss ein innerer oder inhaltlicher Bezug bestehen. Wenn die eigene und die offenbarte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind,
besteht dieser innere Zusammenhang, so der Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Die Begründung der Einschränkung der ursprünglich
weiten Fassung ist unter anderem, dass anderenfalls
Strafmilderungen ermöglicht werden, die aus der Sicht
des Tatopfers nicht mehr schuldangemessen sind. Dadurch könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die
Rechtsordnung beeinträchtigt werden. Dieser Auffassung
kann man sich anschließen. Ich glaube aber, dass man das
Rechtsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger unterschätzt. Wir sollten nicht unterstellen, unserer Rechtsordnung würde nur dann vertraut, wenn sie von jedem
Täter Reue und Mitleid erzwingt.
({0})
Allerdings soll das Strafrecht auch den Opfern einer
Straftat Genugtuung verschaffen. Es wäre wohl kaum jemandem verständlich zu machen, wenn eine Aussage zu
einer Tat strafmildernd wirken soll, die tatsächlich in gar
keinem Zusammenhang zur Tat des Kronzeugen steht.
Es ist völlig undenkbar, dass man zum Beispiel denjenigen, der ein Kapitalverbrechen begangen hat, straffrei
stellt, nur weil er bei schwerem Steuerbetrug oder Ähnlichem zur Aufklärung beigetragen hat.
Man kann es auch anders formulieren: Im Rechtsstaat
gilt das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Das
Maß der Schuld kann sich nur verringern, wenn sich der
Täter von der Tat in glaubwürdiger Weise distanziert.
Wie soll das gelingen, wenn die eigene Tat mit der offenbarten Tat ohne Zusammenhang ist? Insofern ist dieser
einschränkende Ansatz nachzuvollziehen und wird von
uns ausdrücklich begrüßt.
({1})
Nachvollziehbar ist für mich das andere Argument,
dass geschlossene Täterkreise, besonders solche der organisierten Kriminalität, in vielen Fällen nur dann aufgebrochen werden können, wenn die Hinweisgeber aus
dem unmittelbaren Täterkreis stammen. Brauchbare
Zeugenaussagen können oft nur von Mittätern erwartet
werden. An der Tat unbeteiligte Dritte werden solche
Zeugenaussagen nicht in belastbarer Weise und in gleicher Art machen können. Hier wird dann aber abgewogen zwischen dem Interesse des Staates an der Strafverfolgung in bestimmten Milieus und Täterkreisen oder in
Fällen, in denen hoher Schaden für die Gesellschaft entsteht, einerseits und dem Interesse der Rechtsordnung an
einer angemessenen Bestrafung der Täter andererseits.
Wenn, wie geschehen, viele Sachverständige vor Denunziantentum und Falschaussagen warnen, müssen wir
bei der jetzigen Regelung besonders darauf achten, dass
diese Gefahr verringert wird. Natürlich ist es naheliegend, dass ein Kronzeuge andere fälschlich belastet,
wenn er sich davon Strafmilderung für sich selbst erhoffen kann. Die Distanz der eigenen zur offenbarten Tat
spielt dabei die entscheidende Rolle. Je weniger die eigene Tat in Beziehung zu dem Verbrechen steht, über
das die Aussage gemacht wird, desto größer ist die Gefahr einer Falschaussage - logisch eigentlich, weil dann
ja Beliebiges behauptet werden kann, ohne dass man
sich damit selbst belasten muss.
Allerdings sind den Möglichkeiten des Gesetzgebers,
Denunziantentum zu verhindern, Grenzen gesetzt. Es
kommt auf die Einschätzung und Handhabung durch die
Strafverfolgungsbehörden an; denn die Erfahrungen der
Staatsanwaltschaften bestätigen diese Gefahr. Aber gerade weil hier das Bewusstsein aufseiten der Staatsanwaltschaften vorhanden ist, bin ich sicher, dass wir in
der weit überwiegenden Zahl der Fälle angemessene Urteile zu erwarten haben, die dem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot Rechnung tragen. Auch die bisherigen
Urteile zeigen, dass vonseiten der Gerichte hier sehr vorsichtig agiert wird.
Es ist gut, dass der Gesetzgeber hier den zu weit gefassten Rahmen anpasst, ohne dabei den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeiten abzuschneiden, auch
in geschlossene Täterkreise einzudringen. Wir werden
deshalb diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt hat der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute steht die abschließende Beratung des Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes auf der Tagesordnung,
dessen Kern die Beschränkung der Möglichkeit zur
Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe
ist. Es geht also heute wieder einmal um eine Justierung
der sogenannten Kronzeugenregelung, die seit gut zwei
Jahrzehnten ständiger Begleiter der Strafrechtspolitik ist.
Der Journalist Jochen Bittner hat sie bereits im Jahr 2004
als „so etwas wie die große Untote der Rechtspolitik“
bezeichnet.
Umstritten ist die Kronzeugenregelung also seit eh
und je, und es ist nicht zu übersehen, dass dies zu so
mancher Wende und Volte in der Rechtspolitik in den
vergangenen gut 20 Jahren geführt hat.
Nicht zu vergessen ist im Übrigen, dass tatsächliche
Entwicklungen die Perspektive der Rechtspolitik quer
durch die politischen Lager bestimmt haben. So lief 1999
zunächst die zeitlich begrenzte Kronzeugenregelung bei
terroristischen Gewalttaten aus, nachdem die Initiative
eines Dritten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes gescheitert war.
Seither galten nur noch spezielle Kronzeugenregelungen. Nicht zuletzt die Erfahrungen bezüglich abgeschotteter Strukturen im Bereich des islamistischen Terrorismus führten im Weiteren ab 2001 zu einem erneuten
Aufflammen der Diskussion um eine allgemeine Kronzeugenregelung.
Dies mündete wiederum zu Zeiten der Großen Koalition in die zum 1. September 2009 in Kraft getretene und
seitdem geltende Fassung des § 46 b des Strafgesetzbuches, dessen Änderung wir heute beschließen wollen.
Mit dieser Vorschrift verfügt das Strafgesetzbuch derzeit
über eine allgemeine Kronzeugenregelung mit einem relativ weiten Anwendungsbereich, da zwischen der Tat
des Kronzeugen und derjenigen, zu der er Aufklärungsund Präventionshilfe leistet, kein Zusammenhang bestehen muss. Dies soll heute korrigiert werden, indem in
§ 46 b StGB die Ergänzung aufgenommen wird, dass die
Tat, zu der Aufklärungs- und Präventionshilfe geleistet
wird, „mit seiner Tat im Zusammenhang“, also mit der
Tat des Kronzeugen, stehen muss.
Im Kern ist dies ein minimalinvasiver rechtspolitischer Normeneingriff, dessen praktische Relevanz zu
Recht infrage stehen mag, der aber rechtspolitisch keineswegs bedeutungslos ist. Zunächst einmal gilt bei allem Streit über die Kronzeugenregelung in den vergangenen Jahren: Wir als CDU/CSU und wir als christlichliberale Koalition stehen zur Notwendigkeit einer allgemeinen Kronzeugenregelung. Durch die heute zu beschließende Konnexitätsregelung in § 46 b StGB rücken
wir von dieser Position auch keinen Schritt ab.
Die Rechtslage vor der Einführung der allgemeinen
Kronzeugenregelung bot eindeutig nicht genügend Anreiz, Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten zu leisten. Gerade die von hoher Konspirativität
gekennzeichneten Kriminalitätsbereiche wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und schwere Wirtschaftskriminalität sind wegen ihrer Abschottung den gängigen
Ermittlungs- und Aufklärungsmethoden eben oftmals
nicht zugänglich. Hier braucht es zusätzliche Anreize,
um überhaupt in die abgeschotteten Strukturen nicht
oder nur schwer aufklärbarer Kriminalität eindringen zu
können.
Mit einer allgemeinen Kronzeugenregelung steht zumindest ein rechtlich definiertes Instrument für den
Umgang mit der Kooperationsbereitschaft und Präventionshilfe zur Verfügung. Eine allgemeine Kronzeugenregelung, an der wir trotz der heute zu beschließenden
Änderung festhalten, ist gegenüber einer Vielzahl von
bereichsspezifischen Kronzeugenregelungen, wie sie das
Strafrecht vor der Einführung von § 46 b des Strafgesetzbuches kannte, eindeutig vorzuziehen; denn zwar
konnten durch die bisherigen bereichsspezifischen Regelungen Aufklärungs- und Präventionshilfe durchaus
strafmildernd gewertet werden. Aber zum einen wird der
Anreiz für kooperationsbereite Straftäter durch eine allgemeine Vorschrift größer, und zum anderen ist der Anwendungsbereich durch die fehlende Bindung an bestimmte Deliktgruppen wesentlich weiter. Daher ist es
richtig, eine allgemeine Kronzeugenregelung im Strafgesetzbuch verankert zu halten.
Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings - und das
ist auch ein rechtsdogmatisch beachtliches Argument -,
dass eine Kronzeugenregelung die Gefahr in sich trägt,
den Weg hin zu einem kooperativen und konsensualen
Strafverfahren zu forcieren. Der Rechtsanwalt Dr. König
hat in einem Beitrag im Strafverteidiger 2012 dazu formuliert, dass die Sachverhaltsermittlung kontaminiert
und die Wahrheitsfindung desavouiert werde. Dem ist
zunächst entgegenzuhalten, dass die Entwicklung hin zu
Absprachen und Deals auch ohne die Diskussion über
eine Kronzeugenregelung stattfindet und in der rechtspolitischen Diskussion steht. Das Bundesverfassungsgericht wird sich in Kürze dazu äußern.
Jedenfalls ist aber eine gesetzliche Kronzeugenregelung, um es mit den Worten des Strafrechtskommentars
Kindhäuser zu sagen, „insoweit zu begrüßen, als sie einem Wildwuchs entgegenwirkt, da in der Justizpraxis
auch ohne gesetzliche Ermächtigung zweifelhafte Zeugen-Privilegierungen nach dem Kronzeugenmuster vorgenommen werden. Etwa wird die Vorschrift des § 154
StPO herangezogen, um Tatbeteiligte unter Versprechen
von weitgehenden Strafmilderungen zur Kooperation zu
veranlassen.“ Eine klar definierte gesetzliche Regelung
ist da aus unserer Sicht allemal hilfreicher.
Soweit eine Kronzeugenregelung grundlegender Kritik aus rechtssystematischen und rechtsdogmatischen
Gründen begegnet, sind diese Bedenken grundsätzlich
ernst zu nehmen; denn natürlich bedeutet eine allgemeine Kronzeugenregelung einen Eingriff in das Legalitäts- und Öffentlichkeitsprinzip ebenso wie in den
Gleichheits- und Schuldgrundsatz. Aber man muss auch
festhalten, dass dem Gesetzgeber hier eine Abwägung
der unterschiedlichen Interessen zusteht. Grundsätzlich
besteht die Möglichkeit, Strafmilderungsregelungen auszugestalten, sofern der Schuldrahmen insgesamt nicht
unterschritten wird.
Bedenklich würde eine Regelung dort, wo - ich zitiere nochmals Kindhäuser - „das auf Gerechtigkeit ruhende Fundament des Strafrechts durch Regelungen und
Urteile gefährdet wird, die von der Allgemeinheit wegen
massiver Schuldunterschreitung nicht mehr als angemessen wahrgenommen werden können.“ Hier ist also eine
Grenze für den Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu ziehen. Diese Grenze wird indessen vom Gesetzgeber auch gesehen und wahrgenommen.
In der Abwägung zur wesentlichen Aufgabe des Staates, schwere Straftaten aufzuklären und zu verhindern,
und im Interesse einer möglichst umfassenden Wahrheitsfindung im Strafverfahren ist es zu rechtfertigen, im
Rahmen des gerade aufgezeigten Gestaltungsspielraums
eine noch schuldangemessene Bestrafung zu unterschreiten. Insofern ist auch nicht a priori von einer „Desavouierung der Wahrheitsfindung“ auszugehen. Im Gegenteil: Das Instrument der Kronzeugenregelung kann
und soll im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichkeiten
gerade auch der Wahrheitsfindung dienen.
Zu Recht ist aber die Frage gestellt worden, ob eine
gänzliche Abkoppelung der Kronzeugentat und der damit einhergehenden Strafmilderung von der Tat, zu der
Aufklärungs- oder Präventionshilfe geleistet wird, den
Ausgestaltungsspielraum für die Schuldunterschreitung
nicht doch schon überdehnt. Hier fehlt jeder Konnex
zwischen Aufklärungshilfe und abzuurteilender Straftat.
Ein Strafmilderungsinteresse ist hier in der Tat schwer
zu begründen, da die Tatschuld durch das Nachtatverhalten jedenfalls in keiner Weise gemindert wird.
Mit der heute zu beschließenden Ergänzung wird damit in rechtssystematischer und rechtsdogmatischer Hinsicht ein Korrektiv in § 46 b des Strafgesetzbuches eingefügt, das die vertretbare Grenze der Möglichkeit zur
Schuldunterschreitung klar formuliert und damit letztlich zur dogmatischen Stärkung der Kronzeugenregelung beiträgt.
Hinsichtlich der praktischen Folgen - dies sei zum
Abschluss jedenfalls auch angeführt - ist die Notwendigkeit dieses Korrektivs indessen schwer zu beurteilen.
In der Anhörung des Rechtsausschusses wurde dazu
von Sachverständigenseite die Frage formuliert: Was
passiert, wenn nichts passiert? Sie wurde auch beantwortet, und zwar mit: Nichts. - Die rein praktische Relevanz
der heutigen Begrenzung mag sehr überschaubar sein;
denn in der täglichen gerichtlichen Praxis spielt die
Frage der Anwendung der Kronzeugenregelung bei der
Offenbarung von Taten, die mit der verfahrensgegenständlichen Tat in keinem Zusammenhang stehen, offenkundig nur eine untergeordnete Rolle. So gibt es wohl
nur eine einzige einschlägige Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu diesem Thema.
So ist die heutige Entscheidung des Gesetzgebers zur
Ergänzung von § 46 b des Strafgesetzbuches aus praktischer Sicht betrachtet vielleicht eher als Non-liquet-Entscheidung zu charakterisieren; in rechtsdogmatischer
Hinsicht hat sie indessen ihre Berechtigung, weshalb wir
heute in zweiter und dritter Lesung der Änderung der allgemeinen Kronzeugenregelung zustimmen werden.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Halina Wawzyniak.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hier als sperriger Titel, nämlich „Entwurf eines
… Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der
Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und
Präventionshilfe“, daherkommt, ist eine Neuregelung
der sogenannten Kronzeugenregelung. Kronzeugen
- das muss man vielleicht noch einmal erklären - sind
Personen, die sich als mutmaßliche Straftäter und Straftäterinnen kooperationsbereit zeigen, Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten zu leisten.
Die derzeitige, durch die schwarz-rosa Koalition eingeführte Regelung erlaubt die Anwendung der Kronzeugenregelung auch, wenn zwischen der Tat des Kronzeugen und der Tat, bei der er Hilfe zur Aufklärung oder
Verhinderung leistet, kein Zusammenhang besteht. Und
damit sind wir beim Grundproblem jeglicher Kronzeugenregelung.
Die Kronzeugenregelung ist nichts anderes als ein
Handel zulasten der Gerechtigkeit. Straftäter und Straftäterinnen bekommen Vergünstigungen, weil sie bei der
Aufklärung von Straftaten oder der Verhinderung von
Straftaten behilflich sind. Damit wird aber mit dem
Schuldprinzip gebrochen. Das Schuldprinzip nämlich
sieht eine angemessene Strafe für eine begangene Straftat vor. Das Verhalten des mutmaßlichen Straftäters nach
der Tat kann mit der Regelung des § 46 Abs. 2 im Rahmen der Strafzumessung bereits berücksichtigt werden.
Wenn es darüber hinausgehende Privilegierungen im
Hinblick darauf gibt, dass die Strafe für eine begangene
Straftat davon abhängig gemacht wird, dass jemand im
Hinblick auf eine andere Straftat einen Beitrag oder
Hilfe zur Aufklärung leistet, hat das nichts mehr mit
schuldangemessener Strafe zu tun. Die Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung schwerer Straftaten ist etwas,
was gefördert und unterstützt gehört. Aber mit der Kronzeugenregelung findet ein Deal zulasten der Gerechtigkeit statt, und das ist für uns nicht hinnehmbar.
({0})
Was ist eigentlich das Denken, das dahintersteht? Jemand, der tief in das kriminelle Milieu verstrickt ist und
folglich überhaupt nur deshalb interessante Kenntnisse
besitzen kann, wird gegenüber demjenigen bevorzugt,
der nur einmal straffällig geworden ist und allein schon
deshalb keine Aufklärungshilfe zu weiteren Straftaten
leisten kann.
Die Kronzeugenregelung verletzt nicht nur das
Schuldprinzip, sie verletzt auch das Legalitätsprinzip
und das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Da die
Hilfeleistung des Beschuldigten bereits vor Eröffnung
des Hauptverfahrens, also im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, erfolgen muss, wird auch das Öffentlichkeitsprinzip berührt, und das Zustandekommen der
Strafe bleibt letztlich intransparent.
Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass eine
Kronzeugenregelung erforderlich ist, um Straftaten aufzuklären oder zu verhindern.
Darüber hinaus - um bei der grundsätzlichen Kritik
zu bleiben - wird mit der Kronzeugenregelung auch in
die Wahrheitserforschung des Gerichts eingegriffen. Die
Glaubwürdigkeit eines Zeugen, der die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen will, ist mindestens angekratzt; denn natürlich versucht er, seine Aussagen so zu
machen, dass er eine deutlich geringere Strafe erfährt.
Ich habe bereits darauf verwiesen: Die Kronzeugenregelung ist überflüssig; denn der § 46 Abs. 2 erlaubt, das
Nachtatverhalten bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.
Nun ist offensichtlich aufgefallen, dass die Kronzeugenregelung ein Problem darstellt. Statt nun aber diesen
unwürdigen Deal ganz abzuschaffen, wird versucht, den
Handel etwas zu verringern. Mit der neuen Regelung
- das ist hier schon gesagt worden - wird versucht, eine
Beziehung zwischen der Tat des Kronzeugen und der
Tat, zu der er Hilfe zur Aufklärung leistet, herzustellen.
Das ist besser als nichts, reicht aber nicht aus, um die
Linke für die Zustimmung zu gewinnen.
Die Zustimmung ist uns auch deshalb nicht möglich,
weil mit der Änderung des § 31 Betäubungsmittelgesetz
die Kronzeugenregelung im Bereich Drogenkriminalität
noch ausgeweitet wird. Ich verkneife mir an dieser Stelle
den Hinweis auf die Notwendigkeit einer anderen Drogenpolitik. Mit der Kronzeugenregelung bekommen Sie
das Problem nicht in den Griff.
({1})
Ich komme zum Schluss. Wir Linke werden einer
Kronzeugenregelung - egal ob klein oder groß - nicht
zustimmen; denn ein Deal zulasten der Gerechtigkeit ist
mit uns nicht zu machen.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Ingrid Hönlinger von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
kommt selten vor, dass die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, die Strafverteidigervereinigungen und der Deutsche Richterbund einer
Meinung sind. 2009, bei der Einführung der Kronzeugenregelung in ihrer weiten Fassung, waren sie es.
Die Kronzeugenregelung beinhaltet - das wissen wir
alle hier - Straferleichterungen für Straftäter. Richter
dürfen die Strafe des selbst straffälligen Kronzeugen
mildern oder ganz von der Strafe absehen, wenn dieser
zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten beiträgt.
Die Rechtspraxis hat im Jahr 2009 geschlossen gesagt: Die Kronzeugenregelung ist ein Bruch in unserem
Rechtsstaatssystem, und wir brauchen sie nicht. - Auch
wir Grünen waren und sind dieser Rechtssauffassung.
({0})
Heute begrüßen Anwaltskammer und Verbände die
von der Bundesregierung vorgeschlagene Minikorrektur
der Kronzeugenregelung. Auch wir Grünen sagen: Das
ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings sagen
wir auch: Es ist nur ein Schritt - ein Schritt, der von einem Quantensprung weit entfernt ist.
Eingeführt werden soll das Konnexitätsprinzip. Zukünftig soll ein Kronzeuge nur noch dann eine Straferleichterung erhalten können, wenn zwischen seiner eigenen Straftat und der Tat, zu der er Aufklärungs- oder
Präventionshilfe leistet, ein sachlich-inhaltlicher Zusammenhang besteht.
Möglicherweise wird die Zahl der Falschbelastungen
Dritter ein wenig zurückgehen. Ausgeschlossen werden
Denunziationen zum eigenen Vorteil im Strafverfahren
jedoch nicht. Nach wie vor wird im Rahmen der Kronzeugenregelung das Motto gelten: Mehr ist mehr. Je
mehr Anschuldigungen der Kronzeuge gegenüber anderen Personen macht, umso mehr Strafrabatt erhält er.
Dem steht kein ausreichender Nutzen gegenüber. Im
Verfahren gegen die Person, die der Kronzeuge angeschuldigt hat, sind die Aussagen als Beweismittel wegen
mangelnder Belastbarkeit häufig problematisch. Zu diesem Zeitpunkt haben sie aber ihren Zweck, nämlich
Strafmilderung für den Kronzeugen zu erreichen, bereits
meistens erfüllt. Der vermeintliche Kronzeuge läuft wenig Gefahr, wegen falscher Verdächtigung verurteilt zu
werden.
Wenn überhaupt die Wahrheit ans Licht kommt, so
wird doch häufig der Nachweis scheitern, dass der Kronzeuge seine Aussage wider besseres Wissen gemacht
hat. Darauf wird der Kronzeuge setzen, zumal die Versuchung, mit der der Staat lockt, nämlich Strafmilderung
oder Absehen von Strafe, groß ist.
Die Kronzeugenregelung verstößt darüber hinaus gegen zentrale Prinzipien unseres Rechtsstaats. Zu nennen
sind das Legalitätsprinzip, das Gleichheitsgebot sowie
das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Polizei
oder Staatsanwaltschaft, manchmal sogar Verfassungsschutzbehörden suchen Aufklärungserfolge, die leider
nicht immer nur tatsächlicher, sondern häufig auch nur
vermeintlicher Art sind. Dabei machen sie Straftätern
die Zusage, sie vor einer schuldangemessenen Strafe zu
schützen. Dem Gericht wird zugemutet, als Notar solche
Geschäfte zu beglaubigen und auf eine Überprüfung der
Wahrhaftigkeit der Kronzeugenaussage ganz oder zum
Teil zu verzichten, weil die Einigung zwischen Straftäter
und Staatsanwaltschaft bereits vor der Hauptverhandlung unter Dach und Fach gebracht werden muss.
Ich wiederhole, was wir Grünen 2009 bei der Einführung der Kronzeugenregelung gesagt haben: Es gibt keinen Bedarf für eine solche Regelung.
({1})
Den Problemen, die es bei der Prävention zum Schutz
der Bevölkerung, bei der Aufklärung von Straftaten sowie bei einer effektiven und schnellen Bearbeitung angeklagter Straftaten gibt, müssen die Länder mit einer
ausreichenden Personal- und Sachausstattung der Ermittlungsbehörden begegnen. Die Flucht in die Kronzeugenregelung ist keine Lösung. Die wenigen tatsächlich durch Kronzeugen erzielten Aufklärungserfolge
rechtfertigen nicht den hohen Verlust an Legitimität, die
ein rechtsstaatliches Strafverfahren aber zwingend
braucht.
So bleibt der Gesetzentwurf der Bundesregierung ein
kleiner Schritt in die richtige Richtung. Er verpasst aber
die Chance einer konsequenten und mutigen Korrektur
dieses Fremdkörpers im Strafrecht. Wir Grünen werden
uns deshalb bei der Abstimmung enthalten.
({2})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur
Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12732, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/9695 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel
Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Für eine bessere Bildungssituation weltweit
- Drucksachen 17/6484, 17/11492 Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Bärbel KoflerJoachim Günther ({2})Niema MovassatUte Koczy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Harald Leibrecht für die
FDP-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der SPD-Fraktion zur Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit liest sich eigentlich gar nicht
schlecht; nur ist der Antrag mittlerweile in weiten Teilen
überholt.
Herr Minister Niebel und das BMZ haben den Bereich Bildung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen
zu einem Schlüsselsektor der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ausgebaut. Wir haben die Strategie
„Zehn Ziele für mehr Bildung“ entwickelt, die auf einem
ganzheitlichen Bildungsansatz basiert und die Entwicklung aller Bildungsbereiche in den Blick nimmt: Über
die Grundbildung hinaus sollen die Bildungssysteme in
den Partnerländern in ihrer Gesamtheit gestärkt werden.
Mit der Bildungsstrategie hat sich das BMZ konzeptionell neu aufgestellt und hat den Worten auch Taten
folgen lassen: Die Bildungsausgaben wurden sukzessive
erhöht. Die Grundbildungsausgaben sind 2011 gegenüber 2010 um 12,3 Prozent, auf 158 Millionen Euro, gestiegen. Den Umfang der Bildungszusagen für Afrika
haben wir, wie angekündigt, verdoppelt. Auch die von
der SPD-Fraktion geforderte Erhöhung des Beitrags zur
Global Partnership for Education ist bereits umgesetzt.
Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2011 ODA-Mittel in
Höhe von 1,3 Milliarden Euro für Bildung in Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt; diese Summe ist
mit dem Gesamtbudget des Bundesumweltministeriums
vergleichbar. Das zeigt, dass Deutschland seine internationalen Verpflichtungen sehr ernst nimmt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Analyse der Herausforderungen, die die SPD-Fraktion in ihrem Antrag vornimmt, durchaus teilen. Neuere Zahlen
der Vereinten Nationen zeigen, dass im Jahr 2010
61 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur
Schule gingen. In Subsahara-Afrika betraf dies ein Viertel der Kinder im Grundschulalter.
Trotz der weiterhin riesigen Herausforderungen gibt
es aber auch Erfolge - wir sollten hier unser Licht nicht
unter den Scheffel stellen -: Die Erreichung des Ziels einer Grundbildung für alle ist in greifbare Nähe gerückt.
Heute ist eine Einschulungsrate von 90 Prozent erreicht,
und 90 Prozent der eingeschulten Kinder schließen die
Grundschule ab. Selbst das Sorgenkind SubsaharaAfrika hat große Fortschritte gemacht. Bis 2010 ist die
Einschulungsrate trotz des hohen Bevölkerungswachstums von 58 auf 76 Prozent gestiegen.
({1})
Es ist ein Meilenstein, dass 2012 die Geschlechtergleichheit beim Grundschulbesuch erreicht wurde. Dies
ist eine wichtige Voraussetzung zur Erreichung des Millenniumsentwicklungsziels 3, nämlich der Gleichstellung
der Geschlechter und der Stärkung der Frauenrechte.
Trotzdem darf uns die Erreichung dieser Zielmarke nicht
darüber hinwegtäuschen, dass Mädchen aus armen Familien, aus dem ländlichen Raum und solche, die Minderheiten angehören oder die mit einer Behinderung leben, immer noch zu wenig von diesen Entwicklungen
profitieren. Gerade bei der Inklusion benachteiligter
Gruppen kann und muss die Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag leisten.
In Kenia hilft die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel beim Aufbau eines Stipendiensystems, damit Jugendliche aus Armenvierteln eine Chance
auf eine Sekundarbildung haben.
({2})
Die steigende Zahl der Grundschulabsolventen erhöht
aber auch den Druck auf die Sekundarbildung. Meiner
Meinung nach sollte auch Deutschland dieser Entwicklung Rechnung tragen. Wir müssen die finanziellen Mittel für diesen Bereich deutlich erhöhen. Noch immer haben viel zu wenig Kinder Zugang zu Sekundarbildung.
Sekundarbildung ist aber der Schlüssel zu einer guten
Beschäftigungschance und einer akademischen Ausbildung und damit unverzichtbarer Teil eines Bildungssystems.
Deutschland ist der mit Abstand größte Geldgeber im
Bereich der beruflichen Bildung. Viele Länder, Industriestaaten eingeschlossen - die Vereinigten Staaten zum
Beispiel -, sehen Deutschland als Vorbild im Bereich der
dualen Ausbildung. Deutschland hat hier große Expertise und unterstützt viele Partner beim Aufbau solcher
Strukturen. Auch die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und die deutschen Schulen im Ausland leisten
hier einen wichtigen Beitrag.
Zu guter Letzt möchte ich einen Punkt erwähnen, bei
dem wir nicht mit der Opposition übereinstimmen. Zwar
sieht auch meine Fraktion den Staat in der Hauptverantwortung für die Bereitstellung von Bildung. Die Realität
sieht aber leider oft anders aus. In vielen Teilen der Welt
und insbesondere in Krisenregionen versagt oftmals der
Staat. Hier spielen private und kirchliche Träger sowie
Hilfsorganisationen eine unersetzliche Rolle. Diese
nichtstaatlichen Träger werden in Ihrem Antrag jedoch
mit keinem Wort erwähnt. Ich denke, dass gerade diese
freien Bildungsträger nicht nur unsere Anerkennung und
unseren Dank verdienen, sondern auch unsere politische
Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dr. Bärbel Kofler.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Leibrecht, ich finde es schade, dass Sie unserem Antrag nicht zustimmen können. Sie haben ja geschildert, wie die Situation um die Bildung weltweit bestellt ist: 61 Millionen Kinder sind ohne Grundbildung.
Auch die weiteren Zahlen - 70 Millionen Jugendliche
ohne Zugang zu Bildung; 775 Millionen Erwachsene
sind Analphabeten, zwei Drittel davon Frauen - rechtfertigen, dass wir uns wesentlich intensiver dem Thema
Bildung zuwenden, wie das von Ihrer Seite hier auch geschehen ist.
({0})
Ich finde es spannend, wenn Sie im Rahmen der
ODA-Quote Bildungsausgaben von 1,3 Milliarden Euro
in den Raum stellen. Wir können ja durchaus darüber
diskutieren, ob man hierbei Studienplatzgebühren anrechnen soll oder nicht. Aber wenn Sie hier in den Raum
stellen, das BMZ hätte in diesem Bereich 1,3 Milliarden
Euro finanziert, dann muss man einfach zur Kenntnis
nehmen, dass Studienplatzgebühren den überwältigenden Anteil dieser Summe ausmachen.
Um das einmal an einem Beispiel zu illustrieren: Im
Jahr 2010, in dem Jahr, in dem die Ausgaben für die
Grundbildung im Haushalt am höchsten waren, was ich
durchaus anerkenne, wurden 110 Millionen Euro für die
Grundbildung aus dem Haushalt des BMZ finanziert.
Aber allein in diesem Jahr wurden Studienplatzkosten
für chinesische Studenten in Höhe von über 140 Millionen Euro finanziert. Wir müssen die Dinge einfach einmal in eine Gewichtung bringen, wenn wir sie auf die
grundlegenden Probleme der Menschen zurückführen
wollen, nämlich das Menschenrecht auf Bildung und den
Zugang zu diesem Menschenrecht.
({1})
Leider haben Sie nichts zum Thema „Qualität in der
Bildung“, einem wesentlichen Punkt in unserem Antrag,
gesagt. Ich möchte dieses Thema noch einmal herausstellen. Gerade für Qualität, egal ob in der Grundbildung, ob in der frühkindlichen Bildung, in der Sekundarbildung oder in der beruflichen Bildung, brauchen wir
- da sind wir uns doch eigentlich immer alle einig gewesen - einen wesentlichen Mittelaufwuchs. Dieser Bereich ist unterfinanziert. Wir wissen, es fehlen 2 Millionen Lehrerstellen weltweit, um überhaupt einmal einen
Zugang zu Bildung für alle ermöglichen zu können. Wir
wissen, dass jedes Jahr fast 250 Millionen Kinder die
Schule nach vier Jahren Grundbildung verlassen und
nicht lesen und schreiben können. Das muss uns doch
sorgen und zu Anstrengungen beflügeln, die ganz anders
sind als das, was wir bisher gemeinsam miteinander gemacht haben. Dazu hätte ich von Ihrer Seite nach fast
vier Jahren Regierung schon gerne etwas gehört.
({2})
Dialog mit Partnerländern ist, finde ich, ein wichtiges
Thema. Dieses Thema haben wir auch in unserem Antrag behandelt. Es geht doch gerade darum, die Partnerländer zu unterstützen, Bildung wirklich in den Mittelpunkt stellen zu können. Die Institution „Global
Partnership for Education“ schreibt, dass in den nächsten
zehn Monaten 32 Länder einen Antrag auf Begleitung
im Sektor Bildung stellen wollen. Sie wollen den Bildungsbereich in ihren Ländern ändern, um wirklich zu
Verbesserungen kommen zu können. Das sind Dinge, die
wir gerade jetzt finanziell, mit Know-how, konzeptionell
und mit Fachleuten unterstützen müssen. Dazu hätte ich
an dieser Stelle gerne etwas von Ihnen gehört.
({3})
Es geht dabei auch darum - ich komme zum Thema
„Rolle des Staates im Bildungssektor“; Sie haben es angesprochen -, Partnerländer im Dialog mit unserer gesamten Entwicklungspolitik dabei zu unterstützen,
selbsttragende Bildungssysteme finanzieren und aufbauen zu können. Ich schätze das Engagement vieler
Nichtregierungsorganisationen in diesem Bereich sehr.
Unsere Aufgabe als Entwicklungspolitiker ist es, die
Rolle des Staates in den Mittelpunkt zu stellen und einen
Beitrag dazu zu leisten, dass auch in ärmeren Ländern
tragfähige, nachhaltige Bildungssysteme finanziert werden können, damit die Menschen dort dauerhaft, also
über Generationen hinweg, Zugang zu Bildung haben.
({4})
Dazu gehören Dinge, die nicht gerade ganz oben auf
der Agenda dieses Entwicklungsministeriums stehen.
Dazu gehören Dinge wie internationale Verständigung.
Man sollte nicht nur das deutsche Fähnchen irgendwo
draufstecken, sondern wirklich schauen, wie wir in einer
internationalen Gebergemeinschaft diesem Anliegen
Rechnung tragen können.
Wir haben in unserem Antrag weitere Punkte behandelt. Wir haben etwa das Thema ILO-Kernarbeitsnormen sehr bewusst in unseren Antrag aufgenommen, weil
wir wissen, was für ein großes Hindernis es für viele
Menschen, für viele Familien ist, dass ihre Kinder, die
arbeiten - in vielen Ländern ist das leider der Fall, auch
weil sie es müssen -, vom Zugang zu Bildung abgehalten werden. Es ist uns ein ganz dringendes Anliegen
- das ist auch eine Aufgabe der Bundesregierung, insbesondere des Entwicklungsministeriums -, hier voranzukommen und Akzente zu setzen, um Kinderarbeit weltweit zu ächten und zu verhindern.
({5})
Zum Thema „Mädchen- und Frauenbildung“ könnte
man sicher auch noch vieles sagen. Dass es nicht immer
ganz oben auf der Agenda dieses Ministeriums war, haben wir in vielen Debatten in den letzten Jahren festgestellt.
Ich möchte noch etwas zum Zeitpunkt der Einbringung unseres Antrags sagen. Sie haben so gönnerhaft gesagt: Da kommt die SPD mit einem überholten Antrag. Wissen Sie, wann wir diesen Antrag im Bundestag eingebracht haben? Im Juli 2011! Dass wir ihn erst heute
debattieren, dass erst seit November letzten Jahres der
Bericht des Ausschusses vorliegt, ist beileibe nicht der
Fehler der Sozialdemokraten oder der Opposition. Diesen Schuh müssen Sie sich selbst anziehen.
({6})
Ich will etwas zur Zeitschiene Ihrer Bildungsstrategie
sagen. „BMZ-Bildungsstrategie 2010-2013“ nennt sie
sich im Untertitel. Vorgelegt wurde sie 2012. Da waren
zwei Drittel des Zeitraumes, den sie umfassen soll, offensichtlich schon vorbei.
({7})
Ist Ihre Strategie nun der große Wurf? Ich würde sagen: Nix G’wiss woaß ma net; so heißt es auf Bayerisch.
Genaues steht dort nicht. Darin stehen ein paar gute Formulierungen von Zielen, die wir teilen: Bildung ganzheitlich fördern, berufliche Bildung stärken. Das alles
kann man unterschreiben. Das Rad muss ja auch nicht
immer wieder neu erfunden werden; das ist ganz klar.
Wenn man sich ansieht, wie vollmundig Sie gestartet
sind, indem Sie das Thema Bildung zum Schlüsselfaktor
der Entwicklungszusammenarbeit gemacht haben, und
wie Sie nach vier Jahren gelandet sind, dann muss man
wieder einmal das Bild bemühen: als Tiger gestartet und
als Bettvorleger gelandet.
({8})
Zum Thema Grundbildung. Sie haben zu Recht gesagt: Hier gab es einen Aufwuchs der Mittel. Das gebe
ich gerne zu. Darüber freue ich mich auch. Ich freue
mich auch, dass es insgesamt im Bildungsbereich einen
Mittelaufwuchs gegeben hat. Zur Ehrlichkeit gehört
dazu, dass mit dem Aufwuchs 2008 begonnen wurde.
Der größte Sprung war 2008/2009. Zu diesem Zeitpunkt
hatten Sie noch nicht wirklich die Federführung für das
Ministerium. Aber bitte, sei es drum. Hier muss man
nicht so kleinlich sein. Hauptsache, ein Mittelaufwuchs.
Wenn aber der Höhepunkt bei der Grundbildung im
Jahr 2010 war und die Mittel für die Grundbildung in
den Haushalten 2011 und 2012 wieder sanken, obwohl
wir alle wissen, dass hier gehandelt werden muss, dann
ist dies für mich unbegreiflich; das muss ich an dieser
Stelle sagen. War das im Jahr 2010 nur ein Strohfeuer?
Wie bewerten Sie Ihr eigenes Handeln?
Was machen Sie jetzt? Auf die Neuauflage dieser
Frage reagieren Sie mit der Bildung von Arbeitskreisen
und der Formulierung von Strategiepapieren. Im Herbst
letzten Jahres gab es wieder einmal die Einsetzung eines
Arbeitskreises zum Thema „Positionspapier Grundbildung“. 2012 haben Sie Ihr Konzept zur „Bildungsstrategie 2010-2013“ vorgelegt; das muss man im Kopf
haben. Dieser Arbeitskreis soll den Input für ein Positionspapier liefern? Wir wissen aber doch, um was es
geht. Der UNESCO-Weltbildungsbericht sagt es uns; der
Atlas der Globalisierung sagt es uns in seinem Kapitel
über Bildung. Wir wissen, dass wir die betroffenen Länder institutionell stärken müssen. Wir wissen, dass wir
die Bildungsstrategien in diesen Ländern stärken müssen. All dies ist bekannt. Wir wissen, dass der Sektor
Bildung weltweit unterfinanziert ist. Konzeptionelle und
finanzielle Unterstützung ist also nötig. An dieser Stelle
brauche ich keinen neuen Arbeitskreis und keine neuen
Positionspapiere. Ich brauche Handeln. Das vermisse
ich.
({9})
Ich komme zum Schluss. Sie wollten sich an diesem
Strategiepapier und dessen Umsetzung messen lassen.
Auf der letzten Seite Ihres Strategiepapiers unter der
Überschrift „Unsere Überzeugung: Mehr Bildung ist
möglich“ heißt es vollmundig:
An der Erreichung unserer strategischen
„Zehn Ziele für mehr Bildung“ wollen wir uns
messen lassen.
Ich finde, diese Chance hat der Wähler am 22. September. Ich hoffe, er wird sie wahrnehmen.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat,
Frau Kofler, es ist anderthalb Jahre her, dass der Antrag
der SPD zum Bereich der Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit zum ersten Mal in diesem Hause diskutiert wurde. Damals waren wir uns einig, dass zahlreiche
Aspekte der Bildung wesentliche Bestandteile in unserer
Entwicklungszusammenarbeit werden müssen. Über
diese Aspekte haben wir uns auch ausgetauscht.
Wir waren uns auch darüber einig, dass der kürzeste
und schnellste Weg aus der Armut der Schulweg ist.
Aber dieser Schulweg darf nicht beim Besuch der
Grundschule enden, sondern er muss weitergehen. Lebenslanges Lernen muss ein wichtiger Bestandteil werden.
Mittlerweile wartet der neue Weltbildungsbericht der
UNESCO mit neuen Zahlen auf. In dem alten Bericht,
den Sie in Ihrem Antrag zitiert haben, ging man von
67 Millionen Kindern aus, die keine Grundschulbildung
haben. 61 Millionen sind es heute; damit hat sich die Situation leider nur wenig, aber immerhin, verbessert. Auf
der anderen Seite sagt der Bericht auch, dass in der Zeit
von 2008 bis 2010 die Grundbildung in der Gesamtheit
zum Stillstand gekommen ist. In einigen Ländern gibt es
zwar Fortschritte, aber in anderen nicht.
Dass 61 Millionen Kinder keine Grundschule besuchen, ist besorgniserregend. Umso besorgniserregender
ist auch, dass von 650 Millionen Kindern im Grundschulalter 120 Millionen Kinder nicht die vierte Klasse
erreichen. Weitere 130 Millionen Kinder erwerben in
dieser Schulzeit nicht genügend Basiswissen, um richtig
lesen und schreiben zu können. Diese Zahl hat für mich
eine erschreckende Aussagekraft. Erschreckend ist sie
deswegen, weil die Akzeptanz der Eltern gegenüber der
Bildung der Kinder nachlassen wird. Sie werden sich
fragen: Warum schicke ich die Kinder zur Schule, wenn
kein Bildungsfortschritt zu verzeichnen ist?
Der zweite erschreckende Aspekt für mich ist, dass
sich diese Defizite bis in das Erwachsenalter fortsetzen
werden. Wir müssen bedenken, dass den Menschen damit im Grunde genommen die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung genommen wird, sie werden kein
selbstbestimmtes Leben führen können. Für die Entwicklungsländer bedeutet das, dass sie selbst in ihrer
Entwicklung nicht vorankommen.
({0})
Frau Kofler, Sie haben die Zahl genannt: Rund
750 Millionen Erwachsene sind Analphabeten, zwei
Drittel davon sind Frauen. Daher ist es erfreulich, dass
zum ersten Mal in der Geschichte des BMZ eine Bildungsstrategie vorgelegt wurde - das BMZ ist immerhin
schon 50 Jahre alt - und dass in dieser Strategie Bildung
als Schwerpunkt formuliert wurde.
({1})
Ich halte das Strategiepapier „Zehn Ziele für mehr
Bildung“ des Ministeriums für gelungen, weil es das
lebenslange Lernen als strategischen Schlüssel für
Entwicklung umfassend stärkt. Sachlich und an den
drängenden Problemen orientiert, formuliert die Strategie, was unter einer inklusiven und ganzheitlichen Bildungspolitik zu verstehen ist.
({2})
In den Mittelpunkt gerückt werden neben der frühkindlichen, der Grund- und Sekundarbildung auch die
berufliche Bildung - was in der Vergangenheit nachgelassen hatte; auf Reisen werden wir immer wieder darauf
angesprochen - sowie die Hochschul- und die wissenschaftliche Bildung.
Qualität steht dabei immer im Mittelpunkt - auch das
ist in die Strategie eingeflossen -: Sowohl gute Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen als auch gute Arbeitsbedingungen - darum zähle ich auch die Arbeitsbedingungen der Kinder, nämlich der Schülerinnen und
Schüler auf - werden genannt. Adäquate Bildungsinhalte und gutes Bildungsmanagement gehören genauso
dazu wie eine Evaluierung und Wirkungskontrolle von
Bildungsangeboten. Neue und innovative Methoden
werden in den Projekten zur Anwendung kommen.
Vor allem Ihre Beschwerde, Frau Dr. Kofler, dass die
Veröffentlichung der Strategie so lange gedauert hat,
kann ich nicht nachvollziehen. Bei der Erarbeitung der
Strategie hat das Ministerium zum ersten Mal einen
neuen Weg gewählt. Es hat den Weg gewählt, alle
Akteure in der Entwicklungscommunity einzubinden.
Wenn ich ein Abstimmungsverfahren durchführe, um die
breite Akzeptanz einer Strategie zu erhalten, und das daraus resultierende Wissen mit einfließen lassen will,
dann braucht das eben Zeit.
({3})
Die Tatsache, dass wir uns Zeit gelassen haben, hat
dazu geführt, dass sich das Ergebnis sehen lassen kann.
Wir haben ein Strategiepapier, das mittel- und langfristig
über 2013 hinaus wirken wird. Es ist ein guter Leitfaden
für uns als Entwicklungspolitiker. Es bietet aber auch
eine gute Orientierung für unsere Partnerländer, wenn es
darum geht, zu erfahren, in welchen Bereichen der Bildung sie mit uns zusammenarbeiten können.
({4})
Schwerpunkte werden häufig gesetzt, aber leider
nicht so oft mit entsprechenden Haushaltszahlen unterlegt. Damit das Ganze nicht nur ein Lippenbekenntnis
bleibt, haben wir das getan. Diese Zahlen können sich
sehen lassen. Wir haben den Bereich bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ausgebaut. In diesen Bereich sind
rund 17,6 Prozent des gesamten Budgets geflossen. Es
ist damit - die Zahl wurde bereits genannt - auf 1,3 Milliarden Euro anwachsen.
Es stellt sich die Frage, ob Studienplätze darin enthalten sind oder nicht. Wenn ich den Wissenschaftsbereich
und den Hochschulbereich fördern möchte, dann brauche ich auch Studierende. Ich brauche Menschen von
außerhalb, die bei uns lernen und studieren dürfen. Auch
in diesem Zusammenhang werden wir permanent gefragt: Könnt ihr nicht noch mehr jungen Menschen die
Gelegenheit bieten, bei euch zu studieren?
({5})
Die Regierungszusagen im Bereich Bildung sind von
209 Millionen Euro in 2011 auf 350 Millionen Euro in
2012 gestiegen. Für dieses Jahr sind Zusagen in Höhe
von 302 Millionen Euro geplant. Berücksichtigt man die
Bildungsbestandteile in Maßnahmen anderer Sektoren,
so liegen die Zusagen für Bildung in 2012 bei 465 Millionen Euro, für 2013 sind 342 Millionen Euro geplant.
Aus 2012 wissen wir, dass der Ansatz übertroffen wurde,
also ist dies auch 2013 zu erwarten.
({6})
Zu begrüßen ist, dass auch die Mittelzusagen für den
Bereich der beruflichen Bildung ihrer Bedeutung entsprechend deutlich angehoben wurden. Das System der
dualen Ausbildung wird von unseren Partnerländern
vermehrt nachgefragt, vor allem, weil infolge der steiAnette Hübinger
genden Investitionen in unseren Partnerländern - insbesondere aus dem europäischen Raum - und der Stärkung
der örtlichen kleinen und mittelständischen Unternehmen vermehrt Fachpersonal gebraucht wird. Das bilden
wir aus. Damit bieten wir den jungen Menschen eine
gute Perspektive für ihr künftiges Leben.
({7})
Bei uns müssen Unternehmen für die duale Ausbildung geradestehen und finanzielle Leistungen erbringen.
Die Unternehmen in unseren Partnerländern können im
Rahmen von Public-private-Partnership ebenso einen
Beitrag leisten. Wir müssen den Unternehmen einen
Umdenkungsprozess dergestalt nahelegen, dass sie einsehen, dass die Ausbildung junger Fachkräfte in ihrer
Verantwortung liegt, dass sie einen Beitrag zur Ausbildung der jungen Fachkräfte leisten müssen, damit sie
auch in Zukunft Fachkräfte haben.
Dennoch bleibt der Staat in der Pflicht - diesbezüglich gebe ich Ihnen recht, Frau Dr. Kofler -; denn Bildung ist auch und vor allem Staatsangelegenheit. Kinder
brauchen eine ordnungsgemäße Bildungsinfrastruktur.
Deshalb unterstützen wir unsere Partnerländer beim
Aufbau dieser Bildungsstrukturen.
({8})
Wenn der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt,
müssen andere Institutionen die Lücke schließen dürfen.
Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an die
Kirchen, die in diesem Bereich eine sehr wertvolle Arbeit leisten und daher unsere Unterstützung verdienen.
({9})
Aber auch der Hochschul- und Wissenschaftsbereich
wird ausgebaut werden, da für Entwicklungs- und Innovationsprozesse gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte benötigt werden. Gerade im Forschungs- und
Wissenschaftsbereich stelle ich immer wieder fest, dass
unsere Partnerländer bei globalen Fragen wie Klimawandel, Energie und Gesundheit gerne mit uns auf
Augenhöhe arbeiten möchten. Sie brauchen junge Wissenschaftler, damit sie an der Lösung dieser Probleme
gemeinsam mit uns arbeiten können. Das zeugt von einem neuen Selbstbewusstsein unserer Partnerländer, das
ich sehr begrüße.
Liebe Frau Kofler, in Ihrer letzten Rede zu diesem
Thema vor anderthalb Jahren haben Sie zu Recht bemängelt, dass die Mädchen im Entwurf der Strategie nicht
expressis verbis benannt wurden. Im Ausschuss waren
wir fraktionsübergreifend der Meinung, dass dies ein
Manko ist und man nicht einfach sagen kann, dass Mädchen und Frauen immer mitgedacht werden. Dieser
Mangel ist behoben. Unter Punkt 6 der Strategie ist die
Mädchen- und Frauenförderung expressis verbis aufgenommen worden.
({10})
Es wurden Probleme und Lösungen benannt. Problem:
Ausbildung von Lehrerinnen. Lösung: sicherer Schulweg, getrennte sanitäre Anlagen. All das wird benannt.
Meines Erachtens ist es zur Beseitigung der Diskriminierung aber genauso wichtig, dass wir die Entscheidungsträger in den Dörfern und in den Städten vor Ort auf
unsere Seite bringen und ihnen klarmachen, dass die
Ausbildung der Mädchen wertvoll ist, und zwar für die
Entwicklung der Mädchen und der Familie, aber auch
für die Entwicklung des Dorfes, der Stadt und des ganzen Landes. Nur wenn uns das gelingt, wenn wir die
Menschen mitnehmen können, sind unsere Projekte in
diesem Bereich nachhaltig.
Auch bei allem guten Willen wird Deutschland die
Herausforderungen hinsichtlich der Bildungsproblematik weltweit nicht alleine bewältigen können. Dafür
fehlen uns ganz einfach die Mittel, auch wenn wir sie
aufgestockt haben. Im internationalen Bereich müssen
wir die Mittelvergabe besser koordinieren und unsere
Anstrengungen verbessern und verstärken. An dieser
Stelle ist der Blick mit Sicherheit auch auf den PostMDG-Prozess zu richten; denn der Bildungsbereich
muss in diesem Zusammenhang eine herausragende
Stellung einnehmen. Wir als Industrieländer müssen uns
genauso wie die Entwicklungs- und Schwellenländer
verpflichten, damit wir gemeinsam zu einer verbindlichen Erklärung in diesem Bereich kommen.
Die christlich-liberale Koalition hatte zu Beginn dieser Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt, in dem all
die Punkte, die ich eben benannt habe, und noch mehr
aufgeführt sind. Das Ministerium hat unsere Vorschläge,
insbesondere unseren Vorschlag, Bildung zum Schwerpunktbereich unserer EZ zu machen, aufgegriffen.
Unsere Forderungen sind in die Bildungsstrategie eingeflossen. Von daher kann ich sagen, dass wir gut dastehen. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Niema Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis zum
Jahr 2015 sollen alle Kinder auf der Welt die Möglichkeit haben, eine Grundschule zu besuchen. Das steht in
den Millenniumsentwicklungszielen der internationalen
Staatengemeinschaft aus dem Jahre 2000. Die Realität
aber ist, dass dies ungefähr 61 Millionen Kindern weiterhin verwehrt bleibt. Heute ist es sogar so, dass in Afrika
südlich der Sahara die Zahl der Kinder ohne Grundschulzugang teilweise wieder stark ansteigt. Deshalb
muss Deutschland seine globalen Anstrengungen zur Erreichung des Zugangs zur Grundbildung deutlich steigern.
({0})
Grundbildung ist insbesondere auch deshalb elementar, weil sie Analphabetismus verhindert. Weltweit kön28506
nen heute über 700 Millionen Erwachsene nicht lesen
und schreiben. Wer nicht lesen und schreiben kann, ist
eher von Armut betroffen und hat es schwerer, sich politisch zu engagieren und für seine Rechte einzutreten. Zu
einem gewissen Maß ist dies offenbar leider auch politisch gewollt.
Die Kultur- und Erziehungsorganisation der Vereinten
Nationen, die UNESCO, bescheinigt sowohl Regierungen als auch Gebern Gleichgültigkeit auf diesem Gebiet.
Der verstorbene Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, hat
einmal sehr richtig gesagt: Die einzige Form, mit der Armut Schluss zu machen, ist, den Armen Macht zu geben.
Bewusstsein und Wissen sind Macht.
({1})
Venezuela hat in nur sechs Jahren den Analphabetismus im Land besiegt. Das zeigt: Wo der politische Wille
besteht, das Menschenrecht auf Bildung durchzusetzen,
ist das auch möglich.
({2})
Obwohl weltweit etwa 2 Millionen neue Grundschullehrer benötigt werden, stagnieren seit 2010 die weltweiten Finanzzusagen insbesondere für die Grundbildung.
Auch die Bundesregierung hat die Zusagen für die
Grundbildung in den letzten Jahren von 113 Millionen
Euro auf 81 Millionen Euro reduziert, während sie die
Mittel für die Berufsbildung bzw. -ausbildung fast verdoppelt hat. Sie zäumen damit das Pferd von hinten auf.
({3})
Bei Minister Niebels Fanatismus, was die Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft anbelangt, drängt
sich leider der Verdacht auf, dass Sie lieber gezielt Fachkräfte für deutsche Unternehmen ausbilden, statt der
breiten Masse Grundbildung zu ermöglichen. Das ist der
falsche Weg.
({4})
Erst in dieser Woche hat das Entwicklungsministerium die Mittel zur Bildung und Ausbildung von Journalisten in Entwicklungsländern erhöht. Mit großem
Pathos erklärte Staatssekretär Beerfeltz, dem Recht auf
freie Meinungsäußerung müsse weltweit noch mehr
Geltung verschafft werden. Gleichzeitig aber übt das
Ministerium im eigenen Land Zensur aus. Kritische
Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Texte vor
Veröffentlichung dem Ministerium vorlegen, wenn eine
staatliche Förderung besteht.
({5})
Gedruckt werden darf nur das, was Herrn Niebel
gefällt. Der Geschäftsführer des Forums Umwelt und
Entwicklung hat dazu angemerkt, dass das Zustände wie
in Weißrussland sind. Recht hat der Mann.
({6})
Die Bundesregierung verkündet übrigens gerne stolz,
dass Deutschland 1,2 Milliarden Euro für internationale
Bildung als Entwicklungshilfe ausgibt. Die Hälfte dieser
Gelder aber sind Studienplatzkosten für ausländische
Studierende, die in Deutschland studieren. Hierbei geht
es oft nicht darum, den armen Ländern zu helfen, sondern ihre besten und klügsten Köpfe abzuwerben. Die
UNESCO kritisiert das seit Jahren. Mit Entwicklungshilfe hat das nämlich nichts zu tun.
({7})
Im Übrigen ist dieselbe neoliberale Politik, die Frau
Merkel Europa aufzwängt und die zu schwersten sozialen Verwerfungen führt, seit Jahren für den Verfall des
öffentlichen Bildungswesens in den Entwicklungsländern mitverantwortlich. So knüpft der Internationale
Währungsfonds bis heute seine Kreditvergabe an die
Bedingung, Staatsausgaben zu reduzieren. Meist wird
zuerst im Bildungssektor der Rotstift angesetzt.
Die Bundesregierung als IFW-Mitglied muss, wenn
sie es mit der Schaffung von Bildungszugängen für alle
Kinder ernst meint, dagegen aktiv werden.
({8})
Bildung ist ein Menschenrecht, das nur gebührenfreie
staatliche Bildungssysteme gewährleisten können. Wir
stimmen hierin mit dem SPD-Antrag überein und werden ihm deswegen auch zustimmen.
({9})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Ute Koczy von Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Von wegen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am heutigen Tag, einen Tag nach der Vorstellung des Eckwertebeschlusses für den Haushalt 2014,
kann ich als entwicklungspolitische Sprecherin bei der
Diskussion über einen Bildungsantrag nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen. Fakt ist: Die Regierung kündigt Kürzungen im Haushalt des Entwicklungsministeriums an.
({1})
- Wenn man alles zusammenrechnet, drohen Einschnitte
von bis zu 245 Millionen Euro, Herr Kollege.
({2})
- Gegenüber 2013. - Das ist ein Armutszeugnis für die
Regierung Merkel, Rösler und Co. Das ist das finale Negativzertifikat der Entwicklungspolitik von SchwarzGelb.
({3})
Es entlarvt Kanzlerin Merkel als eine Versprechensbrecherin. Ich erinnere: Das 0,7-Prozent-Ziel wurde der
Weltöffentlichkeit in Heiligendamm von Angela Merkel
als deutsche Aufbruchspolitik, als deutsches Bekenntnis
zur internationalen Verantwortung verkauft. Unter
Minister Niebel landet dieses Versprechen auf dem
schwarz-gelben Müllhaufen der Geschichte.
({4})
Wenn er seine Mütze nicht schon dem Haus der Geschichte vermacht hätte, wäre jetzt die Gelegenheit, sie
gleich noch hinterher auf diesen Müllhaufen zu werfen.
({5})
Diese Kürzungsansage ist angesichts der Ziele, die wir
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
zu erreichen suchen, nämlich globale Gerechtigkeit und
eine Neubestimmung, wie wir in dieser globalen Welt
Entwicklungswege innerhalb der planetarischen Grenzen gehen können, mehr als bitter. Die Kürzungen betreffen alle Arbeitsbereiche der EZ und damit wahrscheinlich auch das Themenfeld, über das wir hier heute
sprechen, nämlich die Bildung.
Wie gefährlich es ist, wenn sich Mädchen zur Bildung
bekennen, musste die pakistanische Schülerin Malala
aus dem Swat-Tal erleben. Sie wurde für ihr Bekenntnis,
zur Schule gehen zu wollen und dafür auch öffentlich
einzutreten und zu streiten, von Fundamentalisten tätlich
angegriffen und schwer verletzt.
({6})
- Herr Kollege Fischer, das hat jetzt nichts damit zu tun,
aber es hat sehr viel damit zu tun, wie wichtig Bildung
ist und dass wir dafür streiten müssen.
Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Jungen, für
Menschen mit und ohne Handicap, für Alt und Jung, für
Kinder aus allen Schichten - das ist doch ein Ziel, für
das es sich zu streiten lohnt.
