Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und rufe auch ohne weiteren
Verzug die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Verbraucherpolitischer Bericht 2012
- Drucksache 17/8998 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Moderne verbraucherbezogene Forschung
ausbauen - Tatsächliche Auswirkungen ge-
setzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen
- Drucksachen 17/2343, 17/4891 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Dr. Erik Schweickert
Ulrike Höfken
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elvira DrobinskiWeiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherpolitik neu ausrichten - Verbraucherpolitische Strategie vorlegen
- Drucksachen 17/8922, 17/9602 Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Dr. Erik Schweickert
Nicole Maisch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Ilse Aigner.
({3})
Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident, liebe
Kolleginnen und Kollegen, aber auch liebe Verbraucherinnen und Verbraucher! Bei der Diskussion um einen
verbraucherpolitischen Bericht kann man natürlich nicht
an den aktuellen Geschehnissen der vergangenen Tage
vorbeigehen. Millionen von Verbraucherinnen und Verbrauchern in ganz Europa wurden verunsichert; denn als
Rindfleisch deklariertes Pferdefleisch ist in verarbeiteten
Lebensmitteln gefunden worden.
Mitte Januar sind erste Medienberichte über Funde in
Großbritannien und Irland bekannt geworden. Am
29. Januar gab es erste Hinweise, dass es auf dem Festland Europas angekommen ist. Am 30. Januar hat das
Ministerium die Länder informiert und gebeten, verstärkt auch auf Pferdefleisch zu prüfen. Am 12. Februar
erreichte uns die Meldung, dass falsch gekennzeichnete
Produkte auch in Deutschland auf den Markt gelangt
sind, und am Montag, dem 18. Februar, haben Bund und
Länder gemeinsam, darunter auch Sozialdemokraten
und Grüne, den Nationalen Aktionsplan verabschiedet.
Das verstehe ich unter zügiger Krisenreaktion.
({0})
Ich bin froh, sehr geehrte Frau Prüfer-Storcks, dass das
seitens der Länder gemeinsam durchgeführt wurde nicht im Parteienstreit, sondern im Schulterschluss.
Wichtig ist, dass wir über die Ausmaße dieses Skandals Klarheit schaffen. Wichtig ist auch, dass wir jene
Hintermänner zur Rechenschaft ziehen, die diesen Betrug zu verantworten haben, und dass wir alles tun, um
zu verhindern, dass sich ein solch dreister und skandalöser Etikettenschwindel in Zukunft wiederholt.
Meine Damen und Herren, damit das klar gesagt ist:
Die Verbraucher sind Opfer des Skandals, nicht die großen Handelsketten.
({1})
Das muss festgehalten werden. Der Handel steht hier in
der Verantwortung. Er ist zur Qualitätssicherung verpflichtet; das ist übrigens auch klar geregelt. Dieses System hat offensichtlich versagt. Deshalb werden wir
gemeinsam mit den Ländern, die für die Lebensmittelüberwachung zuständig sind, die Kontrollsysteme der
Supermarktketten durchleuchten. Der Handel darf sich
hier nicht aus der Verantwortung stehlen; das lasse ich
auch nicht zu.
({2})
Als Nächstes werde ich mich am Montag beim Ministerrat in Brüssel dafür starkmachen, dass endlich die
Herkunftskennzeichnung verpflichtend kommt.
({3})
Bisher gab es nur Absichtserklärungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, aber kein klares Konzept.
({4})
Aber auch eine Herkunftskennzeichnung - das muss gesagt sein, meine sehr geehrten Verbraucherinnen und
Verbraucher - hätte diesen Betrug nicht verhindert.
({5})
Trotzdem machen wir, Deutschland und Frankreich, jetzt
Tempo. Übrigens habe ich vorgestern mit dem Kollegen
aus Frankreich telefoniert und gestern auch mit dem zuständigen Kommissar.
({6})
Die Herkunftskennzeichnung wird kommen, und zwar
verpflichtend und europaweit.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen bei Lebensmittelkrisen, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, waren immer groß, aber keinesfalls vergleichbar. Ob Dioxinskandal bei Futtermitteln,
ob die Tragödie um Ehec-Erreger in Sprossen, ob die
Reaktorkatastrophe in Fukushima, ob Noroviren in Kindertagesstätten oder falsch deklarierte Lebensmittel unsere Vorgehensweise war immer absolut klar und erfolgte nach einem richtigen Muster: zuerst Aufklärung,
dann Verbraucherinformation und schließlich Konsequenzen ziehen. Wir ziehen die Konsequenzen, damit
sich das, was wir in diesem Fall erleben mussten, nicht
wiederholt.
Was wir angekündigt haben, das haben wir auch umgesetzt, und zwar Punkt für Punkt.
({8})
Das ist die Linie der christlich-liberalen Verbraucherpolitik, Verbraucherpolitik von A bis Z; das nehmen wir
auch wörtlich.
({9})
Gern buchstabiere ich Ihnen die Ergebnisse meiner Verbraucherpolitik durch.
A wie Anlegerschutz: mehr Transparenz durch die
Einführung von Produktinformationsblättern, mehr Kontrolle über die Berater und mehr Licht im Graubereich
des Kapitalmarktes.
B wie Buttonlösung: Gegen Kostenfallen im Internet
haben wir die Bestätigungsregelung frühzeitig umgesetzt.
({10})
- Vor der Europäischen Union.
C wie Charta für Landwirtschaft und Verbraucher:
Auf der Basis eines umfassenden Dialogs haben wir
Ziele und Maßnahmen für die Agrarpolitik benannt.
({11})
D wie Datenschutz im Internet durch Aufklärung und
klare Regelungen auf europäischer Ebene, an die sich
künftig auch Anbieter außerhalb Europas halten müssen.
E wie Energiepreise: Die Energiewende ist unsere Zukunft. Aber damit die Verbraucherpreise nicht durch die
Decke schießen, haben wir in der Förderung nachgesteuert, und zwar mehrfach gegenüber den Vorschlägen der
Grünen, und wir werden weiter nachsteuern.
({12})
F wie Futtermittelüberwachung: Wir haben die Lehren aus dem Dioxinskandal gezogen, den Aktionsplan
Punkt für Punkt umgesetzt und damit den Verbraucherschutz in der Futtermittelkette deutlich verbessert.
({13})
G wie Geldautomatengebühren: Seit 2011 gibt es
Transparenz. Die Gebühren werden vor dem Abheben
angezeigt, und seitdem sinken auch die Kosten.
({14})
H wie Honorarberatung - gestern in erster Lesung beraten -: Mit ihr schaffen wir eine Alternative zur Provisionsberatung, sodass Bankenkunden künftig noch mehr
Wahlmöglichkeiten haben.
I wie IN FORM, unsere Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung. Sie bewegt in Deutschland
viel.
({15})
J wie juristische Expertise, die wir über die Stiftungsprofessur für rechtlichen Verbraucherschutz an der Universität Bayreuth unterstützen.
K wie Klarheit und Wahrheit: Die neue Lebensmittelinformationsverordnung schafft mehr Transparenz bei
Kalorien, Nährstoffen, Lebensmittelimitaten und Allergien.
L wie lebensmittelklarheit.de. Das von uns geförderte
Internetportal ist ein großer Erfolg.
M wie Mobilfunkgebühren, die wir über die
Roaming-Verordnung europaweit und mit neuen Preisobergrenzen deutlich gesenkt haben - ein großer Erfolg
für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({16})
N wie Netzwerk Verbraucherforschung, damit wir
politische Entscheidungen auch auf wissenschaftlichen
Sachverstand gründen können.
O wie Online-Materialkompass, ein neues Instrument
für Lehrerinnen und Lehrer zur Orientierung bei der
Auswahl von Unterrichtsmaterialien zur Verbraucherbildung.
P wie Preismeldesystem für Benzin, sodass die Verbraucher künftig wissen, wo es günstig und wo es verhältnismäßig teuer ist. Das wurde vorgestern im Kabinett beschlossen.
({17})
Q wie Qualitätsstandards für Ernährung, von der Kita
bis zum Pflegeheim. Die Zertifizierung schafft Sicherheit.
({18})
R wie Regionalfenster: Die Modellregionen sind benannt, und die ersten Produkte stehen in den Regalen.
S wie Stiftung Warentest: 50 Millionen Euro zusätzliches Stiftungskapital und weitere 1,5 Millionen für neue
Aufgaben im Bereich der Finanzprodukte.
({19})
T wie Telekommunikationsgesetz: mehr Rechte für
Verbraucher bei Umzug, Anbieterwechsel oder Vertragslaufzeiten, bis hin zu kostenlosen Warteschleifen.
Das alles sind große Erfolge. Ich weiß, dass das wehtut.
({20})
U wie unlautere Telefonwerbung, ein Problem, das
wir ebenfalls angepackt haben und bei dem wir weitere
Schritte gehen werden.
V wie Verbraucherinformationsgesetz: bessere,
schnellere und kostengünstigere Auskünfte für alle Bürger.
W und Y wie Watch Your Web: 1 Million jugendliche
Nutzer ist jetzt besser informiert über Chancen und Risiken im Internet.
Dazwischen steht das X. Wir machen den Menschen
und den Verbrauchern kein X für ein U vor, ein alter,
aber guter Leitsatz für Verbraucherpolitik.
({21})
Abschließend Z wie „Zu gut für die Tonne“, unsere
erfolgreiche Kampagne gegen die Verschwendung von
Lebensmitteln und zur Schonung wertvoller Ressourcen.
Das ist erfolgreiche Verbraucherpolitik von A bis Z.
({22})
Leider ist das Alphabet nicht länger, und leider ist auch
meine Redezeit nicht länger. Sonst könnte ich noch mehr
auflisten. Nur noch so viel, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Nehmen Sie
sich einfach einmal die Zeit, und studieren Sie die rund
50 Seiten des Verbraucherpolitischen Berichts! Lesen
Sie den Bericht, bevor Sie ihn kommentieren!
({23})
Dann werden Sie zugeben müssen: Die Bundesregierung
hat für den Verbraucherschutz mehr getan als jede andere Bundesregierung zuvor. Das ist erfolgreiche Politik.
({24})
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein ehrliches Alphabet hätte begonnen mit A wie
Ankündigen, B wie Brechen und hätte mit Z wie Zaudern geendet.
({0})
Eines ist ganz klar: Ilse Aigners Tage als Verbraucherschutzministerin gehen zu Ende, wie wir wissen: freiwillig, weil sie nicht mehr für den Deutschen Bundestag
kandidiert. Verdient hätte sie das Ende für ihre unterirdische Bilanz als Ministerin.
({1})
Es ist wie in der gesamten Zeit: Ilse Aigner ist vor allem
als Eigenschutzministerin unterwegs. Sie präsentiert uns
einen Aktionsplan, wieder einmal. Der wievielte eigentlich? Auf zehn Punkte im Aktionsplan sind Sie nur gekommen, weil die Länder Ihnen zusätzliche aufgedrückt
haben. Dafür war auch nicht viel Fantasie notwendig;
denn die meisten Punkte standen schon in früheren Aktionsplänen und sind nie umgesetzt worden. Das Spielchen der Ministerin ist immer das gleiche - sie hat es so
oft gemacht, dass es nun nicht mehr wirkt -: mit Scheinmaßnahmen darüber hinwegzutäuschen, dass die eigentlichen Schwachstellen nicht beseitigt werden sollen.
Ein paar Zitate aus den Medien der letzten Tage. Die
Welt, die nicht unbedingt als CDU/CSU-kritisch gilt,
schreibt: „selbstherrliche Ministerin“. Weiter heißt es
wörtlich:
Der Abend bei Frank Plasberg zeigte eindrucksvoll,
wie hart es sein muss, Ilse Aigner zu sein und
gleichzeitig anderen Menschen gefallen zu müssen.
Wie viel Kraft es kostet, sich krampfhaft volksnah
zu geben und dennoch der Lobby den Hof zu machen.
Spiegel Online hat es kürzer auf den Punkt gebracht:
„Ministerin für Aktionismus“. Ich glaube, das trifft es
ziemlich gut.
({2})
Kommen wir zu dem, was Sie rund um den Pferdefleischskandal angekündigt haben. Sie wollen jetzt prüfen, ob Betrug wie Umetikettierungen gemeldet werden
muss.
({3})
Warum muss das eigentlich geprüft werden? Ist es nicht
selbstverständlich, dass Betrug gemeldet werden muss?
Deswegen frage ich Sie klipp und klar: Frau Aigner,
wollen Sie genauso wie die SPD eine private Meldepflicht, und können Sie sie dann gegen die Lobbyisten
innerhalb und außerhalb Ihrer Koalition durchsetzen, ja
oder nein?
Sie wollen prüfen, ob die Behörden die Bürger informieren müssen. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit,
dass Behörden über Erkenntnisse informieren, und das
gehört endlich in die deutschen Gesetze.
({4})
Deswegen auch hier die Frage, klipp und klar: Sind Sie
für die Informationspflicht der Behörden, Frau Aigner,
und können Sie es diesmal in Ihrer Koalition und außerhalb der Koalition gegen die Lobbyisten durchsetzen, ja oder nein? Nicht wieder ein einfaches Versprechen!
Sie haben hier gerade begrüßt, dass die Europäische
Kommission bei der Herkunftskennzeichnung schneller
vorankommen will. Sie hätten mit Frankreich telefoniert,
haben wir gerade gehört. Ist es nicht so, dass, als das Europäische Parlament diese verbindliche Herkunftskennzeichnung verabschieden wollte, Sie dies in Brüssel gestoppt haben, und dass Sie, als die SPD im letzten Jahr
gefragt hat, wann die Herkunftskennzeichnung kommt,
geantwortet haben: „Ich halte sie nicht für praktikabel;
ich bin dagegen“? Sind Sie also für die Herkunftskennzeichnung, und werden Sie sie gegen die Lobbyisten innerhalb und außerhalb Ihrer Koalition durchsetzen, ja
oder nein? Die Fragen sind manchmal ganz einfach,
Frau Aigner.
Dann gaukeln Sie vor, Sie seien für eine transparente
Kennzeichnung, ob das Produkt aus der Region stammt.
Was Sie vorlegen, ist aber eine Lösung, mit der
Schwarzwälder Schinken aus Dänemark stammen kann
oder bei der eine Molkerei aus Mecklenburg-Vorpommern auf die Packung „von der Küste“ schreiben kann,
die Milch aber aus Holland stammt.
({5})
Deswegen auch hier die Frage: Sind Sie wie die SPD für
eine echte Regionalkennzeichnung, und können Sie sie
dann gegen die Lobbyisten innerhalb und außerhalb Ihrer Koalition durchsetzen, ja oder nein, Frau Aigner?
Der letzte Punkt: Wer deckt denn Lebensmittelskandale in der Regel auf?
({6})
Es sind mutige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die sich an die Öffentlichkeit wenden.
({7})
Ihr Vorgänger Horst Seehofer hat dem Lkw-Fahrer, der
den Gammelfleischskandal aufgedeckt hat, die Verdienstplakette des Ministeriums überreicht; er ist danach
arbeitslos geworden. Nach wie vor verweigert die Mehrheit im Deutschen Bundestag ein Gesetz zum Schutz
solcher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bei der
letzten Debatte hat der damals anwesende Fraktionsvorsitzende Volker Kauder hineingerufen:
({8})
Wenn Sie das machen, dann führen Sie die Blockwarte
wieder ein! - Er hat diesen Begriff aus der Nazizeit dafür
verwendet. - Sind Sie für einen gesetzlichen Schutz von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die die Öffentlichkeit warnen, ja oder nein, Frau Aigner?
({9})
Das wollen wir wissen.
({10})
Das „Schwarzbuch Ilse Aigner“ ist lang. Ein paar
Kapitel daraus: In Bezug auf den Finanzmarkt wurde
durchgehender Verbraucherschutz versprochen. Der
Faktencheck: Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht darf nur begrenzt Verbraucherschutzaufgaben wahrnehmen.
({11})
Angekündigt von Ilse Aigner wurden anonyme Testkunden bei Banken. Faktencheck: Versprechen gebrochen.
Digitale Welt: Versprochen wurde ein Gesetz gegen
Abmahnabzocke, bei der skrupellose Rechtsanwälte Familien mit superteuren Abmahnungen für kleinste Vergehen überziehen, ob absichtlich oder unabsichtlich passiert. Der Faktencheck: Über 15 Monate streitet sich
Schwarz-Gelb über einen Entwurf. Angeblich soll
nächste Woche einer kommen, der, wie der erste Überblick zeigt, Dutzende Schlupflöcher für die Abmahnmafia enthält. In diesen 15 Monaten hat es Zehntausende
zusätzliche Opfer gegeben.
Faktencheck Datenschutz: Stiftung Datenschutz angekündigt und gescheitert, auf EU-Ebene bremsend, Rückschritte beim Arbeitnehmerdatenschutz, keine Antwort
auf die Herausforderung durch Netzwerke wie Facebook.
Das Kapitel Verkehr: Versprochen war eine einheitliche Schlichtungsstelle für Verkehr, damit Kunden zu ihren Ersatzleistungen kommen. Was haben wir? Keine
Schlichtung für Busse, keine Schlichtung für Schiffe,
({12})
drei Schlichtungsstellen für den Flugverkehr, je nachdem, ob über Internet oder nicht über Internet gebucht
wurde - Verwirrung pur für die Kunden.
Bei Gesundheit findet die Verbraucherschutzministerin gar nicht statt. Sind Sie nicht der Meinung, dass die
Patientinnen und Patienten zum Beispiel vor Übervorteilung bei individuellen Gesundheitsleistungen geschützt
werden müssen, Frau Aigner? Werden Sie sich einmischen, ja oder nein?
({13})
Die Bilanz, die Sie auch mit diesem Verbraucherschutzbericht vorgelegt haben, ist inakzeptabel. Sie haben noch wenige Monate vor sich, bevor Sie sich freiwillig aus der Bundespolitik verabschieden. Nutzen Sie
doch die Zeit, und machen Sie aus einem Berg von Ankündigungen wenigstens einen Hügel von Taten! Das
würde etwas von Ihnen im Deutschen Bundestag hinterlassen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Erik Schweickert für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kelber,
Verbraucherschutzpolitik ist bei uns keine Nischenpolitik mehr, wie es bei Ihnen war. Dafür hat diese schwarzgelbe Bundesregierung gesorgt; denn wir haben geliefert. Das zeigt auch dieser Verbraucherpolitische Bericht, wenn Sie ihn einmal durchgelesen hätten.
({0})
Die Kollegen der SPD, die in ihrem Antrag eine Neuausrichtung der Verbraucherpolitik fordern, möchte ich
zu Beginn meiner Rede mitnehmen in die Zeit der Vorgängerregierungen, in die Zeit von Rot-Grün, als Sie mit
Gerhard Schröder, dem Herrn von Gazprom, den Kanzler stellten. Wie sah denn da Ihre verbraucherpolitische
Strategie aus? Sie haben zugeschaut, als die Verbraucher
über kostenintensive Warteschleifen von Servicehotlines
abgezockt wurden. Sie haben zugeschaut, als Internetbetrüger arglose Verbraucher mit falschen Versprechungen
in Kostenfallen haben laufen lassen.
({1})
Sie haben zugeschaut, wenn Call-by-call-Dienste ihre
Hotlines morgens mit 2 Cent beworben haben und
abends mit 2 Euro pro Minute abrechneten. Sie haben
zugeschaut und mitgemacht, wenn immer spekulativere
und umständlichere Finanzprodukte auf den Markt gekommen sind. Hans Eichel ist der Vater der Hedgefonds.
Sie haben aber nicht nur zugeschaut, sondern auch zugelassen, dass Anleger mangels Transparenz über das Anlagerisiko getäuscht wurden oder zumindest im Unklaren gelassen wurden.
({2})
Daran hat übrigens auch Ihr Peer Steinbrück als Finanzminister nichts geändert; er hat einfach nur zugeschaut.
Sie haben auch zugeschaut, wie bei der EU eine Spielzeugrichtlinie auf den Weg gebracht wurde, welche die
Grenzwerte für Weichmacher auf einem viel zu laschen
Niveau festgelegt hat.
({3})
Zuschauen, das war Ihre Strategie.
({4})
Unsere Strategie ist Handeln. Verbraucherschutz ist
Wirtschaftspolitik für jedermann und ein essenzielles
Bürgerrecht.
({5})
Sie machen Schaufensterpolitik. Das sehen wir bei jedem Ihrer Anträge. Wir aber lösen die Probleme der Verbraucher, bei denen Sie zugeschaut haben.
({6})
Wir können einmal darüber reden, was die Besserwisseroppositionsparteien in ihren Anträgen vorschreiben
wollen, welches Produkt moralisch gut ist und welches
nicht. Unsere Verbraucherpolitik ermöglicht den Verbrauchern selbstbestimmte Entscheidungen. Schwarzgelbe Verbraucherpolitik sorgt für faire Rahmenbedingungen, ohne die Menschen zu bevormunden.
({7})
Wir brauchen Transparenz bei den Produkten und
Dienstleistungen. Das hat der letzte Skandal gezeigt. Wir
haben dafür gesorgt, dass die Schlupflöcher für Betrüger
und Abzocker geschlossen werden; denn schwarze
Schafe schädigen nicht nur die Verbraucher, sondern
auch die guten und seriösen Unternehmen.
Welche Projekte haben wir umgesetzt? Kostenfallen
im Internet sind Vergangenheit, dank Schwarz-Gelb. Mit
dem sogenannten Internetbutton müssen die Verbraucher
seit dem 1. August 2012 explizit auf die Kostenpflichtigkeit eines Angebots hingewiesen werden.
({8})
Bei Vertragsabschluss müssen alle Kosten vorliegen.
Das bedeutet mehr Transparenz und ist ein Sicherheitsnetz gegen Abzocke bei Internetabofallen. Wir haben
das beschlossen.
Warteschleifen werden kostenfrei, dank SchwarzGelb. Wir Liberale sind im Wahlkampf 2009 mit dem
Slogan angetreten: Leistung muss sich lohnen. - Wir haben dafür gesorgt, dass dieser Grundsatz auch bei Servicehotlines gilt. Während Ihrer Regierungszeit waren
doch die Kosten für die Warteschleife mitunter deutlich
höher als die Kosten für die erbrachte Serviceleistung.
Wir haben das geändert. Wir haben das Telekommunikationsgesetz überarbeitet. Verdient werden darf ab 1. Juni
dieses Jahres erst, wenn eine Serviceleistung erbracht
wurde. Das Geschäftsmodell „Warteschleife“ hat
Schwarz-Gelb beendet.
({9})
Beim Call-by-Call gibt es statt einer teuren Rechnung
nun Preistransparenz, ebenfalls dank Schwarz-Gelb;
denn durch die Pflicht zur Preisansage wird keine Verschleierung der Gesprächskosten zugelassen. Es wird
keine irreführende Werbung mehr möglich sein.
({10})
Anbieterwechsel bei Telekommunikationsleistungen
innerhalb eines Tages. Herr Kelber, Sie haben zugeschaut, als Kunden wochenlang ohne Telefonanschluss
waren. Wir haben dafür gesorgt, dass der Wechsel innerhalb eines Tages erfolgen muss. Das ist schwarz-gelber
Verbraucherservice.
An der Zapfsäule wird es mehr Preistransparenz und
Wettbewerb geben, dank Schwarz-Gelb. Die Tankstellenpreise werden auf unsere Initiative hin künftig in
Echtzeit per Handy-App oder Navi abrufbar sein.
({11})
Der Verbraucher hat endlich die Informationsmacht, herauszufinden, wo die günstigste Tankstelle ist. Damit
werden die Preise durchschaubar, und die Preisspirale
wird nach unten angeregt.
({12})
Beim Anlegerschutz haben wir gehandelt. Sie haben
das vorhin nicht richtig ausgeführt. Wir haben Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht, in denen die Risiken und Chancen einer Anlage zusammengefasst sind.
Die Verkäufer müssen ihre Sachkunde nachweisen - das
war bei Ihnen auch nicht so -, und zwar egal, ob bei sie
bei einer Bank arbeiten oder als freie Vermittler von Finanzprodukten. Dafür haben wir gesorgt.
Die Hedgefonds waren doch zu Ihrer Regierungszeit
weniger reguliert als die Krümmung einer Gurke; darum
haben Sie sich eher gekümmert. Das Verdienst von
Schwarz-Gelb in diesem Bereich ist, dass wir es umgedreht haben: Der sogenannte Graue Kapitalmarkt unterliegt nun Transparenzpflichten, die mit dem Aktienmarkt
vergleichbar sind.
({13})
Herr Steinbrück hat nur die Banker ernst genommen, für
die er heute Vorträge hält; Schwarz-Gelb nimmt die Verbraucher ernst.
({14})
Herr Kelber, was Sie zur BaFin gesagt haben, stimmt
auch nicht. Wir haben dafür gesorgt, dass es bei der
BaFin einen neu geschaffenen Verbraucherbeirat als Beschwerdestelle gibt, um auch hier die Rechte der Verbraucher durchsetzen zu können.
Unser Herz schlägt im wahrsten Sinne des Wortes
auch für die kleinen Verbraucher: Kinderspielzeug muss
zukünftig sicher sein, und dank Schwarz-Gelb wird es
dies auch sein. Als ich vor fast vier Jahren in den Bundestag eingezogen bin, waren die Regelungen zum Kinderspielzeug extrem lasch.
({15})
Sie müssen doch zugeben, dass sich diese Bundesregierung gegen das gewehrt hat, was zur Zeit der letzten Koalition auf den Weg gebracht wurde. Die Grenzwerte für
bestimmte Substanzen wären durch die EU-Spielzeugrichtlinie erhöht worden. Wir lassen das nicht zu,
weil klar ist, dass hier Gesundheitsgefahren für die
Kleinsten bestehen. Wir handeln nicht nur, sondern sind
proaktiv: Wir ziehen vor den Europäischen Gerichtshof;
({16})
wir haben die Europäische Kommission verklagt. Das ist
Verbraucherpolitik der Marke Schwarz-Gelb, meine Damen und Herren.
({17})
Sie sollten bitte zur Kenntnis nehmen, dass der effiziente Verbraucherschutz dieser Regierung das Vertrauen der Verbraucher in die redlichen Unternehmen gestärkt hat.
Jetzt blinkt das Licht am Pult, das auf das Ende meiner Redezeit hinweist. Ich denke, dass es nicht kaputt ist,
Herr Präsident.
({18})
Nein, es funktioniert wieder einmal tadellos.
Dann komme ich zum Schluss und fasse zusammen.
Wenn Sie sich mit unserer Verbraucherschutzpolitik beschäftigen, dann werden Sie feststellen: Wir haben die
Abzocke gestoppt. Wir haben die Transparenz in verschiedenen Bereichen gefördert. Der informierte Verbraucher ist heute mehr denn je Realität. Das ist die
schwarz-gelbe Erfolgsbilanz, Herr Kelber.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute in der Kernzeit sehr ausführlich zum Verbraucherpolitischen Bericht
sprechen. Denn ich denke, angesichts steigender Strompreise, steigender Mieten, ungebetener Werbung am Telefon, Abzocke im Internet oder bei den Gaspreisen und
erst recht angesichts des neuen Lebensmittelskandals
müssen wir dem Thema Verbraucherpolitik endlich mehr
Aufmerksamkeit schenken; das fordern wir Linke schon
lange.
({0})
Die Grundlage, die die Regierung dafür anbietet, ist
allerdings mehr als dürftig: Auf gut 50 Seiten werden
dort angebliche Erfolge gefeiert. Ich finde, man könnte
ein ganzes Buch über die Versäumnisse dieser Regierung
in der Verbraucherpolitik schreiben.
Was diese Regierung in der Verbraucherpolitik wirklich gut kann, ist das Ankündigen von Projekten, das Erstellenlassen von Gutachten und das Erteilen unverbindlicher Prüfaufträge. Ehrlich gesagt, muss ich leider auch
angesichts der aktuellen Debatte zum Pferdefleischskandal zu einem solchen Ergebnis kommen. Meine Kollegin, Frau Binder, wird gleich ausführlich darauf eingehen. Aber eines möchte ich nach Ihrer Rede, Frau
Ministerin, schon sagen: Sie haben kein ordentliches
Verbraucherinformationsgesetz und kein ordentliches
Tierschutzgesetz auf die Reihe bekommen. Sie haben
unzureichende Konsequenzen aus den letzten Lebensmittelskandalen gezogen. Die Neuordnung der Lebensmittelkontrolle steht aus; die Debatte darüber führen wir
doch schon seit Jahren. Das föderale System der Lebensmittelkontrolle wird den global agierenden Konzernen
einfach nicht mehr gerecht. Das heißt, es gibt politische
Versäumnisse in der Verbraucherpolitik, aber Sie stellen
sich hier hin und drücken auf die Tränendrüse. Ich finde,
das wird der Dimension dieser Auseinandersetzung
überhaupt nicht gerecht.
({1})
Ich möchte auf die Versäumnisse der Regierung und
von Frau Ministerin Aigner im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes eingehen. Nehmen wir beispielsweise das Thema der überhöhten Dispozinsen. Wir
haben nach wie vor die Situation, dass sich die Banken,
die in der Kreide stehen, ihr Geld zu einem sagenhaft
niedrigen Leitzins von 0,75 Prozent leihen können und
es den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu einem
Zinssatz von im Schnitt 12 Prozent weitergeben. Das
sind wirklich unsägliche Gewinnmargen, die auf Kosten
der schwächsten Verbraucherinnen und Verbraucher gehen. Aber was tut die Ministerin? Sie haben die Bankenchefs zum Kaffeetrinken eingeladen und diverse Presseerklärungen abgegeben, in denen Sie sagen, dass Sie das
unmöglich finden; aber in der Praxis ist nichts passiert.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist kein müder Cent dabei herausgekommen. Ich muss sagen, ich
finde das einfach beschämend.
({2})
Nehmen wir die Tatsache, dass die Verbraucherzentralen seit vielen Jahren gnadenlos unterfinanziert sind.
({3})
Frau Aigner hatte die in der Tat gute Idee - die haben wir
alle unterstützt -, dass man die Kartellstrafen der Unternehmen der Verbraucherarbeit zur Verfügung stellen
kann. Die Umsetzung dieser Idee in die Praxis kann ich
einfach nicht erkennen.
Nehmen wir als Beispiel den Schutz der Kunden vor
Falschberatung bei Banken. Außer diesen Beipackzetteln haben Sie hier nichts zustande gebracht. Was wir ei27760
gentlich bräuchten, nämlich einen Finanz-TÜV, der dafür sorgt, dass die Schrottpapiere erst gar nicht auf den
Markt kommen, steht aber noch aus. Das ist kein verantwortungsvoller Verbraucherschutz im Bereich der Finanzwirtschaft.
({4})
Frau Ministerin, Sie haben nicht verstanden, worum
es geht. In der Politik zählen nicht die Ankündigungen
und die großen Worte, es zählen am Ende immer noch
die Taten. Sie haben sich Ihren Ruf als Ankündigungsministerin in dieser Legislaturperiode wirklich hart erarbeitet. Ich weiß jetzt nicht, wie es den anderen Kolleginnen und Kollegen von der Opposition geht, die diese
Einschätzung immer geteilt haben. Fast sehne ich mich
nach den Zeiten zurück, als wir der Ministerin immer
vorwerfen konnten, dass sie Dinge ankündigt, aber am
Ende nicht handelt. Seitdem sie sich politisch dafür entschieden hat, nach Bayern zu gehen, hat sie bei wichtigen verbraucherpolitischen Themen offenbar sogar auf
die Ankündigung verzichtet.
Das Alphabet kann man auch anders gestalten. Es enthält bei Ihnen nämlich einige Leerstellen. Nehmen wir
zum Beispiel S wie Strompreise: kein Wort dazu von der
Ministerin. Auch der Bericht, den wir heute diskutieren,
enthält nichts wirklich Substanzielles. Angesichts der
Tatsache, dass auch in diesem Jahr die Strompreise um
12 Prozent steigen und ihr Kabinettskollege Herr
Altmaier seinen Propagandafeldzug gegen die erneuerbaren Energien fortsetzt,
({5})
wäre es an der Zeit gewesen, dass die Verbraucherministerin ein kritisches Wort zu den ungerechtfertigten Industrierabatten sagt
({6})
oder nur ein kritisches Wort zu den Konzerngewinnen in
Milliardenhöhe. Von ihr hat man nichts darüber gehört.
Ich finde, so geht das einfach nicht.
({7})
Wenn sich die Ministerin darauf konzentrieren
möchte, zukünftig in Bayern zu wirken, dann ist das eine
legitime politische Entscheidung. Aber auch in Bayern
gibt es Verbraucherinnen und Verbraucher. Nehmen wir
beispielsweise die Landeshauptstadt München. Dort sind
die Mieten in den letzten fünf Jahren bis zu 26 Prozent
gestiegen. Zu diesem Thema, das die Koalition völlig
brachliegen lässt, hätte es wenigstens einiger Worte der
Ministerin bedurft.
({8})
Die Mietentwicklung ist eine zentrale soziale und verbraucherpolitische Frage, aber das hat die Ministerin
überhaupt nicht auf dem Schirm. Das muss an dieser
Stelle einmal gesagt werden.
Nehmen wir das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Wir erleben nach wie vor ungebetene Telefonwerbung. Wir haben das grassierende Abmahnwesen im Internet, das beispielsweise unseriöses Inkasso betrifft,
und viele andere Dinge mehr. Seit einem Jahr liegt der
Gesetzentwurf dazu irgendwo in den Schubladen herum.
Sie lassen die Verbraucherinnen und Verbraucher auch
an dieser Stelle hängen.
({9})
Meine Damen und Herren, Sie werden das sicherlich
alles mit dem Begriff der Eigenverantwortung erklären.
Ich sage, das alleine reicht nicht. Dadurch werden die
Baustellen nicht beseitigt. Mit der Selbstverpflichtung
der Unternehmen ist einfach keine gute Verbraucherpolitik zu machen.
({10})
Wer Verbraucherpolitik betreiben will, der muss sich mit
den Konzernen anlegen. Aber dazu ist diese Regierung
leider nicht in der Lage.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, Ihre Rede hat mich sehr an die Silvestersendung „Dinner for One“ erinnert. Da heißt es immer:
„Same procedure as last year?“, „The same procedure as
every year.“
({0})
Genau so haben Sie das hier vorgeführt.
Dann haben Sie noch den Witz gebracht: So wie andere für ein Branchentelefonbuch von A bis Z geworben
haben, nämlich von Aalräucherei bis Zylinderstift - so
war einmal die Werbung -, haben Sie hier vorgetäuscht das V für „vorgetäuscht“ ist bei Ihnen üblich -, dass Sie
in verschiedenen Politikbereichen gehandelt hätten. Das
haben Sie aber nicht getan, Frau Aigner. Sie haben hier
von A bis Z ein paar Begriffe - ich sage einmal, richtige
Windeier und warme Luft - losgelassen. Aber nicht einmal ein Prinzip haben Sie herausgestellt; denn Sie haben
keines.
Walt Whitman Rostow hat einmal gesagt:
Krisen meistert man am besten, indem man ihnen
zuvorkommt.
Also indem man, bevor sie entsteht, Strukturen schafft,
die sie verhindern oder zumindest minimieren. Sie haben
uns hier erzählt, dass Sie immer dann, wenn eine Krise
da ist, analysieren, feststellen und dann einen Plan beschließen. Sie haben aufgezählt, was Sie immer machen,
wenn eine Krise da ist: erstens, zweitens, drittens. „VierRenate Künast
tens“ haben Sie aber vergessen: Ein halbes Jahr später
kommt der Sieben-Punkte-Plan von Frau Aigner in die
Schublade, und wir hoffen, dass keiner mehr daran
denkt. Das ist Ihr Prinzip: Nachsorge, zaudern und dann
wegstellen.
({1})
Sie haben heute viel annonciert, wie bei einer Werbeveranstaltung. Fangen wir doch einmal mit dem Buchstaben B an. Wie wäre es mit Bewertungsreserven der
Lebensversicherung? Sie haben uns hier viel erzählt.
Fakt ist aber etwas anderes; und das wurde mit dieser
FDP gemacht, die immer sagt, man darf den Betrieben
nicht mit Einzelsubventionen usw. helfen, sie müssen
sich selber am Markt beweisen. Bei den Bewertungsreserven der Lebensversicherung sehen Sie das aber anders. Sie hocken vielleicht bis zur Halskrause als Lobbyist in den Lebensversicherungen.
({2})
Anders können wir uns das gar nicht erklären. Wie sollen
wir denn draußen die verbraucherpolitische Glanzleistung erklären - das soll Verbraucherschutz sein -, dass
der Versicherungsbranche, weil sie behauptet, in der
Niedrigzinsphase Probleme zu haben, 35 Milliarden Euro
geschenkt werden, statt sie den Versicherten zu geben?
({3})
Sie wollen die Versicherten um 35 Milliarden Euro bei
den Lebensversicherungen betrügen. Das ist Ihre Wahrheit.
({4})
Das ist eine neue Form der Subventionspolitik. Wer in
diesem Land, wenn es zu viel Sonne gibt, keine Regenschirme verkauft, dem würden Sie ja auch nicht helfen,
({5})
sondern sagen: Dann mach halt einen Eisladen auf.
Machen wir mit dem nächsten Buchstaben weiter. Der
Kollege der FDP sprach gerade die Krümmung der Gurken an. Haha, wie putzig! Ich sage es Ihnen einmal:
Selbst bei der Krümmung der Gurken haben Sie nichts
hingekriegt.
({6})
Die Handelsklassen sind abgeschafft.
({7})
Im Einzelhandel müssen sie immer noch nach etwas aussehen. Sie betreiben Wegwerfpolitik auf Kosten der Umwelt, auch im Bereich Lebensmittel und Verbraucherschutz.
({8})
Sie haben bei der Regionalkennzeichnung, die sinnvoll ist, wenn man darauf achten möchte, ökologisch mit
weniger Transportkilometern einzukaufen, nichts hinbekommen. Sie haben für Verbraucher, die auf den Tierschutz achten wollen, nichts hinbekommen. Den vielleicht ganz netten Gesetzentwurf von Frau Aigner haben
Sie mit vereinter Kraft im wahrsten Sinne des Wortes
zertrümmert. Bei den Telefonwarteschleifen wird die
Wartezeit nun zeitlich nach hinten geschoben. Dann kostet es nämlich wieder. Das ist doch üblich bei Ihnen. Bei
den Strompreisen gibt es 2 000 Ausnahmen für nicht
einmal wirklich energieintensive Betriebe,
({9})
und die Kosten in Milliardenhöhe werden den Privatkunden aufgehalst. Die Verbraucher sind die Opfer Ihrer
Politik und nicht die Nutznießer Ihrer Politik. Das ist
klar.
({10})
Frau Aigner, der aktuellste Skandal zeigt, dass Sie eigentlich die Politik von Herrn Seehofer weiterführen,
der zwischen 2005 und 2008 die Verantwortung trug:
({11})
Liebesdienste für die große Industrie. Die erste Handlung von Seehofer war - Stichwort: MON810 -, gentechnisch veränderten Mais in Deutschland zuzulassen.
Das war die erste Morgengabe für die, die Sie damals im
schwarz-gelben Wahlkampf unterstützt haben. Dann haben Herr Seehofer und Sie gemeinsam alle Schleusen für
Billigfleisch und Dumping in der Fleischindustrie geöffnet. Sie haben den Boden für solche Skandale weiter bereitet: mit Massentierhaltung, mit weiterem Antibiotikamissbrauch. Sie haben bis heute nicht einmal ein klares
Reduzierungsziel, sondern nur Bücher, in die man
schreibt, wie viel man nimmt. Das ist doch kein Verbraucherschutz.
({12})
Ich weiß, dass viele über die „Geiz ist geil“-Ideologie
klagen. Faktisch sind Sie, Frau Aigner, aber die Schutzpatronin dieser Ideologie. Sie haben nicht dafür gesorgt,
dass die Verbraucher Täuschung besser erkennen können. Wenn von der FDP hier klare Worte kommen, dann
muss ich sagen: Das ist die Lachnummer des Jahrhunderts. Sie als Lobbypartei öffnen hier Ihr Herz und meinen, etwas für die Verbraucher zu tun.
({13})
Vom ersten Tag an, als wir die Verbraucherpolitik in den
Ländern und im Bund auf die politische Agenda gesetzt
haben und gesagt haben: „Auch die Verbraucher nehmen
am Wirtschaftsleben teil und haben Rechte“, sind Sie der
größte Bremsklotz,
({14})
auf Kosten der Bevölkerung. Genau so ist das.
({15})
- Melden Sie sich doch noch einmal!
Sie haben das wirklich kranke System der langen internationalen Produktionsketten eben nicht unterbrochen,
weil Sie die fehlende Transparenz nicht angegangen sind.
Genau das, eine bessere Verbraucherinformation und
volle Transparenz, brauchen wir, damit man bei der Kaufentscheidung sehen kann, was woher kommt.
Diese volle Transparenz ist gut, meine Damen und
Herren, für die Behörden, weil sie dann wissen, wo sie
untersuchen sollen.
({16})
Deshalb müssen endlich die stillen Rückrufe enden. Ran
an die Behörden! Die Behörden müssen das Recht haben
- nicht einen Prüfauftrag, Frau Aigner -, hier und heute
über Täuschungen zu informieren.
({17})
- Die Pflicht, zu informieren, danke. - Denn selbst im
preiswertesten Segment haben die Verbraucher für ihr
gutes Geld das Recht, zu wissen: Was draufsteht, ist
auch drin.
({18})
Ich kann Ihnen nur sagen, wenn wir bei A bis Z bleiben: Der größte Mangel Ihrer Politik ist, dass Sie das Z
nicht mit dem Wort „Zuverlässigkeit“ auffüllen können.
Frau Kollegin.
Auf Sie können sich die Lobbyisten und die Großindustrie verlassen, aber nicht die Verbraucher.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Franz-Josef
Holzenkamp für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!
({0})
Es ist natürlich Aufgabe der Opposition, den Finger in
die Wunde zu legen.
({1})
Es ist auch völlig unstreitig, dass in der Verbraucherpolitik noch einige Aufgaben vor uns liegen.
({2})
Aber die Erfolge der letzten Jahre sind hier von Frau
Aigner und von Erik Schweickert eindrucksvoll geschildert worden.
({3})
Sie sind faktisch für jedermann nachlesbar. Hierfür ein
herzliches Dankeschön, Frau Aigner!