({7})
Es gibt Erfolge, die Mut machen, die zeigen: Ja, es
geht. Mit entwicklungspolitischen Maßnahmen können
wir etwas erreichen, und wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wir Grüne können diesem Antrag deswegen zustimmen. Denn wir wollen, dass nicht
nur der Zugang zu Bildung, sondern auch die Qualität
von Bildung vergrößert wird. Qualität bedeutet, dass die
Lernenden wirklich etwas lernen. Qualität bedeutet, dass
das Lehrpersonal ausreichend qualifiziert ist, dass die
Zahl der Kinder in einer Klasse Lernen ermöglicht und
dass es Curricula gibt, die Lernbereitschaft und Eigenanstrengung belohnen und fördern. Qualität heißt eben
auch, den Anteil der weiblichen Lehrkräfte zu erhöhen.
({8})
Ich finde, da muss man noch mehr tun. Die Bildungsstrategie des BMZ, die nach einem langwierigen Prozess
Anfang letzten Jahres endlich vorgestellt wurde, muss finanziell und strategisch mit Substanz gefüllt werden.
Unsere Kritik daran ist, dass unklar ist, mit welchen
Maßnahmen die Ziele erreicht und finanziert werden sollen. Es gibt nämlich keine Indikatoren, keine konkreten
Zahlen. Das bedeutet, dass nicht klar ist, worauf diese
Bildungsstrategie konkret abzielt. Wir haben genug Ankündigungen gehört. Wir wollen Taten sehen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Für eine bessere Bildungssituation weltweit“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11492, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/6484 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung eines Altersgelds
für freiwillig aus dem Bundesdienst ausscheidende Beamte, Richter und Soldaten
- Drucksache 17/12479 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Armin Schuster das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Wettbewerb um die besten Köpfe im Land
ist in vollem Gange, und er ist angesichts einer sich stetig verändernden Altersstruktur in der Bevölkerung und
einer immer geringeren Zahl von Kindern eine der großen Herausforderungen für den öffentlichen Dienst.
Wenn der Arbeitgeber Bund der Konkurrenz um gute
Fachkräfte gewachsen sein will, muss er etwas bieten.
Ich habe den Eindruck, heute bewerben sich die Bundesbehörden eher bei den Fachkräften als umgekehrt.
Bei den Gehältern werden wir mit der Privatwirtschaft wohl nicht mithalten können. Deshalb muss der
Bund als Arbeitgeber andere attraktive Angebote machen können. Genau da haben die Regierung, die Koalition und das Parlament ihre Aufgaben. Im Wettbewerb
um die besten Fachkräfte hat die christlich-liberale
Koalition in dieser Legislaturperiode deshalb sehr viel
getan, damit der Bund ein verlässlicher und zukunftsorientierter Arbeitgeber für Beamte, Soldaten und Bundesrichter bleibt.
({0})
So haben wir zum Beispiel die Dienstbezüge gleich
zweimal inhaltsgleich zu den Tarifabschlüssen für den
öffentlichen Dienst angepasst. Wir haben die Einsatzversorgung unserer Soldaten verbessert. Wir haben ein
Fachkräftegewinnungsgesetz auf den Weg gebracht, mit
dem wir den Behörden attraktive Instrumente zur Personalgewinnung an die Hand geben. Die Zahlung des
Weihnachtsgeldes für die Bundesbeamten wurde 2011
wieder eingeführt. Mit der Entscheidung, die pauschalen
Stellenkürzungen auslaufen zu lassen, hat der Bundesinnenminister genau zum richtigen Zeitpunkt ein sehr
wichtiges Zeichen gesetzt.
Apropos wichtige Zeichen zum richtigen Zeitpunkt:
Bundesinnenminister Friedrich hat gestern die Bewertung von 1 063 Dienstposten der Bundespolizei angehoben. Seit 2011 kam es zu rund 3 000 Höherbewertungen
und 150 Planstellenhebungen. Auch das ist ein echter
Attraktivitätsschub, den sich die Betroffenen übrigens
auch verdient haben; das darf ich an dieser Stelle einmal
sagen.
({1})
Wir werden noch in diesem Jahr die Familienpflegezeitregelung der Tarifbeschäftigten auf die Beamten des
Bundes übertragen. Wir wollen, dass auch Beamte die
Pflege von nahen Angehörigen und ihre Berufstätigkeit
vereinbaren können. Vielleicht kann die Bundesverwaltung hier eine Vorreiterrolle übernehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere beamtenpolitischen Initiativen in dieser Legislaturperiode
stellen eine Erfolgsbilanz dieser christlich-liberalen Koalition dar, wie sie sich viele Beamtinnen und Beamte in
einigen rot-grün geführten Bundesländern geradezu
wünschen würden.
({2})
- Es kommt noch besser. - Wir wollen heute, sozusagen
auf der Zielgeraden dieser Wahlperiode, eine weitere
Gesetzesinitiative auf den Weg bringen, die es guten Bewerbern noch attraktiver erscheinen lässt, in der Bundesverwaltung anzuheuern.
({3})
Wir wollen den Wechsel zwischen öffentlichem
Dienst und Privatwirtschaft zukünftig in beide Richtungen erleichtern. In der Koalition haben wir uns auf den
vorliegenden Gesetzentwurf - Herr Dr. Ruppert, zugegebenermaßen intensiv - geeinigt,
({4})
auf einen Gesetzentwurf übrigens, mit dem wir endlich
die Dienstrechtsreform von 2009 komplettieren wollen.
Wir wollten das eigentlich schon damals machen. Jetzt
sind wir so weit. Wir wollen den Austausch zwischen
Staat und Wirtschaft beleben und die besten Köpfe für
den öffentlichen Dienst gewinnen, ihnen dabei aber
nicht den Eindruck vermitteln, sie müssten sich von Beginn an für ihr ganzes Leben unwiderruflich verpflichten.
Die Bundesverwaltung wird damit für Berufseinsteiger deutlich attraktiver. - Warum? Wenn aktive Beamte
bisher einen Wechsel in die Privatwirtschaft erwogen haben, mussten sie im Rahmen der dann fälligen gesetzlichen Nachversicherung mit derart hohen Abschlägen in
der Alterssicherung rechnen, dass die meisten von diesem Schritt abgehalten wurden. Das bleibt natürlich
auch potenziellen Bewerbern nicht verborgen. Deshalb
- das ist der Zustand heute - werden sich diejenigen, die
sich eine berufliche Flexibilität von vornherein nicht
verbauen wollen, nicht dafür entscheiden, in die öffentliche Verwaltung zu gehen. Genau diesen Bewerbern
möchten wir die Option eröffnen, möglicherweise nur
einen Teil ihres beruflichen Lebens als Beamter zu arbeiten und die damit erworbenen Versorgungsansprüche
wie in der Privatwirtschaft quasi mitzunehmen.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Regelung
nicht nur mehr Gerechtigkeit bringt, sondern vor allen
Dingen auch mehr Bewerber. Von diesen neu gewonnenen Bewerbern werden deutlich mehr bleiben als gehen.
Erfahrene Fachkräfte oder Studienabsolventen werden
den öffentlichen Dienst, wenn sie erst einmal drin sind,
als attraktiven Arbeitgeber erleben und sich wohlfühlen.
Armin Schuster ({5})
Deshalb ist das Thema Portabilität für mich ein Modell
zum Einstieg.
Mit der jetzigen Gesetzesinitiative will die Union dafür sorgen, dass Beamte, die freiwillig ausscheiden wollen, ihre bis dahin erdienten Pensionsansprüche nicht in
erheblichem Umfang verlieren. Der bis zum Ausscheiden erworbene Anspruch soll weitgehend mit dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze als Altersgeld ausgezahlt werden.
Das Lebenszeitprinzip bleibt für uns ein wichtiger
Grundsatz. Wir wollen keine falschen Anreize setzen;
deshalb haben wir einen Abschlag in Höhe von 15 Prozent der Altersgeldansprüche und eine Mindestverwendungszeit von sieben Jahren im Gesetz verankert.
({6})
Entstandene Ausbildungskosten sollen vom Staat gegebenenfalls zurückgefordert werden können.
({7})
Mehr Austausch zwischen öffentlichem Dienst und
Privatwirtschaft bringt beiden Seiten Vorteile; dies zeigen die positiven Erfahrungen der christlich-liberalen
Gesetzesinitiative von 2011 zur Einführung der Portabilität in Baden-Württemberg.
({8})
Weitere Länder werden dem folgen. Ich betrachte diesen
Reformschritt deshalb als eine zukunftsorientierte Fortentwicklung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums.
Auch die SPD, Herr Hartmann, wollte dieses Vorhaben eigentlich schon immer umsetzen, hat es aber nicht
geschafft.
({9})
Geschätzter Herr Kollege, um Ihnen doch ein wenig Erfolg zu gönnen, darf ich sinngemäß zitieren, was Sie
heute morgen in anderem Zusammenhang sagten: dass
es einem modernen Gesetzgeber gut zu Gesicht stünde,
wenn er die Wirkungen seiner Gesetze regelmäßig bewerten würde.
({10})
- Das ist wirklich schlau. Deswegen werden wir die
Auswirkung dieses Gesetzes auf Personalbestand und
Budgets zum 31. Dezember 2016 überprüfen.
({11})
Das heißt, die SPD darf uns getrost zustimmen und uns
fortan, wie Sie es heute morgen getan haben, als modernen Gesetzgeber bezeichnen.
({12})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
unseren Beamtinnen und Beamten, Polizistinnen und
Polizisten, Soldatinnen und Soldaten in der Vergangenheit viel zugemutet durch Neuorganisationen, Reformen,
Aufgabenerweiterungen und Stellenkürzungen. Das haben sie alles unter vollen Segeln bewerkstelligt, sodass
wir uns glücklich schätzen dürfen, über sehr gut funktionierende Behörden zu verfügen. Dass das ein unschätzbarer Standortvorteil für Deutschland ist, sehen wir sehr
gut an den EU-Ländern, die jetzt in der Krise sind: Dort
gibt es - neben anderen Problemen - auch deutliche Defizite im öffentlichen Gemeinwesen. Unsere Verwaltung
ist effizient und verlässlich, sie trägt wesentlich zum Erfolg des Standorts Deutschland bei. Weil unsere Beamten uns dies mit ihren Leistungen tagtäglich garantieren,
wollen wir das auch angemessen honorieren.
({13})
Monetär, aber eben auch durch attraktive und moderne
Arbeitsbedingungen zu motivieren, das war unser beamtenpolitisches Ziel. Nach Auffassung vieler Interessenverbände ist das dieser Koalition in dieser Legislatur
sehr gut gelungen. Die Einführung eines Altersgeldes ist
nur ein Beleg dafür, wie wir den öffentlichen Dienst
Schritt für Schritt modernisieren.
Als Baden-Württemberger drängt sich mir natürlich
die Frage auf - ich habe ja zwölf Minuten, Herr
Hartmann -: Was wäre eigentlich die grün-rote oder die
rot-grüne Alternative? Das ist jetzt einfach; denn ich
habe das jeden Tag live zu Hause.
Ich zitiere einmal Herrn Stich, den Chef des BadenWürttembergischen Beamtenbundes.
({14})
Nach zwei Jahren Regierungszeit von Grün-Rot in Baden-Württemberg spricht er von einem Offenbarungseid
dieser Regierung.
({15})
Ein Beispiel: In Baden-Württemberg werden, so kündigte Finanzminister Schmid am Montag, nicht einmal
48 Stunden nach der Tarifrunde, an, die Ergebnisse der
Tarifrunde nicht auf die Beamten und Pensionäre übertragen.
({16})
Man habe im Haushalt nicht mit einem solchen Ergebnis
gerechnet.
({17})
Armin Schuster ({18})
2,65 Prozent Lohnsteigerung in diesem Jahr und knapp
3 Prozent im nächsten Jahr: Damit konnte man nicht
rechnen? Hier werden die Beamten hinter die Fichte geführt.
({19})
Wenn Sie das einmal vergleichen wollen: In BadenWürttemberg werden gerade die Eingangsämter für
Beamte abgesenkt. Mit unserem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir sie für die speziellen Fachverwendungen angehoben.
Schauen Sie sich auch an, wie etwa SchleswigHolstein und Nordrhein-Westfalen mit den Tarifergebnissen umgehen: Sie denken darüber nach, sie nicht zu
übertragen. Rheinland-Pfalz hat schon entschieden, sie
nicht zu übertragen. Und was sagt Bayern? Logisch:
gleiche Regierung, inhaltsgleich, voll übertragen wie der
Bund.
({20})
Auf uns, auf die CDU/CSU und die FDP, können sich
der Richter, der Soldat, die Richterin, die Soldatin, der
Beamte, die Beamtin und die Versorgungsempfänger
verlassen. Solange wir das Land regieren, stimmt es
auch im öffentlichen Dienst.
({21})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine erste
Rede zu beamtenpolitischen Themen in diesem Haus
habe ich im September 2010 gehalten.
({22})
- Ja, ja. Damals haben Sie mich vielleicht gar nicht ernst
genommen, aber jetzt tun Sie es, glaube ich, langsam. Schon damals habe ich angekündigt, dass wir in dieser
Wahlperiode gezielt daran arbeiten werden, den öffentlichen Dienst des Bundes attraktiver zu gestalten. Bis
hierhin haben wir gegenüber den Beamten, Richtern,
Soldaten und Versorgungsempfängern Wort gehalten,
und für die kommende Wahlperiode haben wir noch einiges im Köcher, worauf sie sich ab Oktober wirklich
freuen dürfen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich bin noch ehrfurchtsvoll erschüttert ob
des großen Selbstlobs dieser Koalition
({0})
für alle vermeintlichen Wohltaten für die Beamtinnen
und Beamten im Land. Aber man darf auch zu dieser
Abendstunde an die Realität erinnern.
Herr Schuster, Sie haben so ruhmreich erwähnt, dass
das Weihnachtsgeld nun wieder eingeführt worden sei.
Ich kann Ihnen sagen, warum: Beamtenbund, Gewerkschaften und auch wir sind Sturm gelaufen, und das war
so einfach nicht mehr zu halten. Sie haben das Weihnachtsgeld zunächst gekürzt und es dann nur auf Druck
wieder erhöht. Das ist die richtige Erinnerung an die
Realität.
({1})
- Nein, das ist nicht wahr. Herr Binninger, regen Sie sich
nicht so auf, sonst erzähle ich, wie Sie sich in der
Großen Koalition auf den letzten Metern beim Thema
Mitnahmefähigkeit verhalten haben. Das tue ich aber lieber nicht.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir reden
heute über ein Thema, das hier im Parlament selten genug aufgerufen wird, nämlich über Beamte - und in
diesem Falle sogar über die Beamtenversorgung. In der
Tat: Die Klischees sind mannigfaltig. Nichts ist beliebter
als eine Schelte der angeblich faulen und überbezahlten
Beamten, die ohnehin auch noch unfähig seien. Vielleicht wird das nur durch eine allgemeine Politikerschelte getoppt.
Deshalb ist es gut, in der heutigen Debatte jenseits eines durchschaubaren Selbstlobs einmal festzustellen,
dass vor allem ein anderer Ton angemessen ist; denn Beamte sind beispielsweise die Polizistinnen und Polizisten, die ihren Dienst in Wechselschichten versehen; die
Feuerwehrleute, die Tag und Nacht unterwegs sind, und
die Soldatinnen und Soldaten, die alle zusammen für unsere Sicherheit sorgen. Beamtinnen und Beamte sind
auch die Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, die
Personalausweise ausstellen oder Baugenehmigungen
erteilen. Beamtinnen und Beamte sind im Bundesdienst
beispielsweise sehr fleißige Menschen, die RettungsMichael Hartmann ({3})
schirme aufspannen, die dafür sorgen, dass Gesetze verfassungsgemäß sind, und die schnell und qualifiziert zuarbeiten. Deshalb meine ich, meine Damen und Herren:
Es darf in diesem Parlament sehr deutlich ausgesprochen
werden, dass das Gute an dem Berufsbeamtentum, wie
wir es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland erleben, der Umstand ist, dass jene Beschäftigten
nur eine Verpflichtung haben, nämlich der Kommune,
dem Land, der Bundesrepublik oder Europa zu dienen,
und keinen anderen Zweck verfolgen. Länder wie Griechenland wären froh, sie hätten dieses Berufsbeamtentum.
Und auch das ist wahr: Die Stabilität und Berechenbarkeit unseres Landes, das gute Verwaltungshandeln das ist diesen und anderen Beamtinnen und Beamten in
hohem Maße geschuldet, und dafür dürfen wir ihnen
auch Dank sagen,
({4})
zumal - das vermuten manche - die Besoldung nicht
beim Ministerialdirektor beginnt. Vielmehr beginnt die
Besoldung beim Bund beim Oberamtsgehilfen. Dieser
trägt ungefähr 1 800 Euro brutto nach Hause.
({5})
Es sind also keine Riesensummen und -beträge. Ich sage
das, weil der Reflex gegen Beamte meistens in eine andere Richtung weist.
({6})
Allerdings ist es so, dass auch das Berufsbeamtentum
in unseren Zeiten einem Wandel unterliegt, dass die Anforderungen wesentlich andere sind und dass die Uhren
bei - Herr Schuster, da sind wir beieinander - der
Gewinnung von Fach- und Nachwuchskräften in Konkurrenz mit der gewerblichen Wirtschaft und angesichts
des demografischen Wandels anders gestellt werden
müssen.
Dazu sind wir bereit, und dem müssen wir uns stellen.
Allerdings sagen wir sehr deutlich in Richtung des Bundesinnenministeriums, dass die Gralshüter des klassischen hoheitlichen Berufsbeamtentums irren, wenn sie
erwarten, dass diesem nun mit der Mitnahmefähigkeit
der Untergang droht. Diese Argumentation hörten wir in
der Großen Koalition - Herr Binninger, unter Ihrem wesentlichen Mittun -,
({7})
als wir bei der Einführung der Mitnahmefähigkeit auf
den letzten Metern durch CDU/CSU ausgebremst wurden.
({8})
Also tun Sie nicht so, als seien Sie die Motoren gewesen.
Der größte Widerstand gegen das, was wir jetzt auf den
Weg bringen, sitzt im Bundesinnenministerium. Sie
mussten denen all das auf unseren Druck hin abringen,
meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit.
({9})
Jedenfalls droht mit der Mitnahmefähigkeit nicht der
Untergang des Berufsbeamtentums, ganz im Gegenteil:
Die Zukunftsfähigkeit wird damit hergestellt. Denn
diese klassische Denke „Einmal Beamter, immer Beamter“ und „Wer vorher geht, nimmt Netzwerkwissen,
seine Ausbildung und anderes mehr mit und wird das
schändlicherweise in der gewerblichen Wirtschaft verwenden“ stammt aus dem 19. Jahrhundert. Diese Denke
hält junge Menschen eher davon ab, Beamter werden zu
wollen, als dass sie zum Exodus der Menschen aus dem
Berufsbeamtentum führt, wie manche unterstellen.
Insofern ist es bereits in der derzeitigen Situation so,
dass Beamtinnen und Beamte gehen. Aber das sind
meistens diejenigen, die sehr weit oben in der Besoldung
angesiedelt sind, und es sind jene, die mit ihrem zukünftigen Arbeitgeber vereinbaren können, dass sie das, was
ihnen verloren geht, anderweitig als Ausgleich erhalten.
Aber jetzt stellen wir uns einen Moment lang einmal
vor, in der gewerblichen Wirtschaft würde jemand sagen: Deine Betriebsrente, die du erworben hast, darfst
du, wenn du Firma A verlässt und zu Firma B gehst,
nicht mitnehmen. Du verlierst alles, was du bisher an
Betriebsrente erworben hast. - Was würden wir dann
sagen?
Wir haben durchgesetzt, dass es diese Mitnahmefähigkeit in der gewerblichen Wirtschaft und für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gibt, und
deshalb ist es nur konsequent, diese endlich auch auf das
Berufsbeamtentum auszudehnen.
({10})
Es kann nicht sein, dass ein Beamter ewig an das Beamtentum gekettet ist und bestraft wird, wenn er geht.
Vielmehr wollen wir junge Leute gewinnen, junge
Leute, die sagen: Wir sind vielleicht interessiert, bei einer Sicherheitsbehörde, bei einer Verwaltungsbehörde,
bei einem Ministerium unsere hohen Kenntnisse
beispielsweise im IT-Bereich einzubringen. Aber wir
wollen nicht bis ans Ende unserer Tage dort sein, und
wenn wir bis ans Ende aller Tage dort sein müssen oder
anderenfalls unsere Bezüge verlieren, dann fangen wir
dort erst gar nicht an.
Deshalb ist es wichtig, dass wir die Mitnahmefähigkeit nicht als eine Schleuse ansehen, die alles öffnet, damit Beamte abwandern können. Es ist keine Ausstiegsklausel aus dem öffentlichen Dienst, sondern vielmehr
eine Einstiegsklausel in den öffentlichen Dienst, um
junge Leute für diesen zu gewinnen.
({11})
Michael Hartmann ({12})
Wir werden den weiteren Prozess aktiv und intensiv
mitbegleiten. Wir werden Sie darin unterstützen, gegen
alle Kritiker in Ihren Reihen und in unseren Reihen das
Beamtenrecht modern zu gestalten. Aber wir werden das
Ganze nur wirklich voranbringen können, wenn wir den
Mut haben, zu sagen, dass das, was Beamtinnen und Beamte in oftmals schwierigen Situationen leisten, nicht
etwa Schimpf und Schande verdient, sondern Anerkennung. Die SPD ist bereit, unseren Berufsbeamten, unseren Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst
diese Anerkennung entgegenzubringen, und ist deshalb
nicht erst seit gestern, sondern schon lange für die Mitnahmefähigkeit.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss sagen, Herr Hartmann, das war eine ausgesprochen gute Rede, weil Sie unser Gesetzesvorhaben so
ausdrücklich gelobt haben. Ich verstehe Sie, dass Sie
diese Rede gerne vor vier oder viereinhalb Jahren gehalten hätten. Es ist immerhin anzuerkennen, dass Sie heute
loben, was wir hier tun.
({0})
Neulich diskutierten wir mit dem dbb und mit Verdi
über beamtenrechtliche Fragen. Es wurde die Föderalismusreform kritisiert und die Frage aufgeworfen, ob sich
das Beamtenrecht zwischen dem Bund und den Ländern
und auch den Ländern untereinander zunehmend auseinanderentwickelt. Herr Schuster hat einige wichtige
Hinweise darauf gegeben, dass in der Tat dort, wo bürgerliche Koalitionen regieren, mittlerweile die Leistungen für das Berufsbeamtentum um bis zu 20 Prozent höher sind als dort, wo Rot-Rot oder Rot-Grün regieren,
und dass es ein Auseinanderdriften der Systeme und der
Besoldung und der Attraktivität gibt. Den armen Beamten kann man also leider nur sagen: Es ist im Moment
ein wenig Pech, in einem Land zu wohnen, wo keine
bürgerliche Regierung die Geschicke bestimmt.
({1})
Ich habe in diesen Jahren hier im Deutschen Bundestag, aber auch schon davor ein sehr positives Bild vom
deutschen Berufsbeamtentum gewonnen: viele sehr leistungsfähige Mitarbeiter in den Ministerien, aber auch bei
der Bundespolizei und andernorts. Ich glaube, wir können auf ein leistungsfähiges Berufsbeamtentum zu Recht
stolz sein. Wir sollten darauf achten, dass das Berufsbeamtentum dort aktiv ist, wo es wirklich um hoheitliche
Aufgaben geht, und nicht darüber hinaus. Wir haben ein
Leitbild des Berufsbeamtentums, das nicht darauf angelegt ist, jemanden, der sich einmal für den öffentlichen
Dienst entschieden hat, sein ganzes Leben an diese Tätigkeit zu binden.
Ich nenne ein Beispiel. Eine Bundespolizistin ist in
Sachsen tätig, bekommt zwei Kinder und ist vielleicht
mit A 9 besoldet. Als sie wieder in den Beruf einsteigen
will, merkt sie, dass ihr nächster Dienstort vielleicht der
Frankfurter Flughafen sein könnte. - Wir stellen immer
wieder fest, dass in diesen Fällen gar kein Wiedereinstieg in den Beruf erfolgt, weil man nicht umziehen will
oder weil man sagt, man kann diese Flexibilität, was die
Mobilität angeht, nicht aufbringen.
Wenn diese Bundespolizistin den öffentlichen Dienst
verlassen würde, würde sie wie eine Straftäterin behandelt. Sie würde nach dem Sozialgesetzbuch nachversichert und würde einen Großteil ihrer Altersversorgungsansprüche verlieren. Das ist eine echte
Gerechtigkeitslücke. Herr Hartmann hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass jemand, der von Siemens zu IBM
wechselt, seine Altersversorgungsansprüche natürlich
nicht verliert.
Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch kein
Interesse daran, dass manche - neudeutsch würde man
von „Jobhopping“ reden - alle zwei oder drei Jahre ihren
Beruf wechseln und immer dann, wenn die Zeiten vielleicht etwas schwieriger sind, in den öffentlichen Dienst
gehen, um in besseren Zeiten wiederum in die Privatwirtschaft zu wechseln. Deswegen haben wir klargemacht: Es muss eine siebenjährige Mindestdienstzeit
im öffentlichen Dienst geben, und es muss einen Abschlag gegenüber den normalen Pensionsansprüchen geben. Aus unserer Sicht hätte man auch mit fünf Jahren
Mindestzeit leben und auf den Abschlag verzichten können. Aber es muss klar sein, dass ein Wechsel alle zwei
Jahre von uns nicht toleriert wird.
Die FDP fordert diese Portabilität seit 20 Jahren; das
steht seit 20 Jahren in unserem Programm. Wir sind sehr
froh, dass es heute, nach über 20 Jahren, endlich zu mehr
Flexibilität beim Wechsel zwischen Privatwirtschaft und
öffentlichem Dienst kommen wird.
Herr Kollege Ruppert, nehmen Sie eine Frage des
Kollegen Hartmann an?
Gern.
Bitte schön, Herr Hartmann.
Danke, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Ruppert. Herr Ruppert, ich habe ein Problem mit dieser Argumentation, die häufiger zu hören ist. Wenn es so ist, dass wir
Michael Hartmann ({0})
die Portabilität wirklich einführen wollen, warum haben
Sie dann in dem, was jetzt in erster Lesung zur Diskussion gestellt und hoffentlich noch verbessert wird,
15 Prozent Abschlag und eine Wartezeit von sieben statt
fünf Jahren vorgesehen und außerdem noch angekündigt, dass Ausbildungskosten ebenfalls erstattet werden
müssen? Glauben Sie tatsächlich, dass noch jemand
ernsthaft bereit ist, die Mitnahmefähigkeit in Anspruch
zu nehmen, wenn dafür so hohe Hürden aufgebaut werden?
Warum macht man es nicht wie in Baden-Württemberg, das Sie, Herr Schuster, als glühendes Beispiel und
großes Vorbild gelobt haben? Warum lässt man die
Leute nicht einfach nach fünf Jahren gehen und alles
mitnehmen, was sie bis dahin erworben haben?
Last, but not least: Ist es denn nicht wahr, dass in Baden-Württemberg entgegen der großen Befürchtung aller
Gralshüter des Berufsbeamtentums in 2011 gerade einmal 80 Leute gegangen sind, und zwar in den Besoldungsgruppen A 8 bis A 10? Eine Person mit B 3 war
dabei.
Warum gehen Sie nicht den richtigen Schritt, statt
halbherzig zu agieren und am Schluss doch wieder die
Portabilität zu verbauen und gar nicht einzuführen?
Herr Hartmann, das ist ein Einstieg. Wir haben eine
gründliche Analyse durch die Fachleute, die wir bei den
Bundesbehörden und Bundesministerien in großer Zahl
haben, vornehmen lassen und haben festgestellt, dass es
einige Bereiche gibt, in denen wir darauf angewiesen
sind, dass man sich für einen längeren Zeitraum für die
Tätigkeit als Beamter im öffentlichen Dienst entscheidet.
Ich hätte mir auch das baden-württembergische Modell vorstellen können.
({0})
Am Ende sind solche Dinge auch Kompromisse. Ich
finde, es ist richtig, wenn man so etwas erstmals einführt
- dafür ist die Sache zu ernst -, das nicht als reines Experimentierfeld anzusehen, sondern zu sagen: Wir führen es jetzt mit sieben Jahren und 15 Prozent Abschlag
ein, evaluieren es dann - das haben wir ja ebenfalls vorgesehen -, stellen fest, wie es sich in der Praxis ausgewirkt hat, und die nächste schwarz-gelbe Bundesregierung wird dann in der nächsten Legislaturperiode
entweder noch weitergehende Schritte tun, oder wir werden feststellen, dass das schon der Weisheit letzter
Schluss war.
({1})
- Nein, keine Angst. Jeder kann helfen durch seine
Zweitstimme, die wir gerne annehmen.
({2})
- Ja, ich glaube, wenn Sie nachdenken, kommen Sie zumindest als beamtenpolitischer Sprecher irgendwann zu
der Einsicht, dass es Ihr Gewissen gebietet, dass man eigentlich lieber Schwarz-Gelb wählt, weil es dann den
Beamten etwas besser geht.
({3})
- Herr Kurth weist zu Recht darauf hin, Herr Hartmann:
Das gilt nicht nur für die Beamten, sondern auch für die
große Mehrheit der Gesellschaft.
({4})
Ich will noch einen Punkt erwähnen: die Soldaten auf
Zeit. Das ist ein wichtiger Regelungsbereich. Wir könnten uns vorstellen, dass auch bei den Soldaten auf Zeit,
etwa bei SaZ 12, noch eine solche Regelung eingeführt
werden kann. Auch das wäre ein Thema für eine Anhörung und gegebenenfalls Anlass für ein Tätigwerden in
der nächsten Legislaturperiode. Bei uns besteht der klare
politische Wille, zu sagen: Wir wollen als ein wichtiges
Instrument bei der Bundeswehrreform auch die Soldaten
auf Zeit noch miteinbeziehen. Wir werden sehen, ob sich
da jetzt etwas machen lässt oder ob wir das in der nächsten Legislaturperiode machen. Wahrscheinlich werden
wir auch hier sagen: Erst einmal machen wir es bei den
Berufsbeamten und Soldaten auf Lebenszeit, und in einem zweiten Schritt beziehen wir auch noch die SaZler
ein.
Insgesamt ist das für uns Liberale nach 20 Jahren programmatischer Forderungen nach Portabilität ein wirklich guter Tag, weil wir jetzt in diese Dinge einsteigen,
wie übrigens auch die Landesregierung in Hessen und
die frühere schwarz-gelbe Landesregierung in BadenWürttemberg.
({5})
- Man kann sich nur wünschen, dass Ihre Landesregierungen diesen Schritt auch außerhalb von Hamburg gehen. - So geht es den Beamten in den schwarz-gelb regierten Ländern auch in Zukunft besser als in rot-grün
oder in rot-rot regierten Ländern.
Insofern ist dies eine gute Legislaturperiode für das
deutsche Berufsbeamtentum. Ich freue mich darüber,
dass Sie uns unterstützen - herzlichen Dank dafür.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Frank Tempel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der öffentliche Dienst muss attraktiver werden. Darin sind wir uns offensichtlich einig. Das ist auch
kein Wunder: Denn das bekommen wir von den Gewerkschaften ständig mit auf den Weg. Das ist auch die
logische Konsequenz aus der Debatte rund um den demografischen Wandel, den prognostizierten Fachkräftemangel und aus der Summe verschiedener Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Fehlentscheidungen der
letzten Regierung.
Der Grund dieser Debatte ist ganz einfach die Sorge,
auch in den nächsten Jahren eine ausreichende Zahl an
Nachwuchskräften für den öffentlichen Dienst zu gewinnen. In einem Punkt sind wir uns alle wohl einig: „Attraktiver“ heißt nicht immer mehr Geld und mehr Vergünstigungen. Es bedeutet hier vielmehr: modernisieren,
flexibilisieren und entwickeln. Wer das Berufsbeamtentum verändern will, löst oft Panikattacken aus. Der Untergang des Berufsbeamtentums und der Niedergang der
hergebrachten Grundsätze werden in einem solchen Fall
schnell prophezeit. Wer aber genau hinschaut, erkennt,
dass das Berufsbeamtentum ohne Modernisierung und
ohne Weiterentwicklung bald nicht mehr zukunftsfähig
sein wird.
Das Lebenszeitprinzip ist ein Grundsatz, der die Zukunftsfähigkeit gefährdet. Setzen junge Menschen in Zukunft bei der Berufswahl - Sie haben es eben beschrieben - eher auf die Sicherheit einer lebenslangen
Anstellung, oder geht der Trend nicht doch eher in Richtung flexiblere, offenere Lebensgestaltung? Ich will das
an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Ich bin als
Polizeibeamter Beamter auf Lebenszeit. Während ich
mein Bundestagsmandat ausübe, ruht mein Dienst. Aber
nach Beendigung meiner Abgeordnetentätigkeit würde
ich normalerweise den Dienst als Polizeibeamter wieder
antreten.
({0})
- Bei dem, was ich dann vielleicht vorhätte, würden Sie
sich das vielleicht sogar wünschen.
Nehmen wir Folgendes an: Hier habe ich einige Jahre
im Bereich der Drogenpolitik gearbeitet. Ich habe festgestellt, dass bei diesem Thema ein erhebliches Bildungsdefizit bei der Bundesregierung besteht. Ich erkenne also
eine Marktlücke und würde mich selbstständig machen,
um als Berater für die Bundesregierung zu arbeiten.
({1})
Dann würde ich freiwillig aus dem Beamtendienst ausscheiden. Nach gegenwärtiger Rechtslage würde ich bei
der Nachversicherung in die Rentenversicherung einen
erheblichen wirtschaftlichen Nachteil erleiden. Mit dem
hier richtigerweise vorgeschlagenen Altersgeld - abgesehen von der Ausgestaltung - würde dieser Nachteil
ausgeglichen werden, was erst einmal zu begrüßen wäre.
Es bliebe - das ist von Herrn Ruppert richtigerweise angesprochen worden - dann noch die Frage der Zersplitterung in unterschiedliches Landes- und Bundesrecht offen; denn als Landesbeamter von Thüringen fiele ich gar
nicht unter die hier zu beschließende Regelung. Hier besteht weiterhin Diskussionsbedarf.
Das vorgeschlagene Altersgeld ist also ein Schritt in
die richtige Richtung. Wenn man aber den Reformbedarf
insgesamt sieht, dann muss man sagen, dass es sich eher
um einen ganz kleinen Schritt handelt. Wenn wir über einen leichteren Wechsel vom öffentlichen Dienst in die
Privatwirtschaft reden, dürfen wir den Wechsel von der
Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst nicht vergessen. Auch hier müssen modernere Ansätze her. Denn ist
es für einen dringend benötigten Experten wirklich attraktiv, im Alter von Mitte 40 zum Beispiel zum Bundeskriminalamt zu wechseln? Angesichts der im öffentlichen
Dienst benötigten Fachkräfte besteht hier dringender
Diskussionsbedarf.
Es ist dringend erforderlich, die sozialen Belange
mehr im Auge zu behalten. Herr Schuster, hier ist das
Schulterklopfen beendet. Sie wissen sicherlich, was ich
meine: Immer mehr Aufgaben und immer weniger Personal, das war ein Trend der letzten Jahre. Das hat den
Staatsdienst nicht gerade erstrebenswerter gemacht.
Wenn infolgedessen von hohen Krankenständen, Burnout-Syndrom und innerer Kündigung berichtet wird, ist
das ganz sicher keine Werbung für den öffentlichen
Dienst. Gerade hier hilft eine Ausbildungs- und Einstellungsoffensive. Gerade der öffentliche Dienst sollte Vorreiter für familienfreundliche Regelungen - auch das
Problem hat Herr Ruppert angesprochen, allerdings ohne
Lösungen anzubieten - und flexible Lebensarbeitszeitlösungen sein.
({2})
Die Linke ist gern bereit, solche kleinen Schritte, wie
hier vorgeschlagen, mitzugehen. Wir stellen auch gern
Hinweise als Gehhilfe zur Verfügung. Aber wer den Weg
nicht zu Ende geht, kommt auch nicht ans Ziel.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. Konstantin von Notz von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
Altersgeld ist keine Erfindung dieser Koalition. Es ist
auch nicht das Ergebnis irgendeines heldenhaften
Kampfes, weder der FDP noch des Kollegen Ruppert.
Die Einführung der Möglichkeit einer Mitnahme von
Versorgungsanwartschaften bei freiwilligem vorzeitigen
Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis ist ein seit Jahren - auch hier im Bundestag - diskutierter und längst
überfälliger Reformvorschlag.
Wem haben wir es zu verdanken, dass die über ein
Jahrzehnt alten Vorschläge - ich zitiere den Gesetzentwurf - zur Erhöhung von Mobilität und Flexibilität der
Beamten und zum Austausch mit der Wirtschaft erst
heute im Plenum liegen?
({0})
Wolfgang Schäuble! Wolfgang Schäuble war es, meine
Damen und Herren,
({1})
der noch 2008 eine solche Portabilität grundsätzlich ablehnte - Herr Ruppert, Sie waren es nicht - und so den
damaligen Koalitionspartner SPD vorführte.
({2})
Wolfgang Schäuble und der CDU/CSU haben wir es also
zu verdanken, dass die dem Altersgeld zugeschriebenen
nahezu magischen Kräfte in Sachen Fachkräftegewinnung sich im letzten halben Jahrzehnt nicht haben entfalten können.
({3})
Wie aber geht das mit dem Satz zusammen, mit dem
sich der Kollege Krings gern zitieren lässt?
({4})
Ich zitiere:
Wir wollen mit der Reform die besten Köpfe für
den öffentlichen Dienst gewinnen und den Austausch zwischen Staat und Wirtschaft beleben.
Meine Damen und Herren, die Antwort: Das lässt sich
überhaupt nicht zusammenbringen.
({5})
Da kann man Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU, auch heute die Frage nicht ersparen:
Wenn das Altersgeld, Herr Kollege Schuster, so eine
tolle Sache ist, wie Sie das hier heute vertreten, warum
haben Sie es dann jahrelang im Keller liegen lassen?
({6})
Tatsächlich geht es hier um materielle Gerechtigkeit.
Es geht um die Anerkennung von Realitäten und um eine
lange überfällige, allseits geforderte Facette der Modernisierung des Beamtenrechts.
({7})
Diese Anwartschaften müssen prinzipiell verlustfrei mitgenommen werden können. Die vorgelegten Rechtfertigungen für die genannten Einschränkungen überzeugen
uns nicht.
({8})
Dabei räumen die Gewerkschaften ein, dass es allenfalls in wenigen Bereichen der Bundesverwaltung, wie
zum Beispiel der IT, überhaupt eine entsprechende
Wechselstimmung gibt und insgesamt wohl keine große
Nachfrage zu erwarten sein wird. Das ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zu den Superlativen des Wettbewerbs um die besten Köpfe und der Art und Weise, wie
Sie sich für dieses Gesetzchen hier feiern lassen.
Die Gewerkschaften haben mit Recht angemerkt: Die
im vorliegenden Entwurf gewählte Ausgestaltung des
Altersgeldes erst ab einer altersgeldfähigen Dienstzeit
von sieben anstelle von fünf Jahren erscheint willkürlich. Vor allen Dingen an die CDU/CSU gerichtet
sage ich: Die Vorgängerregierung - auch unter Frau
Merkel! - hat einen Bericht in Auftrag gegeben, und in
diesem Bericht wird genau für eine fünfjährige Mindestdauer plädiert, von der Sie jetzt abweichen. Dasselbe gilt
für den pauschalen Abschlag von 15 Prozent auf den Gesamtanspruch. Die Sorge, hier werde ein Aussteigerprogramm für Beamte gestartet, das außer Kontrolle geraten
könnte, scheint nur auf den ersten Blick plausibel; wahrscheinlich ist das aber nicht, wie ich schon gesagt habe.
Meine Damen und Herren, dieser Tage gab es einen
interessanten Artikel auf Zeit Online über die heranwachsende Generation Y,
({9})
über gut ausgebildete, hoch motivierte junge Leute, die
es doch tatsächlich wagen, gerade nicht die Bezahlung
und Versorgung, sondern die Qualität ihres Arbeitsplatzes insgesamt in den Mittelpunkt ihrer Berufswahl zu
stellen.
({10})
Diese sogenannten High Potentials gehen einfach wieder, wenn sie zum Beispiel auf starre Hierarchien und
Chefs von gestern treffen.
Was hat diese Koalition diesen jungen Menschen in
Sachen öffentlicher Dienst zu bieten? Und was haben
Sie als Koalition dem öffentlichen Dienst im Hinblick
auf die Gewinnung dieser Fachkräfte zu bieten?
({11})
Gar nichts haben Sie denen zu bieten, meine Damen und
Herren!
({12})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das ist keine Reform für die Arbeitswelt von morgen. Was Sie hier vorgelegt haben, sind überfällige Konzepte von gestern,
ohne wirklichen Gestaltungs- und Reformauftrag. Auch
im Bereich des Dienst-, Besoldungs- und Versorgungsrechts haben Sie wertvolle vier Jahre vertan. Das ist
schade.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
25 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die
Opfer der Giftgasangriffe
- Drucksache 17/12685 ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen
- Drucksache 17/12684 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf
Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord Humanitäre Hilfe für die Opfer
- Drucksache 17/12692 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 16. März
2013 jährt sich zum 25. Mal ein grauenhaftes Verbrechen
am kurdischen Volk, der Giftgasangriff von Saddam
Hussein auf die Stadt Halabdscha. Irakische Kampfflugzeuge vom Typ MiG und Mirage bombardierten die
Stadt mit Giftgas, mit VX, Sarin und Senfgas, töteten
5 000 Menschen; 10 000 wurden verletzt. Noch heute
leiden die Menschen in Halabdscha an den Folgen, an
physischen und psychischen Krankheiten, an Missbildungen und Traumata.
Ich möchte einen Vertreter dieses geschundenen Volkes auf der Zuschauertribüne begrüßen, Herrn Amin
Babasheikh von der Patriotischen Union Kurdistans.
Herzlich willkommen!
({0})
Zudem habe ich erfahren, dass eine Delegation des Parlaments aus Arbil anwesend ist. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen zu dieser Diskussion!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir
springen mit dem von uns vorgelegten Antrag zu kurz.
Es gilt die Morde an den Kurden durch Saddam Hussein
als Völkermord anzuerkennen,
({2})
wie es jüngst das britische Parlament, die norwegische
Regierung sowie die Parlamente von Schweden und Kanada getan haben. In Frankreich wird auch darüber nachgedacht. Insofern bin ich über unseren Kleinmut ein wenig beschämt.
In der Konvention über die Verhütung und Bestrafung
des Völkermordes ist Völkermord definiert als Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
ganz oder teilweise zu zerstören. Halabdscha war ein
Völkermord mit Ansage. Der Cousin von Saddam
Hussein, Ali Hassan al-Madschid, genannt Chemie-Ali,
kündigte den Giftgasangriff an und verhöhnte dabei
gleichzeitig die internationale Völkergemeinschaft. Man
kann sich das in einem Video auf Youtube ansehen.
Human Rights Watch berichtete 1991 von weiteren
Giftgasangriffen auf kurdische Siedlungen. Der Angriff
auf Halabdscha war nur ein Teil der Vernichtungskampagne gegen Kurden. In der sogenannten Anfal-Kampagne
wurden etwa 1 800 Männer, Frauen und Kinder umgebracht und verscharrt. Ich habe 1993 Irakisch-Kurdistan
bereist und mit eigenen Augen einige dieser Massengräber gesehen. Heute werden immer neue Massengräber
gefunden; die Leichen werden exhumiert, identifiziert
und anschließend begraben.
Tausende von Dörfern wurden zerstört. Die Überlebenden Anfal-Witwen wurden in Gettostädten zusammengetrieben.
Nach 1991, als die Flugverbotszone Schutz bot und
Saddam sich mit seiner gesamten Administration aus
den kurdischen Gebieten zurückgezogen hatte, hatten
die Kurden - auch mit deutscher Hilfe - begonnen, ihr
Land wieder aufzubauen. Ich habe 1993 einige dieser
Frauen getroffen, die sich mühsam mit der Hilfe internationaler Projekte durchschlagen konnten und mussten.
2011 habe ich mit meinem Kollegen Wolfgang
Tiefensee Halabdscha besucht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, das dortige Mahnmal und die damit verbundene Ausstellung zerreißen einem das Herz. Die vom
Giftgas getroffenen Menschen starben in ihren Häusern,
auf den Straßen, auf der Flucht, und zwar qualvoll. In
Nachbildungen und Fotografien ist alles dokumentiert.
Auch über dieses Verbrechen gibt es auf Youtube zahlreiche Dokumentationsvideos, die aber nichts für zarte Gemüter sind. Das will ich hinzufügen.
Es besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit einem
Genozid zu tun haben. Im Irak wurde die Anfal-Kampagne vom Hohen Irakischen Kriminaltribunal als Genozid
anerkannt. In Großbritannien gab es eine Kampagne einer überfraktionellen Parlamentariergruppe, die Unterschriften für eine Petition gesammelt hat. Mithilfe der
Repräsentantin der kurdischen Regionalregierung fand
Aufklärung und Werbung für diese Petition statt. Am
28. Februar 2013 hat das britische Parlament einstimmig, über alle Parteien hinweg, beschlossen, die AnfalOperation als Genozid anzuerkennen. Das ist allerdings
noch kein Präjudiz für die Anerkennung durch die Regierung; ich glaube, das muss man wissen.
Ich stehe etwas beschämt vor der Tatsache, wie zögerlich wir hier vorgehen. Ich glaube, es gebricht uns ein
wenig an Mut. Man kann es allerdings nicht so machen
wie die Linke. Sie fordert eine Entschädigung der Opfer
wegen Mitschuld der Bundesregierung. Ich möchte auf
Folgendes hinweisen: Die Lieferung von Chemikalien
war illegal. Firmen und Firmenchefs standen vor Gericht; zum Teil wurden sie verurteilt und haben ihre Strafen abgesessen. Andere sind freigesprochen worden; das
ist richtig.
Die Exporte von Fabrikanlagen, zum Beispiel von der
Firma Kolb, wurden mit falschen Angaben - etwa mit
Verweis auf die Produktion von Pestiziden - angemeldet
und dann genehmigt. Als der Verdacht aufkam, dass die
Anlagen missbraucht werden könnten, hat die Bundesregierung die Genehmigung zurückgezogen. Die Firma
Kolb zog vor Gericht, bekam recht und durfte exportieren. Das tut uns sehr weh; aber das ist Tatsache.
Als nach dem ersten Golfkrieg durch die Inspektoren
der UNSCOM aufgedeckt wurde, wozu die von der
Firma Kolb exportierten Fabrikanlagen gedient hatten,
wurde die Firma angeklagt und vor Gericht gestellt. Es
erfolgte ein Freispruch mangels Beweisen; in letzter Minute hatte sich ein Schweizer Gutachter entschieden,
keine Aussage vor Gericht zu machen. Damals war ich
sehr betroffen; diese Firma ist in meinem Wahlkreis,
meinem Heimatort ansässig.
Die Bundesrepublik war nicht Täter, Mittäter oder indirekt mitschuldig. Ob die an den illegalen Lieferungen
Beteiligten zu belangen sind, muss geprüft werden. Es
gab viele Länder, aus denen geliefert wurde; ich glaube,
sie müssen in eine Prüfung einbezogen werden.
Nach diesen Erfahrungen hat die damalige Regierung
die Exportgesetze verschärft und die Kontrollen verbessert. Ich stehe wahrlich nicht im Verdacht, eine Apologetin der Regierung Kohl zu sein; aber ich finde, man muss
bei der Wahrheit bleiben und darf die Dinge nicht verdrehen.
({3})
Ich bin nicht einverstanden, dass wir uns - das sieht
man zum Beispiel am Antrag der CDU/CSU - so knappsig geben und die Taschen zuknöpfen. Das, was wir leisten können, ist doch in der Tat, etwas mehr für die geschundenen Opfer dieser Verfolgung, dieses Terrors zu
tun.
Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte gerne, dass auch wir
eine überfraktionelle Gruppe bilden, die sich mit diesem
Genozid beschäftigt und darüber diskutiert, sodass wir
hier im Bundestag zu einer Beschlussfassung kommen
können. Der Kollege Hans-Werner Ehrenberg - das habe
ich im Internet gelesen - hat sich bereits vor Ort informiert und gesagt, er werde für die Anerkennung als Genozid kämpfen. Herr Ehrenberg, wir sind an Ihrer Seite.
({4})
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal Frau Zapf für
ihr Engagement danken, nicht nur, was die Begleitung
des Themas im Ausschuss angeht, sondern insbesondere
für die Beharrlichkeit im Hinblick auf die guten Beziehungen Deutschlands zum kurdischen Volk. Herzlichen
Dank dafür, dass Sie das Thema jetzt schon über so viele
Jahre begleiten. Das wird in unserer Fraktion mit großem Wohlwollen gesehen. Herzlichen Dank, dass Sie
dieses Thema aufgegriffen haben.
({0})
Wir gedenken heute zu später Uhrzeit - immerhin gehen die Reden nicht zu Protokoll - eines Ereignisses, das
in Deutschland fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist, nämlich des Giftgasanschlags vor 25 Jahren, der
durch den Diktator Saddam Hussein verübt worden ist.
Damals sind in Halabdscha 5 000 Menschen getötet
worden; indirekt waren durch die Aggression von
Saddam Hussein 50 000 bis 100 000 Kurden betroffen.
Die Schätzungen dazu gehen bis heute weit auseinander.
Allein das zeigt schon, wie schwierig es ist, diese Verbrechen, die damals im Staat Irak stattgefunden haben,
überhaupt in Zahlen zu kleiden, weil vieles verschleiert
worden ist und man vielen Opfern gar nicht mehr nachgehen kann.
Die Mitglieder des Hauses, die schon einmal die Gelegenheit hatten, selbst in Kurdistan zu sein, wissen, dass
die meisten Dörfer durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezeichnet sind. Das ist das eigentlich Schlimme.
Es geht nicht nur um das Ereignis in Halabdscha selbst,
sondern auch um die große Dimension, darum, dass von
Bagdad aus systematisch gegen ein Volk vorgegangen
worden ist, mit Folgen bis heute. Die körperlichen Deformationen bei den Menschen, die von diesem Giftgasanschlag betroffen waren, sind bis heute zu sehen. Es besteht nach wie vor ein erhöhtes Krebsrisiko, und es gibt
viele Vorfälle von Atemwegserkrankungen.
Das deutsche Generalkonsulat im Nordirak unterstützt ja auch aktiv Ärzte, die dort helfen, und ist auch
sehr aktiv, um den Austausch zwischen deutschen Krankenhäusern und ärztlichen Einrichtungen vor Ort voranzubringen. Deshalb ist es für uns wichtig, dass die Bundesregierung die Hilfen ausgebaut und stabilisiert hat.
Wir arbeiten gerne und erfolgreich mit dem Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin und auch mit dem
Halabja Center for Victims of Chemical Attacks zusammen. Das sind konkrete Dinge, die wir tun. Durch die finanzielle Hilfe des Auswärtigen Amts wird aktuell das
Kirkuk-Center für Folteropfer unterstützt. Seit 2010 gibt
es dort medizinische und psychologische Betreuung vor
Ort. In den letzten drei Jahren haben immerhin
1 500 Betroffene das medizinische Angebot in Anspruch
genommen. Das zeigt, dass wir vor Ort sehr konkret
Hilfe leisten. Sieben angestellte Ärzte, sieben Psychologen und Sozialarbeiter und ein Physiotherapeut haben
mit der finanziellen Unterstützung auch dieser Regierung ein Fundament gelegt für die weitere Unterstützung
der Opfer von Halabdscha, und das 25 Jahre danach.
Dass selbst 25 Jahre danach dieser enorme medizinische
Aufwand betrieben werden muss, zeigt auch das Ausmaß dieser Katastrophe. Ich glaube, darauf sollten wir
uns nicht ausruhen. Vielmehr sollten wir alles tun, dieses
Engagement fortzuführen.
Es ist für uns politisch nicht unerheblich, dass ein so
schlimmes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein
Verbrechen gegen das kurdische Volk, durch Saddam
Hussein verübt worden ist, weil auch heute chemische
Waffen aktuelle Bedrohungen bei Themen darstellen,
mit denen wir uns hier im Deutschen Bundestag beschäftigen. Auch in Syrien steht die Frage im Raum, ob Assad
die chemischen Waffen, die er hat, nicht auch nutzen
würde. Das ist ein Punkt, den wir in unserer Syrien-Politik immer im Blick haben müssen. Dass es in der Region
schon einmal vorgefallen ist, dass von einer Assad nicht
ganz fern stehenden politischen Kraft in einem erheblichen Maße chemische Waffen eingesetzt worden sind,
ist etwas, was uns immer gegenwärtig sein sollte, auch
wenn wir hier im Westen Europas nach 60 Jahren ohne
kriegerische und militärische Auseinandersetzung manches gar nicht mehr für denkbar halten. Halabdscha ist
bei uns in Europa undenkbar. Es war vor 25 Jahren brutale Realität und hat das Leben vieler Menschen sehr negativ beeinflusst.
Wir fordern deshalb die syrische Regierung auch
heute auf, auf chemische Waffen zu verzichten. Wir stehen fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde,
insbesondere von Präsident Obama, der gesagt hat, dass
das nach wie vor eine rote Linie ist, die nicht überschritten werden darf. Zur Stunde wird ja über die SyrienPolitik der Europäischen Union diskutiert. Bei allen
Schwierigkeiten, die es in diesem Konflikt gibt, wird die
westliche Gemeinschaft stärker gefordert sein, als dies
momentan der Fall ist, da wir uns durch die Handlungsunfähigkeit der UNO selber Grenzen auferlegt haben.
Ich möchte auf die aktuelle kurdische Politik eingehen und auf die aus meiner Sicht hervorragende Arbeit,
die die kurdische Regionalregierung leistet. In diesen
Tagen jährt sich zum zehnten Mal die umstrittene Entscheidung des damaligen US-Präsidenten George W.
Bush, der die Invasion und die Befreiung des Iraks vorangetrieben hat. Bis heute ist dies ein politisches Streitthema, nicht nur bei uns, sondern vor allem auch in den
USA. Bis heute sind sich die Historiker uneinig darüber,
wie dieses Ereignis einzuordnen ist. Ich glaube, diese
Debatte wird uns noch lange beschäftigen.
Heute, zehn Jahre nach der Befreiung von Saddams
Diktatur, ist auch aufgrund der hervorragenden Arbeit
des kurdischen Präsidenten Massud Barsani und seiner
Regierung festzustellen, dass die Verhältnisse in Kurdistan eindeutig besser geworden sind, und zwar in wirtschaftlicher und in politischer Hinsicht. Es gibt dort trotz
aller Schwierigkeiten ein Maß an Gleichberechtigung
zwischen Mann und Frau, das man kaum irgendwo anders im Nahen Osten findet. Mir ist kaum ein Land im
Nahen Osten bekannt, wo der Zugang zum Bildungssystem für Mädchen und junge Frauen so unproblematisch
geregelt ist. Es gibt wirtschaftliche Prosperität und
Chancen in Kurdistan, die ihresgleichen suchen.
Ich wünschte mir, wir würden über den ganzen Irak
reden, wenn wir auf das positive Bild von Kurdistan blicken. Leider muss ich das Gegenteil feststellen: dass in
Bagdad immer mehr politische Prozesse verschleppt
werden, dass man sich auch bei wichtigen Themen wie
Öl- und Gasexporten nicht einigen kann, was zu einem
höheren Wohlstandsniveau für alle Menschen im Irak
führen würde. Ich glaube, dass das Hin und Her zwischen den einzelnen Machtfaktoren, das in Bagdad, zum
Teil von Teheran beeinflusst, stattfindet, etwas ist, was
uns nicht unberührt lassen kann. Gerade wenn wir Themen wie Hisbollah behandeln, stellen wir immer häufiger fest, dass die Zentralregierung in Bagdad leider kein
zuverlässiger Partner ist, sondern häufig Probleme verschärft. Das ist etwas, was uns große Sorgen bereitet und
was sicherlich auch zur historischen Einordnung der Intervention gehören wird. Schließlich kann man nicht außer Acht lassen, dass wir, wenn wir über den südlichen
Teil Iraks reden, mittlerweile über einen Failed State,
also über eine Region ohne funktionierende staatliche
Strukturen, sprechen. In Kurdistan, insbesondere rund
um Arbil, erleben wir hingegen das glatte Gegenteil. Das
ist etwas, was wir in unserer außenpolitischen Strategie
definitiv berücksichtigen müssen.
Insofern ist es richtig, dass wir den Kurden im Irak
und den Kurden in Syrien, aber auch den Kurden in der
Türkei die Hand reichen und uns weiterhin stark für ihre
Rechte einsetzen. Sie reklamieren für sich das Recht auf
ein eigenes Land. Sie tragen das zugegebenermaßen
nicht mit der Schärfe vor, wie dies andere ethnische
Gruppierungen auf der Welt tun, sondern sehr moderat.
Sie verweisen auf die Rechte, die ihnen im Rahmen der
Schaffung der autonomen Region Kurdistan im Nordirak
eingeräumt worden sind, und versuchen, das Beste daraus zu machen. Wir dürfen bei unserer außenpolitischen
Konzeption nicht vergessen, dass es sich bei diesem
Partner um einen wirklich verlässlichen Partner, auch im
Antiterrorkampf, handelt, mit dem wir gemeinsam die
Sicherheit Israels gewährleisten können. Unsere Kanzlerin hat dies als einen der Punkte unserer Staatsräson beschrieben, was ich vorbehaltlos unterstütze. Auch da
sage ich, dass es im Nahen Osten kaum noch einen Partner gibt, der unsere Politik so vorbehaltlos unterstützt.
Ich werbe dafür, dass wir die enge Freundschaft zu
Kurdistan verstetigen. Ich werbe dafür, alles zu tun, dass
sich der Fortschritt, der in Kurdistan stattfindet, auf den
Gesamtirak ausdehnt. Ich werbe dafür, dass wir die bilateralen Maßnahmen zu verstärken versuchen. Wir haben
im vergangenen Jahr das Deutsch-Irakische Wirtschaftsforum in Bagdad aufgebaut. Wir arbeiten engagiert mit
unserem Konsul in Arbil zusammen. Wir haben in diesem Haus unter der Führung von Michael Glos, unserem
früheren Bundeswirtschaftsminister, einen deutsch-kurdischen Freundeskreis gegründet.