({4})
Ihnen sage ich: Machen Sie nicht nur Wahlkampfgetöse; das hilft uns nicht weiter.
Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberale
Koalition wollen starke Verbraucher. Verbraucherpolitik
ist auch gute Wirtschaftspolitik, und zwar von der Nachfrageseite. Wir stärken den Verbraucher mit Informationen, und wir handeln nach der Maxime „Klarheit und
Wahrheit“. Auf dieser Basis ist der Verbraucher
({5})
in der Lage, selbstbestimmt und eigenverantwortlich
Entscheidungen für sich und Angehörige zu treffen.
Das führt mich zum Verbraucherbild. Der Verbraucher - das ist unser Leitbild - weiß am besten, was für
ihn gut und richtig ist. Diese Verantwortung können und
wollen wir ihm nicht nehmen - das wollen Sie, wir
nicht. Das unabhängige Gutachten von Prognos sagt eindeutig:
Den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschland kann übergreifend eine hohe Bereitschaft attestiert werden, sich konsumrelevante Informationen zu verschaffen.
Also: Was müssen wir als Politik tun?
({6})
Wir müssen die Informationsdichte erhöhen. Wir müssen
selbstverständlich auch die Informationsqualität erhöhen. Frau Künast, selbstverständlich müssen wir auch
den Informationszugang erweitern und verbessern. Das
bleibt für uns eine Daueraufgabe.
Genau das haben wir in dieser Legislaturperiode getan.
Frau Aigner hat die Bereiche eindrucksvoll aufgezählt,
ob Finanzen, Verbraucherinformationsgesetz, VeröffentFranz-Josef Holzenkamp
lichungspflichten im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch oder Internetportale. Wir haben trotz des
Konsolidierungszwangs für unser Land - das ist die eigentliche Verpflichtung für die Zukunft unserer Kinder
und Kindeskinder - beim Verbraucherschutz die Ausgaben erhöht, Stichworte: Verbraucherinformationen, Stiftung Warentest und viele andere mehr.
Meine Damen und Herren von der Opposition, das,
was Sie hier äußern, hat für mich etwas mit Bevormundung zu tun. Das hat damit zu tun, dass Sie Entscheidungen für den Verbraucher treffen wollen.
Ich nenne drei Beispiele. Ich lese, Sie wollen den
Menschen dazu zwingen, dass in Organisationen und
Einrichtungen ein „Veggie Day“ eingerichtet wird. Man
kann für so etwas gern Anreize schaffen, aber zwingen?
Meine Damen und Herren, wir wollen das nicht.
({7})
Sie schlagen beispielsweise vor, Dispozinsen nach oben
zu deckeln. Was bedeutet das denn? Sie nehmen bewusst
in Kauf, dass eine Nivellierung nach oben stattfindet und
die Verbraucherinnen und Verbraucher stärker zur Kasse
gebeten werden. Das ist blanker Unfug. Wenn Sie über
ökologische und ethische Standards bei Riester-Verträgen sprechen, dann erklären Sie mir bitte einmal, wie das
funktionieren soll. Mir ist es schleierhaft.
({8})
Ich glaube, Frau Maisch, Sie reden gleich noch, vielleicht können Sie mir das einmal erklären. Wir als Politik können doch nicht glauben, dass wir alles besser wissen als die Menschen selbst. Wir sollten manchmal
etwas Zutrauen haben. Das ist der eigentliche Unterschied.
({9})
Wir befähigen den Verbraucher zu Eigenständigkeit. Sie
wollen ihn bevormunden, Sie wollen die Entscheidungen für die Verbraucher treffen. Das ist der große Unterschied zwischen diesen beiden Blöcken.
Dazu noch ein Zitat aus dem Prognos-Gutachten: Bei
der wissenschaftlichen Untersuchung „sind vielfältige
Belege für ‚mündiges‘ Verhalten der Verbraucherinnen
und Verbraucher in Deutschland vorgefunden worden.
Diese sind überwiegend in der Lage, ihren Konsum
selbstbestimmt zu gestalten.“ Wir sind noch nicht am
Ende des Weges, aber wir sind auf einem guten und richtigen Weg.
Ich will auch das Thema Pferdefleischskandal kurz
ansprechen. Hierbei geht es um Verbrauchertäuschung.
Ich will ausdrücklich loben und unterstreichen, dass
Bundesministerin Aigner sofort kurzfristig aktiv geworden ist,
({10})
um sich mit den Ländern auf ein gemeinsames Vorgehen
zu verständigen. Das geht überhaupt nicht anders - das
wissen auch Sie -, weil die Zuständigkeiten zwischen
Land und Bund unterschiedlich geregelt sind. Wir haben
über dieses Thema auch im Ausschuss diskutiert. Ich
habe dort die Frage gestellt: Ist eigentlich die Haftung
beim Handel ausreichend geregelt? Denn wir fragen uns
immer: Wo können wir eigentlich zielgerichtet ansetzen?
Wo können wir vernünftig und wirkungsvoll nachregeln?
Mir haben Experten in den letzten Tagen erklärt, dass
im Frischebereich sehr viel geregelt ist, weil die Lieferwege bekannt sind. Handlungsbedarf besteht im Fertigproduktbereich. Wir wissen heute noch nicht einmal, an
welcher Stelle der Etikettenschwindel betrieben wurde.
Deshalb sind wir, Frau Künast, absolut für eine Herkunftskennzeichnung.
({11})
Wir wollen eine Herkunftskennzeichnung. Ich glaube,
wir müssen das um eine Optimierung der Rückverfolgbarkeit erweitern.
({12})
Die Rückverfolgbarkeit verläuft heute immer einzeln und
stufenweise. Ich glaube, das muss man stufenübergreifend machen, damit man schneller erkennen kann, wo
letztendlich Sauereien passieren. Ich persönlich bin sehr
gespannt auf Ergebnisse die Sektoruntersuchung des Kartellamtes im Lebensmitteleinzelhandel. Ich denke, diese
wird genug Stoff für unsere gemeinsame Arbeit auch im
Ausschuss liefern.
({13})
Sie fordern in Ihrem Antrag eine verbraucherpolitische Strategie. Ich will Ihnen sagen, dass wir als Union
schon Ende letzten Jahres ein Konzept vorgelegt haben,
({14})
in dem wir vorsehen, die Verbraucher zu unterstützen
und das Vertrauen in die Märkte zu stärken. Ich will das
selber gar nicht bewerten, aber wenn wir von Organisationen, die uns als Union gar nicht einmal so nahe stehen, Lob bekommen, dann zeigt das, glaube ich, die
hohe Qualität dieses Konzepts.
({15})
Die verbraucherpolitische Bilanz ist wahrlich gut. Sie
kann sich sehen lassen.
({16})
Die Ministerin hat viele Dinge auf den Weg gebracht. Eines will ich überhaupt nicht verhehlen: Wir haben im Verbraucherschutz das Problem - das wissen wir alle -, dass
wir unterschiedliche Zuständigkeiten der Ressorts haben.
Wenn es um Rechtsfragen geht, ist natürlich Recht zuständig. Wenn es um Finanzpolitik geht, sind natürlich
die Finanzpolitiker zuständig. Trotzdem haben wir in die27764
sen Bereichen - es ist aufgezählt worden - viel erreicht,
weil unsere Ministerin nicht nachgegeben hat und immer
weiter dicke Bretter gebohrt hat. Das ist ein großer Erfolg.
Verbraucherpolitik bleibt eine Querschnittsaufgabe.
Ich will abschließend noch einmal aus dem PrognosGutachten zitieren:
… die Lage der Verbraucherinnen und Verbraucher
in Deutschland [ist] insgesamt besser als zuvor
- besser als zuvor! und mithin mehr als zufriedenstellend …
Herr Kollege.
Das ist für uns Ansporn, weiterhin gute Arbeit zu machen, um den Verbraucherschutz in Deutschland für die
Menschen weiterzuentwickeln.
Ein herzliches Dankeschön.
({0})
Für den Bundesrat erhält jetzt das Wort die Senatorin
Cornelia Prüfer-Storcks.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für die Gelegenheit, aus Sicht eines Landes
etwas zum Thema Verbraucherschutz, aber auch zum aktuellen Skandal zu sagen. Ich wäre beinahe versucht gewesen, zu sagen: zum Skandal des Monats; denn darauf
läuft es ja letzten Endes hinaus.
({0})
Ich glaube, dass es die Menschen in Deutschland leid
sind, immer wieder vom Lebensmittelskandal des Monats überrascht zu werden. Sie erheben zu Recht den Anspruch gegenüber uns, dem Staat, dass sie wirksam geschützt werden. Sie wollen alles andere als bevormundet
werden, sondern sie wollen - im Gegenteil - aufgeklärt
werden. Sie wollen nicht für dumm gehalten, sondern informiert werden. Zumindest möchten sie das wissen,
was auch Behörden wissen und was auch mit ihren Steuergeldern erhoben wird.
({1})
Die zwingende Notwendigkeit, beim Verbraucherschutz wegzukommen von der nachlaufenden Politik,
die immer nur auf Vorkommnisse und Skandale reagiert,
zeigt sich auch ganz aktuell bei den Pferdefleischfunden.
Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen mit Politikverdrossenheit reagieren, wenn sie das Gefühl haben,
dass die Politik immer nur reagiert, aber nicht vorsorgend handelt. Ich kann Ihnen sagen: Man kann auch als
Politikerin Verdrossenheit entwickeln, wenn man wieder
einmal mit dem Bund zusammen an einem nationalen
Aktionsplan arbeiten musste, der dann Forderungen enthält, die die Länder schon seit langem erheben, und zwar
zu Recht erheben.
({2})
Der Zehn-Punkte-Plan zum Pferdefleischskandal ist
von Verbraucherschützern und auch von der Politik ausreichend kritisiert worden. Aber ich will mir gar nicht
vorstellen, wie das Echo ausgesehen hätte, Frau Ministerin Aigner, wenn Sie nur mit Ihren eigenen Vorschlägen
an die Öffentlichkeit getreten wären, ohne das, was die
Länder in dieses Papier hineinverhandelt haben.
Frau Senatorin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schweickert?
Ich würde gerne fortfahren, Herr Präsident.
Alle harten Maßnahmen, die das Papier enthält, also
die Herkunftsbezeichnungen nicht nur für verarbeitetes
Fleisch, sondern auch für verarbeitete Lebensmittel insgesamt, die Verschärfung des Strafrahmens, die Abschöpfung von Unrechtsgewinnen, das Veröffentlichungsrecht
der Behörden bei Verbrauchertäuschung und auch bei allgemeinen Verstößen gegen Hygienevorschriften, nicht
erst bei Gesundheitsgefährdungen, die Ausweitung der
Anforderungen an die Eigenkontrolle der Unternehmen
und ihrer Informationspflichten gegenüber den Behörden,
all das haben die Länder in dieses Papier hineingeschrieben. Ich sage auch ganz deutlich: Wir prüfen nicht mehr,
ob, sondern wir prüfen nur noch, wie. Wir werden auch
den Zeitdruck sehr hoch halten.
({0})
Es ist doch bemerkenswert, dass man die A-/B-Linie
in der Verbraucherschutzpolitik nicht durchgängig findet. Es ist nicht so, dass das Ministerium und die B-Länder auf der einen Seite und die A-Länder auf der anderen
Seite stehen, sondern es gibt sehr häufig, in vielen Fällen, eine Übereinstimmung der Länder über die Parteigrenzen hinweg. Es ist aber auch ein Muster der Reaktion des Bundes auf viele Forderungen der Länder zu
beobachten: Zunächst einmal hält man etwas nicht für
nötig, dann nicht für möglich, dann versucht man es,
aber dann setzt man es nicht durch.
({1})
Um auf die Herkunftsbezeichnung zu sprechen zu
kommen, die jetzt in dem Papier steht, Frau Ministerin
Aigner: Da haben Sie den Ländern noch vor zwei Jahren
erklärt, dass Sie das nicht für machbar halten. Ich freue
mich, dass sich das geändert hat. Gerade beim jetzigen
Pferdefleischskandal leiden auch die Landesbehörden,
zusammen mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern,
darunter, dass sie ihre eigenen Kenntnisse, ihre Untersuchungsergebnisse, nicht veröffentlichen dürfen; denn es
fehlt ja die akute Gesundheitsgefährdung.
({2})
Senatorin Cornelia Prüfer-Storcks ({3})
Viele weitere Beispiele belegen, dass Länder über Ergebnisse und Erkenntnisse verfügen, ihre Befunde aber
verschweigen müssen. Dass, wenn man in einem Restaurant Seezunge bestellt, auf jedem dritten Teller etwas
anderes liegt, wissen wir; aber diese Erkenntnis ruht in
unseren Aktenordnern, weil wir die entsprechenden Betriebe ja nicht nennen dürfen.
({4})
Dass die Lebensmittelüberwachungsbehörden bei 25 Prozent der 1 Million Kontrollbesuche in Betrieben, die sie
pro Jahr durchführen, Verstöße feststellen und diese
auch ahnden, wissen wir auch; aber die Betriebe, um die
es geht, dürfen wir nicht nennen.
({5})
Die Länder, die solche Verstöße öffentlich machen - gestützt auf einen Paragrafen, den die Bundesregierung geschaffen hat -, kassieren im Moment ein Gerichtsurteil
nach dem anderen, das ihnen sagt: Solche Informationen
dürfen nicht veröffentlicht werden, solange nicht ein
Produkt eine ganz konkrete Gesundheitsgefährdung hervorruft.
Gerade vor diesem Hintergrund haben die Länder
schon vor zwei Jahren fast einstimmig die Hygieneampel gefordert und die Bundesregierung aufgefordert, eine
bundesgesetzliche Grundlage für ein einheitliches und
rechtssicheres System zu legen. Der Bund ist nicht aktiv
geworden. Die Länder werden jetzt selbst aktiv werden,
({6})
und zwar länderübergreifend.
({7})
Bundesgesetze werden immer noch vom Deutschen
Bundestag beschlossen. Dass der Bundesrat hilfsweise
aktiv wird,
({8})
ist zwar ein Weg, aber nicht der Regelweg. Ich halte das
nicht für eine vorsorgende, vorausschauende und vor allen Dingen am Transparenzprinzip orientierte Verbraucherpolitik des Bundes.
({9})
Bei Lebensmitteln sind die Befindlichkeiten der Verbraucherinnen und Verbraucher naturgemäß besonders
ausgeprägt. Aber auch andere Themen sind existenziell.
So können Themen des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes ganz schnell wirtschaftlich gefährlich werden.
Deshalb sind auch ein besserer Schutz und eine bessere
Aufklärung von Anlegerinnen und Anlegern wesentliche
Anliegen des Bundesrates, der Länder. Auch hier stelle
ich fest, dass die Länder den Bund treiben müssen und
der Bund ganz häufig nicht liefert. Wir haben schon
lange thematisiert, dass Privatkunden keine kreditfinanzierten Finanzinstrumente mehr angeboten bekommen
sollen und dass der Anlegerschutz bei geschlossenen
Fonds verbessert werden soll. Wir warten immer noch
darauf, dass der Bund liefert.
({10})
Stattdessen erschüttert die Bundesregierung das Vertrauen der Menschen in die private Altersvorsorge, insbesondere in die Lebensversicherungen. Mit dem
SEPA-Begleitgesetz werden negative Auswirkungen des
derzeitigen Niedrigzinsumfeldes einseitig auf die Lebensversicherungskunden überwälzt. Eine 10-prozentige
Kürzung der Auszahlungen wäre die Folge. Der Bundesrat hat dieses Gesetz gestoppt und setzt sich jetzt im Vermittlungsausschuss für eine ausgewogene Lösung im
Sinne aller Beteiligten ein.
({11})
Ich frage mich natürlich: Wo war die Bundesverbraucherschutzministerin, als dieses Gesetz das Kabinett passierte?
Ein weiteres großes Ärgernis ist, dass die Banken, obwohl sie sich zurzeit zu einem historisch niedrigen Zinssatz Geld leihen können, diesen Vorteil nicht an ihre
Kunden weitergeben.
({12})
Die SPD-regierten Länder haben eine gesetzliche Begrenzung des Dispozinssatzes gefordert. Die Bundesministerin setzt auf einen weiteren - aus meiner Sicht
wirkungslosen - Runden Tisch.
Ich könnte die Aufzählung der Initiativen, Bitten und
Forderungen der Länder fortsetzen: Das Konto für jedermann gehört dazu, Maßnahmen gegen unerlaubte Telefonwerbung und gegen Abzocke bei Abmahnkosten, die
Nutzung von Kartellstrafen für Verbraucherarbeit und
eine Minimierung der Hürden bei solchen Verfahren. All
das gehört zu den Themen, die die Länder verfolgen, bei
denen sie aber vom Bund nicht den nötigen Rückenwind
bekommen.
Ich weiß, dass viele dieser Themen nicht in der Federführung der Verbraucherschutzministerin liegen. Ich
weiß auch, dass die Umsetzung bei diesen Themen mühsam ist. Ich erlebe es ja auf der Landesebene, wie es ist,
etwas durchzusetzen, wenn andere federführend sind.
Aber ich erwarte doch, dass die Verbraucherschutzministerin im Interesse der Verbraucher treibt und nicht
bremst.
In diesem Sinne wünschte ich mir eine Verbraucherschutzpolitik, bei der Bund und Länder zusammenwirken können.
Vielen Dank.
({13})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege
Schweickert das Wort.
Frau Kollegin Prüfer-Storcks, was Sie gerade vorgetragen haben, hat mich wirklich erschüttert. Wenn das
Ihr Amtsverständnis ist, dann haben Sie gerade einen
Haufen Argumente dafür geliefert, dass man einmal darüber nachdenken sollte, die Stadtstaaten abzuschaffen.
({0})
Wenn Sie wissen, dass in Hamburg Kunden in Gaststätten betrogen werden, indem ihnen falsche Produkte vorgelegt werden, dann sind Sie in der Verantwortung, das
abzustellen, dann dürfen Sie das Material über solche
Vorfälle nicht in der Schublade verschwinden lassen.
({1})
Wenn Sie das noch nicht wissen, wenn Sie Hilfe brauchen, dann müssen Sie die Gesetze lesen. Ich werde über
das Verbraucherinformationsgesetz, das wir novelliert
haben, einen Antrag dazu stellen. Wenn Sie nicht in die
Gänge kommen, dann sorgen wir dafür.
({2})
Zweiter Punkt. Sie kritisieren, der Bund mache nichts.
Frage an Sie: Wissen Sie, dass die Länder zuständig
sind? Sie und auch die Grünen kritisieren immer, dass in
dem Aktionsplan das Wort „Überprüfung“ zu häufig
vorkäme. Darf ich Ihnen aus einem Schreiben des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen zitieren:
Ergänzend zu den Vorschlägen des Bundes schlägt
NRW
- also Herr Remmel, ein Grüner! folgende Punkte vor:
1. Überprüfung …
2. Überprüfung …
3. Überprüfung …
Nur Punkte, in denen keine konkreten Dinge stehen, beinhaltete die Tischvorlage der Länder.
({3})
Sie aber stellen sich hierhin, nachdem alle Länder diesem Nationalen Aktionsplan zugestimmt haben, und kritisieren die Bundesregierung für das, was aus den Ländern gekommen ist.
({4})
Das ist nicht redlich.
({5})
Zur Erwiderung, bitte schön, Frau Senatorin.
Herr Abgeordneter, ich würde Ihnen empfehlen, vielleicht noch einmal einen Blick in die gesetzlichen
Grundlagen sowie in entsprechende Gerichtsurteile zu
werfen, die seit einigen Wochen und Monaten zu Veröffentlichungen der Landesbehörden ergehen.
Es geht hier nicht um Maßnahmen; diese werden
selbstverständlich ergriffen. Es geht darum, ob wir die
Verbraucher über unsere Befunde informieren dürfen.
Und dafür sind die Hürden so hoch, dass wir über Täuschungen sowie über allgemeine Hygieneverstöße nicht
informieren können, sondern nur über bestimmte Produkte und Gesundheitsgefahren. Da fordern wir schon
seit langem eine bessere und niedrigschwelligere Lösung.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Einstieg vorhin war ja prima. Jetzt haben
wir endlich einmal die Kernzeit, um das, was wir in der
politischen Arbeit leisten, nicht nur unter uns auszutauschen, sondern auch zu den Bürgerinnen und Bürgern zu
transportieren. Und was machen wir? Wir schlagen es in
einer Form kaputt, die für mich, der ich ja manchmal
durchaus auch die Attacke liebe, schon ein Stück weit
erschütternd ist. Das ging ja gestern schon los. Gestern
sagte Herr Trittin, wir seien dafür, dass Dioxineier in
Verkehr kommen. Er sagte wörtlich: „Sie wollen Dioxin
im Hühnerei, Sie wollen Pferd in der Lasagne …“ Und
heute Morgen wird so getan, als ob wir uns im Grunde
darüber freuen würden, wenn in diesen Bereichen irgendetwas passiert.
Ich muss sagen, Frau Künast, wir hatten das doch
schon einmal anders. Wir kennen uns doch schon eine
ganze Zeit. Ich habe Sie als Ministerin erlebt. Wir sind
zum Beispiel auch schon mal auf Auslandsfahrten gewesen.
({0})
- Nein, so „Oh!“ war das nicht; nicht, dass Sie da auf
eine komische Idee kommen.
({1})
Wir waren uns doch einig, dass Verbraucherschutz eine
wichtige Herausforderung ist. Sie können doch auch
nicht leugnen, dass in dem Bericht, der nun erstellt worden ist, jede Menge wirkliche Erfolge enthalten sind.
({2})
Wir stehen natürlich auch noch vor Herausforderungen.
Aber wenn hier die geschätzte Senatorin sagt, das sei
sozusagen der Skandal des Monats - ja, liebe Freunde,
wollen wir das auf uns sitzen lassen? Wollen wir wirklich akzeptieren, dass zum Beispiel die Ehec-Katastrophe mit der Dioxinproblematik und dem - von mir aus Pferdefleischskandal in einen Topf geworfen wird? Da
sind einige kriminelle Elemente am Markt, was ich sehr
bedauere. Mit Kennzeichnung, lieber Kollege Kelber,
hat das aber überhaupt nichts zu tun. Wir wissen genau,
woher das Pferdefleisch kommt. Das ist nicht das Problem. Ich bin ja dafür, dass wir - ({3})
- Lieber Kollege Kelber, ein bisschen Ruhe! Lebensmittelkennzeichnung ist für kleine Bäckereien und kleine
Fleischereien ein Riesenproblem.
({4})
- Nein, nein, Herr Kelber. Nein, nicht die Lobbyisten.
({5})
- Herr Kelber, nun schreien Sie doch nicht gleich herum.
Bleiben wir einen Moment bei den Lobbyisten, wenn Sie
das schon anderen unterstellen. Was meinen Sie, wer als
Erstes auf eine durchgängige Lebensmittelkennzeichnung aufspringt? Die Großen, die die Urproduktion und
die gesamte Veredelungslinie in ihrer Hand haben. Für
diese ist das kein Problem. Ein Problem ist es für den
ganz normalen Bäcker oder den ganz normalen
Fleischer, der etwas in Verpackung abgibt. Der muss auf
dieser Kleinpackung, in der zwei Würstchen sind, angeben, woher dieses Produkt kommt. Das weiß er fast immer, wenn er es von einem Bauernhof bekommt, der
sechs Schweinchen hat. Aber das ist nicht die Lebensrealität.
({6})
Die Lebensrealität ist, dass er auch Fleisch von anderen
hat. Wir müssen damit ein bisschen vernünftiger umgehen. Wenn wir Herkunftskennzeichnungen wollen, dann
sollten wir - dafür bin ich - die damit zusammenhängenden Probleme gemeinsam lösen.
Nächster Punkt: Verbraucherinformationsgesetz. Ich
war bei der Diskussion darüber dabei. Wir haben uns
nächtelang darum bemüht. Endlich gibt es ein Verbraucherinformationsgesetz. Mit diesem Gesetz gibt es Probleme, und die haben Sie angesprochen. Die Lebensmittelchemiker haben mir das gestern erzählt, und das
erzählen mir auch die Lebensmittelkontrolleure, dass das
nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist.
({7})
Lassen Sie uns doch vor diesem Hintergrund dieses Gesetz gemeinsam - von mir aus auch mit Ihrer Mehrheit
im Bundesrat - weiterentwickeln.
({8})
- Elvira Drobinski-Weiß, solange du dabei warst, ist
überhaupt kein VIG zustande gekommen. Das will ich
hier doch einmal festhalten!
({9})
- Frau Künast, wir können uns doch über Verbesserungen unterhalten. Das ist doch kein Thema. Sie dürfen
aber nicht alles kurz und klein schlagen.
Kommen Sie doch einfach einmal in den Ausschuss.
({10})
Herr Kelber, kommen auch Sie einmal in den Ausschuss.
({11})
Sie werden dann merken, wie wir da arbeiten. Wenn wir
im Haus anrufen bzw. Kontakt aufnehmen, kommt Frau
Aigner. Wir ändern die Tagesordnung dann so, dass auch
der Ombudsmann aus Dänemark da ist. Dieser Ombudsmann ist doch gefragt worden: Wo steht aus Ihrer Sicht
die Verbraucherpolitik in Deutschland im Vergleich zu
anderen europäischen Ländern? - Sie kennen doch die
Ergebnisse auf europäischer Ebene. Wir sind einer der
Besten in Europa. Der Däne hat gesagt: Wir arbeiten
zum Wohle der Verbraucher mit euren Behörden bzw.
euren Einrichtungen sehr konstruktiv zusammen.
({12})
Lassen Sie uns das doch auch hier in dieser öffentlichen
Sitzung gemeinsam tragen, statt dies in Pressemitteilungen zum Ausdruck zu bringen.
({13})
Frau Maisch, das meine ich ganz persönlich: Ich bin
erschüttert, dass, nur weil „AGRA-EUROPE“ draufsteht, die Grünen-Politikerin Nicole Maisch Frau Aigner
vorwirft, sie sitze auf dem Schoß der Industrie.
({14})
Wie gehen wir eigentlich miteinander um? Das ist doch
nicht Ihr Ernst!
({15})
Sie wollen doch Frau Aigner nicht ernsthaft unterstellen,
dass sie sich im Schoß der Industrie wohlfühlt bzw.
suhlt. Das kann doch nicht in Ihrem Kopf sein.
({16})
Lassen Sie uns deswegen die Dinge, wie wir das auch
im Ausschuss getan haben, gemeinsam angehen. Lassen
Sie uns gemeinsam stolz darauf sein, dass wir einen 60seitigen Bericht vorzeigen können, in dem von großartigen Erfolgen in vielen Bereichen berichtet wird.
({17})
Lassen Sie uns einig sein, dass wir sicherlich noch das
eine oder andere zu tun haben; denn nichts ist so
schlimm für die Verbraucher wie die Skandale, die es
gibt und gab. Diese zerstören das Verbrauchervertrauen.
Wir als Politiker sind gefordert, das zu erarbeiten, es
aber nicht durch Polemisierung hier im Bundestag klein
zu schlagen.
Herr Kollege!
Das ist keine verbraucherorientierte Politik.
({0})
Die Kollegin Karin Binder ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich glaube, dass Verbraucherpolitik heute keine
Nischenpolitik mehr ist. Sie spielt eine viel größere
Rolle als früher.
({0})
Das haben wir aber vor allem den Organisationen, den
Interessenverbänden und den vielen Verbraucherinnen
und Verbrauchern zu verdanken,
({1})
die sich heute viel mehr einmischen und für ihre Interessen auch einstehen.
({2})
Diesen vielen gemeinsam arbeitenden Kräften verdanken wir, dass Verbraucherpolitik heute aus dem Nischendasein herauskommt.
({3})
Ich behaupte: Leider haben auch die großen Verbände
immer noch nicht die Kraft, die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher wirklich durchzusetzen.
Sonst hätten wir heute eine Nährwertampel. Wie viele
Menschen in diesem Land haben sich für diese Nährwertkennzeichnung ausgesprochen? Frau Aigner war
aber offenbar nicht gewillt, so etwas umzusetzen. Hier
haben die Interessen des Handels und der Industrie überwogen. Deswegen haben wir keine Nährwertampel, obwohl sie sehr vielen Menschen helfen würde, zu erkennen, wie viel Fett, wie viel Zucker und wie viel Salz in
den Lebensmitteln ist. Stattdessen werden Menschen
nach wie vor getäuscht, indem vorne drauf in großen
Buchstaben geschrieben steht, was nicht drin ist, zum
Beispiel: 0,0 Prozent Fett. Auf der Rückseite steht dann
in 1,2-Milimeter-Schrift, dass in diesem Softgetränk für
Kinder 21 Prozent Zucker enthalten sind. Da frage ich
Sie wirklich: Wo ist da der Verbraucherschutz? Hätten
wir die Mehrwertampel, wäre das Ganze klar und eindeutig.
({4})
Dasselbe gilt für den Smiley. Sie können diese Kennzeichnung auch „Hygienebalken“ nennen; das ist völlig
egal. Hauptsache, diese Kennzeichnung kommt, damit
Menschen erkennen können: Ist der Betrieb sauber? Hält
er die Hygienevorschriften ein? Wie sieht es mit der Lebensmittelsicherheit aus? Das wäre eine große Hilfe für
viele Menschen.
({5})
In Dänemark hat sich dieses Modell sehr bewährt.
({6})
Aber bei uns will niemand etwas davon wissen. Die Verantwortung hierfür wird auf die Länder abgewälzt. Aber
der Bund könnte hier sehr wohl Verantwortung übernehmen und sagen: Wir führen diese Kennzeichnung ein,
und zwar sofort. Wer hindert uns denn daran?
({7})
Also, ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich mit Blick
auf die großzügig bewirtschaftete Redezeit nun keine
Wortmeldungen zur weiteren Verlängerung der Redezeit
zulassen möchte. - Bitte schön.
({0})
Gut. - Ich komme dann zum nächsten Punkt, dem
Pferdefleischskandal. Er ist einer von vielen Skandalen,
die wir in dieser Legislaturperiode zu behandeln hatten.
Ich freue mich sehr, dass wir aufgrund der Erkenntnisse
inzwischen alle sagen: Herkunftskennzeichnung muss
sein, und zwar die ganze Kette durch. Jeder Verbraucher
und jede Verbraucherin muss Bescheid wissen: Woher
kam dieses Tier? Wo ist es geboren? Wo wurde es aufgezogen, gemästet und geschlachtet?
({0})
Wunderbar, dass sich diese Erkenntnis endlich durchgesetzt hat. Diese hätten wir aber auch schon vor vier Jahren haben können.
({1})
Die Menschen können auf der Verpackung eines industriell gefertigten Lebensmittels nicht nachvollziehen,
woher die Ware kommt. Ich bin mir sicher, dass heutzutage viele Menschen aus Umweltbewusstsein und aus
sozialem Anspruch heraus ein großes Interesse daran haben, informiert zu werden und damit besser Bescheid zu
wissen. Das alles aber wurde im Interesse der Industrie
und des Handels bisher verhindert, sodass nichts offengelegt werden musste.
({2})
Jetzt aber wird das endlich anders. Das ist gut und richtig.
Wir haben aber trotzdem ein Problem. Bei den
Fleischbeimischungen in gewissen Waren geht es ja
nicht in erster Linie um das Pferdefleisch. Es geht darum, dass hier getrickst und getäuscht wird, damit es billiger wird, damit Lebensmittel möglichst als Lockvogelangebote eingesetzt werden können. Das darf so nicht
sein. Langfristig geht das nämlich auf Kosten der Qualität. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Qualität von
Lebensmitteln leidet, damit diese möglichst billig sind;
denn auch Menschen mit wenig Geld haben einen Anspruch darauf, dass die Lebensmittel, die sie kaufen, sicher sind.
({3})
Diese Sicherheit muss gewährleistet werden, egal zu
welchem Preis. Lebensmittel müssen sicher sein. Deshalb dürfen keine Medikamentenreste und keine Schadstoffe enthalten sein.
All diese Themen spielen leider noch eine untergeordnete Rolle, wenn es darum geht, Informationen offenzulegen. Die Menschen haben keinen Anspruch darauf,
rasch informiert zu werden. Die Behörden müssten verpflichtet sein, zu informieren, wenn ein Lebensmittel
falsch deklariert wurde oder wenn es belastet ist. Aber
heutzutage läuft das darauf hinaus, dass das der Handel
oder die Hersteller machen müssen. Die machen das nur
in aller Stille, damit möglichst wenige davon erfahren,
weil das nicht gut fürs Geschäft ist.
Die Behörden müssen in die Pflicht zu rascher Information genommen werden. Genauso wie der Bund in die
Pflicht genommen werden muss, wenn es um die Kontrolle von Lebensmitteln von internationalen Konzernen,
von global agierenden Lebensmittelherstellern geht.
Diese Aufgabe kann nicht in der Gemeinde oder auf
Landesebene bewältigt werden.
({4})
Wir brauchen die Verantwortung des Bundes, wenn es
darum geht, Lebensmittel zu kontrollieren, die von international agierenden Herstellern oder Handelsunternehmen kommen. Diese Aufgaben werden leider vernachlässigt.
({5})
Ich möchte ganz zum Schluss noch auf den Kollegen
Hartwig Fischer zu sprechen kommen.
Den können Sie jetzt aber nur noch kurz grüßen.
({0})
Mein letzter Satz. - Ich halte die Forderung von Herrn
Hartwig Fischer, die aus dem Verkehr genommenen Produkte an Hilfsorganisationen weiterzugeben, für nicht
hinnehmbar. Ich halte das für unmoralisch und für
höchst bedenklich.
({0})
Arme Menschen dürfen nicht zum Müllschlucker der
Nation gemacht werden.
({1})
Entweder sind diese Produkte zu vernichten, weil sie
nicht den Standards entsprechen, oder sie müssen umetikettiert werden; dann spricht nichts gegen eine Weitergabe.
({2})
Das war jetzt mein Schlusssatz.
Frau Aigner, ich glaube, Sie sollten sich ein Stück
mehr gegen Ihren Kollegen Wirtschaftsminister durchsetzen, damit tatsächlich der Verbraucherschutz
Frau Kollegin.
- im Vordergrund steht und nicht die Profitinteressen
von Handel und Industrie.
({0})
Nicole Maisch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Goldmann, Sie haben sich beschwert, dass der politische Konflikt, den wir hier in diesem Haus offensichtlich haben, heute Morgen doch auch mit deutlichen Worten ausgetragen wird. Ich finde das ganz normal.
Wir haben in der Verbraucherpolitik einen Konflikt;
das wissen Sie aus dem Ausschuss. Sei es Gentechnik,
sei es Massentierhaltung: Hier gibt es einfach politische
Konflikte, und es ist das Wesen eines Konflikts, dass
dieser wortreich und teilweise auch mit derberen Worten
ausgetragen werden muss.
({0})
Was mich neben dem Krisenmanagement, das man
wirklich noch verbessern könnte, wirklich ärgert, ist,
dass Schwarz-Gelb am Abarbeiten von verbraucherpolitischen „Brot-und-Butter-Themen“, wie die FDP sie
gerne nennt, scheitert. Brot und Butter wäre, die Abzocke zu stoppen.
({1})
Erik Schweickert hat gesagt: Wir haben die Abzocke gestoppt.
({2})
Leider nein.
({3})
Gestern kam schon wieder ein neuer Gesetzentwurf gegen unseriöse Geschäftspraktiken. Ist das jetzt der
letzte? Wann kommt endlich der Schutz vor lästiger Telefonwerbung, vor untergeschobenen Verträgen am Telefon, vor betrügerischen Inkasso- und Abmahnfirmen im
Internet? Sie müssen diesen Gesetzentwurf jetzt endlich
einmal aus dem Entwurfsstadium befreien und zu einem
Gesetz machen. Dann wäre es richtig, zu sagen: Wir haben die Abzocke gestoppt. Vorher ist das Selbstbetrug.
({4})
- Was heißt denn „Besser informieren!“? Wo ist der Gesetzentwurf? Wir haben immer wieder neue Gesetzentwürfe vorgelegt bekommen. Die Abzocke könnte gestoppt werden, indem man hier einen Gesetzentwurf
verabschiedet. Daran sind Sie gescheitert. Besonders
peinlich für die Verbraucherministerin finde ich, dass
das immer wieder von der Union torpediert worden ist.
Das heißt, Ihr eigener Laden „zerschießt“ Ihnen die Gesetzentwürfe gegen unseriöse Geschäftspraktiken. Das
finde ich ziemlich schwach.
({5})
Machen wir weiter mit den Ankündigungen zum Verbraucherschutz im Finanzbereich. Frau Aigner hat gesagt: Alles, was wir angekündigt haben, haben wir auch
durchgesetzt. - Überprüfen wir das doch einmal am Beispiel des Themas Honorarberatung:
Bereits 2008 hat Ilse Aigner angekündigt, die Honorarberatung zu fördern. Gestern, am späten Abend, wurden dann die kläglichen Reste dieses Versprechens verhandelt. Eine Öffentlichkeit war für diese Debatte
offensichtlich nicht gewünscht. Man hat sie ganz ans
Ende der Tagesordnung verschoben.
({6})
- Sie sind nicht auf Wunsch der Grünen zu Protokoll gegeben worden. Nein, das ist falsch.
({7})
- Nein, das ist nicht richtig. Wenn es Ihnen ein Anliegen
gewesen wäre - ({8})
- Das ist doch geschwindelt.
({9})
- Okay, Sie stehlen meine Redezeit; das geht jetzt leider
nicht.
Dieser Gesetzentwurf - Sie werden ja vielleicht noch
etwas dazu sagen - ist eine Farce. Er dient einzig dem
Zweck, die Honorarberatung für Kunden und Anbieter
unattraktiv zu machen.
Was hätten Sie machen müssen, wenn Sie wirklich
eine Honorarberatung gewollt hätten? Sie hätten für Nettotarife und eine steuerliche Gleichstellung von Honorar
und Provision bezüglich der Abgeltungsteuer sorgen
müssen. Was machen Sie stattdessen? Sie erfinden ein
kastriertes Konstrukt „Honoraranlagenberater“, der ausschließlich zu Instrumenten nach WpHG beraten darf.
Das ist doch keine umfassende Finanzberatung. Das ist
lächerlich und hat überhaupt nichts mit Förderung der
Honorarberatung zu tun.
({10})
Liebe Frau Aigner, das Körbchen mit zu erledigenden
Dingen auf Ihrem Schreibtisch quillt über. Ich nenne nur
einige Themen: Kartellstrafen, Begrenzung von Dispozinsen, Girokonto für alle, verdeckte Testkäufer bei
der BaFin, was Sie schon vor Monaten versprochen haben, Schlichtungsstellen, Hygieneampel, das Gesetz
zum besseren Schutz für Whistleblower. Ich finde, wenn
man ein so volles Körbchen mit zu erledigenden Dingen
hat, ist es gut, dass man bald den Schreibtisch räumt.
Ich bedanke mich.
({11})
Ich bedanke mich für die beispielhafte Einhaltung der
Redezeit und erteile nun das Wort der Kollegin
Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf über 60 Seiten zieht das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eine verbraucherpolitische Bilanz,
({0})
und es ist eine beeindruckende Bilanz.
Die christlich-liberale Verbraucherpolitik ist erfolgreich. Meine Kollegen von CDU/CSU und FDP haben
die Erfolge von uns, die vielen großen, aber auch die
kleinen Erfolge, schon aufgezählt. Deswegen möchte ich
heute hier die Gelegenheit nutzen, Ihnen zu erklären,
warum wir genau so handeln, wo unsere Grundlagen liegen, wie wir den Verbraucher sehen und was eigentlich
unser Leitbild des Verbrauchers ist. Ich spreche bewusst
nicht vom Leitbild des mündigen Verbrauchers. Die SPD
unterstellt in ihrem Antrag zur Verbraucherpolitik:
Die Bundesregierung hat versäumt, das verbraucherpolitische Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ weiterzuentwickeln.
({1})
Meine sehr verehrten Kollegen von der SPD, wir sind
da einfach schon viel weiter als Sie.
({2})
Wir entwickeln unser Verbraucherbild laufend weiter,
und wir passen es natürlich den Realitäten des Lebens
an.
({3})
Weil sich die Realitäten ständig ändern - als Beispiel sei
nur die Dynamik in der digitalen Welt genannt -, passen
wir unser Verbraucherbild immer wieder an. Adorno hat
„mündig“ einmal so definiert:
Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er
für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet
…
({4})
Der Verbraucher kann heute nicht in allen Bereichen,
die ihn betreffen, alle Informationen überblicken, überdenken, bewerten und dann die perfekte Entscheidung
treffen. Das Warenangebot ist einfach riesig. Es gibt
über 100 000 verschiedene Lebensmittelprodukte in den
Supermärkten, und es gibt etwa 800 000 Finanzprodukte
auf dem Markt. Wer kann sich da noch auskennen?
Wenn Sie sich morgens die Zähne putzen, dann können
Sie entscheiden, ob Sie das mit einem Schwingkopf oder
elektrisch tun oder ob Sie Ihren Zahnbelag per Schall
entfernen. Diese Angebotsfülle ist unbeschreibbar, ist
klasse; das ist wirklich Luxus. Wir leben in einem Land
von Luxus. Aber diese Angebotsfülle kann den Einzelnen eben auch überfordern.
Wir können ja nicht alle Bereiche gleich tief durchdringen - das ist sehr schwierig -, um dann die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Dafür brauchen wir also
Informationen. Aber gute Informationen führen nicht
zwangsläufig zu den richtigen Entscheidungen. Die
spannende Frage ist deshalb: Wie finde ich bei der
Menge an Informationen die Information, die mir wirklich hilft?
Das, was der Begriff „mündiger Verbraucher“ meint,
ist also ein Ideal, nicht nur für Philosophen.
({5})
Vor diesem Hintergrund entwickeln wir unsere Verbraucherpolitik und unser Verbraucherbild weiter.
({6})
Die Verbraucherforschung zeigt: Es gibt den kritischen und den informierten Verbraucher. Diese Verbraucher erwarten von uns zu Recht umfassende Information
und Transparenz.
({7})
Das ist einer der Schwerpunkte unserer Arbeit.
({8})
Deshalb haben wir den Etat für Verbraucherinformation
im Haushalt 2013 auch erhöht.
Die weitaus meisten Verbraucher verhalten sich allerdings eher wie vertrauende Verbraucher. Der vertrauende Verbraucher hat weder Zeit, noch hat er manchmal
Interesse, sich umfassend zu informieren. Er erwartet
deshalb von uns - das mit allem Recht -, dass wir die
nötigen Rahmenbedingungen schaffen, damit er gute
Entscheidungen treffen kann, ohne dass er sich erst seitenweise durch Informationsmaterial durchkämpfen
muss. Er will sich auf die öffentlich zugänglichen Aussagen über die Qualität und die Preise von Produkten
verlassen können. Und das, meine sehr verehrten Damen
und Herren, kann er auch; denn wir in Deutschland haben sehr gute Rahmenbedingungen.
Wir treten für eine moderne Verbraucherpolitik ein,
die vor Gefahren und Täuschungen schützt
({9})
und Selbstbestimmung gewährleistet. Die Verbraucher
können vertrauen, und darauf sind wir stolz.
({10})
Deswegen ist der Betrug mit dem umetikettierten Pferdefleisch so ungeheuerlich. Das Vertrauen in eine ganze
Branche - das ist der eigentliche Skandal - wird erschüttert, weil Einzelne kriminell handeln.
Frau Künast, ein Wort zu Ihnen. Auch Sie konnten
kriminelle Machenschaften nicht verhindern.
({11})
Ich erinnere Sie nur an Nitrofen und Acrylamid.
({12})
Auch Sie konnten es nicht verhindern. Wir sagen nun:
Die verantwortlichen Unternehmer müssen zur Rechenschaft gezogen werden und mit aller Härte unseres
Rechtsstaates bestraft werden.
({13})
An dieser Stelle auch von mir der Dank an unsere
Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner! Sie haben
wirklich schnell und gut reagiert. Gute Reaktionen: Das
ist unsere Politik. Das ist das herausragende Merkmal
unserer Verbraucherpolitik. Wir reagieren.
({14})
Wir reagieren nicht nur auf Skandale, sondern wir reagieren auf die Umstände und auf die Bedingungen, mit
denen die Verbraucher konfrontiert werden. Verbraucherschutz ist aber kein Naturschutz. Für uns sind Verbraucher keine gefährdete Froschart, die wir hätscheln
und einzeln über die Straße tragen.
({15})
Wir bauen ihnen Brücken, aber wir überlassen ihnen die
Entscheidung, ob sie überhaupt über die Straße gehen
wollen. Wir trauen den Menschen etwas zu, und wir achten ihre individuellen Entscheidungen. Deshalb geht unsere Verbraucherpolitik auch mit Augenmaß und Vertrauen vor.
({16})
Die Opposition dagegen setzt auf Skandal und
Drama. Auch heute haben wir wieder ein Stück weit eine
Kostprobe davon bekommen. Skandal und Drama:
Überall lauern Gefahren. Ständig wird man abgezockt
und hintergangen.
({17})
Traue niemandem! - Ich gebe zu: Manchmal ist es sogar
nötig, einen Sachverhalt zu skandalisieren, um Druck zu
erhöhen. Aber seien wir ehrlich, und seien auch Sie an
der Stelle ehrlich: Der eigentliche Grund dafür ist immer
ganz profan: Skandale bringen Schlagzeilen. Nur darum
geht es Ihnen.
({18})
Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, hilft das am Ende
den Verbrauchern? Nein, Ihre Art der Verbraucherpolitik, zusammengesetzt aus Skandal und Verunsicherung,
hilft nicht.
({19})
Denn am Ende des Tages bleiben nur die Verunsicherung
und das Misstrauen.
Wo ist denn Ihre verbraucherpolitische Strategie?
({20})
Wo leisten Sie denn einen einzigen Beitrag, damit das
Vertrauen der Verbraucher in die Wirtschaft gestärkt
wird? Wo sensibilisieren Sie die Wirtschaft für die Sichtweise der Verbraucher? Mir fällt dazu keine einzige noch
so winzige vertrauensbildende Maßnahme von Ihnen
ein.
({21})
Skandal und Verunsicherung: Das ist Ihr Metier. Kontrolle, Pranger und staatliche Eingriffe sind Ihre Mittel
dazu.
({22})
Damit leisten Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschland ebenso wie der Wirtschaft, ja unserem ganzen Land einen Bärendienst.
Nehmen Sie einfach unseren Verbraucherpolitischen
Bericht zur Hand und lesen Sie nach, wie gute Verbraucherpolitik funktioniert!
({23})
Dann kämen wir auch bei uns ein Stück weiter.
Vielen Dank.
({24})
Die Kollegin Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren auf
den Rängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den vergangenen Tagen und auch heute wieder
viel zum Pferdefleischbetrug gehört - ein weiterer Skandal um Lebensmittel, der sich in eine lange Reihe fügt
und das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in die Lebensmittelwirtschaft, aber auch in die Politik erschüttert. Zehn-Punkte-Pläne voller Prüfaufträge
helfen wenig. Wir brauchen grundlegende Veränderungen in der Verbraucherpolitik und im Markt.
Ganz deutlich ist doch geworden: Die Verbraucherpolitik ist im Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft falsch aufgehoben. Wir brauchen eine neue Ressortaufteilung.
({0})
Noch bei jedem Lebensmittelskandal haben Sie sich gescheut, die Lebensmittelwirtschaft mit echten Konsequenzen zu konfrontieren. So kann man die Interessen
der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht konsequent
vertreten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, Sie haben heute noch einmal die
Chance, die Beschlussempfehlung abzulehnen und unserem Antrag zur Neuausrichtung der Verbraucherpolitik
zuzustimmen und damit zu beweisen, dass Sie bereit
sind, endlich Konsequenzen aus der beim Pferdefleischbetrug erneut sichtbar gewordenen Marktintransparenz
und dem Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Verbraucherinnen, Verbrauchern und Anbietern zu ziehen. Sie
können mit uns zusammen gute Verbraucherpolitik machen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen nämlich den Markt, der für die Menschen da ist, Frau
Kollegin Heil. Wir wollen einen wirksamen Verbraucherschutz und die Stärkung der Rechte der Verbraucher
und ihrer Möglichkeiten zur Mitgestaltung statt, wie Sie,
Herr Holzenkamp, behauptet haben, zur Bevormundung.
Zum „Markt für die Menschen“ gehören aber auch faire
Arbeitsbedingungen und verantwortungsvoll agierende
Unternehmen sowie ein transparentes Angebot am
Markt.
({2})
Leider interessiert sich die Bundesregierung bisher
wenig für die Situation der Verbraucher. So wurde der
Verbraucherpolitische Bericht nicht für eine ehrliche Bestandsaufnahme genutzt; stattdessen wurde beschönigt
und gedichtet. Da ist von der gestärkten Marktposition
der Verbraucher die Rede, von der gewährleisteten
Sicherheit und Selbstbestimmung und von den durch
Verbraucherinformation und -bildung gestärkten Alltagskompetenzen. Doch wie wenig hat das mit der Realität zu tun, mit der Intransparenz am Markt, wo Verbrauchern ein Pferd für ein Rind vorgemacht wird, und mit
„Interrail für tote Tiere“, wie die Presse diesen sich quer
durch Europa ziehenden Fleischhandel bezeichnet hat.
Diese Bundesregierung hat eben keine verbraucherpolitische Strategie. Wenn Skandale Verwerfungen am
Markt offenbaren, reagiert sie mit zweifelhaften Informationsangeboten, leeren Ankündigungen oder freiwilligen Vereinbarungen mit der Wirtschaft.
Wir brauchen keine Märchen. Wir brauchen eine
gründliche Analyse der Schwächen bei der Regulierung
des Marktes, bei der Überwachung, der Transparenz, der
Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({3})
Wir brauchen Regeln und Instrumente, die auf die realen
Verbraucher und ihre Bedürfnisse und Probleme zielen
und wirken. In einem Verbrauchercheck müssen wir deren Wirksamkeit überprüfen. Wir müssen wissen, wie
Verbraucher wirklich ticken und wie zum Beispiel Informationen für Verbraucher aussehen müssen, damit sie
verständlich, vergleichbar und schnell erfassbar sind.
Hierbei wollen wir die Ergebnisse der Verbraucherforschung, insbesondere der Verhaltensökonomie, nutzen.
Ich bin doch sehr überrascht und auch fast erfreut, dass
das mittlerweile auch bei der CDU angekommen ist.
({4})
Wo muss denn der Markt transparenter werden, damit
Verbraucher selbstbestimmt entscheiden können? Wo
müssen denn die Anbieter stärker in die Pflicht genommen werden? Wo muss der Staat für mehr Schutz sorgen? Das sind die Fragen, die wir angehen müssen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben ein Gesamtkonzept, wir haben Leitlinien für eine
Neuausrichtung - dabei lege ich Wert auf das Vorwort
„Neu-“ - der Verbraucherpolitik erarbeitet. Wir wollen
einen anderen Markt, einen sicheren und transparenten,
einen gerechten und auch nachhaltigen Markt.
({5})
Wir wollen einen verbraucherfreundlichen Markt, und
wir wollen endlich eine gute Verbraucherpolitik machen.
Helfen Sie uns dabei und unterstützen Sie unseren Antrag! Dann haben wir wirklich eine neue Verbraucherpolitik gemeinsam auf den Weg gebracht.
Vielen Dank.
({6})
Gitta Connemann hat nun für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wissen
Sie, welcher Tag gestern war?
({0})
- „Ein schöner Tag“, das freut mich. - Es war der Tag
der Muttersprache. Deutsch ist nach wie vor eine der
großen Kultursprachen dieser Welt - noch. Wir stellen
fest, dass Englisch die deutsche Sprache in vielen Lebensbereichen zunehmend verdrängt. Sie werden sich
fragen: Was hat das mit dieser Debatte zu tun? Ich sage
Ihnen ganz deutlich: Das ist auch eine Frage des Verbraucherschutzes. 30 Prozent der Deutschen sprechen
kein Englisch, sie werden ausgegrenzt von Begriffen wie
„sale“, „letter of intent“ oder „McClean“. Das erscheint
Ihnen gerade lächerlich; ich höre das. Aber haben Sie
selbst schon einmal versucht, Frau Kollegin, zu verstehen, was sich hinter dem „Hydra Moisturizing Balm“
verbirgt, mit dem Sie sich pflegen?
({1})
Vielen Menschen ist das nicht möglich. Damit fehlt
aber eine Voraussetzung, um sich eigenverantwortlich
entscheiden zu können: Das ist eine verständliche Sprache.
({2})
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben deshalb Gelder für die Einstellung von Sprachförderkräften in Kitas
mit dem Programm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ bereitgestellt. Wir haben dafür gesorgt, dass in
unseren Ministerien auf Bundesebene Gesetzestexte,
Veröffentlichungen und auch die Kommunikation in verständlicher deutscher Sprache verfasst werden. Wir wünschen uns das übrigens auch von den Ländern. Aber da
fehlen uns leider noch die Mitstreiter, Frau Senatorin
Prüfer-Storcks. Das hat nichts mit Deutschtümelei zu
tun, sondern mit Teilhabe und damit auch mit Verbraucherschutz.
({3})
Dieses Beispiel zeigt, dass Verbraucherpolitik eine
Querschnittsaufgabe ist, die viele politische Fachbereiche betrifft. In den letzten Jahren sind ganz wichtige
Schritte hin zu einer strategischen Ausrichtung der Verbraucherpolitik getan worden: die Weiterentwicklung
des Verbraucherministeriums, die Stärkung des Verbraucherzentrale Bundesverbandes und der Stiftung Warentest sowie nicht zuletzt die Vorlage des heutigen Berichts, Frau Ministerin.
Der Verbraucherpolitische Bericht stellt eine Erfolgsbilanz nicht nur für uns, sondern insbesondere auch für
Sie dar, liebe Frau Ministerin Aigner. Ihr aktueller Coup,
der in den Bericht noch gar nicht aufgenommen ist und
den wir in einer eigenen Debatte bewerten könnten, ist
der Entwurf eines Gesetzes gegen unlautere Geschäftspraktiken.
({4})
Denn anders als die Kollegin Maisch dargelegt hat, hat
das Kabinett diesen Entwurf inzwischen verabschiedet.
Dieses Gesetz wird Verbraucher vor Abmahnzocke, betrügerischer Telefonwerbung und unseriösem Inkasso
schützen. Das ist Verbraucherschutz pur.
({5})
Genauso eindrucksvoll wie dieses Gesetz ist das A
bis Z der Verbraucherpolitik der Ministerin. Verbraucherinnen und Verbrauchern geht es heute wirklich besser;
das stellt der Bericht fest. Während die Ministerin in ihrer Rede Bilanz zog, war es auffällig, in welcher besonderen Lautstärke hier im Plenum geschrien wurde. Für
mich gilt hier der Satz von Wilhelm Busch: „Der Neid
ist die aufrichtigste Form der Anerkennung.“ Diese Anerkennung ist Ihnen in Gänze zuteilgeworden, Frau
Ministerin.
({6})
Die Bilanz unserer Ministerin ist auch das Spiegelbild
des Misserfolgs der anderen. Deshalb verstehe ich, dass
insbesondere Sie, Frau Kollegin Künast, persönlich so
gekränkt waren. Das wurde angesichts der Raserei deutlich, in der Sie den Bericht kommentiert haben. Aber ich
hätte mich gefreut, liebe Frau Kollegin Künast, wenn Sie
auch einmal Ihre Konzepte vorgestellt und Ihre Antworten auf Veränderungen unserer Welt dargelegt hätten,
und zwar auch im Sinne der Verbraucher; denn heute
verbraucht der Verbraucher nicht mehr nur allein, sondern ist zum Teil auch selbst Anbieter von Daten bis hin
zu Energie. Sein Ansprechpartner ist nicht mehr der
Tante-Emma-Laden, sondern der weltweit tätige Konzern. Durch das Internet scheint die große Welt auf dem
Rechner greifbar nah zu sein. Politik kann und soll - so
verstehen wir Verbraucherpolitik - dem Verbraucher
nicht die Verantwortung für seine Entscheidungen abnehmen. Aber wir müssen zum Beispiel die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er auf Augenhöhe mit großen Anbietern agieren kann.
Das beste Beispiel ist der digitale Verbraucherschutz.
Es ist bereits sehr viel getan worden. Aber die Entwicklung zeigt, dass wir noch mehr tun müssen. Heute sind
persönliche Daten häufig Handelsware, ohne dass der
Verbraucher es weiß. Wir brauchen deshalb den Schutz
persönlicher Daten vor dem Zugriff durch Dritte. Dies
muss schon in der Schule beginnen. Ich hätte mir gewünscht, Frau Senatorin, dass Sie auch dazu etwas gesagt hätten. Der Umgang mit dem Internet gehört in den
Lehrplan der Schulen. Aber bislang lässt sich dort nichts
finden. Dafür tragen Sie Verantwortung. Es wird viel geredet, aber nicht gehandelt. Vielleicht fangen Sie persönlich damit an, das zu ändern.
Der Datenschutz ist bei der Entwicklung neuer Geräte
fortzuführen. Programme und Anwendungen müssen
künftig noch stärker darauf überprüft werden, inwieweit
Datenschutz ausreichend praktiziert wird, übrigens auch
in unseren Forschungsprogrammen. Sehr wichtig wird
die EU-Datenschutz-Grundverordnung sein; denn dort
wird zukünftig einheitlich für ganz Europa geregelt werden, wie Datenschutz verstanden wird, auch ob es ein
Recht auf Löschung bzw. Vergessen des Internets gibt.
Ich bin unserer Ministerin außerordentlich dankbar,
dass sie sich auf EU-Ebene dafür einsetzt, dass es genau
zu diesen Funktionen kommt, nämlich zum Löschen und
zum digitalen Vergessen. Denn unter über das Internet
zugänglichen Informationen können Menschen tatsächlich ihr Leben lang leiden. Für den Einsatz der Ministerin insoweit meinen herzlichen Dank!
({7})
In Gänze hat die Debatte für mich nur eines gezeigt:
Sie haben lediglich Fragen. Wir haben die Antworten und das ist auch gut so.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zum Verbraucherschutz im Finanzdienstleistungsbereich reden, und zwar deswegen, weil dieses
Thema durchaus relevant ist. Es ist legitim, dass wir in
diesen Markt mit Regulierung eingreifen, auch deswegen, weil die Bedeutung von Finanzentscheidungen für
die Lebensentwürfe von Menschen ungeheuer ist.
Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. Wenn Sie
als junger Mensch eine Altersversorgung abschließen
und dann mit 65 oder 67 feststellen, dass das entsprechende Produkt nicht funktioniert hat, dann ist Ihr Leben
verpfuscht, weil Sie Ihre Entscheidung nicht rückgängig
machen können. Vor diesem Hintergrund ist es gut und
richtig, dass sich diese Bundesregierung wie keine Bundesregierung zuvor des Verbraucherschutzes im Finanzdienstleistungsbereich angenommen hat. Dafür möchte
ich der Ministerin ausdrücklich danken.
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe diese ohnmächtige Wut, diesen Zorn in der Rede von Frau Künast erlebt. Das war doch wohl viel Zorn und Wut gegen sich
selbst, weil sie in ihren sechs Jahren als Ministerin
({1})
im finanziellen Verbraucherschutz nichts auf die Kette
gekriegt hat
({2})
und wahrscheinlich in ihrer politischen Biografie auch
nichts mehr auf die Kette kriegen wird, und das ist gut
so.
({3})
Ich stelle einmal die Einzelmaßnahmen vor, die wir
im finanziellen Verbraucherschutz durchgeführt haben:
Wir haben mit dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz angefangen. Wir haben dort die offenen Immobilienfonds reguliert. Wir haben dafür gesorgt,
dass die bankbasierten Berater registriert werden, dass
sie Sachkunde nachweisen müssen, dass sie Wohlverhaltenspflichten haben, dass sie haften müssen. Wir haben
ein Produktinformationsblatt eingeführt.
Wir haben dann die OGAW-IV-Richtlinie umgesetzt.
Das hört sich wenig spannend an; aber dadurch haben
wir bessere Investmentfonds geschaffen und ein Key Information Document eingeführt, das den Verbraucherschutz verbessert.
({4})
Wir haben dann mit dem Finanzanlagenvermittlergesetz dafür gesorgt, dass eine ganze Branche aus dem
grauen Kapitalmarkt herausgekommen ist. Wir haben
dafür gesorgt, dass die Prospekthaftungspflichten verbessert werden. Wir haben dafür gesorgt, dass auch die
freien Finanzanlagevermittler registriert werden müssen,
Sachkunde nachweisen müssen, dass sie haften müssen,
dass sie Wohlverhaltenspflichten eingehen müssen.
Wir haben darüber hinaus die Provisionen im Bereich
der privaten Krankenversicherung und Lebensversicherung gedeckelt. Wir haben im Gesetz zur Neuordnung
der deutschen Finanzaufsicht dafür gesorgt, dass der
Verbraucherschutz das erste Mal bei der BaFin vernünftig verankert worden ist. Das ist das, was SPD-Finanzminister elf Jahre lang nicht geschafft haben, meine Damen und Herren.
({5})
Wir haben gestern Abend die Umsetzung der AIFMRichtlinie vorgelegt, ein 600-Seiten-Werk, mit dem wir
wesentliche Verbesserungen im Bereich des gesamten
Investmentvermögens erzielt haben. Wir haben einen
Quantensprung geschafft, ein Kapitalanlagegesetzbuch,
das Rechtsgeschichte schreiben wird. Wir haben gestern
Abend zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik den Entwurf einer Regulierung des Bereiches der
Honorarberater eingebracht. Wir haben ein Berufsbild
der Honorarberater im Bereich der Anlageberatung geschaffen, und das ist gut und richtig.
Wir sind dabei, die Fehler aus den vergangenen Legislaturperioden auszumerzen. Wir haben in der Großen
Koalition, was ich ausdrücklich gutheiße, ein Beratungsprotokoll eingeführt. Dieses Protokoll funktioniert aber
nicht so, wie wir uns das gedacht haben. Deswegen evaluieren wir es, und wir werden zügig Vorschläge unterbreiten, wie man das noch besser machen kann.
({6})
Wir bringen uns unglaublich stark in den Prozess unserer europäischen Kollegen ein, die mit der Überarbeitung der Richtlinie für Finanzinstrumente, MiFID II, ein
ganz dickes Verbraucherschutzpaket in Angriff nehmen.
Wir haben darüber hinaus unglaublich viele Einzelmaßnahmen auf den Weg gebracht, so die Verbesserung der
Qualität im Zahlungsverkehr, die Verbesserung bei den
Geldautomaten, das Pfändungsschutzkonto und sehr
viele andere Sachen.
Der beste Verbraucherschutz für die Menschen in diesem Land ist immer noch, wenn die Finanzmärkte stabil
sind, wenn die Menschen das, was sie angelegt haben,
nicht verlieren. Dass diese Finanzmärkte in diesem Land
stabil sind, dass nicht noch einmal das passiert, was im
Jahr 2008 passiert ist, dazu haben wir beigetragen, in27776
dem wir über 25 Maßnahmen und Projekte auf den Weg
gebracht haben.
({7})
Meine Damen und Herren, wir haben uns an der gesamten Wertschöpfungskette orientiert. Wir haben die
Märkte reguliert. Wir haben die Produkte reguliert. Wir
haben die Vertriebswege reguliert. Wir kümmern uns
auch darum, dass die Produkte vernünftig bleiben, wenn
sie von dem Verbraucher erworben worden sind.
Frau Künast, die höflicherweise gerade aufgestanden
ist und den Saal verlassen hat, während ich rede, hat die
Bewertungsreserven angesprochen.
({8})
Sie sollte sich die Frage stellen, ob die Reform der Bewertungsreserven, die wir vorhaben, den Versicherungen
oder zukünftigen versicherten Generationen nützt. Es
gehört auch dazu, dass wir uns im Versicherungsbereich
und bei allen Finanzanlageprodukten um die zukünftige
Generation kümmern.
({9})
Meine Damen und Herren, wir haben eine Devise; wir
haben eine Grundlinie: Wir wollen im finanziellen Verbraucherschutz Schutz statt Bevormundung; wir wollen
Information und Transparenz statt Bürokratie. Daran lassen wir uns gerne messen. Das ist der fundamentale Unterschied zur linken Seite des Hauses, insbesondere zu
den Grünen. Wir glauben an den Menschen. Wir glauben
auch, dass die soziale Marktwirtschaft mit einem vernünftigen Regelwerk immer noch die beste aller Wirtschaftsformen
({10})
und im Übrigen auch die demokratischste aller Wirtschaftsformen ist. Wir sind gegen Bevormundung. Wir
möchten nicht, dass in Berlin jemand sitzt, der uns vorschreibt, wann wir Fleisch essen, welche Autos wir fahren und welche Finanzprodukte wir kaufen.
({11})
Die Grundannahme von grüner und roter Verbraucherschutzpolitik ist: Der Verbraucher ist dumm; der Anbieter ist böse. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Wir glauben an die Märkte. Wir glauben an vernünftig
regulierte Märkte. Wir glauben an die Mündigkeit der
Verbraucher. Das verweist auf die Entscheidung, die die
Wählerinnen und Wähler in diesem Land am 22. September zu treffen haben: Glauben Sie an die Menschen,
oder glauben Sie an grüne und rote Bevormundung?
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Nun müssen wir ordentlich über eine Reihe von Vorlagen befinden.
Zunächst wird interfraktionell die Überwindung der
Vorlage auf der Drucksache - ({0})
- Vielleicht läuft es im Ergebnis auf einen ähnlichen Effekt hinaus. Aber das wollen wir auf diese Weise nicht
vorwegnehmen. - Es geht um die Vorlage auf Drucksache 17/8998. Hier wird interfraktionell die Überweisung
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
offensichtlich der Fall.
Dann kommen wir nun unter dem Tagesordnungspunkt 33 b zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz zu dem Antrag der SPD-Fraktion
mit dem Titel „Moderne verbraucherbezogene Forschung ausbauen - Tatsächliche Auswirkungen gesetzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 17/4891, den Antrag der SPD-Fraktion auf
Drucksache 17/2343 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 33 c geht es um die
Abstimmung über eine weitere Beschlussempfehlung
dieses Ausschusses über einen Antrag der SPD-Fraktion
mit dem Titel „Verbraucherpolitik neu ausrichten - Verbraucherpolitische Strategie vorlegen“, Drucksache
17/8922. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9602, diesen Antrag der
SPD-Fraktion abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 sowie den
Zusatzpunkt 8 auf:
34 Beratung des Antrags der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Lars Klingbeil, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Projekt Zukunft - Deutschland 2020 - Ein
Pakt für die Kreativwirtschaft
- Drucksache 17/12382 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
G. Wöhrl, Wolfgang Börnsen ({2}), Dorothee
Präsident Dr. Norbert Lammert
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner
Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Sebastian
Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsfähigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft weiter erhöhen - Initiative der
Bundesregierung verstetigen und ausbauen
- Drucksache 17/12383 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion
das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Berlinale ist gerade zu Ende gegangen. Sie alle haben,
wie ich, die Kritiken entweder gelesen oder gehört. Da
sagen die einen: Zwischen Oscarverleihung und Cannes
hat kein anderes Festival Platz; da kann die Berlinale gar
nicht gelingen. Da sehen die einen zu wenig Stars auf
dem roten Teppich in Berlin; den anderen sind gerade
die Stars auf dem roten Teppich ein Dorn im Auge, weil
die angebliche Machtübernahme durch Hollywood befürchtet wird. Man kann die ganzen Kritiken schon zitieren, bevor das Festival stattgefunden hat. Aber ich sage
Ihnen: Es war ein großes Filmfestival hier in Berlin, das
vor allen Dingen von anderen Filmfestivals unterscheidbar ist, mit großartigen Filmen, mit großer Schauspielkunst, mit bewegenden Geschichten. Deshalb zum Anfang von hier aus ein ganz herzlicher Glückwunsch an
die Preisträgerinnen und Preisträger der diesjährigen
Berlinale!
({0})
Jetzt, ein paar Tage später, sind die roten Teppiche
wieder eingerollt. Die Realität ist zurück, und sie besteht
für Künstlerinnen und Künstler, auch für viele Gäste der
Berlinale in aller Regel eben nicht aus Edellimousinen,
Cocktailpartys und Galaabenden. Der Glamour kann
eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass das echte Leben vieler Kulturschaffender eher mit dem Backen kleiner Brötchen zu tun hat: Die Kreativität wird eher weniger für die Kunst gebraucht als vielmehr dafür, bis zum
Monatsende irgendwie über die Runden zu kommen.
Das ändert sich, meine sehr verehrten Damen und
Herren, auch nicht dadurch, dass wir die Kreativwirtschaft zu einem Wirtschaftsfaktor erklären. Es ist zwar
richtig: Die Wertschöpfung, die hier Jahr für Jahr erreicht wird, kann sich locker mit der Automobil- oder
mit der Chemiebranche messen - inzwischen arbeiten
mehr als 1 Million Menschen in der Kreativwirtschaft -,
trotzdem bleibt es dabei: Faire Bezahlung und soziale Sicherheit sind in dieser Branche immer noch ein Fremdwort.
({1})
Natürlich muss es nicht immer der rote Teppich sein.
Aber ich sage auch: Eine Gesellschaft, die ihre Künstler
nicht wertschätzt, ist sich selbst nichts wert. Wertschätzung und Fairness gegenüber Künstlerinnen und Künstlern geht deshalb weit über Sonntagsreden hinaus, geht
auch weit über den Antrag hinaus, den uns die Koalitionsfraktionen hier heute vorgelegt haben. Lassen wir
einmal außen vor, dass sie mit diesem Antrag sozusagen
in letzter Minute kommen, lassen wir einmal beiseite,
dass jedenfalls uns vieles in diesem Antrag bekannt vorkommt und wir es irgendwie schon in unseren Anträgen
gesehen haben. Darüber will ich gar nicht reden; denn
darin liegt immerhin die Chance gemeinsamer Bemühungen hier im Parlament. Trotzdem fragt man sich natürlich, wenn man Ihren Antrag sieht: Warum haben Sie
eigentlich nichts davon in den letzten drei Jahren umgesetzt? Das ist die entscheidende Frage.
({2})
Sie sind nämlich mit Versprechungen in diese Legislaturperiode gestartet.
({3})
Sie haben die Förderung innovativer Projekte in der Kreativwirtschaft versprochen; nur ist daraus nicht viel geworden. Sie haben versprochen, das Urheberrecht an die
moderne Informationsgesellschaft anzupassen. Unverzüglich, so haben Sie damals gesagt, wollten Sie uns hier
den dritten Korb der Reform des Urheberrechts vorlegen. Ich weiß auch, dass viele Kolleginnen und Kollegen
aus den Regierungsfraktionen das immer noch wollen;
nur bewegt hat sich eben nichts, rein gar nichts.
Das ist hier nicht anders als bei der Rente, beim Mindestlohn oder bei der Finanzmarktbesteuerung: Der eine
Teil der Koalition will etwas, der andere Teil will etwas
anderes oder gar nichts, und das Ergebnis ist gegenseitige Blockade. Ich könnte auch sagen: Das Justizministerium hat keinen Handschlag für den dritten Korb der Reform des Urheberrechts gemacht. Deshalb bleibt die
bittere Bilanz: warme Worte, keine Taten. Das ist eben
zu wenig, wenn es um die Lebensgrundlage für Kulturschaffende geht, meine Damen und Herren.
({4})
Genau darum geht es: Wenn wir heute darüber reden, das
Urheberrecht auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht es
um die Sicherung der Lebensgrundlage der Kulturschaffenden.
Wir brauchen und wir wollen, vermutlich sogar miteinander, auf der einen Seite die Freiheit im Netz; aber auf
der anderen Seite darf das Digitale den Künstler nicht
fressen. Denn das Leben bleibt analog, hat Monatsanfang und Monatsende, und dazwischen liegen dreißig
Tage Alltag, der irgendwie bewältigt werden will. Deshalb muss es uns gelingen, künstlerische Arbeit in der
digitalen Welt angemessen zu entlohnen. Das klingt gut;
das ist auch notwendig. Aber wenn das gelingen soll,
dann müssen wir gleichzeitig durch eine aufgeklärte
Netzpolitik dafür sorgen, den Kreativen mehr Raum und
mehr Chancen im Netz selbst zu geben.
Die Abschottung zwischen Kulturförderung auf der
einen Seite und Wirtschaftsförderung auf der anderen
Seite wird nicht funktionieren. Eine Kulturförderung, die
sozusagen für die Kultur außerhalb des Netzes zuständig
ist, und eine Wirtschaftsförderung, die zuständig ist für
das Netz, aber nicht für die Kultur: Diese gegenseitige
Abschottung müssen wir überwinden, weil sie längst
von der Wirklichkeit überholt ist.
Allein dieses Beispiel zeigt: Die Aufgaben, vor denen
wir stehen, sind umfangreich und komplex. Das ist der
eigentliche Grund dafür, weshalb wir schon seit längerer
Zeit die politische Binnendiskussion, die Diskussion innerhalb der Partei und der Ausschüsse, verlassen haben
und uns mit denen zusammengesetzt haben, die die gewaltigen technologischen Veränderungen in ihrer täglichen Praxis erleben.
Mit vielen Künstlern, Kulturunternehmern und Experten der digitalen Welt führen wir seit einiger Zeit einen intensiven Dialog. Was wir als regelungsbedürftig
und regelungsgeeignet erkannt haben, das nennen wir
den Kreativpakt. Es geht hier um modernisierte Rahmenbedingungen, es geht um soziale Absicherung von
Kulturschaffenden und Kreativen, und es geht insgesamt
- das ist das eigentliche Ziel - um die Förderung des riesigen Potenzials der Kreativwirtschaft und des Kreativen. Ich hoffe, dass wir uns in diesem Parlament darüber
einig sind.
({5})
Die praktische Erfahrung derjenigen, die dabei waren,
hat zu guten Ergebnissen geführt. Viele davon finden Sie
in unserem Antrag wieder. Tim Renner und Paul van
Dyk zum Beispiel leben nicht nur für, sondern auch von
der Musik. Sie wissen, dass das Ganze nur funktioniert,
wenn das Urheberrecht den Komponisten, den Musikern
und den Sängern ein faires Einkommen ermöglicht, gerade auch in Zeiten des Internets.
Wir wollen einen gerechten Ausgleich zwischen den
Interessen der Urheber, der Verwerter und der Nutzer.
Wir haben eine ganze Reihe von konkreten Vorschlägen
entwickelt - Sie finden sie in unserem Antrag -, um die
strukturell schwächere Position des Urhebers zu verbessern, aber auch, um zum Ausgleich zwischen Urhebern,
Nutzern und Verwertern zu kommen.
Wir müssen darüber hinaus - das ist meine feste
Überzeugung - wieder begreiflich machen, dass Verwertungsgesellschaften - bei aller Kritik im Detail, die auch
ich kenne - den Nutzern nicht etwas nehmen, worauf sie
eigentlich kostenfreien Anspruch haben, sondern dass
Verwertungsgesellschaften vor allen Dingen Künstler
schützen, weil Leben in und von der Kunst erst möglich
wird, wenn die Künstler von ihren Ideen und Beiträgen
zur Kunst tatsächlich leben können. Die Vielfalt von
Kunst, die wir in unserem Alltag als so selbstverständlich empfinden, wird am Ende davon abhängen.
({6})
Ein gutes, legales Angebot ist der beste Schutz vor Piraterie, den wir uns vorstellen können. Das gilt nicht nur
für den Bereich der Musik. Das gilt erst recht dort, wo
man für die Nutzung von Kreativangeboten fast ausschließlich auf das Netz angewiesen ist, Beispiel GameEntwickler. Wir haben mit denjenigen gesprochen, die
die Erfahrung gemacht haben, dass man auch im Netz
für gute Produkte sein Geld bekommt, wenn das Angebot stimmt.
Deshalb lautet unser Vorschlag: Pfade entwickeln und
für gute Angebote sorgen, aber gleichzeitig auch die
Einsicht fördern, dass nicht nur das Smartphone Geld
kostet, sondern auch das, was auf dem Smartphone drauf
ist, der Content, die Kunst. Darum geht es. Vergüten statt
verbieten, das ist, jedenfalls nach unserer Auffassung,
der richtige Weg.
({7})
Vergütung ist der eine Aspekt. Soziale Absicherung
ist der andere Aspekt. Mit Verlaub, auch da passt vieles
nicht mehr zusammen. Anders gesagt: Da stößt ein dynamischer Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts auf ein soziales Sicherungssystem des 19. Jahrhunderts. Da ist es
fast zwangsläufig, dass viele durch den Rost fallen. Ja,
wir haben eine Künstlersozialkasse - viele Sozialdemokraten haben daran mitgewirkt, dass das funktioniert -,
aber auf den Lorbeeren der Vergangenheit darf man sich
nicht ausruhen. Das ist kein Ruhekissen. Wenn Künstler
auch in zehn Jahren noch sagen sollen: „Das mit der
Künstlersozialkasse war eine gute Idee, das trägt“, dann
müssen wir uns jetzt möglichst miteinander daranmachen, diese Künstlersozialkasse tatsächlich zukunftsfest
zu machen.
({8})
Die Künstlersozialkasse darf aber nicht der Notnagel
für alle diejenigen sein, die irgendwie in der Kreativwirtschaft Beschäftigung finden. Es geht auch darum - das
ist nicht einfacher, vielleicht sogar noch schwieriger -,
die klassischen Sozialversicherungssysteme anzupassen. Wir sehen, dass gerade in der Kreativwirtschaft
viele unterwegs sind, die nicht langjährig und nicht ohne
Unterbrechungen tätig sind. Deshalb brauchen wir auch
in den klassischen Sozialversicherungssystemen Verbesserungen für diejenigen, die überwiegend in Projekten
arbeiten, die zwischen abhängiger und selbstständiger
Beschäftigung wechseln. Wir brauchen deshalb die Ausweitung der Rahmenfrist auf drei Jahre, wir brauchen die
Aufnahme von Soloselbstständigen, und wir brauchen
soziale Mindeststandards bei der Kulturförderung.
Alles das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Der Kreativpakt, den Sie in diesem Antrag wiederfinden, beinhaltet
natürlich viel mehr. Ich möchte sagen, worum es vor allen Dingen geht: Es geht ausnahmsweise nicht um die
Verteilung von Goodies. Es geht nicht um 1 Million
Euro mehr für den Film oder 1 Million Euro mehr für
den Tanz. Wir haben einmal versucht, das Rituelle in der
Kulturpolitik zu durchbrechen, uns mit den Strukturen
der Veränderung zu befassen. Deshalb wird es auch keinen spontanen Beifall - das erwarte ich auch gar nicht vom Bühnenrand geben. Das, was Sie in diesem Antrag
finden, ist aber mehr als eine Ansammlung von Ankündigungen. Das ist ein Programm.
Wer das Geschäft kennt, der weiß: Der Weg in eine
bessere Zukunft von Kunst und Kultur liegt abseits der
roten Teppiche. Er wird uns durch viel Unbekanntes und
durch so manches gesetzgeberische Unterholz führen.
Aber lassen Sie uns die Kreativität, den Tatendurst und
den Optimismus der Kultur zum Vorbild nehmen für die
Politik. Wir wollen eine Neuaufstellung der Politik für
Kultur und Kreativwirtschaft. Unsere Vorschläge liegen
auf dem Tisch. Wir laden Sie herzlich ein, mitzureden,
mitzudenken und vor allen Dingen mitzumachen.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Dagmar Wöhrl.
({0})
Herr Präsident, vielen herzlichen Dank. - Ich glaube,
Herr Kollege Steinmeier, Sie haben bei Ihrem Lob für
die Berlinale unseren Staatsminister vergessen. Ohne unseren Staatsminister, Herrn Neumann, wäre nicht möglich gewesen, was viele Menschen in den letzten Wochen erleben konnten. - Vielen herzlichen Dank für
diese großartige Unterstützung!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man von
Kultur spricht, denken die meisten an öffentliche Förderung, an Staatstheater, an Opernhäuser, vielleicht auch
an Kinos; aber die wenigsten denken an die vielen kleinen Betriebe und Kleinstgewerbe, die versuchen, sich
über Wasser zu halten, die erwerbswirtschaftlich tätig
sind, an die vielen Kunstbühnen, Galerien, Tonträger
und vieles andere mehr. Das sind diejenigen, die die Kultur beleben.
Wir wissen, dass Kultur kein weicher Standortfaktor
mehr ist.
Die Wirtschaftszahlen belegen es: 244 000 Unternehmen sind inzwischen hier tätig, und es gibt in diesem Bereich über 1 Million Beschäftigte. Mittlerweile erreichen
die Umsätze - das ist angesprochen worden - mit über
137 Milliarden Euro längst diejenigen der Automobilindustrie oder anderer großer Industriezweige.
Das bedeutet für unser rohstoffarmes Land, dass die
Kultur- und Kreativwirtschaft eine der wichtigsten Zukunftsressourcen in unserem Land ist. Das heißt aber
auch für uns, dass wir als Union kompromisslos davon
überzeugt sind, dass wir in die Kulturschaffenden investieren müssen, um so Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft
auch in Zukunft zu erhalten.
({1})
Wir brauchen diese Kreativität für den technologischen Fortschritt in unserem Land. Das war auch der
Grund dafür, dass das Wirtschaftsministerium 2007 unter Wirtschaftsminister Michael Glos und Staatsminister
Neumann die Initiative Kultur- und Kreativitätswirtschaft ins Leben gerufen hat. Das war ein wichtiger
Schritt. Wir sind froh, dass wir damals diesen Schritt getan haben. Es war wichtig, diesen wirtschaftlichen und
kreativen Bereich viel mehr in das politische Geschehen
einzubinden und ihn stärker ins öffentliche Bewusstsein
zu bringen.
Was wussten wir damals? Wir hatten damals keine
Bestimmungsmerkmale. Wir wussten damals nicht, welche Handlungsoptionen wir überhaupt verfolgen sollen.
Es stellte sich die Frage: Wie können wir diese Kreativen unterstützen, damit sie noch wettbewerbsfähiger
werden - nicht nur national, auch international?
Wir haben uns hingesetzt und Branchenhearings,
Fachforen und Expertengremien in ganz Deutschland
durchgeführt, um herauszufinden: Was ist notwendig,
um auch hier unterstützend tätig sein zu können?
Das Wichtigste war, dass wir am Anfang ein Kompetenzzentrum in Eschborn mit sieben Regionalbüros geschaffen haben.
({2})
- Acht, Sie haben recht, Herr Staatssekretär. - Es gibt acht
Regionalbüros und Beratungsstellen in über 77 Städten;
sie alle sind aktiv. Inzwischen haben über 8 000 Beratungsgespräche stattgefunden.
({3})
Es gab über 350 Foren. So hat man versucht, dass alle
Akteure zusammenkommen, um ihnen zu helfen, sich zu
vernetzen. Man hat ihnen Fördermöglichkeiten aufgezeigt und ihnen geholfen, auf Auslandsmessen aktiv zu
sein. Man hat ihnen bei der Aus- und Weiterbildung geholfen und vieles andere mehr.
Die Beratung fand nicht nur vor Ort statt, sondern man
hat auch einen Internetauftritt eingerichtet, auf den jeder
sofort zugreifen kann. Es gibt dort über 70 000 Klicks pro
Monat. Das alles wäre ohne unsere Initiative nicht geschehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wir vergeben Preise, um Anreize zu schaffen, beispielsweise den Computerspielpreis oder den Design27780
preis. Für die Auszeichnung „Kultur- und Kreativpiloten“, die zum dritten Mal stattfand, haben sich über
600 Teilnehmer beworben.
Aber wir wissen natürlich auch, dass wir gefordert
sind und dass wir unsere gesetzlichen Rahmenbedingungen optimieren müssen. Die Digitalisierung schreitet voran; das ist richtig. Wir müssen uns mit neuen Themen
auseinandersetzen. Dazu gehören auch das Urheberrecht
und das Recht des geistigen Eigentums; ich will das
nicht verschweigen.
({5})
Lieber Kollege Steinmeier, es nützt jedoch nichts,
wenn man eine Branche beschreibt, aber nicht sagt, wie
man ihr helfen kann.
({6})
Das ist nicht einfach. Wir wissen, dass hier eine Problematik besteht. Dabei sind Urheber, Nutzer und Verwerter
zu berücksichtigen. Zum einen gibt es das Recht, dass jeder von seiner kreativen Arbeit leben können muss. Zum
anderen wollen wir aber auch die Freiheit der Kommunikation im Netz. Das alles muss zusammengebracht werden. Das ist nicht so einfach. Da kann man nicht plattitüdenhaft sagen: Das muss geregelt werden. Wir hoffen,
dass auch von Ihrer Seite dazu praktikable Vorschläge
kommen, die realisierbar sind.