Ich muss auch sagen, dass sich gerade diejenigen aus
unseren Reihen, die ein besonders gutes Verhältnis zur
Türkei haben, sehr große Verdienste erworben haben,
wenn es darum geht, bei unseren türkischen Partnern um
Verständnis für die Rechte der kurdischen Minderheit
und für die kurdische Regionalregierung im Nordirak zu
werben.
Dieses Thema ist für die Tagesordnung unserer Nahostpolitik wichtig, selbst wenn es von der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen wird. Ich
finde, diese Debatte heute Abend ist wichtig, um auf dieses Thema hinzuweisen.
Herzlich Dank.
({1})
Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Delegation aus dem kurdischen Irak, ich freue mich, dass
Sie heute hier sind. Als eine, die seit über zehn Jahren in
diese Region fährt und daher Halabdscha und die dortige
Bevölkerung sehr gut kennt, bin ich sehr froh, dass es
heute, 25 Jahre nach dem Giftgasangriff der irakischen
Luftwaffe auf die kurdische Stadt Halabdscha, gelungen
ist, dass alle Fraktionen den Opfern ihr Mitgefühl ausdrücken und dass alle Fraktionen verurteilen, dass deutsche Firmen die irakische Giftgasproduktion erst ermöglicht haben;
({0})
denn in Halabdscha bewahrheitete sich erneut der
Spruch: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
({1})
Doch nur die Linke fordert - Frau Zapf hat es eben
schon gesagt - eine Anerkennung der Anfal-Operationen
und des Giftgasangriffs auf Halabdscha als Völkermord.
Damit greifen wir die zentralen Forderungen von Delegationen des kurdischen Volkes im Irak, aber auch von
Menschenrechtsorganisationen auf.
Der Angriff auf Halabdscha stellt schon für sich genommen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Es wurde schon gesagt: 5 000 Menschen starben qualvoll in dem Gift. In Verbindung mit den Anfal-Operationen im gleichen Jahr handelt es sich aber eindeutig um
einen Genozid im Sinne der UN-Konvention über die
Verhütung und Bestrafung von Völkermord. Genozid
wird darin definiert als eine Handlung, die in der Absicht
begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Dies war bei den Anfal-Operationen definitiv der
Fall. Der als Chemie-Ali bekannt gewordene Oberbefehlshaber Ali Hassan al-Madschid gab den Befehl zur
Tötung aller zeugungsfähigen kurdischen Männer.
180 000 Kurden, vor allen Dingen junge Männer, wurden verschleppt oder ermordet. 4 000 Dörfer, also
90 Prozent der Dörfer, wurden zerstört. In über 40 Fällen
kam es zu Giftgasangriffen.
International wurde dieses Verbrechen bereits durch
das irakische, das schwedische und das britische Parlament als Völkermord verurteilt und anerkannt. Eine solche Anerkennung durch Deutschland würde für die Opfer und ihre Hinterbliebenen eine späte moralische
Kompensation bedeuten. Eine solche Anerkennung
könnte die Tür öffnen für eine weitere strafrechtliche
Verfolgung der Händler des Todes wegen Beihilfe zum
Völkermord. Das steht im Wesentlichen in unserem Antrag und nicht, dass es die Hauptschuld der Bundesregierung ist, liebe Frau Zapf.
Eine juristische Ahndung fand in Deutschland - anders als es im CDU/CSU-Antrag suggeriert wird - leider
nicht statt. Obwohl die Bundesregierung seit 1984 über
die Beihilfe deutscher Firmen zum irakischen Chemiewaffenprogramm informiert war, hatte sie nichts
dagegen unternommen. Ermittlungsverfahren wegen
Verstößen gegen das Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz wurden jahrelang verschleppt. Prozesse endeten mit Einstellungen wegen Verjährung, Bewährungsstrafen und Freisprüchen.
Ich habe in Halabdscha mit vielen Überlebenden des
Angriffs gesprochen. Diese fordern vor allen Dingen Gerechtigkeit. Es geht hier nicht in erster Linie um Geld,
sondern vor allen Dingen um Gerechtigkeit. Es geht natürlich auch darum, dass die Firmen verurteilt werden.
Auch wenn uns die Anträge der anderen Fraktionen
nicht weit genug gehen, werden wir ihnen zustimmen,
weil wir der Meinung sind, dass es heute, nach 25 Jahren, ein historischer Tag ist, diesen Angriff zu verurteilen.
({2})
Wir sind es den Menschen schuldig, dass der Bundestag
endlich ein einheitliches Signal setzt und seine Mitver28520
antwortung an diesen Verbrechen zeigt. Das ist eine historische Chance.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Irak und seine besorgniserregenden ethnischen, aber
vor allem auch religiösen Probleme beschäftigen uns fast
täglich. Die vielen blutigen Anschläge in Bagdad und in
anderen Städten des Irak halten unsere Sorge um dieses
wichtige Land wach. Doch all diese grausamen und unsinnigen Bombenattentate können ein viel schlimmeres
Verbrechen nicht verdecken. Der schreckliche Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha im kurdischen Nordirak
hat auch heute, 25 Jahre danach, nichts von seinem
Grauen verloren. Nichts von diesen unvorstellbaren Ereignissen ist vergessen.
Ich selber war vor einigen Wochen vor Ort und habe
mir aus erster Hand von den Gräueltaten jener Tage im
März 1988 berichten lassen. Ich habe mir die Zerstörung
in der Stadt und im Umland angesehen, habe mit Hinterbliebenen sprechen dürfen. Es war unvorstellbar. Noch
heute leidet die Region unter der damaligen systematischen Zerstörung der Lebensgrundlagen der kurdischen
Bevölkerung, unter der gezielten Vertreibung und Vernichtung durch Saddam Hussein und seiner Regierung.
Das Massaker in Halabdscha setzte dieser jahrzehntelangen Aggression gegen die Kurden eine traurige Krone
auf. Bis zu 5 000 Menschen wurden allein in Halabdscha
auf qualvolle Weise ermordet. Den gesamten Anfal-Operationen fielen nach internationalen Schätzungen insgesamt zwischen 50 000 und 100 000 Kurden zum Opfer.
Wie sehr meine Fraktion und ich die schrecklichen
Verbrechen des Diktators Saddam Hussein und seiner
Baath-Partei verabscheuen und verurteilen, brauche ich
an dieser Stelle nicht zu wiederholen, wohl aber, dass
meine Fraktion und viele andere - ich würde sagen, alle
hier im Hause - den Opfern der Anfal-Kampagne und
ihren Hinterbliebenen an dieser Stelle ihr tiefes Mitgefühl aussprechen.
({0})
Es muss immer eine Maxime unserer Außenpolitik sein,
sich rückhaltlos dafür einzusetzen, dass so etwas niemals
wieder geschehen kann.
Heute befindet sich Halabdscha immer noch im Wiederaufbau und erholt sich nach und nach von den Angriffen vor 25 Jahren. Ich habe dort aber immer noch viel
Armut gesehen. Die bewegende Geschichte dieser Stadt
soll uns und alle daran erinnern, weshalb wir hier und
jetzt zusammengekommen sind: Niemals soll anderen
Menschen das Gleiche widerfahren wie den Menschen
in Halabdscha.
Ich habe aber in meinen Gesprächen vor Ort keine
Atmosphäre der Rache und des Hasses, sondern der
Hoffnung und Zuversicht erfahren dürfen, etwas, was
mich sehr berührte. Daher ist es auch sehr wichtig, dass
die Bundesregierung den Irak weiterhin durch eine Vielzahl von Projekten bei Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung unterstützt. Herr Mißfelder hatte das im Einzelnen ausgeführt, ich will das nicht wiederholen.
Das Gedenken an Halabdscha sollte aber auch zur
Konsequenz haben, dass wir uns alle dafür einsetzen, die
internationale Kontrolle von Massenvernichtungswaffen weiter voranzutreiben. Unser Außenminister hat dies
seit seinem Amtsantritt sehr vorbildlich getan. Es war
aber auch richtig und wichtig, dass illegale Lieferungen
deutscher Firmen in den Irak in der Vergangenheit gerichtlich geahndet worden sind. Sollten in der Zukunft
weitere Fälle auftauchen, werden wir dafür sorgen, dass
auch diese zur Anzeige gebracht werden. Dies allerdings
gleichzusetzen mit einer Verantwortung der Bundesregierung oder deutsche Firmen gar zu Entschädigungszahlungen zu zwingen - das sage ich Ihnen ganz offen -,
halte ich nicht für angebracht.
({1})
Das Gedenken an Halabdscha sollte auch dazu dienen, vor den Gefahren zu warnen, die den Irak aktuell
bedrohen. Wir alle haben ein Interesse an einem stabilen
und sicheren Irak in Frieden und Einheit. Da hat der radikale Islamismus, wie wir ihn derzeit in vielen Ländern
des Nahen und Mittleren Ostens wieder aufflammen sehen, keinen Platz. Wir sollten die Kurden daher nicht nur
in ihrer Vergangenheitsbewältigung im Irak unterstützen
- hier tut die Bundesregierung bereits sehr viel -, sondern vor allem auch föderale und gemäßigte Strömungen
in der aktuellen irakischen Politik fördern. Dazu gehört
auch, dass wir mit der kurdischen Autonomiebehörde
auf Augenhöhe sprechen. Unsere amerikanischen, französischen oder russischen Freunde haben da weniger Berührungsängste.
Ich bedauere außerordentlich, dass wir keinen interfraktionellen Antrag zustande bekommen haben. Ich will
das hier aber gar nicht weiter kommentieren, sondern betonen, dass ich mich über die würdigen Beiträge aller
Fraktionen hier freue.
({2})
Ich möchte ganz besonders Frau Zapf nennen und ihren
Vorschlag, einen überfraktionellen Antrag zu erarbeiten.
Ich glaube, damit würden wir dem Thema gerecht. Das
haben aus meiner Sicht die Opfer von Halabdscha verdient.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Halabdscha ist noch immer eine offene
Wunde. 5 000 Kurdinnen und Kurden starben bei den
kaltblütigen, menschenverachtenden Angriffen der Saddam-Diktatur. Viele wurden nachhaltig traumatisiert.
Die Menschen in der Region können und wollen die
schrecklichen Verbrechen auch ein Vierteljahrhundert
danach nicht vergessen.
Die Giftgasangriffe in Halabdscha sind ein düsteres
Kapitel der jüngeren Geschichte, das seine Schatten weit
über den Irak hinaus wirft; denn die Saddam-Diktatur
wäre ohne die Technologie aus dem Ausland, vor allem
aus Deutschland, gar nicht in der Lage gewesen, die
Chemiewaffen zu entwickeln, die am 16. März 1988 in
Halabdscha eingesetzt wurden. Deshalb trägt auch
Deutschland eine moralische Mitverantwortung für das,
was geschehen ist. Dieser Verantwortung stellen wir uns
mit unserer Debatte im Deutschen Bundestag.
({0})
Vieles ist noch nicht abgegolten. Die Strafen für die
Firmen, die hier tätig waren, und ihre verantwortlichen
Mitarbeiter waren gering und konnten nicht zu einer umfassenden Aufarbeitung beitragen. Die Frage nach der
Verantwortung der Unternehmen für die Opfer blieb unbeantwortet. Aber die Spätfolgen der Vernichtungspolitik Saddams sind bis heute spürbar. Viele Menschen leiden an Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen, viele
Kinder und Jugendliche an Missbildungen. Auch die
psychischen Spätfolgen der damaligen Gewalt sind nicht
überwunden, und die Schicksale vieler Vermisster und
Getöteter sind noch immer nicht aufgeklärt.
Dabei ist es uns ein wichtiges Anliegen, auch an die
Verantwortung Deutschlands zu erinnern, insbesondere
an die laxen Waffenexportregelungen und eine Politik,
die sich beim Umgang mit Dual-Use-Technologien an
rein geschäftlichen Interessen orientiert. Genau diese
Blindheit hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich
das Saddam-Regime ein Arsenal an Chemiewaffen zulegen konnte. Aus dieser Erfahrung müssen wir endlich
lernen und für eine striktere Rüstungsexportkontrolle
sorgen. Tödliche Waffen sind eben nicht grundsätzlich
ethisch neutral, wie uns der Verteidigungsminister kürzlich glauben machen wollte.
({1})
Jenseits der Forderungen in unserem Antrag treten
wir für eine proaktive Politik ein und für unterstützende
Initiativen aus Deutschland, die der Gedenkkultur in der
Region Kurdistan neue Impulse verleihen.
({2})
Ein Beispiel dafür ist das neue Mahnmal für die Opfer
der sogenannten Anfal-Operationen von Saddams Armee in Chamchamal. Es ist uns ein besonderes Anliegen,
deutlich zu machen, dass wir die Opfer der Unterdrückungs- und Vernichtungsmaschinerie von Saddam
und seinem Unrechtsregime nicht vergessen dürfen.
Erfahrungen aus dem Prozess der Aufarbeitung unserer Geschichte können wir weitergeben, zum Beispiel
mit Blick auf die Sicherung und Auswertung von Dokumenten, die Einbeziehung von Zeitzeugen und die pädagogische und museale Bearbeitung der Vorgänge. Wir
sollten in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut das
Gespräch darüber mit den Verantwortlichen in der
Region intensivieren. Ohne Angst vor weiterführenden
Debatten und ohne Scheuklappen kann Deutschland mit
dieser Art von Unterstützung viel zur Aufarbeitung beitragen und deutlich machen, wie wichtig uns ein kritisches Erinnern auch an die deutsche Mitverantwortung
für dieses Verbrechen ist.
Zum Abschluss möchte ich sagen: Ich teile den Vorschlag der Kollegin Zapf, in Anbetracht der vorliegenden Anträge eine interfraktionelle Gruppe einzurichten.
Letztlich sind die Unterschiede in den Anträgen auffällig
gering. Die eine Seite fügt dem Text des Antrags von
Rot-Grün ein wenig Lob an die Bundesregierung bei.
Die Forderung nach Anerkennung als Völkermord - das
ist der entscheidende Punkt - halte ich durchaus für berechtigt. Nach Prüfung der Sachlage habe ich wenig Bedenken, das juristisch so einzuordnen. Der Antrag der
Linken ist an der Stelle der Haftungsverantwortung
- Abgrenzung zwischen Bundesregierung, Unternehmen
und Diktatur - nicht ganz klar. Sie haben aber gesagt,
dass es nicht Ihre Absicht war, die Bundesregierung in
Haftung zu nehmen. Von daher wird es vielleicht möglich sein, zu einer gemeinsamen Formulierung zu kommen. Das würde ich sehr begrüßen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12685 mit dem Titel „25 Jahre nach
Halabja - Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/12684 mit
dem Titel „Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen
die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir kommen zum Zusatzpunkt 9, Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der Linken auf Drucksache 17/12692
mit dem Titel „Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja
vom 16. März 1988 als Völkermord - Humanitäre Hilfe
für die Opfer“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Strukturreform des Gebührenrechts des
Bundes
- Drucksache 17/10422 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/12722 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Helmut Brandt-
Kirsten Lühmann-
Manuel Höferlin-
Frank Tempel-
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12722, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10422 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalition und der SPD bei Enthaltung
der Linken und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 14:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Privatisierung der öffentlichen Sicherheit
rückgängig machen
- Drucksache 17/10810 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10810 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 15:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestageshier: Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages ({3})
- Drucksache 17/12670 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang GötzerSonja SteffenJörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck ({4})
Hierzu liegen zwei gemeinsame Änderungsanträge
der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen so-
wie zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor.
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) -
Sie sind damit offensichtlich einverstanden.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Im-
munität und Geschäftsordnung auf Drucksache 17/12670.
Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor, über die wir
zuerst abstimmen.
Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12698. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12699. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion abgelehnt.
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/12701. Wer stimmt für diesen Änderungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch
dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tion gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/12702. Wer stimmt für diesen Änderungs-
antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
1) Anlage 3
2) Anlage 4
3) Anlage 5
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Schneider, Kai Gehring, Volker Beck ({5}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Queere Jugendliche unterstützen
- Drucksache 17/12562 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})-
Innenausschuss-
Sportausschuss-
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12562 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 10 auf:
17 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
- Drucksache 17/12619 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und
zukunftsweisend umsetzen
- Drucksachen 17/11664, 17/12671 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({9})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Peter Ramsauer das Wort.
({10})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor allen Dingen hochverehrte unerbittlich
verbliebene Zuhörer und Besucher auf den Rängen! Fordern und Fördern - das sind genau die tragenden Säulen
unserer Politik, mit denen wir zur Steigerung der Energieeffizienz im Gebäudebereich beitragen wollen. Das
Resümee aus den Jahren seit Einführung der KfWFörderung im Jahr 2006 - ich nehme dies einmal als
Maßstab - ist, dass sich diese Kombination aus Fördern
und Fordern als eine ausgezeichnete erfolgsträchtige
Kombination erwiesen hat.
Dank der Förderinstrumente unseres CO2-Gebäudesanierungsprogramms werden wir schon sehr bald - man
höre und staune - die stolze Zahl von 3 Millionen energetisch sanierten Wohnungen erreichen. Der erste Monitoringbericht zur Energiewende, den wir im vergangenen
Dezember vorgelegt haben, bestätigt - jetzt kommt eine
sehr interessante Zahl -: Der Energieverbrauch für Heizung und auch für Kühlung - es werden immer mehr
Klimaanlagen in Häuser eingebaut -, für Warmwasser,
für Beleuchtung usw. sank von 40 Prozent Anteil am Primärenergiebedarf - das war jahrelang die Marke - auf
inzwischen 34 Prozent. 6 Prozentpunkte weniger Primärenergiebedarf, das ist eine großartige Zahl.
({0})
Ich sage fairerweise dazu: Diese Entwicklung hat
2006 angefangen, also in der Zeit vor dieser Regierung.
Wir sollten in diesem Hause nicht immer so tun, als wäre
alles, was vorher gemacht worden ist, falsch gewesen.
Nein, hier sind gute Wurzeln gelegt worden. Ich hätte
dies gern auch meinem hochgeschätzten Vorgänger
Wolfgang Tiefensee gesagt; gerade habe ich ihn noch
hier gesehen.
Wenn man das zusammennimmt, heißt das: Die von
uns ergriffenen Maßnahmen entfalten ihre Wirkung.
Man kann mit Fug und Recht sagen: Deutschland steht
weltweit an der Spitze der Bewegung für Energieeinsparung und für mehr Energieeffizienz.
({1})
Aber wir können und wollen uns darauf nicht ausru-
hen. Unsere Ziele sind bekannt. Der Wärmebedarf im
Gebäudebereich muss um 20 Prozent und der Primär-
energiebedarf bis 2050 muss um etwa 80 Prozent weiter
sinken. Das heißt, wir wollen die Gebäude in Deutsch-
land bis 2050 weitestgehend klimaneutral halten.
Neben der Förderung - auch das ist ganz klar - müs-
sen natürlich auch ordnungsrechtliche Maßnahmen ei-
nen Beitrag leisten. Mit der jetzt vorgelegten Anpassung
der Energieeinsparverordnung auf der Basis des Ener-
gieeinsparungsgesetzes vollziehen wir hier einen we-
sentlichen und wichtigen Schritt. Das Ziel des Gesetzes 1) Anlage 6
ist die Einführung einer Grundpflicht zur Errichtung von
Neubauten im Niedrigstenergiestandard ab dem Jahr
2019 für öffentliche Gebäude bzw. ab 2021. Wir orientieren uns dabei strikt am bewährten Gebot der Wirtschaftlichkeit. Investitionen müssen sich auch in Zukunft für die Gebäudeeigentümer wirtschaftlich lohnen,
({2})
und sie müssen für die Mieter bezahlbar sein; ich füge
dies ausdrücklich hinzu, weil ich gerade unter anderem
mit der Kollegin Petra Müller von einer Veranstaltung
des Deutschen Mieterbundes komme.
Einen Sanierungszwang nach ideologischem Muster,
wie ihn sich manche vorstellen - ich sage auch das in aller Klarheit und Entschiedenheit -, lehnen wir ab, und
ihn wird es mit mir als Bauminister auch nicht geben.
({3})
Denn er hätte - wenn man die wirtschaftliche Praxis ein
bisschen kennt, weiß man das, meine sehr geehrten Damen und Herren - fatale Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft in diesem Bereich.
Anspruchsvollere Effizienzstandards definieren wir
deshalb nur für Neubauten. Im Gebäudebestand sehen
wir bewusst von einer Verschärfung ab, vor allem, weil
die tatsächlich erzielbaren Einsparungen an Primärenergie nur geringfügig wären, und das bei exorbitantem
Kosteneinsatz, der manchmal geradezu absurd wäre und
zu nicht vertretbaren Grenzkosten führen würde.
Zudem, meine Damen und Herren, ist der wirtschaftlich vertretbare und zumutbare Spielraum für Anhebungen im Bestand wesentlich stärker begrenzt, als dies bei
Neubauten - aus den verschiedensten Gründen - der Fall
ist. Wir müssen auch berücksichtigen - das haben viele,
so scheint es, vergessen -, dass seit der letzten EnEVNovelle im Jahr 2009 noch nicht einmal vier Jahre vergangen sind.
Mehr Transparenz ist uns ein wichtiges Anliegen. Die
Angabe energetischer Kennwerte in Immobilienanzeigen wird künftig ebenso verpflichtend sein wie die Übergabe des Energieausweises an den Käufer oder an den
neuen Mieter.
Lassen Sie uns also jetzt konstruktiv in die parlamentarischen Beratungen einsteigen und die Reform des
Energieeinsparrechts zum Erfolg führen! Ich bin sicher,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Handlungsfelder Bauen und Wohnen als wichtige und wesentliche Werkbänke der Energiewende erweisen werden.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Debatte über den rechtlichen und den
doch sehr technokratischen Ordnungsrahmen der Energieeinsparverordnung gibt, finde ich, dem Parlament
auch zu einer so späten Stunde den dankbaren Anlass, in
Ruhe Luft zu holen und vielleicht einmal generell zu
schauen, wie es eigentlich mit der Energiewende aussieht.
({0})
Noch einmal zur Erinnerung: Die Energiewende wird
nur ein Erfolg, wenn wir den Energieverbrauch im Gebäudebereich drastisch senken. Im Wohnungsbereich
müssen wir, um dieses Ziel zu erreichen, natürlich vor
allen Dingen an den Bestand herangehen und ihn energetisch sanieren. Sie versuchen ja immer, uns im wahrsten
Sinne den Schwarzen Peter für das Scheitern der steuerlichen Förderung zuzuschieben.
({1})
Dabei haben Sie die Verhandlungen am Ende vor die
Wand gefahren. Die Zeche sollten die Länder zahlen.
Nachdem Sie damit für reichlich Zeitverzug gesorgt haben, sind Sie ja nun endlich auf den von uns schon seit
langem geforderten Kurs der KfW-Förderung eingeschwenkt.
Die Aufstockung der Mittel für das KfW-Programm
„Energieeffizient Sanieren“ erfolgt allerdings etwas
halbherzig und vor allen Dingen viel zu spät. Der Umfang bleibt trotz des angekündigten Zusatzprogramms
im Umfang von 300 Millionen Euro weit zurück hinter
den 2 Milliarden Euro, die für die energetische Gebäudesanierung mindestens nötig wären. Nur so wären die Anforderungen im Gebäudebereich aber zu stemmen, und
nur so könnten wir die nötigen Energie- und CO2-Einsparungen im Gebäudebereich erzielen.
Die KfW-Förderung hat sich bewährt. Sie berücksichtigt Fördergrundsätze wie Technologieoffenheit und qualifizierte Beratung. Bereits jetzt werden rund 70 Prozent
der im Rahmen des KfW-Programms „Energieeffizient
Sanieren“ geförderten Wohneinheiten von privaten Eigentümern saniert. Das zeigt, dass KfW-Programme gut
angenommen werden.
Trotz der Ergänzungen des Förderprogramms bleiben
wichtige Fragen von der Bundesregierung unberücksichtigt. Energetische Stadtsanierung besteht nicht nur aus
dem Sanieren einzelner Wohneinheiten, sondern muss
sich auf den gesamten Stadtteil beziehen: von der Energieversorgung bis hin zur effizienten Nutzung und
Speicherung erneuerbarer Energien in dezentralen Strukturen. Deswegen ist eine Verzahnung von Städtebauförderung und energetischer Gebäudesanierung so wichtig.
({2})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Unter SPD-Regierungsbeteiligung standen für die entsprechenden KfWProgramme am Ende mehr Mittel im Haushalt zur Verfügung, als dies jetzt nach der Aufstockung durch die
schwarz-gelbe Bundesregierung der Fall ist - und das,
obwohl Sie vollmundig eine allumfassende EnergieSören Bartol
wende angekündigt haben. Die Realität Ihrer Politik
sieht allerdings so aus, dass die Energiewende schon auf
den ersten Metern im Sande verläuft.
Kommen wir zum Energie- und Klimafonds - noch
so eine grandiose Meisterleistung -: Ab 2013 sollen
auch Mittel aus dem Energie- und Klimafonds für die
energetische Stadtsanierung und für die energetische Gebäudesanierung zur Verfügung stehen. Die SPD hat immer angemahnt, die Finanzierung von wichtigen Maßnahmen zur Verwirklichung der Energiewende auf eine
solide und vor allen Dingen auf eine verlässliche Grundlage zu stellen. Was machen Sie? Sie gründen einen
Schattenhaushalt, dessen Einnahmen so konstant sind
wie das Wetter im April.
({3})
Die alleinige Einnahmebasis des EKF stellt der Erlös aus
dem Handel mit CO2-Zertifikaten dar. Ich habe Ihnen
schon damals gesagt: Das kann nur schiefgehen. - Und
das geht jetzt auch schief: Der Preis für CO2-Zertifikate
liegt derzeit weit unterhalb des von der Bundesregierung
angenommenen Betrags. Ungeachtet der Einnahmerisiken hält die Regierungskoalition immer noch an ihren
Erlösprognosen für 2013 fest, die von einem Preis für
CO2-Zertifikate von ungefähr 10 Euro ausgehen. Dabei
hatte sich schon im vergangenen Jahr gezeigt, dass diese
Kalkulation auf deutlich überhöhten Preiserwartungen
beruht. Zahlreiche Umwelt- und Klimaschutzprogramme,
die sich aus dem Sondervermögen EKF speisen, mussten
bereits 2012 Mittelkürzungen verkraften; viele Projekte
mussten eingestellt werden.
({4})
Betroffen sind wichtige Bereiche wie Energieeffizienz,
kommunaler Klimaschutz, CO2-Gebäudesanierung und
natürlich auch Marktanreizprogramme.
Ungeachtet der Einnahmerisiken sollen nach Ihrem
Willen immer neue Programme über den Energie- und
Klimafonds finanziert werden. Angesichts dessen, dass
sich bereits zu Jahresbeginn 2013 erneut Mindereinnahmen in Höhe von bis zu 1 Milliarde Euro abgezeichnet
haben, muss die Bundesregierung langsam einmal darlegen, wie sie die Finanzierung dieser erfolgreichen Programme und damit - das will ich hier noch einmal deutlich
sagen - das Herzstück der Energiewende in Deutschland
sichern will.
({5})
Im Haushaltsentwurf für 2014 steht nun auch noch
eine globale Minderausgabe für den Energie- und Klimafonds. Waren die EKF-Einnahmen bisher schon sehr
unsicher, so ist das nun die große Katastrophe. Das trifft
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm am Ende ebenso
wie die energetische Stadtsanierung. Was das Allerschlimmste ist: Die Investoren verunsichert es völlig.
Es ist schon interessant, dass Sie immer noch an der
Bewertung festhalten, dass ein derart gestalteter Energieund Klimafonds eine solide Finanzierungsgrundlage bildet. Vielleicht erinnern Sie sich an den Satz von Albert
Einstein:
Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu
zertrümmern als ein Atom.
({6})
Vom Zertrümmern von Atomen wollen wir weg. Vielleicht schaffen Sie es, auch Ihre vorgefasste Meinung
schleunigst zu überdenken.
Ich muss an dieser Stelle nämlich sagen: Union und
FDP haben keine Konzepte. Nach außen wird eine nachhaltige Klimaschutzpolitik propagiert; aber dazu fehlt
Ihnen eigentlich das entsprechende Klima. Sie haben
noch nicht einmal begriffen - doch das ist Ihnen völlig
fremd -, dass Eigentum eine gesellschaftliche Verpflichtung mit sich bringt; das ist übrigens schon dem Grundgesetz zu entnehmen. Sie gönnen noch nicht einmal den
Mietern, die von Sanierung betroffen sind und durch Sanierung belastet werden, das für uns alle selbstverständliche Mietminderungsrecht.
({7})
Ich glaube, dass Sie damit ein negatives Klima schaffen.
Sie stigmatisieren die Mieter; denn auch mit anderen
Änderungen im Mietrecht haben Sie sozusagen einen
Pauschalverdacht eingeführt. Sie sehen den Mieter nicht
als Partner; doch wir brauchen die Mieterinnen und Mieter als Partner bei der Mammutaufgabe der energetischen Sanierung.
Nötig wäre eigentlich eine Sanierungsquote von
3 Prozent pro Jahr. Wir sind jetzt ungefähr bei 0,7 Prozent pro Jahr. Ich glaube, Sie wissen ganz genau wie ich,
dass das vorne und hinten nicht ausreicht.
({8})
Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Legen Sie
doch endlich ein Programm dafür vor, wie wir die Energiewende - hierbei geht es nämlich nicht nur um Strom;
wir reden hier im Deutschen Bundestag viel zu oft über
Strom - gerade im zentralen Gebäudebereich zum Erfolg
führen können. Das, was Sie bis jetzt auf diesem Weg
vorgelegt haben, reicht vorne und hinten nicht aus. Das
wird auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf nicht verändern.
({9})
Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, Sie alle zu später Stunde hier so zahlreich zu
sehen. Gäste haben wir auch. Herzlich Willkommen!
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes setzt die christlich-liberale Koalition ihren Weg zur Energiewende fort. Wie? Umsichtig,
nachhaltig, kontinuierlich.
Wir tun dies umsichtig, weil wir energie- und sozialpolitische Fragen gemeinsam betrachten. Genau das tun
wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen. Das fordern Sie auch in Ihren Anträgen und
auf Ihrer Webseite.
Die Konsequenz, die wir daraus ziehen, ist aber eine
andere. Wir wollen hier einen anderen Weg gehen; denn
angesichts der hohen Wohnraumnachfrage in verschiedenen Teilen unseres Landes führt jede Verschärfung der
Energieeffizienz im Gebäudebestand zwangsläufig zu
steigenden Mieten.
({0})
Das genau erreichen Sie mit Ihrer Forderung. Das ist für
mich übrigens kein Ausdruck sozialer Verantwortung.
Die Verschärfung von Standards fördert im Neubaubereich das Hochpreissegment, also genau das, was Sie
nicht wollen. Mit Ihren Forderungen regen Sie das aber
an, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Sie spitzen die Wohnungssituation für Menschen mit
mittleren und kleinen Einkommen - Studenten, Rentnern, jungen Familien usw. - zu.
({1})
Mit diesem Weg, den Sie vorschlagen, erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie wollen.
Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, werden weiterhin
darauf achten, dass die Mindestanforderungen für die
Bauten im Bestand nicht steigen, sondern da bleiben, wo
sie jetzt sind.
({2})
Die Anforderungen an den Effizienzstandard von
Neubauten werden in zwei Stufen - 2014 und 2016 - angehoben, und zwar um jeweils 12,5 Prozent Jahresprimärenergiebedarf und 10 Prozent Wärmedämmung der
Gebäudehülle. Mehr nicht! Der Niedrigstenergiegebäudestandard wird für Bürogebäude ab 2019 und für alle
übrigen Neubauten ab 2021 verpflichtend.
({3})
- Ganz genau. Vielen Dank, Herr Kollege Staffeldt.
In Bezug auf den Gebäudebestand gibt es keine neuen
Anforderungen - nicht hinsichtlich der Modernisierung
der Außenhülle und auch keine neuen Nachrüstpflichten.
Ich glaube, das ist eine wichtige Nachricht für alle Hausbesitzer, ob klein oder groß.
Damit tragen wir der Wirtschaftlichkeit von Gebäuden Rechnung. Wirtschaftlichkeit ist ein Begriff, der
dem einen oder anderen vielleicht fremd ist, aber ich
kann das ja noch einmal erklären. Wenn ich investiere,
dann muss sich das in der Miete irgendwann auch niederschlagen, sonst passt das Geschäft für keinen von beiden Partnern. So ist das nun einmal.
({4})
Gleichzeitig müssen in Bezug auf diese Wirtschaftlichkeit auch bautechnische und ästhetische Fragen berücksichtigt werden. Auch das ist wichtig; das sollte man
nicht aus den Augen lassen.
Technologieoffenheit und Wahlfreiheit für Investoren
bzw. Eigentümer müssen gewahrt bleiben. Das nenne ich
liberale Politik. Das ist die Politik unserer Koalition, und
das ist umsichtig.
({5})
- Ja, das ist es.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist nachhaltig, und Nachhaltigkeit ist heutzutage wirklich mehr als nur Energieeinsparung.
Markt und Politik fordern viel von Eigentümern und
Investoren, und es sind nicht immer nur die Großen, sondern auch die Kleinen betroffen. Hier müssen wir uns
doch nichts vormachen.
Die Anpassung der Gebäude an älter werdende Gesellschaften und an den demografischen Wandel, das
Wohnumfeld, das verbessert werden soll und muss, stabile Nachbarschaften - hier denke ich auch an die Quartiere -, bessere Sicherheitsstandards - auch das ist heute
eine Anforderung an Investoren und Eigentümer -, bessere Mess- und Gebäudetechnik, weil wir damit doch
Energie sparen, Qualitätssicherung, Energiemanagement, technische Überwachung: Das ist ein ganzes Maßnahmenpaket. Das sind Aufgaben und steigende Ansprüche. Diese erfordern aber auch Ausgewogenheit.
Deshalb ist die Wirkung unserer Gesetzesvorlage so
nachhaltig,
({6})
weil sie umfassende Forderungen im Einzelfall zulässt,
aber nicht behindert, und weil sie mit Augenmaß vorgeht, aber nicht überfordert.
Bei aller Notwendigkeit zur energetischen Sanierung,
bei allen sinnvollen Standards: Wir wollen, dass in
Deutschland auch weiterhin gebaut werden kann und
auch gebaut wird. Genau deshalb werden wir den
Grundsatz der Wirtschaftlichkeit in die Präambel zur
Energieeinsparverordnung aufnehmen. Wir wollen für
Investoren Startblöcke aufstellen, aber keine Hemmschuhe an sie verteilen.
Das alles möchten wir in den nächsten Jahren kontinuierlich fortsetzen. Deshalb will die christlich-liberale
Koalition vor 2018 auch keine weiteren Novellierungen.
Petra Müller ({7})
Denn das ist das wichtige Signal in den Markt hinein:
die Planungssicherheit, die sich positiv auf Neubau und
Sanierung auswirken wird. Diese wird sich auf den gesamten Wohnungsmarkt auswirken und schafft Stabilität
und das Klima für Neubauten.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, vielleicht noch ein Wort ganz zum Schluss zur Markttransparenz: Es wird einen Energieausweis geben. Der wird
in ein paar Jahren genauso normal sein wie die Ampel an
jedem Elektrogerät. Jeder Mieter oder Erwerber eines
Gebäudes wird sich danach richten und kann auf dieser
Grundlage seine Kaufentscheidung bedenken. Ich
glaube, auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt bei der
Energiewende.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue
mich auf meine nächste Kollegin.
({8})
Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
diesem Gesetzentwurf erhebt die Bundesregierung den
Anspruch, die Richtlinie der Europäischen Union und
des Europäischen Rates vom 19. Mai 2010 über die Gesamteffizienz von Gebäuden umzusetzen. Aber genau
das Gegenteil tut sie.
Herr Ramsauer, Sie haben es tatsächlich hinbekommen, in Ihrem Eingangsstatement nicht ein einziges Mal
die EU zu erwähnen. Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier
vorgelegt haben, entspricht in keiner Weise den Ansprüchen, die wir in einem gemeinsamen Europa miteinander
vereinbart haben.
({0})
Im Gegenteil: Sie verwässern die Zielsetzungen der
EU zum Klimaschutz und verstümmeln diese Richtlinie
auf wenige, willkürlich ausgewählte Aspekte.
Die Bundesregierung verstößt mit vielen der hier vorgesehenen Regelungen sowohl gegen ihre eigenen Zielmarken als auch gegen die mit der EU vereinbarten Zielmarken.
Die Bundesregierung ignoriert die von der EU angebotenen Hilfen und Vorgaben zur Schaffung angemessener Finanzierungsinstrumente zur Beschleunigung in
Richtung einer besseren Gesamteffizienz von Gebäuden.
Dass der Minister das nicht hören mag, kann ich mir vorstellen.
({1})
Die Bundesregierung hält sich nicht einmal an den
vereinbarten Zeitrahmen für die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht und müsste sich nach Art. 27 der
EU-Richtlinie deswegen schon heute selbst mit Sanktionen belegen. Aber der Reihe nach.
Die Bundesregierung will erstens die primärenergetischen Anforderungen an Neubauten in zwei Stufen jeweils um 12,5 Prozent bis 2016 verschärfen. Die EURichtlinie fordert aber 20 bis 30 Prozent bis 2020. Diese
Vorgabe ist so überhaupt nicht zu erfüllen.
Die Bundesregierung will zweitens die Anforderungen an die Gebäudehülle in zwei Stufen jeweils um
10 Prozent bis 2016 verschärfen - aber nur bei Neubauten. Die EU-Richtlinie fordert in Art. 6 und Art. 7, dass
alle Neubauten und Bestandsgebäude einzubeziehen
sind. In Art. 9 fordert sie, dass bis 2020 alle Neubauten
und bis 2018 alle öffentlichen Gebäude dem Niedrigstenergiestandard entsprechen sollen.
({2})
Die Bundesregierung will drittens keinen eigenen
Finanzrahmen für die Förderung dieser Ziele festschreiben.
({3})
Die EU-Richtlinie schreibt in Art. 10 aber genau dieses
vor.
Herr Schäubles Eckwerte für den Haushalt 2014
- Herr Bartol hat es hier schon einmal näher ausgeführt haben die Unterdeckung des EKF bereits deutlich werden lassen.
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Sie in diesem
Gesetzentwurf nicht einmal mehr eine verlässliche Förderung für Investoren, auf die Sie, Frau Müller, so sehr
abzielen, vorsehen.
({4})
Die Bundesregierung ignoriert viertens, dass die Frist
zur Umsetzung der EU-Richtlinie bereits am 9. Juli 2012
abgelaufen ist, wie es die EU-Richtlinie vorschreibt. Darin werden auch Sanktionen für denjenigen gefordert,
der diese Richtlinie nicht bis zum 9. Januar 2013 umgesetzt hat. Also sollten wir uns heute schon einmal darüber unterhalten, welche Sanktionen wir unserer eigenen Bundesregierung auferlegen, weil sie diesen Termin
schon längst verpasst hat.
({5})
Deshalb jetzt dieser Schnellschuss ohne Sinn und Verstand, wahrscheinlich aus reiner Angst vor zukünftigen
Sanktionen der EU.
Die Linke schließt sich mit ihren Forderungen den
Vorschlägen des NABU zur Novellierung des Energieeinsparungsgesetzes und auch der Energieeinsparverordnung in weiten Teilen an. So werden durch Ihre herabgesetzte Verordnung, Frau Müller, die Mieterinnen und
Mieter eben nicht geschützt, sondern sie sollen zusätzlich belastet werden; denn wenn es in den Gebäudebeständen zu keinerlei zusätzlicher Sanierung im energetischen Bereich kommt, werden die Mieterinnen und
Mieter an dieser Stelle auch nicht entlastet, sondern wei28528
terhin hohe Nebenkosten zahlen müssen. Diese bleiben
letztlich auf der Strecke.
({6})
Diesen Gesetzentwurf kann man aus den von mir genannten Gründen einfach nur ablehnen. Er ist nicht nur
den Mieterinnen und Mietern und auch den Investoren
gegenüber unfair. Er ist auch gegenüber den vereinbarten Zielen in Europa unfair. Das kann man mit der Linken in diesem Land nicht machen.
({7})
Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen.
({8})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt habe ich gedacht: Wenn zu so später Stunde der
Minister hier ist, dann wird ein Feuerwerk abgebrannt.
Er hat aber nicht einmal ein Streichholz entzündet.
({0})
Ich komme gleich zu dem, was Sie hier vorlegen,
Herr Minister. Ihre Schönrederei beim Thema Gebäudesanierung kann man Ihnen nicht durchgehen lassen.
Wenn wir Mitte des Jahrhunderts einen halbwegs klimaneutralen Gebäudebestand haben wollen - das müssen
wir, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen -,
dann brauchen wir eine Sanierungsrate von 3 Prozent.
Das, was diese Bundesregierung zustande bringt, hat
eine Null vor dem Komma. Das sind null Komma irgendwas, vielleicht sogar 1,2 Prozent, aber von 3 Prozent sind wir Welten entfernt. Dass Sie sich hier auf die
Schulter klopfen, ist ein bisschen lächerlich, Herr
Ramsauer. Es tut mir leid, das so zu sagen.
({1})
Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier jetzt vorlegen, löst
die Probleme beim Gebäudebestand kaum. Der Gesetzentwurf bezieht sich in erster Linie auf Neubauten. Das
Wesentliche jedoch, was im Gebäudebereich passieren
muss, ist die Sanierung des Bestands. Dafür bringt das,
was Sie hier in notdürftiger Umsetzung einer EU-Richtlinie vorlegen, gar nichts.
({2})
Vor allen Dingen packen Sie all die Probleme, die gerade in der Fachwelt diskutiert werden und die Sie von
den Praktikern hören, dass es ein Durcheinander zwischen Energieeinsparungsgesetz, Energieeinsparverordnung und Erneuerbare-Wärme-Gesetz gibt, dass es hier
teilweise widersprüchliche Regelungen gibt, dass Planungen doppelt gemacht werden, an dieser Stelle nicht
an.
Der Bundesrat hat es Ihnen mit einer klaren Mehrheit
ins Stammbuch geschrieben: Die Umsetzung dieses Gesetzes führt zu Akzeptanzproblemen. Das führt nicht
dazu, dass wir am Ende klimafreundlicher bauen.
({3})
- Zum Thema Blockade: Lesen Sie einmal, was Ihnen
der Bundesrat aufgeschrieben hat. Vielleicht haben wir
im weiteren Verfahren noch die Gelegenheit, hier einiges
zu verbessern. Das, was Sie bisher vorgelegt haben, bietet überhaupt keine Perspektive.
({4})
Ich will Ihnen das anhand des Beispiels der Energieausweise erklären. Wir brauchen endlich einen verpflichtenden Bedarfsausweis. Es muss klar sein, dass der
Ausweis tatsächlich vorhanden sein und vorgelegt werden muss, dass es keine Ausnahmen und Sonderregelungen geben darf. Auch da liefern Sie nicht. Das Problem
gehen Sie nicht an.
Sie machen das ganze Thema zu einem reinen Papiertiger, und dann feiern Sie sich dafür, dass in Zukunft der
energetische Standard eines Gebäudes in den Immobilienanzeigen dargestellt werden soll. Ja, das ist eine richtige Sache. Aber in Frankreich und Großbritannien ist
das seit Jahren Standard. Sie hinken hinterher. Das alles
bringt am Ende überhaupt nichts.
({5})
- Dann nennen Sie mir ein anderes Thema. Ein anderes
schönes Thema, zu dem Sie nicht liefern, ist das Erneuerbare-Wärme-Gesetz für den Bestand. Das haben Sie
im Koalitionsvertrag vereinbart. Wo bleibt es? Sie hätten
jetzt die Chance, etwas vorzulegen. Ihr Kollege Kauch
fordert das seit Jahren. Er sagt immer: Die Bundesregierung wird liefern. - Es kommt nichts. Sie liefern nichts.
Sie liefern am Ende einen Papiertiger, und das ist viel
zu wenig. Da können Sie so lange schreien, wie Sie wollen. Das wird Sie an der Stelle nicht voranbringen.
({6})
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist ein
Energieeffizienzfonds. Wir brauchen über die 2 Milliarden Euro für die energetische Gebäudesanierung im
Rahmen der KfW hinaus einen Energieeffizienzfonds.
Wir haben dazu den Vorschlag gemacht, dass wir ihn mit
3 Milliarden Euro ausstatten, finanziert aus dem Abbau
umweltschädlicher Subventionen. Das kann man in den
Gebäudebestand investieren und beispielsweise den
Kommunen für Quartiere, wo es schwierig ist, zur Verfügung stellen.
Das alles kriegen Sie nicht hin. Sie liefern seit Jahren
nicht, und auch mit diesem Gesetzentwurf werden Sie
den Herausforderungen der energetischen Gebäudesanierung überhaupt nicht gerecht. Das ist ein Flop. Vielleicht haben wir die Chance, in den Ausschussberatungen noch etwas zu verbessern, aber ich sehe es nicht.
Ich danke Ihnen.
({7})
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Volkmar
Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Energieeinsparungsgesetz und Energieeinsparverordnung sind zwar hochtechnische Begriffe, aber man muss
an der Stelle klarmachen: Es betrifft uns alle, sowohl den
Mieter als auch den Selbstnutzer im Eigenheim und natürlich auch die gewerbliche Wohnungswirtschaft. Die
Debatte eben hat mir gezeigt: Die Argumente der Opposition sind sehr schwach. Das heißt, wir sind auf dem
richtigen Weg.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
folgt vor allen Dingen unseren politischen Grundsätzen.
Ich möchte sie noch einmal zusammenfassen. Minister
Ramsauer hat es bereits ausgeführt, und auch Petra
Müller hat es deutlich gemacht: Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist für uns von ganz großer Bedeutung, genauso
wie die Vorgabe, dass es keine Sanierungspflicht für den
Bestand geben darf.
({1})
Denn man stelle sich vor, wir setzen einen Ordnungsrahmen, der die Eigentümer verpflichtet, zu sanieren. Gerade diejenigen mit kleinem Geldbeutel wie Witwen
oder Alleinstehende, die ihr Eigentum erhalten wollen,
müssten dann zwangsläufig ihr Eigentum aufgeben. Das
kann beim besten Willen nicht sein.
({2})
Das beste Mittel, um das zu verhindern, ist - wenn
wir die Wirtschaftlichkeit tatsächlich in den Mittelpunkt
stellen - Technologieoffenheit. Wir sollten es den Menschen vor Ort überlassen, mit welchen geeigneten Maßnahmen sie das, was wir vorschreiben, umsetzen. Wir
sollten nicht hineinregieren. Es gibt regionale Unterschiede, und es gibt Unterschiede in der Gebäudesubstanz. Deshalb wollen wir das.
Ganz wichtig ist die Planungssicherheit. In der Zeit,
seit ich im Deutschen Bundestag bin, habe ich in kurzen
Zeitabständen eine EnEV 2007 und eine EnEV 2009
mitgemacht. Wir reden jetzt über eine EnEV 2014. Wir
müssen sie angehen, weil wir die EU-Gebäuderichtlinie
umsetzen müssen. Aber jetzt kommt es darauf an, für einen Zeitraum in diesem Jahrzehnt für Sicherheit zu sorgen. Dafür sorgen wir, indem wir auch vernünftige Verschärfungen im Neubau zum Ansatz bringen. Zweimal
12,5 Prozent in 2014 und 2016 sind machbar, wenngleich ich an der Stelle sage: Wir sind sehr hart an der
Grenze zu dem, was man wirtschaftlich vertreten kann.
Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der sogenannten
Transmission, also beim Wärmedurchgang, sagen: Bei
der Außendämmung reichen zweimal 10 Prozent. Mehr
ist wirtschaftlich vertretbar nicht umzusetzen.
Den Bestand muss man differenziert betrachten. Wir
wollen keine Sanierung, was den Bestand anbetrifft; wir
setzen vielmehr auf Förderung, Beratung und Information. Das ist der große Unterschied zwischen uns und der
Opposition. Die Opposition, allen voran die Grünen, will
die verpflichtende Sanierung in einem bestimmten Zeitraum. Das ist der falsche Weg und widerspricht letztlich
der Eigentumsgarantie, die uns das Grundgesetz vorschreibt.
({3})
Die EU-Gebäuderichtlinie schreibt Informationen,
Kennwerte für den Immobilienbereich und verschärfte
Aushangspflichten für den Energieausweis nicht nur in
öffentlichen Gebäuden, sondern auch in Gebäuden mit
öffentlichem Charakter wie Kinos und Kaufhäusern vor.
Ich denke, das ist für die wirtschaftlich Beteiligten
machbar.
Förderung heißt aus unserer Sicht, einen höheren Sanierungsanreiz in den Bereichen zu setzen, in denen es
um Freiwilligkeit geht. Das hilft, die Wirtschaftlichkeitslücke da, wo sie entsteht, zu schließen. Wir sorgen des
Weiteren dafür, dass die CO2-Gebäudesanierungsprogramme weiter bedient werden, dass sie oberste Priorität
bei der Ausschöpfung des Energie- und Klimafonds haben. Wir stellen zusätzlich 300 Millionen Euro für die
nächsten acht Jahre zur Verfügung. Ich appelliere an die
Kollegen von SPD und Grünen, das noch einmal aufzugreifen und die Möglichkeiten der steuerlichen Abschreibung der Kosten der energetischen Gebäudesanierung erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Ich weiß,
dass Sie damit bislang bei den von SPD und Grünen geführten Ländern nicht haben punkten können. Greifen
Sie es noch einmal auf, um hier eine Sanierungsmöglichkeit zu schaffen! Herr Krischer, Sie haben davon gesprochen, dass eine Sanierungsquote von 3 Prozent wahrscheinlich nicht erreicht wird. Wenn wir hier das
Potenzial, vor allem das private Kapital, besser heben
könnten, wäre die Sanierungsquote sicherlich sehr viel
höher.
({4})
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Sanierungsfahrplan bis 2050 sagen. Das Ziel ist, bis dahin 80 Prozent der bislang benötigten Energie einzusparen. Die
EnEV, die wir jetzt auf den Weg bringen, ist ein wichtiger Baustein für das Erreichen der Ziele bis zum Ende
dieses Jahrzehnts. Die Menschen wissen nun, in welche
Richtung es geht. Wenn wir mit der EnEV 2014 den
Volkmar Vogel ({5})
Niedrigstenergiehausstandard entsprechend der EU-Gebäuderichtlinie etablieren - und zwar ab 2019 für den öffentlichen Bereich und ab 2021 für alle Gebäude -, dann
ist das ein weiterer Schritt zur Umsetzung des Sanierungsfahrplans bis 2050. Wir werden gemeinsam mit allen Akteuren, also sowohl mit denjenigen, die davon betroffen sind, als auch mit denjenigen, die es umsetzen
müssen, weiterhin an diesem Sanierungsfahrplan arbeiten. Wir werden ihn den Menschen als Handlungsempfehlung an die Hand geben.
Ein allerletztes Wort zum Regelwerk. Der Kollege
Krischer hat es angesprochen: Ja, es ist richtig, dass unser Regelwerk zu kompliziert ist. Das hat sich an der Beteiligung der Bundesländer und der Verbände gezeigt.
Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob es nicht
sinnvoll ist, die Regelwerke, die es im Bereich der Energieeffizienz und für die erneuerbaren Energien im Baubereich gibt, zu einem einheitlichen, einfacheren Regelwerk zusammenzuführen. Aber das ist nicht Aufgabe in
den nächsten Wochen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Aufgabe in den nächsten Wochen ist, das Energieeinsparungsgesetz und die EnEV auf den Weg zu
bringen. Wir wollen das im Deutschen Bundestag zügig
erarbeiten. Ich bitte die Opposition, konstruktiv daran
mitzuarbeiten, damit wir eine Lösung hinbekommen,
noch im Sommer eine Entscheidung im Bundesrat fällen
und so für Planungssicherheit sorgen können. Das hilft
dem Klima und unserer Wirtschaft, insbesondere den
Handwerkern in den Regionen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12619 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Energiewende im Gebäudebestand
sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zu-
kunftsweisend umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12671,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11664 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen
die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken an-
genommen.
Tagesordnungspunkte 18 a und b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit
den Gerichten
- Drucksache 17/12634 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})-
Innenausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des
elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz
- Drucksache 17/11691 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt - ebenso wie derjenige des Bundesrates auf eine Förderung und deutliche Ausweitung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Bundesregierung und Bundesrat sind sich darüber einig, dass
die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs in den
vergangenen Jahren weit hinter den Erwartungen
zurückgeblieben ist. Als Gründe werden fehlendes
Nutzungsvertrauen, aber auch mangelnde Akzeptanz
der elektronischen Signatur genannt. Hinzu kommt,
dass die Einreichung von Dokumenten per elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach nicht bei jedem deutschen Gericht möglich ist.
Angedacht ist eine technologieoffene Regelung in
der ZPO und anderen Verfahrensordnungen, um der
Justiz die Möglichkeit zu geben, auf zukünftige
Entwicklungen der IT-Branche zeitnah reagieren zu
können.
Das auf E-Mail-Technik beruhende, hiervon aber
technisch getrennte, und durch einen Verschlüsselungskanal gesicherte Kommunikationsmittel De-Mail
ebenso wie das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach, EGVP, sollen den Verzicht auf eine qualifizierte elektronische Signatur möglich machen. Teile
der Praxis gehen allerdings davon aus, dass eine qualifizierte elektronische Signatur einen zuverlässigen
elektronischen Rechtsverkehr zwischen Anwaltschaft
und Justiz besser fördert. Gründe für eine
zurückhaltende Nutzung seien vielmehr eine fehlende
oder verbesserungswürdige Fachsoftware, Diskrepanzen innerhalb der Verfahren von Bundesland zu
Bundesland sowie der fehlende Austausch von Strukturdaten. Ebenso wird angeführt, dass gewährleistet
sein müsse, dass ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach unterschiedliche Nutzungsberechtigungen erkennt, sprich: zwischen Anwalt und Angestellten
unterscheiden kann. Das Personal müsse in der Lage
sein, gerichtliche Schriftstücke einzusehen, die in das
elektronische Postfach eingelegt wurden, und müsse
berechtigt sein, solche Schriftstücke aus dem Postfach
zu entnehmen und in die kanzleiinternen Arbeitsabläufe einzuspeisen. Andererseits müsse sichergestellt sein, dass nur solche Schriftstücke an das Gericht
übermittelt werden, die der Anwalt autorisiert hat. Die
qualifizierte elektronische Signatur stelle somit das
Äquivalent zur persönlichen Unterschrift dar. In den
weiteren parlamentarischen Beratungen wird zu
klären sein, inwieweit sich das Verfahren rund um das
besondere elektronische Anwaltspostfach von dem derzeitigen unterscheidet. Auch heute sind in der Regel
Angestellte in Kanzleien dafür zuständig, Schriftstücke
zu versenden und entgegenzunehmen. Wichtig wäre
dann, dass einer vom Provider qualifiziert elektronisch
signierten Absenderbestätigung ein ausreichender
Beweiswert zukommen kann.
Eng mit der Übertragung beweissicherer elektronischer Erklärungen verbunden ist die geplante Fortentwicklung des Zustellungsrechts. Geplant ist eine
Anpassung an die technische Entwicklung in der
Form, als zukünftig gerichtliche Dokumente über DeMail und EGVP rechtssicher, schnell und kostengünstig an das neu zu errichtende elektronische Anwaltspostfach zugestellt werden können. Eine automatisch
übermittelte Eingangsbestätigung soll in diesem Zusammenhang den erforderlichen Zustellungsnachweis
erbringen. Während eine solche Regelung vonseiten
der Justiz ausdrücklich begrüßt und eine deutliche
Vereinfachung der gerichtlichen Praxis erwartet wird,
ist die Anwaltschaft der Ansicht, dass eine tatsächliche
Kenntnisnahme des elektronischen Dokuments durch
den Rechtsanwalt für die Akzeptanz des elektronischen
Rechtsverkehrs in der Anwaltschaft unverzichtbar ist.
Des Weiteren soll eine technikoffene Vorschrift in
Bezug auf rechtssicheres ersetzendes Scannen geschaffen werden. Die erheblichen Vorteile einer elektronischen Archivierung gegenüber einem Papierarchiv
sollen genutzt und durch eine neue Beweisvorschrift
abgesichert werden.
Bei allen technischen Neuerungen ist es heutzutage
selbstverständlich, dass ein barrierefreier Zugang zu
den Gerichten als zentrale Bedingung für die Chance
auf gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen gesehen wird. So bekennt sich der
Regierungsentwurf klar zur Barrierefreiheit und hält
diese für gesichert. Der Deutsche Verein der Blinden
und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. sieht
dagegen weiteren Regelungsbedarf. Natürlich werden
wir auch dies genau prüfen.
Um die Rechtswegs- und Verwaltungsvereinfachungen zu erreichen, wird es letztendlich darauf ankommen, in absehbarer Zeit eine bundesweite flächendeckende Umsetzung der Maßnahmen, ohne föderale
Zersplitterung, zu erreichen. In diesem Punkt konnte
man Unterschiede bei den Initiativen von Bundesrat
und Bundesregierung ausmachen. Es ist aber davon
auszugehen, dass hier eine Annährung - auch durch
die guten Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission
sowie des EDV-Gerichtstages - stattfinden wird. Über
die genaue Ausgestaltung - auch vor dem Hintergrund
von Länderöffnungsklauseln - wird intensiv zu diskutieren sein. Betrachtet man in diesem Zusammenhang
zum Beispiel die Überlegungen zur Einführung eines
länderübergreifenden Schutzschriftenregisters, zu dem
die Gerichte elektronischen Zugang erhalten sollen,
macht eine schnellstmögliche Harmonisierung Sinn.
Die Kosten des Projekts für Gerichte, vor allem
auch für Anwälte, sind schwer zu beziffern. Auf
längere Sicht wird dem technischen und organisatorischen Umstellungsaufwand aber eine nachhaltige
Kostenreduzierung gegenüberstehen, welche den
anfänglichen einmaligen Aufwand mehr als kompensieren wird.
Zahlreiche Punkte des Regierungsentwurfs, aber
auch des Bundesratsentwurfs, gehen auf Missstände
ein und zielen auf deutliche Verbesserungen gegenüber
dem Status quo. Natürlich werden auch einige Fragen
insbesondere zu Beweiswerten aufgeworfen, die wir im
Rahmen der geplanten öffentlichen Expertenanhörung
im Rechtsausschuss diskutieren werden, seien sie nun
technischer, wirtschaftlicher oder rechtlicher Natur.
Das Bundeskabinett hat am 19. Dezember 2012 den
„Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ beschlossen.
Mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf soll der elektronische Rechtsverkehr mit und innerhalb der Justiz
gefördert werden. Damit verbunden soll es zu Zeit- und
Kostenersparnissen kommen, gleichzeitig soll mehr
Bürgernähe geschaffen werden. Dies soll insbesondere
durch eine Vereinfachung der Signaturerfordernisse
und der Kommunikationswege verbunden mit der
Schaffung elektronischer Postfächer für Anwälte erreicht werden.
Bei den Kontakten zwischen Gerichten und Anwälten soll der elektronische Rechtsverkehr in großem
Umfang verpflichtend werden. Die Kommunikationswege Post und Fax werden zurückgedrängt. Bei den
Gerichten sollen dann auch die Akten elektronisch
geführt werden. Zu diesen Zwecken müssen die Zivilprozessordnung sowie die anderen Gerichtsordnungen
geändert werden.
Ihr Entwurf geht auf die Initiative einer Ländergruppe im Deutschen Bundesrat zurück, deren Entwurf
in weiten Teilen übernommen worden ist.
Demnach wird bei der Bundesrechtsanwaltskammer
für jeden Anwalt ein sicheres elektronisches Anwaltspostfach eingerichtet. Dann soll auch jedes deutsche
Gericht grundsätzlich ab dem Jahr 2018 elektronisch
erreichbar sein, und zwar barrierefrei. Die Länder
können diesen Zeitpunkt bis spätestens 1. Januar 2022
hinausschieben, aber nur einheitlich für alle Länder.
Hier weichen Sie von der Position der Länder ab.
Der Bundesrat will aber, dass die Länder selbst beZu Protokoll gegebene Reden
stimmen, wann die elektronische Kommunikation mit
den Gerichten vorgeschrieben werden soll, und behalten sich sogar vor, hierzu erste Erfahrungen mittels
Pilotprojekten zu machen. Die ursprüngliche Länderinitiative sieht die flächendeckende Einführung der
elektronischen Kommunikation in kürzerer Zeit vor.
Sie dagegen verlängern diese Einführung. Sie sehen
eine obligatorische Einführung erst ab 2020 vor. Eine
Pflicht zur Nutzung für Rechtsanwälte und Behörden
ist dann ab 2022 vorgesehen.
Diese Verlängerung der Einführungszeit ist offensichtlich einem Umstand geschuldet: Die verpflichtende Einführung soll bundeseinheitlich erfolgen - im
Interesse der Anwaltschaft. Damit soll eine Zersplitterung der Vorschriften vermieden werden. Die Öffnungsklausel der Länderinitiative führt dagegen zu einer Rechtszersplitterung, die automatisch auch zu
Rechtsunsicherheit führt, da das Vertrauen der Nutzer
erheblich geschwächt würde. In der Tat ist die Vermeidung von Vorleistungspflichten einzelner beteiligter
Personengruppen wichtig und richtig. Der saure Apfel, in den dafür gebissen werden soll, ist die Verlängerung der Zeit der Einführung.
Ob es nicht doch schneller gehen kann, ist zu
prüfen. Ich denke, hier liegt es eher an der Befähigung
der Gerichte, sich grundsätzlich auf elektronischen
Rechtsverkehr einzustellen und elektronische Gerichtsakten zu führen. Dann müssen eben die Gerichte
hierzu befähigt werden.
Die Kommunikation erfolgt heute bereits teilweise
technologieneutral per De-Mail, über EGVP, das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach, oder andere sichere Kommunikationswege. Am Ende soll das
Ganze für die professionellen Einreicher - also besonders für die Anwälte - verpflichtend sein, für die Bürger jedoch nicht.
Doch dass einige Gerichte je nach Umsetzung in
den Ländern elektronisch erreichbar sind, andere nur
per Post und das bei nicht darauf abgestimmten Fristen, ist nicht sachgerecht. Hier geben wir Ihnen recht.
Wenn der elektronische Rechtsverkehr verpflichtend
wird, muss das bundeseinheitlich erfolgen.
Parallel liegt uns der Bundesratsentwurf mit gleicher Zielrichtung vor. Die Länder argumentieren, sie
wünschten sich mehr Freiräume. Es sollen auch Pilotprojekte für einzelne Gerichtszweige, für einzelne Gerichtsbezirke oder auch einzelne Gerichte möglich
sein. Das können wir auf der einen Seite zwar nachvollziehen, auf der anderen Seite sollten wir einen verwirrenden Flickenteppich an vorgeschriebenen Kommunikationswegen vermeiden. Deshalb haben wir
Verständnis für das Anliegen der Bundesregierung, die
nach mehr Einheitlichkeit bei der Einführung strebt.
Die Einführung muss für alle verpflichtend sein,
weil Angebote auf freiwilliger Basis eben nicht von allen oder auch nur zögerlich angenommen werden.
Sogenannte Medienbrüche, das Nebeneinander von
elektronischer Kommunikation und Papier, bedeuten
letztlich nur einen Mehraufwand.
Generell ist der sichere gegenseitige Austausch von
Daten zwischen allen Beteiligten vorzusehen. Die Einrichtung von sicheren elektronischen Anwaltspostfächern ist ein wesentlicher Baustein hierzu.
Problematisch erscheint daher, dass das Empfangsbekenntnis von Zustellungen bei den Rechtsanwälten
abgeschafft und durch eine durch das künftige elektronische Postfach der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte automatisch ausgelöste Eingangsbestätigung ersetzt werden soll - so § 174 Abs. 4 ZPO-E. Auf die
haftungsrechtliche Bedeutung für die Anwaltschaft,
die hier entsteht, weist die Bundesrechtsanwaltskammer zu Recht hin. Haftungs- und Sicherheitsaspekte
dürfen nicht einseitig durch Effizienzaspekte infrage
gestellt werden.
Die Justizverwaltungen der Länder haben bereits in
der Vergangenheit den elektronischen Rechtsverkehr
vorangebracht. Überall dort, wo er verpflichtend eingeführt worden war, sind Effizienzgewinne festzustellen, so zum Beispiel im elektronischen Mahnverfahren
sowie beim Handelsregister. Dies haben mir auch tätige Anwälte und Notare bestätigen können.
Wir begrüßen daher das Ziel, den elektronischen
Rechtsverkehr weiter nachhaltig zu fördern und am
Ende überall zum Regelfall zu machen. Nur so können
Rationalisierungspotenziale genutzt werden, die die
moderne elektronische Kommunikation ermöglicht.
Was die Bürgerinnen und Bürger angeht: Hier ist
keine Verpflichtung zum elektronischen Verkehr vorgesehen. Bürger können weiterhin in Papierform mit den
Gerichten kommunizieren. Allerdings soll die elektronische Kommunikation auch für sie ermöglicht und
eingerichtet werden. Das ist der richtige Weg. Das
Nutzervertrauen ist zu sichern; denn oftmals sind es ja
rein praktische Gründe sowie unterschiedliche Standards in den einzelnen Bundesländern, die dazu führen, dass die bereits heute möglichen elektronischen
Übermittlungsformen nicht genutzt werden.
Generell ist der elektronische Rechtsverkehr mit
und innerhalb der Justiz notwendig, und die Länderinitiative sowie der vorliegende Gesetzentwurf sind daher zu begrüßen. Wir werden die Dauer der Einführung
und weitere Einzelheiten im weiteren Beratungsverlauf
noch zu prüfen haben. An einer bundeseinheitlichen
Einführung ist dabei unbedingt festzuhalten.
Bundesrat und Bundesregierung wollen mit den hier
vorliegenden Gesetzentwürfen den elektronischen
Rechtsverkehr mit den Gerichten voranbringen, da in
den letzten zehn Jahren die Angebote zu wenig genutzt
worden sind. Man beruft sich auf fehlendes Nutzervertrauen in die tatsächlichen und rechtlichen
Rahmenbedingungen. Diese wollen Sie nun schaffen,
damit das Potenzial der jüngsten technischen Entwicklung genutzt werden kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn man sich die tatsächlichen Gegebenheiten bei
den deutschen Gerichten auch hinsichtlich der technischen Ausstattung anschaut, dann stellt man fest, dass
die Gesetzentwürfe eine Farce sind und die Leiter der
Gerichte fragend zurücklassen. So haben wir erst gestern in der öffentlichen Anhörung zum Zweiten Kostenrechtsmodernisierungsgesetz den Direktor eines Amtsgerichts in Nordrhein-Westfalen als Sachverständigen
gehört. Er hatte über die Ausstattung seines Gerichts
Folgendes zu berichten: Die vorhandene Computertechnik an seinem Gericht - und das ist auch an vielen
anderen Gerichten so - sei derart veraltet, dass nicht
einmal die einfachsten Spracherkennungsprogramme
auf den Personalcomputern liefen. Jetzt erklären Sie
mir, meine sehr geehrten Damen und Herren der
Koalition, einmal: Wie wollen Sie das Potenzial der
jüngsten technischen Entwicklungen hinsichtlich des
elektronischen Rechtsverkehrs auf prozessualem Gebiet nutzen, wenn die Gerichte mit Technik aus dem
letzten Jahrhundert arbeiten müssen? Hier machen Sie
wieder den zweiten Schritt vor dem ersten.
Es ist ja kein Wunder, dass der elektronische Weg
beim Rechtsverkehr nicht genutzt wird, wenn es die
Technik gar nicht erlaubt. Sie müssten vielmehr erst
einmal viele Justizgebäude baulich und technisch auf
einen akzeptablen Stand bringen, um dann die neuesten technischen Entwicklungen erproben zu können.
Die Landesfinanzminister werten das anders: Von der
Justiz kann man jedes Jahr neue Einsparungen verlangen, Teilbereiche privatisieren, wie zum Beispiel die
Übertragung von Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare, bei den Bedürftigen sparen, wie
zum Beispiel durch die Begrenzung der Prozesskostenund Beratungshilfe. Und das sind nur die aktuellen
Sparansätze, von den in den letzten Jahren schon
durchgesetzten ganz zu schweigen. Das Problem der
Justiz ist, dass sie trotz all dieser Sparmaßnahmen
immer noch funktioniert. Lange können das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr ausgleichen.
Irgendwann ist die Justiz kaputtgespart und das Personal verschlissen.
Zurück zu den geplanten Änderungen: Als erster
Schritt soll eine Verwendungspflicht für alle professionellen Einreicher geschaffen werden, später für alle
Einreicher. Das heißt auf gut deutsch: Wenn ihr unsere
Angebote, für die wir ohne Bedarfsplanung, Praktikabilitätstests und erkennbare Vorteile bereits Millionen
ausgegeben haben, nicht nutzen wollt, zwingen wir
euch dazu. - Das ist meines Erachtens der falsche
Ansatz. Großprojekte müssen von langer Hand geplant, genügend erprobt und die technischen Voraussetzungen vorher geschaffen werden.
Aber nicht nur die Gerichte und deren Verwaltungen werden hier überfordert. Mit „professionellen
Anwendern“ sind vor allem Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälte gemeint. Diese wurden in der Vergangenheit mehrfach dafür benutzt, digitale Phantasien
des Staates auszubaden, ohne dass vorher sinnvolle
Strukturen aufgebaut, technologische Standards
verabschiedet und vor allem ein Mehrwert und eine
Arbeitserleichterung erkennbar wurden. Stattdessen
hatten die Anwälte mit jahrelangen Betatests, Sanktionen und Ausfällen der Infrastruktur und einer uneinheitlichen Implementierung des Zugangs zu kämpfen.
Das mag den solventen Großkanzleien, die sich ohnehin auf technisch modernstem Niveau bewegen, zwar
relativ egal sein; doch wir müssen auch an die Einzelanwältinnen und Einzelanwälte denken, die den Großteil der Anwaltschaft in Deutschland ausmachen.
Gerade für kleine Kanzleien und für Berufsanfänger
ist die Anschaffung der speziellen Software schwer zu
schultern. Wenn Sie schon alles digitalisieren wollen,
dann müssen Sie die Gerichte vorher ordentlich ausstatten und den Einzelkanzleien bei der Einrichtung
unter die Arme greifen. So herum wird ein Schuh
daraus.
Eine positive Seite hat dieses Vorhaben wenigstens:
Die Bundesländer werden gezwungen, die IT-Infrastruktur der Gerichte zumindest auf den technischen
Stand zu bringen, der ein Funktionieren der Spracherkennung und des elektronischen Rechtsverkehrs theoretisch ermöglichen könnte.
Das Internet und die zunehmende Digitalisierung
verändern nicht nur das Leben von Menschen und deren Verhältnis zur Gesellschaft. Sie verändern auch die
Rolle und Funktionsweise des Staates. Meine Fraktion
und ich begreifen diese Entwicklung als Chance für
unsere Demokratie, als Chance für mehr Legitimation
bei staatlichem Handeln, als Chance für mehr Partizipation.
Heute befassen wir uns mit der Nutzung elektronischer Technologien im Bereich der Justiz. Der erste
allgemeine Rechtsrahmen für den Einsatz elektronischer Verfahren in der Justiz wurde vor knapp 13 Jahren gelegt. Unter der damals rot-grünen Bundesregierung hat der Bundestag 2001 beschlossen, auf der
Posteingangs- und der -ausgangsseite der Justiz den
Einsatz elektronischer Verfahren zu ermöglichen.
Ebenfalls unter der rot-grünen Bundesregierung folgte
eine weitere Öffnung der Justiz mit dem 2005 beschlossenen Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz.
Nun beraten wir über zwei Gesetzentwürfe zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz
bzw. mit den Gerichten. Klar ist: Es besteht Handlungsbedarf. Die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs im Bereich der Justiz muss weiter gefördert
werden. Hier gibt es noch erhebliches Verbesserungspotenzial.
Beide Gesetzentwürfe, sosehr sie in ihrem Ziel zur
Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs zu begrüßen sind, werfen aber auch Fragen auf. Diese Fragen betreffen die Teilhabe von Menschen mit Behinderung, das Zivilprozessrecht und den Datenschutz. Sie
müssen im weiteren parlamentarischen Verfahren geklärt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland hat am 24. Februar 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit
zugleich verpflichtet, gemäß Art. 4, 9 und 13 der Konvention alle geeigneten gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung einen
gleichberechtigen Zugang zur Justiz und eine selbstbestimmte Teilhabe an allen modernen Informations- und
Kommunikationstechnologien, die elektronisch bereitgestellt werden oder zur Nutzung offenstehen, zu ermöglichen. Außerdem sollen vorhandene Zugangshindernisse und -barrieren beseitigt werden. Die im
Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Änderungen für mehr Barrierefreiheit sind ein Schritt in
die richtige Richtung. Exemplarisch zu nennen ist die
Regelung zu § 31 a Abs. 1 Satz 2 BRAO, wonach das
besondere elektronische Anwaltspostfach barrierefrei
ausgestaltet sein soll. Gleichwohl genügen die Änderungen nicht den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention. Nicht geregelt wird, dass auch das
elektronische Postfach und die elektronische Poststelle
des Gerichts nach § 130 a Abs. 4 Nr. 2 ZPO barrierefrei ausgestaltet werden müssen, um den barrierefreien
Übermittlungsweg zu gewährleisten.
Beide Gesetzentwürfe zielen darauf ab, durch den
Einsatz elektronischer Zustellungsmöglichkeiten die
zivilrechtliche Gerichtspraxis zu vereinfachen. Dies ist
grundsätzlich zu begrüßen. Jedoch ist dabei stets das
Interesse aller am Prozess Beteiligten schonend zu berücksichtigen. Die Änderung des § 174 Abs. 4 ZPO
führt zu einem erheblichen Paradigmenwechsel. Das
Empfangsbekenntnis muss nun nicht mehr persönlich
zurückgesandt, sondern soll durch eine automatisch
generierte Eingangsbestätigung ersetzt werden. Dabei
soll die Zustellung nach drei Werktagen ab Eingang
der Schriftstücke im elektronischen Postfach der
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als bewirkt gelten, es sei denn, eine frühere Zustellung wird durch ein
Empfangsbekenntnis nachgewiesen. Der Wertung der
aktuellen Rechtslage würde es eher entsprechen, wenn
zugleich mit dem zuzustellenden Dokument ein Empfangsbekenntnis im XJustiz-Standard zugestellt wird,
welches nach Kenntnisnahme des Dokuments an das
elektronische Gerichtspostfach zurückgesendet wird.
Vor diesem Hintergrund sehen wir Grünen an dieser
Stelle noch Klärungsbedarf.
Die zunehmende Digitalisierung führt auch zu einem Bedeutungszuwachs für den Datenschutz im Zivilund Strafprozess. Im Bereich der Justiz ist die Kommunikation besonders vertraulich zu behandeln und entsprechend zu sichern. Eine Abkehr vom Standard der
qualifizierten elektronischen Signatur, wie es der Regierungsentwurf zu § 130 a Abs. 3 ZPO vorsieht, halten wir vor diesem Hintergrund für problematisch. Die
Übermittlung im Wege einer De-Mail bietet grundsätzlich eine Leitungsverschlüsselung, jedoch keine Endezu-Ende-Verschlüsselung. Somit ist diese im Regierungsentwurf in § 130 a Abs. 4 Nr. 1 ZPO als „sicherer
Übermittlungsweg“ markierte De-Mail keineswegs so
sicher wie eine qualifizierte elektronische Signatur.
An der weiteren Gesetzesberatung werden wir Grünen uns konstruktiv beteiligen.
Wir alle leben mittlerweile in einer digital vernetzten
Gesellschaft. Die Entwicklung der Informationstechnologie schreitet in großer Geschwindigkeit voran und
revolutioniert mit immer neuen technischen Möglichkeiten unser Alltagsleben. E-Justice und E-Government
sind Zukunftsthemen einer Bundesregierung, die die
Nutzung neuer effizienter Informationstechnologien
aktiv vorantreibt.
Mit den zur Beratung anstehenden Entwürfen soll
der rechtliche Rahmen für die digitale Justiz den neuen
technischen Möglichkeiten angepasst werden. Die Justiz soll klare und bürgerfreundliche Regelungen erhalten, die Rechtssicherheit herstellen, aber auch Raum
für die weiter voranschreitende technische Innovation
lassen.
Die Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs
mit der Justiz ist ein gemeinsames Ziel von Bund und
den Ländern. Zwar liegen Ihnen zwei Entwürfe von
Bundesrat und Bundesregierung zu dieser Thematik
vor. Wir haben aber in intensiven Gesprächen mittlerweile weitgehende Einigkeit mit den Ländern erzielen
können. Das wird erkennbar an der moderaten Stellungnahme des Bundesrates und der weitgehend positiven Gegenäußerung der Bundesregierung.
Kennzeichnend für die gute Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist der Kompromiss, den wir
hinsichtlich des Fahrplans für das Inkrafttreten der
Regelungen erzielen konnten. Hier war es notwendig,
die unterschiedlichen Interessen der Länder auszugleichen, denn noch immer besteht ein sehr unterschiedliches IT-Ausstattungsniveau bei den Gerichten.
Der Gesetzgeber hatte vor zehn Jahren einen ersten
Anlauf zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs gemacht und die rechtlichen Grundlagen für
E-Justice geschaffen. Die damals geschaffenen Möglichkeiten haben sich indes in der Praxis nicht flächendeckend durchsetzen können. Woran liegt dies?
Die qualifizierte elektronische Signatur, die bislang
noch für elektronische Einreichungen bei der Justiz erforderlich ist, wird vielfach als zu teuer und auch als zu
kompliziert abgelehnt. Außerdem ist immer noch
längst nicht jedes deutsche Gericht elektronisch erreichbar. Einige Bundesländer wie Hessen, Sachsen
und Berlin haben bereits alle Gerichte für elektronische Eingänge geöffnet; dagegen ist in anderen Ländern außer den Mahn- und Registergerichten noch gar
kein Gericht online. Diese Zersplitterung produziert
Rechtsunsicherheit.
Um die Verfahrensbeteiligten zur Nutzung des digitalen Zugangs zur Justiz zu bewegen, brauchen wir
eine bundesweite Öffnung aller Gerichte für elektronische Eingänge zu möglichst einfachen und klaren Bedingungen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung definiert
zu diesem Zweck sichere Übermittlungswege zu den
Gerichten und regelt dies einheitlich für alle Verfahrensordnungen. Die Justiz wird ab 2018 bundesweit
über De-Mail oder für Rechtsanwälte über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach erreichbar sein. Durch Verordnung können auch andere Technologien als sichere Übermittlungswege zugelassen
werden.
Der Entwurf sieht vor, dass die Bundesrechtsanwaltskammer für jeden Rechtsanwalt bis 2016 ein
Postfach auf der Grundlage eines sicheren Verzeichnisdienstes einrichtet. Auch für Behörden ist eine solche Lösung denkbar, wenn ein sicherer Verzeichnisdienst eingerichtet ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eng verzahnt mit der E-Government-Initiative,
die derzeit im Innenausschuss beraten wird. Beide Gesetzentwürfe sind in kontinuierlicher Abstimmung miteinander entstanden.
Der digitale Zugang zu Gerichten einerseits und
Behörden andererseits wird vergleichbar ausgestaltet.
Der vorliegende Entwurf enthält überdies neue Beweisregeln für eine De-Mail-Nachricht, die der angestrebten Nutzung von De-Mail für die Kommunikation
der Behörden an den Bürger erst die notwendige
Rechtssicherheit verleihen. Außerdem wird das ersetzende Scannen in der Verwaltung gefördert, indem
eine Vermutung für die Echtheit einer aus einer öffentlichen Urkunde gewonnenen Scandatei begründet
wird, wenn die Urkunde in einer Behörde oder durch
einen Notar gescannt worden ist.
Durch die elektronische Abwicklung der Korrespondenz mit der Justiz wollen wir einen wichtigen Beitrag
für eine moderne und bürgerfreundliche Justiz leisten.
Ein Kernanliegen der Regelungen ist dabei, technische
Lösungen dort einzusetzen, wo in der Papierwelt derzeit noch eine manuelle und zeitaufwendige Tätigkeit
der Gerichte erforderlich ist.
Der Gesetzentwurf sieht daher für professionelle
Verfahrensbeteiligte wie Rechtsanwälte und Behörden
einen Zustellungsnachweis durch eine automatische
Eingangsbestätigung vor. Der Entwurf sieht eine Frist
von drei Werktagen nach Eingang als Zustellungszeitpunkt vor. Damit wird das Empfangsbekenntnis in Papierform für die elektronische Welt weiterentwickelt.
Diese Regelung ist in der Anwaltschaft indes auf
Kritik gestoßen. Diese nehmen wir zum Anlass, im
Rahmen der jetzt anstehenden parlamentarischen Beratungen nach Lösungen zu suchen, die sich für die
Gerichte ebenso effizient administrieren lassen, aber
das im Empfangsbekenntnis enthaltene voluntative
Element bewahren.
Mit den vorliegenden Gesetzgebungsvorhaben befinden wir uns auf einem guten Weg. Sie geben den
Landesjustizverwaltungen die dringend benötigte
Planungssicherheit für den digitalen Ausbau der
Justiz. Ich wünsche uns konstruktive und zielführende
Beratungen.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/12634 und 17/11691 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Negativbilanz nach zwei Jahren im UNSicherheitsrat
- Drucksachen 17/11576, 17/12242 Berichterstattung:Abgeordnete Erich G. FritzDr. Rolf MützenichMarina SchusterStefan LiebichKerstin Müller ({1})
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, sind die Reden
zu Protokoll genommen.
Unter dem Titel „Negativbilanz nach zwei Jahren
im UN-Sicherheitsrat“ wird im vorliegenden Antrag
aufgelistet, was aus Sicht der SPD in den Jahren 2011/
2012 versäumt wurde. Auffällig ist dabei die Wahl der
Kritikpunkte, bei denen sich der Leser fragt, was nun
der spezifisch deutsche Anteil, also deutsches Nichthandeln, sein soll. Die Feststellung, dass die Zusammensetzung des Sicherheitsrates dem Spiegelbild der
politischen Kräfteverhältnisse von 1945 entspricht, ist
seit langem bekannt. Reformen sind daher unerlässlich, um Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit dieses wichtigsten Entscheidungsgremiums der Vereinten
Nationen zu sichern. Deutschland setzt sich - gemeinsam mit anderen Staaten - seit langem genau dafür
ein.
Wie aber bei vielen weltpolitischen Herausforderungen sind auch hier strategische Geduld und kontinuierliche Anstrengung erforderlich. Im Antrag der
SPD werden genau die Hürden aufgelistet, welche
genommen werden müssen, um den Sicherheitsrat zu
reformieren. Es handelt sich dabei aber nicht um
Lappalien: So müssen zwei Drittel der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einer Änderung der
UN-Charta zustimmen, um die Zusammensetzung des
Sicherheitsrates zu ändern. Wie bereits ausgeführt,
lässt sich so ein Schritt nicht innerhalb von zwei Jahren ausführen. Deutschland - und insbesondere die
Bundesregierung - dafür zu kritisieren, hier nicht
genug getan zu haben, ist daher ein überflüssiger
Vorwurf.
An der Lösung des Syrien-Konfliktes ist Deutschland ebenfalls - in unterschiedlichen Gremien - sehr
aktiv beteiligt. Hinsichtlich des deutschen Engagements bei der Konfliktlösung im Sicherheitsrat sei
darauf hingewiesen, dass gegen das Veto zweier ständiger Mitglieder des Sicherheitsrates - in diesem Falle
Chinas und Russlands - kaum Handlungsspielraum
existiert. Deutschland hat sich daher sehr darum
bemüht, den Sicherheitsrat regelmäßig über die Geschehnisse in Syrien zu informieren. Ebenfalls setzte
sich Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern erfolgreich dafür ein, dass die Generalversammlung der
Vereinten Nationen in mehreren Resolutionen die Gewalt verurteilte und eine politische Lösung forderte.
Am Rande sei zudem erwähnt, dass Deutschland zu
den Gründungsmitgliedern der „Freundesgruppe des
syrischen Volkes“ gehört. Auch der Vorwurf, im Falle
Syriens nicht genug getan zu haben, ist somit gegenstandslos.
Ebenfalls erwähnenswert ist, dass der Antrag der
SPD nur en passant die gewaltigen politischen Umbrüche in der arabischen Welt der Jahre 2011/2012 erwähnt. Somit wird auch nicht ausreichend gewürdigt,
dass sich Deutschland von Anfang an auch im Sicherheitsrat mit der Arabellion befasst hat. Im Zuge der
deutschen Sicherheitsratspräsidentschaft im September 2012 hat sich Deutschland beispielsweise erfolgreich um die Ausrichtung einer Debatte zum Thema
„Frieden und Sicherheit im Nahen Osten“ bemüht.
Auch war es Deutschland, das sich stets für die Einbindung regionaler Akteure, wie der Arabischen Liga und
des Golfkooperationsrates, eingesetzt hat.
Ebenso findet der Leser des Antrages keinen
Hinweis darauf, dass sich Deutschland intensiv um
Konfliktlösungen auf dem afrikanischen Kontinent bemühte. Auch hier hat Deutschland von Anfang an auf
die Stärkung regionaler Kräfte, wie der Afrikanischen
Union, gesetzt.
Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass
Deutschland seine Zeit im obersten Entscheidungsgremium der Vereinten Nationen konstruktiv genutzt
hat. Die in dieser Zeit erbrachten Leistungen sind auch
ein deutliches Signal dafür, dass Deutschland sich zu
seinen internationalen Verpflichtungen bekennt und
zur Leistung entsprechender Beiträge bereit ist. Neben
seinem starken politischen Engagement gehört unser
Land auch nach wie vor zu den wichtigsten Beitragszahlern. Ebenfalls leistet Deutschland erhebliche
Unterstützung als Truppensteller bei einer Vielzahl
von Missionen der Vereinten Nationen. Dass die Staatengemeinschaft unsere Verdienste würdigt, kann an
dem Ergebnis bei der Wahl im November 2012 in den
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gesehen
werden: Hier hat Deutschland das beste Ergebnis aller
europäischen Kandidaten erzielt. Von einer „Negativbilanz“ der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen - wie von der SPD konstatiert kann also bei weitem nicht die Rede sein.
Nach zwei außenpolitisch sehr erfolgreichen Jahren
als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen zieht die SPD in ihrem Antrag eine
negative Bilanz der deutschen Errungenschaften.
Wie ich schon in meiner Rede zu diesem Antrag am
29. November 2012 ausführte, kann davon nicht die
Rede sein. Damals habe ich bereits auf die meines
Erachtens nach wichtigsten Erfolge Deutschlands im
Sicherheitsrat verwiesen, so auf das deutsche Engagement im Sicherheitsrat für eine Unterstützung des
Wandels in der arabischen Welt, auf das deutsche Engagement zum Schutz von Kindern in bewaffneten
Konflikten, auf deutsche Bemühungen, Klimawandel
auch als sicherheitspolitische Herausforderung zu sehen, sowie auf deutsche Bestrebungen, der internationalen Schutzverantwortung zu stärkerer Beachtung zu
verhelfen.
Lassen Sie mich daher an dieser Stelle kurz auf drei
Punkte zu sprechen kommen, die Deutschland während
seiner Zeit als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied
vorangetrieben hat, die mir aber in dieser Debatte bislang zu kurz gekommen scheinen: die Notwendigkeit
einer UN-Reform, die auch das Engagement Deutschlands angemessen widerspiegelt, die Einbettung deutscher UN-Politik in EU-Politik sowie das Engagement
Deutschlands bezüglich der Frage des iranischen
Atomprogramms.
Eine Reform des UN-Systems, die nicht ausreichend
die Realität des geopolitischen Engagements der einzelnen Staaten widerspiegelt, läuft Gefahr, zu kurz zu
greifen und die Legitimität des UN-Systems infrage zu
stellen. Deutschland ist als einer der wichtigsten Beitragszahler der Vereinten Nationen in allen UN-Gremien und Politikbereichen an vorderster Front engagiert.
Daher gehört aus unserer Sicht auch eine formelle
Aufwertung der Rolle Deutschlands im UN-System zu
den essenziellen Bestandteilen einer Reform der Vereinten Nationen. Wir unterstützen daher eine erneute
Kandidatur als nichtständiges Mitglied sowie die fortgesetzten Bemühungen der Bundesregierung um einen
ständigen Sitz im Sicherheitsrat.
Die EU ist einer der wichtigsten Kooperationspartner der UN und ihrer Unterorganisationen. Ein einheitliches Auftreten der EU-Mitgliedstaaten in den
Vereinten Nationen stärkt nicht nur die Gemeinsame
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, sondern
auch die UN, da es sie handlungsfähiger macht. Um in
Zukunft gemeinsame Interessen und Positionen der
EU-Mitgliedstaaten noch besser identifizieren zu können, hat sich Deutschland für die erstmalige Erstellung eines Strategiepapiers eingesetzt, das im Mai
2012 angenommen wurde. Deutsche UN-Politik ist
auch europäische UN-Politik!
Zu Protokoll gegebene Reden
Lassen Sie mich abschließend noch auf die Frage
des iranischen Atomprogramms zu sprechen kommen,
das der internationalen Staatengemeinschaft in den
zwei Jahren, in denen Deutschland im Sicherheitsrat
war, kontinuierlichen Anlass zur Sorge gegeben hat.
Deutschland hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass
das Expertengremium, das dem Iran-Sanktionsausschuss zuarbeitet, zunächst um ein Jahr und danach nochmals bis Juli 2013 verlängert wurde. Diesem
Expertengremium gehört nun auch ein deutscher Experte an. Die Bundesregierung hat sich 2011 auch dafür eingesetzt, dass die EU ihre Sanktionsmaßnahmen
gegen den Iran erheblich verstärkt. Darüber hinaus
warb Deutschland erfolgreich für die Annahme mehrerer Resolutionen der Internationalen Atomenergie-Organisation, IAEO, in denen Iran zu einer besseren Kooperation mit der IAEO aufgefordert wurde.
Diese Liste der erfolgreichen Initiativen Deutschlands als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied ließe
sich noch lange fortsetzen, beispielsweise mit der Unterstützung Deutschlands für Maßnahmen der Friedenssicherung, mit dem Engagement der Bundesregierung für einen internationalen Waffenhandelsvertrag,
mit dem Engagement Deutschlands für die Post-2015Millenniumsentwicklungsziele oder mit dem deutschen
Engagement für die Agenda 21 und die UN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung. Eine negative Bilanz sieht anders aus!
Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt in einem
Kommentar zu Deutschlands Ausscheiden aus dem
UN-Sicherheitsrat vom 1. Januar 2013: „Deutschland
hat sich sehr bemüht“. Würde die Bundesregierung die
Schulbank drücken, müsste sie bei dieser Beurteilung
um ihre Versetzung bangen.
Wie wir in unserem Antrag darstellen, hat die
Bundesregierung nach zwei Jahren im obersten VNGremium eine Negativbilanz vorzuweisen. Ich möchte
nicht auf alle Punkte eingehen, da vieles bereits bei der
ersten Lesung des Antrages zur Sprache kam, sondern
einige wichtige herausgreifen.
Nehmen wir zum Beispiel die Reform des UNSicherheitsrates. Es ist ihr in dieser Frage nicht
gelungen, irgendein Ergebnis vorzuweisen. Gerade die
immer noch andauernde Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Syrien zeigt jedoch, wie wichtig dieses
Unterfangen ist. Um eine Blockade des UN-Sicherheitsrates durch Vetomächte wie Russland und China
zukünftig zu erschweren, muss auf eine schrittweise
Überwindung des Vetorechts hingewirkt werden.
Deutschland als ein bedeutender Beitragszahler sollte
mit mehr Gewicht im Rat vertreten sein. Da erscheint
es wie blanker Hohn, wenn die Regierungskoalition
auf diese Kritik antwortet, man wolle sich für die Jahre
2019/2020 wieder um eine Kandidatur als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat bewerben. Gemäß dem
Motto „Dabei sein ist alles“ scheint es ihr wichtiger zu
sein, hin und wieder in einen sportlichen Wettstreit mit
anderen Staaten zu treten. Sie lässt jeglichen Gestaltungsanspruch vermissen, da sie nicht erklärt, wie sie
die Reform des Sicherheitsrats strategisch voranbringen möchte.
Konzeptlosigkeit und einen fehlenden Gestaltungsanspruch kann man der Bundesregierung auch in anderen Bereichen ihrer VN-Politik attestieren. So hat sie
zwar die Umbrüche in der arabischen Welt auf die
Tagesordnung des Sicherheitsrates gesetzt, allerdings
hat sie sich bei der Abstimmung über ein Vorgehen der
internationalen Gemeinschaft in Libyen zum Schutz
der Zivilbevölkerung enthalten. Über die Enthaltung
zu Libyen ist schon viel gesagt und geschrieben worden, was ich nicht alles wiederholen möchte. Aber es
ist nur schwer erträglich, wie Außenminister
Westerwelle sich nach dem Sturz Mubaraks auf dem
Tahrir-Platz in Ägypten von den Menschen dort umjubeln lassen konnte, aber sich beim Schutz von Libyerinnen und Libyern vor den mordenden Truppen
Gaddafis im Sicherheitsrat einfach wegduckt.
Der Fall Libyen ist eng mit der internationalen
Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect,
verknüpft, da sie in der UN-Resolution zu Libyen erstmals als Begründung für ein Vorgehen genommen
wurde. Das Konzept erfuhr dadurch insgesamt eine
unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten bedeutende
Aufwertung. Allerdings darf die Schutzverantwortung
nicht auf ein militärisches Vorgehen verkürzt werden.
Diese Norm, wie sie von der UN-Generalversammlung
im Jahre 2005 verabschiedet wurde, ist mit drei Säulen
konzipiert worden: der Verantwortung, vorzubeugen,
der Verantwortung, zu handeln und der Verantwortung, aufzubauen. Ein militärisches Eingreifen ist
dabei als letztes Mittel zum Schutz vor massiven
Menschenrechtsverletzungen zu sehen, wenn andere,
präventive Maßnahmen nicht greifen. Die Bundesregierung muss sich zur Schutzverantwortung bekennen.
Sie muss aktiv zu ihrer Akzeptanz und Weiterentwicklung beitragen und darf nicht die bloße Mitgliedschaft
in diversen Freundesgruppen vorschieben.
Bislang hat die Bundesregierung es auch versäumt,
eine aktivere Rolle bei der Lösung des Kernkonflikts in
der arabischen Welt, des Nahostkonflikts, einzunehmen. Nach der Entscheidung der UN, Palästina als Beobachterstaat in die Vereinten Nationen aufzunehmen,
hat die israelische Regierung erneut Beschlüsse zur
Ausweitung von Siedlungsgebieten getroffen, die mit
dem Recht der Palästinenser in Konflikt stehen und die
gegen internationales Recht verstoßen. Statt folgenloser Appelle an die Adresse der israelischen Regierung
wäre es sinnvoller, im UN-Sicherheitsrat entsprechende Initiativen zu starten.
Wer sich eine wertegeleitete Außenpolitik auf die
Fahnen schreibt und sich zum Freund der arabischen
Welt stilisiert, wie es Außenminister Westerwelle gemacht hat, der darf dann auch nicht kneifen, wenn es
darum geht, den dort notleidenden Menschen unmittelbar zu helfen. So wiederhole ich das, worum ich
Außenminister Westerwelle auch schon persönlich geZu Protokoll gegebene Reden
beten habe: Die Bundesregierung muss ein Zeichen
der Menschlichkeit setzen und syrischen Staatsangehörigen, deren Familienangehörige in Deutschland
leben oder die besonders schutzbedürftig sind,
Aufnahme gewähren.
Die Beratungen haben leider gezeigt, dass die Regierungskoalition sich unserer Kritik verschließt. Sie
wird unseren Antrag ablehnen. Angesichts ihrer dürftigen zweijährigen Bilanz im UN-Sicherheitsrat sollte die
Bundesregierung die ihr verbleibende Zeit nutzen, andere wichtige UN-Initiativen voranzubringen.
Gerade die Umbrüche in der arabischen Welt haben
uns noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig einheitliche Standards beim Import, Export und Transfer
von konventionellen Waffen zum Schutz vor weltweiter
Aufrüstung und Destabilisierung von Regionen sind.
Die Bundesregierung ist daher angehalten, die nächste
Woche beginnenden Verhandlungen für einen internationalen Waffenhandelsvertrag zum Erfolg zu führen.
Gleiches gilt für die Verwirklichung einer Zone frei
von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. Die
Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die Konferenz für eine solche Zone, die eigentlich schon im Jahr
2012 hätte stattfinden sollen, in 2013 endlich Realität
wird.
Sie muss alles daran setzen, die Millenniumsentwicklungsziele bis 2015 umzusetzen. Dazu gehört vor
allem, ausreichende Mittel für Entwicklungsfinanzierung bereitzustellen. Die Bundesregierung hat aber ihr
Versprechen, die Mittel entsprechend zu erhöhen, nicht
eingehalten.
Jetzt werden auch die Weichen für die Festlegung
neuer Entwicklungsziele gestellt. Die Bundesregierung
darf diese Entwicklung nicht verschlafen. Sie muss
eine Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der UNMillenniumsentwicklungsziele zu Zielen der nachhaltigen Entwicklung ({0})
einnehmen. Diese neuen Entwicklungsziele müssen
Teil eines neuen Rahmenwerks für globale Entwicklungspolitik von 2015 bis 2030 werden.
„Ich sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen,
vielen Dank.“
Schon in meiner letzten Rede zu dem vorliegenden
Antrag habe ich mit diesem markanten Zitat begonnen.
Und das nicht umsonst: Diese Worte bringen den Erfolg des deutschen Vorsitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen prägnant auf den Punkt.
Gesagt hat sie Nabil al-Arabi, Generalsekretär der
Arabischen Liga, gemäß dem Protokoll am Ende der
letzten Sicherheitsratssitzung, die Bundesaußenminister Guido Westerwelle leitete. Diese beiden Sätze drücken tiefe Dankbarkeit aus: Dankbarkeit für das deutsche Engagement in der Syrien-Krise, Dankbarkeit für
die deutschen Schlichtungsversuche im Nahen Osten,
Dankbarkeit für die Aufwertung der arabischen Welt
auf der UN-Agenda.
Und was wird seitens der Opposition der Bundesregierung in diesem Antrag vorgeworfen? Deutschland
hätte sich weder im Syrien-Konflikt noch im Nahen Osten durchsetzen können und wäre an einer Reform der
Vereinten Nationen gescheitert. Insgesamt unterstellt
man der deutschen Bundesregierung mangelndes Engagement. Da sind wohl der Generalsekretär der Arabischen Liga sowie unter anderem auch der marokkanische Außenminister, der sich bei Herrn Westerwelle
auf Deutsch ebenfalls bedankte, anderer Meinung.
Anscheinend sind die Gesandten des Auslands alles
andere als enttäuscht vom deutschen Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und zwar zu Recht.
Ich werde Ihnen jetzt auch erläutern, warum.
Unsere Bilanz sieht in wenigen Worten folgendermaßen aus: Während unseres Vorsitzes hat Deutschland Initiativen zum Klimaschutz und zur globalen Abrüstung geleitet. Wir haben eine Resolution zum Schutz
von Kindern in bewaffneten Gebieten eingebracht.
Deutschland hat aktiv die Friedensbemühungen im
Nahen Osten unterstützt und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga durchgesetzt.
Es mutet schon realitätsfremd an, wenn man der
Bundesregierung vorwirft, nicht genug für den Nahen
Osten zu tun, wenn gleichzeitig Außenminister
Westerwelle vor Ort Friedensverhandlungen zwischen
Israel und der Hamas führt.
Genauso wirklichkeitsfremd scheint die Forderung,
Deutschland hätte während des Vorsitzes die Vereinten
Nationen reformieren sollen. Diese Erwartung ist
schlicht unerfüllbar. Natürlich, wir setzen uns für einen ständigen Sitz der Bundesrepublik Deutschland im
Sicherheitsrat ein und wir unterstützen die Reformpläne der Vereinten Nationen, die der heutigen globalen Machtverteilung gerecht werden. Aber diese Forderungen kann man nicht alleine im Marschschritt
durchsetzen. Das Interesse der Vetomächte an einer
grundlegenden Reform - und damit einhergehend einer Beschneidung ihrer derzeitigen Machtposition ist äußerst gering. Daher bedarf es einer breit aufgestellten, umfassenden Bewegung unter den Mitgliedern
der Vereinten Nationen, um den Druck auf die Vetomächte zu erhöhen. Es schmeichelt ja, dass uns die
Opposition zutraut, innerhalb von zwei Jahren die
Weltorganisation umzukrempeln, aber leider muss ich
an dieser Stelle dann doch etwas mehr Realitätssinn
fordern.
Wir verfolgen weiterhin das langfristige Ziel, ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden. An
dieser Prämisse hat sich nichts geändert. Wir haben
daran gearbeitet, wir werden daran weiterarbeiten.
Aber es geht eben nicht über Nacht.
Das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik und deren friedensstiftenden Einfluss auf die internationalen
Zu Protokoll gegebene Reden
Beziehungen ist ungebrochen. Als Beweis der internationalen Zustimmung zum Kurs der Bundesregierung
wurde Deutschland in den UN-Menschenrechtsrat gewählt. Das ist aller Ehren wert. Und zudem eine Bestätigung für unsere gute Arbeit im UN-Sicherheitsrat.
Die zwei Jahre im Sicherheitsrat und der deutsche
Vorsitz in dem Gremium sind eine Erfolgsgeschichte
dieser Bundesregierung. Wo die Opposition hier eine
Negativbilanz erkennt, ist fraglich. Wir sehen sie nicht,
die Gesandten in der arabischen Welt sehen sie nicht,
die UN-Mitglieder sehen sie nicht. Und nur noch einmal zur Bestätigung möchte ich wieder mit den Worten
des Generalsekretärs der Arabischen Liga enden: „Ich
sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen, vielen
Dank.“
Die Fraktion der SPD legt uns einen Antrag vor, der
die Überschrift trägt: „Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat“. Sie möchte eine „ernüchternde Bilanz“ der Bundesregierung feststellen lassen.
Wenn es nur darum ginge, könnten wir dem Antrag
ohne Weiteres zustimmen.
Doch dabei bleibt es nicht.
Schwerpunkt eins der Kritik der SPD an der Bundesregierung ist der mangelnde Einsatz der Bundesregierung für einen ständigen Sitz Deutschlands im
Sicherheitsrat der Weltorganisation. Hier sind wir anderer Auffassung. Eingebettet darin ist eine Kritik am
fehlenden Engagement der Bundesregierung für eine
Reform des Sicherheitsrates. Diese Kritik jedoch teilen
wir.
Zweiter Punkt ist die - aus Sicht der SPD - falsche
Entscheidung der Bundesregierung, der Resolution,
die den Militäreinsatz in Libyen 2011 legitimierte,
nicht zuzustimmen. Das kritisieren wir nun überhaupt
nicht, sondern diese Entscheidung der Bundesregierung findet unsere ausdrückliche Zustimmung.
Punkt drei der Kritik: fehlendes Engagement für
eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Das sehen auch wir so.
Punkt vier: keine Initiativen der Bundesregierung
zur Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Richtig. Hier könnte man mehr tun.
Und schließlich Punkt fünf: das Nichtzustandekommen des Waffenhandelsvertrags bzw. der mangelnde
Einsatz der Bundesregierung für sein Zustandekommen. Auch hier hätte die SPD unsere Unterstützung.
Sie sollte aber besser selbst handeln, wenn sie es denn
kann.
Ergo: Die Linke teilt die Kritik an der schleppenden
Reform der Vereinten Nationen, vor allem die fehlende
Repräsentanz des globalen Südens im Sicherheitsrat.
Ein Streben nach einem deutschen Sitz wird hier allerdings keine Abhilfe schaffen. Ganz im Gegenteil, und
deshalb lehnen wir dies auch ab.
Völlig im Widerspruch zur antragstellenden Fraktion sind wir aber, wenn es um den Einsatz in Libyen
geht. Wir finden, dass die Bundesregierung sich, wie
auch die Regierung Schröder/Fischer, als es um den
Irakkrieg ging, grundsätzlich richtig verhalten hat.
Gerade an den Entwicklungen in Mali sehen wir, dass
der Militäreinsatz in Libyen keine wirkliche Lösung
für ein komplexes und tiefergehendes Problem war. Im
Übrigen meine ich, dass wir auch am Afghanistan-Einsatz, der uns damals von SPD und Grünen als humanitärer Einsatz verkauft wurde, sehen: Militärische Gewalt schafft neues Leid und trägt eben nicht nachhaltig
zur Lösung von Problemen bei.
Das kann unseres Erachtens nur ein andauernder
Dialog, wie ihn die SPD eben auch zwischen Palästina
und Israel fordert, wo sich die Bundesregierung, als es
um den Beobachterstatus Palästinas ging, nur der
Stimme enthalten hat. Auch meiner Fraktion wäre eine
Zustimmung lieber gewesen.
Was Abrüstung, insbesondere atomare Abrüstung,
angeht, hat sich die Bundesregierung mit Absichtserklärungen ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Folgen hatte dies bekanntlich keine.
Unsere Position zu Waffenexporten dürfte bekannt
sein, doch ich wiederhole sie gern: Wir wollen, dass
Deutschland keine Waffen mehr exportiert; ein erster
Schritt könnte ein Verbot von Waffenexporten in
Kriegs- und Krisengebiete sein.
Die Kritik der SPD an der Waffenexportpolitik der
Bundesregierung höre ich wohl, teile sie auch; allein
mir fehlt der Glaube an besseres Handeln. Bereits im
ersten Jahr der SPD-geführten Bundesregierung,
1999, verdoppelte sich der Wert der exportierten
Kriegswaffen von 683 Millionen Euro auf 1,454 Milliarden Euro. In den Jahren der Großen Koalition
2006 bis 2009 gab es kein Jahr, in dem es weniger als
1,3 Milliarden Euro waren.
Internationale Verträge zur Begrenzung internationalen Waffenhandels wären nicht schlecht, aber eigenes Handeln wäre noch besser. Hier hätte Deutschland
unter SPD-Kanzlern und mit der SPD in der Bundesregierung selbst aktiv werden können.
Nicht nur an dieser Stelle ist der Antrag inkonsequent.
Deshalb bleibt für uns nur eins: Wir werden gegen
ihn stimmen, auch wenn wir uns natürlich eine bessere
Bilanz der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat gewünscht hätten.
Am 1. Januar 2011 war Deutschland in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt worden. Am
17. März kam es schon zum ersten Stresstest: In Libyen
tobte der Bürgerkrieg, die Armee des Diktators Muammar al-Gaddafi stand vor den Toren Bengasis und
drohte der Zivilbevölkerung mit Massakern. Der Sicherheitsrat stimmte darüber ab, ob die StaatengemeinZu Protokoll gegebene Reden
schaft gemäß der Schutzverantwortung intervenieren
sollte.
Deutschland hat sich enthalten - an der Seite von
Russland, China, Brasilien und Indien, gegen Frankreich und die Vereinigten Staaten. Das war der prägende Eindruck unserer zwei Jahre im Sicherheitsrat.
Das Signal an unsere traditionellen Bündnispartner:
Wenn es ernst wird, dann ist auf Deutschland kein Verlass.
Ungeachtet dieses diplomatischen Fauxpas bemängeln deutsche Kritiker gern, dass der Sicherheitsrat ja
dysfunktional sei, dass Strukturreformen nötig seien,
zum Beispiel indem man das Vetorecht abschafft. Am
Beispiel des Syrien-Konfliktes könne man ja sehen, wie
Russland und China mit ihrem Veto den Sicherheitsrat
in die Handlungsunfähigkeit führen können.
Drei Thesen zu dieser Kritik:
Erstens. Eine Reform des Sicherheitsrats, die die
neuen Gewichte in der Welt besser abbildet, wäre sicher angemessen. Sie ist aber äußerst riskant, weil die
Generalversammlung dafür die Charta ändern müsste.
Da ist es unberechenbar, ob nicht gleich weitere Kernprinzipien, wie der Schutz der Menschenrechte, mit
erodieren würden.
Zweitens ist aber auch die Forderung nach einem
permanenten Sitz Deutschlands nicht mehr zeitgemäß.
Mehr Zusammenarbeit mit unseren europäischen und
transatlantischen Partnern ist nötig - keine Alleingänge, wie in der Causa Libyen. Schließlich entschuldigt der Verweis auf Reformbedarf nicht mangelndes
Engagement. Deutschland muss im bestehenden VNSystem aktiver werden.
Als Mitglied der Europäischen Union ist unsere Außenpolitik multilateral. Mit einem multilateralen, europäischen Ansatz wollen wir deshalb auch die Vereinten
Nationen im bestehenden System stärken. Unsere zentrale Forderung lautet: Europa muss im Sicherheitsrat
mit einer Stimme sprechen.
Die VN könnten schon jetzt viel besser sein, wenn
Deutschland und Europa engagierter in den Gremien
der VN arbeiten würden.
Niemand bestreitet die Notwendigkeit, die VN ständig den neuen Gegebenheiten anpassen zu müssen, also
zu reformieren. Ganze Kontinente, vor allem Afrika,
sind unterrepräsentiert. Aufstrebende Regionen und
Staatenverbünde, wie die BRICS-Staaten, müssen stärker einbezogen werden. Sonst droht die Gefahr, dass
die dahinter stehenden Staaten sich einseitig zurückziehen. Eine Fragmentierung der Vereinten Nationen
wäre die Folge.
Doch anstatt die Rolle multilateraler Verbände im
Sicherheitsrat zu fördern, setzen einzelne Mitgliedstaaten immer noch auf nationalstaatliche Repräsentanz. Deutschland ist nach wie vor mit Japan, Indien
und Brasilien in der Gruppe der G 4 aktiv. Man unterstützt sich gegenseitig darin, jeweils einen permanenten Sitz zu beanspruchen, und spaltet damit mehr, als
dass man eint.
Deutschland hat viel Energie darauf verschwendet,
einen eigenen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erlangen. Es hat nichts gebracht.
Deutschland sollte sich von dieser Forderung explizit verabschieden. Der nationale Traum eines permanenten deutschen Sitzes im Sicherheitsrat ist ausgeträumt.
Realistisch ist es, die nichtständigen europäischen
Sitze unter Einbeziehung des Vereinigten Königreichs
und Frankreichs als permanente europäische Vertretung auszubauen. Ein neuer diplomatischer Stab soll
die Arbeit der Europäer intern vorbereiten, koordinieren und abwickeln. Die Repräsentation im Sicherheitsrat kann dann rotieren.
Für diese Europäisierung auf Arbeitsebene wäre
keine Reform des Sicherheitsrats nötig, nur europäischer
Wille zur Zusammenarbeit. Alle Länder der EU und
die EU als Ganzes müssen sich vertreten fühlen und in
die interne Sicherheitsratskoordination aktiv und permanent eingebunden sein. Das sieht die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Vertrag von
Maastricht vor. Der Art. 34 des Lissabon-Vertrages bekräftigt es. Entsprechend treten wir dafür ein, dass
auch gemeinsame europäische Sitze in den Aufsichtsgremien der Unterorganisationen, Sonderorganisationen,
Programmen und Fonds der VN angestrebt werden.
Ein Friedensnobelpreisträger Europa mit geeinter
Stimme im Sicherheitsrat könnte unser gemeinsames
Streben nach Frieden unterstützen und den Menschenrechten weltweit zu mehr Geltung verhelfen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12242, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/11576 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Regierungskoalition und der Linken gegen
die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur
Änderung des Gesetzes zur Regelung der
Wohnungsvermittlung
- Drucksache 17/12637 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Den neuen Bestseller, die Skiausrüstung oder ein
schickes Paar Schuhe - heute bestellt man solche Produkte europaweit im Internet so einfach wie eine Pizza
beim Lieferdienst um die Ecke. Das ist ein Wachstumsmarkt - zum Leidwesen mancher Innenstädte.
Einkaufen im Internet geht meist schneller und ist
vor allem bequemer als der Einkaufsbummel durch die
Kaufhäuser. Innerhalb weniger Stunden kommt die bestellte Ware zum Kunden nach Hause - und das ohne
langes Warten vor den Umkleidekabinen oder Anstehen an der Kasse. Das ist ein Grund, warum der
Onlinehandel in Europa in den letzten Jahren deutlich
gewachsen ist - mit steigender Tendenz.
2011 wurden innerhalb Europas 5,5 Milliarden Pakete versendet. In Deutschland wurden 2012 Waren im
Wert von etwa 30 Milliarden Euro im Internet bestellt.
Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Zuwachs von etwa
30 Prozent. Nach aktuellen Schätzungen wird es auch
in diesem Jahr wieder einen kräftigen Zuwachs geben.
Dies ist ein beachtlicher Erfolg, und zwar umso mehr,
wenn man bedenkt, dass wir innerhalb der EU keine
einheitlichen Rechtsvorschriften haben.
Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie werden im Wesentlichen die Bereiche Verbraucherverträge und besondere Vertriebsformen sowie Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen
neu gefasst.
Die Richtlinie zielt in erster Linie darauf, das Verbraucherschutzniveau zu erhöhen und zu einem besseren Funktionieren des Binnenmarkts für Geschäfte
zwischen Unternehmen und Verbrauchern beizutragen. Wir schaffen Klarheit für Kunden und Händler.
Bisher hatten wir in Europa einen Mindestharmonisierungsansatz. Es bestanden beispielsweise keine einheitlichen Widerrufsfristen. Dies sorgte aufseiten der
Händler und der Verbraucher für Rechtsunsicherheit.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung
der Verbraucherrechterichtlinie wird der Handel für
beide Seiten einfacher und sicherer.
Das Widerrufsrecht wurde umfassend überarbeitet:
Die Widerrufsfrist wird europaweit auf 14 Tage vereinheitlicht und ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen; die Unternehmer müssen den Kunden zukünftig
ein Widerrufsformular bereitstellen und sind verpflichtet, sie über das Bestehen oder auch Nichtbestehen
bzw. Erlöschen des Widerrufsrechts verständlich und
umfassend zu informieren; die Widerrufsfrist für die
Kunden beginnt erst, wenn die komplette Ware bei ihm
eingetroffen ist und der Unternehmer seinen gesetzlichen Informationspflichten zum Widerrufsrecht nachgekommen ist; Voreinstellungen, die der Verbraucher
aktiv ablehnen muss, damit keine Zusatzleistungen entstehen, sind nicht zulässig.
Auf der anderen Seite wird auch die Rechtssicherheit für die Unternehmer verbessert: Der Kunde muss
kenntlich machen, wenn er vom Widerrufsrecht Gebrauch machen will, die bloße Rücksendung ist nicht
ausreichend. Zudem trägt der Verbraucher zukünftig
die Kosten der Rücksendung, sofern der Händler sich
nicht bereit erklärt, diese zu übernehmen, weil das ja
durchaus auch ein Wettbewerbsvorteil ist. Da es für
kleinere Unternehmen schwierig sein kann, selbst eine
gesetzeskonforme Widerrufsbelehrung zu formulieren,
enthält der Richtlinienvorschlag sogar ein Muster.
Durch die Angleichung der Rechtsvorschriften
sorgen wir in Europa für eine Vollharmonisierung.
Den Mitgliedstaaten wird aber ermöglicht, durch
Öffnungsklauseln in verschiedenen Bereichen, ein
noch höheres Verbraucherschutzniveau vorzusehen.
Dies hilft sowohl den Verbrauchern als auch den
Händlern und sorgt auch weiterhin für einen florierenden Onlinehandel!
Das Potenzial ist riesig, das Internet macht es möglich: Der grenzüberschreitende Warenverkehr steht
fast noch in den Startlöchern seiner Entwicklung. Viele
Verbraucher zögern jedoch vor dem Abschluss eines
Kaufvertrages gerade mit einem ausländischen Anbieter. Sie zögern nicht nur, wenn der Vertragspartner in
den USA oder im fernen China sitzt, sondern oftmals
auch bereits dann, wenn dieser seine Ware von Frankreich, Holland oder einem anderen benachbarten EULand aus anbietet.
Die Gründe hierfür sind vielfältig, reichen von
Sprachbarrieren über Nichtkenntnis ausländischer
Rechtssysteme bis hin zur latenten Befürchtung, im
Falle verspäteter oder gar Nichtlieferung bereits bezahlter Güter einem fremden Rechtssystem „ausgesetzt“ zu sein, das hinter dem bekannten nationalen
Verbraucherschutzniveau zurückbleibt. Aufgrund der
Fragmentierung der Verbraucherschutzregeln in den
EU-Mitgliedstaaten fehlt es vielen Verbrauchern
- ebenso wie kleineren Unternehmern - in erster Linie
an Vertrauen, außerhalb des Landes einzukaufen bzw.
zu verkaufen.
Speziell im voranschreitenden Onlineverkehr ist
dies nicht weiter verwunderlich. Die aktuellen EUVorschriften zum Verbraucherschutz wurden vor der
„digitalen Revolution“ verabschiedet. So sind insbesondere die Verbraucher nicht ausreichend geschützt.