({7})
Eine ähnliche Problematik besteht im Zusammenhang
mit dem Recht auf Informationsfreiheit und dem Recht
auf geistiges Eigentum. Auch hier müssen wir versuchen, im Dialog mit diesen beiden Parteien, die sich hier
gegenüberstehen, einen Konsens zu finden, damit jedem
recht getan ist.
Ich habe es gesagt: Wir sind froh, dass wir damals
diese Initiative auf den Weg gebracht haben. Sie hat sich
weiterentwickelt. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen.
Es ist unwahrscheinlich viel getan worden. Aber die Entwicklungen werden immer schneller. Wir sehen das
beim Internet. Es gibt unwahrscheinlich viele Apps und
neue Kommunikationsformen. Immens viele Kreative
tummeln sich in diesem Bereich.
Wir müssen darüber nachdenken, ob wir die elf Teilbranchen, die wir festgelegt haben, so statisch belassen
wollen und wie wir es schaffen, den neuen Entwicklungen zukünftig Rechnung zu tragen. Wir müssen - das ist
ganz dringend - die Fördermaßstäbe weiter modernisieren. Wir wissen um die Problematik des Eigenkapitals,
nicht nur in der Kultur- und Kreativwirtschaft, sondern
auch bei anderen kleinen und mittleren Betrieben. Wir
müssen dafür sorgen, dass es zukünftig möglich sein
wird, von der KfW Kredite auch für diese Kleinstbetriebe zu bekommen, ohne dass Eigenkapital vorhanden
ist.
({8})
Wir müssen - das ist ganz wichtig - von diesem technologischen Innovationsbegriff wegkommen. Was heißt
technologischer Innovationsbegriff? Das heißt, dass die
meisten Förderprogramme heute so aufgebaut sind, dass
man eine Förderung nur bekommt, wenn man den technologischen Innovationsbegriff erfüllt. Aber es gibt, gerade bei den Kreativen, wahnsinnig viele Bereiche, in
denen das nicht der Fall ist. Nehmen Sie als Beispiel einen Restaurator. Er betreibt seinen Restaurationsbetrieb
nicht mit neuen, sondern mit alten Techniken.
Eine große Rolle in diesem Bereich spielen Frauen.
Dies ist ein Riesenbereich, liebe Rita. Über 50 Prozent
der Beschäftigten in diesem Bereich sind Frauen, über
40 Prozent der Selbstständigen sind Frauen. Das ist mit
anderen Bereichen, in denen es nur 7 Prozent sind, gar
nicht zu vergleichen. Wir müssen daher die Beratungsangebote anpassen. Ich glaube, wir sind hier auf einem
guten Weg.
({9})
Zum Schluss möchte ich noch eines erwähnen, das
wir, glaube ich, noch mehr in den Blick nehmen müssen. Dies haben wir ein bisschen vernachlässigt. Es
geht um das kreativwirtschaftliche Potenzial des Handwerks. Das Handwerk erscheint nicht in unseren Teilbereichen, aber 55 000 dieser Betriebe sind überwiegend
kultur- und kreativwirtschaftlich tätig. Ich denke zum
Beispiel an Goldschmiede, an Musikinstrumentenbauer
und Uhrmacher. Dies ist wirklich ein Hort des Spezialwissens; sie sind der Träger von Innovationen. Wenn
Sie heute sagen, dass der Softwarebereich der digitale
Teil der Kultur- und Kreativwirtschaft ist, dann ist das
Handwerk der analoge Teil. Deswegen müssen wir,
wenn wir die Teilbereiche neu definieren, darauf achten, dass das Handwerk seinen richtigen Standort bekommt. Die EU-Ebene ist uns da voraus. Sie bezeichnet es inzwischen als „Arts and Crafts“. Sie spricht also
nicht allein von „Arts“, sondern auch von „Crafts“. Wir
sollten es dem gleichtun.
Wir sind in der Außenwirtschaftsförderung gut vorangekommen. Seit fünf Jahren, seit wir diese Initiative ins
Leben gerufen haben, ist „Created in Germany“ ein
Name geworden. Unsere kreativ Tätigen sind auf sehr
vielen Messen vertreten. Auf der Designmesse vor kurzem in Hongkong hatten wir einen tollen Auftritt.
Aber wir wissen, dass immer noch viel zu tun ist. Wir
werden dieser Branche weiterhin ein Gesicht geben. Wir
werden weiterhin dafür sorgen, dass die Branche in der
politischen Diskussion und in der öffentlichen Darstellung ein Gewicht hat. Kreativität ist eine Schlüsselfunktion. Wir brauchen sie für unseren technologischen
Fortschritt. Wir wissen: Ohne Kreativität gibt es keine
Innovationen, und ohne Innovationen wird es keinen
Fortschritt geben.
({10})
Es ist ein harter Standortfaktor geworden. Wir sind eine
Kulturnation. Ich glaube, wir sind auch stolz darauf. DaDagmar G. Wöhrl
mit wir auch in Zukunft stolz darauf sein können, müssen wir weiterhin daran arbeiten.
Vielen Dank.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Petra Sitte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kluge
Menschen wissen es längst: Digitalisierung und Internet
haben uns einen tiefgreifenden Strukturwandel beschert.
Vorreiter ist ganz zweifelsohne der Kreativsektor, über
den wir heute reden. Die Kolleginnen und Kollegen der
SPD sind nun dieser Erkenntnis gefolgt und haben uns
einen Antrag vorgelegt, der zeigen soll, wie man diesen
Strukturwandel politisch begleiten kann. Das ist aus unserer Sicht im Prinzip allemal der richtige Ansatz, und er
ist meilenweit realitätsnäher als der heute ebenfalls zur
Debatte stehende Antrag der Regierungsfraktionen.
({0})
CDU/CSU und FDP bezeugen mit ihrem Antrag einmal mehr beeindruckend, dass sie diesen Strukturwandel
nicht im Ansatz verstanden haben.
({1})
Dass Schwarz-Gelb mit verlässlicher Konsequenz die
massiven sozialen Probleme, die sich im Kreativsektor
auftun, ignoriert, ist für mich ein weiterer Grund, mich
heute vor allem mit dem Antrag der SPD und ihren Vorschlägen zu beschäftigen. Schwarz und Gelb bleiben
eben Signalfarben für Untiefen, und denen weicht man
besser aus.
({2})
Der SPD-Antrag versucht sehr wohl, Fahrwasser zu
gewinnen, sprich: die Chancen und Folgen der Digitalisierung für die Kreativwirtschaft zu benennen. So ein
Rundumschlag - das hat gerade schon eine Rolle gespielt - muss zwangsläufig an vielen Stellen eher oberflächlich bleiben. Ansonsten würde der Rahmen gesprengt; das ist ganz normal.
Wirklich spannend ist es an den Stellen, an denen es
notwendig ist, die Dinge durch eigene Vorstellungen und
Vorschläge zu konkretisieren. Ich glaube, zu vielen
Punkten Ihres Antrags haben wir Linke bereits Anträge
vorgelegt bzw. konkrete Vorschläge erarbeitet. Ich nenne
Ihnen nur ein paar Beispiele.
Im Hinblick auf den von der SPD geforderten fairen
Interessenausgleich zwischen Urhebern, Nutzern und
Verwertern haben wir 2011 einen umfassenden Antrag
zur Reform des Urheberrechts vorgelegt. Im Herbst des
vergangenen Jahres haben wir den Entwurf eines Gesetzes zur Schaffung eines durchsetzungsstarken Urhebervertragsrechts vorgelegt, der in Zusammenarbeit mit Urhebern, Juristen und Juristinnen und Verlegern - quasi
Open Source - entstanden ist und mit dem wir genau die
Dinge ändern wollten, die auch die SPD in ihrem Antrag
kritisch sieht.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine Reform der Verwertungsgesellschaften, die diese transparenter machen und
die Ausschüttungspraxis fairer gestalten soll. Wir haben
auch dazu einen Antrag eingebracht.
Schließlich: Sie wollen ein offenes WLAN fördern
und dazu die Haftungsunsicherheiten beseitigen. Wir haben auch dazu einen Antrag erarbeitet, der auf eine Initiative des Vereins Digitale Gesellschaft zurückgeht, und
ihn in den Bundestag eingebracht.
({3})
Mit Verlaub, es geht mir nicht darum, mit der SPD
Hase und Igel zu spielen. Worauf ich hinauswill, ist, dass
es ein gemeinsames Potenzial gibt, ein progressives und
solidarisches Programm zur Begleitung des Strukturwandels namens Digitalisierung umzusetzen. In diesem
Sinne möchte ich Sie und natürlich auch die anderen
Fraktionen dafür gewinnen, bereits vorliegende Konzepte und Vorschläge mit aufzunehmen und diese letztlich zu realisieren.
({4})
So spricht die SPD in ihrem Antrag beispielsweise
von sozialen und ökonomischen Risiken, die mit dem
Wachstum der Kreativbranche verbunden sind. Richtig!
Aber leider ist es bei der Benennung der Risiken geblieben. Was noch schwerer wiegt, ist, dass Sie, was die bereits vorhandenen Lösungsvorschläge angeht, hinter Ihren Möglichkeiten zurückbleiben.
Meine Damen und Herren, die Kreativbranche wird
im Allgemeinen als Boombranche bezeichnet. Gern wird
auch die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse in der
Kreativindustrie als Prototyp für Entwicklungen des
Gesamtarbeitsmarktes angesehen; das hat bei Herrn
Steinmeier bereits eine Rolle gespielt. Aber aus meiner
Sicht muss man davor warnen. Man muss die Signale,
die sich dort zeigen, bereits heute ernst nehmen und sich
fragen: Was sind das von der Qualität her für Arbeitsverhältnisse?
Bei den sogenannten Kreativjobs geht es viel zu oft
um prekäre Beschäftigung. Lange Arbeitszeiten, marginale Stundenlöhne, unbezahlte Überstunden, geringe
Jobsicherheit und unfreiwillige Scheinselbstständigkeit
gehören schlicht und ergreifend zum Alltag in dieser
Branche. Der Mehrzahl der Kreativarbeiterinnen und -arbeiter fehlt massiv soziale Absicherung. Ich erinnere an
solche Dinge wie private Rentenvorsorge, Krankengeldregelungen oder die bereits angesprochenen Bedingungen für die Auszahlung von Arbeitslosengeld I, die für
die betreffenden Personen gar nicht oder fast nicht zu erfüllen sind.
Was brauchen wir also? Wir brauchen Mindesthonorare für Freiberufler und Soloselbstständige. Wir brauchen eine Neuregelung der Anwartschaft im Hinblick
auf das Arbeitslosengeld I; auch hierzu haben wir im
Übrigen einen Antrag in den Bundestag eingebracht.
({5})
Wir müssen - da kann ich mich der SPD nur anschließen - die Künstlersozialkasse nicht nur erhalten, wir
müssen sie stärken.
({6})
Der offene Kunstbegriff im Künstlersozialversicherungsgesetz muss unbedingt erhalten bleiben. Der damit einhergehende Ermessensspielraum zur Aufnahme von
neuen Gruppen von Kreativen sollte so weit wie möglich
ausgeschöpft werden. Wenn wir nach der Finanzierung
dieser Künstlersozialkasse fragen, dann ist es auch notwendig, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass die
Verwerter - und zwar alle Verwerter - zur Zahlung mit
herangezogen werden müssen.
({7})
Insofern unterstützen wir die vorgeschlagenen Neuregelungen.
Auch in der Kreativbranche braucht es konkrete Frauenfördermaßnahmen. Es ist erstaunlich; aber ausgerechnet in diesem Punkt ist das Papier der Koalition progressiver - wenn auch minimal. Frauen sind von prekären
Verhältnissen in der Kreativbranche besonders stark betroffen; das konnten wir in einer aktuellen Studie des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu den Soloselbstständigen lesen.
Mit der Konzentration auf die reine Kreativwirtschaft
läuft der SPD-Antrag darüber hinaus Gefahr, Kultur als
Ganzes aus dem Blick zu verlieren und allein wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Wir brauchen aber eine Kulturpolitik, die alle drei Bereiche der
Kultur- und Kreativszene umfasst: den privatwirtschaftlichen Sektor, den frei-gemeinnützigen Sektor und den
Bereich der öffentlichen Förderung. Warum? Weil diese
drei Bereiche ein eng verwobenes Beziehungsgeflecht
bilden. Unternehmen und Kultureinrichtungen finanzieren sich heutzutage aus verschiedenen Töpfen und arbeiten nach Mustern, die aus allen drei genannten Bereichen stammen.
Auch die Kreativen selber - das hat vorhin schon eine
Rolle gespielt - vereinen in ihrem Arbeiten häufig alle
drei Bereiche; ansonsten könnten sie gar nicht überleben. Wie alle Studien zeigen, wird abwechselnd oder
zeitgleich selbstständig und abhängig beschäftigt gearbeitet.
Dass rund 90 Prozent der Erwerbstätigen im Kulturbereich heute im privatwirtschaftlichen Sektor tätig sind, ist
- das werden viele Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker sofort nachvollziehen können - keine zufällige Entwicklung. Diese Entwicklung geht eindeutig
auf den massiven Rückbau öffentlicher Strukturen zurück. Infolgedessen hat sich die wirtschaftliche Lage der
Kulturschaffenden nachhaltig verschlechtert. Um wieder
eine Balance herzustellen, ist es wichtig, dass gerade dem
frei-gemeinnützigen Bereich und dem öffentlichen Kulturbereich viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Diese Bereiche müssen gestärkt werden.
({8})
Kurzum: Wir brauchen eine Vernetzung der drei Kreativbereiche. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die
Kreativwirtschaft in die öffentliche Kulturförderung einbezogen werden muss - aber nur mit ganz klaren kulturellen Zielsetzungen. Eine verengte, ökonomisierte
Sichtweise auf Kultur darf nicht zum Leitbild werden.
Ich glaube, dass wir da relativ schnell einig sind.
({9})
Wichtig ist vor allem - das ist entscheidend für diese
Debatte -, dass endlich ausreichend Geld bei den Kreativen selbst ankommt. Da hilft, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, ein Hauptstadtkulturfonds light
für wenige Städte und Regionen nicht; das wäre sozusagen nur ein Pflasterchen.
Zunächst sollte durch einen Kulturbericht Transparenz geschaffen und offengelegt werden, bei wem die
Kulturfördergelder tatsächlich ankommen und ob diese
Gelder gerecht verteilt werden. Hier bleibt der SPD-Antrag komischerweise - ich verstehe das gar nicht - hinter
den Forderungen, die Sie in Ihrem Kreativpakt formuliert haben, zurück.
Interessant ist weiter, dass in dem Antrag der SPD
mehrfach die Öffnung von Prozessen thematisiert wird:
Es tauchen Schlagworte wie Open Innovation, Open
Education, Open Government auf. Ich finde das gut; das
sollte man auf jeden Fall weiter forcieren. Wenn wir das
konsequent zu Ende denken, erkennen wir, dass sich hier
eine wichtige Ergänzung und Alternative zu der im SPDAntrag so dominanten Privatwirtschaft bietet. Warum
betone ich das so? Zum einen erschwert das Öffnen von
Prozessen prinzipiell die Abschottung und Verknappung
von kreativen Ressourcen. Zum anderen - das ist zu einer Binsenweisheit geworden - gilt uneingeschränkt die
technische Tatsache: Alles, was sich in Dateien verbreiten lässt, ist leicht und kostengünstig weiterzureichen
und kann nur unter erheblichem Aufwand verknappt
werden.
Die Digitalisierung nun „entknappt“ nicht nur in der
Kreativbranche Ressourcen und Produkte. Nein, vielmehr macht sie diese einerseits überall nutzbar, andererseits jedoch macht sie sie auch viel schwerer verwertbar.
Das ist wichtig, wenn wir über politische Konzepte sprechen, da der privatwirtschaftliche Sektor dort natürlich
vor erheblichen Problemen stehen wird. Es wird in der
digitalen Gesellschaft künftig eben weniger um Besitz
gehen als vielmehr um die Frage der Nutzung. Damit
müssen wir uns auseinandersetzen, und dafür bedarf es
entsprechender Regelungen.
Die Öffnung kann Zusammenarbeit bedeuten. Wir
sollten diese verfolgen statt feindlicher Konkurrenz. Wer
sich also mit den Folgen der Digitalisierung auseinandersetzt, sollte dies weniger im Sinne von „privatwirtschaftDr. Petra Sitte
lich und dort noch ein bisschen staatlich“ tun, sondern er
sollte vor allem die dritte Säule betonen, nämlich: Wir
brauchen politische Konzepte für neue Formen von Gemeinwirtschaft. Das ist eine ganz wichtige neue Qualität
im Zusammenhang mit der Digitalisierung.
({10})
- Ach Gott, jetzt müssen Sie mir doch nicht so platt
kommen. Haben Sie mir nicht zugehört? Man versucht,
es zu erklären, und er versteht es immer noch nicht. Es
ist schwierig.
Frau Kollegin Sitte, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gerne. - Ein Letztes. Statt Digitalisierung nur in der
herkömmlichen Logik als Wachstumstreiber zu sehen,
sollten wir den digitalen und analogen Commons eine
echte Chance geben. Das muss für eine bürgerschaftliche
Partei, wie sich die FDP immer bezeichnet hat, doch erst
recht attraktiv sein. Ich sehe darin nicht wirklich einen
Widerspruch. Aber wir werden sehen, wie Sie sich dazu
äußern.
Danke.
({0})
Dazu kann sich gleich der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto für die FDP äußern.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Kulturwirtschaft bereichert in vielfältiger
Hinsicht unser Leben, und ich freue mich daher, dass wir
heute einmal in der Kernzeit über sie debattieren können.
Die Bundesregierung trägt der Bedeutung dieser
Branche mit großem Einsatz Rechnung. Ganz bewusst
wirkt die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft unter
gemeinsamer Federführung des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Technologie und des Beauftragten für
Kultur und Medien. Diese Initiative ist eine wahre Erfolgsgeschichte.
({0})
Durch sie wird die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft deutlich hervorgehoben und wirksam unterstützt. Durch diese Initiative
werden die wirtschaftlichen Chancen insbesondere kleiner Kulturunternehmen sowie freischaffender Künstler
signifikant gestärkt. Ich danke den Haushaltspolitikern
der Koalition dafür, dass es gemeinsam gelungen ist, den
Haushaltsansatz für diese Initiative erheblich, und zwar
fast um ein Drittel, anzuheben.
({1})
Ich kenne kaum einen anderen Bereich, in dem öffentliche Mittel so unmittelbar und effektiv positive Wirkungen entfalten. Die enorme - auch volkswirtschaftliche - Bedeutung der Branche wird durch Kennzahlen
eindrucksvoll belegt: knapp 244 000 Unternehmen,
143 Milliarden Euro Umsatz, gut 1 Million Erwerbstätige. Aber es sind nicht nur diese Zahlen, sondern vor allem die große Innovationskraft und die kreative Energie,
die auf alle übrigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlen, welche die besondere Bedeutung dieser Branche ausmachen.
Ganz wesentlich haben hierzu auch innovative Startups beigetragen, zum Beispiel die Preisträger unseres
sehr erfolgreichen Wettbewerbs der Kultur- und Kreativpiloten. Infolgedessen ist die Gründungsdynamik erfreulich angestiegen. Das Kompetenzzentrum Kultur- und
Kreativwirtschaft wird deshalb auch in den nächsten
Jahren zahlreiche erfolgreiche Vernetzungstreffen anbieten. Auch das stark genutzte Beratungsangebot der acht
Regionalbüros des Kompetenzzentrums wird fortgeführt.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den
beiden heute vorliegenden Anträgen machen. Der Koalitionsantrag dokumentiert all die erfolgreichen Aktivitäten, welche die Bundesregierung in diesem Bereich bereits entfaltet und weiter vorantreiben wird. Es wird Sie
deshalb nicht übermäßig überraschen: Dieser Antrag
überzeugt mich.
Nun zum Antrag der SPD. Ich finde, es ist durchaus
positiv, dass die Kulturpolitiker der SPD - mit dem erfahrenen Siegmund Ehrmann an der Spitze - diese Debatte beantragt haben. Warum darf eigentlich der, der
sich auskennt, hier in der Debatte nicht reden? Es gibt
beim Thema Kultur häufig eine der Sache dienende,
fraktionsübergreifende Zusammenarbeit. Vor diesem
Hintergrund erschließt sich mir nicht, weshalb wir nun,
wie Sie es fordern, ein völlig neues - wie Sie es nennen Gesamtkonzept für die Förderung der Kreativwirtschaft,
also einen „Pakt für die Kreativwirtschaft“, brauchen.
Ich darf Sie, lieber Herr Steinmeier, daran erinnern:
Die Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ wurde
während Ihrer Regierungszeit gegründet und ist seitdem
zu recht immer wieder von Ihnen gelobt worden. Wir haben die Mittel kontinuierlich erhöht. Was gibt es denn da
zu mäkeln?
Unklar sind mir vor diesem Hintergrund auch Ihre
Vorschläge zur sozialen Absicherung der Kreativen. Wir
haben zu diesem Zweck ganz bewusst die Künstlersozialkasse gestärkt. Was dürfen wir uns aber unter Ihrer
Forderung nach „neuen Versicherungssystemen für
Kreative wie die Bürgerversicherung und die Erwerbstätigenversicherung“ vorstellen? Wie soll denn das praktisch aussehen? Soll dem Schriftsteller, dem die Ideen
ausgehen, ein „Erwerbstätigengeld“ gezahlt werden?
Frau Sitte fordert einen Mindestlohn für Schriftsteller.
Meine Damen und Herren, ist das dann überhaupt noch
ein freier Künstler oder schon ein Staatskünstler?
Genauso erklärungsbedürftig, weil widersprüchlich,
sind Ihre Vorschläge zur Weiterentwicklung des Urheberrechts. Es soll „die neuen digitalen Nutzungspraktiken“ beachten, „wissenschafts- und bildungsfreundlich“
sein und „neue Formen der Wissensvermittlung wie …
Open Access“ fördern. So weit das Zitat. Das lässt sich
dann aber kaum mehr mit der „zentralen Idee vom
Schutz des geistigen Eigentums in Einklang bringen, mit
der das Ziel verfolgt wird, dass der Urheber bestimmt,
wie sein Werk genutzt und verwertet werden darf.“ Dieses vollmundige Bekenntnis zum Schutz des geistigen
Eigentums, lieber Herr Steinmeier, steht ebenfalls in Ihrem Antrag. Was gilt denn nun? Wollen Sie den Schutz
des geistigen Eigentums stärken oder, einem Zeitgeist
folgend, die Zulassung der neuen digitalen Nutzungspraktiken - also kostenlose Nutzungen - erzwingen?
({2})
Schließlich frage ich: Was verbirgt sich, lieber Herr
Steinmeier, hinter Ihrer Forderung nach einer „fairen
und angemessenen Vergütung“ für Künstler? Kommen
Sie auf Ihre eingemottete Forderung nach einer Kulturflatrate zurück?
({3})
Hier besteht erheblicher Aufklärungsbedarf. Viele Fragen dazu sind offen. Es gibt da viele schöne Worte und
wenig konkrete Forderungen.
Ich möchte trotzdem abschließend mit großer Überzeugung feststellen: Der Deutsche Bundestag bekennt
sich über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu den Kreativen
unseres Landes.
({4})
Deshalb freue ich mich auf interessante Diskussionen in
den zuständigen Ausschüssen. Ich würde mich - wenn
Sie hier schon dazu sprechen - freuen, Herr Kollege
Steinmeier, wenn Sie in die Ausschüsse kämen. Gerne
würde ich mit Ihnen diskutieren.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Tabea Rößner vom
Bündnis 90/die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und
Herren! Die SPD hat uns mit ihrem Antrag ein ordentliches Brett hingelegt. Wie das aber mit Holz so ist:
Manchmal ist es fest und stabil, und manchmal ist es
auch etwas dünn. Der SPD-Antrag vereint beide Varianten. Verstehen Sie das nicht als Kritik oder Vorwurf.
Ganz im Gegenteil, ich möchte den Anstoß für einen
Kreativpakt ausdrücklich loben.
({0})
Es ist längst überfällig, dass wir die Kreativwirtschaft
als Ganzes betrachten und uns nicht nur einzelne Aspekte herauspicken. Wer A sagt, muss auch B sagen, und
wer eine florierende Kreativwirtschaft will, muss auch
Aspekte wie Existenzgründung, Urheberrecht, Breitband, Ausbildung, soziale Lage, Förderung und vieles
mehr mit bedenken.
Das Gegenteil dessen zeigt uns aber die CDU in ihrem eilig zusammengezimmerten Antrag. Der ist - so
dünn, wie er ist - gerade mal Furnier. Ich kann die Pläne
auf drei Worte herunterbrechen: fortführen, prüfen und
darüber reden. Aus Ihrer Sicht läuft alles großartig und
soll so weitergehen. Aber Sie selbst sprechen in Ihrer
Initiative mehrfach vom ungenutzten Potenzial der Kreativwirtschaft. Wäre es da nicht Ihre Aufgabe, dieses
Potenzial zu heben? Sie wollen nur „fortführen“, was dafür ziemlich mager ist. Dass die Koalition Handlungsbedarf ausgerechnet beim Handwerk sieht, zeigt ihre Kompetenz in Sachen Kreativwirtschaft. Ich glaube, ich muss
hier nicht betonen, dass die Kreativwirtschaft in erster
Linie im Netz stattfindet.
({1})
Zu den Forderungen der SPD. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie haben recht, dass die Rahmenbedingungen
für die Kreativwirtschaft verbessert werden müssen.
Fangen wir mit der Infrastruktur an. Es war absolut
falsch, dass diese Bundesregierung den Universaldienst
für die Grundversorgung mit Breitbandinternet verhindert hat.
({2})
Die Zahlen bestätigen: In manchen Landstrichen kommt
der Ausbau, auch mit LTE, überhaupt nicht voran. Das
ist ein großes Versäumnis; denn ohne schnellen Internetzugang können die Menschen im ländlichen Raum weder Produzent noch Konsument sein.
Wir haben all das überprüfen lassen: Der Universaldienst ist möglich. Unser Gutachten steht jedem frei zugänglich im Netz zur Verfügung, übrigens unter Creative-Commons-Lizenz. Sie können also unsere
Erkenntnisse gerne kostenfrei in Ihre Anträge übernehmen, aber bitte mit Quellenangabe.
({3})
Apropos Urheberrecht. Da machen Sie es sich, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ein wenig zu
einfach. Ihre Problemanalyse trifft zu. Auch Ihre Vorstellung von einer perfekten Urheberwelt teile ich. Anstatt aber den Gordischen Knoten zu lösen, schieben Sie
diese Aufgabe der Bundesregierung zu. Das ist mir dann
doch ein bisschen zu wenig.
({4})
Noch einfacher aber macht es sich die Regierung. Sie
spart das Thema aus, nicht nur in ihrem Antrag, sondern
auch in ihrer ganzen Politik. Sie springen erst gar nicht außer über das Stöckchen, das Ihnen die Presseverlage
hinhalten. Lassen Sie es mich hier ganz deutlich sagen:
Ein Leistungsschutzrecht hilft den Presseverlagen nicht.
({5})
Vor allem - das wurde auch bei der Anhörung im
Rechtsausschuss deutlich - schadet es der Kreativwirtschaft massiv.
({6})
Die Kreativwirtschaft in Deutschland lebt von kleinen
Unternehmen. Kleine Informationsdienstleister werden
ihre Dienste in Deutschland im Zweifel einstellen, neue
werden erst gar nicht entstehen.
({7})
Nein, wenn wir den Motor der Kreativwirtschaft in Gang
bringen wollen, braucht es nicht das Leistungsschutzrecht als Innovationsbremse, sondern passende Wirtschaftsförderung wie die steuerliche Forschungsförderung für den Mittelstand.
Daher unterstützen wir viele Forderungen des SPDAntrags: die Öffnung des Innovationsbegriffes in den
Programmen der Wirtschafts- und Infrastrukturförderung, die Gleichstellung der Genossenschaften oder den
Ausbau des Gründerzuschusses. Die wenigen Maßnahmen der Regierung dagegen sind unsinnig, weil sie am
Problem vorbeigehen.
Die Regierung fordert mehr Beratung. Das Problem
liegt aber nicht in der mangelnden Quantität der Beratung, sondern in der Qualität. Unternehmensgründungen
Kreativer aus dem digitalen Bereich haben keine lange
Tradition. Es fehlt einfach an der Expertise von Praktikern. Statt noch mehr Beratungsstellen einzurichten,
sollten wir lieber darüber nachdenken, wie ein Austausch, beispielsweise mit dem Silicon Valley, stattfinden kann. Da reicht es auch nicht, den Wirtschaftsminister dort einmal hinzuschicken, es sei denn, er will
demnächst junge Unternehmer persönlich beraten.
Statt die Kreativen in der Wirtschaft zu unterstützen,
will die Koalition Kunst und Kultur ökonomisieren. Es
gibt eine große Diskrepanz zwischen dem Erfolg der
Kreativwirtschaft im Ganzen und der prekären Einkommenssituation ihrer Künstler. Hier besteht akuter Handlungsbedarf, und die Koalition verkennt ihn völlig. In
diesem Kontext wirken die Forderungen im Antrag der
Koalition nahezu zynisch.
Dabei gibt es von uns eine Menge Anträge dazu. In
vielen davon stimmen wir mit der SPD überein, zum
Beispiel beim Krankengeldbezug für unständig Beschäftigte ab dem ersten Tag, zum Beispiel bei der Schaffung
von Tariflöhnen oder Mindeststandards bei vom Bund
geförderten Kultureinrichtungen oder Projekten.
Vor allem aber müssen die Kreativen insgesamt angemessen vergütet werden. Dazu gibt es ein Mittel, das Urhebervertragsrecht.
({8})
Das erweist sich heute als stumpfes Schwert, weil es an
der Durchsetzung der angemessenen Vergütung mangelt.
Das wollen wir ändern. Ich rufe alle Fraktionen dazu auf,
die gemeinsamen Handlungsempfehlungen der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ in dieser Frage gemeinsam umzusetzen.
Noch eine Anmerkung kurz vor dem Weltfrauentag:
Wir hätten uns sowohl von der Regierung als auch von
der SPD mehr zur Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb gewünscht. Gerade hier gibt es gravierende Defizite.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Selbst beim
Dünnbrettbohren geht den Regierungsfraktionen die
Puste aus. Nicht nur in der Kreativwirtschaft, auch in der
Regierungspolitik gäbe es noch viel Potenzial. Das sitzt
aber leider auf der Oppositionsbank.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es ist schon gesagt worden: Dass wir heute zur
besten Zeit über das Thema Kultur- und Kreativwirtschaft reden, wurde höchste Zeit. Schön, dass wir uns
alle darauf einigen konnten, das heute zu tun. Gut ist
auch, dass die beiden Anträge heute vorliegen.
Es wird Sie nicht wundern, dass meine Einschätzung
zu dem von den Regierungsfraktionen vorgelegten Antrag eine andere ist als die, die wir gerade von Kollegin
Rößner gehört haben.
({0})
Es ist natürlich so: Wenn man erfolgreich Politik macht,
dann schreibt man erst einmal alles das auf, was man erfolgreich getan hat. Der Kollege Steinmeier hat vorhin in
dieser Richtung nichts erkennen können. Insofern rate
ich Ihnen, einfach einmal den Antrag zu lesen. Darin
steht eine ganze Menge dazu.
({1})
Wenn man erfolgreiche Instrumente etabliert hat
- Kollegin Wöhrl hat die Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ angesprochen; sie war ja eine der Mütter dieser Initiative, die von Kollege Otto im Bundesministerium für Wirtschaft und natürlich von Staatsminister
Bernd Neumann weitergeführt wurde -, dann spricht für
mich alles dafür, diese auszubauen, anstatt sie grundlegend infrage zu stellen.
({2})
Ja, wir wollen die Potenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft weiter fördern, und ja, wir wollen auch die
wirtschaftlichen Potenziale weiter fördern. Das hat aus
meiner Sicht aber nur wenig mit einer Ökonomisierung
von Kultur, Kunst und Kreativwirtschaft zu tun, sondern
es muss doch unser aller Ziel sein, dass möglichst viele
der Kultur- und Kreativschaffenden von dem, was sie
schaffen, möglichst gut leben können.
Bernd Neumann ist neben dem, was die Bundesregierung in diesem Sinne tagespolitisch hier in Deutschland
tut, auch auf EU-Ebene erfolgreich unterwegs. Auch das
wollte ich an dieser Stelle einmal gesagt haben.
({3})
Wir haben die Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ weiter ausgebaut. Hans-Joachim Otto hat es
schon gesagt: Im Jahr 2013 gibt es einen weiteren Aufwuchs der Initiative, und zwar um 1 Million Euro. Um
an dieser Stelle wieder einmal das Einende ein bisschen
zu betonen, will ich den Fachpolitikern und Haushältern
aller Fraktionen ausdrücklich danken, dass es an dieser
Stelle und auch grundsätzlich gelungen ist, den Kulturhaushalt ein weiteres Mal gegen den Trend aufzustocken.
({4})
Zu dem Vorwurf vonseiten der Vorredner der Opposition, dass Kulturförderung in Deutschland abgebaut
werde, kann ich an dieser Stelle nur deutlich sagen:
Wenn ich mir anschaue, was der Bund im Bereich der
Bundeskulturpolitik tut und wie die Bundeseinrichtungen und Bundesinitiativen gefördert werden, dann kann
ich jedenfalls keinen Abbau erkennen.
({5})
Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen.
Ich finde, das sollte man dann fairerweise auch zugestehen.
({6})
Man muss sich einfach einmal genauer anschauen,
wer dort, wo ein Abbau stattfindet, Verantwortung trägt.
Ich will nicht ausschließen, dass das hier und da auch jemand ist, der das Parteibuch meiner Partei hat, aber mir
sind auch eine ganze Menge von Beispielen bekannt, bei
denen das eben andere sind.
Neben der Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“
gibt es eine ganze Menge weiterer Förderinstrumente;
einige sind schon genannt worden. Ich will noch ein paar
weitere aufzählen, um damit dem Bild, das hier gezeigt
wird, dass dort nämlich überhaupt nichts passiert, einfach einmal ein paar Fakten entgegenzusetzen: Ich nenne
den Deutschen Filmförderfonds, die Initiative „Musik“
und den Deutschen Computerspielpreis. All diese Dinge
spielen sich im Rahmen von Kultur- und Kreativwirtschaft ab. Zudem gibt es seit 2009 beispielsweise den
„BKM-Preis Kulturelle Bildung“ des Beauftragten für
Kultur und Medien.
({7})
Kulturelle Bildung ist ein Thema, dem ich ein paar
Sätze mehr widmen will, weil ich glaube, dass das eines
der Schlüsselthemen ist.
({8})
Der Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ aus der vorvergangenen Wahlperiode
schreibt dazu, dass die musisch-kulturelle Bildung
schöpferische Fähigkeiten und Kräfte im intellektuellen
und emotionalen Bereich weckt, deren Wechselwirkungen den Menschen in besonderem Maße prägen. Ich
glaube, das ist eine ganz zutreffende Beschreibung. Die
kulturelle Bildung ist die Quelle für Kreativität und Inspiration von Kulturschaffenden der nächsten Generation.
Sie ist damit eine Kernressource für die Innovationsfähigkeit unseres Landes. Sie birgt Innovationspotenzial
und damit die Chance auf technologischen Fortschritt,
den wir als rohstoffarmes Land - Kollegin Wöhrl hat es
schon gesagt - so dringend brauchen.
({9})
Deshalb setzen wir uns im Rahmen unserer politischen Verantwortlichkeiten als Bundesregierung, als
Koalitionsfraktionen dafür ein, dass schulische und außerschulische kulturelle Bildung gestärkt, schwerpunktmäßig gefördert, möglichst flächendeckend ermöglicht
werden und niederschwellig zugänglich sind. Die frühesten Jahre sind es, die die Persönlichkeitsbildung prägen. Man merkt auch allenthalben, dass vieles, was in
dem Bereich an Angeboten vorhanden ist und angenommen wird, von den Kindern spielerisch wahrgenommen
wird, dass die Kleinen Freude daran haben und dass man
sie da nicht in irgendetwas hineinpresst.
({10})
Dafür gibt es auch eine ganze Menge Initiativen und
Projekte des Bundes. Zum Beispiel leistet das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2013
aus dem Bundesprogramm zur Förderung benachteiligter Kinder 30 Millionen Euro an dieser Stelle,
({11})
obwohl - das möchte ich hier deutlich sagen - eben
nicht der Bund die Hauptverantwortung für diesen BeMarco Wanderwitz
reich der schulischen und außerschulischen Bildung
trägt. Wir versuchen, an dieser Stelle so viel als möglich
zu tun, aber die Länder als diejenigen, bei denen die
Hauptverantwortung liegt, sind natürlich aufgefordert,
so viel als möglich beizutragen.
Wir freuen uns, mit dem Antrag nicht nur die Erfolge
noch einmal in Erinnerung zu rufen, sondern auch so etwas wie unser Arbeitsbuch zu füllen. Ja, es gibt in den
laufenden Programmen Punkte, die man optimieren
kann, die man verbessern kann. Das hat natürlich auch
etwas mit der Frage zu tun: Gelingt es uns, das entsprechende Geld auch weiterhin in die Kanäle des Kulturhaushalts zu lenken? Ich bin guten Mutes, dass wir das
im Hause schaffen. Dem Grunde nach sind wir der Meinung, dass die bestehenden Förderprogramme die richtigen sind.
({12})
Das Urheberrecht ist schon angesprochen worden.
Wenn ich mir die Rednerliste anschaue, denke ich, dass
der eine oder andere Kollege sicherlich noch ein paar
Sätze dazu sagen wird. Auch ich möchte das tun.
Wenn man den Antrag der SPD liest - Kollege
Steinmeier hat dazu auch ausgeführt -, denkt man: Das
alles liest sich relativ gut.
({13})
Formulierungen wie „Vergüten statt verbieten“ klingen
sehr gut. Das Problem ist nur, dass die Tagespolitik eine
andere ist und dass es an konkreten Vorschlägen dafür
mangelt.
({14})
Wir haben in der netzpolitischen Debatte an dieser
Stelle einen ziemlich ausgeprägten Streit. Er ist uns allen, glaube ich, bewusst. Mein Eindruck ist der, dass es
im Hause gewisse Teile gibt, die ernsthaft daran interessiert sind, diesen Streit auszufechten. Viele streitige
Punkte gibt es zwischen den Urhebern, den Kreativen
auf der einen Seite und Teilen der Nutzer auf der anderen
Seite, die die immer mehr um sich greifende Gratismentalität ziemlich offen vertreten. Es gibt Teile des Hauses,
die immer wieder ausgleichende Worte finden, aber nie
an Bord sind, wenn es darum geht, konkrete Lösungen
zu entwickeln, die die Urheber in den Mittelpunkt der
Debatte stellen.
({15})
Deswegen meine Bitte an viele Seiten des Hauses
- da gucke ich natürlich den einen oder anderen Kollegen, die eine oder die andere Kollegin aus den eigenen
Reihen und aus den Reihen des Koalitionspartners an;
bei Ihnen ist das ja weitestgehend flächendeckend vertreten -: Schließen Sie sich unserem Diskurs, unseren
konkreten Vorschlägen für die Urheber, für die Kreativen und für die Kulturschaffenden an und lassen Sie uns
gemeinsam Lösungen ins Gesetzbuch schreiben, die dafür sorgen, dass die Kreativen, die Urheber auf die einfachste Weise an ihr Geld kommen, nämlich auf die
Weise, dass sie für das, was sie schaffen, von den Nutzern ordentlich bezahlt werden!
({16})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Lars
Klingbeil.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Staatssekretär Otto, vielen Dank, dass
Sie sich über die Rednerinnen- und Rednerliste der SPD
Gedanken machen. Ich kann Ihnen aber versichern: Wir
haben den Kreativpakt über eineinhalb Jahre im Team
erarbeitet, zusammen mit Kollegen der SPD von außen,
und wir haben im Team festgelegt, wer heute redet. Wir
haben das solidarisch getan.
Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass wir in einer
Kernzeitdebatte über den Kreativpakt und unsere Vorschläge reden, und wir haben uns gefreut, dass unser
Fraktionsvorsitzender zu dem Thema spricht. Daher will
ich auch fragen: Warum darf der Kulturstaatsminister
nicht reden? Wo ist eigentlich der zuständige Wirtschaftsminister, und wo ist die Justizministerin? Warum
sind diese Menschen nicht hier und ergreifen das Wort,
wenn wir über die Kreativwirtschaft diskutieren und es
um das Urheberrecht geht?
({0})
Es ist schon angesprochen worden, wie hoch die Bedeutung der Kreativwirtschaft ist. 130 Millionen Euro
Jahresumsatz: Das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Die Kreativwirtschaft ist aber auch Impulsgeber für
gesellschaftliche Erneuerung. Sie ist Zukunftslabor und
Avantgarde auch für andere wirtschaftliche Bereiche.
Die SPD hat Kreative, Kulturschaffende, Vertreter aus
Wirtschaft und Politik über eineinhalb Jahre an einen
Tisch gebracht. Wir haben über Änderungen in der Wirtschafts- und Kulturförderung, die Herausforderungen für
den Sozialstaat, einen veränderten Arbeitsmarkt, eine
neue Bildungspolitik und über Rahmenbedingungen geredet, wie wir die Kreativ- und Kulturwirtschaft in diesem Land stärken können.
Wir sind uns einig: Es geht um mehr Arbeitsplätze
und wirtschaftliches Wachstum. Es geht aber auch um
einen gesellschaftlichen Mehrwert, den wir erreichen,
wenn es Menschen gibt, die sich kreativ einbringen und
engagieren.
Alles das bringen wir heute als Vorschlag in den
Deutschen Bundestag ein. Ich will mich an dieser Stelle
noch einmal bei allen bedanken, die in den letzten eineinhalb Jahren mitdiskutiert und an diesem Antrag mitgewirkt haben.
({1})
Herr Wanderwitz, Sie haben gerade nach unseren Vorschlägen gefragt. Frau Wöhrl hat uns vorhin aufgefordert, uns einzubringen. Ich sage Ihnen: Wir machen
gerade Ihren Job: Wir bringen Vorschläge ein. Diese
schwarz-gelbe Regierung hat den Gestaltungsanspruch
in der Kultur- und Kreativwirtschaft längst aufgegeben.
Sie rennen herum und verteilen Geld, aber wenn es darum geht, neue Ideen für die Kulturwirtschaft auf den
Weg zu bringen, dann ducken Sie sich weg.
({2})
Der Antrag, den Sie eingebracht haben, ist ideenlos
und kraftlos. Sie sind ausgebrannt. Sie sind diejenigen,
die Vorschläge machen müssten. Wir haben das getan.
Wir übernehmen Ihren Job.
({3})
Wir haben auf dem Weg zum Kreativpakt Brücken
gebaut. Wir haben die unterschiedlichen Bereiche zusammengebracht und versucht, gemeinsam zu diskutieren. Es gibt Unterschiede und unterschiedliche Blickwinkel, aber das Prägende war die Gemeinsamkeit, mit
der wir unsere Ideen auf den Weg gebracht haben.
Ich will das beim Beispiel Urheberrecht, weil das angesprochen wurde, auf den Punkt bringen. Wir sehen in
der schwarz-gelben Regierung, wie sich Herr Neumann
und Frau Leutheusser-Schnarrenberger seit Jahren lähmen. Ob es um die Frage der Abmahnung oder um die
Warnhinweise geht, für all diese Dinge gilt: Nichts passiert im Urheberrecht. An vielen Stellen bin ich froh darüber, dass nichts passiert. Aber diese schwarz-gelbe
Bundesregierung lässt beim Urheberrecht die Züge aufeinander zufahren.
Es gibt eine junge Generation, die in einer digitalen
Welt aufwächst und häufig nicht weiß, wie man sich im
Netz richtig verhält und was dort Urheberrechtsverletzungen sind. Es gibt eine Reihe von Kreativen, die uns
immer wieder ermahnen, dass endlich etwas passieren
muss. Aber Sie stehen als Regierung mit offenem Mund
vor diesen Herausforderungen. Sie ducken sich weg, und
statt politisch aktiv zu werden, überlassen Sie die Lösung beim Urheberrecht Anwälten und Gerichten. Sie
nehmen Ihren politischen Gestaltungsanspruch nicht
wahr. Das ist fatal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wir haben Vorschläge zum Urheberrecht vorgelegt. In
unserem Antrag geht es um das Urhebervertragsrecht,
um neue Geschäftsmodelle, um die Frage des Zweitverwertungsrechts und um die Frage, wie wir illegale Plattformen bekämpfen können. Dabei sollten wir allerdings
nicht auf billige Symbolpolitik setzen.
Wir reden über die Offenheit des Netzes. Wir sind uns
einig: Dort, wo man Zugang zum Netz hat und wo es
Teilhabe gibt, wird Kreativität gefördert. Deswegen wollen wir beispielsweise den Universaldienst. Wir wollen
die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität, und wir
wollen, dass öffentliche WLAN-Netze gefördert werden.
16 Bundesländer haben das im Bundesrat gemeinsam
auf den Weg gebracht. Die Regierung hat bis heute
nichts dazu auf den Weg gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Es sind viele gute Ideen eingebracht worden.
Diese Regierung ist bekannt für politische Urheberrechtsverletzungen, die es an vielen Stellen gegeben hat.
Sie können unsere Vorschläge gerne an vielen Stellen
übernehmen. Aber es muss in diesem Land für die Kreativwirtschaft endlich etwas passieren.
Lesen Sie unseren Antrag! Ich hoffe, dass Sie dann
zur Vernunft kommen.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat das Wort der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem uns heute vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreichen
wir den Wert der Kultur- und Kreativwirtschaft für dieses Land. Ich denke, wir können zu Recht stolz auf das
sein, was in Bezug auf Kultur- und Kreativwirtschaft
von der Bundesregierung geleistet wird. Wir wollen
diese Initiative weiter ausbauen und den Haushaltstitel
mindestens auf dem jetzigen Niveau verstetigen. Das
steht deutlich in unserem Antrag.
Der Antrag der SPD-Fraktion erweckt den Anschein,
die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen seien
in dreieinhalb Jahren untätig gewesen, was die Förderung des Kultur- und des Kreativsektors angeht. Dies ist
schlichtweg falsch.
({0})
Reine Polemik ist auch der Vorwurf, die Regierung
verspiele die Chancen und Potenziale der Kreativbranche. Dabei stellt die SPD in ihrem Antrag selbst fest,
dass die Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland
im Jahr 2010 zu den Wachstumstreibern gehörte, rund
1 Million Menschen beschäftigte und 137 Milliarden
Euro umsetzte - so viel wie die bundesdeutsche Automobilindustrie. Dieser Erfolg hat ja vielleicht auch etwas
mit Wirtschaftspolitik zu tun. Die Ergebnisse für 2011
fallen mit einer Steigerung des Umsatzes auf 143 Milliarden Euro sogar noch besser aus. Die SPD jammert
also auf sehr hohem Niveau.
Lieber Kollege Steinmeier, gemeinsam mit der
Friedrich-Naumann-Stiftung haben wir vor acht Jahren
eine Veranstaltungsreihe zur Kultur- und Kreativwirtschaft ins Leben gerufen. Das Programm liegt auch für
dieses Jahr in gedruckter Form vor. Wer hat da vielleicht
von wem abgeschrieben?
Jetzt möchte ich auf einige Forderungen Ihres Antrags im Einzelnen eingehen. Sie fordern - das ist heute
schon mehrfach angesprochen worden - Änderungen im
Bereich des Urheberrechts. Die christlich-liberale Koalition bekennt sich klar zu einem starken Schutz des geistigen Eigentums. Ohne Schutz keine Kreativität. Die
Kreativen müssen von ihren Werken leben können; das
ist keine Frage.
Zum Schutz dieser Kreativität stellt das Urheberrecht
den Ordnungsrahmen, und der ist auch heute noch zeitgemäß, auch wenn natürlich im digitalen Zeitalter für
Weiterentwicklungen Spielräume gegeben sein müssen.
Dort, wo es angebracht ist, haben wir die Stellschrauben
bereits in die entsprechende Richtung gedreht.
So wollen wir mit dem „Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken“ der missbräuchlichen Abmahnung von
Rechtsverstößen im Internet durch die Deckelung der
Abmahngebühren einen Riegel vorschieben. Bei Erstverletzungen soll der Streitwert für die juristische Auseinandersetzung auf 1 000 Euro gedeckelt werden, sodass in der Regel nicht mit höheren Anwaltskosten als
155 Euro zu rechnen sein wird.
Um allerdings die Interessen der Urheber und Kreativen zu unterstützen, haben wir auch eine Öffnungsklausel, was die Streitwertdeckelung betrifft, eingeführt.
Diese gilt dort, wo Urheberrechtsverletzungen mit hohem Schadenspotenzial begangen werden, so etwa bei illegaler Verbreitung in besonders großen Mengen.
Auf weitere Widersprüche in Ihren Forderungen bezüglich des Schutzes des geistigen Eigentums ist mein
Kollege Otto bereits eingegangen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bei der sozialen Absicherung der Kreativen muss sich die schwarzgelbe Koalition nicht verstecken. Beispielsweise haben
wir für diejenigen Beschäftigten, die jeweils aufgrund
der Gegebenheiten ihres Berufs nur kurzfristig beschäftigt sind, Verbesserungen im ALG-I-Bereich erreicht.
Wir haben zum Beispiel für das Einzelengagement eines
Schauspielers den Zeitraum auf bis zu zehn Wochen ausgeweitet. Damit kann der Personenkreis der kurzzeitig
Beschäftigten leichter auf ALG-I-Leistungen zugreifen.
Diese Regelung kommt aber auch der Kreativindustrie insgesamt zugute; denn auch hier wird oftmals projektbezogen bzw. über kürzere Zeiträume gearbeitet.
Wir haben die KSK als Errungenschaft im System der
sozialen Absicherung gegen viele Angriffe und Anfeindungen verteidigt. Die KSK hat an Transparenz gewonnen, und durch die Übertragung der Überprüfungen an
die Deutsche Rentenversicherung ist sie gestärkt worden, sodass der Beitrag zur KSK sogar sinken konnte.
Das ist ein Erfolg nicht nur für die Versicherten, sondern
vor allem auch für die einzahlenden Unternehmen.
Ich rate dringend davon ab, an dem System der KSK
fundamental zu rütteln. Bislang besteht in der Gesellschaft ein Konsens, eine solche Ausnahmeversicherung
für eine Sparte der arbeitenden Bevölkerung zu akzeptieren. Dieser Konsens ist aber nicht selbstverständlich und
wird von denjenigen gefährdet, die jetzt das große Rad
in dieser Angelegenheit drehen wollen. Davor kann ich
nur warnen.
Liebe Kollegin Rößner, ich habe mich schon über
Ihre Ausführungen gewundert, dass für Sie die Kreativwirtschaft nur noch im Netz stattfindet.
({1})
- Na, es war etwas anders formuliert. - Dann frage ich
mich, ob die Architekten ihre Häuser zukünftig nur noch
virtuell bauen.
Bei für 2013 in Höhe von rund 1,3 Milliarden Euro
im BKM-Etat bewilligten Mitteln müssen wir uns nicht
vorwerfen lassen, nicht genug für die Förderung der
Kultur zu tun. Hinzu kommt, dass im Auswärtigen Amt
der bisher höchste Etat für die Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik aufgelegt worden ist und im Bundeswirtschaftsministerium die Mittel für die Förderung der
Kultur- und Kreativwirtschaft ebenfalls entscheidend erhöht wurden. Damit hat noch keine Bundesregierung
mehr für die Kulturpolitik ausgegeben als die jetzige.
Die Koalition steht ohne Wenn und Aber zur Förderung und Stärkung der Kultur- und Kreativwirtschaft. In
unserem Antrag haben wir deshalb dargelegt, wo wir
noch Verbesserungen erreichen wollen. Wichtig für uns
ist beispielsweise, dass der Innovationsbeitrag der Kultur- und Kreativwirtschaft weiter untersucht und eine Erweiterung des bestehenden Innovationsbegriffs um nichttechnologische Elemente geprüft wird.
Ein weiterer Schwerpunkt ist für uns die Überprüfung
von Förderprogrammen für den Mittelstand sowie für
Klein- und Kleinstbetriebe im Sinne der Verbesserung
des Zugangs für Selbstständige und Unternehmer. Dies
umfasst selbstverständlich auch Erleichterungen beim
Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten.
Für uns Liberale steht fest: Nur mit einem starken
Fundament aus kultureller Bildung können wir die Kreativität auch in Zukunft fördern. Die Vernachlässigung
der kulturellen Bildung der Bürgerinnen und Bürger
können wir uns schlichtweg nicht leisten. Deshalb werden wir uns bei den Ländern dafür einsetzen, dass bei
der frühkindlichen, der schulischen und der außerschulischen kulturellen Bildung mehr geschieht. Unsere Forderungen zeigen, dass wir noch lange nicht am Ende des
Weges sind. Trotzdem ist für uns bereits jetzt die Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ der Bundesregierung eine wahre Erfolgsgeschichte.
Ich danke Ihnen.
({2})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Konstantin von
Notz von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Auch ich freue mich natürlich, dass wir heute diese
wichtige Debatte in der Kernzeit führen. Vor allem im
Antrag der SPD werden erfreulicherweise zahlreiche
Punkte angesprochen, mit denen sich die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ in den letzten drei Jahren intensiv auseinandergesetzt hat. Spätestens während der Arbeit der Enquete-Kommission
wurde auch dem Letzten klar: Internet und Digitalisierung lassen zahlreiche sicher geglaubte gesellschaftliche
Übereinkünfte heute faktisch ins Leere laufen. Ob beim
Urheberrecht, beim Datenschutz, bei vielen technischen
und infrastrukturellen Fragen oder bei der Situation der
Kreativen, in beinahe jedem politischen Bereich gibt es
heute einen enormen Reformbedarf.
Im ersten Satz Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, nennen Sie diese gravierenden
Veränderungen, „die neue Antworten verlangen“. Leider
kommt der Antrag an vielen Stellen aus dem Fragemodus nicht so richtig heraus. Insofern verspricht der großspurige Titel „Projekt Zukunft - Deutschland 2020 - Ein
Pakt für die Kreativwirtschaft“ - man glaubt fast,
Gerhard Schröder sei zurückgekehrt - etwas zu viel.
({0})
Solange führende Köpfe Ihrer Partei wie zuletzt Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer bei jeder Gelegenheit die
Vorratsdatenspeicherung fordern, so lange bleibt Ihr progressiver Ansatz für die digitale Welt leider Makulatur.
({1})
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Union und der FDP, ist so lieblos zusammengeschrieben,
wie Ihr Umgang mit diesem Themenbereich insgesamt
ist. Die zivilgesellschaftlichen Aspekte kommen erst gar
nicht vor. Wenn Sie sich wie in dieser Woche mit digitalem Wandel befassen, dann kann man von Glück reden,
wenn es die gesellschaftlichen Aspekte auf die Einladung schaffen. Auf der Veranstaltung selbst geht es eben
nur um Wirtschaft, genauso wie in Ihrem vorliegenden
Antrag. Das ist nicht nur langweilig, sondern geht auch
an der zentralen Fragestellung vorbei, die eine gesellschaftspolitische ist. Was Sie hier abliefern, werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ist ganz dünne
Suppe.
({2})
Als Gesetzgeber stehen wir an einer Weggabelung.
Wir stehen vor der Frage, ob man - den Blick nach
vorne - diese revolutionären Umbrüche als Chance begreifen und den digitalen Wandel progressiv gestalten
will oder ob man - rückwärtsgewandt und die Zeit am
liebsten zurückdrehend - alles beim Alten lassen möchte.
Meine Fraktion und ich haben uns für den ersten Weg
entschieden, genauso wie erfreulicherweise die EnqueteKommission. Ihr ist es gelungen - wohlgemerkt: oft fraktionsübergreifend -, sich auf überwiegend zukunftsweisende Handlungsempfehlungen zu verständigen. Wenn
ich mir Ihren Antrag anschaue, dann kann ich nur sagen,
dass es wirklich gut gewesen wäre, wenn Sie sich einfach
an diesen Handlungsempfehlungen orientiert hätten.
Ihre Konzeptlosigkeit wird vor allen Dingen beim Urheberrecht deutlich. Die SPD will immerhin dem Abmahnunwesen die Grundlage entziehen. Wie genau, wird nicht
gesagt. Aber das Thema wird von ihr im Gegensatz zur
Koalition angesprochen. 4,3 Millionen Bürgerinnen und
Bürger wurden bereits abgemahnt, von Anwaltskanzleien
mit bis zu fünfstelligen Regressforderungen überzogen,
oft für Urheberrechtsverstöße im Bagatellbereich. Das alles ist Ihnen kein Wort wert. Da wundert es doch sehr,
liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dass auch Sie
mit auf diesem Antrag stehen, obwohl Ihre Ministerin gerade in dieser Frage hier vom Koalitionspartner massiv
ausgebremst wurde.
({3})
Dringend erforderliche Veränderungen im Urhebervertragsrecht, um endlich die Verhandlungsposition der
Kreativen zu stärken? Fehlanzeige. Dies gilt genauso für
die so wichtigen Reformen - der Kollege Steinmeier hat
es angesprochen -, die Sie für den dritten Korb versprochen hatten. Sie haben nicht geliefert.
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie haben
auch in diesem Bereich in dieser Legislaturperiode rein
gar nichts Substanzielles vorgelegt, weder für die Kreativen noch für die Nutzerinnen und Nutzer, noch für die
Wissenschaft. Ihre Bilanz ist traurig, und mit Ihrer hier
heute vorgelegten Initiative dokumentieren Sie das auch
noch. Allerdings lässt es sich relativ einfach erklären:
Sie können sich eben nicht entscheiden, welchen Weg
Sie an der Weggabelung gehen.
({4})
Zu dem, was der Enquete-Kommission gelungen ist,
sind Sie eben nicht imstande. Statt wie in der letzten Legislaturperiode eine interfraktionelle Initiative voranzubringen - dafür danke ich Ihnen; die interfraktionelle
Initiative haben Sie ja immerhin angesprochen, aber sie
in dieser Legislaturperiode nicht vorangebracht -, verramschen Sie dieses Thema hier an deren Ende auf der
Wahlkampfresterampe. Das ist wirklich bedauerlich.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Jetzt spricht die Kollegin Rita Pawelski für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen werden sich sicherlich noch an den
24. Oktober 2007 erinnern. An diesem Tag haben wir
hier über Fraktionsgrenzen hinweg in großer Einigkeit,
was ja in diesem Haus sehr selten vorkommt, den Antrag
„Kultur- und Kreativwirtschaft als Motor für Wachstum
und Beschäftigung in Deutschland und Europa stärken“
auf den Weg gebracht. Wir haben damals eine Tür aufgestoßen, hinter der sich unglaubliche Potenziale verborgen hielten, ja versteckt wurden.
Aber bevor wir diese Tür öffnen konnten, mussten
wir - lieber Herr Ehrmann, Sie werden sich daran erinnern - unglaublich viel Staub und Spinnweben wegfegen; denn diese große Branche, die wir kreiert haben,
Kultur- und Kreativwirtschaft, hatte weder ein politisches Gewicht hier in diesem Hause noch einen Namen,
der diese großartige Branche zusammengefasst hätte. All
dies haben wir in langer Arbeit, in über eineinhalbjähriger Arbeit, auf den Weg gebracht.
({0})
Darum verstehe ich, Frau Rößner und Herr Klingbeil,
Ihre Kritik überhaupt gar nicht. Wir haben etwas verändert. Sie hatten damals, als Sie an der Regierung waren,
auch die Möglichkeit, diese großartige Branche nach
vorne zu pushen. Aber Sie haben nichts getan.
({1})
Erst im Jahr 2007 - das war die Geburtsstunde der Kultur- und Kreativwirtschaft - wurde hier in dieser Regierung etwas getan,
({2})
und diese Regierung hat das umgesetzt.
({3})
Ich denke nur einmal an folgende Stichworte: Wir haben einen intensiven Dialog mit der Kultur und mit den
Kreativschaffenden geführt und ein regelmäßiges Monitoring sowie verbesserte Informations- und Beratungsangebote eingeführt, wobei ich hier das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes mit
seinen Regionalbüros besonders hervorheben und für
seine Arbeit loben möchte. Wir haben die Unterstützung
bei Finanzierung, Export und Entwicklung vorangebracht. Wir hatten den Start einer Gründerinitiative und
des Wettbewerbs „Kultur- und Kreativpiloten Deutschland“ und, und, und.
Ein Blick auf die Homepage zeigt, was sich in dieser
Branche an Unglaublichem tut und bewegt. Sie sollten
sich auch einmal mit diesen Sachen beschäftigen, ehe
Sie hier nur kritisieren.
Meine Damen und Herren, diese Entwicklung zeigt
doch deutlich: Unser gemeinsamer Antrag, an dem ja
auch die Grünen und natürlich auch die FDP beteiligt
waren - wir haben damals schon sehr gut zusammengearbeitet -,
({4})
hat Wirkung entfaltet. Nach vielen Jahren des Dornröschenschlafs hat Deutschland es geschafft, endlich eine
Strategie zur Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft zu entwickeln. Ich sage noch einmal: 2007 war
die Geburtsstunde dieser Branche.
({5})
Ein großes Dankeschön geht daher an die Bundesregierung für ihr großartiges Engagement und vor allem an
das Wirtschaftsministerium - Herr Staatssekretär, geben
Sie diesen Dank bitte weiter; dieser gilt natürlich auch
für Sie - und an unseren Kulturstaatsminister Bernd
Neumann.
Aber, meine Damen und Herren, dieser Erfolg wird
nicht als Hängematte zum Ausruhen genutzt, sondern ist
Sprungbrett in die Zukunft. Auch wenn wir uns auf einem sehr, sehr guten Weg befinden, sind noch längst
nicht alle Chancen genutzt. Das sagen wir auch deutlich.
Wir wissen, dass Stillstand Rückschritt ist. Das gilt auch
für diesen Bereich. Wir arbeiten weiter. Mit diesem Antrag zeigen wir, dass wir weiterarbeiten.
Ein aktuelles Gutachten bestätigt, dass die Kulturund Kreativwirtschaft zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Gesamtwirtschaft erheblich beiträgt. Sie ist
sehr innovativ, Vorreiter im Einsatz neuer Methoden und
Formen der Arbeitsgestaltung sowie Innovationstreiber
für andere Branchen. Doch die Forscher machen auch
deutlich, dass eine noch stärkere Sichtbarkeit der Kulturund Kreativwirtschaft bei Unternehmen, zum Beispiel in
der Industrie oder im Handel, notwendig ist. Da fehlt
noch etwas. Nur so sind die Innovationspotenziale noch
besser zu heben. Aber sie sagen auch, die Kreativunternehmen müssen sich selbst stärker den Bedürfnissen,
Mentalitäten und der Sprache des Kunden, also der anderen Seite, anpassen. Oftmals würden Kreative, so sagen es die Gutachter, eine zu enge Bindung an Kunden
vermeiden, weil sie fürchten, dass sich der kreative oder
künstlerische Mehrwert dadurch reduziert. Ich denke,
diese Ängste sind unbegründet, wir müssen sie ihnen
nehmen. Außerdem sind die Kreativunternehmen bei
möglichen Partnern und Auftraggebern noch zu wenig
bekannt. Da muss dringend nachgebessert werden.
Meine Damen und Herren, ich sage deutlich: Wir sind
gut, aber es gibt noch Potenzial, besser zu werden. Noch
einmal sage ich: Stillstand ist Rückschritt. Daher unser
Antrag. Wir wollen die Initiative weiter ausbauen.
({6})
Wir wollen, dass Förderprogramme geprüft und im
Sinne von kreativen und selbstständigen Unternehmen
angepasst werden. Aber Kultur- und Kreativwirtschaft
sind mehr als das, was heute hauptsächlich besprochen
wurde. Sie sind mehr als Urheberrecht, digitale Welt
oder Künstlersozialkasse. Darüber wurde von Ihnen
hauptsächlich gesprochen. Ich denke bei der Kultur- und
Kreativwirtschaft auch an den Bereich des Handwerks,
den Frau Wöhrl schon angesprochen hat, oder ich denke
an den unglaublich wichtigen Bereich der Vernetzung
von Kultur- und Kreativwirtschaft mit dem Tourismus,
von dem vor allem die Kommunen profitieren. Ohne
Zweifel haben sich Kultur- und Kreativwirtschaft und
Tourismus in den letzten Jahren zunehmend angenähert.
Da ist viel passiert. Es sind erfolgreiche Ansätze für gemeinsames Handeln gefunden worden. Darauf möchte
ich deutlich hinweisen. Wenn sich etwas entwickelt hat,
wenn sich etwas spürbar verbessert hat, profitieren beide
Seiten davon. Die kulturellen Angebote, die kulturellen
Schätze unserer Städte tragen wesentlich dazu bei, den
Tourismus zu fördern und die Standorte für den Tourismus attraktiv zu machen.
({7})
Ich denke an Dresden. Dresden hat eine unglaublich
schöne Landschaft. Deswegen kommen sicher viele
Touristen. Aber das kulturelle Angebot dieser Stadt
bringt doch die Menschen in diese Stadt. Die Semperoper, der Zwinger, das Grüne Gewölbe: Das alles sind
Highlights, die die Menschen in die Stadt bringen. Ich
denke an Wittenberg, an das Luther-Jahr 2017. Diese
Stadt entwickelt sich so fantastisch. Die Menschen fahren dorthin, um die Kultur zu genießen. Sie bringen der
Stadt aber auch Vorteile. Das muss man sehen. Ich denke
an den 200. Geburtstag von Richard Wagner. Dieses Jubiläum nimmt die Deutsche Zentrale für Tourismus zum
Anlass, Veranstaltungen an Wagners Wirkungsstätten
besonders ins Rampenlicht zu rücken. Davon profitieren
auch Städte wie Bayreuth, Nürnberg, Leipzig, Dresden
und Weimar. Es sind historische Ereignisse, die Kultur
und Tourismus zusammenbringen. Das müssen wir noch
mehr stärken, weil wir davon unglaublich profitieren.
({8})
Darum sage ich, meine Damen und Herren: Kultur
und Tourismus sind doch fast ein ideales Paar. Die Kulturschaffenden und die Kreativen können einem wachsenden Publikum ihre Werke zeigen. Sie werden neue
Zielgruppen entdecken, sie werden für sich werben können, und letztendlich - darüber muss man auch reden bringt es ihnen verbesserte Einnahmen.
Meine Damen und Herren, die Kultur- und Kreativwirtschaft erhält als Motor für Wachstum und Beschäftigung endlich die Beachtung, die sie verdient hat.
({9})
Genau vor 1 948 Tagen haben wir hier gemeinsam den
Beschluss gefasst, diese Branche zu stärken. Ganz ehrlich: Ich verstehe die scharfen Worte, die scharfen Zungen hier heute überhaupt nicht. Wir haben es doch gemeinsam geschafft, dieser Branche ein Gesicht zu geben.
Zertreten Sie doch nicht das Gesicht, das Sie selber geschaffen haben!
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Andrea Wicklein.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich mit Menschen aus der Kreativbranche zusammentreffe, bin ich immer wieder begeistert
von ihren tollen Ideen, von ihrem Einfallsreichtum, aber
auch von ihrem Mut, eigene, selbstbestimmte Wege zu
gehen. Kreativität ist der Rohstoff des 21. Jahrhunderts.
Aber der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kreativität wird oft noch als Gegensatz empfunden; das riesige Potenzial wird allzu oft noch unterschätzt. Tatsache
ist: Die Kreativwirtschaft sorgt für mehr Wachstum, vor
allem dann, wenn es uns gelingt, die Kreativität für Produktinnovationen und zusätzliche Wertschöpfung nutzbar zu machen. Sie führt zu mehr Arbeitsplätzen und
mehr kultureller Vielfalt.
Künstler und Kreative sind Impulsgeber für gesellschaftliche Erneuerung. Sie sind diejenigen, die die
Dinge aus anderen Blickwinkeln betrachten. Sie sind die
Querdenker, die wir brauchen; denn sie entwickeln völlig neue Arbeitsstrukturen, Strukturen, die Ideen und
Innovationen befördern. Von dieser anderen, unverkrampften Herangehensweise könnten wir in vielen Bereichen profitieren, und da schließe ich die Politik mit
ein.
Was können wir tun, um die Rahmenbedingungen für
die Kreativwirtschaft zu verbessern? Die herkömmlichen Förderprogramme passen oft nicht zu den spezifischen Anforderungen der Kreativen. Auch die klassische
Kreditfinanzierung scheitert oft an Eigenkapitalmangel
oder daran, dass immaterielle Güter von den Kapitalgebern nicht anerkannt werden. Es gibt zwar bereits vielfältige Förderungsansätze, doch diese müssen bekannter
und besser aufeinander abgestimmt werden. Deshalb
fordern wir eine öffentliche Datenbank. In ihr sollten die
Fördermöglichkeiten übersichtlich und transparent dargestellt werden.
({0})
Hinzu kommt: Förderprogramme müssen nicht nur
die Gründungs-, sondern vor allem auch die Wachstumsphasen junger Unternehmen berücksichtigen. Ein wesentliches Hemmnis für junge Unternehmen aus der Kreativwirtschaft ist der schlechte Zugang zu Risikokapital.
Deshalb fordern wir Bürgschaften der öffentlichen
Hand, einen erleichterten Zugang zu Mikrokrediten, bessere Rahmenbedingungen für innovative Finanzierungsmethoden wie beispielsweise Schwarmfinanzierung, das
sogenannte Crowdfunding.
Wir fordern auch, dass die Kürzung des Gründungszuschusses der Arbeitsagentur, die Sie, die schwarzgelbe Bundesregierung, zu verantworten haben, zurückgenommen wird. Denn gerade der Gründungszuschuss
hat vielen Menschen eine Brücke aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit gebaut
({1})
und war gerade auch für die kreative Branche sehr wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition
schreibt in ihrem Antrag zu Recht, dass es auch die SPD
war, liebe Kollegin Rita Pawelski, die die Initiative
„Kultur- und Kreativwirtschaft“ der Bundesregierung
2007 in der Großen Koalition auf den Weg gebracht hat.
Jedoch ist aus unserer Sicht seit 2009 leider nicht mehr
viel passiert. Das belegt auch Ihr unambitionierter Antrag, der uns heute hier vorgelegt wurde, sehr eindrucksvoll.
Mein Fazit: Aus den vielen spannenden Gesprächen
und Begegnungen mit den Kreativen bei der Arbeit unserer Projektgruppe in der Fraktion, aber auch in meinem Wahlkreis habe ich eines gelernt: Man muss sehr
genau hinschauen, was man eigentlich tut, um zu helfen.
Wir haben das getan: Wir haben hingeschaut, und wir
haben zugehört. Wir stellen fest: Es ist zwar schon viel
getan worden, aber es gibt noch viel zu verbessern. Ein
„Weiter so!“ reicht nicht aus.
Ich habe es eingangs schon gesagt: Kreativität ist der
Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Mit unserem Kreativpakt
wird eine SPD-geführte Bundesregierung diesen Rohstoff fördern.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Wolfgang Börnsen von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich hoffe nicht,
dass der Kollege Frank-Walter Steinmeier jetzt deshalb
den Raum verlässt, weil ich noch einige Worte an ihn zu
richten habe.
({0})
Andrea Wicklein, ich habe Ihre Rede als angenehm
und anregend empfunden, auch wenn ich den Inhalt
nicht in allen Bereichen teile. Aber ich finde, so kann
man an ein Thema herangehen, das uns alle interessiert.
({1})
„Dat is een Büx“, sagt der Plattdeutsche, wenn etwas
Außergewöhnliches geschieht. Mit Frank-Walter
Steinmeier, privat ein beachtlicher Kulturmensch,
({2})
hat heute ein leibhaftiger Fraktionsvorsitzender den Antrag zu einem Fachthema begründet. Das kommt nicht
alle Tage vor.
({3})
Für den bei dieser Thematik federführenden Kulturausschuss freuen wir uns über die Aufwertung.
({4})
Obwohl wir in den vergangenen dreieinhalb Jahren Sie
mit Ihrer Kompetenz, sehr verehrter Herr Kollege
Steinmeier, in unserem Gremium nicht einmal erleben
durften, hoffen wir nach dem heutigen Tag auf weitere
Direktbegegnungen, da bin ich mir mit Hans-Joachim
Otto einig.
({5})
Diese plötzliche Platzierung Ihrer Person in das Politikfeld Kreativwirtschaft erinnert mich an ein altes Kinderlied, in dem sich einer auf fremdem Territorium tummelt:
Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann
in unserm Kreis herum, widebum …
Er rüttelt sich, er schüttelt sich,
er wirft sein Säckchen hinter sich.
Sie sind herzlich eingeladen, in unserem Ausschuss mitzuwirken. Ermuntern Sie auch Ihren und unseren Kollegen Peer Steinbrück, mitzukommen. Er gehört dem Kulturausschuss offiziell an,
({6})
konnte aber als Stellvertreter an keiner der bisherigen
80 Sitzungen seiner parlamentarischen Verantwortung
gerecht werden.
({7})
Gerade bei der heute diskutierten Thematik der Kulturwirtschaft hätte er durchaus eine Bereicherung sein
können. Außerhalb unseres Parlamentes hat er sich bei
seinen Reden vor Börsen, Banken und Kreditinstituten
doch auch damit auseinandergesetzt. Seine angeborene
Bescheidenheit wie seine Tugend, Kollegen nicht ins
Handwerk zu pfuschen,
({8})
haben sicher zu dieser Zurückhaltung, Parlamentsmitwirkung zu praktizieren, beigetragen.
({9})
Damit muss ich nicht noch einmal das Kinderlied
vom Butzemann bemühen, in dem es nach dem Tanzteil
heißt:
Er rüttelt sich, er schüttelt sich,
er wirft sein Säckchen hinter sich.
Wolfgang Börnsen ({10})
Nein, ein Butzemann ist unser Kollege Peer Steinbrück
wegen seiner vitalen Redeaktivitäten wirklich nicht.
({11})
Das vorliegende Kreativpapier der SPD ist durchaus
fundiert. Lieber Siggi Ehrmann, wir als Regierungskoalition wissen deine Arbeit auf jeden Fall zu schätzen.
({12})
Der zwölfseitige Antrag zur Kreativwirtschaft ist vielseitig und vielfältig, wortgewaltig, wirklichkeitsnah wie
wirklichkeitsfern, wunderverheißend. Er lässt keine Einzelheit in diesem Politikfeld aus. Er ist offensichtlich mit
einer voluminösen Regelungsbegeisterung geschrieben
worden, die, zugespitzt gesagt, dazu führt, dass dem
kreativen Kulturmenschen sogar die Anleitung für das
Binden seiner Schnürsenkel anempfohlen wird.
({13})
Die Eigenverantwortung unserer Bürger ist dagegen in
weite Ferne gerückt. Aber wir müssen auf das Gegenteil
setzen: auf Bürgermündigkeit, nicht auf Bürgerreglementierung.
({14})
Der kreative Geist benötigt unendlich viel Freiheit.
Der Antrag setzt als Zeitzielmarke das Jahr 2020. Das ist
noch weit weg, sieben ganze Jahre. Das enthebt einen
der Verantwortung, Zahlen zur Finanzierung vorzulegen.
({15})
Für die 56 Forderungen, von denen einige durchaus
ihre Berechtigung haben, fehlt die Basis, der Nachweis
der Bezahlbarkeit. Das ist nicht redlich.
({16})
Die Bürger unseres Landes werden sich damit nicht zufriedengeben. Sie sind kritische Begleiter unserer Arbeit.
Sie lassen sich keine Katze im Sack verkaufen.
Der Antrag weitet die Kulturkompetenz des Bundes
zulasten der Länder und zulasten der Kommunen extrem
aus. Er greift in erschreckender Weise in die Aufgabenstellung von Gemeinden, Städten und Ländern ein. Er
zielt tendenziell auf eine Zentralisierung der Kultur- und
Kreativwirtschaft. Aber gerade die Förderung von Kultur vor Ort - Kreativität für alle und Dezentralisierung sichert die vitale Kreativität unseres Landes. Daran
sollte nicht gerüttelt werden.
({17})
Schließlich - das wird deutlich, wenn man den Antrag
genau liest - verordnet der Antrag den Menschen unseres Landes fast eine Volkspflicht zur Kreativität. Was jemand macht, muss ihm oder ihr selbst überlassen bleiben. Wir von der Union jedenfalls lehnen eine solche
Vereinnahmung der Menschen absolut ab. Gerade in den
Bereichen Kultur, Kunst und Kreativität müssen wir die
Unabhängigkeit der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten, muss sich staatliches Handeln auf den Rahmen
beschränken. Weder Kreative noch Künstler gehören an
das Gängelband staatlichen Denkens und Handelns.
({18})
Als wir, das heißt alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, uns 2006 in zwei großen Debatten gemeinsam
mit den Chancen der Kreativität für die Kulturwirtschaft
auseinandergesetzt haben, waren wir durchaus noch einer Auffassung: So wenig Staat wie möglich; Kreative
und Kulturmacher benötigen Krafträume ohne Auflagen.
Vor sieben Jahren - Rita Pawelski hat darauf aufmerksam gemacht - forderten wir gemeinsam konzeptionelles
Regierungshandeln für die Kultur- und Kreativwirtschaft. Dazu ist es gekommen, nachweislich und konkret.
Bereits 2010 konnte man 240 000 Unternehmen mit
einem Arbeitsplatzangebot von 1 Million Arbeitsplätzen registrieren. Jahr für Jahr steigen die Umsätze. Jahr
für Jahr steigt die Anzahl der Betriebe. Jahr für Jahr werden mehr Arbeitsplätze geschaffen. Allein in den letzten
zwei Jahren entstanden 4 000 Unternehmen. Der Boom
geht weiter, weil die bundesweit eingerichteten Kreativagenturen engagiert tätig sind. Kollegen von uns,
Dagmar Wöhrl, Joachim Otto, Steffen Kampeter,
Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann und Monika
Griefahn, haben durchaus anzuerkennende Beiträge
dazu geleistet. Das gilt auch für Rainer Brüderle als
Wirtschaftsminister und Staatsminister Bernd Neumann.
Aber es war 2006 Rita Pawelski, die in einer, wie ich
finde, bemerkenswerten Rede am 26. April, meinem Geburtstag, kulturwirtschaftliche Kompetenzagenturen anregte und auf die Notwendigkeit der Vernetzung aller
Initiativen aufmerksam machte. Die Wünsche von damals sind heute Realität. Es ist eine stabile Infrastruktur
für die Kreativwirtschaft geschaffen worden. Unser
Land wurde inzwischen Vorbild für viele europäische
Nachbarstaaten.
({19})
Verehrte Sozialdemokraten, das Rad muss nicht neu erfunden werden.
Als Gradmesser für die Kreativität und Ideenvielfalt
unseres Landes wird international auch stets auf die Anzahl von Patenten und Erfindungen verwiesen. Deutschland nimmt mit jährlich über 33 000 Patentanmeldungen
mit großem Abstand in Europa die Spitzenposition ein.
Frankreich folgt mit 12 000 Patentanmeldungen auf
Platz zwei. Beim Deutschen Patentamt in München werden mit leider leicht abgeschwächter Tendenz durchschnittlich pro Jahr 60 000 Erfindungen eingereicht.
Weltweit liegt die Bundesrepublik nach den USA und
Japan stabil auf Platz drei.
({20})
Wolfgang Börnsen ({21})
Bei den Firmenpatenten führen zwei Unternehmen aus
unserem Land die Weltspitze an. Das geht nur, wenn ein
kreatives Potenzial vorhanden ist.
({22})
Ich bin dagegen, dass solche großartigen Leistungen
ständig infrage gestellt und madig gemacht werden. Damit demotivieren wir die Ideenbürger. Damit schaden
wir unserem Land.
Nein, das Gegenteil sollten wir propagieren, ein
Klima der Freiheit und der Ermutigung garantieren sowie die Kulturwirtschaft als Motor für Wachstum und
Beschäftigung stärken.
({23})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/12382 und 17/12383 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b
sowie Zusatzpunkt 9:
35 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Bildungsbericht 2012 - Bildung in
Deutschland
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 17/11465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({2}), Dr. Thomas Feist, Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann ({3}),
Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Stärken von Kindern und Jugendlichen durch
kulturelle Bildung sichtbar machen
- Drucksachen 17/10122, 17/12423 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Feist
Marianne Schieder ({4})
Dr. Rosemarie Hein
Ekin Deligöz
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Die Herausforderungen der Bildungsrepublik
mit den Erkenntnissen aus dem Nationalen
Bildungsbericht angehen
- Drucksache 17/12384 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Professor Dr. Johanna Wanka.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2006
gibt es alle zwei Jahre den Nationalen Bildungsbericht gemeinsam herausgegeben von der Kultusministerkonferenz und vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung.
Davor lag ein langer Diskussionsprozess. Denn wir
wollten eine vertiefte Analyse über die Bildung in
Deutschland haben, uns also nicht nur an PISA und anderen OECD-Vergleichen orientieren. Wir wollten qualifizierte Aussagen vor allem bezogen auf das deutsche
System - Vergleichbarkeit zu diesen Studien vorausgesetzt -, zum Beispiel über die duale Berufsausbildung und zwar nicht nur einmal, sondern wir wollten Längsschnittstudien, sodass man etwa alle zwei Jahre vergleichen kann und nicht nur irgendwann eine Zahl hat, beispielsweise wie viele Frauen ab dem 40. Lebensjahr in
der Weiterbildung sind. So kann man erkennen, wie sich
das über die Jahre entwickelt: Hat man positive oder negative Entwicklungen?
Deswegen glaube ich, dass es ein großer Fortschritt
ist, dass wir diesen Bildungsbericht seit 2006 haben. Es
war natürlich eine lange Diskussion für das Untersuchungsdesign notwendig. Es ging beispielsweise um die
Frage: Welche Indikatoren nimmt man?
Im Antrag der SPD-Fraktion habe ich gelesen, dass
man dort Weiterentwicklungen wünscht. Diese sind ohne
Weiteres mit der Steuerungsgruppe möglich. Es muss
sich nur um Dinge handeln, die uns substanziell für viele
Jahre interessieren. Ansonsten macht man Sonderuntersuchungen.
({0})
Wenn man das seit 2006 rekapituliert, kann man mit
Fug und Recht sagen, dass in diesem Bildungsbericht
deutlich wird, dass es positive Entwicklungen in
Deutschland gibt. Diese sollten wir nicht kleinreden,
aber wir sollten auch sehen, wo es Probleme oder große
Aufgaben gibt, die noch zu bewältigen sind.
Ich nenne nur einige Fakten aus dem dicken Bericht.
Wenn ich an die Diskussion Anfang 2000 denke, halte
ich es für eine sehr gute Botschaft, dass wir seit 2006
den Anteil der jungen Menschen, die die Schule ohne
Abschluss verlassen, kontinuierlich gesenkt haben. Wir
sind jetzt bei 6,2 Prozent. Das ist immer noch zu viel. Da
besteht immer noch die große Aufgabe, das weiter zu
senken. Aber es sind wesentlich mehr als zuvor am Anfang einer Bildungskarriere gut gestartet.
Ich denke ferner an das Übergangssystem. Wir haben
jahrelang über die Millionen diskutiert, die wir für das
Übergangssystem brauchen. Inzwischen sind weniger
junge Menschen im Übergangssystem; diese Zahl ist gesunken. Das hat auch einen demografischen Aspekt.
Aber ganz entscheidend ist, dass es weniger Altbewerber
gibt.
Bei denen, die noch drin sind - das sind immer noch
zu viele -, wissen wir aber, dass ein erhöhter Förderbedarf besteht. Deswegen ist der Politikansatz der persönlichen Begleitung derjenigen, die Schwierigkeiten haben
- den hat das Bundesministerium initiiert -, an dieser
Stelle der richtige Ansatz.
({1})
Wir haben Rekorde zu verzeichnen, was die Zahl der
Abiturienten betrifft, was die Zahl der Studienanfänger
betrifft, aber eben auch, was die Zahl der Absolventen
betrifft. Trotzdem wissen wir, dass wir in manchen Fächergruppen, zum Beispiel in den MINT-Fächern, noch
viel zu hohe Abbrecherquoten haben. Diesem Thema
will ich mich besonders widmen.