Rechtssicherheit ist jedoch aus Sicht von Verbrauchern
wie Unternehmern gleichermaßen ein wesentliches
Element für das Funktionieren des europäischen Binnenmarktes.
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie, zur Änderung des Verbrauchsgüterkaufrechts und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung werden Rechte und
Pflichten der Beteiligten am Erwerb von Waren oder
Dienstleistungen europaweit vereinheitlicht. Mit dieser Verbesserung der Rahmenbedingungen wollen wir
das Vertrauen in den Markt stärken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung setzt damit um, wofür sie - in
Person der Ministerinnen Aigner und LeutheusserSchnarrenberger - im politischen Brüssel bereits im
Vorlauf der Erarbeitung der Verbraucherrechterichtlinie konsequent eingetreten ist: mit einheitlichen Regeln die Attraktivität des grenzüberschreitenden Handels insbesondere über das Internet zu stärken, dabei
aber das hohe deutsche Verbraucherschutzniveau zu
wahren.
In diesem Sinne wurde bereits auf Drängen der
Bundesregierung eine Regelung gegen Kostenfallen im
elektronischen Geschäftsverkehr in die am 12. Dezember 2011 in Kraft getretene Verbraucherrechterichtlinie aufgenommen. Nach der sogenannten Schaltflächenlösung kommt ein im Internet geschlossener
Vertrag nur dann zustande, wenn dem Verbraucher
alle wesentlichen Informationen verständlich zur Verfügung gestellt werden, bevor er einen unmissverständlich als zahlungspflichtige Bestellung ausgewiesenen Button anklickt. Aufgrund des dringenden
Handlungsbedarfs haben wir diese Regelung dann
auch bereits in Rekordzeit im August 2012 vorzeitig
umgesetzt.
Mit dem heutigen Gesetz wird der restliche Vorgabenkatalog der Verbraucherrechterichtlinie, der die
Situation für Verbraucher und Unternehmer beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen im Fernabsatz
oder außerhalb von Geschäftsräumen weiter verbessern wird, geregelt.
Insbesondere bei Einkäufen in Internetshops im EUAusland gelten künftig grundsätzlich dieselben Informations- und Widerrufsrechte wie bei Einkäufen in
deutschen Internetshops. Die Frist, innerhalb derer
Verbraucher im Fernabsatz oder an der Haustür geschlossene Verträge ohne Angabe von Gründen widerrufen können, wird europaweit einheitlich auf 14 Tage
festgelegt. Bisher war lediglich eine Mindestfrist von
sieben Tagen vorgegeben, die EU-weit mehrheitlich
genutzt wurde.
Das bislang „ewige“ Widerrufsrecht bei unterlassener oder nicht ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung
erlischt künftig nach einem Jahr und 14 Tagen. Dies
gibt Unternehmern mehr Rechts- und Planungssicherheit, kommt im Ergebnis aber auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugute, da Missbrauch ausgeschlossen wird. Der Richtlinienvorschlag enthält
zudem eine gesetzliche Musterwiderrufsbelehrung, da
die korrekte Widerrufsbelehrung insbesondere für kleinere Unternehmen schwierig sein kann.
Ferner vereinheitlicht werden künftig die Informationen, die ein Unternehmer dem Verbraucher vor Abschluss eines Fernabsatzvertrages oder Haustürgeschäftes unaufgefordert zur Verfügung zu stellen hat.
Sie sind in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger zu geben oder - bei Fernabsatzverträgen - entsprechend nach Vertragsschluss zu bestätigen. Dabei gelten für Verträge, die bei einem
bestellten Besuch geschlossen werden, sowie bei sofort
durchgeführten Reparaturen oder Wartungsarbeiten
erleichterte Anforderungen an die Informationspflicht,
wenn der Wert weniger als 200 Euro beträgt.
Verwendet ein Unternehmer im Internet Voreinstellungen, die der Verbraucher ablehnen muss, um eine
Vereinbarung über eine Zusatzleistung wie zum Beispiel eine Reiserücktrittsversicherung etc. zu vermeiden, muss der Verbraucher diese Zusatzleistung nach
der neuen Richtlinie nicht bezahlen. Vorab angekreuzte Felder sind in der Europäischen Union künftig
unzulässig. Ein sehr wichtiger Punkt.
Eine weitere wesentliche Veränderung besteht in
der Regelung, dass der Verbraucher die Kosten der
Rücksendung einer bestellten aber nicht mehr gewollten Ware grundsätzlich zu tragen hat. Die bisherige
Regelung, wonach der Händler ab einem Rücksendewarenwert von 40 Euro die Rücksendekosten zu tragen
hat, fällt. Der Verbraucher muss über eine Kostentragungspflicht jedoch ausdrücklich informiert werden.
Es ist zu erwarten, dass die Übernahme der Rücksendekosten ein Wettbewerbsfaktor sein wird, Verbraucher künftig hiervon also weiter profitieren können.
Die Grenze war allerdings nicht begründbar.
Die Verbraucherrechterichtlinie leitet das Prinzip
der umfassenden Vollharmonisierung. Im Rahmen der
Vereinheitlichung konnte die Bundesregierung erfolgreich für die Bewahrung des hohen Verbraucherschutzniveaus des deutschen Rechts werben. Aufgrund
von vereinzelten Öffnungsklauseln können wir dieses
national an einigen Stellen sogar noch weiter verbessern. Im Sinne des Bürokratieabbaus wird dabei andererseits insbesondere dort unnötige Bürokratie abgeschafft, wo die Pflichten für Unternehmer in keinem
Verhältnis zum Nutzen für die Verbraucher stehen.
Der Gesetzentwurf ist bereits ein weitgehend gelungener Kompromiss zwischen Verbraucherrechten und
Interessen der Wirtschaft. Im parlamentarischen Verfahren werden wir die letzten kleinen Kanten schleifen.
Die Umsetzungsfrist für die Verbraucherrechterichtlinie läuft bis 13. Juni 2014. Die christlich-liberale Bundesregierung will das Gesetz frühzeitig im Gesetzesblatt haben, nicht zuletzt, um den Adressaten
ausreichend Vorbereitungszeit zu geben.
Endlich, endlich legt die Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie vor.
Grundsätzlich begrüßen wir diesen Gesetzentwurf;
denn es ist in der Tat gelungen, im Rahmen der sehr
wünschenswerten und notwendigen Vollharmonisierung im Bereich Verbraucherschutz das hohe Schutzniveau des deutschen Verbraucherschutzes zu erhalten.
Es ist aber auch wirklich an der Zeit gewesen, endlich die Umsetzung auf den Weg zu bringen und für einen besseren Schutz von Verbraucherinnen und
Verbrauchern zu sorgen. Die verbraucherpolitischen
Zu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({0})
Baustellen sind zahlreich, und vielerorts wäre Regierungshandeln dringend nötig. Doch die Bundesregierung handelt in Verbraucherschutzfragen leider oft
nur dann, wenn sie von Europa dazu aufgefordert
wird, wieder einmal ein Lebensmittelskandal die Menschen aufschreckt oder die Opposition zu Verbesserungen antreibt.
Heute reden wir über die Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie, zu der wir durch europäische
Vorgaben verpflichtet sind. Verbraucherinnen und
Verbraucher sollen beim Erwerb von Waren oder
Dienstleistungen europaweit einheitliche Rechte erhalten. Es können europaweit einheitliche Muster für
die Widerrufsbelehrungen genutzt werden, und die Informationspflichten sind vollständig harmonisiert.
So werden deutsche Verbraucher in Zukunft zum
Beispiel beim Einkauf in EU-ausländischen Onlineshops in den Genuss derselben Informations- und
Widerrufsrechte kommen wie beim Einkauf in inländischen Onlineshops.
Das ist sehr gut für die Kunden. Auch dass Verbraucherverträge, die im Fernabsatz oder an der Haustür
geschlossen wurden, künftig europaweit ohne Angabe
von Gründen innerhalb von 14 Tagen widerrufen
werden können, ist sehr begrüßenswert.
Was die Bundesregierung aber dringend überprüfen
sollte, ist die neue Regelung, wonach das Widerrufsrecht bei unterbliebener oder nichtordnungsgemäßer
Belehrung über das Widerrufsrecht zwölf Monate nach
Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist erlöschen
soll. Bislang erlöscht das Widerrufsrecht nämlich in
einem solchen Fall gar nicht.
Der Gesetzentwurf enthält zahlreiche gute Vorschläge. Allerdings möchte ich mit Blick auf die Verbraucherinnen und Verbraucher auch feststellen, dass
die Ausgestaltung bisweilen in wenig verständlicher
Art und Weise formuliert wird.
Als ein sehr bezeichnendes Beispiel ist § 312 g zu
nennen. In Abs. 2 Nr. 5 geht es um Alkoholverkauf, wo
das Widerrufsrecht nicht bestehen soll für „Verträge
zur Lieferung alkoholischer Getränke, deren Preis bei
Vertragsschluss vereinbart wurde, die aber frühestens
30 Tage nach Vertragsschluss geliefert werden können
und deren aktueller Wert von Schwankungen auf dem
Markt abhängt, auf die der Unternehmer keinen Einfluss hat“. Nicht nur hier wäre wirklich eine verständlichere Ausdrucksweise erforderlich.
Auch teile ich die Bedenken des Bundesrates bezüglich notariell beurkundeter Verträge und der fraglichen Notwendigkeit eines Widerrufsrechts.
Ich fordere die Bundesregierung aber auch auf,
dringend über eine Anpassung der Regelungen zur
Nacherfüllung im Verbrauchsgüterkaufrecht nachzudenken. Denn diese Regelung genügt den verbraucherschützenden Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht vollständig. Im Referentenentwurf zu dem
Gesetzentwurf, den wir heute beraten, war eine Neuregelung der Nacherfüllung noch enthalten. In diesem
Zusammenhang sollte die Bundesregierung auch
ernsthaft darüber nachdenken, im Rahmen der nach
den Vorgaben des EuGH erforderlichen Neuregelung
des § 439 BGB die Vorschrift nicht lediglich mit Wirkung zugunsten der Verbraucher abzuändern, sondern
eine Regelung vorzusehen, die uneingeschränkt gilt,
also auch für Unternehmer.
Ich hoffe für unsere Fraktion auf fruchtbare Beratungen.
Mit diesem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtline hat die Bundesregierung leider die
Chance vertan, Verbraucherinnen und Verbraucher in
zentralen Bereichen besserzustellen.
Die Liste der verpassten Gelegenheiten ist lang:
Erstens: Widerrufsrecht bei Telefonverträgen.
Wir als Linke finden es besonders bedauerlich, dass
auch diesmal keine Regelung zu telefonisch geschlossenen Verträgen existiert, sondern lediglich ein Widerrufsformular. Das ist ein Fortschritt gegenüber der bestehenden Situation. Dennoch müssen die potenziell
Betrogenen hier selbst aktiv werden, wenn ihnen am
Telefon etwas angedreht wurde.
Verbraucherinnen und Verbraucher sind allerdings
leider nach wie vor windigen Callcenterfirmen ausgeliefert. Immer noch genügt ein falsches Wort am Telefon oder einmal nicht richtig hingehört zu haben, und
schon hat man ein Zeitschriftenabo oder etwas Ähnliches, was sie nie wollten. Das bereits seit August 2009
geltende Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung hat sich als ineffektiv erwiesen. Verbraucherverbände sprechen nach wie vor von einer großen Anzahl unerlaubter Anrufe, die sogar oft unter falscher
Flagge segeln und sich als vermeintlich seriöse Firmen und Institutionen ausgeben. Dabei liegt die Lösung einfach und praktikabel auf der Hand liegt: Telefonisch geschlossene Verträge müssen noch einmal
schriftlich und in Ruhe bestätigt werden. Eine Bestätigungslösung fordert die Linke bereits seit Anfang
2009. Unser damaliger Antrag wurde von CDU/CSU,
SPD und FDP im Plenum abgelehnt, und seitdem ist
nichts mehr passiert. Ob ein Widerrufsformular sich in
der Praxis überhaupt bewährt, bleibt dabei die offene
Frage. Die Bestätigungslösung hätte sich auf jeden
Fall bewährt. Mehr noch: Die EU-Richtlinie hätte
diese Möglichkeit eröffnet, aber die Bundesregierung
nutzt diese Chance nicht.
Zweitens: Kaffeefahrten.
Oder nehmen wir das Beispiel der sogenannten
Kaffeefahrten. Es ist kein Geheimnis, dass Verkaufsveranstaltungen ein wesentliches Element dieser Ausflüge sind. Statt die Rechte der Verbraucherinnen und
Verbraucher bei Kaffeefahrten zu verbessern, verschlechtern sie sich sogar. Noch kann man vom Kauf
einer Rheumadecke oder einer Pauschalreise zurückZu Protokoll gegebene Reden
treten. Tritt dieses Gesetz in Kraft, kann man die Decke
zurückgeben, die Pauschalreise aber nicht mehr. Was
einmal unterschrieben ist, hat Gültigkeit. Ein Widerruf
ist künftig nicht mehr möglich. Die Bundesregierung
eröffnet hier nun ein riesiges neues Geschäftsfeld für
Betrüger, die ihre vermeintlichen Reisegäste mit überteuerten Reiseangeboten prellen können.
Drittens: Beweislastumkehr und Gewährleistungen.
Die Bundesregierung versäumt, die Gewährleistungsmöglichkeiten zu verbessern. Die Gewährleistung für ein gekauftes Produkt geht zwar theoretisch
über zwei Jahre; in der Praxis ist dieses Recht bereits
nach sechs Monaten wertlos. Das heißt: Einen neugekauften Toaster kann man theoretisch zwei Jahre lang
zurückgeben, wenn er kaputtgeht. Aber schon nach einem halben Jahr muss man beweisen, dass der Defekt
schon vorher da war. Da die wenigsten von uns Ingenieure sind, ist das praktisch unmöglich.
Die Chance wurde hier vertan. Der vorliegende
Entwurf ist ein verwässertes Papier mit zahllosen Ausnahmen. Beim Wohneigentum, bei den Reise- und Beförderungsleistungen, den Telefonverbindungen, den
Finanzdienstleistungen, bei Versicherungen sowie bei
Behandlungsverträgen: Verbraucherinnen und Verbrauchern werden weiterhin Informationen vorenthalten.
Dabei sind das zentrale Bereiche, die fast ausnahmslos
jeden Menschen betreffen. Durch ihre Untätigkeit liefert die schwarz-gelbe Koalition weiterhin Millionen
Bürgerinnen und Bürger der Abzocke aus.
Insgesamt gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Regeln, die für den juristisch nicht vorgebildeten Normalverbraucher weder verständlich noch nachvollziehbar sind. Es ginge auch einfacher. In Österreich
gibt es das Konsumentenschutzgesetzbuch, welches
nur 42 Paragrafen enthält und dennoch den Verbraucherschutz umfassend regelt. Eine derartige Transparenzoffensive wünschen sich sowohl Juristinnen und
Juristen als auch die Linke.
Wieder einmal hat diese Bundesregierung bewiesen,
dass sie kein Interesse an der Stärkung der Rechte von
Verbraucherinnen und Verbrauchern hat.
Der Gesetzentwurf soll die EU-Verbraucherrechterichtlinie umsetzen, die die Regelungen zu Haustür- und
Fernabsatzgeschäften europaweit zusammenführen und
überarbeiten soll. Neben einigen Verbesserungen bringt
die Richtlinie für die deutschen Verbraucherinnen und
Verbraucher auch Verschlechterungen mit sich.
Unter anderem sind das Verschlechterungen bezüglich der Widerrufsrechte im Versandhandel. Kosten für
die Rücksendung von Produkten beim Widerruf können
künftig komplett den Verbrauchern aufgebürdet werden, während bislang die Rücksendekosten ab einem
Warenwert von 40 Euro vom Verkäufer übernommen
werden mussten. Hier hätte die Bundesregierung in
Brüssel härter kämpfen müssen.
Doch auch jetzt - bei der Umsetzung der Richtlinie
in deutsches Recht - macht die Bundesregierung ihre
Hausaufgaben nicht ordentlich. Obwohl die Richtlinie
grundsätzlich auf europaweite Vollharmonisierung der
Verbraucherschutzvorschriften ausgelegt ist, lässt sie
den Mitgliedstaaten in einigen Artikeln durch Öffnungsklauseln die Möglichkeit, Regelungen einzuführen oder beizubehalten, die ein höheres Verbraucherschutzniveau beinhalten.
Diese Chance nutzt die Bundesregierung nicht. Im
Gegenteil! Der Gesetzentwurf verschlechtert das Verbraucherschutzniveau an einigen Stellen sogar:
Erstens. Die Richtlinie ermöglicht explizit die Einführung einer sogenannten Bestätigungslösung für
telefonisch geschlossene Verträge auf nationaler
Ebene. Diese Möglichkeit lässt Schwarz-Gelb ungenutzt. Angesichts der immensen Anzahl der infolge von
Cold Calling untergeschobenen Verträge ist die Einführung der Bestätigungslösung dringend erforderlich. Auch im gestern im Kabinett verabschiedeten
Gesetzentwurf gegen unseriöse Geschäftspraktiken
wird dies nur halbherzig umgesetzt. Es soll zwar in
Zukunft eine Bestätigung für am Telefon geschlossene
Gewinnspielverträge verbindlich werden, doch alle
anderen Verträge bleiben weiter außen vor. Unseriösen Unternehmen wird damit nicht das Handwerk gelegt.
Zweitens. Auch die vorgesehenen Ausnahmen beim
Widerrufsrecht sind unnötige und unverständliche
Verschlechterungen der Verbraucherrechte. So sollen
beispielsweise Verträge über Pauschalreisen, die vor
allem alten Menschen auf sogenannten Kaffeefahrten
untergejubelt werden, nach dem Willen der Bundesregierung künftig nicht mehr widerrufen werden können.
Auch Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln
oder Getränken - wie zum Beispiel Biokisten oder Getränkelieferungen ins Büro - sollen selbst bei längerer
Laufzeit nicht mehr widerrufbar sein. Die bisherige
Möglichkeit, zumindest laufzeitgebundene Lebensmittelabos, die bei Haustürgeschäften geschlossen wurden, zu widerrufen, soll damit gestrichen werden.
Anstatt hier die Rechte weiter zu beschneiden, wäre
eine Ausdehnung des Widerrufsrechts notwendig.
Drittens. Nachgebessert werden muss auch bei den
Informationspflichten im Fernabsatz bezüglich möglicher zusätzlicher Fracht-, Liefer- und Versandkosten,
sodass der Verbraucher weiß oder zumindest berechnen kann, welche Kosten im Gesamten auf ihn zukommen.
Viertens. Auch die notwendigen Änderungen im
Gewährleistungsrecht wurden nicht vorgenommen.
Hier muss klargestellt werden, dass Verbraucher in
Zukunft tatsächlich ihr Recht auf zweijährige Gewährleistung wahrnehmen können und nicht mehr, wie
heute faktisch oft, eine Gewährleistung nur innerhalb
von sechs Monaten; danach müssen sie beweisen, dass
ein Defekt oder Kaputtgehen nicht selbst verschuldet
Zu Protokoll gegebene Reden
ist. Da dies in der Praxis häufig unmöglich ist, ist eine
volle Beweislastumkehr notwendig.
Auch bezüglich der Garantieregelungen muss klargestellt werden, dass die Rechte der Käufer gegenüber
Verkäufern nicht durch eine Abhilfe durch den Hersteller eingeschränkt werden dürfen. Käufer dürfen auch
bei Inanspruchnahme einer Herstellergarantie keine
Nachteile bezüglich ihrer Gewährleistungsrechte gegenüber dem Verkäufer erfahren.
Fünftens. Daneben sind auch die im Gesetzentwurf
vorgenommenen Änderungen des Gesetzes gegen den
unlauteren Wettbewerb zu schwach und beheben die in
der Praxis bestehenden Probleme der Verbraucherverbände, etwa bezüglich der Abschöpfung von Unrechtsgewinnen, nicht.
Ich könnte noch weitere Punkte aufzählen, auch
Passagen, die unbestimmt und damit nicht rechtssicher
formulier sind. Aber die Auswahl macht deutlich: Hier
besteht noch dringender Nachbesserungsbedarf. Die
beim Widerrufsrecht vorgenommenen Ausnahmen
müssen gestrichen oder zumindest erheblich nachgebessert werden. Eine Bestätigungslösung ist bei allen
Telefonverträgen einzuführen. Rechtsunsicherheiten
und unbestimmte Rechtsbegriffe müssen verhindert
und nachgebessert werden. Die Legislatur ist nicht
mehr allzu lang; insofern muss die Bundesregierung
zügig nachlegen und im Zuge der Anhörung und der
Beratungen in den Ausschüssen die berechtigte Kritik
aufnehmen und aus dem mäßigen Gesetzentwurf ein
gutes Gesetz machen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung die europäische Verbraucherrechterichtlinie in das innerstaatliche Recht umsetzen. Hierdurch
schaffen wir Rechtssicherheit, erhöhen das Vertrauen
in den grenzüberschreitenden Einkauf und verbessern
sowohl die Situation der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Situation der Unternehmerinnen
und Unternehmer.
Die umzusetzende Verbraucherrechterichtlinie folgt
dem Grundsatz der Vollharmonisierung; das heißt, die
Mitgliedstaaten dürfen im von der Richtlinie erfassten
Bereich grundsätzlich weder strengere noch weniger
strenge Regelungen erlassen oder aufrechterhalten.
Hierdurch wird die bislang uneinheitliche Rechtslage
bei Verträgen, die im Fernabsatz oder außerhalb von
Geschäftsräumen geschlossen werden, europaweit
vereinheitlicht. Allein hierin liegt schon ein Vorteil für
Unternehmen, die in Zukunft ohne hohe Rechtsberatungskosten grenzüberschreitend tätig werden können.
Spiegelbildlich werden auch die Verbraucher von einem erhöhten grenzüberschreitenden Angebot profitieren können.
Aber wir nutzen auch die uns durch die Richtlinie
eröffneten Spielräume in Form von Bereichsausnahmen und Öffnungsklauseln konsequent und intelligent:
Auf der einen Seite erhalten wir das im europäischen
Vergleich hohe Verbraucherschutzniveau des deutschen Rechts aufrecht und heben es an verschiedenen
Stellen sogar noch an. Auf der anderen Seite setzen wir
konsequent darauf, Bürokratie für Unternehmen dort
zu vermeiden, wo ihr kein Vorteil für Verbraucher gegenübersteht. Damit erkennen wir Win-win-Situationen und beweisen, dass Verbraucherschutz und Bürokratieabbau kein Gegensatzpaar sind. Lassen Sie mich
einige Beispiele nennen:
Erstens. Die verbraucherschützenden Regelungen
des geltenden Rechts für Fernabsatzverträge über
Finanzdienstleistungen gelten zukünftig auch für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge
über Finanzdienstleistungen. Der Verbraucher ist in
beiden Situationen in gleicher Weise schutzbedürftig.
Unternehmer haben den Vorteil, dass sie bei beiden
Vertriebsformen einheitliche Informationsunterlagen
verwenden können.
Zweitens. Obwohl soziale Dienstleistungen und
Gesundheitsdienstleistungen von der Verbraucherrechterichtlinie vollständig ausgenommen sind, soll
dem Verbraucher nach unserem Entwurf auch in diesen Bereichen ein Widerrufsrecht zustehen. Denn auch
hier kann der Verbraucher überrumpelt werden, zum
Beispiel beim Verkauf von Medizinprodukten auf
Kaffeefahrten. Ausgenommen sind aus gutem Grund
Hausbesuche des Arztes.
Drittens. Unternehmer werden in Zukunft eine europaweit einheitliche Musterwiderrufsbelehrung verwenden können. Hierdurch werden Kosten und Risiken
im Fall eines grenzüberschreitenden Angebots deutlich
verringert. Auch für Verbraucher ist es hilfreich, in
einheitlicher Weise über ihr Widerrufsrecht belehrt zu
werden.
Viertens. Im Fall einer fehlenden oder falschen
Widerrufsbelehrung erlischt das bislang „ewige“
Widerrufsrecht zukünftig nach Ablauf eines Jahres.
Dies gilt auch für Altverträge, also Verträge, die vor
Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen worden sind.
Hierdurch erhalten Unternehmen mehr Rechts- und
Planungssicherheit. Verbraucher haben im Fall einer
nicht ordnungsgemäßen Belehrung ein Jahr Zeit, zu
entscheiden, ob sie den Vertrag widerrufen wollen.
Fünftens. Schließlich nutzen wir solche Bereichsausnahmen konsequent aus, durch die wir weitere
Bürokratie verhindern können. So werden zum Beispiel
im Laden geschlossene Geschäfte des täglichen
Lebens, die sofort erfüllt werden, auch zukünftig keinen umfangreichen Informationspflichten unterliegen.
Diese wären im Verhältnis zum Wert des Geschäfts
unverhältnismäßig. Auch die Verbraucher erwarten in
diesem Fall keine umfangreichen Informationen, die
zudem mitunter noch eingepreist würden.
Die Bundesregierung hat eine gute Grundlage
vorgelegt. Als Gesetzgeber sind wir nun gemeinsam
dazu aufgefordert, die für die Umsetzung notwendigen
Vorschriften bis zum 13. Dezember dieses Jahres zu
Zu Protokoll gegebene Reden
erlassen. Ich bitte Sie, sich engagiert und konstruktiv
daran zu beteiligen, damit wir dieses Ziel gemeinsam
erreichen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden - Zukunftskommission zur Reform der
Infrastrukturfinanzierung einrichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr
Verkehr auf der Schiene
- Drucksachen 17/5022, 17/1971, 17/1988,
17/8386 Berichterstattung:Abgeordneter Werner Simmling
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Eine zukunftsorientierte Verkehrsinfrastruktur und
die damit verbundene Mobilität von Personen und Gütern bildet eine entscheidende Grundlage für den
Wohlstand in unserem Land. Das stellt auch die SPD in
ihrem Antrag fest. Da es der christlich-liberalen Koalition in den letzten Jahren gelungen ist, Wachstum zu
kreieren, Beschäftigung zu schaffen und Arbeitslosigkeit drastisch abzubauen, haben wir nach der Definition der SPD eine gute Verkehrsinfrastruktur geschaffen und eine gute Verkehrspolitik betrieben. Für dieses
Lob möchten wir uns bedanken.
Ja, Deutschland ist mit seinen geringen Rohstoffreserven, der zentralen Lage in der Mitte Europas und
seiner sehr exportorientierten Wirtschaft auf eine leistungsfähige und moderne Infrastruktur angewiesen.
Deshalb hat diese Bundesregierung große Anstrengungen unternommen, die Verkehrsinfrastruktur nicht nur
zu erhalten, sondern auch auszubauen. Auch aus diesem Grunde haben wir die Infrastrukturbeschleunigungsprogramme I und II in Milliardenhöhe gestartet,
um den Ausbau voranzutreiben.
Sie sehen, wir bauen unsere Infrastruktur immer
weiter aus. Wir ruhen uns nicht auf den Erfolgen der
Vergangenheit aus, sondern passen die Verkehrspolitik
immer wieder den neuen Gegebenheiten an. Deshalb
arbeiten wir derzeit am Bundesverkehrswegeplan
2015. Gemeinsam mit den Ländern erstellt das Bundesverkehrsministerium ein Konzept für die Zukunft;
denn wir wissen, dass eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur das Rückgrat eines starken und dynamischen Wirtschaftsstandortes Deutschland ist.
Aber wir haben natürlich auch die Haushaltskonsolidierung und insbesondere die Schuldenbremse zu berücksichtigen. Plan- und maßlose Forderungen aufzustellen, ist einfach unseriös. Die Linken stellen einen
Forderungskatalog auf, ohne zu berücksichtigen, dass
die Haushaltskonsolidierung die Höhe des Gesamtund Verkehrsetats massiv beschränkt. Einen Wunschkatalog abgeben ohne Rücksicht auf die Kosten, ist zu
einfach und bei den Linken rein ideologisch motiviert.
Zudem sind die Forderungen teilweise von der Realität
überholt. So hat die Bundesregierung eine Förderung
der Investitionen in den Ersatz der Schienenwege der
öffentlichen nicht bundeseigenen Eisenbahnen im
Schienengüterfernverkehrsnetz schon längst beschlossen.
Wir wissen, dass die Bahn eines der umweltfreundlichsten Verkehrsmittel ist, das Fahrrad einmal ausgenommen. Weder Pkw noch Lkw, geschweige denn das
Flugzeug, sind so klimaschonend wie die Bahn; denn
sie weist unter dem Gesichtspunkt Energieeffizienz
eindeutige Vorteile auf.
Deshalb ist es auch im Interesse des Umwelt- und
Klimaschutzes unser Ziel, einen großen Teil des in Zukunft zusätzlich anfallenden Güterverkehrsaufkommens auf die Schiene zu verlagern. Auch dies gehört zu
unserem Konzept zur Vermeidung von CO2-Emissionen und zum Erreichen unserer Klimaschutzziele. Die
Bahn der Zukunft wird in diesem Zusammenhang eine
herausragende Rolle spielen. Wir wissen, dass es bis
2025 im Personenverkehr einen Zuwachs von circa
26 Prozent und im Güterverkehr von circa 65 Prozent
geben wird.
Aus diesem Grund setzen wir uns auch für den Ausbau des Schienennetzes ein, um mehr Güter auf die
Schiene zu bekommen, um mehr Menschen zu gewinnen, das Auto stehen zu lassen und mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren.
Um die Bahn aber wirklich attraktiver zu machen,
ist es notwendig, das Schienennetz auszubauen. Und
genau hier setzt meine Kritik an den Grünen an. In
Berlin stellen sich die Grünen hin und fordern den
Ausbau zahlreicher Schienenwege, sowohl für den
Personen- als auch für den Güterverkehr. Wenn es
dann aber vor Ort um die konkrete Umsetzung geht,
tauchen die Grünen nicht einfach unter. Nein, sie
wechseln die Position und sind auf der Seite der Ausbaugegner zu finden. Teilweise organisieren die Grünen den Widerstand sogar. Gründe lassen sich immer
finden. Mal ist es ein Biotop, das nicht berührt, dann
ist es ein wertvoller Wald, der nicht beeinträchtigt
werden darf.
Es stellt sich die Frage: Ist es Taktik? Fehlt den
Grünen einfach der Gesamtüberblick und verlieren sie
sich im Kleinklein, oder ist es Politikstrategie und Arbeitsteilung: In Berlin für den Ausbau, vor Ort gegen
jegliche Änderungen?
Es gibt noch Baustellen, an denen wir arbeiten.
Derzeit verhandeln wir die Fortsetzung der Leistungsund Finanzierungsvereinbarung sowie des Eisenbahnregulierungsgesetzes. Seien Sie versichert, dass diese
Koalition auch weiterhin sicherstellen wird, dass Investitionen in unsere Verkehrsinfrastruktur dorthin gelenkt werden, wo sie den größten Nutzen für unsere
Bürgerinnen und Bürger und unsere Wirtschaft haben.
Ich danke Ihnen ausdrücklich für die heutige
Debatte, in der wir uns mit unserer Verkehrsinfrastruktur und ihrer Weiterentwicklung beschäftigen. Geben
Sie uns damit doch die Gelegenheit, einmal aufzuzeigen, wie erfolgreich wir doch in den letzten dreieinhalb Jahren die Infrastrukturpolitik in diesem Land
weiter nach vorne gebracht haben - und das trotz großer Herausforderungen im Rahmen der Haushaltskonsolidierung.
Während andere vorher unsere Infrastruktur auf
Verschleiß gefahren haben, hat die unionsgeführte
Bundesregierung in der Infrastrukturpolitik eindeutig
dem Erhalt Priorität eingeräumt, also Erhalt vor
Ausbau. So haben wir die Mittel für Erhalt und Sanierung massiv aufgestockt. Ich komme aus NordrheinWestfalen. Wenn dort aktuell Brückensperrungen an
der A 1 vorgenommen werden müssen und teilweise
Brücken für den Schwerlastverkehr nicht befahrbar
sind, dann sind das heute die Folgen Ihrer Politik,
nicht rechtzeitig investiert zu haben. Die enormen
Staus im Kölner Raum und anderswo, die aktuell täglich gemeldet werden, sind nicht nur eine Belastung
für Mensch und Umwelt, sie verursachen auch einen
nicht bezifferbaren volkswirtschaftlichen Schaden und
sind das Erbe eines Jahrzehnts SPD-dominierter Verkehrspolitik. Hingegen danke ich unserem Minister
ausdrücklich, dass er sich mit dem Brückensanierungsprogramm dieser Thematik angenommen hat,
und hoffe sehr, dass so weitere Brückensperrungen
vermieden werden können.
Bei engen finanziellen Spielräumen stehen bei den
Bedarfsmaßnahmen die Engpässe, Verkehrsknoten sowie Lückenschlüsse ganz oben auf der Agenda. Mit
den vorhandenen Investitionsmitteln gilt es vor allem,
die Qualität der Bestandsnetze von Schiene, Straße
und Wasserwegen zu sichern. Mit Blick auf die schon
erwähnte Haushaltskonsolidierung sind wir stolz, dass
es uns in den vergangenen Jahren gelungen ist, die Investitionslinie auf hohem Niveau über 10 Milliarden
Euro zu verstetigen. Mit den Infrastrukturbeschleunigungsprogrammen haben wir in den letzten beiden
Jahren noch einmal fast 2 Milliarden Euro zusätzlich
zur Verfügung stellen können.
Das sind deutlich mehr investive Mittel für die Verkehrsinfrastruktur als in den Jahren vor der Krise, und
das ist ein Erfolg, den wir uns auch hier und heute in
dieser Debatte nicht zerreden lassen!
Mit Blick auf die Substanzerhaltung unserer Verkehrswege stehen wir natürlich auch neueren Ansätzen
der Optimierung von Bestand und Ausbau mit großem
Interesse gegenüber, vor allem wenn sie Einsparpotenzial und mehr Transparenz bieten. Hier sind öffentlichprivate Partnerschaften ein ausgezeichneter Ansatz.
Dazu bringen die Koalitionsfraktionen in dieser
Woche einen Antrag ein. Nach den ersten vier erfolgreichen Pilotprojekten läuft die zweite Staffel mit weiteren acht teilweise modifizierten Projekten. Durch die
Bündelung der baubedingten Staus auf einen kürzeren
Zeitraum ist ÖPP von enormem volkswirtschaftlichem
Nutzen und eine echte wirtschaftliche Alternative zum
konventionellen Bau.
Allerdings sehen auch wir Verbesserungspotenziale:
So gilt es, die Transparenz zu erhöhen; denn Transparenz schafft mehr Akzeptanz. Hierzu zählen genauso
eine frühzeitige Information und Beteiligung der Öffentlichkeit wie auch eine möglichst weitreichende
Transparenz während der Betriebsphase. Mehr Information, mehr Kommunikation, mehr Dialog zwischen
Auftraggeber, Öffentlichkeit und Betroffenen vor Ort
sollen die Variante öffentlich-privater Partnerschaft
noch attraktiver machen.
Interessant ist, dass auch die SPD im heute debattierten Antrag die Fortentwicklung dieser Beschaffungsvariante fordert, unter anderem auch in meinem
Heimatland Nordrhein-Westfalen, jedoch weiter Vorbehalte gegen diese Variante des Ausbaus äußert. ÖPP
ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte, und die christlich-liberale Koalition hat ÖPP weiter vorangebracht.
Mehr Transparenz hat die Koalition auch mit dem
Finanzierungskreislauf Straße hergestellt, und das ist
gut so! Die Koalitionsvereinbarung der christlich-liberalen Regierung sieht einen Prüfauftrag zur Herstellung eines Finanzierungskreislaufs Straße unter direkter Zuweisung der Lkw-Maut an die VIFG vor. Genau
das haben wir umgesetzt. Die Einnahmen aus der
Lkw-Maut fließen jetzt eins zu eins zurück in die
Straße. Mit Interesse schauen wir auf die Ergebnisse
der Daehre-Kommission. Gleichwohl gilt es, richtige
Zu Protokoll gegebene Reden
Ansätze zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusammenzuführen und die Lasten gezielt zu verteilen.
Ferner gilt es, den gegebenen Rechtsrahmen zu berücksichtigen. Diese Koalition kämpft um mehr Mittel
für die Verkehrsinfrastruktur. In dieser Legislatur haben wir viel erreicht; diese erfolgreiche Politik werden
wir in den nächsten Jahren fortsetzen!
Mit der heutigen Debatte über die uns vorliegende
Beschlussempfehlung schließt sich der Kreis einer seit
dem Beginn der Legislaturperiode laufenden Diskussion über die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für
unser Land und die dafür notwendige Finanzierung.
Die heutige Diskussion gibt uns die Chance, eine Bilanz der schwarz-gelben Bundesregierung und der sie
tragenden Regierungskoalition von CDU/CSU und
FDP in der Verkehrspolitik zu ziehen.
Bereits vor zwei Jahren hat die SPD-Bundestagsfraktion allen Fraktionen im Deutschen Bundestag
vorgeschlagen, in einer konzertierten Aktion eine Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung in Deutschland einzurichten. Unser Ziel war
es, den damals nach wenigen Monaten bereits vorhandenen Stillstand in der Verkehrspolitik zu überwinden,
der mit dem damals neuen Bundesverkehrsminister
Dr. Peter Ramsauer und der schwarz-gelben Regierungskoalition eingetreten war.
Ich denke, damals wie heute sind wir uns fraktionsübergreifend einig, dass eine gute Verkehrsinfrastruktur das wirtschaftliche Wachstum, Beschäftigung und
Wohlstand in Deutschland sichert. Sie ermöglicht eine
bezahlbare Mobilität für alle und garantiert den Unternehmen, den Transport ihrer Waren und Produkte
sicher zu organisieren. Sie sichert den Menschen in
unserem Land gesellschaftliche Teilhabe am öffentlichen Leben wie auch die notwendige räumliche Flexibilität, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können.
Obwohl die Verkehrspolitiker von CDU/CSU und
FDP in dem ersten Entwurf des Koalitionsvertrags im
Herbst 2009 bereits den Vorschlag einer Regierungskommission selbst in die Diskussion gebracht hatten,
hat die Mehrheit der Regierungskoalition im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages unseren Vorschlag nicht aufgegriffen und unseren Antrag abgelehnt. Bereits damals wurde offensichtlich, dass es
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer an dem notwendigen Mut fehlt, sich den drängenden Fragen einer
modernen Politik für die Verkehrsinfrastruktur und deren Finanzierung zu stellen. Dabei war die schwarzgelbe Regierungskoalition ambitioniert gestartet. In
den Verhandlungen des Verkehrshaushalts im Frühjahr 2010 forderten die Vertreter von CDU/CSU und
FDP im Verkehrsausschuss mit einem eigenen Antrag
den Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer auf, ein
Finanzierungskonzept vorzulegen. Dabei definierten
sie Eckpunkte.
Schauen wir heute gemeinsam zurück auf die Zeit
der schwarz-gelben Bundesregierung und die Bilanz in
der Verkehrspolitik seit 2009, erkennen wir eine große,
weite Leere. Zentrale Forderungen des Koalitionsvertrags waren schon in der ersten Hälfte der Legislaturperiode klammheimlich beerdigt worden. Es fehlte die
Kraft, sie ernsthaft - auch im Konflikt mit dem Bundesumweltminister oder Bundesfinanzminister - durchzusetzen.
Ich will an dieser Stelle nur einige Punkte aufzählen: Die Kreditfähigkeit der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, VIFG, kommt nicht. Die Direktzuweisung der Lkw-Maut an die VIFG kommt
nicht. Der sogenannte Finanzierungskreislauf Straße
ist Verkehrspolitik aus dem 20. Jahrhundert. Mit großem Impetus verkündet, besteht er de facto nur auf
dem Blatt Papier und wird bei sinkenden Lkw-Mauteinnahmen zum Bumerang, der den Verkehrsträger
Straße und den dort notwendigen Investitionen massiv
schadet. Eine klare Prioritätensetzung bei den Projekten des Bundesverkehrswegeplans heißt bei Bundesverkehrsminister Ramsauer, die Investitionsmittel
nach Gutsherrenart zu verteilen. Bei dem Ausbau von
ÖPP-Projekten verheddert sich der Bundesverkehrsminister mit intransparenten Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen, und die Regierungsfraktionen brauchen
über drei Jahre, um in einem Antrag ihre eigene Position im Deutschen Bundestag zum Thema zu finden.
Bei der Abstufung von Bundesfernstraßen schafft es
der Bundesverkehrsminister, sich mit den Bundesländern lediglich auf rund 2 000 Kilometer zu einigen.
Möglich und notwendig wäre eine Länge von bis zu
20 000 Kilometern. Die Einführung einer Leistungsund Finanzierungsvereinbarung, LuFV, Straße ist im
Gestrüpp von Zuständigkeiten zwischen Bundesverkehrsministerium, externen Beratern und Bundesländern geendet. Ob die geplanten Modellvorhaben den
notwendigen Erfolg bringen, ist mehr als zweifelhaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich habe damals nicht verstanden, warum Sie als Vertreter der Regierungskoalition auf unseren Vorschlag nicht eingegangen sind. Das mag
sicherlich dem Reflex geschuldet sein, dass man Vorschläge einer Oppositionsfraktion pflichtschuldig von
vornherein ablehnt. Dass die Bundesregierung jedoch
dem mit schwarz-gelber Mehrheit beschlossenen Auftrag des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages vom Frühjahr 2010 nicht nachgekommen ist und
ein umfassendes Konzept zur Finanzierung unserer
Verkehrsinfrastruktur verweigert hat, finde ich ignorant.
Ich bin mir sicher, dass Sie vor drei Jahren eine
Chance verpasst haben. Die Diskussion über ein zukunftsfähiges Konzept wurde damit nicht dort geführt,
wo sie hingehört: in die Bundesregierung und in den
Deutschen Bundestag. Es bildeten sich Nebenschauplätze wie die Daehre-Kommission der Verkehrsministerkonferenz. In letzter Konsequenz haben sich Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer und die schwarzgelbe Regierungskoalition aus der Diskussion über
eine auskömmliche Finanzierung unserer VerkehrsinZu Protokoll gegebene Reden
frastruktur und die dafür notwendigen Strukturreformen verabschiedet. Damit haben die Vertreter von
CDU/CSU und FDP einen Stillstand der Verkehrspolitik zu verantworten, der einzigartig ist.
Während der Bundesverkehrsminister zu schwach
war, entscheidende Reformen auf den Weg zu bringen,
ist die SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag aktiv geworden. Unser Ziel: ein neuer gesellschaftlicher Konsens für unsere Verkehrsinfrastruktur. Mit
unserem Projekt „Infrastrukturkonsens 2020“ hat
meine Fraktion einen neuen Politikstil bestritten: Neue
Politikinhalte haben wir im regelmäßigen Dialog mit
Bürgerinnen und Bürger wie auch mit Vertretern von
Verbänden und Unternehmen entwickelt, breit diskutiert und in neuen Konzeptpapieren vorgelegt.
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer kannte in
den letzten Jahren nur eine Debatte: die Einführung
der Pkw-Maut. Damit stellte er die weitere Belastung
der Nutzer in den Vordergrund. Wir haben eine andere
Reihenfolge der Diskussion gewählt: Wir haben erst
über das „Was“ und die Prioritäten diskutiert und damit eine breite Basis für einen Konsens gelegt, welche
Verkehrsprojekte vorrangig finanziert werden sollten.
Darauf aufbauend haben wir mit allen Beteiligten über
das „Wie“ diskutiert und damit über notwendige
Strukturreformen gesprochen, die für eine effektive
Verwendung der Mittel notwendig sind. Aus meiner
Sicht sind diese beiden Schritte die Voraussetzung dafür, dass wir mit allen Vertretern von Verbänden und
Unternehmen über neue Modelle der Finanzierung reden können. Auch hier haben wir in dieser Woche unsere Vorschläge vorgelegt.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit. Wir wollen
nach vier Jahren Stillstand in der deutschen Verkehrspolitik wieder die Verantwortung in unserem Land
übernehmen. Unsere Vorschläge liegen für alle transparent auf dem Tisch. Alle Bürgerinnen und Bürger in
unserem Land wissen, was wir wollen. Während Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer ideenlos in Richtung Bundestagswahl stolpert, machen wir konkrete
Vorschläge, die wir nach der Bundestagswahl am
22. September 2013 umsetzen wollen. Das breite Interesse unter den Menschen in unserem Land, aber auch
unter den Vertretern der Verbände und Unternehmen
für unsere Ideen des Projekts „Infrastrukturkonsens
2020“ gibt uns recht: Wir haben die besseren Konzepte
als die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP. Während dort Leere herrscht, ist unser Instrumentenkoffer
voll gefüllt.
Das Konzept zur Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung ist ein gutes Bespiel dafür, wie es uns
gelungen ist, in der Verkehrspolitik einen neuen Konsens zu schaffen und zugleich eine Vorreiterrolle zu
übernehmen. Denn wir waren die Ersten im Bund, die
ein solches Konzept vorgelegt haben.
Wir ziehen damit die Konsequenzen aus den gesellschaftlichen Konflikten aus Großvorhaben wie Stuttgart 21. Aber nicht in dem Sinne, dass wir diese verhindern wollen, sondern dass wir sagen: Die für unser
Land notwendige Infrastruktur schaffen wir nur, wenn
wir sie frühzeitig zusammen mit den Bürgerinnen und
Bürgern diskutieren und auf den Weg bringen.
Das Konzept enthält deshalb konkrete Vorschläge,
wie die Bürgerbeteiligung bei Planungsverfahren durch
frühzeitige Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger
verbessert und zugleich Planungsverfahren beschleunigt werden können. Es geht uns um eine neue Kommunikations- und Planungskultur, Transparenz statt Planung hinter verschlossenen Türen und einen Dialog
auf Augenhöhe. Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung sind dabei für uns keine Gegensätze. Wir
machen eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie sich Planungen weiter verkürzen lassen. So sollten wir Dopplungen bei der Untersuchung der Umweltverträglichkeit vermeiden.
Wir sind aber überzeugt, dass wir die Gesamtplanungs- und Umsetzungszeiten gerade für umstrittene
Projekte am besten dadurch verkürzen, dass wir die
Bürgerinnen und Bürger frühzeitig in Entscheidungen
über Infrastrukturvorhaben einbinden und Transparenz über die Planung herstellen.
Dies betrifft sowohl die Entscheidung bei der Bundesverkehrswegeplanung, welche Projekte überhaupt
gebaut werden, also auch die Festlegung der konkreten Trassen und der Dimensionierung. Hier wollen wir
im Fachplanungsrecht die Verpflichtung aufnehmen,
dass alle interessierten Bürgerinnen und Bürger bei
Neubauvorhaben bereits vor dem Planfeststellungsverfahren zu beteiligen sind. Wir sind dabei der
Meinung, dass man es Behörden und öffentlichen
Planungsträgern nicht freistellen kann, ob sie nun die
Bürgerinnen und Bürger beteiligen oder nicht. Wir
brauchen vielmehr verbindliche Standards; denn nur
dann haben die Bauträger auch Rechtssicherheit.
Ich will mit Blick auf die Finanzierung unserer Bundesverkehrswege aber auch betonen: Wir müssen uns
von der Illusion verabschieden, dass jedes Wunschprojekt finanzierbar ist, wenn man nur lange genug wartet. Verkehrspolitik muss im eigentlichen Wortsinn wieder Wirtschaftspolitik werden. Wirtschaftlich handeln
bedeutet: mit knappen Mitteln möglichst viel Nutzen
herausholen. Und: Wir müssen deutlich effizienter
bauen mit einer überjährigen Projektfinanzierung und
einem verbesserten Management.
Am Ende werden wir jedoch auch bei einer klaren
Prioritätensetzung und einer realistischen Projektplanung mehr Geld benötigen. Baukostensteigerungen,
Bürgerbeteiligung, verbesserter Lärmschutz erhöhen
in der Summe die Kosten der einzelnen Projekte. Eine
Erhöhung des Etats innerhalb des Rahmens der Schuldenbremse kann aber nur unter der Beteiligung der
Steuerzahler und der Nutzer erfolgen.
Allein durch das Umschichten von Mitteln im Bundeshaushalt werden wir eine auskömmliche Finanzierung nicht erreichen. Die SPD-Bundestagsfraktion
schlägt daher vor, die Steuern dort, wo es verträglich
Zu Protokoll gegebene Reden
ist, für einige wenige zu erhöhen und einen Teil der
Mehreinnahmen in unsere Verkehrswege zu investieren. Das wird jedoch auch nicht ausreichen. Bei der
Lkw-Maut sehe ich daher grundsätzlichen Überprüfungsbedarf. Wir werden nach dem vierjährigen Mautmoratorium in der nächsten Legislaturperiode die
Lkw-Maut fortentwickeln müssen. Dies gilt übrigens
für alle möglichen Regierungsparteien von FDP über
Union bis zu den Grünen. Unser Ziel ist die Ausdehnung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen. Ich hoffe,
dass die aktuelle Bundesregierung einer neuen Folgeregierung die dafür notwendigen Voraussetzungen
hinterlässt. Das sich andeutende Desaster um die
Nachfolge des derzeit geltenden Maut-Konzessionsvertrags mit dem Unternehmen Toll Collect lässt mich
Schlimmstes erwarten.
In dieser Legislaturperiode haben sich die Fraktionen der CDU/CSU und FDP einer Reformdebatte verweigert. Ich hoffe, dass sich dies in der kommenden
Legislaturperiode nicht fortsetzen wird. Noch einmal
können wir uns vier verschenkte Jahre nicht leisten.
Die uns vorliegenden Anträge der Oppositionsfraktionen beziehen sich nicht auf punktuelle Änderungen
in der Verkehrspolitik, sondern befassen sich - indem
sie die Infrastruktur thematisieren - mit ganz grundsätzlichen Weichenstellungen der Verkehrspolitik. Neu
sind uns allerdings Ihre Positionen nicht. Sie werden
von Ihnen in regelmäßigen Abständen übermittelt, und
so kommt es mir vor, als hätte ich diese Rede in Reaktion
auf Ihre Forderungen schon einige Male gehalten.
Was mir insbesondere an dem Antrag der SPD deutlich missfällt, ist, dass Sie auf der einen Seite ein
grundsätzlich neues Konzept der Verkehrsinvestitionspolitik fordern, auf der anderen Seite aber wenig konkrete Vorschläge anbieten. Vollmundig sprechen Sie
von einem Stillstand in der Verkehrspolitik, ohne aber
aufzuzeigen, an welchen Stellschrauben Ihrer Meinung
nach gedreht werden müsste. Sie fällen Globalurteile,
aber bieten keine Lösungsvorschläge. Wie Sie selbst
wissen, orientiert sich die effektive Politikgestaltung
an dem politisch Machbaren. Ihr Antrag ist daher
Wahlkampf, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung
mit den verkehrspolitischen Notwendigkeiten.
Was davon abgesehen aber sicherlich zu konstatieren ist, sind die zentralen Probleme der Infrastrukturpolitik. Über diese herrscht auch durchaus interfraktioneller Konsens. Dabei handelt es sich erstens um
die frappierende Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur, die bereits seit vielen Jahren die Regierungen
beschäftigt, zweitens die unbedingte Notwendigkeit
von Effizienz im Mitteleinsatz und drittens die zunehmenden Anforderungen an ökologische Kriterien. Diese
Feststellungen dürfen wohl als „common sense“ bezeichnet werden. Vor uns hat sie bereits die PällmannKommission artikuliert, und die jetzige Bundesregierung hat sie in den Koalitionsvertrag geschrieben.
Was Sie bei aller Fundamentalkritik in Ihren Anträgen allerdings unterschlagen, sind die maßgeblichen
Schritte, die bereits eingeleitet worden sind!
Erstens. Die Bundesregierung hat jüngst ihre Neukonzeption des Bundesverkehrswegeplanes vorgelegt.
Der nächste BVWP gilt als entscheidende Richtschnur
für die zukünftige Infrastrukturentwicklung, und er
wird dank der aktuellen Bundesregierung das erste
Mal eine effiziente Gesamtnetzplanung darstellen. Die
neue Grundkonzeption legt eine verkehrsträgerübergreifende Netzstrategie fest, sodass den verkehrlichen
Anforderungen sehr viel besser entsprochen werden
kann.
Wichtigste Aufgabe in der Grundkonzeption ist die
Entwicklung von Kriterien zur Priorisierung der Verkehrsinfrastrukturinvestitionen, um ein realistisches
und finanzierbares Gesamtkonzept aufzustellen. Kernstück des Regierungsvorschlags ist daher die bedarfsgerechte Priorisierungsstrategie, die jetzt zuerst dem
Erhalt die nötige Priorität vor dem Neu- und Ausbau
zusichert und dann erst die verbleibenden Finanzmittel auf die drei Verkehrsträger verteilt - und dies nicht
nach ideologischen Kriterien, so wie es Oppositionspolitik ist, sondern nach dem Kriterium der Gesamtwirkung des Budgetplans. Das beinhaltet die Aufteilung des Budgets sowohl aus gesamtwirtschaftlicher
als auch aus umwelt- und naturschutzfachlicher Sicht.
Um weiterhin sicherzustellen, dass die Projekte innerhalb der einzelnen Verkehrsträger nach Umsetzungsdringlichkeit unterschieden werden, wird eine
zusätzliche Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf
Plus“ eingeführt. Darunter werden die Projekte zusammengefasst, die aus fachlicher Sicht eine hohe Bedeutung haben. Die Länderquoten sind damit ein großes Stück weit ausgehebelt! Die Grundkonzeption der
Bundesregierung ermöglicht so eine Mittelverwendung
nach Bedarf und nicht nach Proporz!
Zweitens. Auch das Thema Finanzierung ist die
Bundesregierung angegangen. Es ist unumstritten,
dass die Umstellung auf die sogenannte Nutzerfinanzierung im Sinne des Mittelzuwachses wäre, dass aber
die Einführung weiterer Fahrzeugklassen oder zusätzlicher Straßen, die mit der Maut taxiert würden, als
hochkompliziertes Unterfangen gilt. Die Ausweitung
der Maut ist sowohl technisch risikobehaftet als auch
ein ernsthaftes Akzeptanzproblem in der autofahrenden
Bevölkerung. Rot-Grün stand in seinen vergangenen
Amtszeiten bekanntlich vor denselben Herausforderungen und hat in sieben Jahren Regierungsverantwortung
das Problem nicht gelöst. Wir sind in dieser Legislaturperiode hingegen schon einige wichtige Schritte gegangen.
Am 15. April 2011 hat der Deutsche Bundestag den
Gesetzentwurf zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen angenommen. Die Einführung der Bundesstraßenmaut wurde zum 1. August
2012 umgesetzt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sie artikulieren an dieser Stelle gerne den Vorwurf:
Die Einführung eines Finanzierungskreislaufes Straße
durch die Bundesregierung, der die Einnahmen aus
der Lkw-Maut lediglich für Investitionen in die Straße
vorsieht, schwächt das Gesamtverkehrsnetz und macht
die Schiene damit komplett von den Steuereinahmen
der öffentlichen Hand abhängig. Wir sagen: Die
Schiene hat gezeigt, dass es positiv sein kann, wenn
Mautmittel, also Trassenentgelte ({0}), für
Investitionen zur Verfügung stehen, weil sie von den
Begehrlichkeiten der jährlichen Haushaltsplanung
entkoppelt werden und ein verlässlicher Finanzierungskreislauf entsteht.
Die Straße ist erheblich konjunkturanfälliger als die
Schiene - eine verlässlichere Finanzierungsgrundlage
für die Unterhaltung und den Ausbau der Bundesfernstraßen ist entsprechend dringlich. Den Finanzierungskreislauf Straße hat man uns zu verdanken.
In dem Kontext sei noch bemerkt: Wir ergänzen die
fehlenden Mautmittel bei Schiene und Wasserstraße
durch zusätzliche Haushaltsmittel.
Der wirksamste und auch gerechtfertigte Weg, um
die Mittel für die Schiene zu erhöhen, ist die Kappung
der Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge.
Die FDP hält, wie auch die Europäische Kommission,
an einer stärkeren Unabhängigkeit der DB Netz AG
von der Konzernmutter fest. Der integrierte Konzern
kann zwar bestehen bleiben, aber nicht in der heutigen
Form. Innerhalb der Bundesregierung gibt es keine gegenteilige Festlegung. Aus Sicht der FDP ist eine stärkere Unabhängigkeit des Netzes notwendig, um mehr
Wettbewerb auf die Schiene zu bringen und um einen
unangemessenen Finanzmittelabfluss aus dem Netz zu
verhindern.
Drittens. Wir haben auch im ökologischen Kontext
eine erhebliche Entscheidung gefällt. Die Grünen argumentieren doch gerne, dass die Verlagerung transportierter Güter von der Straße auf die Schiene eines
der wichtigsten verkehrspolitischen Ziele sei, weil das
einen wichtigen Effekt im Sinne des Klimaschutzes bedeute. Um dieses Ziel zu erreichen - so ihre Argumentation weiter - müsste der Schutz von Bahnlärm verbessert und der Schienenbonus abgeschafft werden.
Und wie so oft bei den Anträgen der Opposition in
der Vergangenheit ist die Regierungskoalition auch
hier in ihren Überlegungen und Maßnahmen schon
viel weiter. Wir, die Koalitionsfraktionen von Union
und FDP, haben in unserem Antrag zum Ausbau der
Rheintalbahn die Abschaffung des Schienenbonus und
die Einführung lärmabhängiger Trassenpreise im November 2011 verankert und beschlossen. Es ist der
Bundesrat, der die Wirksamkeit des Beschlusses bislang hemmt.
Mein Fazit auf Ihre Anträge ist also: Einer differenzierten Betrachtungsweise halten Ihre Kritik und Forderungen nicht stand. Die Regierung hat bis hierhin
gute Arbeit geleistet.
Die Verkehrsinvestitionspolitik muss vom Kopf auf
die Füße gestellt werden. Es ist Unsinn, dem schädlichen Verkehrswachstum hinterherzubauen. Ausgangspunkt einer grundlegend neuen Ausrichtung müssen
klare Zielvorgaben sein, denen der Einsatz der öffentlichen Mittel dienen muss: Klima- und Umweltschutz,
Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und gute Arbeitsplätze.
Die drei Oppositionsanträge zur Neuausrichtung
der Verkehrsinvestitionspolitik stammen aus dem Juni
2010. Wir werden unsere Positionen und Vorschläge
sicher in der nächsten Wahlperiode wieder einbringen.
Die Chance, einen Richtungswechsel einzuleiten
- weg vom Straßen- und Flugverkehr, weg von Verkehrswachstum, hin zur Schiene und Verkehrsvermeidung -, hat diese Bundesregierung gänzlich vertan.
Dass in der Verkehrsinvestitionspolitik einiges im
Argen liegt, darüber sind sich alle einig. Bei der
Schiene braucht es für die Realisierung des Bedarfsplans noch fast 40 Milliarden Euro. Der Horizont liegt
hier also etwa beim Jahr 2050. Das macht keinen Sinn,
das weiß eigentlich auch jede und jeder, nur sträubt
sich die Regierung vor dem Offenbarungseid.
Bei der Straße sieht es nicht besser aus. Eine Antwort auf eine Nachfrage zum Haushalt 2010 ergab,
dass derzeit planfestgestellte Projekte mit einem Volumen von knapp 3,5 Milliarden Euro nicht gebaut werden können. 2012 können keine neuen Projekte in den
Straßenbauplan aufgenommen werden.
Während aber die Koalition und leider auch die
SPD Defizite vor allem darin sehen, dass es zu wenig
Mittel für den „bedarfsgerechten Ausbau“ der Verkehrsinfrastruktur gibt, ziehen wir grundsätzlich andere Schlussfolgerungen aus der derzeit offenkundigen
misslichen Lage: Die Lösung besteht nicht darin, mehr
Geld ins System zu pumpen. Nein, es geht auch hier
ums UmFAIRteilen - nach sozial-ökologischen Kriterien.
Weil die Teilhabe aller Menschen an Mobilität mit
den Erfordernissen von Klima- und Umweltschutz verbunden werden muss, ist eine weitgehende Abkehr vom
Neu- und Ausbau von Straßen hin zum deutlichen Ausbau des öffentlichen Verkehrsangebotes und der Verbesserung der Bedingungen des nichtmotorisierten
Verkehrs nötig.
Der am meisten klimaschädliche Flugverkehr weist
seit Jahren die größten Zuwachsraten auf. Eine
Vulkanaschewolke hat sichtbar gemacht, dass mehr
als die Hälfte aller Flüge innereuropäisch sind; ein
Viertel ist innerdeutscher Luftverkehr. Statt des unkoordinierten und hochsubventionierten Ausbaus von
({0})Flughäfen braucht es ein zukunftsweisendes europäisches Konzept „SchieneEuropa2025“, das
die Verlagerung eines Großteils der innereuropäischen
Flüge ermöglicht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Beim Erhalt von Fernstraßen könnte man mit einer
„Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung Straße“
langfristig jährlich rund 500 Millionen Euro sparen.
Und bei allen Verkehrsträgern müssen die Bedarfsbzw. Ausbaupläne auf den Prüfstand. Wer heutzutage
noch Autobahnen ({1})baut, handelt unverantwortlich gegenüber den künftigen Generationen. „Güterzüge auf die Autobahn“ wäre das zeitgemäße Motto.
Wir brauchen eine klare Priorität, die Anwohnerinnen
und Anwohner vor Lärm schützt, zum Beispiel durch
siedlungsferne Trassen, und den Lkw-Verkehr ersetzt.
Bei der Schiene haben wir seit Jahren nur noch eine
Verwaltung des Mangels, gepaart mit völlig falschen
Investitionsprioritäten: Der Bedarfsplan wimmelt von
milliardenschweren Neubaustrecken, die praktisch nur
dem ICE-Verkehr dienen. Es ist doch Wahnsinn, dass
für maximal 50 ICE am Tag eine Neubaustrecke zwischen Frankfurt und Köln gebaut wurde, während
Hunderte Güterzüge weiterhin durchs Rheintal schleichen und dort Hunderttausenden Menschen das Leben
unerträglich machen, vom Milliardengrab Stuttgart 21
mit angeschlossener Neubaustrecke ganz zu schweigen.
Unter dem Motto „klug kleckern statt klotzen“ stehen wir - mit Bürgerinitiativen und Bewegungen auch
in anderen Ländern Europas - gegen „grande opere
inutili“ - große unnütze Projekte -, bei denen Milliarden verbaut werden, wenige profitieren und die Versorgung in der Fläche auf der Strecke bleibt.
Die Anträge der Fraktionen von SPD, Linken und
Bündnis 90/Die Grünen, die in diesem Tagesordnungspunkt behandelt werden sollen, sind sehr verschieden
ausgerichtet. Sie widmen sich unterschiedlichen Aspekten der Investitionspolitik des Bundes und benennen ganz unterschiedliche Ziele. Eines haben sie allerdings gemeinsam: Sie setzen bei der katastrophalen
Investitionspolitik im Verkehrssektor an. Zu Recht;
denn dieses „Gewurschtel“ im Hause Ramsauer ist
unerträglich.
Die prekäre finanzielle Situation wird besonders vor
dem Hintergrund eines immer enger werdenden Verkehrsbudgets deutlich. Und während die Bundesregierung die Investitionsmittel sinken lässt, steigen die Bedarfe für den Erhalt der vorhandenen Infrastruktur
stetig. Die Straßen bröckeln weiter, Brücken verlieren
ihre Tragfähigkeit, die Anzahl der Langsamfahrstellen
der Bahn nimmt zu.
Dennoch lässt die Verkehrspolitik der Bundesregierung auch in dieser kritischen Situation keine Struktur
erkennen. Ihr fehlen Ziele, Prioritäten und Umsetzungsstrategien. Entgegen ihren Ankündigungen haben
weiterhin Neubaumaßnahmen Vorrang vor Erhaltungsinvestitionen. Beredte Beispiele sind die sogenannten
Infrastrukturbeschleunigungsprogramme: Spatenstiche
werden finanziert, die Umsetzung der Neubaumaßnahmen jedoch ist finanziell überhaupt nicht abgedeckt.
Dazu kommt, dass die zu wenigen Erhaltungsmittel des
Bundes für die Fernstraßen teilweise durch die Bundesländer für Neubaumaßnahmen genutzt werden. Die
Bundesregierung duldet dies sehenden Auges. Priorität haben politisches Potenzial und Öffentlichkeitswirksamkeit von Herrn Ramsauers Investitionsentscheidungen, nicht etwa volkswirtschaftlicher Nutzen
oder Zukunftsfähigkeit.
Besonders deutlich wird dies beim Blick auf das
Schienennetz. Auf der Schiene stehen nach wie vor
Prestigeprojekte für die Bundesregierung im Vordergrund, egal was sie kosten und wie sinnvoll sie sind.
Stuttgart 21 ist dafür nur ein Beispiel. Internationale
Verpflichtungen wie die zum Ausbau der Rheinschiene
oder effektive Ausbaumaßnahmen an Knoten müssen
nach Herrn Ramsauers Politikverständnis zurücktreten.
Gerade für die Eisenbahn sehe ich ein hohes Entwicklungspotenzial. Außerdem halte ich den Ausbau
dieses Verkehrsträgers aus Sicht des Umwelt- und
Klimaschutzes für dringend geboten. Schließlich ist
sie sehr viel energieeffizienter als der Pkw. Auf der
Schiene hat sich die Elektromobilität längst bewährt.
Die Bahn ist sicherer als das Auto. Nur muss sie insgesamt attraktiver werden und stärker zum Umsteigen
einladen.
Eine Reihe von Maßnahmen sind dafür dringend erforderlich. Wir wollen einen fairen Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern. Das heißt für uns insbesondere die Ausweitung der Lkw-Maut. An den
Einnahmen ist die Schiene auch künftig zu beteiligen.
Externe Kosten sind bei allen Verkehrsträgern zu internalisieren; auch das stärkt die Bahn. Die Investitionen
in das Schienennetz sind aufzustocken. Dabei sollten
auch die nichtbundeseigenen Netze mit Bundesmitteln
gefördert werden. Wir benötigen einen DeutschlandTakt im Schienenpersonenverkehr. Der Schwerpunkt
der Investitionen muss zunächst auf der Beseitigung
von Flaschenhälsen liegen, nicht auf der Errichtung
unnötiger Prestigeprojekte. Wir wollen einen angemessenen Lärmschutz erreichen; denn der schafft Akzeptanz für diesen Verkehrsträger. Der Schienenbonus
gehört endlich abgeschafft. Wir fordern, dass die internationalen Korridore rasch mit dem Zugleit- und -sicherungssystem ERTMS/ETCS ausgestattet werden. Analog zur Straße gehören regionale Schienennetze in die
Hand der Bundesländer. Wir brauchen eine bessere
Kontrolle der Deutschen Bahn AG. Derzeit gleicht sie
einer Black Box. Dafür ist die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung entsprechend zu korrigieren.
Außerdem sollte die Bundesnetzagentur mit besseren
Kontrollrechten ausgestattet werden. Und nicht zuletzt
gehören die unsäglichen Quersubventionierungen abgeschafft. Gewinne der Infrastrukturen müssen ins
Netz reinvestiert werden und dürfen in Zukunft nicht in
andere Sparten gepumpt werden.
Allein bei Betrachtung des Verkehrsträgers Schiene
wird deutlich: Es ist höchste Zeit, die Investitionspolitik neu auszurichten. Ich habe allerdings keine HoffZu Protokoll gegebene Reden
nung, dass Minister Ramsauer in den verbleibenden
Monaten bis zum Ende der Legislaturperiode hierzu
einen Erkenntniszuwachs erlangt. Herrn Ramsauers
Erbe aus der jetzigen Wahlperiode ist leider eine
schwere Bürde für die künftige Hausspitze; denn sie
muss eine Reihe von Fehlentscheidungen ausbügeln.
Umso dringender ist der Handlungsbedarf der künftigen Bundesregierung, die Investitionen im Verkehrssektor zukunftsträchtig zu tätigen. Wir brauchen zum
Ende des Jahres endlich eine ambitionierte und couragierte Verkehrspolitik.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung auf der Drucksache 17/8386.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5022 mit dem Titel
„Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden - Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung einrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1971 mit dem Titel „Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und
Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit
und neue Arbeitsplätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1988 mit dem Titel „Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD
und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 22:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten
im Strafverfahren
- Drucksache 17/12578 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der Europäische Rat hat in seiner Entschließung
vom 30. November 2009 einen Fahrplan zur Stärkung
der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren vorgesehen. Die in diesem
Fahrplan vorgesehenen Maßnahmen A und B sind das
Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in
Strafverfahren sowie das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren.
Das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist in der Richtlinie 2010/64/EU
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 festgehalten. Die Richtlinie 2012/13/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai
2012 regelt das Recht auf Belehrung und Unterrichtung
in Strafverfahren.
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Strafverfahren sollen die diesbezüglichen europarechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden.
Nach deutschem Recht bestehen schon jetzt weitgehende Regelungen zu den in der Richtlinie geforderten
Informations- und Teilhaberechten von beschuldigten
Personen in Strafverfahren. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Bundesrepublik Deutschland sich schon immer für die Schaffung dieser gemeinsamen Mindeststandards innerhalb der Europäischen
Union eingesetzt hat.
Es besteht mithin nur in wenigen Teilen Anpassungsbedarf. Dies sind Bereiche, in denen durch die
europäischen Vorgaben einzelne, dem geltenden Strafverfahrens- und Gerichtsverfassungsrecht bereits bekannte, Gewährleistungen noch weiter ausgebaut werden.
Hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen
und Übersetzungen in Strafverfahren konzentriert der
vorliegende Gesetzentwurf die notwendigen Anpassungen in § 187 GVG.
Bereits aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK ergibt
sich der grundlegende Anspruch einer beschuldigten
oder verurteilten Person auf unentgeltliche Übersetzungs- oder Dolmetschleistungen während des gesamten Strafverfahrens. Schon nach bisheriger Rechtslage
und Praxis wurde diesem grundlegenden Anspruch
Rechnung getragen.
Der Gesetzentwurf schlägt daher in § 187 Abs. 1
Satz 1 GVG-E lediglich eine geringfügige sprachliche
Anpassung der derzeit geltenden Regelung vor und ergänzt einen neuen § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG-E. Die
Richtlinie 2012/13/EU sieht in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d eine Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts
auf Dolmetschleistungen vor. Diese Vorgabe wird im
neuen Satz 2 normiert.
In § 187 Abs. 2 GVG-E wird der Anspruch auf
Übersetzung inhaltlich ausgestaltet. Dieser Anspruch
auf Übersetzung dient der Umsetzung von Art. 3 der
Richtlinie 2010/64/EU. In der Regel ist nach dem Ge28554
setzentwurf eine schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nichtrechtskräftigen
Urteilen erforderlich. Eine lediglich auszugsweise
Übersetzung reicht nach § 187 Abs. 2 Satz 2 GVG-E
aber dann aus, wenn schon dadurch die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person ausreichend gewahrt
werden. Ein vollständiges Absehen von der schriftlichen Übersetzung soll schließlich nach Maßgabe der
Sätze 4 und 5 möglich sein. Hiernach kann dem Beschuldigten anstelle der schriftlichen Übersetzung lediglich eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Unterlagen
zur Verfügung gestellt werden, soweit das Recht auf
ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e
EMRK gewährleistet ist. Als Regelbeispiel für die fehlende Notwendigkeit einer schriftlichen Übersetzung
nennt § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG-E den Fall des verteidigten Angeklagten.
Gemäß § 187 Abs. 3 GVG-E kann die beschuldigte
Person auf die Übersetzung verzichten, wenn sie zuvor
belehrt wurde. Belehrung und Verzicht sind zu dokumentieren. Mit dieser Regelung wird Art. 3 Abs. 8 der
Richtlinie 2010/64/EU umgesetzt.
§ 187 Abs. 4 GVG-E entspricht dem bisher geltenden § 187 Abs. 2 GVG.
Auch § 189 GVG wird geringfügig geändert. Es
wird ein neuer Abs. 4 eingefügt. Dieser dient der Umsetzung des Art. 5 der Richtlinie 2010/64/EU. Im
neuen Abs. 4 wird festgelegt, dass der Dolmetscher
oder Übersetzer „über Umstände, die ihm bei seiner
Tätigkeit zur Kenntnis gelangen, Verschwiegenheit
wahren“ muss. Diese Ergänzung ist notwendig, da die
Verpflichtung aller herangezogenen Dolmetscher zur
Verschwiegenheit nach aktueller Rechtslage nicht einheitlich normiert ist.
Hinsichtlich des Rechts auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren wurden nur punktuell Erweiterungen der Vorschriften der StPO vorgenommen.
So findet sich in § 37 Abs. 3 StPO-E nun die Regelung, dass in den Fällen des § 187 Abs. 1 und 2 GVG-E
„das Urteil zusammen mit der Übersetzung“ zuzustellen ist.
§ 114 b Abs. 2 Satz 2 StPO-E legt fest: „Ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert
ist, ist in einer verständlichen Sprache darauf hinzuweisen, dass er nach Maßgabe des § 187 Absatz 1 bis 3
des Gerichtsverfassungsgesetzes für das gesamte
Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines
Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann.“
Durch diese Regelung wird die in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen umgesetzt.
§ 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E schließlich ergänzt die
bisherige Rechtslage um den Zusatz „und unter den
Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers beanspruchen“. Art. 3 Abs. 1
Buchstabe b der Richtlinie 2012/13/EU schreibt eine
Belehrung des Beschuldigten über einen möglichen
Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung vor. Ein
solcher Hinweis erfolgte nach geltender Rechtslage
grundsätzlich nicht. Daher ist eine entsprechende Ergänzung notwendig.
Am 1. Februar 2013 nahm der Bundesrat zu dem
Gesetzentwurf Stellung. In seiner Stellungnahme kritisiert er die drei folgenden Punkte:
Zunächst wirft der Bundesrat die Frage auf, ob die
Regelung in § 189 Abs. 4 GVG-E nicht klarer gefasst
werden müsste und ob sie in § 189 GVG richtig verortet ist.
Weiter meint der Bundesrat in seiner Stellungnahme, dass die in § 114 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 a StPO-E
vorgesehene Belehrung über einen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung eines Verteidigers in den
Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO im Widerspruch
zur Vorschrift des § 141 Abs. 1 und 3 StPO steht. Danach erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers
während des Vorverfahrens bis zum Abschluss der
Ermittlungen ({0}) grundsätzlich nur auf
Antrag der Staatsanwaltschaft. Ein Antrag des Beschuldigten ist nach herrschender Meinung in diesem
Verfahrensstadium lediglich als Anregung an die
Staatsanwaltschaft zu behandeln. Diese Einschränkung sollte auch in der Belehrung und damit im Gesetzestext zum Ausdruck kommen, um entsprechenden
Fehlvorstellungen beim Beschuldigten vorzubeugen.
Eine Klarstellung nur in der Begründung des Gesetzentwurfs reicht hierfür nicht aus.
Schließlich führt der Bundesrat aus, dass die in
§ 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E vorgesehene Belehrung
über einen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung
eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2
StPO im Widerspruch zur Vorschrift des § 141 Abs. 1
und 3 StPO steht. Danach erfolgt die Bestellung eines
Pflichtverteidigers während des Vorverfahrens bis zum
Abschluss der Ermittlungen ({1}) grundsätzlich nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Ein Antrag
des Beschuldigten ist nach herrschender Meinung in
diesem Verfahrensstadium lediglich als Anregung an
die Staatsanwaltschaft zu behandeln. Diese Einschränkung sollte auch in der Belehrung und damit im
Gesetzestext zum Ausdruck kommen, um entsprechenden Fehlvorstellungen beim Beschuldigten vorzubeugen. Eine Klarstellung nur in der Begründung des Gesetzentwurfs reicht hierfür nicht aus.
Zu der vom Bundesrat unter Punkt eins angebrachten Kritik führt die Bundesregierung zutreffend aus,
dass im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens
noch zu prüfen ist, ob der gewünschte Regelungsinhalt
des § 189 Abs. 4 GVG-E über die Verpflichtung der
Dolmetscher und Übersetzer zur Verschwiegenheit im
Wortlaut noch klarer zum Ausdruck gebracht werden
kann. Auch bei einer etwaigen Änderung der Norm
Zu Protokoll gegebene Reden
werden indes der Ausnahmecharakter der bundesgesetzlichen Vorschrift, der die Dolmetschergesetze der
Länder unberührt lässt, sowie die generelle Hinweispflicht des Gerichts als Kernelemente der Regelung
beizubehalten sein. Hinsichtlich des Standorts der Regelung besteht allerdings kein weiterer Prüfbedarf.
Den anderen beiden in der Stellungnahme des Bundesrates angesprochenen Punkten ist nach meiner
Meinung auch im parlamentarischen Verfahren zuzustimmen. Änderungsbedarf besteht insoweit allerdings
nicht, da die Gesetzesbegründung hierzu alles Notwendige ausführt.
Wir werden in dem nun anstehenden parlamentarischen Verfahren alle noch offenen Punkte zu klären
wissen. Damit wird der vorliegende Gesetzentwurf ein
weiterer Erfolg der christlich-liberalen Koalition werden. Nach dem gerade verabschiedeten Gesetz zur Intensivierung der Videokonferenztechnik in staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Verfahren wird es
uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingen,
weitere maßgebliche Verbesserungen in Strafverfahren
zu implementieren.
Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung, der die Umsetzung zweier EURichtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zum
Gegenstand hat. Dabei handelt es sich zum einen um
die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen
und Übersetzungen im Strafverfahren und zum anderen um die Richtlinie über das Recht auf Belehrung
und Unterrichtung in Strafverfahren.
Diese Richtlinien aus den Jahren 2010 und 2012
dienen dem langfristigen Ziel, Verfahrensrechte von
Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zu
stärken. Hierzu hatte die EU bereits 2009 einen umfassenden Fahrplan aufgestellt.
Der Gesetzentwurf, der lediglich die Richtlinien
umsetzt, sieht überwiegend nur punktuelle inhaltliche
oder nur sprachliche Änderungen vor, da die angestrebten Mindeststandards von Verfahrensrechten in
Deutschland bereits fester Bestandteil des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung
sind.
Es gibt einige wichtige Neuerungen. Zu nennen sind
die neuen Belehrungs- und Dokumentationspflichten.
Insbesondere die Belehrungspflichten greifen jetzt früher und sind weiter gefasst. Beschuldigte müssen in
Zukunft bereits bei der Festnahme über mögliche
Rechtsbehelfe und die Möglichkeit zur Einsichtnahme
in Aktenabschriften bei fehlender Verteidigung unterrichtet werden. Das sind zweckmäßige und wichtige
Regelungen.
Insgesamt werden in diesem Gesetzentwurf die EURichtlinien in nationales Recht umgesetzt. Die Regelungen sind meiner Ansicht nach auch richtig und notwendig.
Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung europäischen Rechts. Dabei geht es zum einen um
das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen
im Strafverfahren und zum anderen um das Recht auf
Belehrungen und Unterrichtungen in Strafverfahren.
Die Erweiterung der Rechte des Beschuldigten im
Hinblick auf Belehrungspflichten sowie Dolmetschund Übersetzungsleistungen sind positiv zu bewerten.
Sie tragen dazu bei, dass die Waffengleichheit im Verfahren hergestellt wird. Die durch die vorliegenden
Richtlinien auf europäischer Ebene nun endlich in Angriff genommene europaweite Herstellung von einheitlichen Mindeststandards bei Verfahrensrechten von
Beschuldigten erfolgt zwar sehr spät, nämlich nach
bereits umgesetzten Rechtsakten zur Anerkennung von
- nach hiesigen Maßstäben nicht rechtsstaatlich zustande gekommenen - ausländischen Haftbefehlen und
anderen Verfolgungsmaßnahmen. Dennoch sind die
damit verbundenen Verbesserungen für die Beschuldigten zu begrüßen.
Insbesondere die Verschwiegenheitspflicht für Dolmetscher erscheint uns angemessen und sinnvoll. Dolmetscher agieren in den in Rede stehenden Fällen
quasi als Scharnier. Diese Scharnierfunktion macht es
aus unserer Sicht notwendig, sie der Verschwiegenheitspflicht zu unterwerfen. Dies insbesondere deshalb, weil auch für die Beschuldigten Vertrauen in
Dolmetscher eine Voraussetzung ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
Auch die Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie
im Bereich der förmlichen Belehrungen und der Frage
der Akteneinsicht finden wir begrüßenswert. Hier zeigt
die Bundesregierung, dass ein Interesse an Waffengleichheit im Verfahren hergestellt wird.
Den positiven Umsetzungsakten stehen allerdings
Regelungen gegenüber, die Wirkung zulasten der Beschuldigten entfalten. Es ist aus unserer Sicht nicht hinzunehmen, dass die Neureglung in § 187 Abs. 2 GVG
davon ausgeht, dass eine mündliche Übersetzung oder
mündliche Zusammenfassung wesentlicher Unterlagen
im Regelfall ausreicht, sofern der Beschuldigte einen
Verteidiger hat. Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU
besagt eindeutig: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher,
dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die
Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb
einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um
zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“ Zu den „wesentlichen Unterlagen“ zählen nach der Richtlinie aber eben „jegliche
Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme,
jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil“. Der
Wortlaut „jegliches Urteil“ heißt dann aber eben auch
rechtskräftige Urteile. Aus unserer Sicht kann sich die
Bundesregierung bei der Neuregelung des § 187 Abs. 2
GVG gerade nicht auf die Ausnahme der Richtlinie berufen. Diese erlaubt eine mündliche Übersetzung oder
Zu Protokoll gegebene Reden
mündliche Zusammenfassung gerade nur, wenn dies
„einem fairen Verfahren nicht entgegensteht“. Die
pauschale Annahme der Bundesregierung, sofern ein
Verteidiger zur Verfügung stehe, reiche eine mündliche
Zusammenfassung oder Übersetzung aus, ist aus unserer Sicht nicht von der Ausnahmeregelung gedeckt.
Sachgerechter wäre aus Sicht der Linken gewesen, die
Formulierung der Ausnahme in die Neuregelung des
§ 187 Abs. 2 GVG zu übernehmen um somit im Einzelfall eine Abwägung treffen zu können, ob eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung
ausreichend ist. Die Tatsache, dass die juristische
Sprache an sich schon für viele Menschen mit gewissen
„Übersetzungsschwierigkeiten“ verbunden ist, macht
es aus unserer Sicht notwendig, dem Beschuldigten
eine Auseinandersetzung in seiner eigenen Sprache im
Detail und nicht im Rahmen einer Zusammenfassung
oder gar mündlichen Übersetzung zu gewähren. Nur
das sichert aus unserer Sicht wirkliche Waffengleichheit. Insbesondere die Tatsache, dass bei rechtskräftigen Urteilen nicht einmal eine mündliche Übersetzung
oder Zusammenfassung vorgesehen ist, scheint uns mit
der Richtlinie nicht vereinbar zu sein.
Wie das so ist, wenn einerseits positive Dinge und
andererseits negative Dinge in Gesetzentwürfen stehen, werden wir uns bei diesem Gesetzentwurf enthalten. Es sei denn, Sie denken über die Änderung des
§ 187 Abs. 2 GVG noch einmal nach.
Der Vertrag von Lissabon hat mit Inkrafttreten am
1. Dezember 2009 den Weg frei gemacht für eine de-
mokratisch besser legitimierte und an gemeinsamen
Grundsätzen orientierte Innen- und Justizpolitik der
Europäischen Union. Auf dem Weg zu gemeinsamen
rechtsstaatlichen Mindeststandards wurde von uns
Grünen wiederholt angemahnt, das Ungleichgewicht
zwischen Regelungen im exekutiv-repressiven Bereich
und der effektiven rechtlichen Absicherung der Verfah-
rensrechte zu beseitigen.
Der große Wurf in Form einer umfassenden Richtli-
nie zur Stärkung der Verfahrensrechte auf europäi-
scher Ebene ist jedoch gescheitert. Stattdessen hat die
Europäische Kommission im November 2009 einen
„Fahrplan zur Stärkung der Rechte von Verdächtigen
oder Beschuldigten im Strafverfahren“ vorgelegt. Von
sechs Maßnahmen dieses Fahrplans sind bisher Richt-
linien zu lediglich zwei Maßnahmen verabschiedet
worden: die Richtlinie über das Recht auf Dolmetsch-
leistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und
die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Un-
terrichtung in Strafverfahren. Die Richtlinie über das
Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das
Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme befin-
det sich noch im europäischen parlamentarischen
Verfahren. Andere Maßnahmen, wie die besonderen
Garantien für schutzbedürftige Beschuldigte, ein Grün-
buch für die Untersuchungshaft und insbesondere ge-
meinsame Mindeststandards für die Prozesskosten-
hilfe, stehen noch aus.
Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der die Vorgaben der Richtlinien bezüglich
der Dolmetscherleistungen und Übersetzungen sowie
der Belehrungen in Strafverfahren umsetzen soll. In
der Begründung des Gesetzentwurfs schätzt die Bun-
desregierung den Umsetzungsbedarf in diesen Berei-
chen der Beschuldigtenrechte in Deutschland als ge-
ring ein und erklärt, es seien lediglich punktuelle
Änderungen des deutschen Rechts notwendig. Die
Konsequenzen dieser Fehleinschätzung zeigen sich in
den grundlegenden Mängeln des Gesetzentwurfs. Die
Bundesregierung setzt die Richtlinienvorgaben voll-
kommen unvollständig und nach dem Motto: „So viel
wie unbedingt nötig, so wenig wie irgendwie möglich“
um.
Dabei verkennt die Bundesregierung nicht nur, dass
auf dem Gebiet der Schaffung einer europäischen
Rechtsstaatlichkeit mehr getan werden muss als das
unbedingt Notwendige, sondern sie ignoriert auch,
dass der Gesetzentwurf wesentliche Vorgaben beider
Richtlinien für Mindeststandards der Verfahrensrechte
unterschreitet.
So werden beispielsweise Richtlinienvorgaben be-
züglich des Rechts auf Belehrung im Zusammenhang
mit dem Verfahren des europäischen Haftbefehls über-
haupt nicht umgesetzt. Die Rechte Beschuldigter im
Auslieferungsverfahren, welches auf der Festnahme
aufgrund eines europäischen Haftbefehls erfolgt
- diese sieht die Richtlinie ausdrücklich vor -, kom-
men im Gesetzentwurf der Bundesregierung ebenso
wenig vor wie die gesetzliche Regelung, dass der Be-
troffene eine schriftliche Übersetzung des gegen ihn
erstellten europäischen Haftbefehls erhält.
Auch bei der Ausgestaltung des Regel-Ausnahme-
Verhältnisses im Rahmen der schriftlichen Überset-
zung von wesentlichen Unterlagen geht der Umset-
zungsentwurf der Bundesregierung am Geist der
Richtlinie vorbei. Andererseits ist bisher das Verfahren
der Beantragung und Beschlussfassung der Dolmet-
scherbestellung samt Rechtsmitteln in Deutschland
überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Die Umsetzung
gibt den Anlass, hier nachzuarbeiten. Aber der Ent-
wurf enthält dazu nichts. All diese offenen Punkte und
ihre Umsetzung müssen dringend in einer Sachver-
ständigenanhörung geklärt werden.
Alles in allem hat der Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung seinen Titel nicht verdient. Von einer Stärkung
der Verfahrensrechte kann hier bisher wohl kaum die
Rede sein. Vielmehr ist der Entwurf offensichtlich le-
diglich aus der Kostenvermeidungsperspektive heraus
geschrieben worden. Solche Discount-Verfahrens-
rechte dürfen sich Deutschland und Europa nicht er-
lauben. Wir Grüne wollen keine europäische Justiz-
politik auf dem kleinsten Nenner, sondern in
Deutschland und Europa hohe Standards, Rechts-
schutz und Rechtsstaatlichkeit. Der Gesetzentwurf der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesregierung muss im parlamentarischen Verfah-
ren dringend rechtsstaatlich angereichert werden. In
dieser Form kann er von uns nur abgelehnt werden.
Wir beraten heute mit dem Gesetz zur Stärkung der
Beschuldigtenrechte im Strafverfahren die nationale
Umsetzung der ersten beiden EU-Richtlinien zur
Schaffung europäischer Mindeststandards für Be-
schuldigte. Deutschland hat sich bei der Erarbeitung
der sogenannten Roadmap „Beschuldigtenrechte“
stets vehement für solche Regelungen eingesetzt. Des-
halb ist es wichtig, dass wir jetzt die wenigen in unse-
rem Recht erforderlichen Anpassungen zeitgerecht,
also noch in dieser Legislaturperiode, vornehmen.
Dabei haben wir sowohl im Bereich der Überset-
zungs- und Dolmetschleistungen als auch bei den In-
formations- und Belehrungsrechten des Beschuldigten
insgesamt nur geringen Umsetzungsbedarf. Denn die
deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichte haben
bereits bisher die Vorgaben an Übersetzungen und Be-
lehrungen, die namentlich der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte aufgestellt hat, respektiert und
beachtet.
Das deutsche Strafverfahrensrecht ist von dem
Grundsatz geprägt, dass der Beschuldigte kein bloßes
Objekt des Verfahrens sein darf. Vielmehr muss er zur
Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergeb-
nis des Strafverfahrens Einfluss nehmen können.
Das deutsche Recht nimmt daher schon heute be-
sondere Rücksicht auf Personen, die nicht über ausrei-
chende Sprachkenntnisse verfügen oder hör- bzw.
sprachbehindert sind. Soweit dies erforderlich ist,
räumt es ihnen einen Anspruch auf Hinzuziehung eines
Dolmetschers oder Übersetzers ein. Auch die Informa-
tion des Beschuldigten über seine Verteidigungsrechte
ist bereits nach geltender Rechtslage Pflicht für sämt-
liche Ermittlungsbehörden.
Deutschland verfügt also im Bereich der Mindest-
rechte des Beschuldigten im Strafverfahren bereits
über ein hohes Schutzniveau. Gesetzgeberischer
Handlungsbedarf besteht deshalb nur in wenigen Teil-
bereichen, in denen durch die europäischen Vorgaben
einzelne, dem geltenden Verfahrensrecht bereits be-
kannte Gewährleistungen noch weiter konkretisiert
werden.
Kernpunkt bei der Umsetzung der Richtlinie über
das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzun-
gen ist die Schaffung einer ausdrücklichen gesetzli-
chen Pflicht zur schriftlichen Übersetzung verfahrens-
wichtiger Dokumente, insbesondere von Strafurteilen.
Der Neuregelung liegt dabei folgender Gedanke zu-
grunde: Liegt ein für die Wahrung der Verteidigungs-
rechte wichtiges Dokument vor, ist dieses grundsätz-
lich schriftlich zu übersetzen. Das entspricht dem
Leitbild der Richtlinie.
Der Gesetzentwurf führt hierzu beispielhaft weitere
wichtige Dokumente an, etwa den Strafbefehl oder die
Anklageschrift. Hierdurch wird einerseits das in der
Praxis zu beachtende Schutzniveau konkretisiert, ohne
andererseits die Rechtspflege mit einem starren Kata-
log an einer sachgerechten Lösung des Einzelfalles zu
hindern.
Abweichungen vom Grundsatz der Übersetzungs-
pflicht sind - entsprechend den in der Richtlinie veran-
kerten Ausnahmetatbeständen - möglich, bedürfen
aber gesonderter Begründung. Dabei muss das Ge-
richt nach seinem pflichtgemäßen Ermessen entschei-
den, ob eine lediglich teilweise schriftliche Überset-
zung oder die bloß mündliche Übertragung eines
Dokuments die Verteidigungsrechte des Beschuldigten
ausreichend wahrt. Der Gesetzentwurf nennt hierfür
exemplarisch den Fall, dass der Beschuldigte durch ei-
nen Verteidiger bei der Wahrung seiner Rechte unter-
stützt wird.
Verkürzt lässt sich zusammenfassen: Die vorge-
schlagene Regelung dient einer praxisgerechten Aus-
gestaltung der neuen EU-Vorgaben zur Übersetzungs-
pflicht. Der Beschuldigte kann grundsätzlich eine
vollständige Übersetzung der für seine Verteidigung
notwendigen Dokumente verlangen. Das Gericht kann
aber im begründeten Einzelfall hiervon abweichen.
Die Praxis und nicht zuletzt auch die Haushalte der
Bundesländer sollen also nicht mit einer starren und
von der Richtlinie in diesem Umfang auch keineswegs
geforderten generellen Übersetzungspflicht belastet
werden.
Weiterhin sieht die Neuregelung die Möglichkeit ei-
nes Verzichts des Beschuldigten auf die schriftliche
Übersetzungsleistung vor, wobei sie sich auch hier eng
am Wortlaut der Richtlinie orientiert. Zudem soll die
jeweils als Dolmetscher oder Übersetzer eingesetzte
Person zur Verschwiegenheit angehalten werden, so-
weit dies nicht bereits aufgrund einer landesrechtli-
chen Regelung geschehen ist.
Bei der weiteren jetzt umzusetzenden Richtlinie, die
Belehrungs- und Unterrichtungsrechte des Beschul-
digten betrifft, sind ebenfalls nur wenige Detailrege-
lungen nötig: Der Gesetzentwurf beschränkt sich hier
auf die Ergänzung des geltenden Verfahrensrechts um
dort bislang nicht enthaltene Belehrungen und Doku-
mentationspflichten.
Ihnen liegt nach alledem ein sehr kompakter und
praxistauglicher Gesetzentwurf vor, der die Vorgaben
der beiden Richtlinien effektiv in nationales Recht um-
setzt. Ich bin überzeugt, dass der Gesetzentwurf einen
ausgewogenen Kompromiss zwischen den europäi-
schen Verpflichtungen auf der einen Seite und den An-
forderungen der Rechtspflege auf der anderen Seite
darstellt.
Das Vorhaben fügt sich zudem in das gewohnte und
bewährte Regelwerk des Strafverfahrens ein, ohne die
personellen und finanziellen Ressourcen der Bundes-
länder aus dem Blick zu verlieren. Für die Umsetzung
Zu Protokoll gegebene Reden
des ersten Teils EU-weiter Mindeststandards für Be-
schuldigte bitte ich Sie daher um Ihre Zustimmung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12578 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge werden nicht
gemacht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
({1}), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
stärken
- Drucksachen 17/11207, 17/12730 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Frank Heinrich-
Christoph Strässer-
Marina Schuster-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({2})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle
zur Verhütung von Folter
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter
- Drucksachen 17/3134, 17/3578 Nr. 1.2, 17/9377,
17/9802 Nr. 5, 17/10085 Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichChristoph SträsserMarina SchusterKatrin WernerVolker Beck ({3})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Auch wenn heute ein eher formales Thema auf der
Tagesordnung steht, nämlich die finanzielle Ausstattung einer Bundesstelle, so steht dahinter doch nicht
weniger als ein Thema von hoher Brisanz und menschenrechtlicher sowie völkerrechtlicher Relevanz:
Wir reden über Folter.
Folter zerstört Leben. Wer Menschen foltert, zielt
darauf ab, eine Persönlichkeit in ihrer Substanz zu erschüttern und zerstören. Professor Volker Faust führt
dazu aus ({0}): „Um
ihr Ziel zu erreichen, gehen die Folterer planmäßig
vor. Die psychische Zermürbung muss schrittweise erfolgen. Das ist ein genau kalkulierter Prozess, der kaltblütig und den individuellen Eigenschaften des jeweiligen Opfers entsprechend durchgeführt wird. Es hätte
wenig Sinn, sofort mit den härtesten Maßnahmen zu
beginnen. Dem Opfer muss man genügend Zeit lassen,
damit es die Qualen und Erniedrigungen ausgiebig erlebt, sich mit ihnen identifiziert und stückweise den
Willen zum Widerstand verliert: ‚Zuerst dachte ich, sie
würden mich totschlagen, darauf war ich gefasst. Und
hätten sie es doch nur getan. Aber das schlimmste waren die Pausen‘ ({1}). Der Gefolterte muss völlig
hilflos jeden inneren Halt und jedes Selbstbewusstsein
verlieren, er muss weinen und um Gnade betteln, er
muss in panischer, unkontrollierter Angst Urin und
Stuhl lassen, er muss wünschen, endlich getötet zu
werden, anstatt so dahinzuvegetieren. Grausamer als
der Schmerz ist oft auch das Alleinsein nach der Folter. Dabei wird man fast verrückt. Man fühlt sich wie
ein Tier, abhängig von der Gnade seines sadistischen
Herrn. So findet sich das Opfer selbst nach seiner Entlassung als körperlich noch irgendwie lebendig wieder - jedoch seelisch zerstört. Das ist der Sinn der modernen Folter.“
Die Folgen von Folter können neben den augenfälligen oder versteckten körperlichen Schädigungen
auch vielfältige traumatische Störungen sein: phobische Ängste, Lähmungen, Beziehungsstörungen, Schlafund Konzentrationsstörungen und vieles mehr. Wer
Menschen foltert, zerstört ihr Leben.
Neben den Auswirkungen auf den einzelnen Menschen hat Folter auch gravierende zivilisatorische
Konsequenzen. Folter ist ein Kernmerkmal jeder Diktatur. Eine Gesellschaft, die systematisch Folter anwendet, schüchtert die Menschen ein, verunsichert sie
in ihrem Sicherheits- und Rechtsbewusstsein. Eine folternde Regierung hintergeht die Rechtsstaatlichkeit
auf perfide und grausame Weise, sei es, dass diese Folter aktiv von staatlicher Gewalt angewendet wird, oder
aber dass durch einen Staat Folter billigend in Kauf
genommen wird. Wer Folterer nicht strafrechtlich verfolgt, macht sich zum Mittäter.
Auch die Glaubwürdigkeit eines Rechtssystems wird
durch unter Folter erzielte Aussagen unterminiert. Wer
Menschen unter seelischen oder körperlichen Druck
setzt, um Informationen zu bekommen, kann sich ihres
Wahrheitsgehaltes nie wirklich sicher sein. Folter zerstört Wahrheit und damit Rechtssicherheit.
Daher verabschiedeten die Vereinten Nationen am
10. Dezember 1984 vor dem Hintergrund der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische
Rechte eine völkerrechtlich verbindliche Anti-FolterKonvention. Nach dieser Konvention bezeichnet Folter
„jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich
große körperliche oder seelische Schmerzen oder LeiFrank Heinrich
den zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich
von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen
oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder
zu nötigen …“.
Auch die Europäische Konvention zum Schutze der
Menschenrechte enthält in Art. 3 ein niedergeschriebenes Folterverbot. Nach Art. 2, Abs. 1 der VN-Anti-Folter-Konvention gibt es darüber hinaus eine Aufforderung zur Prävention von Folter: „Jeder Vertragsstaat
trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige,
gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern.“
Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage wurde die
Bundesstelle zur Verhütung von Folter im November
2008 eingerichtet und damit den Verpflichtungen
Deutschlands nachgekommen. Dies stellt der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auch fest.
Allerdings nehmen die Verfasser und die Nationale
Stelle zur Verhütung von Folter eine zu geringe personelle und auch multidisziplinär unausgewogene sowie
eine mangelnde finanzielle Ausstattung der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter wahr. Und je nach
Maßstab für die Notwendigkeiten der Auftragserfüllung ist dies auch nachvollziehbar. Sie fordern daher
eine Änderung der Verwaltungsvereinbarung des Bundes und der Länder über die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, um die Mittel für diese erhöhen zu
können.
Die Stelle wird zu einem Drittel vom Bund und zu
zwei Dritteln von den Ländern finanziert. Insgesamt
stehen durch die gemeinsame Finanzierung von Bund
und Ländern dieser nationalen Einrichtung zur Verhütung von Folter 300 000 Euro im Jahr 2013, wie auch
schon 2012, zur Verfügung.
Der Antrag schließt sich an den Änderungsantrag
zum Bundeshaushalt aus dem Monat September 2012
an. Darin wurde eine Erhöhung des Ansatzes für
die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von
100 000 Euro - Einzelplan 07, Titel 63205 - auf
300 000 Euro gefordert - eine legitime Forderung der
Opposition, deren Angemessenheit hier allerdings zur
Debatte steht.
Was wir dabei nicht diskutieren - und ich bitte, dies
fein säuberlich zu trennen -, ist die fachliche Qualität
und die Kompetenz der Mitarbeiter der Präventionsstelle, über deren Arbeit uns die Berichte vorliegen
und über die ich mir bei Begegnungen im Bundestag
und beim Besuch einer Justizvollzugsanstalt auch ein
eigenes Bild machen konnte. Hier wird hervorragende
Arbeit geleistet!
Doch nun zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Die Bundesstelle hat durch die große Zahl der zu besuchenden Gewahrsamseinrichtungen einen umfangreichen Aufgabenbereich. Diese sind jedoch nicht innerhalb einer bestimmten Frist zu inspizieren. Die
Inspektion kann und soll spontan und stichprobenartig
erfolgen. Die Erkenntnisse der Untersuchungen lassen
sich zusammenfassend positiv beschreiben: Die menschenrechtliche Situation in den deutschen Gewahrsamseinrichtungen gibt keinen Anlass zur großen
Sorge. Die baulichen, fachlichen und personellen
Standards in Deutschland sind, vor allem im Vergleich
zu anderen Staaten der Welt, sehr hoch. Die menschenrechtliche Situation Inhaftierter ist mindestens gut.
Und sollte tatsächlich ein Verstoß gegen die AntiFolter-Konvention vorliegen, bietet Deutschland alle
rechtsstaatlichen Mittel, sich dagegen zur Wehr zu setzen, wie der Teilerfolg des Kindermörders Magnus
Gäfgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGM, im vergangenen Jahr zeigte. Schon
für die Androhung von Folter durch Polizisten wurde
die Bundesrepublik verurteilt. Gerade dieser Einzelfall
zeigt die Seltenheit entsprechender Vorkommnisse.
Daher gilt: Prävention ist wichtig, eine Ausweitung
der Arbeit der Bundesstelle ist angesichts der Faktenlage zur Folter, der menschenrechtlichen Gesamtsituation sowie der verfügbaren Rechtsmittel in Deutschland aber nicht notwendig. Insofern besteht auch für
eine Erhöhung des Betrags im Haushalt kein aktueller
Anlass. Wir halten die momentane Praxis der Stichproben und Reaktionen auf Hinweise für ausreichend, um
die Pflichten der VN-Anti-Folter-Konvention zu erfüllen.
Das geht insbesondere aus den vorliegenden Jahresberichten der Bundesstelle hervor. Im Jahresbericht
2009/2010 wurden auf der Grundlage von Besuchen
bei der Bundespolizei und der Bundeswehr sowie in
Zusammenarbeit mit der Länderkommission zur Verhütung von Folter Empfehlungen abgegeben. Diese
Empfehlungen zeigen, auf welch hohem Niveau der
Gewahrsam und der Strafvollzug in Deutschland
durchgeführt werden. Tatsächliche Folter konnte nicht
erkannt werden, stattdessen wurden Empfehlungen wie
die nachfolgende gegeben: Bei künftigen Neubauten
solle unbedingt auf einen Tageslichtzugang in den Gewahrsamszellen geachtet werden. Auch bei kurzfristigen Aufenthalten werde dies als dringend notwendig
erachtet. Weiter heißt es, die Hausordnung solle durch
das Bundespolizeipräsidium in die gängigen Sprachen
übersetzt und allen Dienststellen zur Verfügung gestellt werden.
Beide Empfehlungen sind richtig und wichtig, verdeutlichen aber, dass bereits stichprobenartige Besuche durch die Mitarbeiter der Bundesstelle ausreichen,
um die strukturellen Standards zu überprüfen und Verbesserungen vorzuschlagen. Noch deutlicher sind die
Feststellungen im Jahresbericht 2010/2011: Nach Besuchen von Einrichtungen der Bundespolizei und der
Bundeswehr gibt die Bundesstelle Empfehlungen ab.
Dem Bericht zufolge wird die Beantwortung von Anregungen und Empfehlungen in der Regel hochrangig
wahrgenommen, jedoch nicht immer zeitgerecht. Die
Aufsichtsbehörden zeigten sich jedoch häufig gegenüber den Empfehlungen sehr aufgeschlossen. Laut
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Bericht sind keine Hinweise auf Folter oder entwürdigende Behandlung festgestellt worden.
All dies zeigt: Die Bundesstelle arbeitet gut, sie legt
Ergebnisse vor, und ihre Ergebnisse werden von den
Empfängern angemessen rezipiert und grundsätzlich
umgesetzt, auch wenn es zu zeitlichen Verzögerungen
kommt. Angesichts dieser Situation kann man nicht von
einer Unterfinanzierung der Bundesstelle zur Verhütung der Folter sprechen. Meine Fraktion lehnt den
vorliegenden Antrag ab. Nichtsdestotrotz bleibt auch
in Deutschland das Thema Folter auf der Agenda, und
das ist gut so. Wir dürfen hinter unser erreichtes Niveau nicht zurück. Daher begrüße ich ausdrücklich den
Besuch des UN-Unterausschusses für Folterprävention vom 8. bis 12. April in Deutschland. Bei diesem
Besuch wird es auch um die Frage der Ausgestaltung
und Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung
der Folter gehen.
Die Justizministerkonferenz wird sich im Anschluss
- am 24./25. April - ebenfalls mit der Ausstattung der
Nationalen Stelle beschäftigen. Sollten hier neue finanzielle Notwendigkeiten sichtbar werden, zeigt sich
auch meine Fraktion gesprächsbereit; denn eines gilt
es in aller Deutlichkeit zu sagen: Folter zerstört. Daher ist sie zu verurteilen und zu unterbinden - um der
Menschen willen und zum Schutze der Demokratie.
Ich möchte meiner Rede ein Zitat voranstellen, welches Anliegen und Inhalt des Antrages, den wir heute
debattieren, ziemlich genau auf den Punkt bringt.
Albert Schweitzer hat das Wichtigste dazu gesagt, was
man sagen kann; ich zitiere: „Das gute Beispiel ist
nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen,
es ist die einzige.“
Ich möchte, dass Sie dieses Zitat im Hinterkopf behalten, wenn wir über die Ausstattung unserer deutschen Stelle zur Verhütung von Folter reden. Welches
Beispiel geben wir in einer Welt ab, in der der Ruf und
die Reputation von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie
und Menschenwürde gerade aufgrund des Verhaltens
eben dieser Rechtsstaaten nicht nur in Konfliktregionen, sondern auch in ihren eigenen Gesellschaften auf
dem Spiel stehen, in einer Situation, in der wir Deutsche oft genug in Richtung anderer zeigen und auf die
vollständige Umsetzung internationaler Menschenrechtsnormen - zu Recht übrigens - drängen? Die Legitimität dazu haben wir aber nur dann, wenn wir auch
zu Hause unsere Aufgaben erledigen.
Die bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden angesiedelte Nationale Stelle zur Verhütung von
Folter besteht aus der 2008 eingerichteten Bundesstelle
und der 2010 geschaffenen Länderkommission. Beide
kooperieren eng miteinander. Die Bundesstelle ist für
die etwa 360 Gewahrsamseinrichtungen des Bundes
- Bundespolizei, Bundeswehr, Zoll - zuständig, die
Länderkommission für die weit über 1 000 Gewahrsamseinrichtungen der Länder - Polizei, Justiz, Psychiatrien, Heime.
Grundlage der Nationalen Stelle zur Verhütung von
Folter ist das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-FolterKonvention. Für Deutschland ist es am 3. Januar 2009
völkerrechtlich in Kraft getreten. Es verpflichtet Deutschland, einen nationalen Präventionsmechanismus für
alle Einrichtungen zu schaffen, in denen Menschen die
Freiheit entzogen ist. Dies ist geschehen - aufgrund
der föderalen Struktur institutionell und finanziell
zweigleisig mit der Bundesstelle und der Länderkommission.
Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ist
laut ihrem Bericht in Deutschland auf keine Anzeichen
von Folter gestoßen. Dies ist die gute Nachricht. Die
schlechte Nachricht ist, dass sie personell und finanziell absolut unzureichend ausgestattet ist und ihren
gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen kann. Die SPDFraktion hat die mangelhafte Ausstattung schon mehrmals scharf kritisiert und bereits letzten Herbst bei den
Haushaltsberatungen für 2012 eine Aufstockung beantragt. Und um dies noch einmal zu betonen und kein
Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht nicht
darum, zu bezweifeln, dass in deutschen Gewahrsamseinrichtungen auf allen Ebenen hohe menschenrechtliche Standards eingehalten werden. Es geht darum,
dafür Sorge zu tragen, dass das auch so bleibt - es geht
um Prävention!
Von Anbeginn an litt der nationale Präventionsmechanismus in Deutschland an unzureichender finanzieller und personeller Ausstattung. Bei einem Budget
von insgesamt 300 000 Euro ({0}) kann die Nationale
Stelle mit fünf ehrenamtlichen Mitgliedern, einer Bürokraft und drei wissenschaftlichen Mitarbeitern ihre
umfangreichen Aufgaben nicht erfüllen. Damit ist das
Zusatzprotokoll zwar möglicherweise formal umgesetzt, nicht aber materiell.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Regierungskoalition, in der Beschlussempfehlung zum
Antrag der Grünen heißt es - ich zitiere: „Der Deutsche Bundestag begrüßt die Empfehlungen der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter sowie das oft
umgehende Aufgreifen und nachfolgende Umsetzen
der Empfehlungen durch die Bundes- und Ländereinrichtungen. Die intensive Auseinandersetzung der zuständigen Bundes- und Ländereinrichtungen mit dem
Bericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter
und die Umsetzung der Empfehlungen in einer Vielzahl
von Fällen sind Beleg für die große Bedeutung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter innerhalb
Deutschlands.“ Und weiter heißt es dort: „Der Deutsche Bundestag zeigt sich erfreut, dass die Nationale
Stelle zur Verhütung von Folter nach eigener Aussage
,auf allen Handlungsebenen auf Offenheit und positive
Resonanz‘ gestoßen ist. Darüber hinaus nimmt der
Deutsche Bundestag erfreut zur Kenntnis, dass der
UN-Antifolterausschuss in seinem nach Art. 19 des
Übereinkommens vorgelegten Bericht die Schaffung
der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ausdrücklich lobt.“
Zu Protokoll gegebene Reden
Aufgrund der totalen Unterfinanzierung dieser
Stelle müssen diese Freude und dieses Lob durch die
Bundesregierung in den Ohren der Verantwortlichen,
derjenigen, die den Auftrag zu erledigen haben, wie
blanker Hohn klingen.
Schlimmeres ist in der Stellungnahme der Union
nachzulesen. Zitat: „Nach Auskunft des Leiters der
Bundesstelle zur Verhütung von Folter, Klaus LangeLehngut, könnten in drei Jahren 10 Prozent der Einrichtungen besucht werden. Möglicherweise habe dies
ja doch einen ausreichenden präventiven Effekt, schließlich verfahre man in anderen gesellschaftlichen Bereichen genauso, so zum Beispiel in der Gastronomie.
Es sei unmöglich, alle Restaurants und sonstigen gastronomischen Einrichtungen regelmäßig zu kontrollieren.“
Es ist schon ein Skandal, dass Sie hier einen Vergleich zwischen der Situation von Gastronomien und
der Verhütung von Folter herstellen. Natürlich ist es
äußerst wichtig, in Deutschland eine qualitativ hochwertige Gastrowirtschaft zu haben. Aber bei der Folter
geht es um beabsichtigte Gewaltstraftatbestände auf
Kosten von Leib und Leben der Betroffenen. Es mag
sein, dass eine schlechte Gastronomie den Gesundheitszustand ihrer Gäste gefährdet, aber dass sie es auf
die gezielte Schmerzzufügung oder gar den Tod ihrer
Gäste abgesehen hätte, ist wohl eher unwahrscheinlich. Ganz abgesehen von der desaströsen Außenwirkung, die eine fehlende Ausstattung unserer Stelle zur
Verhütung von Folter weltweit haben kann - auch das
ist in der Gastronomiewirtschaft wahrscheinlich eher
weniger der Fall. Meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Union, diesen Vergleich hätten Sie sich
wirklich sparen können. All das muss bei den Verantwortlichen einen verheerenden Eindruck hinterlassen
haben.
Nicht ohne Grund hat Professor Hansjörg Geiger
im August 2012 seinen ehrenamtlichen Vorsitz in der
Länderkommission niedergelegt. Nämlich aus Protest
gegen die chronische Unterfinanzierung der Nationalen Stelle. Zum Vergleich: Den 300 000 Euro für die
deutsche Stelle zur Verhütung von Folter stehen mehr
als 3 Millionen Euro für den nationalen Präventionsmechanismus Frankreichs gegenüber. Innerhalb von
drei Jahren konnte in Frankreich fast ein Drittel aller
Gewahrsamseinrichtungen besucht werden. Daran
sollten wir uns orientieren!
Bereits in ihrem Jahresbericht 2009/2010 beschreibt die Bundesstelle, dass sie ihre Aufgaben „nur
ansatzweise“ erfüllen konnte, da die vorhandenen personellen und finanziellen Ressourcen unzureichend
seien. Trotz dieser Kritik wurde die personelle und finanzielle Ausstattung der Nationalen Stelle nicht verbessert. Die Nationale Stelle bemängelt dies daher in
ihrem Jahresbericht 2010/2011 weiterhin.
Die Präventionsmechanismen Deutschlands zur Verhütung von Folter dürfen kein Feigenblatt sein. Deshalb haben wir uns auf Bundesebene mehrfach für eine
Erhöhung des Bundesanteils eingesetzt, beim Haushaltsentwurf 2013 auf 180 000 Euro. Unsere Änderungsanträge wurden stets von Schwarz-Gelb abgelehnt, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf den
korrespondierenden Anteil der Länder. Deshalb muss
das Problem von Bund und Ländern gemeinsam gelöst
werden.
Anfang April wird der UN-Unterausschuss für Folterprävention nach Deutschland kommen und sich mit
dem nationalen Präventionsmechanismus befassen.
Die Peinlichkeit der Fragen und noch mehr der Antworten wird hoffentlich zu einer Verbesserung der Ausstattung durch Bund und Länder führen.
Deutschland setzt sich weltweit dafür ein, dass möglichst viele Staaten das Zusatzprotokoll zur UN-AntiFolter-Konvention ratifizieren und einen nationalen
Präventionsmechanismus schaffen. Bei dessen Ausgestaltung sollte Deutschland beispielhaft vorangehen;
denn wir befürchten, dass sich menschenrechtlich problematische Vertragsstaaten an der knappen hiesigen
Ausstattung orientieren könnten. 63 Staaten haben das
Zusatzprotokoll bislang ratifiziert, unter anderem
Aserbaidschan, Mali und Mexiko. Ein schwacher nationaler Präventionsmechanismus geht zulasten jener
Menschen, für die das Zusatzprotokoll geschaffen
wurde. Die Bundesrepublik Deutschland gibt in diesem
Zusammenhang kein gutes Bild ab; denn - ich komme
auf mein Ausgangszitat zurück -: „Das gute Beispiel
ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige.“
Ende des 19. Jahrhunderts war Folter als Praxis
des europäischen Strafrechts so unüblich geworden,
dass Victor Hugo gar zu dem Schluss kam, Folter habe
„aufgehört zu existieren“. Hugos Feststellung beschreibt jedoch leider eher einen Trend als eine abgeschlossene Entwicklung. Zwar hatte die Zahl der Vorfälle von Folter in Europa im 19. Jahrhundert im
Vergleich zum Mittelalter tatsächlich stark abgenommen, gleichzeitig wurden jedoch in europäischen Kolonien weiterhin Foltermethoden angewandt. Und
auch heute ist Folter in vielen Staaten immer noch
Praxis. Laut Amnesty International werden in mehr als
150 Ländern weltweit Gefangene gefoltert oder misshandelt.
Das Verbot der Folter ist ein absolutes Menschenrecht. Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte legt fest: „Niemand darf der Folter oder
grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“
Dieses Verbot gilt ausnahmslos und unmissverständlich, es ist sogenanntes zwingendes Völkerrecht.
Folter ist mit unserem Verständnis von Demokratie,
Rechtsstaat und Menschenrechten unvereinbar.
Die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
legt eine Reihe von Maßnahmen fest, die den Schutz
vor Folter gewährleisten und durchsetzen sollen. Sehr
Zu Protokoll gegebene Reden
genau müssen zum Beispiel die Menschenrechte von
Personen, die in Gewahrsam genommen sind, in den
Blick genommen werden. Das asymmetrische Machtverhältnis macht sie besonders schutzbedürftig. Im
Rahmen des Europarates gibt es mit dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Strafe bereits seit über 20 Jahren eine unabhängige
Kontrollinstanz, die unangekündigte Inspektionen jeglicher Gewahrsamseinrichtungen in allen Mitgliedstaaten vornehmen kann. Das Zusatzprotokoll der VNAnti-Folter-Konvention greift diesen Mechanismus auf
internationaler Ebene auf und führt ein System unabhängiger Kontrollen durch internationale und nationale Institutionen ein.
Gerade in einem Rechtsstaat wie Deutschland müssen wir immer wieder sicherstellen, dass die Menschenrechte besonders Schutzbedürftiger ausreichend
Aufmerksamkeit erfahren. Mit der Einrichtung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter 2008 hat
Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Zusatzprotokoll der VN-Anti-Folter-Konvention erfüllt und
eine unabhängige Kontrollinstitution auf den Weg gebracht.