Wenn man den Bildungsbericht insgesamt nimmt,
sieht man: Er liefert Informationen, die wir so vorher
nicht hatten, zum Beispiel zur Altersstruktur der Lehrer.
In dem Bildungsbericht wird deutlich - nicht für ein einzelnes Bundesland, sondern für die Bundesrepublik insgesamt -, dass in den nächsten zehn Jahren ein Drittel aller Lehrer in den Ruhestand gehen. Deswegen ist die
große Aufgabe - dies ist auch perspektivisch sehr wichtig -, eine Lehrerausbildung zu schaffen, die gute Lehrer
in das System bringt. In allererster Linie liegt die Verantwortung natürlich bei den Ländern, bei den lehrerbildenden Fakultäten, aber, ich glaube, die „Qualitätsoffensive
Lehrerbildung“, die der Bund gestartet hat, ist ein entscheidender Pluspunkt, um den Nachwuchs entsprechend zu qualifizieren und mehr Wert darauf zu legen.
Wir sind jetzt in der Situation, dass die Länder am
Zug sind. Sie müssen bei der Kultusministerkonferenz
im März endlich das auf den Tisch legen, was für den
Bund die Voraussetzung ist, nämlich rechtssichere Kriterien für die gegenseitige Anerkennung. Dann können wir
im April in der GWK unter Umständen schon den Sack
zumachen. Die Länder sind jetzt am Zug. Wir als Bundesseite warten an dieser Stelle ab.
({2})
Der Bildungsbericht besteht immer aus einem indikatorbasierten Teil und einer Sonderuntersuchung, bei der
wir frei sind, zu entscheiden, was wir untersuchen lassen. Ich habe mich sehr dafür engagiert und bin sehr
froh, dass sich in 2012 die Sonderuntersuchung mit kultureller Bildung, vor allen Dingen kultureller Bildung im
Lebensverlauf, befasst hat. Ich will nur zwei Ergebnisse
und Schlussfolgerungen ganz kurz nennen.
Das erste Ergebnis - dies ist eines, das Sie alle erwartet haben - ist, dass das Elternhaus im Hinblick auf kulturelle Interessen natürlich sehr stark prägend ist. Das ist
ganz klar. Aber im Bericht wird auch deutlich: Wenn das
Elternhaus materiell nicht gut ausgestattet ist, aber zum
Beispiel durch regelmäßiges Singen oder anderes das Interesse der jungen Menschen an Musik wächst, dann ist
unser Bildungssystem in Deutschland, zum Beispiel
über eine Staffelung der Preise bei Musikschulen, so gut,
dass die jungen Menschen qualifiziert werden können
und dass sie ein Instrument lernen können. Das wird in
dem Bericht deutlich. In dem Moment, in dem es keine
Anregung vom Elternhaus gibt - es hängt beileibe nicht
von der Finanzsituation des Elternhauses ab, ob kulturelle Interessen geweckt werden -, kann man beispielsweise durch das Programm „Lesestart“ versuchen, das
kulturelle Interesse anzuregen.
Ich denke, es ist im Sinne von Bildungsgerechtigkeit
und Chancengerechtigkeit eine zentrale Aufgabe des
staatlichen Systems, das zu kompensieren und zu unterstützen. Da muss man alle Kinder erreichen und nicht selektiv einzelne.
({3})
Erreichen kann man sie natürlich in der Schule - dort
sind alle Kinder - und zu einem großen Teil auch in den
Kitas. Deswegen haben die Bundesländer eine große
Verantwortung, das zu realisieren. Alle Bundesländer
haben in den letzten Jahren viele Projekte und anderes
im Bereich der kulturellen Bildung auf den Weg gebracht. Jetzt kommt es darauf an, dass das flächendeckend in den Schulen originär verankert wird, unabhängig davon, ob ein besonders engagierter Schuldirektor
oder Lehrer vorhanden ist. Das ist die zentrale Aufgabe.
Ich komme zum zweiten Ergebnis; dieses hat mich
überrascht. Dabei geht es um die kulturellen Aktivitäten
im Lebensverlauf. Ich hatte immer gedacht, diese würden ab etwa 55 Jahren zunehmen, weil man in dem Alter
mehr Zeit hat. Das ist überhaupt nicht so. Die größte kulturelle Aktivität im Lebensverlauf ist bei Jugendlichen
zwischen 9 und 13 Jahren. Dies verblüfft. Damit ist aber
nicht gemeint, dass sie die formalen Angebote, die es in
der Schule oder an anderer Stelle gibt, nutzen. Vielmehr
ist bei der Analyse ganz klar herausgekommen, dass sie
nonformale bzw. informelle Angebote nutzen. Das ist
ein sehr weites Feld. Genau an dieser Stelle setzt das
Bundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für
Bildung“ an, weil an dieser Schwachstelle jetzt Akzente
gesetzt werden, Möglichkeiten ausgelotet werden, um
diese informellen Strukturen zu befördern, zu unterstützen und auf lange Lebensdauer auszulegen.
({4})
Deswegen freue ich mich über den Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich bin mir aber, nach dem, was ich aus
Ihren Debatten gelesen habe, sicher, dass sich viele hier
in diesem Haus für diesen Bereich starkmachen und engagieren. Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit.
Danke schön.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dagmar Ziegler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Abgeordnete!
Sehr geehrte Frau Professor Dr. Wanka, ich gratuliere Ihnen heute noch einmal im Namen der SPD-Fraktion zu
Ihrem neuen Amt und zu Ihren neuen Aufgaben. Ich
freue mich natürlich auch persönlich über unser Wiedersehen im Deutschen Bundestag. Aber wir werden uns
heute darüber auseinanderzusetzen haben, was in der
Bildungsrepublik, die diese Koalition unter Merkel ausgerufen hat, falsch läuft.
Die Schere, liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischen Arm und Reich, zwischen Oben und Unten geht in
Deutschland weiter auseinander; das besagt der 4. Armuts- und Reichtumsbericht. Der Nationale Bildungsbericht kommt richtigerweise - aber leider auch bedauerlicherweise - zum gleichen Ergebnis. Das ist die
desaströse Bilanz dieser Koalition.
({0})
Soziale Selektivität, von der auch die Ministerin gesprochen hat, ist und bleibt, nicht nur bei der kulturellen
Bildung, jedenfalls bisher das traurige Markenzeichen
deutscher Bildungspolitik. Eltern geben die eigenen Lebenschancen an ihre Kinder weiter. Das Elternhaus wird
zum Schicksal. Für die Eliten in unserem Land ist das logischerweise kein Problem und nicht schlimm. Schlimm
ist es aber sehr wohl für diejenigen, die aus sozial
schwächeren oder bildungsfernen Elternhäusern kommen. Für sie erfüllt sich eben nicht das Versprechen unseres Grundgesetzes auf gleiche Chancen unabhängig
von der Herkunft. Das ist das Dilemma.
Das wissen auch die Menschen. Mehr als die Hälfte
der jungen Leute glaubt nämlich nicht, dass in Deutschland ein Aufstieg in eine höhere soziale Schicht möglich
ist.
({1})
Sie meinen, Leistung lohnt sich nicht; was zählt, ist allein das Elternhaus.
({2})
Das glaubt immerhin mehr als ein Drittel der jungen
Leute.
Die Koalition unter Merkel hat leider sehr viele Mittel
verplempert und sich eben nicht um die Menschen gekümmert, die mit schlechteren Bildungschancen ausgestattet sind. Und: Die Koalition unter Merkel hat sich in
der Bildungspolitik vor ganz entscheidenden Aufgaben
gedrückt. So drücken Sie sich vor der dringend notwendigen besseren und gemeinsamen Finanzierung der Bildung. Ja, Sie wollen das Kooperationsverbot im Grundgesetz lockern.
({3})
Aber Sie wollen eben nur so weit gehen, dass der Bund
die Spitzenforschung bedienen kann.
({4})
Der komplette restliche Bildungsbereich geht bei Ihnen
leer aus.
({5})
Das Kooperationsverbot muss aus unserer Sicht vor
allem fallen,
({6})
damit der Bund die Länder beim weiteren Ausbau der
Ganztagsschulen unterstützen kann;
({7})
denn nur so wird es uns gelingen, die Bildungschancen
der Kinder und Jugendlichen mehr von ihrem Elternhaus
zu entkoppeln.
({8})
Und: Das Kooperationsverbot muss auch fallen, damit
Bund und Länder mit vereinten Kräften den 7,5 Millionen Analphabetinnen und Analphabeten helfen können.
({9})
Schließlich muss das Kooperationsverbot fallen, damit
wir ein inklusives Bildungssystem verwirklich können,
das kein Kind mehr ausschließt.
({10})
Die schlimmste Koalition seit Jahren drückt sich auch
davor, den Übergang von der Schule in den Beruf anzupacken.
({11})
Der Übergang muss für alle jungen Menschen zu einer
Startrampe in ein Leben voller Chancen werden.
({12})
Sie haben, wie immer, angekündigt, das Übergangssystem zu verbessern. Passiert ist leider gar nichts.
({13})
300 000 Jugendliche drehen nach wie vor ihre Schleifen
in einem unübersichtlichen und oft nur wenig wirkungsvollen System von Maßnahmen. Dieser Maßnahmendschungel ist nicht nur enorm teuer - immerhin schlägt
er mit 6 Milliarden Euro zu Buche, und das Jahr für
Jahr -, sondern er bringt junge Menschen auch um ihre
berechtigte Chance auf ein selbstständiges und erfülltes
Leben.
Die SPD-Fraktion hat vorgeschlagen, diesen Dschungel zu durchforsten, die guten Maßnahmen zu verstärken
und junge Menschen mit einer Ausbildungsgarantie auszustatten. Nichts davon wollten Sie, und nichts davon ist
umgesetzt.
({14})
Die schlechteste Koalition seit Jahren drückt sich davor, alle jungen Menschen mit den Mitteln auszustatten,
die sie für eine gute Bildung brauchen. Viele junge Menschen trauen sich ein Studium trotz bester Eignung einfach nicht zu, weil ihre Eltern das Studium nicht finanzieren können und die BAföG-Förderung ihnen zu
unsicher erscheint.
({15})
Das ist für ein reiches Land wie Deutschland eine
Schande, wie ich finde.
({16})
- Ich sage gleich etwas dazu.
Diese schwarz-gelbe Koalition bringt es trotz steigender Studierendenzahlen, für die Sie sich ja rühmen, fertig, Kürzungen bei den Bundesmitteln für das BAföG
und auch für das Meister-BAföG zu beschließen.
({17})
- Schauen Sie in Ihren Haushaltsentwurf! Ich habe ihn
mit; ich wusste, dass diese Reaktion kommt. Noch nicht
einmal das wissen die Bildungspolitiker dieser Koalition.
({18})
Diese Kürzungen bilden einen weiteren Riegel, mit dem
junge Menschen vom sozialen Aufstieg ferngehalten
werden.
Meine Damen und Herren, ich muss es leider so sagen: Die Koalition unter Frau Merkel ist auch mit ihrer
Bildungspolitik schlichtweg gescheitert.
({19})
Auch deshalb brauchen wir im Herbst einen Politikwechsel.
Danke.
({20})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Sylvia Canel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Die Bundesregierung kommt - das können wir
alle im Nationalen Bildungsbericht 2012 nachlesen den Pflichten in dem Bereich, für den sie zuständig ist,
sehr gut nach. Das Bildungschaos herrscht vor allem in
den rot-grün regierten Bundesländern.
({0})
Das wird ganz speziell an dem heiß diskutierten Thema
Sitzenbleiben deutlich. In der Bundesrepublik Deutschland wiederholten von 2010 auf 2011 163 400 SchülerinSylvia Canel
nen und Schüler eine Klasse. Das sind circa 2 Prozent.
Die neu konstituierte rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen hat in ihrem jüngst ausgehandelten Koalitionsvertrag angekündigt, das Sitzenbleiben aus den
Schulen zu verbannen.
({1})
Das hört sich erst einmal sehr modern an. Auch Herr
Stoch, der Kultusminister aus Baden-Württemberg, äußerte sich zu der geplanten Reform erst einmal positiv.
Er sagte: Die Angst vor dem Sitzenbleiben stellt keine
sinnvolle Lernmotivation für die Schülerinnen und
Schüler dar. Daher finde er es richtig, das Sitzenbleiben
abzuschaffen.
Ich habe einmal nachgeschaut: Wer ist Herr Stoch eigentlich? Was macht ihn kompetent, über den Werdegang von Schülerinnen und Schülern zu entscheiden?
Herr Stoch ist ein junger Rechtsanwalt und Spezialist für
Zivil- und Wirtschaftsrecht. Er sitzt seit vier Jahren im
Landtag von Baden-Württemberg.
Meine Damen und Herren, ich meine, viele Eltern
denken wie ich, wenn ich sage: Wenn es darum geht, ob
mein Kind eine Klasse wiederholen soll oder nicht, dann
muss das in erster Linie die kompetenten Fachleute vor
Ort - das sind die Lehrerinnen und Lehrer der einzelnen
Schüler - interessieren und nicht die Politiker, die in irgendeinem Landtag sitzen.
({2})
Im Interesse der Kinder ist es von ganz besonderer
Wichtigkeit, dass die Fachleute vor Ort - die Lehrerinnen und Lehrer - gemeinsam mit den Eltern und den
Kindern Schwächen, die vorherrschen und die gravierend sind, feststellen.
({3})
Nicht die Politiker im Landtag und schon gar nicht die
Kultusminister dürfen den Schulen, die selbstständig
entscheiden müssen, welche Pädagogik richtig ist und
welche nicht, dabei hereinreden. Diese Politiker sollen
bitte nicht über diese Kinder entscheiden. Es ist der falsche Weg, wie es immer der falsche Weg ist, wenn sich
die Politik in die Schulen einmischt.
({4})
Das Wiederholen kommt für ein Kind nicht immer als
Strafe daher, sondern auch als Chance. Ich habe gelesen
- vielleicht stimmt es, vielleicht stimmt es nicht; wir
können ja nicht alles glauben, was in der Presse steht -,
dass zum Beispiel Herr Steinbrück vom Sitzenbleiben
zweimal Gebrauch gemacht hat; auch er hat zwei Jahre
länger für die Schule gebraucht.
Die Schulen kennen den familiären Hintergrund der
Schülerinnen und Schüler und beschäftigen sich intensiv
mit ihnen; sie agieren zu deren Wohl. Es kann nicht sein,
dass den Schulen die Entscheidung entzogen wird und
ihnen damit jede Möglichkeit genommen wird, zum
Wohle des Kindes zu entscheiden.
({5})
Es ist - gerade in der heutigen Zeit - wichtig für die Bildungsnation Deutschland, dass in der Frage, ob ein Kind
das Klassenziel erreicht oder nicht, die Fachleute vor Ort
entscheiden. Die Politik hat sich da nicht einzumischen.
({6})
- Es geht um das Wohl des Kindes; genau so ist es. Was
für das Wohl des Kindes am besten ist, das haben jedoch
nicht Sie zu beurteilen.
({7})
Ich möchte nicht, dass Rechtsanwälte oder irgendwelche
Personen, die im Bundestag oder in einem Landtag sitzen, darüber entscheiden, ob ein Kind eine Klasse wiederholen muss oder nicht. Das ist nicht der richtige Weg.
({8})
Ein Kind darf wiederholen, aber es muss nicht wiederholen. Lassen Sie doch bitte die Entscheidung bei
selbstständigen Schulen und bei den Fachleuten vor Ort.
({9})
- Schön, dass Sie sich so aufregen. Wir wissen, dass Sie
das ganz anders sehen. Deshalb ist Ihre Bildungspolitik
auch so extrem erfolglos. Davon können wir in Hamburg
wirklich ein Lied singen.
({10})
Die Sicherstellung von guter Bildung für die Kinder
und Jugendlichen in der Bundesrepublik ist die Kernaufgabe in der gesamten Gesellschaft; deshalb bedarf es
starker Bildungspartnerschaften. Der Nationale Bildungsbericht weist zum ersten Mal auf die Bedeutung
und Wichtigkeit der kulturellen Bildung hin.
Es kann nicht sein, dass die kulturellen Fächer - dieser Unterricht wird nur zweistündig erteilt - in jeder
Schule immer wieder als Stiefkinder behandelt werden.
Es ist gut und richtig, dass der Bildungsbericht diese
Sparte jetzt extra beleuchtet, die kulturellen Fächer wohlgemerkt: zweistündig; das heißt, erteilt von einer
Lehrkraft, die nur zwei Stunden in einer Klasse ist, und
das eventuell noch nicht einmal regelhaft. Das muss sich
ändern. Wir müssen sehr viel mehr Wert darauf legen,
weil das die persönlichkeitsbildenden Fächer sind.
Der Bericht stellt fest, dass ein Viertel aller Kinder
und Jugendlichen unter 18 Jahren in einer sozialen, kulturellen oder finanziellen Risikolage aufwächst. Für
diese Kinder, aber auch für die anderen Kinder ist es von
essenzieller Notwendigkeit, innerhalb der Schulen ein
Instrument zu lernen oder an Theatergruppen teilnehmen
zu können, und genau diese kulturelle Bildung muss gemeinschaftlich im Stadtteil gefördert und gefordert werden.
Dies geschieht nun vorrangig durch den Antrag der
Regierungskoalition; es ist ein richtiger und guter Antrag. Die kulturelle Bildung stärkt die positiven Eigenschaften auch in sozialer Hinsicht. Jeder, der in einem
Orchester gespielt hat, weiß: Wenn einer nicht mitspielt
und nur auf die anderen hört, dann gibt es ein Katzengejammer. Aus diesem Grund ist es zwingend erforderlich,
dass wir diesen Antrag zur kulturellen Bildung gemeinschaftlich beschließen und auch überall im Programm
implementieren.
Die OECD fordert, Prinzipien und Praktiken künstlerischer und kultureller Bildung sollen angewendet
werden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und
kulturellen Herausforderungen beizutragen. Kulturelle
Bildung und die dazugehörigen Einrichtungen sind in
unserer heutigen Zeit, in der es in den Wirtschaftsunternehmen immer mehr um die sozialen Fähigkeiten geht,
von großer Bedeutung.
({11})
Der Nationale Bildungsbericht rückt genau diese Bildung in den Vordergrund. Ich freue mich darüber, dass
wir in der Regierungskoalition damit den richtigen Punkt
getroffen haben und daher auch das richtige Tor erzielen
werden.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und
Herren! Verehrte Frau Professor Wanka, ich bin gespannt auf die Zusammenarbeit, und Ihre Rede hat mich
zumindest hoffnungsvoll gestimmt. Trotzdem werden
Sie sich jetzt Kritik an Dingen anhören müssen, die Sie
noch nicht zu verantworten haben; aber ich kann sie der
Bundesregierung nicht ersparen.
Der Bildungsbericht des Jahres 2012 hat uns ein weiteres Mal die diversen Fehlstellen im deutschen
Bildungssystem vor Augen geführt. Ich will mich aus
Zeitgründen vor allem auf die Stellungnahme der Bundesregierung konzentrieren; denn darin soll suggeriert
werden, es gehe voran. - Ja, es geht voran, aber es geht
viel zu langsam voran.
({0})
Als Erstes zum Geld. Das Ziel, das 2008 auf dem
Dresdner Bildungsgipfel vereinbart wurde - 10 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung -,
wird wahrscheinlich erreicht werden. Aber die Steigerungen der öffentlichen Bildungsausgaben, so der Bildungsbericht, beruhen vor allem auf einer überproportionalen Förderung von vielen, vielen Sonderprogrammen.
Sonderprogramme aber garantieren überhaupt keine solide Bildungsfinanzierung. Wären diese Programme Ergänzungen zu einem sonst gut ausgestatteten Bildungssystem, dann wäre das alles in Ordnung und es wäre
nichts dagegen einzuwenden. Aber diese Programme
sollen praktisch die Fehlstellen in diesem System kaschieren, und das kann nicht gelingen.
({1})
Wir haben einmal die Programme und ihre finanzielle
Ausstattung über die letzten vier Haushaltsjahre miteinander verglichen und die Ergebnisse in einer Grafik
zusammengefasst. Dabei ergab sich ein ziemliches Rauf
und Runter. Das sieht so aus und bezieht sich auf allgemeine und berufliche Bildung.
({2})
So etwas ist Wirrwarr und keine Kontinuität, meine Damen und Herren.
({3})
Zweitens. Natürlich ist es gut, wenn ein Drittel aller
Jugendlichen die Schule mit einer Hochschulreife verlässt und 50 Prozent eines Absolventenjahrgangs ein
Studium aufnehmen. Aber: Immer noch gehen 6,5 Prozent - jetzt sind es 6,2 Prozent - der Schülerinnen und
Schüler - das sind mehr als 50 000 - ohne einen Abschluss von der Schule ab. 19 Prozent aller Schülerinnen
und Schüler - also auch viele mit einem Abschluss können nach Beendigung des Schulbesuches nicht sicher
lesen und schreiben. Der Anteil der Schülerinnen und
Schüler, die an Förderschulen unterrichtet werden, geht
nicht zurück, obwohl es deutlich mehr gemeinsamen
Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen
gibt. 300 000 Schulabgängerinnen und -abgänger - das
sind 28 Prozent aller, die eine Berufsausbildung anstreben - landen erst einmal im Übergangssystem. Nichts
anderes heißt das doch, als dass dieses Bildungssystem
für all diese Schülerinnen und Schüler ungeeignet ist.
Das ist nicht die Schuld von Lehrerinnen und Lehrern.
Drittens. In Reaktion auf dieses Defizit beim Übergang in die berufliche Ausbildung strebt die Bundesregierung eine - ich zitiere - „passgenaue Vermittlung an“.
Dazu gibt es gleich mehrere Sonderprogramme. Eines
davon setzt schon in der 7. Klasse an. Ganz sicher ist
eine gute Berufsorientierung - das ist unstreitig - Aufgabe jeder Schule. Aber wer soll bitte hier wozu passen?
Besteht bei einer solchen Schwerpunktsetzung nicht
auch die Gefahr - ich sehe das so -, dass allgemeine
schulische Bildung immer stärker daran gebunden wird,
ob sie für die ausbildenden Unternehmen passgenau ist?
({4})
Lassen Sie mich an dieser Stelle aus dem Bildungsbericht zitieren. Auf Seite 205 ist zu lesen:
Der individuelle Nutzen von Bildung beschränkt
sich jedoch keineswegs auf beschäftigungswirksame und monetäre Vorteile. Bildung entfaltet ihre
Wirkungen auch in einer Vielzahl anderer Lebensbereiche.
Dabei geht es um Teilhabe am sozialen, politischen und
kulturellen Leben. Gut gebildete Menschen sind auch
sozial engagierter.
({5})
Aus diesem Grund wäre es wichtig, diesen allgemeinen
Bildungscharakter von Schule zu stärken, zumal auch
Unternehmen inzwischen mitbekommen haben, dass sie
die sozialen Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter brauchen.
Viertens. Die kulturelle Bildung ist diesmal dankenswerterweise der Schwerpunkt in der Berichterstattung.
Da gibt es offensichtlich ein riesengroßes Bedürfnis in
allen Familien. Auch in diesem Bildungsbereich wird
deutlich, dass die Teilhabe an den Angeboten der Kultur
in erheblichem Maße davon abhängt, wie die Lage in
den Familien ist. Doch mancherorts wird es nicht möglich sein, dass alle von kultureller Teilhabe profitieren.
Eine ausgeprägte und gute Kulturlandschaft gibt es nämlich nicht mehr überall.
({6})
Wo kein kulturelles Angebot mehr vorhanden ist, kann
auch keine Teilhabe ermöglicht werden. Da hilft das Bildungs- und Teilhabepaket - und auch das Programm
„Kultur macht stark“ - nicht weiter.
({7})
- Es wird nicht funktionieren, weil die Verbände, die
diese Angebote verwalten, keine Partner vor Ort finden
werden.
({8})
Das ist in Calbe - einer Stadt in meinem Wahlkreis - so,
wo Ende letzten Jahres die Stadtbibliothek als einzige
kulturelle Einrichtung geschlossen worden ist. Dann ist
einfach Ebbe.
({9})
- Das hat nichts mit den Bürgermeistern, sondern etwas
mit der Unterfinanzierung von Kommunen, mit der Unterfinanzierung von Kultur zu tun.
({10})
Wir haben heute schon darüber gesprochen. Nehmen Sie
das doch endlich einmal ernst.
({11})
Sie haben bisher alle Anträge in diese Richtung abgelehnt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung im Hinblick
darauf machen, wie wichtig Bildung für die Persönlichkeitsentwicklung ist. Auch wenn Sie an nichts glauben,
dann glauben Sie doch vielleicht wenigstens an folgenden Befund aus dem Bildungsbericht: Die Wahlbeteiligung von Menschen mit Hochschulabschluss ist mehr
als doppelt so hoch wie die Wahlbeteiligung von Menschen mit einem geringen Bildungsstand.
({0})
Eine hohe Wahlbeteiligung am 22. September dieses
Jahres wollen Sie doch sicherlich alle.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring für Bündnis 90/die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
bedanken uns eingangs bei Frau Schavan für die geleistete Arbeit. Politisch standen wir ganz oft über Kreuz;
persönlich aber lief es im Miteinander stets fair und kollegial ab. Dafür vielen Dank!
({0})
Unsere Bundestagsfraktion wünscht Frau Wanka für
ihr neues Amt alles Gute.
({1})
Wir werden weiter Initiativen für mehr Bildungsgerechtigkeit vorlegen; denn die von Ihnen angekündigte Kontinuität im Koalitionshandeln würde den bildungs- und
forschungspolitischen Herausforderungen in unserem
Land nicht gerecht.
Der Nationale Bildungsbericht ist das wichtigste Dokument der Bildungsforschung in Deutschland. Er liegt
bereits seit Juni 2012 vor. Unseren Antrag haben wir
schon im letzten Jahr eingebracht, um eine Bundestagsdebatte zu erzwingen. Es ist wirklich schade, ja, es ist
peinlich, dass diese Koalition neun Monate braucht, um
sich mit dem Bildungsbericht zu befassen.
({2})
Die Ergebnisse des Berichts brauchen mehr Beachtung,
vor allem in politischem Handeln. Daran mangelt es dieser Koalition.
Ja, es gibt positive Entwicklungen. Aber es gibt ein
ganz zentrales Defizit, auf das dieser Bildungsbericht
hinweist: Unserem Land fehlt Bildungsgerechtigkeit.
Damit ist, Frau Wanka, nicht formale Durchlässigkeit
gemeint. Erbärmlich ist der Mangel an realem sozialem
Aufstieg durch Bildung.
({3})
Ich bitte Sie inständig darum, nicht an die weitgehende
Tatenlosigkeit Ihrer Vorgängerin bei der Bekämpfung
von Bildungsarmut anzuknüpfen, sondern bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt
Ihrer Politik zu stellen. Der Bericht dokumentiert doch:
Jeder Zehnte gilt als funktionaler Analphabet, jeder fünfzehnte Jugendliche bricht die Schule ab, über 2 Millionen der bis 34-Jährigen haben keinen Berufsabschluss.
Das belegt die eklatante Bildungsspaltung in unserem
Land. Dieser Mangel an Chancengerechtigkeit ist ein
schlechtes Zeugnis für eine Koalition, deren Kanzlerin
eine „Bildungsrepublik“ ausrief.
({4})
Musterbeispiel für die Ignoranz dieser Regierung ist
das im Bericht kritisierte Betreuungsgeld. Das Betreuungsgeld ist und bleibt eine fatale Bildungsfernhalteprämie und bindet Mittel, die für den Ausbau der Kinderbetreuung fehlen.
({5})
FDP steht offenbar für „Feige Demokratische Partei“.
({6})
In Ihrem Wahlprogramm stellen Sie das Betreuungsgeld
auf den Prüfstand. Vor drei Monaten haben Sie es hier
mit CDU und CSU gemeinsam im Bundestag beschlossen. Sie haben Ihre Zustimmung zum Betreuungsgeld an
die Einführung eines Bildungssparens geknüpft, für das
Sie nach wie vor kein präzises Konzept vorlegen können. Deshalb, Frau Wanka, appelliere ich da an Sie:
Stoppen Sie wenigstens das unsoziale und unausgegorene Instrument des Bildungssparkontos. Das bringt
nichts.
({7})
Für die Abschaffung des bildungsfeindlichen Betreuungsgeldes werden wir dann nach dem 22. September
sorgen.
({8})
Wer den Bericht ernst nimmt und Kinder individuell
fördern will, muss Prioritäten setzen: für flächendeckend
gute Ganztagsschulen und Inklusion im Bildungssystem.
Um diese gesamtstaatlichen Ziele zu erreichen, muss das
Kooperationsverbot im Grundgesetz fallen. Wir brauchen eine Ermöglichungsverfassung, keine verfassungsrechtliche Bildungsbarriere.
({9})
Es ist schon putzig, wenn die Koalition hier einen Antrag mit wohlfeilen Forderungen zur kulturellen Bildung
vorlegt, bei der gerade gute Ganztagsschulen eine ganz
zentrale Rolle spielen. Diese Schulen lassen Sie aber mit
ihren gewachsenen Aufgaben allein. Sie sorgen eben
nicht für ein neues Ganztagsschulprogramm.
({10})
Frau Wanka, Sie haben in Ihrer Einstiegsrede viele
Beispiele genannt, wo mehr Bund-Länder-Kooperation
stattfinden muss. Ich nehme Sie beim Wort und appelliere an Sie, die letzte Chance zu nutzen und in den
nächsten Monaten eine Lösung für einen kooperativen
Bildungsföderalismus mit den Ländern zu erreichen. Sie
müssen das auf dem Schirm haben: Dieses Kooperationsverbot bei Bildung und Wissenschaft muss weg.
({11})
In der Ausbildungspolitik reicht es nicht aus, sich im
internationalen Interesse am dualen System zu sonnen.
Es ist schon gesagt worden: 300 000 Jugendliche verharren nach wie vor in Warteschleifen nach der Schule, statt
eine Ausbildung zu beginnen. Die Spaltung auf dem
Ausbildungsmarkt in Chancenreiche und Chancenarme
muss überwunden werden.
Wichtig ist auch, dass es beim Hochschulpakt einen
Nachschlag gibt. Es ist doch ganz klar, dass die Mittel
für den Hochschulpakt für die bis zu 300 000 zusätzlichen Studienanfänger nicht ausreichen. Deshalb müssen
diese Mittel dringend aufgestockt werden.
({12})
Wenn Sie neben mehr Studienplätzen auch eine soziale Öffnung unserer Hochschulen wollen - wir wollen
das -, dann lassen Sie das elitäre Deutschlandstipendium
auslaufen
({13})
- das bringt eh nichts -,
({14})
dann verabschieden Sie sich endgültig von Ihrem Studiengebühren-Mantra und dann legen Sie im Bundestag
einen konkreten Gesetzentwurf für ein besseres BAföG
vor. Das wären konkrete Beiträge zu mehr Bildungsgerechtigkeit.
({15})
Die schwarz-gelbe Koalition hat die Bildungs- und
Forschungsmittel erhöht, damit aber viele falsche Prioritäten gesetzt, trotzdem das 10-Prozent-Ziel klar verfehlt
und keine Planungssicherheit geschaffen, da viele Finanzierungen nach 2013 abrupt enden. Wer eine Bildungsrepublik ausruft, wie Sie das hier heute wieder getan
haben, der darf keinen krassen Mangel an Kita-, Ganztagsschul-, Ausbildungs- und Studienplätzen hinterlassen. Bildungsaufstieg muss endlich höchste Priorität haben.
({16})
Nutzen Sie die womöglich nur noch wenigen Monate
Ihrer Amtszeit, um die richtigen Konsequenzen aus dem
Bildungsbericht zu ziehen
Herr Kollege!
- und falsche Weichenstellungen wie Betreuungsgeld,
Bildungssparen und Deutschlandstipendium zu korrigieren.
({0})
Der Kollege Thomas Feist ist der nächste Redner für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
freue mich, dass so viele junge Leute da sind und einmal
mitbekommen, wie hier eine Bildungsdebatte abläuft.
Der Bildungsbericht legt den Schwerpunkt vor allen
Dingen auf die kulturelle Bildung. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten sich einmal überlegen, wie das wirkt, was Sie hier am Rednerpult von sich geben.
({0})
- Wer hat das gesagt?
({1})
- Ja, wunderbar! - Meinen Sie, dass wir die jungen
Menschen in der Schule motivieren können, indem wir
ihnen sagen: „Du hast eigentlich ganz gute Leistungen
erbracht; aber da und da fehlt es, und dort bist du ganz
schlecht“? Das sage ich nicht nur, weil ich mehr als
15 Jahre Erfahrung in der kulturellen Bildung habe, sondern, weil ich ganz genau weiß, dass wir auf die Stärken
setzen müssen, um junge Leute zu motivieren. Das tun
diese Bundesregierung und diese Koalition, und das ist
genau der richtige Ansatz.
({2})
Wenn wir über kulturelle Bildung reden, dann reden
wir darüber, dass wir die Stärken des Einzelnen fördern
wollen und dass jeder Mensch ein Potenzial hat. Wir haben eben ein ganz anderes Menschenbild als die linke
Seite dieses Hauses, die junge Menschen vor allen Dingen als Mängelwesen definiert, die möglichst ganztags
in einer Schule von den verantwortungslosen Eltern
ferngehalten werden müssen.
({3})
- Mein lieber Herr Schulz, Ihnen möchte ich noch eine
ganz persönliche Nachricht mit auf den Weg geben: Wir
werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie hier
auf der persönlichen Ebene versuchen, Kolleginnen und
Kollegen anderer Parteien schlechtzumachen und zu diffamieren.
({4})
Im Bericht steht, wie wichtig kulturelle Bildung im
Lebensverlauf ist und wo die Potenziale sind. Im Bericht
wird beispielsweise aufgezeigt, dass Migranten im kulturellen Bereich manchmal wesentlich aktiver sind als
andere Schüler und dass wir genau dort ansetzen könnten, wenn wir Integration zu dem machen wollen, was
sie in diesem Land sein soll.
Unser verehrter Herr Bundestagspräsident, der gerade
hinter mir sitzt, hat bei der Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Gründung des Verbandes der Musikschulen
gesagt, dass wir zwar ein hervorragend ausgebautes kulturelles Netz haben, dass aber die kulturelle Bildung die
Achillesferse ist. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit dem Antrag, über den wir heute abstimmen werden, hat diese
Koalition genau das richtige Signal gesetzt,
({5})
und zwar nicht nur, weil sie einen Antrag gestellt hat, der
auch mit Geld untersetzt ist und die höchste Einzelfördermaßnahme des Bundes im Bereich der kulturellen
Bildung seit je beinhaltet, sondern weil damit auch ein
Paradigmenwechsel durchgeführt wird. Bisher war die
kulturelle Jugendbildung im Kinder- und Jugendplan des
Bundes als Kinder- und Jugendhilfemaßnahme verankert, also als Unterstützung. Wir sagen: Kulturelle Bildung ist Bildung, und zwar im Lebensverlauf. Deswegen
bin ich auch sehr froh, dass das auch bei der frühkindlichen und der beruflichen Bildung - Herr Kollege
Weinberg, aber auch der Kollege Schummer haben daran
maßgeblich mitgearbeitet - ein Thema ist. Die kulturelle
Bildung ist im Lebensverlauf und für die berufliche
Orientierung wichtig. Wir werden damit erreichen, dass
die sozialen und die Schlüsselkompetenzen, die junge
Menschen brauchen, ganz egal, ob sie später studieren
oder einen Beruf erlernen, herausgefunden und gestärkt
werden.
({6})
Mit kultureller Bildung können wir innerhalb des Bildungssystems dafür sorgen, dass junge Menschen motiviert sind und so eine ganz andere Atmosphäre von Bil27804
dung entsteht. Ich kann Ihnen eines versichern: Die oft
gescholtenen Bundesverbände, die anscheinend nichts
machen, haben ein sehr gut ausgebautes Netz mit Kooperationspartnern an Schulen. Ich nenne Ihnen einmal
ein Beispiel aus dem Ruhrgebiet. Da wird im Rahmen
von kultureller Bildung ein Projekt gemacht, ein Musical
an einer Hauptschule mit jungen Leuten, denen bis zum
14. Lebensjahr noch nie jemand gesagt hat: Du kannst
etwas.
({7})
Wissen Sie, was passiert ist? Plötzlich gehen die jungen
Menschen aus sich heraus und sind von sich aus motiviert. - So etwas mit 50 Millionen Euro zu unterstützen,
das ist genau der richtige Ansatz, den diese Bundesregierung hier vertritt.
({8})
- Nein, Herr Röspel, das machen Sie nicht seit Jahren!
Seit Jahren reden Sie darüber, wie wichtig das ist. Aber
dass Sie von der SPD dazu einen Antrag auf die Tagesordnung bringen und dafür Geld vorsehen, habe ich noch
nicht erlebt.
Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Röspel. Mich
betrübt etwas, dass Sie aus der Schmollecke heraus, weil
Sie nicht auf eine so hervorragende Idee gekommen
sind, unseren Antrag im Ausschuss abgelehnt haben.
Das ist wirklich ein Armutszeugnis. Ich fordere Sie auf
sowie die Linken und die Grünen, die sich dort enthalten
haben: Stimmen Sie diesem hervorragenden Antrag zu!
Tun Sie etwas für kulturelle Bildung! Tun Sie etwas für
die jungen Menschen in diesem Land!
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich gern den Worten des Kollegen
Gehring anschließen und vor der herzlichen Begrüßung
von Frau Wanka, dem Angebot zur Kooperation in der
Sache und der Bekundung des Respekts vor der Person
das in dieser Form ausdrücklich auch noch einmal an die
frühere Ministerin Frau Schavan gerichtet sagen.
({0})
Dass Sie, Frau Wanka, eingestiegen sind in die Debatte zu einem Nationalen Bildungsbericht, der von
Bund und Ländern zusammen verantwortet wird, ist
nicht das schlechteste Zeichen. Wir haben nicht immer
erlebt, dass Ministerinnen dazu gesprochen haben. Nach
dem Wechsel von der Bundesratsseite auf die Bundesregierungsseite ein Bund-Länder-Dokument aufzugreifen, verpflichtet natürlich und bietet auch Chancen.
Wir haben von SPD-Seite aus sehr wohl registriert,
dass Sie auch in Einzelheiten unseres wertenden Antrags
zum Bildungsbericht eingestiegen sind. Sie können gewiss glauben, dass wir die Unterscheidung zwischen
Sonderuntersuchung, Sonderveröffentlichung und dem,
was in einem Bildungsbericht eine durchgängige Betrachtungslinie sein müsste, sehr wohl kennen. Wenn es
darum geht, zusammen kreative neue Ideen zu entwickeln, auch den Bildungsbericht in aller Sorgsamkeit
verstärkt als Steuerungsinstrument zwischen Bund und
Ländern zu nutzen, sind wir dabei, wie lange die Regierungszeit für Sie auch immer sein mag.
({1})
Gerade durch den Wechsel von der Landesverantwortung in die Bundesverantwortung können Sie sich dort
gut einbringen, wo ein kooperativer Ansatz notwendig
ist. Ergreifen Sie diese Chance bitte! Sie wissen ja, wie
wichtig eine faire Regelung für die Entflechtungsmittel
nach dem Wegfall der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau für die Länder ist. Da kann diese Bundesregierung noch etwas bewirken; da können auch Sie etwas bewirken.
({2})
Sie wissen, dass wegen der Verdopplung der Zahl der
Studienanfänger die Länder und der Bund zusammenkommen müssen; man darf diese Aufgabe nicht an die
Länder allein delegieren. Sie von der Bundesseite müssen mit liefern, damit die Länder mitgehen können.
Sie wissen auch, dass in Bezug auf die Lehrerbildung
die Bundesländer ganz dicht beisammen sind. Man kann
einen Staatsvertrag nur zwischen zwei Ländern schlecht
machen. Machen Sie das bitte nicht zur Voraussetzung,
sodass das sinnvolle Projekt „Exzellenz in der Lehrerbildung“ an der Stelle hakt. Auch eine Übereinkunft aller
Bundesländer im Sinne einer Vereinbarung ist genauso
bindend und vielleicht sogar flexibler und noch sachgerechter. - Aber ich merke an Ihrem Mienenspiel, dass
Sie über diese Hürde noch nicht gehen wollen. Vielleicht
ist am Ende Bayern einmal mehr einsichtiger als manch
anderer.
Die Auseinandersetzung mit dem Bildungsbericht
will ich verstärken, so wie es Kollege Gehring gemacht
hat. Dieser Bildungsbericht zeigt leider einmal mehr auf,
dass wir in Sachen Bildungsarmut und Bildungsgerechtigkeit noch viele Aufgaben vor uns haben.
({3})
Aber er beschreibt auch sehr klar - die Auseinandersetzung darüber wünschen wir uns auch mit den Regierungsfraktionen - auf Seite 14 vier zentrale Aufgabenfelder.
Als erstes Aufgabenfeld nennt er im Konsens mit
Bund, Ländern und der Wissenschaft, die an diesem Bildungsbericht mitgearbeitet hat, die Qualifizierung der
frühkindlichen Bildung über eine Qualifizierung des
Personals und eine Aufwertung von Kindertagesstätten
als Bildungseinrichtungen. Um noch einmal zu vertiefen, was Kollege Gehring angesprochen hat - wir haben
hier ja eine SPD-Grüne-Gesamtsinfonie -: Frau Wanka,
Sie werden in den Diskussionen, die sich um den 1. August dieses Jahres entwickeln, die bittere Erfahrung machen, dass die 2 Milliarden Euro, die als Betreuungsgeld
kalkuliert wurden, besser unmittelbar für die Qualifizierung in Kindertagesstätten eingesetzt würden.
({4})
Sie haben aber noch alle Chancen - auch in der FDP auf
der Ebene von Parteibeschlüssen -, dies zu korrigieren
und nachhaltig ein neues Denken zu beginnen. Im Übrigen - Stichwort „betrogene Betrüger“ - muss sich die
FDP fragen, ob sie sich beim Bildungssparen - das es
immer noch nicht gibt; dabei war es ihre Bedingung dafür, dass das Betreuungsgeld kommt - weiter hinhalten
lassen will.