An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern der
Bundesstelle und der Länderkommission für ihren herausragenden Einsatz danken. In den vergangenen
vier Jahren haben sie zahlreiche Gewahrsamseinrichtungen in ganz Deutschland überprüft. 2010 und 2011
führte die Nationale Stelle insgesamt 42 Inspektionsbesuche von Justizvollzugsanstalten, psychiatrischen
Kliniken, Abschiebehafteinrichtungen sowie Gewahrsamseinrichtungen der Polizei, der Bundeswehr und
des Zolls durch.
Zwar vermerkten die Kontrolleure keine Vorfälle
von Folter; sie stellten jedoch in mehreren Fällen inakzeptable Missstände fest. Es ist dringend notwendig,
dass wir die Beanstandungen der Nationalen Stelle
sehr ernst nehmen. Ich begrüße es sehr, dass die Empfehlungen, die im Anschluss an die jeweiligen Inspektionen an die zuständigen Aufsichtsbehörden weitergeleitet wurden, bereits zu einer ganzen Reihe von
Verbesserungen geführt haben.
Ich weiß, dass die finanzielle und personelle Ausstattung der Nationalen Stelle immer wieder in der
Kritik steht. Nicht zuletzt die Nationale Stelle selbst hat
vermehrt auf ihre schwierigen Arbeitsbedingungen
hingewiesen. Auch die Bundesregierung ist sich der
Thematik der Ausstattung durchaus bewusst. Der
10. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik vom Oktober letzten Jahres schlägt eine
Überprüfung der Ausstattung nach dem Vorliegen erster Praxisberichte vor.
Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Bundesregierung hier nicht allein in der Verantwortung
steht. Die Ausstattung der Nationalen Stelle wird
durch eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund
und Ländern geregelt. Diese legt nicht nur ein Finanzierungsverhältnis von eins zu zwei, sondern
auch die genauen Summen fest. Zur Finanzierung werden durch den Bund 100 000 Euro und durch die Länder 200 000 Euro zur Verfügung gestellt. Um eine bessere Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung
von Folter zu gewährleisten, muss zunächst diese Verwaltungsvereinbarung geändert werden.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Grünen,
Sie stellen diesen Umstand in Ihrem Antrag richtig
fest, denken ihn aber nicht bis zur letzten Konsequenz
zu Ende. Eine einseitige Anhebung der Haushaltsmittel durch die Bundesregierung ist nicht möglich.
Bisher gab es zu einer Änderung der bestehenden Verwaltungsvereinbarung unter den Ländern keine einheitliche Position. Diese kann die Bundesregierung
auch nicht erzwingen.
Der Vorstoß durch Hessen, das 2012 den Vorsitz der
Justizministerkonferenz innehatte, ist jedoch ein positives Signal. Auf der Justizministerkonferenz im letzten
November wurde eine Überprüfung der Ausstattung
der Nationalen Stelle beschlossen. Hessen prüft nun
unter Beteiligung des Bundes, ob eine Verbesserung
der Ausstattung notwendig ist, und erarbeitet einen
Vorschlag, wie diese umgesetzt werden kann. Die Empfehlung soll auf der Konferenz der Amtschefinnen und
Amtschefs im April diskutiert werden.
Wir sollten dieser Prüfung nicht vorgreifen. Bevor
wir Forderungen stellen, sollten wir die Bestandsaufnahme abwarten und uns dann am Vorschlag der Justizministerkonferenz orientieren. Der vorliegende Antrag ist daher abzulehnen, auch wenn ich klar sage:
Wir unterstützen die Arbeit der Stelle ausdrücklich!
Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt aufmerksam machen. Obwohl die finanziellen und personellen Kapazitäten der Nationalen Stelle immer wieder
bemängelt werden, gibt es gleichzeitig Bestrebungen,
ihren Aufgabenbereich auszuweiten. Erst im Januar
wurde bekannt gegeben, dass die Nationale Stelle in
Zukunft auch Kontrollen in deutschen Pflegeheimen
durchführen soll. Ich halte dieses Vorhaben für nicht
unproblematisch.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte keinesfalls abstreiten, dass es Missstände in Pflegeheimen
gibt, dass Pflegebedürftige einen besonderen Schutz
genießen müssen und dass eine Überwachung inhaltlich dem Mandat der Nationalen Stelle zugeordnet
werden kann. Allerdings werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung sowie den
Prüfdienst der privaten Krankenversicherungen bereits regelmäßige Kontrollen durchgeführt.
Bevor wir der Nationalen Stelle neue Aufgaben zuweisen, sollte der Fokus darauf liegen, sie für ihr jetziges Mandat bestmöglich auszustatten.
Das Folterverbot ist in allen zentralen Menschenrechtsverträgen verankert: in Art. 5 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, in Art. 7 des InternaZu Protokoll gegebene Reden
tionalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte
sowie in Art. 3 der Europäischen Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Darüber hinaus haben gegenwärtig 146 Staaten auch
die UN-Anti-Folter-Konvention ratifiziert. Damit sind
ausreichende vertragsvölkerrechtliche Grundlagen
vorhanden, um die Geißel der Folter endgültig aus der
Welt zu schaffen. Durch die langjährige Anwendungspraxis ist das Folterverbot zudem inzwischen als Völkergewohnheitsrecht zu interpretieren.
Es ist einerseits ein beachtlicher Erfolg, wenn mittlerweile offenbar selbst zahlreiche autoritäre Regime
meinen, das Folterverbot als Verhaltenskodex akzeptieren zu müssen. Gleichwohl gilt auch hier: Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser!
Es ist unbestreitbar, dass in zahlreichen Unterzeichnerstaaten zum Teil massiv bzw. systematisch gegen
das Folterverbot verstoßen wird: Kasachstan, Belarus,
Sri Lanka und Saudi-Arabien sind einige solcher
Fälle. Jedoch müssen eben auch die USA mit zu diesem Kreis gezählt werden wegen ihrer bekannt gewordenen „Verhörmethode“ des „Waterboarding“ und
den anderen schrecklichen Folterpraktiken, die vor allem gegenüber Terrorverdächtigen in Guantanamo
systematisch praktiziert wurden.
Das Beispiel Guantanamo lehrt zudem, dass auch
Demokratien nicht per se vor Rückfällen in antihumanistische Zustände gefeit sind, auch wenn dies bei
Diktaturen systembedingt häufiger der Fall ist. Wenn
die Demokratie die Auseinandersetzung mit der Diktatur aber für sich entscheiden will, muss sie sich als das
humanere, politisch freiere und sozial gerechtere Gesellschaftssystem behaupten. Dies verlangt von allen
Demokratien eine Vorbildrolle bei der Einhaltung der
Menschenrechte und hohe Standards zu deren Umsetzung und Anwendung in der gesellschaftlichen Alltagsrealität.
Leider muss bei dem wichtigen Thema Folterprävention festgestellt werden, dass Deutschland seine
Vorbildfunktion als Demokratie geradezu sträflich vernachlässigt. Es gibt zwar formal seit Ende 2008 eine
Bundesstelle zur Verhütung von Folter mit Sitz in
Wiesbaden, die den gesetzlichen Auftrag hat, Orte der
Freiheitsentziehung aufzusuchen und auf mögliche
Missstände zu untersuchen. Bereits in ihrem ersten
Jahresbericht 2009/2010 hat die Bundesstelle jedoch
darauf hingewiesen, dass sie wegen unzureichender
personeller und finanzieller Ressourcen ihren gesetzlichen Auftrag bestenfalls „nur ansatzweise“ erfüllen
könne. Der Jahresbericht 2010/2011 knüpft hieran
nahtlos an. Die Bundesstelle ist allein für 360 Gewahrsamseinrichtungen zuständig. Ihr bisheriges Budget in
Höhe von 100 000 Euro ermöglicht lediglich die Anstellung von maximal drei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Vollzeit sowie einer
Fachangestellten für Bürokommunikation. Zusammen
mit den jeweiligen Länderkommissionen müssten sogar mehrere Tausend Gewahrsamseinrichtungen in
Deutschland überwacht werden, was mit dem gegenwärtigen Personaltableau faktisch unmöglich ist. Unser Nachbar Frankreich gibt übrigens bei einer deutlich geringeren Gesamtbevölkerungszahl in diesem
Bereich jährlich rund 3,3 Millionen Euro aus!
Das ist nicht nur Ausdruck der typischen Placebopolitik von Schwarz-Gelb, die wir beim Thema Menschenrechte schon zur Genüge kennen. Die Vernachlässigung der Folterprävention in Deutschland ist
vielmehr ein handfester politischer Skandal, weil die
Bundesregierung damit bewusst riskiert, dass schlimmstenfalls schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen
in bundesdeutschen Gewahrsamseinrichtungen unentdeckt bleiben und die Betroffenen unter menschenrechtslosen Umständen leben müssen. Hierbei hilft
letztlich nur die regelmäßige Kontrolle von außen und
durch unabhängige Dritte, um zu verhindern, dass sich
menschenrechtswidrige Praktiken dauerhaft etablieren können. Genau darum geht es bei der Folterprävention.
Es entspricht einer schallenden Ohrfeige für die
Bundesregierung, dass der UN-Ausschuss gegen Folter in seinen abschließenden Bemerkungen vom
12. Dezember 2011 zum Fünften Staatenbericht
Deutschlands eben diese Defizite gerügt hat. Wer die
UN-Anti-Folter-Konvention ernst nimmt, kann diese
Kritik nur begrüßen. Solange die Bundesregierung
nämlich immer nur bestimmte Länder wie vor allem
Russland, China, Vietnam, Kuba, Venezuela, Aserbaidschan, Serbien, Belarus oder die Ukraine wegen ihrer
Menschenrechtsdefizite durch den Kakao zieht, aber
zu Menschenrechtsverletzungen in befreundeten, westlichen bzw. prowestlich orientierten Ländern vornehm
schweigt und ihre eigenen Hausaufgaben unerledigt
lässt, ist sie vollkommen unglaubwürdig. Dies gilt
ebenfalls für die anderen Oppositionsfraktionen. Wie
dem aktuellen „Spiegel“ zu entnehmen ist, betätigen
sich schon seit geraumer Zeit prominente Sozialdemokraten als eifrige Lobbyisten für das Nasarbajew-Regime in Kasachstan, in dessen Gefängnissen Folter auf
der Tagesordnung steht und das friedliche Gewerkschaftsproteste zusammenschießen lässt. Wie will die
SPD eigentlich die Defizite bei der Folterprävention in
Deutschland kritisieren, wenn sie gleichzeitig einem
ausländischen autoritären Folterregime dabei hilft,
sein Prestige im Westen aufzupolieren? Der „Spiegel“
bezeichnet Kasachstan sogar als die „Lieblingsautokratie“ der Sozialdemokratie. So sieht also die Doppelmoral der SPD aus: Menschenrechtsverstöße in
Ländern mit unabhängigen politischen Führungen
werden skandalisiert und diejenigen in prowestlichen
kooperationswilligen Diktaturen dürfen sogar noch
schlimmer sein, ohne dass aus der SPD auch nur ein
Laut ertönt! Für die Linke ist klar: Menschenrechtsverstöße müssen überall und gegenüber jeder Regierung thematisiert werden, die hierfür die politische
Verantwortung trägt - allerdings ohne dabei in der
Pose des Oberlehrers und Moralapostels aufzutreten,
die uns ohnehin niemand abnimmt. Die praktische Instrumentalisierung der Menschenrechte und die Verwendung von doppelten Standards beruhen immer auf
Zu Protokoll gegebene Reden
politischem Kalkül. Dafür gibt es von uns keine Unterstützung!
Der aktuelle Antrag der Grünen weist dagegen zu
Recht auf die Missstände bei der Folterprävention in
Deutschland hin. Er ist im Analyse- wie im Forderungsteil richtig. Ich will an dieser Stelle auch erwähnen, dass sich die Grünen und die Linke in den
zurückliegenden Haushaltsberatungen im Menschenrechtsausschuss wechselseitig bei ihren Änderungsanträgen zu Mittelerhöhungen für die nationale Antifolterstelle unterstützt haben. Dies zeigt, dass trotz
fortbestehender politischer Unterschiede zwischen
den beiden genannten Oppositionsfraktionen dennoch
Sachentscheidungen zugunsten der Betroffenen möglich sind. Parteitaktische Abgrenzungsrituale sind beim
Thema Menschenrechte völlig fehl am Platz. Und
selbstverständlich stimmt vor diesem Hintergrund die
Linke auch dem vorliegenden Antrag der Grünen zu.
Das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung ist eine der wichtigsten Menschenrechtsgarantien
und ein Teil von verschiedenen Menschenrechtsverträgen, die die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert
hat. Um unserer menschenrechtlichen Verantwortung
gerecht zu werden und um glaubwürdig für Menschenrechte eintreten zu können, müssen auch wir in
Deutschland immer weiter an der Umsetzung und Verwirklichung des Folterverbots arbeiten.
Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland das
Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter
und das Zusatzprotokoll zu dem Übereinkommen ratifiziert. Dieses Zusatzprotokoll fordert, den Schutz vor
Folter und Misshandlung zu verstärken. Dazu müssen
alle Staaten nationale Präventionsmechanismen errichten.
In Deutschland haben wir diese Verpflichtung durch
die Errichtung der Nationalen Stelle zur Verhütung
von Folter allerdings nur der Form nach erfüllt. Sie
hat die Aufgabe, Orte der Freiheitsentziehung aufzusuchen, auf Missstände aufmerksam zu machen und den
Behörden Empfehlungen zu unterbreiten. Mit den von
der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Mitteln
kann die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
aber ihre Kontrollpflichten nicht erfüllen und damit
auch ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nachkommen.
Mit insgesamt weniger als zehn Mitarbeitern für
Bund und Länder, darunter fünf ehrenamtliche Mitglieder, können nicht mehrere Tausend Gewahrsamseinrichtungen in Deutschland regelmäßig besucht und
Missstände aufgedeckt werden. Das ist einfach nicht
möglich, auch wenn die wenigen Mitarbeiter mit den
begrenzten Ressourcen eine hervorragende Arbeit leisten.
Für die ehrenamtliche Leitung der Bundesstelle ist
nur eine einzige Person und noch nicht einmal eine
Stellvertretung vorgesehen. Bei der Abwesenheit des
Bundesstellenleiters, zum Beispiel wenn er krank ist,
können gar keine Inspektionsbesuche durchgeführt
werden. Er allein ist für etwa 360 Gewahrsamseinrichtungen des Bundes zuständig. Auf Landesebene sieht
es leider nicht besser aus: Nur vier ehrenamtliche Mitarbeiter können für die Länderkommission Kontrollen
der Gewahrsamseinrichtungen der Länder durchführen. Das sind fast 2 000 Gewahrsamseinrichtungen,
von denen wir hier reden - die geschlossenen Abteilungen in Altersheimen noch nicht einmal mitgezählt.
International ist Deutschland damit ein Negativbeispiel. Frankreich gibt beispielsweise das Zehnfache
aus und stellt über 3 Millionen Euro für seinen nationalen Präventionsmechanismus zur Verfügung. Im Gegensatz zu Deutschland sind nicht fünf ehrenamtliche
Mitglieder angestellt, sondern 16 hauptamtliche Kontrolleure in Vollzeit und zusätzliche 16 Kontrolleure in
Teilzeit.
Das Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen
der Vereinten Nationen gegen Folter fordert regelmäßige Besuche. In der Praxis jedoch können Gewahrsamseinrichtungen im Schnitt nur alle 15 Jahre aufgesucht werden. Von regelmäßigen Kontrollen kann also
hier keine Rede sein.
Oft denken wir, das Thema Folter sei in Europa
nicht mehr aktuell. Aber gerade im Zusammenhang mit
der Terrorismusbekämpfung und den außergerichtlichen CIA-Flügen wurde deutlich, dass auch hier, mitten in Europa, die Verhinderung von Folter eine Aufgabe bleibt, die wir weiter ernst nehmen müssen. Und
darum brauchen wir die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter. Ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt
werden. Sie leistet wertvolle Arbeit. Dennoch wird die
Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von der
Bundesregierung nicht ausreichend gewürdigt, ja gar
stiefmütterlich behandelt.
Auch der VN-Ausschuss gegen Folter kritisiert in
seinen „Abschließenden Bemerkungen“ vom 12. Dezember 2011 die mangelnde personelle und finanzielle
Ausstattung der Nationalen Stelle und empfiehlt der
Bundesregierung diese „mit angemessenen personellen, finanziellen, technischen und logistischen Mitteln
auszustatten“. Der VN-Ausschuss gegen Folter macht
deutlich, dass die Nationale Stelle durch die fehlenden
Ressourcen „an einer angemessenen Erfüllung ihres
Überwachungsauftrags gehindert wird“.
Aus Protest gegen die defizitäre Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist im September 2012 Hansjörg Geiger als Mitglied der Länderkommission zurückgetreten. Sein Rücktritt war und ist
blamabel für die Bundesregierung. Seine Entscheidung überrascht jedoch nicht. Obwohl die Nationale
Stelle zur Verhütung von Folter schon in ihrem ersten
Jahresbericht von 2009/2010 die mangelnde Ausstattung kritisiert hat, wurden die Mittel nicht erhöht. Sie
musste daher ihre Kritik in ihrem Jahresbericht 2010/
2011 wiederholen: „Mit nur fünf ehrenamtlichen Mitgliedern und Mitteln für nur drei wissenschaftliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie einer FachanZu Protokoll gegebene Reden
gestellten für Bürokommunikation sind die Kapazitäten für die regelmäßige Prüfung mehrerer tausend Gewahrsamseinrichtungen absolut unzureichend.“
Auch an der multidisziplinären Aufstellung des Personals, die das Zusatzprotokoll fordert, fehlt es bisher
noch. Insbesondere für Inspektionsbesuche ist es wichtig, dass der Nationalen Stelle Mitglieder mit medizinischem und psychiatrischem Sachverstand angehören.
Dies ist bisher nicht der Fall, sodass auf externe Sachverständige zurückgegriffen werden muss.
Bis heute ist die Bundesregierung diesen Forderungen der Nationalen Stelle und des VN-Ausschusses gegen Folter nicht nachgekommen. Wir Grüne haben bereits am 26. September 2012 einen Haushaltsantrag
eingereicht, der die finanzielle und personelle Ausstattung verbessert hätte. Die Bundesregierung hat unseren Haushaltsantrag abgelehnt, selbst aber keine konstruktiven Schritte vorgenommen.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb dazu auf,
ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Fakultativprotokoll zum VN-Übereinkommen gegen Folter nachzukommen. Der Anteil des Bundes muss auf
mindestens 300 000 Euro erhöht werden, um die Bundesstelle in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben in angemessener Weise zu erfüllen. Menschenrechtsinstrumente dürfen kein Feigenblatt sein.
Im Mai 2013 findet zum zweiten Mal im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Überprüfung
Deutschlands in der Universal Periodic Review statt.
Die Bundesregierung sollte diese Chance ergreifen
und zeigen, dass sie zu der menschenrechtlichen Verantwortung Deutschlands steht. Das UPR-Verfahren
bietet der Bundesregierung eine Plattform, deutlich zu
machen, dass sie glaubwürdig für Menschenrechte eintritt - im eigenen Land und in der Welt. Der Preis für
eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der
Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist sehr gering im Vergleich zu dem hohen Wert an Integrität und
Glaubwürdigkeit, den Deutschland dadurch gewinnt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nationale Stelle zur
Verhütung von Folter stärken“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12730,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11207 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/10085 zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung mit den Titeln
„Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle zur Verhütung von Folter“ und „Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtungen auf
den Drucksachen 17/3134 und 17/9377 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 24:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften
({0})
- Drucksachen 17/12455, 17/12662 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})RechtsausschussHaushaltsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Am 14. Februar 2012 hat das Bundesverfassungsgericht der Klage eines hessischen W-2-Professors
stattgegeben und entschieden, dass dessen Besoldung
nicht den Anforderungen an eine amtsangemessene
Alimentation im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG entspricht. Aufgrund unserer föderalen Ordnung sind die
Länder für die Besoldung der großen Mehrheit der
Professorinnen und Professoren in Deutschland verantwortlich. Auch gilt das Urteil unmittelbar nur für
das Land Hessen. Jedoch besteht aufgrund ähnlicher
Rechtsgrundlagen auch Änderungsbedarf auf Bundesebene. Hier werden in erster Linie Professoren der
Bundeswehrhochschulen sowie das Spitzenpersonal
außeruniversitärer Forschungseinrichtungen von der
Neufassung des Gesetzes profitieren.
Mit der Verabschiedung des Professorenbesoldungsgesetzes im Jahr 2002 wurde ein zweigliedriges
Vergütungssystem eingeführt, bestehend aus einem festen Grundgehalt und variablen Leistungsbezügen. Ich
möchte ausdrücklich hervorheben, dass das BVerfG
am zweigliedrigen Vergütungssystem keinen Anstoß
genommen hat. Deshalb soll es auch beibehalten werden. Zum 1. Januar 2005 löste schließlich die W-Besoldung die alte C-Besoldung ab. Um bei gleichbleibenden Ausgaben finanzielle Spielräume für die
Vergabe von Leistungsbezügen zu erhalten, wurden die
W-Grundgehälter gegenüber der C-Besoldung abgesenkt.
Das BVerfG hat in seinem Urteil festgestellt, dass
diese Leistungsbezüge keinen alimentativen Charakter
im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG haben und folglich bei
der Klärung der Frage, ob die Besoldung eines Professors den Anforderungen an eine amtsangemessene Alimentation genügt, nicht einbezogen werden dürfen.
Bei der Urteilsfindung zog das BVerfG Vergleiche mit
den Bezügen in der Besoldungsgruppe A. Das Gericht
kritisierte insbesondere, dass das Grundgehalt eines
W-2-Professors lediglich der Besoldung eines 40-jährigen Oberregierungsrats entspreche und somit unterhalb der Eingangsstufe A 15 bzw. der Endstufe A 13
läge. Beim Vergleich zwischen den Besoldungsgruppen
A und W stünden Qualifikation und Besoldung in einem Missverhältnis.
Mithilfe von drei Veränderungen wollen wir dieses
Missverhältnis nun beseitigen und dem Urteil Rechnung tragen:
Erstens sollen die Grundgehälter der Besoldungsgruppen W 2 und W 3 angehoben werden. Wie stark
werden die Grundgehälter erhöht? In der Urteilsbegründung wurde deutlich, dass das BVerfG die maßgebliche Vergleichsgruppe für W-2-Professoren in Beamten der Besoldungsgruppe A 15 sieht; für W-3Professoren sind es Beamte der Besoldungsgruppe
A 16. Auf dieses Niveau werden die Grundgehälter für
W-2- und W-3-Professoren künftig angehoben. Mit diesem ersten Schritt stellen wir die vom BVerfG angemahnte amtsangemessene Alimentation sicher.
Zweitens werden diese Grundgehälter in Erfahrungsstufen gestaffelt. Vorgesehen sind drei Stufen mit
einer Laufzeit von jeweils sieben Jahren; die Endstufe
wird folglich nach 14 Jahren erreicht. Künftig erhält
ein W-2-Professor in Stufe 1 ein Grundgehalt in Höhe
von 5 100 Euro, in Stufe 2 sind es 5 400 Euro und in
Stufe 3 schließlich 5 700 Euro. Aufgrund des aus
Art. 33 Abs. 5 GG hergeleiteten Abstandsgebotes - ein
W-3-Professor muss auch in Zukunft mehr verdienen
als ein W-2-Professor - werden zudem die Grundgehälter von W-3-Professoren erhöht. Sie erhalten künftig ein Grundgehalt in Höhe von 5 700 Euro, Stufe 1,
bzw. 6 100 Euro, Stufe 2, und 6 500 Euro, Stufe 3. Die
beiden vorgeschalteten Erfahrungsstufen dienen in
erster Linie dem Zweck, bei in etwa gleichbleibenden
Gesamtausgaben auch in Zukunft in möglichst großem
Umfang Mittel für Leistungsbezüge zur Verfügung zu
haben.
Drittens werden bislang gewährte Leistungsbezüge
zum Teil auf die neuen Grundgehälter angerechnet.
Hierbei wird jedoch - aus gutem Grund - zwischen
verschiedenen Leistungsbezügen unterschieden. Besondere Leistungsbezüge, die Professorinnen und Professoren für hervorragende Leistungen in Forschung
und Lehre gewährt werden, bleiben von der Anrechnung ebenso ausgenommen wie Funktionsleistungsbezüge, die für die Übernahme von Aufgaben im Rahmen
der Hochschulleitung und der Hochschulselbstverwaltung - zum Beispiel Rektor, Prorektor, Dekan, Prodekan etc. - erfolgen. Angerechnet werden hingegen Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge. Aus Sicht der
Wissenschaft halte ich dies für eine gute Regelung, da
auch in Zukunft finanzielle Anreize gesetzt werden, um
hervorragende Leistung und die Übernahme verantwortungsvoller Ämter zu belohnen.
Insgesamt entstehen dem Bund durch das neue Gesetz Mehrkosten in Höhe von voraussichtlich 0,6 Millionen Euro pro Jahr. Diese Summe ist überschaubar
und muss in die Hand genommen werden, um das Verfassungsgerichtsurteil vonseiten des Bundes umzusetzen. Zudem stehen diesen Ausgaben einmalige Entlastungen in Höhe von 0,2 Millionen Euro gegenüber.
Als Vertreter der Bildungs- und Forschungspolitiker
ist es mir wichtig, hervorzuheben, dass gegenüber dem
ersten Referentenentwurf vom 19. November 2012 bereits zwei Verbesserungen im Sinne der Wissenschaft
Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Zunächst ist es gelungen, zu erreichen, dass bei der Anrechnung von Erfahrungszeiten, die zur Eingruppierung in eine Erfahrungsstufe maßgeblich sind, auch
hauptberufliche wissenschaftliche Tätigkeiten an einer
öffentlich geförderten in- oder ausländischen Forschungseinrichtung berücksichtigt werden. Durch
diese Regelung tragen wir sowohl den politischen Zielen der Internationalisierung als auch dem Austausch
zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung Rechnung.
Zweitens werden, wie bereits dargelegt, besondere
Leistungsbezüge - die für sehr gute Leistungen in Forschung und Lehre gewährt werden - nicht auf das neue
Grundgehalt angerechnet. Demgegenüber sah der Referentenentwurf noch vor, besondere Leistungsbezüge
maximal bis zur Hälfte auf das neue Grundgehalt anzurechnen. Eine solche Verrechnung wäre mit dem
Leistungsprinzip in der W-Besoldung jedoch nicht zu
vereinbaren. Durch die neue Regelung werden auch
weiterhin Spitzenleistungen von Professorinnen und
Professoren in Forschung und Lehre belohnt und die
richtigen Anreize gesetzt.
Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten: Für
uns Bildungs- und Forschungspolitiker ist dieser Gesetzentwurf eine gute Verhandlungsgrundlage für das
bevorstehende parlamentarische Gesetzgebungsverfahren.
Heute beraten wir ein ganzes Bündel dienstrechtlicher Vorschriften, die geändert werden sollen.
Der Änderung der Professorenbesoldung liegt eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2012 zur Professorenbesoldung im Land Hessen
zugrunde. Die strukturell ähnlichen Regelungen des
Bundes müssen entsprechend ebenso geändert werden.
Die Grundgehälter der Besoldungsgruppen W 2
und W 3 werden erhöht, um den amtsangemessenen
Unterhalt sicherzustellen. Es werden drei Erfahrungsstufen eingeführt. Auf die zusätzlichen leistungsabhängigen Besoldungsbestandteile soll auch künftig kein
Rechtsanspruch bestehen.
Ein zweiter und ausdrücklich begrüßenswerter
Bestandteil des vorgelegten Gesetzentwurfs ist die
rückwährende Gewährung des Familienzuschlags bei
eingetragenen Lebenspartnerschaften. Auch dieser
Zu Protokoll gegebene Reden
Gesetzesänderung liegt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde. In diesem Fall hatte
das Gericht am 19. Juni 2012 entschieden, dass die
Ungleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen Familienzuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesoldungsgesetz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit dem
allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ist.
Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, den festgestellten Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen
Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001
zu beseitigen. Allerdings wird hier der Anspruch nur
gewährt, wenn er bereits in der Vergangenheit geltend
gemacht wurde und noch nicht bestandskräftig abgelehnt wurde. Deshalb ist die Zahl der Empfänger auch
sehr überschaubar. Nichtsdestotrotz ist dies ein wichtiges politisches Signal.
Weiterhin enthält der vorgelegte Gesetzentwurf
Änderungen zur Praxis der Dienstpostenbündelung.
Diese soll nun nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 geändert werden. Dass eine rechtssichere Regelung nun gefunden
werden soll, ist durchaus zu begrüßen. Ob der vorliegende Gesetzentwurf diesen Anforderungen gerecht
wird, ist zu prüfen.
Insofern verweise ich auf die Anhörung des Innenausschusses zu diesem Gesetzentwurf und weiteren
Änderungen im Dienstrecht am 18. März 2013.
Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Professorenbesoldung setzt die christlich-liberale Koalition
einen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um. Im
Februar 2012 hatte das Gericht die Vergütung von
Professoren im Bundesland Hessen wegen eines zu
niedrig angesetzten Grundgehalts in der Besoldungsgruppe W 2 für verfassungswidrig befunden und die
zweite Komponente der Professorenvergütung in Form
flexibler Leistungsbezüge nicht für ausreichend anerkannt, um die Defizite bei den Grundgehältern zu kompensieren.
Insbesondere kritisierte das Gericht, dass mit dem
Grundgehalt der Besoldungsgruppe W 2 weder der
Ausbildung oder dem Dienstrang eines Professors
noch der Verantwortung, die mit seinem Amt verbunden ist, angemessen Rechnung getragen wird. Dies
lässt sich insofern nachvollziehen, als im Vergleich die
Vergütung eines W-2-Professors niedriger war als die
eines jungen Gymnasialdirektors oder eines dienstälteren Grundschullehrers.
Aus dem Urteil ergab sich gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht nur für Hessen, sondern auch für die
übrigen Bundesländer und den Bund. Betroffen von
der Bundesreform sind die rund 850 Professoren in
den Hochschulen des Bundes, zum Beispiel an den
Bundeswehruniversitäten oder der Fachhochschule
für öffentliche Verwaltung, und in Forschungseinrichtungen, die vom Bund mitfinanziert werden, wie
beispielsweise die Institute der Max-Planck- und
Fraunhofer-Gesellschaft oder der Helmholtz-Gemeinschaft.
Mit der Reform führt die Koalition in der Bundesbesoldungsordnung W für die Besoldungsgruppen W 2
und W 3 drei Erfahrungsstufen mit einer Dauer von je
sieben Jahren ein. Professoren können also die
höchste Erfahrungsstufe bereits nach 14 Jahren erreichen. Das Grundgehalt wird für die erste Erfahrungsstufe um gut 400 Euro angehoben; für W-2-Professoren, die bereits 14 Jahre im Amt sind, beläuft sich die
Erhöhung auf rund 1 000 Euro, für W-3-Professoren
auf der höchsten Erfahrungsstufe um rund 830 Euro.
Durch die Stufenregelung wird die zunehmende Berufspraxis honoriert; besonders leistungsstarke Professoren können jedoch auch vor Ablauf der sieben
Jahre in die nächsthöhere Stufe aufsteigen.
Gleichzeitig besteht weiterhin die bewährte Möglichkeit, flexible Leistungsbezüge als Anreiz oder zur
Motivation zu vergeben, erstens bei Berufungs- und
Bleibeverhandlungen, zweitens wegen besonderer
Leistungen in Forschung und Lehre und drittens bei
Übernahme eines Hochschulamtes. Während die
besonderen und die Funktionsleistungsbezüge anrechnungsfrei bleiben, sollen Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge voll auf das erhöhte Grundgehalt angerechnet werden. Das heißt, bisher gewährte
Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge werden um den
gleichen Betrag reduziert, wie sich das Grundgehalt
erhöht. Übersteigt der Leistungsbezug diese Erhöhung, bleibt der restliche Betrag dem Professor erhalten.
Im Zuge der parlamentarischen Beratungen des Gesetzentwurfs muss aus Sicht der FDP-Fraktion und
nach meiner persönlichen Meinung bei der Anrechnung der Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge nachgesteuert werden. Wir Liberale setzen uns dafür ein,
das Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst weiter zu
stärken. Würden Bleibeleistungsbezüge, die zeigen,
dass ein Professor überdurchschnittliche Arbeit leistet,
nach der Reform komplett verrechnet, setzte das aus
unserer Sicht ein falsches Zeichen. Benachteiligt würden diejenigen, die in der Vergangenheit diese besondere Anerkennung erhalten haben, gegenüber denjenigen ohne solche Leistungsbezüge, deren Grundgehalt
erhöht wird. Wir schlagen deshalb eine bloß anteilige
Anrechnung nach Vorbild der Gesetzesvorlage aus
Sachsen vor, wo ein Sockelbetrag von mindestens
30 Prozent unangetastet bleibt. Damit erhalten wir
den wesentlichen Anreiz des Leistungsbezugs; neue
Professoren werden im Gegensatz zu bereits berufenen
aber auch nicht dauerhaft benachteiligt. Denn wegen
des erhöhten Grundgehalts werden - das haben Hochschulen bereits angekündigt - die Leistungsbezüge
künftig niedriger ausfallen als in der Vergangenheit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Über diese und weitere Anpassungen im Dienstrecht wird im Zuge einer Expertenanhörung am
18. März 2013 weiter diskutiert werden, die sich neben
der Professorenbesoldung mit den Gesetzesinitiativen
der Koalition zur Familienpflegezeit und zum Altersgeld befassen wird. Der vorliegende Gesetzentwurf
stellt dafür eine gute Beratungsgrundlage dar und
wird nach Abstimmung unserer Änderungsvorschläge
von der Koalition sicher erfolgreich zum Abschluss
gebracht.
Derzeit wird viel über die Agenda 2010 und ihre
Folgen geredet - die Folgen der Idee des „flexiblen
Menschen“, wie es der Soziologe Richard Sennett kritisch formulierte. Aber der Leitsatz „Fördern und Fordern“ wurde nicht nur auf Erwerbslose gemünzt, die es
auf die nicht vorhandenen Arbeitsplätze zu platzieren
galt. Auch für Professorinnen und Professoren meinte
die damalige rot-grüne Koalition diesen Leitspruch
der neoliberalen Ära anwenden zu müssen. Pate stand
offensichtlich das noch nie stimmige Klischee des faulen Professors, der sich im Beamtenverhältnis ausruht,
mit Unlust lehrt und schon seit Jahren nichts veröffentlicht hat. Dem wollte man nun wohl auf die Sprünge
helfen.
Auf diese Weise entstand die W-Besoldung, die die
Grundgehälter absenkte und sogenannte leistungsabhängige Entgeltbestandteile für Professorinnen und
Professoren einführte. Als wäre die intrinsische Motivation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
nicht ihr bestimmender Antrieb, musste nun der
schnöde Mammon als Stimulanz herhalten.
Man setzte die Hochschullehrerinnen und -lehrer in
einen Wettbewerb zueinander, ohne jedoch dessen Kriterien und Rahmenbedingungen zu definieren. Ich erinnere mich gut an die damaligen Debatten. In den
Hochschulen und Landesministerien zerbrach man
sich den Kopf, wie ein entsprechendes Verfahren der
„Leistungsbemessung“ denn gestaltet und in konkrete
Satzungen gegossen werden sollte. Sollte die Zahl der
betreuten Promotionen ein Kriterium sein? Die der
eingeworbenen Drittmittel für die Forschung? Die der
gehaltenen Lehrstunden? Schnell wurde klar, dass
Leistung in der Wissenschaft eine kaum trennscharf
und präzise zu bewertende Maßeinheit ist. Leistung
kann die eine nobelpreistaugliche Entdeckung, eine
gute Personalführung, aber auch eine hervorragende
Lehre sein. Sie ist nicht in Gehaltsbestandteilen abbildbar.
Trotzdem wurden die entsprechenden Satzungen geschaffen. Im Ergebnis bildete sich ein föderaler Flickenteppich an Besoldungsmodalitäten heraus, der
kaum noch zu überschauen ist. Wir haben mittlerweile
eine große Spreizung in den Professorengehältern, die
wie üblich ein starkes Nord-Süd-Gefälle aufweist.
Nach einer Erhebung des Deutschen Hochschulverbands variieren die durchschnittlichen Jahresgehälter
für Hochschullehrer in der Besoldungsgruppe W 2
zwischen 48 968 Euro in Berlin und 56 932 Euro in
Bayern. In der Besoldungsgruppe W 3 werden zwischen 59 324 Euro ({0}) und 67 889 Euro ({1})
bezahlt. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen
sich ihrerseits große Spannen. Nicht nur die einzelnen
Professorinnen und Professoren, sondern auch die
Bundesländer wurden in einen problematischen Wettbewerb gesetzt, der Sieger und Verlierer kennt.
Dem hat das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr erste Grenzen gesetzt. Ein Grundgehalt
von 3 890 Euro und eine Leistungszulage von
23,72 Euro seien zu wenig und dem Amt nicht angemessen. Geklagt hatte ein frisch berufener Professor
der Chemie aus Marburg. Die Uni Marburg begrüßte
das Urteil, weil die mittlerweile entstandenen Unterschiede in den Gehältern nicht mehr zeitgemäß seien.
Alle Professorinnen und Professoren hätten die gleichen
Dienstaufgaben. Die grassierende Wettbewerbsunkultur bekam eine klare Grenze aufgezeigt - nicht weil die
Gewinner zu viel, sondern weil die Verlierer zu wenig
verdienen.
Das Urteil hat den Ländern, aber auch dem Bund
die Aufgabe gegeben, mehr Gleichheit und mehr
Gerechtigkeit in der Bezahlung von Hochschullehrerinnen und -lehrern umzusetzen. Diese wenigen Mindestanforderungen hat die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf erfüllt - vor allem höhere
Grundgehälter sowie die Wiedereinführung von Erfahrungsstufen. Der Entwurf sieht vor, dass insbesondere
die Spitzenverdiener ihre in Bleibe- oder Anwerbungsverhandlungen erlangten Bezüge weiter erhalten.
Niedrigere Leistungsbezüge werden mit dem nun angehobenen Grundgehalt verrechnet. Die zusätzlichen
Mehrkosten sollen von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen selbst getragen werden und
könnten sich negativ auf die Beschäftigungsbedingungen des übrigen Personals auswirken. Wir meinen:
Der Bund sollte die anfallenden 600 000 Euro jährlich
zuschießen. Das zahlt er aus der Portokasse.
Der uns hier vorliegende Gesetzentwurf kann kaum
noch eine leitende Funktion für die Bundesländer beanspruchen, betrifft er doch nur die etwa 850 Lehrstuhlinhabenden an Hochschulen und Instituten des
Bundes. Die Länder können, Föderalismusreform sei
Dank, eigenständig auf das Urteil reagieren. Wir werden daher auch zukünftig einen intransparenten und
teilweise grotesken Abwerbungswettbewerb um die
vermeintlich „Exzellenten“ der restlichen etwa 40 000
Professorinnen und Professoren im Landesdienst erleben. Die strukturellen Schwächen der W-Besoldung
bleiben uns ebenfalls erhalten: intransparente Zulagen, der unsinnige Unterschied zwischen W 2 und W 3
oder die schlechten Bedingungen der Juniorprofessorinnen und -professoren etwa, die bei einem geringen
Gehalt gar keine Leistungszulagen erhalten können.
Man hat widerwillig an den Symptomen einer verkorksten Besoldungsstruktur herumgedoktert.
Wir sollten nach alldem schon fragen, ob das Beamtentum für die heutigen, kollektiven Methoden von
Zu Protokoll gegebene Reden
Wissenschaft in autonom agierenden Institutionen
überhaupt eine angemessene Beschäftigungsform ist.
Der Ordinarius erscheint doch eher wie ein historisches Relikt, nicht wie ein Zukunftsmodell. 90 Prozent
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten
angestellt, wiederum 85 Prozent von ihnen befristet.
Kaum ein Land leistet sich eine derartige Hierarchie
in seinen Hochschulen. Wer eine wünschenswerte Personalstruktur für morgen entwickelt, sollte sich um
bessere Arbeits- und Tarifbedingungen für alle wissenschaftlich Tätigen bemühen. Hier sollten wir ebenso
fix zu Ergebnissen kommen, und zwar ohne dass ein
Verfassungsgericht dies der Politik erst ins Stammbuch
schreiben muss. Meine Fraktion hat wie die anderen
auch dazu Vorschläge gemacht, die der Umsetzung
harren.
Der große Wurf zum Recht des öffentlichen Dienstes
ist Bundesregierung und Koalition in dieser Wahlperiode wahrlich nicht gelungen - aber das war bei diesem Bündnis wohl auch nicht anders zu erwarten.
Teilweise richtige, aber meist viel zu zaghafte Ansätze zur Modernisierung des Dienstrechts wechseln
sich bis heute mit ausgemachten Zumutungen, ja Unverschämtheiten gegenüber den Beamtinnen und Beamten des Bundes ab.
Das Beamtenrecht ist zugegebenermaßen eine komplexe Materie, bei der der Teufel häufig im Detail
steckt. Oft geht es darum, an kleinen Stellschrauben zu
drehen. Aber auch kleine Stellschrauben lassen sich,
statt plump und halbherzig, mit dem richtigen Augenmaß und der nötigen Konsequenz bewegen.
Mit dem Entwurf, der uns heute vorliegt, liefert uns
die schwarz-gelbe Bundesregierung bloßes Stückwerk,
das es allerdings in sich hat.
Ich will mit dem Thema Gleichstellung von Lebenspartnerschaften beginnen. Hier liefert die Koalition - wenn auch in anderem rechtlichen Zusammenhang - erneut ein Paradebeispiel sowohl ihrer inneren
Zerstrittenheit als auch ihrer politischen Unentschlossenheit und Handlungsunfähigkeit. Der kleine Koalitionspartner würde gerne in Richtung Gleichstellung
gehen; der große kommt wieder einmal mit den Errungenschaften einer modernen Gesellschaft nicht klar.
Vor diesem Hintergrund bekommt es die Bundesregierung nicht hin, eine europa- und verfassungsrechtskonforme Gleichbehandlung im Besoldungsrecht des
Bundes vorzulegen. Denn zutreffenderweise müssen
die Leistungen rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Begründung der Lebenspartnerschaft erbracht werden.
Und zwar nicht nur beim Familienzuschlag, sondern,
wie das BVerfG festgestellt hat, auch bei der Hinterbliebenenversorgung, Beihilfe und sonstigen Leistungen. Auch die Einschränkung auf zeitnah geltend gemachte Leistungen und abschließend entschiedene
Ansprüche ist unzulässig. Wir werden dazu einen Änderungsantrag in den Innenausschuss einbringen und
der Koalition so hoffentlich weiterhelfen.
Nächstes Thema: Dienstpostenbündelung. Das Bundesverwaltungsgericht hat Mitte 2011 klargestellt,
dass Funktionen ({0}), die eine Beamtin oder
ein Beamter ausübt, „nicht ohne sachlichen Grund gebündelt, das heißt mehreren Statusämtern einer Laufbahngruppe zugeordnet werden“ dürfen. Gleichwohl
ist anerkannt, dass sich eine Bündelung von Dienstposten sachlich rechtfertigen lässt. Leistungsprinzip,
Alimentationsprinzip und vor allem der Grundsatz der
amtsangemessenen Beschäftigung setzen hier aber
Grenzen. In bestimmten Konstellationen wird es zur
Wahrung einer optimalen Aufgabenerledigung nützlich und sinnvoll sein, auf dieses Instrument zurückzugreifen, zum Beispiel wenn aufgrund mangelnden
Nachwuchses ein Dienstposten kurzfristig nicht besetzt
werden kann.
In Anbetracht des nach wie vor ungebremsten Aufgabenaufwuchses in manchen Teilen der Verwaltung
- man denke nur an die Bundespolizei - darf die
Dienstpostenbündelung allerdings nicht überstrapaziert werden. Grundsätzlich muss gelten, was wir stets
betonen: Eine funktionsfähige, Bürger- und Allgemeinwohlinteressen unterstützende Verwaltung braucht
Personal. Öffentlicher Dienst zum Spartarif? Dazu
von uns ein klares Nein! Dies nur ganz grundsätzlich.
Im Detail müssen wir insbesondere auf einen im Gesetzentwurf eher unauffälligen Punkt kritisch hinweisen.
Eine pauschale Bündelung von bis zu fünf Dienstposten im Bereich der Postnachfolgeunternehmen lehnen
wir ab. Genau hier droht eine Überstrapazierung der
Dienstpostenbündelung.
Dabei geht es nicht allein um die Zahl der Posten,
die gebündelt werden können, sondern vor allem auch
darum, dass die Bündelung im Falle der rund 110 000
Beamtinnen und Beamten in den Postnachfolgeunternehmen laufbahnübergreifend stattfinden kann. Auch
wenn der Einsatz dieser Bundesbediensteten nicht status-, sondern aufgabenbezogen erfolgt, so sprechen
wir hier nach wie vor von Bundesbeamtinnen und -beamten, vor die sich der Bund als Dienstherr schützend
stellen muss. Dies haben wir bereits im Rahmen des
Gesetzentwurfs zur Postbeamtenversorgungskasse ausdrücklich betont und bleiben dabei. Die betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Nachfolgeunternehmens
darf nicht dazu führen, dass eine Beamtin aus dem
gehobenen Dienst per Bündelung mit Aufgaben des
einfachen Dienstes betraut wird. Die kommende Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf wird Gelegenheit bieten, auch dieses Thema näher zu beleuchten.
Ein Gesetzentwurf dieser Bundesregierung aber
wäre natürlich nicht komplett ohne eine versteckte
Boshaftigkeit. Der Entwurf enthält bezüglich der Bundesbesoldungsordnungen A und B eine Neuregelung
der Stellenzulage für Soldaten und Beamte in fliegerischer Verwendung. Nach dem Entwurf sind sogenannte sonstige ständige LuftfahrtbesatzungsangehöZu Protokoll gegebene Reden
rige der Bundespolizei von der Stellenzulage, anders
als bisher, ausgeschlossen. Hier zeigt sich die Bundesregierung von ihrer hinterhältigen Seite, indem sie die
höchstrichterliche Feststellung, dass sogenannte Wärmebildoperatoren der Bundespolizei unter den Begriff
der sonstigen ständigen Luftfahrtbesatzungsangehörigen fallen und ihnen folgerichtig eine Stellenzulage zusteht, mit einem gesetzlichen Federstrich aushebelt.
Nicht nur vonseiten der polizeilichen Interessenvertretung wundert man sich über dieses Vorgehen. Man
mag über eine Differenzierung der Höhe der Zulage
für die sogenannte WBO sprechen; pauschal wegkürzen sollte man sie nicht. Insbesondere dann nicht,
wenn man daran interessiert ist, das Nachwuchsproblem bei der fliegenden Polizei in Angriff zu nehmen.
Auch wenn wir das Thema „Attraktivität des öffentlichen Dienstes“ nicht auf monetäre Aspekte reduzieren: Derartige Signale sind in jedem Fall kontraproduktiv. Auch darüber wird in der Anhörung am Montag
zu reden sein.
Für die eigentliche Regelung zur Professorenbesoldung nehmen wir zur Kenntnis, dass die Gewerkschaften wohl keinerlei Einwände mehr vortragen wollen.
Wir wollen dagegen von Sachverständigen hören, ob
angesichts der vorgesehenen, von vielen dem Gesetzgeber nicht zugetrauten Anhebung der Grundgehälter
tatsächlich die Kuh vom Eis ist oder angesichts der
sehr ausführlichen weiteren Vorgaben aus Karlsruhe
zur Amtsangemessenheit weitere Nachbesserungen zu
besorgen sind.
Rechtspolitisch bleiben Leistungselemente in der
Besoldung ganz zentral, wenn es um eine motivierend
wirkende individuelle Einkommensgerechtigkeit geht.
Diese müssen aber mit den gerichtlichen Vorgaben
zum Alimentationsprinzip vereinbar bleiben. Karlsruhe hat mit seiner Entscheidung gleichwohl verdienstvoll die Tür dafür geöffnet, überhaupt Zulagensysteme als alimentationskompensierend in Betracht
zu ziehen. Das ist wichtig für ein reformorientiertes
Dienstrecht. Denn die Zukunft auch des Beamtentums
- ich zitiere diesen Satz von Gisela Färber gerne liegt nicht in seiner Vergangenheit.
Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften greift die Bundesregierung
Änderungsbedarf aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstrechts auf.
Im Mittelpunkt des Vorhabens steht die Neuregelung
der Professorenbesoldung. Diese Neuregelung berücksichtigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar des vergangenen Jahres zur
Ausgestaltung der Besoldung verbeamteter Professoren. Das Bundesverfassungsgericht hat - vereinfacht
gesprochen - einen höheren Anteil der den Professoren gesetzlich garantierten Bezüge verlangt. Dies setzt
der Entwurf für die direkt und indirekt betroffenen
rund 850 Professoren in den Hochschulen und in den
vom Bund mitfinanzierten Forschungseinrichtungen
des Bundes um.
Die Grundgehälter in den Besoldungsgruppen W 2
und W 3 werden, gestaffelt in drei Erfahrungsstufen,
rückwirkend zum 1. Januar 2013 deutlich erhöht. Die
bewährten leistungsabhängigen Besoldungsbestandteile - dies betrifft Bezüge, die Professoren anlässlich
ihrer Berufung, wegen besonderer Leistungen in
Forschung und Lehre oder bei Übernahme eines
Hochschulamtes erhalten können - bleiben bestehen.
Zugleich wird die besoldungsrechtliche Begrenzung
für diese Leistungsbezüge, der sogenannte Vergaberahmen, abgeschafft.
Die neue Gehaltsstruktur gilt sowohl für neuberufene als auch für Bestandsprofessoren. Die bereits berufenen Professoren werden sachgerecht übergeleitet;
die bisherigen Leistungsbezüge werden überwiegend
nicht angerechnet.
Insgesamt stellen die ausgewogenen Regelungen
ein positives Signal für den Wissenschaftsstandort
Deutschland dar.
Der Gesetzentwurf greift daneben Regelungsbedarf
in einem Bereich auf, der für die personalwirtschaftliche Praxis in der Bundesverwaltung von erheblicher
Bedeutung ist. Unter Bezugnahme auf ein in einem Beförderungsstreitverfahren ergangenes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 haben verschiedene Instanzgerichte die Dienstpostenbündelung,
das heißt die Zuordnung einer Funktion zu mehreren
Ämtern, infrage gestellt. Mit dem Gesetzentwurf wird
die Zulässigkeit dieses Instruments klargestellt. Die
Dienstpostenbündelung trägt dem Umstand Rechnung,
dass die auf einem Dienstposten wahrzunehmenden
Aufgaben nicht immer einheitlich sind und einem ständigen Wechsel unterliegen können. Dies gilt in besonderem Maße für oberste Bundesbehörden, ist aber
nicht auf diese beschränkt. In personalwirtschaftlicher
Hinsicht gewährleistet die Dienstpostenbündelung einen kurzfristigen Personaleinsatz, weil mit ihr sichergestellt werden kann, dass die Besetzung vakanter
Dienstposten nicht in Fällen scheitert, in denen eine
Neubewertung des Dienstpostens kurzfristig nicht
möglich ist und die bisherige Wertigkeit dem Statusamt
möglicher Umsetzungsbewerber nicht entspricht.
Darüber hinaus ermöglicht sie die in der Bundesverwaltung eingeführte und in den vergangenen Jahrzehnten von der Rechtsprechung auch nicht beanstandete Praxis von Beförderungen ohne Wechsel der
Funktion. Die damit eröffneten Möglichkeiten der
Personalförderung dienen letztlich auch der Aufgabenwahrnehmung.
Schließlich schafft der Gesetzentwurf neben einer
rückwirkenden Gewährung des Familienzuschlags an
Beamte in eingetragenen Lebenspartnerschaften auch
die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Verlagerung
einzelner Aufgaben aus der Bundeswehrverwaltung in
Zu Protokoll gegebene Reden
die Geschäftsbereiche des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Finanzen.
Ergänzt wird dieses Paket, mit dem die umfangreiche Dienstrechtsagenda für diese Legislaturperiode
abgeschlossen wird, durch das Gesetz zur Übertragung der Familienpflegezeit auf Beamte sowie den von
den Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf eines
Altersgeldgesetzes.
Zu allen drei Vorhaben hat die CDU/CSU-Fraktion
eine Anhörung beantragt, um auf dieser Grundlage zu
einem fundierten und gleichzeitig möglichst raschen
Gesetzesbeschluss zu kommen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 17/12455 und 17/12662 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie
an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung
- Drucksache 17/12095 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({0})Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Betrachtet man die immer wieder aufkommende
Diskussion um die aktuelle Situation im Pflegebereich
und besonders den jetzt zu debattierenden Antrag,
stellt man fest, dass stets zu kurz kommt, dass die in der
Pflege beschäftigten Menschen eine hervorragende
und ausgezeichnete Arbeit machen. Hierfür möchte ich
ihnen persönlich meinen Dank aussprechen.
Dass die Personalsituation in der Pflege stets angespannt war und durch einen massiven Stellenabbau
noch verschärft wurde, ist seit langem bekannt. Als
Reaktion hierauf wurde für die Jahre 2009 bis 2011
das sogenannte Pflegestellensonderprogramm aufgelegt.
An diesem Programm nahmen im genannten Zeitraum insgesamt 1 133 Krankenhäuser teil; das sind
über zwei Drittel der anspruchsberechtigten Kliniken.
Durch die Bereitstellung von insgesamt über 1 Milliarde Euro wurden so in den drei Jahren des Sonderprogramms über 14 400 zusätzliche Vollzeitpflegestellen geschaffen. Das Pflegestellensonderprogramm
war also ein voller Erfolg und entschärfte die angespannte Personalsituation im Pflegebereich massiv.
Um eine adäquate Qualität sicherzustellen, ist die
Weiterentwicklung von Qualitätsindikatoren ein wichtiger und erforderlicher Schritt, an welchem auch die
Krankenhäuser selber ein originäres Interesse haben.
Ziel muss sein, die Qualität der Versorgungsleistungen
noch mehr in den Vordergrund zu rücken.
Zusätzlich zur Strukturqualität nehmen auch die
Prozessqualität und die Ergebnisqualität eine wichtige
Rolle ein. Durch sie wird verhindert, dass aufgrund
der undifferenzierten Einsparung von Ressourcen vermeintlich mehr Wirtschaftlichkeit zu erzielen ist. Denn
Strukturqualität bedeutet, durch qualifiziertes Personal und den am Bedarf orientierten Einsatz von Sachkosten sowie Investitionen vernünftige Bedingungen
für die Behandlung der Patientinnen und Patienten zu
schaffen. Hierzu gehört selbstverständlich auch die
Pflege. Niemand anders kann besser beurteilen, an
welcher Stelle im Krankenhaus Ressourcen optimal
eingesetzt werden sollen, als das Krankenhaus selber.
Darüber hinaus wird über die Definition von Prozessqualität sichergestellt, dass Leistungen und Zielsetzungen - gerade auch im Pflegebereich - objektiv
beurteilt werden können.
Entscheidend ist letztlich die Ergebnisqualität
- also der Gesundheitsfortschritt, die Zufriedenheit
und das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten
im Rahmen der Behandlung - letztlich der Behandlungserfolg.
Selbstverständlich müssen Daten zur Qualität öffentlich zugänglich sein und einfach abgerufen werden
können. Damit sich Patientinnen und Patienten zukünftig über die Qualität informieren können, sollten
die Ergebnisse der Qualitätssicherung, soweit diese
zur Information geeignet sind, noch mehr als bisher
veröffentlicht werden, beispielsweise in den Qualitätsberichten der Krankenhäuser.
Ein generelles Problem, mit dem sich die Krankenhäuser in Deutschland auseinandersetzen müssen, ist
der Rückzug der Länder aus der dualen Krankenhausfinanzierung. Die Bundesländer sind verpflichtet,
Mittel für Investitionen der Krankenhäuser zur Verfügung zu stellen, kommen dieser Verpflichtung allerdings in nicht ausreichendem Umfang nach. Die Mittel
für den Krankenhausbereich sinken seit Jahren und
Jahrzehnten stark.
Dieser Rückgang führt dazu, dass Krankenhäuser
notwendige Ausgaben für Investitionen durch Quersubventionen aus Krankenhausentgelten finanzieren.
Diese sind hierfür nicht gedacht, und die Mittel werden vor allem durch Mengenausweitungen, also einen
Anstieg der Fallzahlen, aufgebracht. Derartige Mengenausweitungen, soweit sie aus Finanzierungsgründen und nicht aus der medizinischen Notwendigkeit
heraus geschehen, sind nicht zielführend und müssen
vermieden werden.
Laut Statistischem Bundesamt betrugen die Fallkostensteigerungen zwischen dem Jahr 2007 und dem
Jahr 2011 12,7 Prozent, während die Steigerung der
Fallkostenerstattung laut WIdO 13,3 Prozent betrug.
Ich gehe davon aus, dass die Differenz in die Finanzierung von Investitionen floss. Das Geld fehlt jedoch im
laufenden Betrieb. Hiermit sollten Pflegestellen finanziert werden.
Gerade im Zusammenhang mit einer drohenden
Verschärfung des Pflegenotstands war jüngst die Vermeidung eines - von der EU geplanten - erschwerten
Zugangs zu Pflegeberufen ein großer Erfolg. Diese
Aktion, die zu einer Akademisierung der Ausbildung
im Pflegebereich geführt hätte, konnte durch starken
politischen Einsatz der Bundesregierung und unserer
Kollegen der EVP-Fraktion im Europaparlament erfolgreich vermieden werden.
Das Abwenden dieses Damoklesschwertes eines
verschärften Ausbildungszugangs muss dabei unter
dem Aspekt des demografischen Wandels betrachtet
werden. Um das Niveau an Pflegekräften annähernd
konstant zu halten, müssten in den nächsten Jahrzehnten - bei unveränderten Rahmenbedingungen - nach
manchen Schätzungen bis zu 50 Prozent eines Schulabschlussjahrgangs in Pflegeberufen arbeiten. Dies
kann man sich nur sehr schwer vorstellen. Allerdings
wird der Anteil der Pflegekräfte an allen Beschäftigten
von 2 Prozent im Jahr 2009 auf 8 Prozent im Jahr 2050
ansteigen.
Das Gesundheitssystem im Allgemeinen und das
Krankenhauswesen im Besonderen sind bei der christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Notwendige
Hilfen werden kurzfristig gewährt. In der kommenden
Legislaturperiode werden wir grundlegende Strukturfragen angehen.
Zu den zentralen Zukunftsaufgaben aller Krankenhäuser gehören die Fachkräfteausstattung, die Fachkräftesicherung und -entwicklung sowie das Vorhalten
attraktiver Arbeitsplätze. Krankenhausträger tragen
Verantwortung und Fürsorge für ihre Beschäftigten.
Sie tragen im Rahmen ihrer Arbeitgeberfunktion
Verantwortung für die Steigerung der Attraktivität der
Gesundheitsfachberufe, tragen Verantwortung für die
Umsetzung von Professionalisierungsstrategien in der
Pflege. Nur so wird der Sicherheit und der qualitativ
hochwertigen Versorgung der Patientinnen und Patienten gedient.
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt allerdings,
dass die Personalsituation in den Krankenhäusern
mehr und mehr an Brisanz gewinnt. Seitens der
Krankenhausträger wurde bei den Expertinnen und
Experten in der Pflege dramatisch gespart.
Der aus Kosteneinsparungsgründen erfolgte massive Stellenabbau insbesondere im Pflegedienst betraf
nicht alle Qualifikationsniveaus gleichermaßen. Verliererinnen und Verlierer waren vor allem die Gesundheits- und Krankenpflegehelferinnen und -helfer
({0}) und
Ungelernte ({1}), während sich Servicekräfte sowie -helferinnen und -helfer neue Beschäftigungsperspektiven erschlossen haben. Deutlich
zugenommen hat die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse ({2}). Es
fanden eine deutliche Leistungsverdichtung und eine
Erhöhung der Arbeitsbelastung bei den Beschäftigten
statt. Insbesondere der Aufwand in der Pflege ist gestiegen, unter anderem auch aufgrund der gestiegenen
qualitativen Anforderungen in der Begleitung und
Betreuung von immer mehr demenziell erkrankten,
hochaltrigen und multimorbiden Patientinnen und
Patienten bei gleichzeitig immer kürzer werdenden
Verweildauern.
Die SPD-Bundestagsfraktion steht hinter den in der
Pflege Beschäftigten in den Krankenhäusern: Es ist
Zeit, mehr deutliche Zeichen der Wertschätzung für die
Beschäftigten in den Krankenhäusern zu setzen. Dazu
gehört, dass die Beschäftigten an der allgemeinen
Tariflohnentwicklung teilhaben können. Wir brauchen
leistungsgerechte tarifliche Entlohnungssysteme, die
Sicherung professioneller Handlungsautonomie, flexible
Arbeitszeitmodelle, qualitativ hochwertige Weiterbildungsangebote, moderne teamorientierte Kommunikations- und Kooperationsstrukturen, Modelle zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Beruf und Pflege
sowie alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze.
All dies sind Entscheidungsfaktoren für den Einstieg
bzw. den Verbleib im Berufsfeld Pflege. All dies sind
angesichts der bestehenden Konkurrenz um Fachkräfte Entscheidungsfaktoren für den Verbleib an einem konkreten Krankenhaus.
Zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten,
zur Verbesserung einer qualitativ hochwertigen stationären Versorgung wurde von der sozialdemokratischen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Pflegestellen-Förderprogramm ins Leben gerufen. Dies war
ein großer Erfolg: Auswertungen zufolge sind dadurch
zwischen 2009 und 2011 über 15 000 Pflegestellen
geschaffen worden. Leider haben einzelne Krankenhausträger dieses Programm durch „Mitnahmeeffekte“ missbraucht. Diese Möglichkeiten sind künftig zu unterbinden. Zu verhindern ist auch, dass
Krankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Gründen auf
Mengenausweitungen setzen, die nicht der Sicherheit
und guten Versorgung der Patientinnen und Patienten
dienen.
Als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen wir nicht
nur am Equal Pay Day die Forderungen der Beschäftigten - zumeist Frauen - in der Pflege. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns für
strukturelle Verbesserungen im Interesse der Beschäftigten und der Patientinnen und Patienten ein. Deshalb machen wir uns für Personalmindeststandards in
Krankenhäusern stark.
Auch der Antrag „Bessere Krankenhauspflege
durch Mindestpersonalbemessung“ der Linksfraktion
spricht wichtige Probleme der stationären Versorgung
Zu Protokoll gegebene Reden
an. Ich hoffe auf eine baldige umfassende Debatte im
Gesundheitsausschuss. Gespannt bin ich darauf, was
Schwarz-Gelb anführen wird, um die Situation der Beschäftigten in den Krankenhäusern in den wenigen
Monaten dieser Legislaturperiode noch zu verbessern;
bis jetzt ist auf jeden Fall noch nichts erreicht. Ich
schlage eine öffentliche Anhörung mit Beschäftigtenvertreterinnen und -vertretern, den Tarifpartnerinnen
und -partnern und entsprechenden Fachverbänden
vor. Die Beschäftigten in der stationären Pflege haben
es verdient.
Der Antrag der Linken „Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung“ ist in seiner
Absicht gut. In seinem analytischen Teil beschreibt er
die personelle Situation an einigen deutschen Krankenhäusern durchaus zutreffend.
Man müsste blind sein, wollte man nicht sehen, dass
in der Tat die Qualität der Patientenversorgung unter
Personalmangel leidet. Auch die Stichwörter von
„enormem wirtschaftlichen Druck“ auf die Krankenhäuser und in dessen Folge „unhaltbaren Zuständen“,
„massiven Überstunden“, „gefährlicher Pflege“ und
„lebensbedrohlichen Situationen“ sind leider nicht
nur rhetorische Übertreibung.
Leider ist gut gemeint aber nicht automatisch gut
gemacht. Im Gegenteil, manchmal sind die gut gemeinten Vorschläge die gefährlichsten.
Es ist ein klassisch linker Ansatz, zu glauben, die
beschriebenen Zustände seien durch schlichtes Vorschreiben der gewünschten Endeffekte in einem Gesetzestext zu ändern. Die Illusion, der Staat könnte in
geradezu naiver Vereinfachung der vielfältigen Wirkfaktoren der Krankenversorgung ein bestimmtes Ergebnis festlegen, ist etwas für einfache Geister. Hier
meinen Sie, liebe Kollegen von der Linken, offenbar,
durch die simple Vorschrift eines pauschalen Personal-Patienten-Quotienten eine so komplexe Größe wie
die Qualität der Pflege nicht nur steuern, sondern
auch noch restlos vereinheitlichen zu können.
Dabei sprechen wir über eine enorme Vielfalt von
regionalen oder lokalen Faktoren, der individuellen
Organisation der einzelnen Häuser, ihres Fächer- und
Leistungsspektrums, ihrer bestehenden Personalstruktur, ihrer Traditionen, ihrer Trägerschaft, ihrer Konzepte, ihres Patientenguts, ihres Versorgungsumfeldes
im ambulanten und stationären Bereich, kulturelle Unterschiede und solche der flankierenden Leistungsangebote im Umfeld und vieles andere mehr.
All das ignoriert der Antrag der Linken und behauptet, die einheitliche, für alle gleiche Personaldichte
würde automatisch die Pflege verbessern und überall
gleichmachen. Eine Standardisierung von Personalbemessungen betreibt im Übrigen bereits das InEK durch
seine kalkulierten Pflegebedarfe. Diese ändern nichts
an den beschriebenen Missständen.
Es ist immer wieder verblüffend: Wie gut starre
Planwirtschaft funktioniert und wie wenig bedrucktes
Papier wert ist, wenn die komplexe Wirklichkeit und
die realen Funktionsweisen von Menschen und Organisationen außer Acht gelassen werden, sollte gerade
die Linke wissen. Schließlich ist ihre Vorgängerpartei
brutal daran gescheitert, Ergebnisse komplexer Prozesse staatlich festlegen und gleichschalten zu wollen,
ohne die tatsächlich wirksamen Kräfte und vielfältigen
Motivationen von Menschen zu beachten.
Deshalb ist es beim Stichwort Motivation besonders
schade, liebe Kollegen von der Linken, dass Sie in Ihrem Antrag eigentlich den entscheidenden Hinweis für
eine vernünftige Problemlösung selber geben, ohne
ihn aufzugreifen.
Sie beklagen nämlich, dass eine hohe Qualität in
der Pflege nicht gesondert vergütet werde. Sie haben
vollkommen recht in diesem Befund! Leider gilt dies
nicht nur bei der Pflege. Verrückterweise ziehen Sie
aber daraus nicht die logische Konsequenz, dass man
eben genau das tun sollte: gute Pflegeergebnisse belohnen. Stattdessen wollen Sie dieses Nichtbelohnen
guter und Nichtbestrafen schlechter Pflege gar nicht
antasten, sondern allen an dieser Stelle dieselbe personelle Infrastruktur vorschreiben. Absurd!
Wenn wir wollen, dass in einer Situation knapper
Kassen die Krankenhäuser ihre Pflege so organisieren, dass das Ergebnis dieser Pflege qualitativ gut ist,
dann müssen wir erstens diese Qualität objektiv und
unabhängig erfassen und zweitens dann auch belohnen. Das wäre eine echte Investition von Versorgungsforschung und Krankenkassen. Langfristig würde das
nicht nur die Qualität verbessern. Gute Versorgungsergebnisse sparen auch Kosten. Zu ihrem eigenen
Schaden bewegen sich die Kassen aber hier nur wenig
und reagieren auf jedes Risiko kurzfristiger Mehrkosten mit einem Blockadereflex. Leider verhindert diese
Kurzfristhysterie immer wieder langfristigen Nutzen.
Statt hier anzusetzen, kommen Sie zu einem ganz anderen Schluss. Sie ignorieren die Finanz- und Nachwuchssituation aus Einfachheitsgründen und sagen:
Wir schreiben einfach jedem Krankenhaus dasselbe
Zahlenverhältnis Pflegekräfte-Patienten vor. Und
dann sind Sie noch so naiv zu glauben, dies würde Ihren ultimativen Gleichheitstraum erfüllen, dass es
dann keine Unterschiede mehr im Niveau der Pflege
gäbe. Man kann sich nur wundern.
Außerdem machen Sie weder einen Vorschlag, aus
welcher Quelle das Personalplus finanziert werden
soll - ich vermute, am Ende wird auch hier irgendwie
schließlich doch wieder der universelle linke Deus ex
Machina auftauchen, der am Ende alle linken Blütenträume finanziert, nämlich „die Reichen“ -, noch erklären Sie, wie Pflegeberufe so attraktiv werden können, dass überhaupt mittelfristig genug Nachwuchs
zur Verfügung steht.
In Berlin war es in der letzten Legislaturperiode unter anderem Ihre linke Gesundheitssenatorin, die eine
Zu Protokoll gegebene Reden
von der FDP geforderte einjährige Krankenpflegehelferausbildung abgelehnt hat, durch deren Absolventen
Krankenschwestern und -pfleger von nichtpflegerischen
Aufgaben hätten entlastet werden können.
Auch im Bundestag sind es immer die Linken, die
sich gegen differenzierte, leistungsabhängige Vergütungselemente wehren, weil eine Belohnung der Besseren eben immer auch einen Druck auf die Schlechteren
bedeutet. Dafür müsste man Vielfalt und Differenzierung akzeptieren können. Das widerspricht aber diametral dem linken Gleichheitsdogma. Deshalb ist Ihnen der Ansatz der Belohnung guter Leistung so
unsympathisch. In der Regel wollen sie Gutleister
- „die starken Schultern“ - ja mehr belasten, damit
sie schwächer werden.
Aber nochmals: In dem Ziel und auch der Notwendigkeit einer besseren personellen Ausstattung der
Pflege sind wir uns einig. Hier muss mehr geschehen,
und die begonnenen Reformschritte müssen mutig ergänzt werden.
Außerdem müssen die Krankenhäuser endlich aus
der fatalen Zwangslage befreit werden, ihre enormen
Investitionsstaus und die daraus resultierenden Mehrkosten immer wieder durch Personaleinsparung gegenfinanzieren zu müssen. Hier sind im Übrigen in der
dualen Finanzierung ganz wesentlich die Bundesländer gefragt. Sie lassen die Häuser allzu oft im Regen
stehen. Berlin ist hierfür ein trauriges Beispiel: Der
Investitionsstau der Charité steigt seit Jahren rapide
und liegt mittlerweile bei 1 Milliarde Euro! Der Vorstand der Charité hat klargemacht, dass die absolute
Grenze des Personalabbaus erreicht und die Patientensicherheit bedroht ist, sollte hier weiterer Einspardruck
entstehen. Die Tarifbewegung, die innerhalb der Charité - und übrigens nicht bundeseinheitlich für alle
gleich - eine Verbesserung der Personalbemessung
fordert, ist deshalb verständlich. Das Land Berlin muss
hier ebenso wie andere Bundesländer seine Pflicht zur
Finanzierung der Investitionskosten der Krankenhäuser erfüllen und in der Haushaltspolitik neue Prioritäten setzen. Hier verdienen die Krankenhäuser definitiv
einen höheren Stellenwert.
Wenn die Häuser durch die Länder von diesen Lasten befreit und von den Krankenkassen für ihre steigenden, auch sächlichen Betriebskosten fair vergütet
werden, wenn zusätzlich hohe Pflegestandards und
gute Ergebnisse auch belohnt werden, dann brauchen
sie keine Zahlenverhältnisse vorzuschreiben, die als
Papiertiger enden. Und nur dann entsteht eine originäre und langfristige Motivation zur Investition in gute
Pflege. Wie das einzelne Haus dies organisiert, ist
seine Sache.
Die Häuser sollten nicht in totaler Ignoranz ihrer
Vielfalt und regionalen Unterschiede dabei bevormundet werden. Wir Liberale wollen auch hier ausdrücklich Vielfalt; denn wenn sich gute Pflege lohnt, dann ist
Vielfalt die Grundlage für bessere Pflegekonzepte, für
Differenzierung, Fortschritt und Entwicklung. Evolution braucht Vielfalt, sonst stirbt das Leben aus. Das
gilt auch für die notwendige Evolution der Pflege.
Bevormundung der Krankenhäuser durch Gleichschaltungs- und Vorschriftswahn, Ignoranz der Realitäten und zentrale Gleichschaltung der Personalbemessung einer vielfältigen Krankenhauslandschaft
würden gute Pflege erschweren. Deshalb lehnen wir
Ihren Antrag ab.
Mit diesem Antrag wollen wir die Pflege in Krankenhäusern verbessern. Dass da was im Argen liegt,
das ist mittlerweile offenkundig. Fast jede/r, die/der in
der letzten Zeit in einem Krankenhaus war, hat es bemerkt: Die Pflegekräfte sind am Limit; sie müssen von
Jahr zu Jahr immer mehr Arbeit schultern. Obwohl die
meisten Pflegenden sich für ihre Patientinnen und Patienten selbstaufopfernd einsetzen, bleibt am Ende einer Schicht oft ein flaues Gefühl zurück. Die Pflegekräfte wissen, dass eine bessere Pflege möglich wäre,
wenn sie mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten
hätten.
Die „Fließband-Pflege“ macht auch die Pflegenden
krank: Überlastungsanzeigen und Burn outs haben
sprunghaft zugenommen; kaum ein Pflegender hält
durch bis zur Rente.
Zu wenig und überlastetes Personal in der Pflege
kann auch gefährlich sein. Wenn in der Nacht auf einer
Station nur ein einziger Krankenpfleger Dienst hat,
aber 2 von 30 Patientinnen gleichzeitig auf Hilfe angewiesen sind, dann wird der Pfleger entscheiden müssen, wen er vernachlässigt. Zu wenig Zeit in der Pflege
bedeutet auch, dass die Hygiene, zum Beispiel die
Händedesinfektion, weniger ernst genommen wird.
Dazu gibt es mittlerweile Untersuchungen, die das belegen. Das führt zu mehr Infektionen der Patientinnen
und Patienten mit multiresistenten Keimen, die in mehreren Hunderttausend Fällen jedes Jahr krankmachen,
Amputationen nach sich ziehen können und in Zehntausenden Fällen sogar zum Tod führen.
Das Schlimme ist: Diese Verhältnisse sind nicht deswegen so, weil es nicht anders ginge. Es sind die politischen Weichenstellungen der Krankenhauspolitik in
den letzten 15 Jahren, die Einsparungen gerade in der
Pflege zum Ziel hatten. Krankenhäuser stehen im Wettbewerb miteinander und werden nach Fällen bezahlt.
Das Krankenhaus also, das möglichst viele Fälle, zum
Beispiel Operationen, bearbeitet, arbeitet profitabel.
Ein Krankenhaus, das auf gute Pflege setzt, wird es
nicht lange geben, denn es erwirtschaftet hohe Verluste. Mit den unter Rot-Grün eingeführten Fallpauschalen wurden die Pflegedienste zu reinen Kostenstellen degradiert, die angeblich keinen Anteil an der
Wertschöpfung im Krankenhausbetrieb haben. Und
dementsprechend werden sie von den Krankenhausmanagern auch behandelt: Die Zahl der Patientinnen und
Patienten ist von 2003 bis 2011 von 17,30 Millionen
auf 18,34 Millionen gestiegen, während die Zahl der
Pflegekräfte ({0}) von 2003 bis 2011
Zu Protokoll gegebene Reden
von 320 158 auf 310 817 zurückgegangen ist. Und
schon 2003 war die Situation äußerst angespannt.
Gegen diese Arbeitsverdichtung regt sich nun erstmals organisierter Widerstand. Die Verdi-Tarifkommission an der Charité hier in Berlin verhandelt mit
dem Arbeitgeber derzeit über einen neuen Tarifvertrag. Dabei geht es nicht um höhere Löhne. Die Beschäftigten wollen unter anderem erreichen, dass für
jede Station festgestellt wird, wie viel Pflegekräfte benötigt werden. Der Arbeitgeber soll sich verpflichten,
dieses Minimum einzuhalten.
Diese Forderung ist gut für die Beschäftigten, und
sie ist gut für die Patientinnen und Patienten. Sie stellt
sich aber völlig gegen die derzeitige Logik der Krankenhausfinanzierung. Ich wünsche den Kolleginnen
und Kollegen daher viel Erfolg in dieser Auseinandersetzung. Aber selbst wenn diese Forderungen durchgesetzt würden, und selbst wenn andere Krankenhäuser
diesem guten Beispiel folgen würden: Es würde ein
Flickenteppich aus einzelnen tariflichen Lösungen entstehen. Unter den Bedingungen der DRGs würde es
den Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern sogar
weiter anheizen. Die Pflegekräfte haben aber überall
in der Bundesrepublik Anspruch auf gute Arbeitsbedingungen, und die Patientinnen und Patienten haben
überall den Anspruch auf eine gute Pflege.
Deshalb fordert die Linke in dem heute zur Debatte
stehenden Antrag: Wir brauchen eine bundesweite gesetzliche Mindestpersonalbemessung für jedes Krankenhaus. Wir können nicht weiter zusehen, wie Patientinnen und Patienten darunter zu leiden haben, dass
Pflegekräfte mehr leisten müssen, als sie können. Und
wir können auch nicht weiter zusehen, wie die Pflegenden unter derart ungesunden und belastenden Bedingungen arbeiten.
Klar ist: Das wird Geld kosten. Und ich bin mir sicher, Sie werden mir gleich vorwerfen, in dem Antrag
stünde nicht, woher dieses Geld kommen soll. Aber
einmal abgesehen von dem dann von mir immer wieder
vorgetragenen Hinweis auf unser Bürgerversicherungskonzept: Derzeit befinden sich fast 30 Milliarden
Euro Rücklagen im System. Der Finanzminister ist offenbar der Ansicht, dass das Gesundheitssystem zu viel
Geld hat, sonst würde er nicht gerade diese Woche
wieder weitere 1,5 Milliarden Euro für seine Haushaltssanierung entnehmen. Ich finde, dieses Geld wäre
in mehr Pflegekräften, besseren Arbeitsbedingungen
und gesünderen Patienten besser angelegt.
Seit Tagen, Wochen und Monaten steht die Situation
der Krankenhäuser im öffentlichen Fokus. Es wird mitunter hochemotional über Finanzhilfen, Personalmangel und Rettungsprogramme diskutiert.
Leider hat die Diskussion bisher nicht dazu geführt,
einmal tiefer in das System der Unter-, Fehl- und
Überversorgung einzudringen. Sie führt bislang auch
nicht dazu, dass die wirklichen Herausforderungen in
einer immer älter werdenden Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Und es wird nicht deutlich, worin die
Ursachen für den Personalmangel bei den Gesundheitsberufen im Krankenhaus bestehen.
Unserer Meinung nach hapert es an einer umsichtigen Krankenhausplanung, an der berufsgruppenübergreifenden Zusammenarbeit. Es gibt keine wirklich
transparente Personaleinsatzplanung. Pflege ist Austausch und Kommunikation - doch dieser Aspekt gerät
immer mehr in den Hintergrund. Es fehlt der Krankenpflege an Anerkennung von oben und an Freiraum für
Entscheidungen. Die kurz- wie auch die langfristige
Personalplanung läuft oft völlig am tatsächlichen Bedarf vorbei.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bezifferte im
Februar den Personalmangel in der Pflege auf
70 000 Vollzeitstellen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft spricht lediglich von 3 000 Stellen. Wir wissen also noch nicht einmal, wie hoch der eigentliche
Personalbedarf ist.
Was wir aber wissen, ist, dass sich in den letzten
Jahren die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern nicht zum Besseren entwickelt haben. Die zunehmende Arbeitsverdichtung, die Überforderung durch
die wachsende Anzahl von Menschen, die nicht nur der
Pflege, sondern auch der Betreuung bedürfen, weil sie
zum Beispiel sehr alt oder dement sind, belasten die
Gesundheitsberufe im Alltag enorm.
Obendrein wurde das Pflegepersonal in einigen
Krankenhäusern in den letzten Jahren noch ausgedünnt, während zugleich das ärztliche Personal weiter
aufgestockt wurde. Das verstehe, wer will. Eigentlich
sollte es für jedes Krankenhaus ein natürliches Anliegen sein, Personal in der Pflege auszubilden, weiterzubilden und dieses qualifizierte Personal dann auch zu
halten. Eine einseitige Fokussierung auf die Sicherung
der ärztlichen Belegschaft führt auf Dauer nicht zur
Qualitätssteigerung der Behandlung im Krankenhaus.
Eine Operation kann eben nicht stattfinden, wenn die
OP-Schwestern und Pfleger fehlen, mögen dabei noch
so viele Ärzte anwesend sein. Die Genesung der Patienten und Patientinnen ist nach einem gelungenen
Eingriff nicht selbstverständlich, wenn danach die
pflegerische Versorgung schlecht ist. Wir wissen doch,
dass sich die Rationierung von Pflegeleistungen auf
die Pflegequalität und somit auf die Ergebnisqualität
auswirkt.
Durch die Pflegestudie RN4Cast - eine der bislang
umfassendsten Datensammlungen zur Personalplanung in der Pflege - wissen wir, dass die Unzufriedenheit des Pflegepersonals in den letzten Jahren zugenommen hat. Das hat viele Ursachen; eine davon ist
die permanente Überlastungssituation durch Unterbesetzung. Auch die fehlende Vereinbarkeit von Beruf
und Familie, die mangelnde Anerkennung in der Organisation und noch vieles mehr führen zu Unzufriedenheit. Und unzufriedene Pflegekräfte erzielen
schlechtere Arbeitsergebnisse. Gerade in einem so
personenbezogenen Beruf ist diese Entwicklung nicht
akzeptabel.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Studie machte auch deutlich, dass eine
schlechte Bedarfsplanung von Pflegekräften in einem
Land die Arbeitsmigration in andere Länder erhöht.
Können wir uns das leisten?
Es darf nicht dazu kommen, dass innerhalb der
Krankenhauspersonalplanung die Pflege als Stiefkind
behandelt wird, dass die Pflege als der Bereich gilt, bei
dem man als Erstes kürzen kann, wenn das Budget
knapper zu werden droht. Doch genau diese Entwicklung sehen wir derzeit.
Deshalb sehen auch wir Grüne die Notwendigkeit
einer Personalbemessung in der Pflege. Aber wir dürfen dabei die anderen Faktoren nicht aus den Augen
verlieren, die die Arbeitszufriedenheit beeinflussen.
Und es muss uns klar sein, dass wir derzeit über kein
wirklich gutes Instrumentarium verfügen. Die PflegePersonalregelung, PPR, ist aus heutiger Sicht nicht
mehr ausreichend. Sie ist zu oberflächlich und nicht
mehr aktuell.
Was wir also brauchen, ist ein neues Personalbedarfsermittlungsverfahren. Das muss sowohl den fixen
Aufwand pro Patient und Patientin als auch den variablen und zusätzlichen Aufwand abbilden. So sind beispielsweise bei einer OP-Vorbereitung immer gleiche
Maßnahmen notwendig, die gut kalkulierbar und planbar sind. Es gibt variable Aufwendungen, wie die
Versorgung einer Wunde, die sich unterschiedlich, unvorhersehbar, entwickeln können und auch an die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus gebunden sind. Zudem
gibt es einen Zusatzaufwand, der je nach Anzahl der
Erkrankungen des Patienten und der Patientin weitere
Pflegetätigkeiten erfordert. All diese Positionen müssen jeweils an die unterschiedlichen Fachbereiche eines Krankenhauses angepasst werden.
Das ist kein leichtes Unterfangen, und das sollten
wir bei allem Eifer auch berücksichtigen.
Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12095 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da es keine anderweitigen Vorschläge gibt, ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Vorschriften
über elektromagnetische Felder und das
telekommunikationsrechtliche Nachweisver-
fahren
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Vierter Bericht der Bundesregierung über
die Forschungsergebnisse in Bezug auf die
Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge-
samten Mobilfunktechnologie und in Bezug
auf gesundheitliche Auswirkungen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Fünfter Bericht der Bundesregierung über
die Forschungsergebnisse in Bezug auf die
Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge-
samten Mobilfunktechnologie und in Bezug
auf gesundheitliche Auswirkungen
- Drucksachen 17/12372, 17/12441 Nr. 2.4,
17/4408, 17/4588 Nr. 3, 17/12027, 17/12238
Nr. 1.4, 17/12738 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Dr. Michael Paul-
Dirk Becker-
Michael Kauch-
Sabine Stüber-
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss hat in seine Empfehlung den Vierten
und Fünften Bericht der Bundesregierung über die For-
schungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminde-
rungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie
und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen mit
einbezogen. Diese Vorlagen sollen jetzt ebenfalls ab-
schließend beraten werden. - Sie sind damit einverstan-
den. Dann ist das so beschlossen.
Zu der Beratung der Verordnung der Bundesregierung
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
vor.
Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben
werden. - Sie sind damit einverstanden.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12738,
in Kenntnis der Unterrichtungen auf den Drucksachen
17/4408 und 17/12027 der Verordnung der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/12372 zuzustimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12742.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
der Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl
ausrichten
- Drucksache 17/12395 -
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der Antrag der Grünen impliziert zu Unrecht, dass
das Kindernachzugsrecht in Deutschland dem Kindeswohl entgegenstehen würde. Es wird ein Bild einer unmenschlichen Abwehrhaltung heraufbeschworen, das
mit der Realität nichts gemein hat. Betrachten wir an
dieser Stelle die Rechtslage einmal realistisch. Die
Grundsätze der Familienzusammenführungsrichtlinie
werden unter anderem durch die Grundrechtecharta,
die UN-Kinderrechtskonvention und die Menschenrechtskonvention gewährleistet.
Als Erstes zu der Forderung, die Integrationsbedingungen für über 16-jährige Kinder beim Nachzug aufzuheben. Diese Forderung sieht nur bei oberflächlicher Betrachtung wie ein Segen für die Jugendlichen
aus.
Hier ist zunächst anzumerken, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie grundsätzlich Einschränkungen für Kinder ab 12 Jahren gestattet. Die deutsche
Regelung setzt hingegen erst bei Jugendlichen ab
16 Jahren an.
Je jünger Kinder bei der Einreise sind, desto einfacher fällt ihnen das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes. In der Regel ist ihre Integrationsfähigkeit hoch, da sie bei ihren Eltern in der neuen Kultur
aufwachsen. Anders ist die Situation von über 16-jährigen Jugendlichen, die bereits ein recht eigenständiges Leben führen, in ihrer Heimat sozialisiert und integriert sind und nicht wie jüngere Kinder auf ihr
Elternhaus angewiesen sind. Da sich die Voraussetzungen der Kinder mit steigendem Alter zum Zeitpunkt
des Nachzugs verändern, sind auch die unterschiedlichen Regelungen gerechtfertigt. Ein Jugendlicher,
bei dem entweder aufgrund seiner Sprachkenntnisse
oder aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse zu vermuten ist, dass er sich in die
Lebensverhältnisse in Deutschland einfügen kann,
kann sich in unserem Land eine Zukunft aufbauen. Das
Ziel der geforderten positiven Integrationsprognose
dient dem Jugendlichen, der nicht aus seiner Heimat
herausgerissen werden soll, wenn die Prognose zeigt,
dass er in Deutschland keine Zukunft hat.
Als Integrationsbeauftragter der CDU/CSU-Fraktion weiß ich, dass Integrationspolitik erfolgreich und
praktikabel organisiert werden muss, sodass wir zu einem gedeihlichen Miteinander kommen. Wer das nicht
tut, wird den Menschen nicht gerecht. Nicht für alle
Menschen ist der Zuzug nach Deutschland der beste
Weg. Es ist weder für die Menschen noch für das Aufnahmeland praktikabel, die Möglichkeiten für den Zuzug losgelöst von der Möglichkeit einer erfolgreichen
Integration zu betrachten.
In einer Studie des Sachverständigenrats deutscher
Stiftungen für Integration und Migration befand von
1 220 befragten Drittstaatsangehörigen in Deutschland - also die Menschen, die von der Regelung betroffen sind - eine Mehrheit von 69,8 Prozent die von den
Grünen kritisierten Sprachanforderungen als hilfreich! Nur 3,3 Prozent nahmen an, dass die Anforderungen den neu zuwandernden Familienangehörigen
nicht helfen, sich von Anfang an in Deutschland zurechtzufinden.
Die Einzigartigkeit jeder familiären Situation bringt
es mit sich, dass in Einzelfällen der Nachzug eines
Kindes geboten ist, obwohl grundsätzlich kein rechtlicher Anspruch gegeben ist. Für diese Fälle existiert
eine Härtefallregelung in § 32 Abs. 4 AufenthG.
Die Grünen fordern nun statt der Berücksichtigung
einer besonderen Härte lediglich die Orientierung allein
am Kindeswohl. Wie bereits ausgeführt, dienen die geforderten Integrationsbedingungen bereits dem Kindeswohl.
Der Vollzug des Aufenthaltsgesetzes liegt in der
Kompetenz der Länder. Bei der Anwendung der Härtefallregelung ist jeder Sachbearbeiter an Recht und Gesetz gebunden. Er muss für seine Ermessensentscheidung alle Aspekte des Einzelfalls berücksichtigen.
Auch die Kritik an der Prüfung ausländischer Urkunden und der Möglichkeit, im Familiennachzugsverfahren das Verwandtschaftsverhältnis mittels DNSTest nachweisen zu lassen, zeigt, dass die Verfasser des
vorliegenden Antrags nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen der Antragsteller vertraut sind.
Der Vorwurf, es würden pauschal Zweifel an der
Echtheit von Urkunden geäußert, obwohl die Antragsteller keine Möglichkeit hätten, auf die Zuverlässigkeit des Urkundenwesens einzuwirken, zeigt das mangelnde Verständnis für den Sinn und Zweck einer
Urkundenprüfung. Es geht bei der Prüfung der Echtheit von Urkunden nicht um ein eventuelles Verschulden der Antragsteller, sondern um die Tatsache, dass
es Länder mit gravierenden Mängeln im Urkundenwesen gibt, die den Beweiswert der Urkunde tangieren.
Für diese Fälle bieten die Auslandsvertretungen im
Rahmen der Amtshilfe die Vermittlung eines Urkundenüberprüfungsverfahrens an.
Wenn dennoch ein entscheidungserheblicher Nachweis der Abstammung nicht erbracht werden kann, besteht die Möglichkeit eines freiwilligen DNS-Abstammungsgutachtens. Die Forderung, diesen freiwilligen
Nachweis nur noch als Ultima Ratio zuzulassen, verkennt, dass in einigen Fällen ein DNS-Beweis für die
Betroffenen leichter und schneller zu erbringen ist als
die vermeintlich weniger belastenden Beweismittel.
Ein Zwang zur Durchführung eines DNS-Abstammungsgutachtens besteht nicht.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vorliegende Antrag den praktischen Anforderungen an das
Nachzugsverfahren nicht gerecht wird und deshalb abzulehnen ist.
Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollen mit dem vorliegenden
Antrag erreichen, dass das Kindernachzugsrecht am
Kindeswohl ausgerichtet wird. Auch für uns ist das
Wohlergehen von Kindern von besonderer Wichtigkeit.
So fordern wir in unserem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und
Asylverfahrensrecht: Im Aufenthalts- und im Asylverfahrensgesetz wird klargestellt, dass bei der Rechtsanwendung das Wohl des Kindes ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist.“
In § 32 Abs. 2 AufenthG werden für den Nachzug
von Kindern über 16 Jahren besondere - die Nachzugsmöglichkeiten beschränkende - Bedingungen erhoben. Deutschland ist der einzige Staat in der Europäischen Union, der solchermaßen verfährt.
Es mag zunächst dahingestellt bleiben, ob die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
Drucksache 17/10279, eine befriedigende Auskunft
gibt, was wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse
angeht, nach denen über 16-jährige nachziehende Kinder mehr Probleme bei der Integration in Deutschland
aufwiesen als im Familienverband eingereiste Kinder.
Die vage Antwort, Kinder im schulpflichtigen Alter
integrierten sich oftmals besser als solche, die fast bis
ins Erwachsenenalter in einer anderen Kultur aufwüchsen, stellt meiner Ansicht nach eher eine schlichte
Behauptung dar als eine empirisch nachgewiesene Tatsache.
Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch das im vorliegenden Antrag von den Kolleginnen und Kollegen
vorgetragene Argument, dass das Spracherfordernis
des § 32 Abs. 2 AufenthG für den Nachzug eines Kindes über 16 Jahren, das Beherrschen der deutschen
Sprache - was laut den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz, AVwV-AufenthG, die
Stufe C 1 der kompetenten Sprachanwendung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen, GER, bedeutet -, wesentlich höher ist als das für
die Einbürgerung eines Ausländers geforderte Sprachniveau B 1 GER. Das ist auch in meinen Augen ein
Wertungswiderspruch.
Andererseits ist das Beherrschen der deutschen
Sprache gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG nur ein Erfordernis für die Einreise eines über 16-jährigen Kindes. Daneben kann der Nachzug auch gewährt werden, wenn
„gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner
bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse“ in
Deutschland wird einfügen können. Diese Alternative
setzt dann nicht mehr so gute Sprachkenntnisse voraus,
wenngleich Sprachkenntnisse auch hier Indizien für
eine positive Integrationsprognose sind. Laut den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz soll das dann angenommen werden können, wenn
das Kind in einem Mitgliedstaat der Europäischen
Union, des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder einem der in § 41 Abs. 1 Aufenthaltsverordnung genannten Staaten aufgewachsen ist. Warum sich Kinder aus Australien, Israel, Japan, Kanada,
der Republik Korea oder Andorra und Honduras leichter bei uns integrieren können als zum Beispiel türkische Kinder, vermag ich nicht nachzuvollziehen und
finde es auch vom Ansatz her diskriminierend. Insofern
ist auch diese Alternative des § 32 Abs. 2 AufenthG
eher eng.
Diese letztgenannten Voraussetzungen finden sich
allerdings wohlgemerkt nicht im Gesetz, sondern in
den Verwaltungsvorschriften. Der Gesetzestext selbst
ist hier nicht so restriktiv.
Der Forderung der Antragstellerinnen und -steller
nach einer Angleichung der Nachzugsansprüche von
subsidiär geschützten Personen an die von GFKFlüchtlingen können wir uns anschließen. Wir teilen
die Argumentation der Antragsteller auch dahin gehend, dass eine Gleichstellung von subsidiär geschützten Personen mit GFK-Flüchtlingen unter anderem
deswegen erfolgen muss, weil Deutschland im September 2011 die Neufassung der sogenannten Qualifikationsrichtlinie beschlossen hat, in der eben gerade die
Gleichbehandlung von GFK-Flüchtlingen mit Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, beschlossen wurde. Außerdem trifft die Aussage der Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zu, dass
„der Schutzbedarf von Personen mit Anspruch auf
subsidiären Schutz … häufig zeitlich begrenzt“ sei.
Dies ist, soweit mir bekannt, eine nirgends nachgewiesene Behauptung.
Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen wollen des Weiteren den Familiennachzug für
alle Personen mit einem humanitären Aufenthaltsrecht
öffnen, was bislang nicht geltendes Recht ist. Begründung hierfür war immer, dass der Aufenthalt dieser
Personen ein vorübergehender ist. Die Praxis hat aber
längst gezeigt, dass dies nicht zutrifft. Zudem muss
auch die Trennung der Familie eines sich mit einem
humanitären Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhaltenden Flüchtlings an Art. 6 GG gemessen werden. Die
gesetzliche Fixierung einer quasi unüberwindlichen
Trennung für diese Personengruppe erscheint im
Lichte des Art. 6 GG als nicht haltbar.
Allerdings vermag ich dem Antrag nicht zu entnehmen, wie der Anspruch konkret ausgestaltet werden
soll, also ob das Ergebnis eine Ermessens- oder Anspruchsnorm sein soll. Eine Anspruchsnorm bedürfte
wohl doch noch ein paar mehr und vor allem genauerer Voraussetzungen.
Unter Nr. II Lit. 1 Buchstabe f fordern die Kolleginnen und Kollegen, den Kindernachzug in den nicht von
den Abs. 1 bis 3 des § 32 AufenthG erfassten FallkonZu Protokoll gegebene Reden
stellationen allein am Kindeswohl zu orientieren und
nicht an einer im Einzelfall nachzuweisenden Härte.
Laut dem Gesetzestext ist das Kindeswohl - so wörtlich - bereits jetzt bei der Beurteilung einer besonderen Härte zu berücksichtigen.
Dies wird jedoch durch die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz verschärft,
wo es heißt, dass bei der nach § 32 Abs. 4 AufenthG zutreffenden Ermessensentscheidung „insbesondere das
Wohl des Kindes und die einwanderungs- und integrationspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen“ sind. Ich finde es schon problematisch, wenn ein Entscheider bei einem Antrag auf
Kindernachzug prüfen soll, ob der Nachzug dem Kindeswohl entspricht und außerdem einwanderungspolitisch gesehen Sinn macht. Sollte er zu dem Ergebnis
kommen, dass dies nicht der Fall ist, würde er dann gegen das Kindeswohl entscheiden?
Mir ist klar, dass wir hier keine Verwaltungsvorschriften entwerfen, aber mein Erstaunen über die vorhandenen wollte ich an dieser Stelle doch einmal geäußert haben.
Des Weiteren dringt die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen mit dem vorliegenden Antrag darauf, die
Durchführung von DNS-Abstammungstests an klare
Regeln zu binden und grundsätzlich nur in begründeten, nicht anders zu lösenden Einzelfällen zur Bestimmung der Familienzugehörigkeit anzuwenden. Insbesondere ist es ungerecht, einem Antragsteller, der alle
ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorgelegt
hat, mit dem generellen Hinweis zu begegnen, dass die
von Behörden seines Landes ausgestellten Urkunden
generell nicht glaubhaft seien. Das hat er schwerlich
zu vertreten. Aus Datenschutzgründen und Gründen,
die das Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschen
schützen, halten wir eine Einschränkung der Möglichkeit der Durchführung von DNS-Tests grundsätzlich
für unterstützenswert. Ich kann auch nicht erkennen,
dass solche Tests aufenthaltsrechtlich notwendig wären.
Schließlich soll mit dem Antrag der Anspruch auf
Kindernachzug auch zu einem getrennt lebenden Elternteil ermöglicht werden, wenn die Eltern das Sorgerecht gemeinsam ausüben und der andere Elternteil
zugestimmt hat. Abgesehen davon, dass der Begriff des
„alleinigen Sorgerechts“ in vielen Staaten so nicht
vorhanden ist, ist es in der heutigen Zeit bei der Vielzahl der verschiedenen Lebensentwürfe und Familienzusammensetzungen nicht mehr angebracht, die Entscheidung, wo ein Kind leben darf und wo nicht, von
dem alleinigen Sorgerecht abhängig zu machen. Vielmehr sollte auch hier das Kindeswohl im Mittelpunkt
stehen und die Zustimmung beider Eltern dazu, wo das
Kind am besten leben soll.
In vielen Fragen stimmen wir den im vorliegenden
Antrag erhobenen Forderungen zu. Einige sind uns jedoch noch etwas zu ungenau. Wir gehen davon aus,
dass sie in den Ausschusssitzungen und laufenden Beratungen konkretisiert werden.
Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Wir
sehen die Chancen einer durch Zuwanderung bereicherten Gesellschaft und wollen diese stärken.
Zuwanderer sind aber selbst auch klar gefordert.
Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das für
alle geltende Fundament unserer Gesellschaft.
Grüne, Linke und Sozialdemokraten wollen, wie sie
wieder einmal in Antragsform zeigen, etwas anderes:
Sie wollen die Abschaffung einer Deutschlernpflicht
für nachzugswillige Familienmitglieder. Damit werden
sie, wie immer mit solchen Anträgen zur Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland
erschweren, indem sie falsche Erwartungen wecken
und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördern.
Die Oppositionsparteien und vor allem Linke und
Grüne verwenden jeden beliebigen Vorgang aus der
Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwanderung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen für die
sozialen Sicherungssysteme und ansteigende Ausländerfeindlichkeit nehmen sie dafür billigend in Kauf.
Wer, wie die Grünen mit dem vorliegenden Antrag,
systematisch verhindern will, dass Menschen, die nach
Deutschland kommen, hier auch eine Lebensperspektive haben und Chancen entwickeln können, der schadet
vor allem diesen Zuwanderern. Er schadet überhaupt
der Öffnung Deutschlands für qualifizierte Zuwanderung.
Wir sollten alle so ehrlich sein, gemeinsam anzuerkennen, dass abgeschottete Migrantenmilieus ohne
jegliches Interesse an deutscher Sprache und Integration in Deutschland nicht zum friedlichen Zusammenleben in Deutschland beitragen.
Wer dann noch, wie die Grünen im vorliegenden
Antrag, trotz anerkannt fragwürdiger Urkundenlage in
bestimmten Ländern in jedem Fall eine Einzelfallprüfung verlangt und die Kosten des Anliegens der Einwanderer dem deutschen Steuerzahler aufbürden will,
der will durch uneingeschränkte Bürokratieaufblähung
jegliche Kontrolle der Einwanderung unterbinden.
Die Grünen freilich zielen auf eine nichtintegrierte
und daher im politischen Diskurs unmündige Menschenschar ab, die sie nach Möglichkeit trotzdem am
Wahlrecht teilhaben lassen wollen.
Wenn die Oppositionsparteien endlich nicht nur mit
Anträgen der vorliegenden Art um Migrantenstimmen
buhlen würden, sondern auch einmal die Anliegen des
friedlichen Zusammenlebens und der Bekämpfung der
Gettobildung aufgreifen wollten, wäre eine solche Initiative vielleicht ernst zu nehmen.
Wir Liberalen gestalten dagegen eine zukunftsträchtige Zuwanderungspolitik gemeinsam in der Koalition
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
mit der Union. Statt politischer Nachsicht mit Integrationsfehlleistungen einerseits und daraus resultierenden Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwanderer
andererseits wollen wir eine Steuerung der Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten
und gewichteten Kriterien, die die Integrationsziele
klar benennt und einfordert.
Wer dauerhaft hier leben und Bürgerrechte ausüben
will, muss Deutscher werden wollen. Die Voraussetzungen dazu gehören dabei gerade hinsichtlich der
zeitlichen Anforderungen auf den Prüfstand.
Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohne
Wenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen
auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen
und Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur „territorial“ nach Deutschland kommen, sondern in unserem Land und unserer Gesellschaft auch wirklich ankommen wollen.
Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oder
Linke, für bemitleidenswerte und unfähige Menschen,
denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet
werden kann und die auf Generationen hinaus mit dem
Unwort „Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden
sollen.
Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgen muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik
endlich positiv denken.
In dieser Hinsicht sagen natürlich auch wir: Kindernachzug ist ein wichtiges Thema. Aber wenn die
Antragsteller so tun, als würde das Kindeswohl beim
Nachzug missachtet, dann ist das einfach nicht hinnehmbar. Und die Antragsteller vergessen, dass es natürlich auch Missbrauchsmöglichkeiten gibt, die wir
im Blick behalten müssen.
Selbstverständlich muss man ständig prüfen, ob
man nicht etwas verbessern kann. Wir, FDP und CDU/
CSU, haben im Rahmen des Richtlinienumsetzungsgesetzes das Kindeswohl ganz klar in den Mittelpunkt gerückt - so stark wie keine Regierung zuvor.
Beispielhaft sei zudem erwähnt: Erstmals gibt es
dank der schwarz-gelben Koalition ein bundesgesetzliches Bleiberecht für Kinder und Jugendliche - unabhängig vom Status der Eltern.
Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für diejenigen Zuwanderer, die die Integration in Deutschland geschafft haben. Wir halten integrierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine große Bereicherung
unserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben. Sie können
stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind dankbar und
stolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben.
Die Grünen wollen ein Deutschland, in dem ethnisch klar voneinander segregierte Gruppen sprachlos
nebeneinanderher existieren.
Wir wollen ein Deutschland, in dem Menschen
- egal welcher Herkunft - friedlich miteinander leben
und sich über die Ziele ihres Zusammenlebens verständigen und Vorbehalte, Vorurteile und Ängste durch
Kommunikation abbauen können.
Das ist der Unterschied zwischen der rot-rot-grünen „Toleranz durch Ignoranz“ und der liberalen Kultur des Willkommens.
Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichst
umfassendes Recht auf Familienzusammenführung
ein, das insbesondere auch nicht von der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht werden darf. Die Linke fordert, dass die zahlreichen Einschränkungen des Menschenrechts auf
Familienzusammenleben in der Praxis endlich ohne
Wenn und Aber beendet werden. So wie die Gesetzeslage und die Verwaltungspraxis insgesamt von einer
generellen Abwehrhaltung, von Misstrauen, Unterstellungen und Generalverdacht geprägt sind, zeigt sich
auch beim Nachzug von minderjährigen Kindern ausländische Eltern dieser ({0})Geist der „Steuerung“,
und das meint vor allem „Begrenzung“ von Migration.
Auch wenn die Bundesregierung 2010 nach jahrelangem Verzögern den Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen hat, lässt dies leider
nicht darauf schließen, dass ihr das Kindeswohl im Zusammenhang mit der Migration tatsächlich am Herzen
liegt. Dagegen spricht bereits die Auffassung der Bundesregierung, dass die Rücknahme des Vorbehalts kein
Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetz
und insbesondere bezüglich der Frage der aufenthaltsrechtlichen Handlungsfähigkeit Minderjähriger
ab 16 Jahren bedarf. Die Beschränkung des Kindernachzugs auf das 16. Lebensjahr verhindert oft, dass
der Aufenthaltswechsel zu einem für den Jugendlichen
günstigeren Zeitpunkt erfolgen kann, also zum Beispiel
erst nach Abschluss einer Ausbildung. In jedem Fall
verhindert sie in vielen Fällen das Zusammenleben
von 16- und 17-jährigen Jugendlichen mit ihren
Eltern. Die Linke fordert auch die Berücksichtigung
von familiären Bindungen über die Kernfamilie hinaus, wie es zum Beispiel im EU-Freizügigkeitsrecht
der Fall ist, auch wenn diese Regelungen uns noch
nicht weit genug gehen.
Auch wenn § 32 des Aufenthaltsgesetzes, AufenthG,
und einige Stellen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, insbesondere bezüglich
der Familienzusammenführung, eine Kindeswohlprüfung beim Kindernachzug vorsehen - ein systematisch
und wirksam zu berücksichtigender Vorrang des Kindeswohls ist im Asyl- und Aufenthaltsrecht nicht verankert. Dass es letztlich wie beim Ehegattennachzug
auch um eine soziale Selektion geht, zeigt, dass schon
der theoretische Anspruch auf Leistungen des SGB II
Zu Protokoll gegebene Reden
die Familienzusammenführung verhindert - und das,
obwohl in Deutschland generell Familien und Alleinerziehende besonders von Armut bedroht sind. Bei Migrantinnen und Migranten und hierbei insbesondere
bei Ausländerinnen und Ausländern wissen wir, dass
zu den finanziellen noch ausländerrechtliche Probleme
hinzukommen, die ihnen das Leben schwer machen
({1}). Eine tatsächliche Inanspruchnahme von sozialen Leistungen kommt für viele gar nicht oder nur
teilweise infrage, weil das den weiteren Aufenthalt gefährden könnte oder die Betroffenen dies zumindest
fürchten müssen. Zwar wird der Bezug von Ausbildungsförderung bei der aufenthaltsrechtlichen Beurteilung inzwischen nicht mehr als „schädlich“ angesehen; ein indirekter Druck auf ausländische Kinder und
Jugendliche, längere Ausbildungen zu meiden, besteht
jedoch nach wie vor, weil sich das geringe oder fehlende Einkommen während einer Ausbildung oder des
Studiums negativ auf den Status insbesondere auch von
Familienangehörigen auswirken kann.
Auch die Verstöße gegen EU-Recht und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beim Kindernachzug sind eklatant. Insbesondere fehlt eine ernst
zu nehmende individuelle Einzel- und Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie es zum Beispiel im ChakrounUrteil des EuGH gefordert wurde, wenn auch nur eine
Nachzugsvoraussetzung nicht erfüllt ist. Den Nachzug
von Kindern zu ihren Eltern mit der Begründung zu
verhindern, dass der Lebensunterhalt um 20 Euro zu
niedrig liegt, ist eben nicht nur offenkundig unmenschlich, sondern auch ein Verstoß gegen EU-Recht.
Eine besondere ausländerrechtliche Schikane und
Diskriminierung ist im Gendiagnostikgesetz festgeschrieben, wonach ausländischen und binationalen
Familien weniger Schutzrechte zugestanden werden
als anderen Personen, die sich einem Gentest unterziehen. Die Regelungen zur Durchführung eines Abstammungstestes dienen ausschließlich der Feststellung
von biologischen Verwandtschaftsverhältnissen. Die in
§ 17 Abs. 8 des Gendiagnostikgesetzes enthaltene Sonderregelung beim Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses unter anderem im aufenthaltsrechtlichen
Verfahren zum Familiennachzug muss ersatzlos gestrichen werden; denn Migrantinnen und Migranten aus
über 40 Staaten sind von einer diskriminierenden
Praxis betroffen. Von ihnen werden Urkunden zum
Nachweis der Verwandtschaft nicht anerkannt und
auch andere behördliche Belege oftmals nicht akzeptiert. Den biologischen Abstammungsnachweis durch
einen DNA-Test für diese Menschen zum maßgeblichen
Kriterium für die Beurteilung der Familienbeziehung
zu machen, haben wir damals abgelehnt und lehnen
ihn heute ab; denn Kindern von sozialen Vätern wird
damit faktisch ihr Grundrecht auf Familienzusammenleben verwehrt. Beim Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses bei Staatsangehörigen aus sogenannten Problemstaaten mit - aus Sicht der
Bundesrepublik Deutschland - unzureichenden Urkundssystemen dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Im Zweifelsfall muss zum Beispiel
die Abgabe von Versicherungen an Eides statt zur Klärung der Familiensituation ausreichen, wenn keine gegenteiligen gesicherten Erkenntnisse vorliegen.
Im Zuwanderungsrecht hat das Kindeswohl grundsätzlich nur unzureichend Niederschlag gefunden,
ganz zu schweigen vom Vorrang des Kindeswohls. Die
UN-Kinderrechtskonvention verlangt eine vorrangige
Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft und
Status des Kindes. Die bisherigen Bundesregierungen
haben keine Abhilfe dafür geschaffen, die konventionswidrige Missachtung des Kindeswohls endlich zu beenden bzw. zu verhindern. Die Linke fordert deshalb
eine ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahrens-,
Asylbewerberleistungs- und Aufenthaltsgesetz. Die
Familienzusammenführung muss so gestaltet werden,
dass das Kindeswohl dabei Priorität hat. Das Recht
auf ein wohlwollendes, humanes und beschleunigtes
Verfahren muss in der Verwaltungspraxis umgesetzt
werden.
Den Antrag der Grünen begrüßen wir unabhängig
von unseren im Detail weitergehenden Forderungen,
weil er unstrittige Probleme und Einschränkungen des
Kindernachzugs aufzeigt und beseitigen will. Schade
ist nur, dass er so spät in der Legislaturperiode eingebracht wird; denn eine ernst zu nehmende, gründliche
Beratung dieses Antrags ist in der verbleibenden Zeit
bis zur Sommerpause wohl nicht mehr zu erwarten.
Im deutschen Recht wird der Kindernachzug durch
verschiedene Vorschriften erheblich erschwert. Probleme gibt es insbesondere bei dem Nachzug von über
16-jährigen Kindern sowie bei Kindern von Personen
mit einem humanitären Aufenthaltstitel und getrennt
lebenden Elternteilen, die die Personensorge gemeinsam ausüben.
Es ist Zeit, die familienfeindlichen Regelungen im
Nachzugsrecht zu überwinden und endlich die Interessen der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Ich
möchte im Folgenden auf einige unserer Vorschläge
eingehen.
Minderjährige ab dem 16. Lebensjahr müssen für
den Nachzug zu ihren hier lebenden Eltern entweder
Sprachkenntnisse oder sonstige Integrationsvoraussetzungen nachweisen. Die von den Kindern geforderten Sprachkenntnisse liegen sogar deutlich über den
Anforderungen für eine Einbürgerung. Dadurch werden der Nachzug und die Familienzusammenführung
stark erschwert und teilweise sogar verhindert.
Hinzu kommt, dass Kinder aus bestimmten Ländern
benachteiligt werden. Die Bundesregierung prognostiziert zum Beispiel bei Kindern aus Australien, Israel,
Japan, Kanada, der Republik Korea, Neuseeland und
den USA in der Regel gute Integrationsvoraussetzungen,
während bei Kindern aus anderen Staaten pauschal
schlechtere Integrationsvoraussetzungen vermutet werZu Protokoll gegebene Reden
den. Möglicherweise sind die Lernvoraussetzungen für
Kinder in den restlichen Staaten schlechter als bei den
eben aufgezählten. Jedoch kann niemand belegen,
dass die Kinder aus den nichtprivilegierten Staaten
später spezifische Integrationsprobleme aufweisen.
Das ist reinste Wahrsagerei und bedenklich im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot. Hinter jedem
Einzelfall stecken individuelle menschliche Schicksale.
Eine pauschale Betrachtung kann nicht infrage kommen.
Deutschland hat damit die härtesten Regeln innerhalb der Europäischen Union; denn kein anderes EULand hat diese Sonderregelungen für 16- bis 18-jährige
Kinder. Es ist verfehlt, für den Zuzug nach Deutschland höhere Sprachanforderungen zu stellen, als für
eine Einbürgerung erforderlich sind. Die Integrationsbedingungen für über 16-jährige Kinder beim Nachzug müssen aufgehoben werden.
Im deutschen Kindernachzugsrecht werden subsidiär geschützte Personen gegenüber Flüchtlingen
nach der Genfer Flüchtlingskonvention benachteiligt.
Dabei sollten beide Personengruppen nach der EUQualifikationsrichtlinie von 2011 gleichbehandelt
werden. Die Bundesregierung hat dieser Richtlinie
zwar zugestimmt, jedoch setzt sie den Beschluss nicht
um. Es gibt absolut keinen Grund die überfällige
Gleichstellung dieser Personengruppen nicht schon
heute umzusetzen. Deshalb fordern wir eine sofortige
Gleichbehandlung im Kindernachzug.
Nach geltendem Recht sind Personen mit bestimmten, insbesondere humanitären Aufenthaltstiteln vom
Kindernachzug ausgeschlossen. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 1987 klargestellt: Auch
nichtdeutsche Familienangehörige stehen nach Art. 6
Grundgesetz unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Der dauerhafte Ausschluss des Familiennachzugs ist ein gravierender Eingriff in das Recht
auf familiäres Zusammenleben. Wir gehen davon aus,
dass die Regelung grundrechtswidrig ist. Dem soll dieser Antrag abhelfen.
Darüber hinaus wird besonders der Nachzug von
Kindern getrennt lebender Elternteile in unzumutbarer
Weise erschwert. Sie dürfen grundsätzlich nur zu ihrem
Elternteil nachziehen, wenn dieser das alleinige Sorgerecht hat. Damit wird der Nachzug von Kindern aus
Ländern, die ein alleiniges Sorgerecht nach unserem
Verständnis nicht kennen, weitgehend ausgeschlossen.
Zwar sieht das Aufenthaltsrecht noch eine Härtefallregelung vor. Wir wissen aber alle, dass es praktisch unmöglich ist, die zuständigen Behörden von einer besonderen Härte zu überzeugen. Auch hier gibt es
dringenden Änderungsbedarf. Maßgeblich sollte allein sein, dass der zusammenführende Elternteil sorgeberechtigt ist und der andere Elternteil dem Nachzug
zugestimmt hat.
Besonders wichtig ist uns schließlich eine Öffnung
des Kindernachzugs im Ermessen. Bei den Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz hatten wir damals
mit der SPD in die Härtefallregelung aufgenommen,
dass das Kindeswohl und die familiäre Situation vorrangig berücksichtigt werden sollten. Die Bundesregierung hat die Absicht des damaligen Gesetzgebers
jedoch konterkariert. Nach der von ihr entworfenen
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz soll der Rechtsanwender - gleichberechtigt
neben dem Kindeswohl - den auf „Steuerung und
Begrenzung“ ausgerichteten „integrations- und einwanderungspolitischen Belangen der Bundesrepublik
Deutschland“ Geltung verschaffen. Der Kindernachzug im Ermessen ist dadurch weitgehend zum Erliegen
gekommen. Wir schlagen daher vor, den Kindernachzug nicht vom Vorliegen einer besonderen Härte abhängig zu machen und das Ermessen der zuständigen
Behörden allein am Kindeswohl zu orientieren.
Wir müssen die unzumutbaren Steine auf dem Weg
zur Familienzusammenführung beseitigen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, das
Kindernachzugsrecht am Kindeswohl auszurichten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12395 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen,
Freitag, den 15. März 2013, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen eine freundliche Nacht.