Was das zweite Aufgabenfeld angeht, will ich Ihre emphatischen und kompetenten Ausführungen zur kulturellen Bildung gar nicht kommentieren, Herr Feist. Johannes
Rau hat immer gesagt: Ein Instrument macht Kinder
schlau. - Das war ein knapper, aber treffender Ausdruck
für die Bedeutung von kultureller Bildung - man kann das
auch auf die kulturellen Zugangsformen beziehen -, weil
das Kinder stark macht und sie in ihrer persönlichen Leistung anspricht. Wenn wir das gemeinsam angehen, dann
lassen Sie es doch einfach, der Opposition das Etikett
„leistungsfeindlich, kulturfeindlich und bildungsfeindlich“ an die Backe zu kleben.
({5})
Wir sind in der Bewertung im Prinzip sehr weit, und
zwar gemeinsam. Was wir dem Bericht bzw. der Analyse
der Wissenschaftler entnommen haben, ist, dass - so bedauerlich es ist - eben nicht allen Kindern persönliche
Stärke durch kulturelle Bildung vermittelt werden kann.
Im Bildungsbericht wird in der zweiten Empfehlung ausdrücklich gesagt, dass es dafür gute Ganztagsschulen
braucht, weil darüber auch alle Kinder angesprochen
werden, die jetzt sozial von anderen getrennt sind und
eben nicht in der freiwilligen, außerschulischen und familienergänzenden kulturellen Bildung erreicht werden.
Deshalb ist es so wichtig, Frau Wanka, dass auch Sie in
Bezug auf die Länder und die Öffnung des Grundgesetzes aktiv werden, um den Zugang zu gerechter kultureller Bildung für alle auch durch Ganztagsschulen zu ermöglichen, statt alles geschehen zu lassen.
({6})
Die dritte Empfehlung ist: Das Übergangssystem
muss modernisiert werden. Hier werden wir noch Diskussionen darüber führen dürfen: Wie weit ist die Berufsorientierung durch diese Regierung tatsächlich auskömmlich finanziert?
Viertens wird die Schnittstelle zwischen dualer Ausbildung und Hochschule angesprochen. Wir haben sehr
wohl registriert, dass Sie das Thema auch auf Ihre
Agenda gesetzt haben. Aber im Bericht wird festgestellt,
dass es sehr schwierig ist, solange es an den Hochschulen noch den hohen Leistungsdruck gibt. Umso wichtiger ist es, dass Sie eine Entlastung der Hochschulen über
eine gute Fortsetzung des Hochschulpaktes mit organisieren. Sonst ist die andere richtige gemeinsame Idee
schwer zu realisieren.
Herr Kollege!
Ich hoffe, Sie verstehen es auch durch die Sachlichkeit unserer Einlassungen so, dass es bei der empirischen
Wende, die von Frau Bulmahn über Frau Schavan mit
den Bildungsberichten verbunden ist, auch immer eine
sachliche Debatte geben muss, und die bieten wir Ihnen
an. In dem Sinne wollen wir jetzt trefflich bis zum September streiten.
({0})
Florian Hahn ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Zu Beginn möchte ich Frau Ministerin
Wanka für ihre Antrittsrede danken. Das war ein klares
Signal, dass wir, Länder und Bund, Bildungspolitik weiter erfolgreich gestalten werden.
Den Erfolg dieser Bildungspolitik belegen die Kernaussagen des Berichts. Sie lesen sich besonders gut im
Vergleich zu dem, was die Opposition bis 2005 nicht geleistet hat. Lassen Sie mich dazu aus dem Bildungsbericht 2006 zitieren, um Ihnen die Dimensionen bewusst
zu machen. Darin wird vermerkt, dass - ich zitiere - der
Anteil der Bildungsausgaben am BIP seit Jahren rückläufig ist. In Zahlen gefasst: Der Haushalt von Rot-Grün
plante 2005 gerade einmal 7 Milliarden Euro für das Bildungsministerium ein. - Unser Haushalt für das Jahr
2013 wird indes eine nie da gewesene Summe von
13,75 Milliarden Euro für Bildung und Forschung bereitstellen. Das ist fast eine Verdoppelung des Etats von
2005.
({0})
Dass der Bildungsbericht natürlich nicht nur positive
Befunde nennt, ist klar; das möchte ich an dieser Stelle
auch nicht verschweigen. Wichtig ist, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dass Rot-Grün andere Schlüsse
daraus zieht und bildungspolitisch auf dem Holzweg ist,
wird in Baden-Württemberg deutlich. Oder wie erklären
Sie sich, dass dort zwar 2 Milliarden Euro Mehrausgaben getätigt werden, aber gleichzeitig 1 000 Lehrerstellen gestrichen werden? Wie erklären Sie sich, dass der
Präsident des Deutschen Lehrerverbandes in Ihrer Landespolitik ein fatales Signal für den Bildungsstandort
Deutschland sieht?
Der Bildungsbericht 2012 bescheinigt der christlichliberalen Koalition eine ausgezeichnete Arbeit. So konnte
der prozentuale Anteil frühkindlicher Bildung, Betreuung
und Erziehung deutlich gesteigert werden. Die Bildungsbeteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
konnten wir im Vergleich zu 2005 signifikant erhöhen.
({1})
Gleichzeitig erhöhten sich das Schulabschlussniveau
und die Anzahl der Studienanfänger. Die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss konnte gesenkt
werden. Den Studenten von heute bieten wir bessere
Möglichkeiten, und wir lassen sie auch bei der Finanzierung nicht im Stich. Die Leistungen nach dem BAföG
wurden kontinuierlich angehoben, und die Zahl der
Empfänger konnte um 10 Prozent auf 1 Million gesteigert werden.
({2})
Wie verantwortungsvolle Politik in Bildung und Forschung aussieht, kann man am Beispiel Bayerns erkennen.
({3})
- Ja, hören Sie ruhig einmal zu! - Bayern gibt ein Drittel
seines Etats für Bildung und Forschung aus. Wie Sie allen Bildungsrankings entnehmen können, belegt Bayern
durchgängig Spitzenpositionen. Für die Einführung einheitlicher Abiturstandards ab 2017 steht Bayern auch
gern als Partner bereit.
Aber wenn es um ein Gut wie Bildung geht, darf man
sich nicht mit dem Mittelmaß zufriedengeben.
({4})
Vor diesem Hintergrund halte ich die Abschaffung des
Sitzenbleibens unter der Überschrift „mehr Bildungschancen“ durch die neue rot-grüne Regierung in Niedersachsen für absurd.
({5})
Begründet wird das mit den anfallenden Kosten und der
persönlichen Demütigung, die Sitzenbleiben verursacht.
Da stellt sich mir die Frage, ob Sie konsequenterweise
nicht auch gleich Noten und Bildungsabschlüsse insgesamt abschaffen wollen. Lassen Sie uns auf korrekte
Rechtschreibung verzichten! Auch eine mangelhafte
Rechtschreibung kann, wie wir alle wissen, ein schulisches Erfolgshindernis sein. Mit dieser Kuschelpädagogik, die pseudogerechte Gleichmacherei vor Leistungsorientierung und individuelle Förderung stellt, werden
wir zukünftig nicht wettbewerbsfähig sein. Das hat nichts
mit Gerechtigkeit zu tun,
({6})
sondern ist ein Verbrechen an der Zukunft unserer Kinder.
({7})
Persönlich habe ich mich gerade sehr gefreut, weil ich
eine SMS von zu Hause erhalten habe.
({8})
Meine Tochter Elisabeth hat heute ihr erstes Zeugnis bekommen und sich beschwert, dass darin keine Noten stehen.
Aber zum Abschluss möchte ich noch einmal Dank
sagen. Danke an Annette Schavan, die sich für die Bildungsrepublik Deutschland über 20 Jahre so stark gemacht hat! Sie hat diese Republik mit an die Spitze der
europäischen und weltweiten Bildungs- und Forschungsstandorte gebracht. Lassen Sie uns in diesem Sinne weiter für die existenzielle Ressource Bildung in diesem
Land kämpfen!
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11465 und 17/12384 an in die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu Meinungsverschiedenheiten? -
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 35 b. Wir kommen nun zur Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP mit dem Titel „Stärken von Kindern und Jugendli-
chen durch kulturelle Bildung sichtbar machen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12423, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/10122 anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sofortige Abschaffung der Sanktionssonderregeln für junge Hartz-IV-Berechtigte
- Drucksache 17/11372 Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jährige abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Soziale Bürgerrechte garantieren - Rechtsposition der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen stärken
- Drucksachen 17/9070, 17/7032, 17/10203 Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Einen Widerspruch dazu höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion Die
Linke.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
135 Euro bekommen Jugendliche durchschnittlich, wenn
sie Hartz IV beziehen. Kommen dann noch die Kosten
der Unterkunft hinzu, kommen sie auf durchschnittlich
338 Euro. So schickt man Menschen in die Armut. Ich
finde, diese zwei Zahlen verdeutlichen die Tragödie von
Hartz IV insgesamt.
({0})
Ich will aber heute gar nicht darüber reden, dass
Hartz IV insbesondere aus armutspolitischer Sicht eine
historische Fehlentscheidung war. Ich will die besonderen Härten gegenüber Jugendlichen thematisieren, und
zwar mithilfe von drei Punkten: erstens das Konstrukt
der Bedarfsgemeinschaft, zweitens die verschärften
Sanktionsregelungen und drittens das sogenannte Auszugsverbot. Mit allen drei Sonderregelungen diskriminieren Sie junge Menschen aufgrund ihres Alters. Mich
verwundert wirklich, dass Ihnen noch kein Gericht einen
Strich durch die Rechnung gemacht hat.
({1})
- Einen Moment! - Professor Uwe Berlit, Richter beim
Bundesverwaltungsgericht, hat bereits gesagt, dass eine
Verfassungsklage sehr gute Chancen habe. Eine solche
Klage würden wir gerne einreichen. Das können wir
aber nicht allein. Wir brauchen dazu die Unterstützung
der SPD oder der Grünen. Aber beide haben uns abgesagt.
({2})
Zum ersten Punkt. Seit 2006 werden unter 25-Jährige
der Bedarfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet. Sie sehen also junge Menschen als Anhängsel ihrer Eltern und
nicht als hilfebedürftige Einzelperson mit ganz eigenen
Problemen und Bedürfnissen.
({3})
Weil Bedarfsgemeinschaft auch bedeutet, mit den Eltern
in einem Haushalt leben zu müssen, stehen den betreffenden Jugendlichen nach Ihrer Logik nur 80 Prozent
des eigentlichen Regelsatzes zu. Wie gesagt, das sind
durchschnittlich 135 Euro, also noch nicht einmal der
Regelsatz, den die Jugendlichen eigentlich bekommen
müssten. Das hat mit einer bedarfsorientierten Sozialleistung überhaupt nichts zu tun.
({4})
Zum zweiten Punkt. Jugendliche werden wesentlich
härter und wesentlich öfter nach SGB II bestraft als Erwachsene.
({5})
Ihnen darf die Leistung nach einem Vergehen - und zwar
immer ein Vergehen aus Sicht der Behörde - um 100 Prozent gekürzt werden. Drei Monate lang 0 Euro! Bei einem
weiteren Verstoß - wieder ein Verstoß aus Sicht der Behörde - dürfen ihnen auch die Mittel zur Deckung von
Heizkosten und Miete gestrichen werden. Meine Damen
und Herren, kein Staat hat das Recht, Menschen die Lebensgrundlage zu nehmen.
({6})
Drittens. Kommen wir zum Genehmigungsvorbehalt
beim Wohnungsauszug. Wenn junge Menschen das
18. Lebensjahr vollendet haben, aber im Hartz-IV-Bezug
sind, trifft sie ein faktisches Auszugsverbot. Wollen sie
doch ausziehen, müssen sie beweisen, dass sie sich in einer besonders schweren Notlage befinden. Wir halten
den Wunsch, auszuziehen, sich selbstständig zu machen
und auf eigenen Beinen zu stehen, an sich für einen sehr
begrüßenswerten Schritt ins Erwachsenenleben. Nach
Ihrer Logik aber müssen Behörden feststellen, ob Jugendliche in ihrer Herkunftsfamilie zum Beispiel Opfer
von Gewalt werden. Da hängen schwere Schicksale von
dem Mut eines Jugendlichen oder einer Jugendlichen ab,
bei einer Behörde das Innerste nach außen zu kehren,
aber auch von der richtigen Einschätzung eines Sachbearbeiters. Dann gibt es noch Jugendliche, die mit 18 ausgezogen sind, weil sie einen Job hatten, dann aber in
Hartz IV fallen und zu den Eltern zurückkehren müssen.
Uns wurde in der Anhörung bestätigt, dass Wohnungs27808
und Obdachlosigkeit in beiden Fällen die Folge sein
können. Das muss uns allen zu denken geben.
({7})
Was mich bei all diesen Sonderrepressionen so richtig
ärgert: Sie haben sich kein einziges Mal darum gekümmert, welche Folgen das alles hat. Sie wissen gar nicht,
wie die Sanktionen wirken. Sie wissen gar nicht, wie
viele junge Menschen ausziehen wollen. Sie kennen
nicht die Zahl der Ablehnungen und die Gründe. Sie machen Gesetze, ohne sich um die Folgen zu kümmern.
Das hat mit Politik wirklich wenig zu tun.
Danke schön.
({8})
Max Straubinger erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Linke fordert mit ihrem Antrag, alle Sanktionen für unter 25-Jährige abzuschaffen, und die Grünen fordern in
ihren Anträgen, Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte der Empfänger zu stärken bzw. beratungsintensivere Gespräche mit Jugendlichen zu führen, die
letztendlich verpflichtet sind, selbst für ihren eigenen
Lebensunterhalt zu sorgen. Das ist das grundlegendste
Prinzip.
Unter diesen Gesichtspunkten ist es auch richtig gewesen, dass man unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung ein Hartz-Gesetz mit der Zielstellung „Fordern und Fördern“ verabschiedet hat. Wenn wir es so
machten, wie es die Linken fordern, dass wir alle Sanktionsmechanismen abschafften, dann wären wir nur noch
beim Fördern, aber nicht einmal richtig beim Fördern,
sondern letztendlich beim Faulenzen. Das kann es nicht
sein.
({0})
Im Grunde genommen ist die Antragstellung zumindest der Linken darauf abgestellt, ein bedingungsloses
Grundeinkommen zu haben. Das ist ja die Zielsetzung.
({1})
- Natürlich.
({2})
Dass es in unserer Gesellschaft Lebenskünstler gibt,
({3})
die sich drücken und auf Kosten der Allgemeinheit leben
wollen, zeigt ja das Beispiel des Herrn Ponader, des Geschäftsführers der Piratenpartei, der sich davor auch jahrelang gedrückt hat. Das kann es nicht sein, weil das
nicht im Sinne der Steuerzahler sein kann, die all dies
sozusagen zu ermöglichen haben.
({4})
Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen, und dies
auch begründet: Den Hilfebedürftigen ist nicht geholfen,
wenn man ihnen nicht darlegt, dass sie einer Arbeit
nachzugehen haben und dass es eben, wenn Verstöße gemeldet werden, zu Sanktionen kommt. Über eine Million
Sanktionen gab es; 700 000 davon sind letztendlich
durch nicht eingehaltene Termine für Beratungsgespräche, für Vermittlungsgespräche für Angebote begründet.
Es kann nicht sein, dass sich jemand einfach davonstiehlt. Darum geht es. Es ist jedem möglich, solche Termine einzuhalten. Es ist im gut verstandenen Sinne des
Forderns, dass jemand diese Angebote der Bundesagentur für Arbeit oder des Jobcenters dann auch anzunehmen hat. Wenn er sie nicht annimmt, dann ist auch die
Sanktion gerechtfertigt.
Dies ist auch vom Bundesverfassungsgericht dargelegt worden. Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 des
Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz greift nur dann ein, „wenn und soweit andere Mittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zur Verfügung stehen“. Das heißt,
zuerst ist jeder selbst gefordert, sein Existenzminimum
zu erwirtschaften. Vor allen Dingen ist er auch aktiv daran zu beteiligen. Er muss sich selbst aktiv beteiligen,
seine möglicherweise eingetretene Hilfebedürftigkeit so
schnell wie möglich zu beenden.
({5})
Dies ist ein Ausdruck dafür, dass man dies nur in dem
Sinn auch mit Sanktionen zu gewährleisten hat.
({6})
- Nein. Das Angebot, Frau Kollegin, geht einer Sanktion
voraus. Sie missverstehen hier die Verwaltungspraxis,
die hier auch bestätigt wird.
Im Übrigen diffamieren Sie mit ihren Anträgen auch
die Handlungsweise der vielen Beamtinnen und Beamten und der Angestellten in den Jobcentern, die sich sehr
wohl überlegen, ob eine Sanktion angebracht ist oder
nicht angebracht ist. Dies zeigen auch die Ergebnisse:
Den 700 000 Sanktionen wegen Meldeversäumnissen im
Jahr 2012 steht für 2011 ein monatlicher Bestand von
146 000 erwerbsfähigen Leistungsempfängern mit mindestens einer Sanktion gegenüber, davon 39 000 Sanktionen für Personen unter 25 Jahren, also eine Quote von
4,8 Prozent. Sie unterstellen, dass besonders Jugendliche
davon betroffen sind. Das kann man aus dieser Zahl in
keiner Weise schließen; denn diese Zahl stammt aus dem
Jahr 2011. Das bedeutet, dass die Arbeitsagenturen, die
Jobcenter, mit den Sanktionen sehr spärlich und sachgerecht umgehen. Deshalb gibt es hier keine Kritik zu
üben.
Deswegen ist es notwendig, Ihre Anträge dementsprechend abzulehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es richtig und wichtig, dass wir
heute wiederholt über das Thema Sanktionen im SGB II
sprechen und vor allen Dingen darüber, was das insbesondere bei jungen Menschen unter 25 Jahren bewirkt.
Über dieses Thema sprechen wir schon seit dem letzten
Jahr. Wir werden permanent begleitet durch zum Teil
haarsträubende Medienberichte über die Praxis in den
Jobcentern.
Der Ansatz des Förderns und Forderns, von dem mein
Vorredner gesprochen hat, ist ein Grundgedanke im
SGB II. Mit diesem Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfe
haben wir inzwischen viele Menschen vom sozialen
Rand in den Fokus der Förderung geholt und ihnen
Chancen der Teilhabe gegeben. Das steht für mich außer
Frage. Dennoch glaube ich, dass der Gleichklang des
Förderns und Forderns in eine Schieflage geraten ist. Er
ist falsch gewichtet. Schwarz-Gelb hat die Axt an die arbeitsmarktpolitischen Instrumente angelegt und den Eingliederungstitel zusammengestrichen. Erfolgreiche
Programme wie der Gründerzuschuss, der Ausbildungsbonus oder der Eingliederungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer sind entweder keine Pflichtleistung mehr
oder ganz gestrichen und können ihre vormals gute Wirkung nicht mehr entfalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig:
Hier muss endlich umgesteuert werden und der Gleichklang des Förderns und Forderns wiederhergestellt werden. Vor allem vor dem Hintergrund einer verfestigten
Langzeitarbeitslosigkeit muss das staatliche Angebot zur
Selbsthilfe gestärkt werden. Zielsetzung muss dabei
sein, dass Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen
können. Das muss von beiden Seiten gewollt sein. Arbeitsuchende, die sich bemühen, ihre Hilfsbedürftigkeit
zu beenden, müssen in jedem Fall unterstützt werden.
Aber die vorsätzliche Verweigerung wiederholter Art
und die Nichtannahme von geeigneten Angeboten müssen sanktioniert werden. Darum sage ich: Das Sanktionssystem in Gänze abzuschaffen, das könnten wir
nicht mittragen.
({0})
Aber es muss flexibler gestaltet werden. So wie es heute
aussieht, funktioniert es nicht in der Praxis. Die dreimonatige Sanktionsdauer zum Beispiel ist viel zu starr. Bei
Eintritt der gewünschten Verhaltensänderung muss auch
die Möglichkeit bestehen, die Sanktionen umgehend
aufzuheben, damit positive Effekte erzielt werden können und nicht ins Gegenteil umschlagen.
({1})
Die verschärften Sanktionsregeln für junge Menschen
unter 25 Jahre gehören hingegen abgeschafft.
({2})
Das ist unser klares Votum. Für sie gibt es weder pädagogische noch fachliche Gründe. Sie stehen ganz klar im
Widerspruch zu anderen Rechtssystemen, wie zum Beispiel dem Jugendstrafrecht, das aus pädagogischen
Gründen weichere Strafen vorsieht. Die jungen Erwachsenen müssen motiviert und für die Mitwirkung gewonnen werden.
Was die Folgen aus den härteren Sanktionen für unter
25-Jährige sind, hat die Befragung von Experten durch
das IAB ergeben. Danach haben junge Menschen aufgrund der harten Sanktionsregeln Existenzängste, und
ihnen droht sogar Obdachlosigkeit. Sie werden in die
Isolation gedrängt, oder sie nehmen aus Angst vor diesen Folgen oftmals prekäre und atypische Beschäftigungsverhältnisse auf. Das kann doch nicht unser Ziel
sein. Nicht das Zurückfahren der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente gerade für Jugendliche ist richtig, sondern
verstärkte Aktivitäten zur beruflichen Integration. Daher
fordern wir die Auflegung eines Programms „2. Chance
auf Berufsausbildung“ mit dem Ziel, Jugendlichen eine
zweite Chance auf Ausbildung zu ermöglichen. Junge
Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss müssen die Perspektive eines beruflichen Abschlusses haben. Vor Ort müssen neue Ansätze erprobt
werden, um Jugendlichen die Aufnahme einer Berufsausbildung und deren erfolgreichen Abschluss besser als
bisher zu ermöglichen.
Sicherlich haben Sie wie ich in der Zeitung, die uns
jede Woche ins Büro flattert, aufmerksam gelesen, dass
die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der BA jetzt
solch einen Weg vorschlägt. Ich finde es sehr positiv,
dass sie die Situation gemeinsam mit der Wirtschaft, den
Unternehmerverbänden, verändern wollen. In Berlin ist
die Situation nämlich besonders dramatisch: Es gibt hier
22 000 junge Menschen unter 25, die arbeitslos sind.
Hinzu kommen 15 000 junge Menschen, die in irgendwelchen Bildungsmaßnahmen sind. Etwa 10 000 Jugendliche werden überhaupt nicht erfasst. Das ist eine
Riesenanzahl: fast 50 000 junge Menschen.
Die Regionaldirektion der BA nimmt die prekäre Situation zum Anlass, eine zentrale Anlaufstelle für alle
unter 25-Jährigen zu schaffen, die einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz suchen. Diese Berufsagentur - so nennt sie sich - für jugendliche Arbeitslose soll
den Kampf gegen die hohe Arbeitslosenquote und vor
allen Dingen die hohe Abbrecherquote im Ausbildungsbereich aufnehmen. In Berlin beendet jeder dritte Jugendliche die Ausbildung ohne Abschluss, und auch das
können wir eigentlich nicht länger dulden. Hamburg hat
dieses Modell übrigens vor einem Jahr umgesetzt und
schon gute Ergebnisse erzielt. Ich halte das für einen
guten und richtigen Weg, um den Jugendlichen ein ernst27810
haftes Angebot zu machen. Wir wollen nämlich
verhindern, dass junge Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit abgleiten. Aber dafür muss es einfach konkrete
Initiativen geben. Sanktionen sind hier nicht der richtige
Weg.
({3})
Auch die Gemeinsame Kommission von Justizministerkonferenz und Arbeits- und Sozialministerkonferenz
hat das erkannt und uns schon im Oktober 2010 in einem
Bericht mitgeteilt, dass sie die besonderen Sanktionsregeln für junge Erwachsene unter 25 Jahren streichen
möchte. Zum Leidwesen der jungen Menschen in diesem Land hat dieser kluge Vorschlag keinen Eingang in
die Gesetzgebung gefunden; aber das ist typisch für
diese schwarz-gelbe Verhinderungskoalition, die offensichtlich auch an dieser Diskussion kein Interesse hat.
Nun zu den Anträgen. Wir stehen dem zuletzt vorgelegten Antrag der Fraktion Die Linke vom 7. November
2012 mit dem Titel „Sofortige Abschaffung der Sanktionssonderregeln für junge Hartz-IV-Berechtigte“ sehr
nah. Wir werden sehen, ob wir die Koalitionsfraktionen
im Ausschuss von diesem notwendigen Schritt überzeugen können; aber ich versehe das mit einem Fragezeichen.
Den Anträgen, über die heute zu entscheiden ist, einer
davon aus dem Jahr 2012, können wir nicht zustimmen,
weil darin einiges miteinander vermengt worden ist, was
einfach nicht zusammengehört. Dass auch jungen Menschen in Ausbildung ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährt werden muss, ist unstrittig. Aber
diese Absicherung nun zusätzlich über das SGB II zu regeln, ist nicht richtig. Wir müssen an das BAföG und an
die Berufsausbildungsbeihilfe heran und innerhalb des
Systems dringend notwendige Korrekturen vornehmen.
Dazu liegen übrigens Anträge der Opposition vor; aber
sie sind von dieser Verhinderungskoalition abgelehnt
worden.
Kollegin Krüger-Leißner, mit diesen müssen wir uns
dann zu anderer Gelegenheit beschäftigen. Sie müssen
bitte zum Schluss kommen.
Das wollte ich gerade tun. Vielen Dank für den Hinweis. Ihre Anregungen werden wir aufgreifen. Ich glaube,
es sind gute Ansätze dabei. Wir müssen uns vor allen
Dingen weiterhin mit ein Paar Problemen bei den
Schnittstellen in unserem Sozialsystem beschäftigen, um
gute Lösungen vorzulegen.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von den drei Anträgen, die wir heute beraten, sind zwei
schon dem Titel nach nahezu identisch. Das sind die beiden Anträge aus der Feder der Linken. Der eine trägt den
Titel: „Hartz-IV-Sonderregelungen für unter 25-Jährige
abschaffen“, und der andere lautet: „Sofortige Abschaffung der Sanktionssonderregeln für junge Hartz-IV-Berechtigte“. Es ist schon dem Namen nach unverkennbar,
dass beide Anträge dasselbe Ziel verfolgen.
({0})
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Ist es wirklich sinnvoll, den Bundestag immer mit
demselben Thema zu befassen, statt auch einmal nach
Lösungen zu suchen und neue Konzepte zu erarbeiten?
Aber Sie müssen wissen, wie Sie hier Politik machen.
({1})
Ich kann für die FDP und für die Regierungskoalition
sagen, dass wir an dem Prinzip „Fördern und Fordern“
festhalten.
({2})
Dieses Prinzip, das Rot-Grün damals in die Hartz-IVGesetzgebung eingeführt hat, ist richtig, weil es auf einem Solidaritätsgedanken beruht. In unserer Gesellschaft gibt es einen dreifachen Solidaritätsgedanken,
oder anders gesprochen: Wir leben Solidarität in dreifacher Beziehung.
Da gibt es zum einen diejenigen, die keinen Unterstützungsbedarf haben, das sind die starken Schultern in
unserer Gesellschaft. Sie sind zu Solidarität gegenüber
denjenigen verpflichtet, die schwächere Schultern haben, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Wenn sie
dem nicht nachkommen, indem sie zum Beispiel ihre
Steuern nicht bezahlen, dann werden sie sanktioniert.
Das ist das Prinzip, das in unserem Land gilt, das aufrechterhalten wird und zu dem wir stehen.
Dann gibt es zum Beispiel die erwerbsfähigen Erwerbslosen, also die Hartz-IV-Empfänger, wie man umgangssprachlich sagt. Sie sind nicht die Schwächsten in
unserer Gesellschaft, aber sie brauchen Unterstützung.
Sie befinden sich in einer doppelten Solidaritätsbeziehung: zu denjenigen, die für sie durch ihrer Hände Arbeit die Unterstützung erwirtschaften, von der sie profitieren sollen und dürfen. Gleichzeitig sind sie in einer
Solidaritätsbeziehung mit jenen, die noch schwächer
sind und noch mehr Unterstützung brauchen, die darauf
angewiesen sind, dass die vorhandenen Mittel im Sozialstaat effizient und gerecht verteilt werden. In dieser doppelten Solidaritätsbeziehung stehen diejenigen, über die
wir heute reden und für die Sie die Sanktionen abschaffen wollen.
Die Jobcenter, die diese Sanktionen aussprechen, tun
dies nicht aus eigener Entscheidung, sondern aufgrund
der Gesetzeslage, weil sie sozusagen als Anwälte dieser
gültigen Solidaritätsbeziehung in unserer Gesellschaft
agieren und stellvertretend für uns, den Gesetzgeber, der
stellvertretend für die gesamte Gesellschaft spricht,
diese wechselseitige Solidarität von den Arbeitsuchendenden einfordern. Aus diesem Grund, weil die wechselseitige Solidarität die Basis unseres Sozialstaates ist,
wollen wir von dem Prinzip „Fördern und Fordern“ auch
nicht abgehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihren
Darstellungen klingt es so, als würden massenhaft Sanktionen gegen Arbeitslosengeld-II-Bezieher ausgesprochen werden. Im vergangenen Jahr wurden gegen
3,5 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsbezieher Sanktionen ausgesprochen, das heißt, die Beziehung zwischen Jobcentern und Arbeitsuchenden funktioniert in
96,5 Prozent der Fälle, also in den allermeisten Fällen,
tadellos.
({3})
Von einem Massenphänomen kann keine Rede sein.
Auch bei den von Ihnen in Ihren Anträgen hervorgehobenen unter 25-Jährigen sind es nur 5 Prozent. Also
auch bei denjenigen, die Sie in Ihren Anträgen auf besondere Weise im Blick haben, handelt es sich in keiner
Weise um ein Massenphänomen. Vielmehr muss man
feststellen, dass die allermeisten sich korrekt verhalten
und mitwirken, um aus ihrer Hilfsbedürftigkeit herauszukommen. Umgekehrt heißt das, dass die Jobcenter ihre
Arbeit verantwortlich tun.
Wir wissen, dass die Jobcenter an der einen oder anderen Stelle ihre Arbeit weiter verbessern können. Wir
stellen aber auch fest, dass in den letzten Jahren einiges
sehr viel besser und viel professioneller geworden ist,
auch deshalb - gerade wenn es um die unter 25-Jährigen
geht -, weil wir als Regierungskoalition den Betreuungsschlüssel verbessert haben, sodass mehr Zeit zur Verfügung steht, auf die individuellen Bedürfnisse des Arbeitsuchenden einzugehen. Wir haben konkret etwas verbessert,
indem wir den Betreuungsschlüssel auf 1 : 75 verbessert
haben, sodass individuelle Beratung und individuelles
Eingehen auf die Personen in den Jobcentern möglich
ist.
Wenn Sie von einer Zunahme der Sanktionen sprechen, dann müssen Sie bedenken, dass der Grund dafür
vor allen Dingen ist, dass es mehr Jobangebote gibt.
Wenn es mehr Jobangebote gibt, dann gibt es mehr Kontaktaufnahmen zwischen den Jobcentern und den Arbeitsuchenden, und dann besteht zumindest theoretisch die
Möglichkeit, gegen mehr Kontaktpflichten zu verstoßen
und mehr Angebote, die das Jobcenter unterbreitet, nicht
anzunehmen. Das ist eine ganz einfache statistische
Wahrheit. Die Ursache dafür ist, dass diese Regierungskoalition eine hervorragende Politik macht, sodass Arbeitsplätze entstehen, Menschen Arbeitsplätze finden
können und sie qualifiziert werden können. Dass durch
unsere Politik weniger Menschen arbeitslos sind, ist erfreulich für die Menschen, für unsere Gesellschaft insgesamt. Allein das wird, glaube ich, dazu führen, dass weniger Sanktionen ausgesprochen werden; denn jeder, der
eine Arbeit sucht, steht auch nicht in einer Beziehung zu
einem Jobcenter.
({4})
Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, da Sie sich ja in besonderer Weise den Arbeitsuchenden verpflichtet fühlen, sollten Sie Ihr Herz über
die Hürde werfen und diese Regierungskoalition einmal
aus vollem Herzen loben. Ich glaube, auch Sie sind dafür, dass möglichst viele Menschen in diesem Land einen Job finden. Da müssen Sie doch zugeben, dass diese
Regierungskoalition so erfolgreich ist wie keine zuvor.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kober, ich muss auf zwei Ihrer Argumente
gleich eingehen. Sie haben gesagt, es gebe nur ganz wenige Sanktionen, das sei nichts Besonderes, und das
hätte etwas damit zu tun, dass es mehr Jobangebote
gebe. Ich frage erst einmal: Was sind denn das für Jobs,
die da angeboten werden?
({0})
Wenn man sich die Sache genau anschaut, stellt man
fest, dass das Sanktionsregime über den eigentlichen
Kreis der tatsächlich Sanktionierten hinaus natürlich
Wirkungen hat, weil Leute aus Angst vor Sanktionen
und dem Entzug des Lebensunterhalts Jobs annehmen,
die sie niemals annehmen würden, wenn es eine vernünftige Grundsicherung gäbe.
({1})
Wie kommt es überhaupt, dass Verhältnisse wie bei der
Zeitarbeitsfirma Trenkwalder bzw. beim Versandhändler Amazon möglich sind? Wenn es Sanktionsandrohungen in dieser Schärfe nicht gäbe, würden die dort Beschäftigten sagen: Da machen wir nicht mit.
({2})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Sie reden immer vom „Fördern und Fordern“. Wir, Bündnis 90/Die Grünen, sind der Auffassung, dass man, wenn
man ernsthaft fördert, wenn man die Bedürfnisse und
Wünsche der Personen ernst nimmt und wenn man ein
Wunsch- und Wahlrecht mit verschiedenen gleichwertigen Angeboten einführt - genau das fordern wir in unserem Antrag „Soziale Bürgerrechte garantieren“, der hier
auch behandelt wird -, die Sanktionen in aller Regel
überhaupt nicht benötigt. Es gibt ja auch Beispiele von
Jobcentern, die die jungen Erwachsenen dort abholen,
wo sie stehen, die positiv mit ihnen arbeiten und damit
entsprechende Erfolge erzielen.
({3})
Darum sagen wir: Wir wollen bei der Motivation und
der Eigenverantwortlichkeit der Person ansetzen. Wir
folgen nicht einem Fetisch des Strafens. Ich glaube, dass
das bei den Konservativen sehr weit verbreitet ist. Das
wäre einmal ein interessantes wissenschaftliches Thema.
Herr Zimmer, Sie sind auch Hochschullehrer. Sie können ja einmal eine Doktorarbeit mit dem Titel „Der Fetisch des Strafens im Selbstverständnis der politischen
Konservativen“ anregen. Das wäre interessant.
({4})
Besonders unnachgiebig wird das Prinzip des Strafens
gegenüber Jugendlichen und jungen Erwachsenen hochgehalten, sei es in Form besonders scharfer Sanktionsmöglichkeiten oder als Haltung, wie man es in der
gegenwärtigen Debatte über das Sitzenbleiben in Niedersachsen verfolgen kann. Dies geschieht wohl in dem
Glauben, die harte Strafe sei gegenüber dem jungen
Menschen pädagogisch besonders wertvoll, auf dass er
sich bessere. Ich sage Ihnen: Dieses Verständnis stammt
aus dem vorvergangenen Jahrhundert.
({5})
Sitzenbleiben und Arbeitshaus sind tatsächlich im
19. Jahrhundert zur Blüte gelangt. Gefördert wird damit
nicht der mündige Mensch, sondern das, was die Eliten
des 19. Jahrhunderts für die Tugenden der Arbeiter hielten: Gehorsam, Anpassungsbereitschaft, Fügsamkeit und
höchstens noch Fleiß durch Zwang.
({6})
Das ist heutzutage unangemessen. Wird dadurch
Kreativität ermöglicht? Wird dadurch Motivation erzeugt? Wird dadurch die Risikobereitschaft gefördert?
Nein. Man muss gar nicht so moralisch argumentieren,
wie die Linke es teilweise tut. Man kann es auch ganz
nüchtern und funktional betrachten. Die Tugenden der
modernen Arbeitsgesellschaft sind Eigenverantwortlichkeit und Kreativität.
({7})
Das wird durch Zwang zum Gehorsam nicht eben gefördert.
({8})
Wir als Bündnis 90/Die Grünen setzen mit unserem
Antrag auf das Prinzip der partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Erst wenn gleichwertige Angebote, vernünftige Sachen hartnäckig und wiederholt von den Betroffenen ausgeschlagen werden, kann man sanktionieren,
aber Jugendliche nicht anders als Erwachsene.
Wir sind außerdem der Auffassung, dass ab einer
Kürzung von mehr als 10 Prozent Sachleistungen einsetzen müssen. Wir sind weiterhin der Auffassung, dass das
Ganze flexibilisiert werden muss. Sobald die Verhaltensänderung eintritt, muss die Sanktion sofort aufgehoben
werden. Mich freut es, von der SPD zu hören, dass sie in
dieser Hinsicht politisch nachdenkt.
Es ist schon wert - egal was wer wann wie in der Vergangenheit beschlossen hat, Herr Kober -, dass man an
dieser Stelle gemeinsam und nüchtern tatsächliche Wirkungen, beabsichtigte und wirkliche Folgen untersucht
und das dann entsprechend politisch verändert.
Danke.
({9})
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es hier mit zwei sehr unterschiedlichen Anträgen zu
tun. Ich muss ganz persönlich sagen: Mir tut es ein bisschen leid, dass der inhaltlich sehr substanziierte Antrag
der Grünen mit dem sehr eindimensionalen Antrag der
Linken zusammen verhandelt wird;
({0})
denn ich finde in Ihrem Antrag eine ganze Reihe von
Dingen, die durchaus nachdenkenswert sind.
Ich habe mich zum Beispiel sehr gefreut, in Ihrem
Antrag etwa eine Forderung zu finden, die Praxis der
Friedenswahlen bei der Selbstverwaltung der Sozialleistungsträger zurückzudrängen. Sie haben hier vielleicht
auch gemerkt, dass sich der Bundesbeauftragte für die
Sozialwahlen, Gerald Weiß, in der Anhörung dieser Forderung durchaus angeschlossen hat. Er ist aus eigener
Erkenntnis dazu gekommen. Mittlerweile liegt der
Schlussbericht zu den Wahlen 2011 vor, und es liegt ein
Vorschlag zu einem neuen Wahlverfahren und damit zur
Abschaffung der Friedenswahlen auf dem Tisch.
Ich stelle das an den Anfang meiner Rede, weil ich
glaube: Wir gewinnen in der Politik auch, wenn wir Gemeinsamkeiten unterstreichen und wenn wir uns die
vielleicht nur vordergründige Blöße geben, auch öffentlich zuzugeben, dass dann und wann auch aus der Opposition konstruktive Vorschläge kommen können. Insofern habe ich den Antrag begrüßt und bin mir sicher:
Auch wenn wir Ihren Antrag heute vor allen Dingen wegen der Sanktionsregelungen ablehnen, bleibt eine Reihe
von nachdenkenswerten Ideen, für die ich ausgesprochen dankbar bin.
Meine Damen und Herren, eine Differenz - das hatte
ich angedeutet - betrifft die Frage der Sanktionsregelung
bei den unter 25-Jährigen. Die Linke ist insgesamt für
eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Genau hier wird
die Debatte sehr spannend. Sie betrifft nämlich letztlich
die Frage: Darf, kann Solidarität ohne Bedingungen gewährt werden, oder ist Solidarität auch immer mit Eigenverantwortung gekoppelt? Unstreitig ist: Dort, wo die
Eigenverantwortung nicht wahrgenommen werden kann,
ist Solidarität unbedingt erforderlich. Aber wie sieht es
aus, wenn Eigenverantwortung wahrgenommen werden
kann? Wie weit reichen dann die Solidaritätspflichten
der Gemeinschaft? Mit anderen Worten: Inwieweit darf
ich als Einzelner andere in eine gesamtschuldnerische
Haftung nehmen? Denn nichts anderes ist Solidarität
nach dem alten römischen Rechtsprinzip der obligatio in
solidum. Inwieweit darf ich die Solidarität der Gesellschaft in Anspruch nehmen, auch wenn ich ihrer nicht
bedürfte: entweder weil ich durchaus Möglichkeiten
hätte, meine eigene Lebenssituation in den Griff zu bekommen oder weil ich andere, subsidiär tätige Hilfemöglichkeiten wie die Familie habe?
Meine These ist: Die durchaus notwendige und wichtige Ressource Solidarität wird durch Trittbrettfahrer
verhalten unterminiert. Dort, wo Eigenverantwortung
nicht ernstgenommen wird, kann auf Dauer keine Solidarität beheimatet sein. Das wäre im Übrigen auch mein
Haupteinwand gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen: Es vernichtet die gesellschaftlich notwendige
Ressource Solidarität.
({1})
Aus meinem Menschenbild heraus ist der Mensch zur
Freiheit befähigt und zur Verantwortung für sich selbst.
Er ist dabei zur Solidarität aufgerufen. Dabei verstehe
ich unter Solidarität mit der schönen Definition aus der
päpstlichen Enzyklika Sollicitudo rei socialis - ich zitiere -:
… die feste und beständige Entschlossenheit, sich
für das „Gemeinwohl“ einzusetzen, das heißt, für
das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle
verantwortlich sind.
Das funktioniert aber nur, wo nicht durch Strukturen
antisolidarischen Verhaltens die Quellen der Solidarität
selbst verstopft werden. Wir dürfen Solidarität nicht
überdehnen und missinterpretieren als ein voraussetzungsloses Leben auf Kosten anderer. Das scheint mir
gerade bei dem Antrag der Linken der Fall zu sein. Dahinter stecken ein falsches Bild der menschlichen Freiheit, ein falsches Bild von Solidarität und vermutlich gar
keine Vorstellung von Gemeinwohl. Dies ist gar nicht
überraschend, denkt man an die geistigen Traditionen
dieser Partei.
({2})
Deswegen bin ich skeptisch in Bezug auf die generelle
Sanktionsfreiheit und die besonderen Regelungen für
unter 25-Jährige. Wenn wir diesen Weg gehen, zerstören
wir die Voraussetzungen von Solidarität in der Gesellschaft. Aber ohne Solidarität kann es, wie Oswald von
Nell-Breuning gesagt hat, keine Gemeinschaft geben.
({3})
Ein letzter Punkt. Wohin es führt, wenn Solidarität
überstrapaziert wird, sieht man auch an den Debatten um
den Länderfinanzausgleich. Es ist schon absurd, dass
sich mein Bundesland Hessen jedes Jahr allein deshalb
verschulden muss, um Leistungen in anderen Bundesländern zu finanzieren, die es sich selbst nicht leisten
kann. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich: Man
darf die Ressource Solidarität nicht als Einladung verstehen, es sich auf Kosten anderer gut gehen zu lassen.
Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Einsicht überall
dort, wo Rot oder Grün regiert, noch nicht ganz verinnerlicht worden ist.
({4})
Aber im Großen des Länderfinanzausgleiches wie im
Kleinen der Hartz-IV-Regelungen gilt: Es gibt kein Anrecht darauf, auf Kosten anderer im Namen der Solidarität ein gutes Leben zu führen, wenn man dafür eigenverantwortlich selbst sorgen könnte.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11372 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/10203.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9070 mit dem
Titel „Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jährige
abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7032 mit dem Titel „Soziale Bürgerrechte garantieren - Rechtsposition der Nutzerinnen
und Nutzer sozialer Leistungen stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung
({0})
- Drucksache 17/7335 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({1}), Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu einer rechtsstaatlichen und bürgerrechtskonformen
Ausgestaltung der Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaßnahme
- Drucksache 17/7033 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 17/12419 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Sebastian Edathy
Halina Wawzyniak
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg van Essen für die FDP-Fraktion.
({3})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Februar 2011 hat uns schon gestern
beschäftigt. Es ging um eine Entscheidung des Immunitätsausschusses; eine Kollegin und ein Kollege der
Linksfraktion beanspruchten dort eine Sonderregelung
für sich. Wir müssen uns aber auch noch aus einem anderen Grund mit dem Februar 2011 beschäftigen. Es hat
nämlich damals in Dresden in einem für mich unvorstellbaren Umfang Funkzellenabfragen durch die Strafverfolgungsbehörden gegeben. Das ist ein Vorgang, der
nicht ohne parlamentarische Beratung bleiben kann.
({0})
Deshalb haben wir darüber ja auch gemeinsam im
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages diskutiert.
Wenn es zu einer solchen missbräuchlichen Anwendung einer Vorschrift kommt - ich glaube, das ist die gemeinsame Feststellung von allen -, dann müssen wir uns
fragen: „Hat der Gesetzgeber darauf zu reagieren?“, und
gegebenenfalls: „Wie hat er darauf zu reagieren?“ Genau
das ist der Gegenstand unserer Beratungen gewesen. Wir
haben dazu auch eine Sachverständigenanhörung durchgeführt.
Zunächst einmal die Feststellung: Die Funkzellenabfrage ist ein wichtiges Ermittlungsinstrument. Aber
sie ist auch ein Eingriff in die individuellen Rechte des
Bürgers. Deshalb muss beides gegeneinander abgewogen werden. Ich finde, dass der Gesetzgeber das sehr
vernünftig abgewogen hat. Er hat nämlich deutlich gemacht, dass ein solcher Eingriff nur dann zulässig ist,
wenn der Vorwurf, der im Raum steht, ein entsprechend
hohes Gewicht hat. Wenn man sich allein das vor Augen
führt, muss man sagen, dass die Voraussetzungen in
Dresden dazu nicht gegeben waren.
Ich finde es im Übrigen auch richtig, dass der Polizeipräsident nach diesem Vorgang zurücktreten musste,
weil dieses Instrument hier offensichtlich rechtsmissbräuchlich angewandt worden ist.
Es gibt eine zweite Hürde, die wir auch bei ähnlichen
Eingriffshandlungen der Justiz haben: Ein Richter muss
dazu befragt werden und seine Zustimmung geben. Von
daher gibt es also die üblichen hohen Hürden, die in der
Strafprozessordnung immer dann vorgesehen sind, wenn
in Rechte des Bürgers eingegriffen wird. Damit sorgen
wir dafür, dass das von den Strafverfolgungsbehörden
nicht aus eigenem Entschluss getan werden kann.
Es gibt zwei Vorschläge, die heute zur Abstimmung
stehen. Zunächst zum Vorschlag der Linken, insgesamt
auf dieses Instrument zu verzichten. Ich sage klar und
eindeutig, dass wir strikt dagegen sind, aus einem solchen Einzelfall den Schluss zu ziehen: Es darf in Zukunft in Deutschland keine Funkzellenabfrage mehr geben. - Wer sich die Anhörung, die der Rechtsausschuss
des Deutschen Bundestages durchgeführt hat, vor Augen
führt, weiß, welch große Bedeutung die Funkzellenabfrage in der Vergangenheit beispielsweise bei der Aufklärung von Straftaten wie Mord gehabt hat;
({1})
bestimmte Straftaten konnten nur dadurch aufgeklärt
werden. Deshalb muss ich sagen: Ich wundere mich über
den Vorschlag, den Sie hier machen. Schwerste Straftaten wie Mord könnten nicht mehr aufgeklärt werden,
wenn wir Ihrem Vorschlag folgen würden.
({2})
Deshalb werden wir das nicht tun.
Die Grünen haben einen anderen Weg gewählt. Sie
haben die Anforderungen an die Funkzellenabfrage in
ihrem Gesetzentwurf erhöht, beispielsweise was die
richterliche Begründungspflicht angeht.
({3})
Das ist etwas, worüber man ganz selbstverständlich diskutieren kann. Das kann man schon daran sehen, dass
auch die Sächsische Staatsregierung, in deren Zuständigkeitsbereich sich ja dieser Vorgang ereignet hat, Vorschläge dazu gemacht hat. Das freut mich übrigens sehr,
weil es zeigt, dass eine Regierung selbst fragt: Haben eigentlich diejenigen, die für uns handeln, richtig reagiert?
({4})
Müssen wir daraus gesetzgeberische Konsequenzen ziehen? Ich will also ausdrücklich loben, dass man sich
nicht sofort vor die eigenen Strafverfolgungsbehörden
gestellt hat, sondern auch darüber nachgedacht hat, ob
man gegebenenfalls Konsequenzen ziehen muss. Ich
persönlich muss für meine Fraktion sagen: Vielen Dank
für diese Anregung!
({5})
Wie gesagt, man kann zu diesem Ergebnis kommen;
das wird ganz ohne Weiteres von uns zugestanden. Aber
ein Ergebnis der Anhörung war, dass davor gewarnt
worden ist, aus Einzelfällen sofort gesetzgeberische
Konsequenzen zu ziehen. Die Praxis der Funkzellenabfrage gibt es jetzt ja schon lange Zeit. Wenn man sich
diese Praxis anschaut, muss man feststellen: Bis auf den
Fall in Dresden und einen zweiten Fall in Berlin ist es
nicht zu Beanstandungen gekommen. Das zeigt, dass die
Strafverfolgungsbehörden mit der Funkzellenabfrage
ganz offensichtlich verantwortungsvoll umgehen. Deshalb sind wir als Koalition zu dem Ergebnis gekommen,
dass, jedenfalls im Augenblick, kein Anlass besteht, zu
einer Änderung zu kommen.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Es gab bei der
Funkzellenabfrage Verstöße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Wir werden im Rechtsausschuss des
Deutschen Bundestages sorgfältig beobachten, ob es bei
diesen beiden Vorfällen bleibt, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten wird oder nicht. Sollte sich
herausstellen, dass die Verhältnismäßigkeit nicht beachtet wird, dann bin ich, das sage ich ganz offen, bereit, auf
die Vorschläge, die in diesem Zusammenhang gemacht
worden sind - beispielsweise von den Grünen, aber auch
von der Sächsischen Staatsregierung -, zurückzukommen. Aber im Augenblick sehe ich diese Notwendigkeit,
wie gesagt, nicht.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Marianne Schieder hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Dresdner Vorfälle geben wirklich allen Anlass, sich die Regelungen rund um die Funkzellenabfrage genau anzuschauen. Zu Recht, wirklich zu Recht
befallen viele, viele Menschen Zweifel, ob es wirklich
sinnvoll sein kann, nach einer Demonstration 140 000 Datensätze von ganz überwiegend friedlichen Demonstranten und unbeteiligten Dritten zu ermitteln.
Hinzu kommt, dass diese Datensätze später gesetzeswidrig genutzt wurden, um zum Beispiel Verstöße gegen
das Versammlungsrecht festzustellen. Selbst der sächsische Ministerpräsident musste dies öffentlich einräumen.
So ist die Funkzellenabfrage vom Gesetzgeber natürlich
nicht gedacht.
Nach der Strafprozessordnung soll die Funkzellenabfrage nur bei Straftaten von erheblicher Bedeutung anwendbar sein. Voraussetzung ist weiter, dass die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des
Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise
aussichtslos ist oder wesentlich erschwert wird. Schließlich bedarf eine solche Funkzellenabfrage einer richterlichen Anordnung. Das ist auch gut so; denn es handelt
sich um eine heimliche Ermittlungsmaßnahme. Die Betroffenen werden allenfalls im Nachhinein informiert;
({0})
auf diese nachträglichen Informationen komme ich noch
zu sprechen. Wenn diese Voraussetzungen aber vorliegen, ist die Funkzellenabfrage eine Ermittlungsmethode,
die sinnvoll ist und sicherlich gebraucht wird.
In der Sachverständigenanhörung ist uns - Kollege
van Essen hat bereits darauf hingewiesen - der Mordfall
Moshammer geschildert worden. Die Polizei konnte dort
zunächst keinerlei Hinweise auf Tatverdächtige finden,
sie konnte aber aufgrund einer Funkzellenabfrage feststellen, dass die das Tatorthaus versorgende Funkzelle in
der fraglichen Nacht nur von 14 Mobilfunkteilnehmern
benutzt wurde. Die Abfrage bei den Mobilfunkunternehmen ergab, dass 13 Teilnehmer praktisch Nachbarn waren, der 14. aber nicht. Die weiteren Ermittlungen ergaben dann, dass diese Person tatsächlich der Mörder war.
Ohne diese Funkzellenabfrage hätte der Mörder wahrscheinlich nicht ermittelt werden können. In einem solchen Fall halte ich die Funkzellenabfrage für eine geeignete und angebrachte Ermittlungsmaßnahme.
({1})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr
geehrten Damen und Herren, habe ich auch kein Verständnis für die Forderung der Linken, die Möglichkeit
zur Funkzellenabfrage abzuschaffen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/
Die Grünen, gehen einen anderen Weg: Sie wollen, was
den Anwendungsbereich betrifft, die Hürden anheben.
Konkret bedeutet aber auch das, dass etwa bei schwerem
Landfriedensbruch keine Funkzellenabfragen mehr
durchgeführt werden könnten.
({2})
Marianne Schieder ({3})
Damit wäre die Dresdner Funkzellenabfrage natürlich
nicht möglich gewesen - das ist wahr -; denn sie wurde
beantragt, um in 23 Fällen des besonders schweren
Landfriedensbruchs die Täter zu ermitteln. Aber auch
bei Wohnungseinbrüchen oder anderen Einbrüchen oder
bei sexueller Nötigung wäre keine Funkzellenabfrage
mehr möglich. Dies halte ich für überzogen.
({4})
Sollen Serieneinbrüche aufgeklärt werden, wäre der
Einsatz der Funkzellenabfrage nur dann möglich, wenn
die Polizei Ansatzpunkte dafür hätte, dass es sich um
mindestens drei Täter handelt. Was aber, wenn die Polizei hierfür zunächst keine Anhaltspunkte hat? Wollen
wir Funkzellenabfragen in solchen Fällen wirklich von
vornherein ausschließen? Ich glaube nicht, dass dies
sinnvoll ist, und ich glaube, dass auch die Bürgerinnen
und Bürger dafür wenig Verständnis hätten.
({5})
Insofern geht uns der Entwurf der Grünen also zu
weit. Gut finden wir aber den Vorschlag, wonach im Anschluss an die Funkzellenabfrage dem anordnenden
Richter über die Ergebnisse berichtet werden muss. Die
Sachverständigenanhörung hat gezeigt, dass es offenbar
auch, was die rasche Löschung der nicht benötigten Daten betrifft, nicht zum Besten steht. Wir sollten deshalb
darüber nachdenken, ob ein solcher nachträglicher Bericht auch hierzu Angaben enthalten sollte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, § 100 g StPO ist
seit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
zur Vorratsdatenspeicherung von 2010 und 2012 - zumindest teilweise - nicht verfassungskonform. So wie
bisher darf nur noch übergangsweise vorgegangen werden. Deshalb denke ich, dass im Zusammenhang mit den
nötigen gesetzlichen Neuregelungen sicher auch noch
einmal ganz intensiv über die Funkzellenabfrage zu diskutieren sein wird.
Wir als SPD-Fraktion sind sehr dafür, die Funkzellenabfrage als Ermittlungsinstrument beizubehalten, aber
zugleich muss sichergestellt werden, dass ihr Einsatz
nicht unverhältnismäßig erfolgen kann und die erhobenen Daten auch wieder gelöscht werden.
({6})
Insofern werden wir bei den Diskussionen gern wieder,
wie Herr Kollege van Essen ebenfalls schon sagte, auf
die Vorschläge der Grünen zurückgreifen. Ich sage aber
noch einmal: Heute können wir nicht zustimmen, weil
wir die Vorschläge für zu weitgehend halten; aber ich
denke, es lohnt sich dennoch, intensiv nachzudenken,
was hier gesetzgeberisch verbessert werden könnte.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich möchte zu Anfang feststellen,
dass alle Fraktionen im Deutschen Bundestag außer die
Linke die Funkzellenabfrage befürworten und ihren Einsatz in der Strafverfolgung als sinnvoll und notwendig
erachten. Ich danke auch Frau Kollegin Schieder, dass
Sie hier intensiv ausgeführt haben, unter welchen Voraussetzungen bzw. Fallgestaltungen eine Funkzellenabfrage sinnvoll ist, und dass sie gerade dann, wenn sie
verhältnismäßig ist, ein notwendiges Mittel polizeilicher
und staatsanwaltschaftlicher Arbeit ist.
Die Auskunft, ob sich bestimmte Mobiltelefone von
Tatverdächtigen in einer Funkzelle befinden, ist eine
sinnvolle und verhältnismäßige Auskunft,
({0})
die wir brauchen, um schwerste Straftaten zu verfolgen,
Frau Wawzyniak. Es werden ja auch - ich weiß nicht, ob
Sie sich das einmal angeschaut haben - nur Verkehrsdaten gespeichert. Verkehrsdaten bedeutet: Rufnummer,
Beginn und Ende der Kommunikation und Telekommunikationsdiensteanbieter.
({1})
Kollege Sensburg, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen Montag?
Aber natürlich beim Kollegen Montag.
Lieber Herr Kollege Sensburg, nachdem Sie, wie ich
mich lebhaft erinnern kann, bereits bei unserer ersten
Debatte im Oktober 2011 unsere Vorschläge nicht gelesen hatten und das, was wir geschrieben hatten, nicht
verstehen wollten oder konnten, frage ich Sie nun noch
einmal: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und
dann auch differenziert darüber zu diskutieren, dass es
zwei Sorten von Abfragen gibt?
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef
Philip Winkler ({0})
Es gibt eine, bei der man die Mobilfunknummer kennt
({1})
und schauen will, wo sich das Gerät gerade befindet. Das
ist das, wovon Sie gesprochen haben.
({2})
Man möchte gern wissen, sagten Sie, ob sich ein bestimmtes Mobilfunktelefon irgendwo befunden hat eine unproblematische Sache, über die wir heute überhaupt nicht sprechen. Warum reden Sie darüber?
({3})
Auf der anderen Seite geht es um die nichtindividualisierte Abfrage. Das ist doch das datenschutz- und bürgerrechtlich Problematische, und dabei geht es gerade
nicht um die Frage, ob sich ein bestimmtes Mobiltelefon
an einem bestimmten Ort aufgehalten hat.
({4})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Montag; der Hinweis
ist gut. Aber natürlich habe ich damals Ihre Anträge gelesen. Ich habe sie auch jetzt gelesen. Sie haben sich um
kein Wort verändert, es sind inhaltlich immer noch die
gleichen.
({0})
Es geht zum einen um bestimmte Mobiltelefone und
zum anderen um bestimmbare Telefone. Das ist der Unterschied.
Wir haben Straftaten, bei denen ich wissen will, wo
sich der Täter möglicherweise aufgehalten hat. Denken
Sie einmal an Geiselnahmesituationen. Dort habe ich natürlich im Vorfeld nicht die Mobiltelefonnummer. Das
wäre ja sehr simpel. Dann wüsste ich, wer der Geiselnehmer ist. Denken Sie an Konstellationen wie Kindesentführungen. Da habe ich im Vorfeld auch nicht die
Mobiltelefonnummer.
Es wäre ja eine skurrile Situation, wenn die Polizei
schon im Vorfeld die Mobiltelefonnummer hätte. Gerade
da ist es sinnvoll, die Funkzellen durchzuscannen, um in
Erfahrung zu bringen: Wer hat denn möglicherweise am
Ort der Kindesentführung oder der Geiselnahme in dieser Funkzelle telefoniert? Das genau sind die Konstellationen, die Sie meinen; denn die Nummer ist vorher
nicht bekannt.
({1})
Bei diesen Konstellationen wollen Sie die Hürden verschärfen.
({2})
Dabei geht es um schwerste Straftaten.
({3})
- Doch. Sie wollen Satz 1 ändern und auf § 477 StPO
hinweisen. Dabei geht es um die Fälle, in denen wir
gerne die Funkzellenabfrage ermöglichen würden. Wir
wollen die Hürden da nicht höher legen, weil diese Straftaten erheblich sind und wir diejenigen, die diese Taten
begehen, finden wollen. Sie denken nur an die Fälle, wo
eine Vielzahl von Dritten mitabgefragt wird. Das ist
nicht der Kern des Problems. Kern des Problems ist, dass
wir die Täter finden. Alle anderen Daten werden gelöscht. Bei diesen Straftaten ist es aber notwendig, Herr
Kollege Montag.
({4})
Ich habe jetzt ja einige Straftaten aufgezählt. Es geht
nicht nur um solche Fälle, sondern auch um Fälle von
Mord und Totschlag, Raub und räuberischer Erpressung
sowie Vergewaltigung; von daher der Verweis auf
§ 108 StPO.
Meine Damen und Herren, es geht auch um Straftaten
wie Abgeordnetenbestechung. Die sind in § 100 a StPO
auch aufgezählt. Ich nenne in diesem Zusammenhang
den § 108 e StGB. Einige in diesem Hause meinen ja,
Abgeordnetenbestechung sei im Strafgesetzbuch nicht
geregelt. Dabei ist dies eine schwere Straftat im Sinne
des § 100 a StPO, also eine geregelte Straftat.
({5})
Um solche Straftaten geht es.
({6})
Ich frage mich auch, was die Fraktion Die Linke in
diesem Hause möchte. Sie von der Linken haben schon
ein komisches Verständnis von Staat und Gesellschaft,
wenn Sie sagen: Wir misstrauen der Polizei, wir misstrauen den Staatsanwaltschaften, wir misstrauen den
Richtern.
({7})
Das steht doch - wenn man es genau liest - in Ihrem Antrag. Sie möchten am liebsten alle polizeilichen und
staatsanwaltschaftlichen Maßnahmen abgeschafft sehen. Dabei brauchen wir für eine Funkzellenabfrage einen Antrag der Staatsanwaltschaft. Wir benötigen eine
Anordnung des Ermittlungsrichters. Sollte sie in Eilfällen nicht vorliegen, muss sie nachgereicht werden. Wenn
sie nicht nachgereicht wird - daran ermessen Sie, wie
hoch die Hürde für die entsprechenden Voraussetzungen
liegt -, gibt es ein Beweiserhebungsverbot. Daran sieht
man, wie hoch die Latte gelegt wird und wie wichtig
diese Anordnungen sind. Das alles ist Ihnen aber egal.
Sie nehmen lieber in Kauf, dass wir bei solchen Konstellationen die Täter nicht ermitteln können, weil, wie Sie
meinen - das ist ja richtig -, Dritte miteinbezogen werden. Es handelt sich aber nur um deren Verkehrsdaten,
die dann wieder gelöscht werden.
Von daher muss ich sagen: Wir brauchen im Rahmen
der Verhältnismäßigkeit - der Kollege van Essen hat das
angesprochen - dieses polizeiliche Mittel. Wir müssen
die Chance haben, bei diesen Straftaten eine Funkzellenabfrage zu machen, um in Erfahrung bringen zu können,
wer in einem bestimmten Bereich kommuniziert hat. Damit können wir den potenziellen Täterkreis reduzieren.
Das gilt sowohl für den Fall, wo wir die Telefone kennen
- das ist ein seltener Fall -, als auch für den, wo wir sie
nicht kennen, aber so erfahren, dass bestimmte Telefone
im Rahmen einer Tat in einer Funkzelle genutzt worden
sind. Dies ist ein wichtiges Instrument, das unsere Polizei braucht.
Wenn Sie jetzt noch die Verknüpfung zur Vorratsdatenspeicherung herstellen würden, meine Damen und
Herren, hätten wir, weil wir dann auch retrograd sehen
könnten, wer in Funkzellen telefoniert hat, ein effizientes, praktisches und wirklich gutes Instrument, um Täter
aufzuspüren und identifizieren zu können.
({8})
Herr Kollege Montag, zum Schluss möchte ich noch
auf Sie zu sprechen kommen, um Ihnen zu zeigen, dass
ich Ihre Anträge lese. Sie haben in Ihrem Antrag im
Grunde nicht viel Neues geregelt - eigentlich nicht mehr
als das, was schon in der StPO steht. Was die Einzelfallbegründung angeht: Das steht ohnehin schon in der
StPO.
({9})
- Die findet sich in Abs. 1. - Die jährliche Dokumentation ist neu; diese möchten Sie haben. Ich sehe im Grunde
keinen weiteren Handlungsbedarf, an dieser Stelle viel zu
dokumentieren. Wir müssen darauf schauen, dass der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. Ich sehe es
aber nicht als besonders sinnvoll an, wahnsinnige Dokumentationen aufzuerlegen, die im Zweifel hinterher niemand liest.
({10})
- Sie lesen sie. Das freut mich. - Ich weiß nicht, ob Sie
die Dokumentationen zu Abs. 1 gelesen haben. Vielleicht werde ich gleich eine Zwischenfrage stellen, wenn
Sie reden. Ich bin gespannt, ob Sie über die Dokumentationen dazu berichten können, wo Sie sie ja alle lesen.
Ich glaube, dass ein kleiner Teil dieses Hauses sie liest.
Wenn wir viel dokumentieren und es nicht nutzen, gewinnen wir nichts Neues dazu, meine Damen und Herren.
Zu dem Antrag der Linken sage ich nicht mehr viel.
Die Linke will die Funkzellenabfrage gänzlich verbieten.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthält ein
paar sehr sinnvolle Ansätze. Aber die Forderung, hier
eine Gesetzesänderung vorzunehmen, teile ich nicht.
Ich glaube, wir müssen bei allen Verfahren ganz genau hinschauen, ob die Verhältnismäßigkeit gegeben ist,
und unseren Ermittlungsbehörden deutlich machen, dass
wir vonseiten des Gesetzgebers eine massenhafte Abfrage ohne konkrete Verdachtsmomente nicht akzeptieren.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich will bei dem ansetzen, was Herr Montag zu
Recht gesagt hat: Wir reden hier über die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage.
({0})
Damit ist gemeint, dass erst einmal die Kommunikationsdaten aller Handybesitzer, die sich in einer Funkzelle befinden, miterfasst werden,
({1})
weil vermutet wird: In dieser Funkzelle findet eine Straftat statt.
({2})
Das heißt, es findet nichts anderes statt, als dass die Ermittlungsbehörden die Kommunikationsdaten rechtschaffener Bürgerinnen und Bürger erfassen, obwohl sie
überhaupt keinen Anlass zur Erfassung gegeben haben.
Kollegin Wawzyniak, gestatten Sie eine Bemerkung
oder Frage des Kollegen Sensburg?
Ja, wenn es sein muss.
Frau Kollegin Wawzyniak, Sie reden von Kommunikationsdaten. Ist Ihnen bekannt, dass es um die Verkehrsdaten geht, dass es nicht darum geht, dass Gespräche aufgezeichnet werden, und dass es auch nicht um die
Namen der Anschlussinhaber geht?
({0})
Herr Kollege Sensburg, im weiteren Teil der Rede
werde ich Ihnen den Unterschied zwischen Bestandsdaten und Verkehrsdaten noch erklären.
({0})
Der Unterschied ist folgender: Bei der individualisierten Funkzellenabfrage wird genau geschaut, ob sich in
einer Funkzelle ein bestimmtes Handy befindet. Die
nichtindividualisierte Funkzellenabfrage bedeutete praktisch - jetzt komme ich dazu; hören Sie zu, Herr
Sensburg -, dass zum Beispiel 2011 bei den Protesten
gegen den Naziaufmarsch in Dresden 900 000 Verkehrsdaten ermittelt wurden. Das heißt Rufnummer, Kartennummer und im Übrigen Beginn und Ende der Kommunikation.
({1})
Daraus wurden dann 257 000 Rufnummern ermittelt und
daraus wiederum 40 000 Bestandsdaten. Das sind dann
Namen und Adressen. 40 000 Bestandsdaten, Namen
und Adressen, bei einem Protest gegen einen Naziaufmarsch! Es tut mir leid, aber Ermutigung zu zivilem Ungehorsam sieht anders aus.
({2})
Dresden ist kein Einzelfall. Wir haben das auch in
Berlin erlebt. Zwischen 2009 und 2011 sind nach Informationen von netzpolitik.org 800 Funkzellenabfragen
durchgeführt worden und dabei 8 Millionen Verkehrsdaten erhoben worden.
Nun haben wir unterschiedliche Positionen. Die einen
sagen: Das ist alles ganz knorke und prima mit der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage. Die anderen sagen: Wir müssen das grundgesetzkonform ausgestalten.
Wir sagen: Die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage
soll abgeschafft werden.
({3})
Warum? Es gibt das Grundrecht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit. Dieses Recht darf eben nur eingeschränkt
werden, wenn die Rechte anderer verletzt oder gegen die
verfassungsgemäße Ordnung oder gegen das Sittengesetz
verstoßen wird. Aus diesem Grundrecht leitet sich das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung ab, nämlich
das Recht, selbst zu entscheiden, welche Daten ich preisgebe. Unstreitig ist, dass die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage in das Fernmeldegeheimnis eingreift.
Nun wissen wir vermutlich alle, dass Eingriffe in die
Grundrechte geeignet, erforderlich und angemessen sein
müssen. Das Beispiel Dresden und das Beispiel Berlin
zeigen in diesen beiden Fällen überhaupt kein Ermittlungsergebnis. In der Anhörung wurde gesagt - Sie haben das noch einmal bestätigt -: Das ist ein Ansatz, um
weiter zu ermitteln.
Insofern sagen wir: Bei der nichtindividualisierten
Funkzellenabfrage bestehen schon Zweifel, ob sie geeignet ist. Noch mehr Zweifel bestehen, ob sie erforderlich
ist. In keinem Fall ist sie angemessen. Ich wiederhole: Es
ist ein verdachtsloser Zugriff auf Daten unbescholtener
Bürgerinnen und Bürger. Deren Kommunikationsumstände werden erfasst, obwohl sie überhaupt keinen Anhaltspunkt für eine Straftat gegeben haben.
({4})
Im Übrigen erfahren die Bürgerinnen und Bürger, zumindest bei der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage, nichts von dieser Maßnahme. Es gibt keine Rechtsschutzmöglichkeit. Sie selbst wissen, wie das in Dresden
war. Quasi wie am Fließband wurden die Genehmigungen für diese Maßnahme unterschrieben.
Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Dieser Eingriff in
die Rechte von Bürgerinnen und Bürger ist für uns nicht
hinnehmbar.
({5})
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zur Frage der Kriminalitätsbekämpfung. Ich habe ganz bewusst nicht über
die individualisierte Funkzellenabfrage gesprochen.
Selbstverständlich - das wurde in der Anhörung auch
gesagt - wird ein Krimineller mittlerweile überlegen, ob
er ein normales Handy oder lieber eines mit Prepaidkarte
mitnimmt etc. pp.
Ich will mit einem Zitat aus dem Jahr 1983 enden:
Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen
kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen
vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu
planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende
Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht
mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.
Das ist ein Zitat aus dem Volkszählungsurteil.
Wir als Linke wollen die Selbstbestimmung der Menschen und mündige Bürgerinnen und Bürger. Weil wir
das wollen, lehnen wir die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage ab.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege van Essen, ich danke Ihnen
ganz außerordentlich und ausdrücklich, dass Sie hier
eine klare Bewertung des Vorfalls in Dresden und der
justiziellen Aufarbeitung der Funkzellenabfrage abgegeben haben. Sie haben das, was dort passiert ist, als unvorstellbar und missbräuchlich bezeichnet. Ich stimme
dem zu.
Ich komme deswegen darauf zu sprechen, weil Ihre
Fraktionskollegen Höferlin und Ahrendt noch in der ersten Debatte zu unserem Gesetzentwurf am 21. Oktober
2011 das Vorgehen der Dresdner Justiz in ihren Beiträgen als rechtmäßig bezeichnet haben. Sie können das im
Protokoll nachlesen. Ich finde es gut, dass jetzt hier eine
andere Bewertung vonseiten der FDP vorgenommen
worden ist.
Meine Damen und Herren, im Februar 2011 wurden
in Dresden praktisch zeitgleich zu einer großen Demonstration gegen Neonazis an 18 Orten 1,2 Millionen Datensätze und, Herr Sensburg, daraus 105 000 Bestandsdaten mit Namen und Adressen erhoben. In vielen Fällen
hat die Polizei diese Daten ohne eine weitere richterliche
Kontrolle oder Anordnung in parallel laufende Ermittlungsverfahren verschoben, wo sie verwendet werden
sollten und zum Teil auch verwendet worden sind, ob27820
wohl die dortigen Vergehen gar nicht so schwer waren,
dass die für die Datenerhebung notwendige Ausgangslage gegeben war. Sie scheinen das offensichtlich zu vergessen.
Der Sächsische Datenschutzbeauftragte hat diesen
ganzen Vorgang geprüft und erhebliche Verstöße gegen
gesetzliche Bestimmungen gerügt. Das würde aber nicht
bedeuten, dass wir tätig werden müssten. Ich wiederhole: erhebliche Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen! Er hat aber auch eine fehlende Klarheit des Gesetzes gerügt und konkrete Vorschläge an den Gesetzgeber
formuliert.
Wir Grünen sind dem nachgekommen, anders als die
Linke, die diesen Teil der Funkzellenabfragen abschaffen will. Das halten wir nicht für richtig. Wir haben konkrete, konstruktive Vorschläge gemacht:
Erstens. Es geht nicht, dass die individuelle, also einzelne Abfrage an das Erfordernis einer Straftat von auch
im Einzelfall erheblicher Bedeutung gekoppelt ist, während die nichtindividualisierte Abfrage nur an eine Straftat von erheblicher Bedeutung gekoppelt ist. Statt eines
Weniger brauchen wir ein Mehr an Hürden. Wir sagen:
Da es sich um eine heimliche Maßnahme handelt, wie
das Abhören eines Telefons, halten wir es für sinnvoll
und richtig, diese Hürden zu parallelisieren.
({0})
Hinsichtlich bestimmter Straftatbestände sagen Sie:
Wir glauben nicht, dass sie unter diese Regelung fallen,
aber sie sollten es. Ich will gerne sachlich mit Ihnen darüber diskutieren. Das müssen wir dann aber in Bezug
auf § 100 a StPO und nicht hier tun. Wir möchten gerne,
dass sich die Hürde für die nichtindividualisierte Abfrage aus § 100 a StPO ergibt.
Das Zweite. Die Anordnungsbegründungen durch die
Ermittlungsrichter sind verheerend inhaltslos, und deswegen wollen wir festlegen, dass eine Anordnungsbegründung als wichtigste Elemente enthält: Erheblichkeit
der Straftat, Ausführungen zu Ort und Zeit der Maßnahme, Ausführungen zum Ultima-Ratio-Prinzip, zur
Verhältnismäßigkeit und zur Anzahl der Betroffenen.
Wir wollen bei der Überführung der Zufallsfunde eine
richterliche Überprüfung, und wir wollen die Statistik
verbessern.
Herr Kollege van Essen, es gab nicht nur noch einen
zweiten Einzelfall in Berlin. Wir haben in Berlin nach einer Überprüfung über drei Jahre 108 Verfahren, 1 400 Einsätze des Mittels der Funkzellenabfrage; 6,6 Millionen
Datensätze wurden abgegriffen. Wenn wir einmal davon
ausgehen, dass es 1 000 Verdächtige gab - das ist aber
viel zu hoch gegriffen -, dann ist das Verhältnis von Verdächtigen zu Betroffenen 1 : 99,95. Daraus ersehen Sie
das Maß an Eingriffen in Rechte unbeteiligter Dritter.
Herr Kollege Montag.
Ich bin fertig. - Vor diesem Hintergrund fordert der
Berliner Datenschutzbeauftragte in seiner Überprüfung
wortwörtlich die Punkte, die wir in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen haben; es ist genau das Gleiche.
({0})
Ich weiß, dass Sie unseren Gesetzentwurf heute ablehnen werden. Aber ich weiß auch: Die Zeit bis September ist nicht mehr so lang, und dann kommt das in
diesem Hohen Haus wieder auf die Tagesordnung.
({1})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
Unionsfraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die heutige Debatte
zeigt wieder einmal eindrucksvoll: Es wäre wirklich fatal und grob fahrlässig, wenn die Grünen und die Linken
in Deutschland Verantwortung für die Innen- und die
Rechtspolitik hätten.
({0})
Die Zeit bis September ist zwar nicht mehr so lang, Herr
Kollege Montag, aber ich bin sehr zuversichtlich, dass es
auch nach dem September mit der Innen- und Rechtspolitik in Deutschland erfolgreich und vernünftig weitergeht.
({1})
Es wird durch die Linken und die Grünen hier versucht, den Eindruck zu vermitteln, dass unsere Ermittlungsbehörden, unsere Polizeien außer Rand und Band
geraten sind und ohne Maß und Ziel Funkzellenabfragen
durchführen. Das trifft im Kern einfach nicht zu. Schon
heute sind bei der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage hohe rechtsstaatliche Anforderungen zu erfüllen.
Es steht eine Subsidiaritätsklausel in § 100 g Abs. 2
Satz 2 StPO;
({2})
sprich: Es muss erst untersucht werden, ob es nicht mildere Mittel gibt, die besser geeignet sind, einen Beschuldigten aufzudecken. Die Funkzellenabfrage ist räumlich
und zeitlich hinreichend bestimmt, und - das ist ganz
entscheidend - es muss sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung handeln. Es ist also schon heute vor der
Beantragung und Anordnung einer Funkzellenabfrage
eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich. Die Daten sind, sobald sie nicht mehr benötigt werden, unverStephan Mayer ({3})
züglich zu löschen. Es gibt schon heute eine Benachrichtigungspflicht gegenüber den Betroffenen, um ihnen die
Möglichkeit zu geben, sich mit einer Beschwerde gegen
die Funkzellenabfrage zu wenden.
({4})
Natürlich stellt die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis nach
Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes dar.
({5})
- Lieber Herr Kollege Montag, vielleicht kann ich Ihre
Frage gleich vorweg beantworten. Wenn es eine andere
Frage sein sollte, bin ich gerne bereit, diese dann noch
zu beantworten.
Sie haben behauptet, die Funkzellenabfrage sei vergleichbar mit einer Telekommunikationsüberwachung
nach § 100 a StPO. Das stimmt einfach nicht. Die Eingriffsintensität, die Eingriffstiefe einer Telekommunikationsüberwachung ist weitaus gravierender als die einer
Funkzellenabfrage, weil bei einer Telekommunikationsüberwachung oder einer akustischen Wohnraumüberwachung nach § 100 c StPO die Inhalte der Gespräche
gespeichert werden; bei einer Funkzellenabfrage geht es
nur um die Abfrage der Verkehrsdaten.
Herr Montag, ist Ihr Fragewunsch noch aktuell?
({6})
Offensichtlich hatte der Kollege Montag eine andere
Frage. Erlauben Sie diese?
Ich beantworte sie sehr gerne.
Danke schön, lieber Kollege Mayer. - Auf die von Ihnen hypothetisch gestellte Frage will ich jetzt nicht eingehen, weil ich ja keine Fragen beantworten darf. Ich
will Ihnen vielmehr eine Frage stellen.
Sie haben gerade in Ihren Ausführungen gesagt, es
gebe klare gesetzliche Regelungen, dass die bei der
Funkzellenabfrage erhobenen Daten, wenn sie nichts
bringen oder nachdem sie bearbeitet worden sind, sofort
zu löschen sind. Ich darf Ihnen aus dem Bericht des Berliner Datenschutzbeauftragten von einem Befund berichten, den er gemacht hat. Ich zitiere von Seite 15:
In einem anderen Verfahren wegen versuchten
Mordes wurden Funkzellendaten erhoben, die jedoch wegen des belebten Tatorts so zahlreich waren, dass die Staatsanwaltschaft von einer weiteren
Auswertung dieser Daten absah. Anstatt die Daten
nun zu löschen, verfügte die Staatsanwaltschaft
ohne nähere Begründung eine dreißigjährige Speicherung hinsichtlich des gesamten elektronischen
Vorgangs.
Jetzt sagen Sie uns bitte, wie sich so etwas mit Ihrer
Behauptung verträgt, die Daten würden sofort gelöscht
werden, wenn sie nicht mehr gebraucht würden.
Lieber Herr Kollege Montag, das verträgt sich sehr
wohl mit meinen Ausführungen. Sie haben mich insoweit richtig wiedergegeben, als dass ich gesagt habe: Es
gibt eine klare gesetzliche Vorgabe in § 100 g StPO, dass
die Daten unverzüglich zu löschen sind. Wenn dies in einem Einzelfall aus Berlin, den Sie eben zitiert haben, offenbar nicht der Fall war und eine 30-jährige Speicherung angeordnet wurde, dann scheint das offenkundig
contra legem gewesen zu sein bzw. zu sein, sofern die
Daten noch gespeichert sind. Aber es gibt eine klare gesetzliche Vorgabe.
({0})
Die entscheidende Frage ist: Sind wir als Gesetzgeber
aufgefordert und in der Verpflichtung, gesetzgeberisch
tätig zu werden? Diese Verpflichtung sehe ich in dem
konkreten Fall nicht. Der Kollege van Essen hat schon
darauf hingewiesen. Ich hoffe, ich tue ihm nicht unrecht,
wenn ich jetzt versuche, ihn zu interpretieren. Denn Sie,
Herr Kollege Montag, haben ihm vorgeworfen, es gebe
mehr als zwei Fälle.
Es gab mehr als zwei Fälle, in denen Beanstandungen
festgestellt wurden. Das ist doch der entscheidende Unterschied. Der überwiegende Teil der Funkzellenabfragen erfolgt rechtsstaatlich völlig ordnungsgemäß, und
selbst bei Überprüfungen wird festgestellt, dass keine
Beanstandungen vorzunehmen sind und dass es nichts
Rechtswidriges gibt.
({1})
Der Fall Dresden ist sicherlich differenziert zu betrachten; das gebe ich auch freiweg zu. Aber ich glaube,
wir sollten uns als Gesetzgeber davor hüten, nur aufgrund eines konkreten spezifischen Vorfalles aktionistisch tätig zu werden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
sehe die große Gefahr, insbesondere wenn dem Gesetzentwurf der Linken gefolgt würde, dass wir unsere Ermittlungsbehörden taub- und blindmachen. Es sind
schon einige konkrete Fälle angesprochen worden. Der
Mordfall Moshammer in München konnte nur aufgrund
einer Funkzellenabfrage aufgeklärt werden.
({2})
Aber es geht nicht nur um Mord und Totschlag; es
geht auch um andere Delikte. Es geht um massenhaft
Diebstahlserien, um Brandanschlagserien auf Pkw - wie
vor zwei Jahren reihenweise in Berlin ({3})
Stephan Mayer ({4})
und um Wohnungseinbruchsserien. Wer den Focus von
vorletzter Woche liest, stellt fest, dass wir in Deutschland einen deutlichen Anstieg der Wohnungseinbrüche
zu verzeichnen haben.
Es geht auch um Fälle des Enkeltrickbetruges, bei
dem sich Personen als Enkel von älteren Menschen ausgeben, um sie dazu zu bringen, größere Geldbeträge auszureichen. Auch das sind gravierende Straftaten, die,
insbesondere wenn man dem Gesetzentwurf der Grünen
folgen würde, nicht mehr mit der Funkzellenabfrage ermittelt werden könnten.
({5})
Herr Kollege Montag, Sie wollen eine Änderung dahin gehend vornehmen, dass Sie eine Funkzellenabfrage
nur noch für schwere Straftaten im Grundsatz als angemessen erachten und nicht mehr für Straftaten von erheblicher Bedeutung zulassen wollen, wie es jetzt ist und
wie es auch bleiben soll. Diese Änderung wäre völlig
systemwidrig. Denn eine Vergleichbarkeit mit der Telekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO ist,
wie ich bereits gesagt habe, nicht sachgerecht, weil die
Telekommunikationsüberwachung hinsichtlich der Eingriffsintensität weitaus gravierender ist als die Funkzellenabfrage. Deswegen kann man diese beiden Ermittlungsmethoden, was die rechtsstaatlichen Hürden anbelangt, nicht
auf eine Stufe stellen.
({6})
Es ist auch vollkommen normal und in der StPO gang
und gäbe, dass von Straftaten von erheblicher Bedeutung
die Rede ist, zum Beispiel bei der DNA-Identitätsfeststellung nach § 81 g StPO, bei der Rasterfahndung nach
§ 98 a, beim Einsatz verdeckter Ermittler nach § 110 a
oder auch bei längerfristigen Observationen nach
§ 163 f. Es gibt also vergleichbare Ermittlungsmethoden, die, auch was die Eingriffsintensität anbelangt, mit
der Funkzellenabfrage vergleichbar sind und die bei
Straftaten von erheblicher Bedeutung schon zulässig
sind. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Straftaten von erheblicher Bedeutung anerkannt, so zum Beispiel im sogenannten
GPS-Urteil von 2005.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der
Gesetzentwurf der Linken, auf dieses Ermittlungsinstrument der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage in
Zukunft ganz zu verzichten, ist völlig abwegig, und der
Gesetzentwurf der Grünen ist in vielen Bereichen überflüssig, was zusätzliche Begründungspflichten anbelangt
und was Benachrichtigungspflichten gegenüber dem Ermittlungsrichter anbelangt. Außerdem ist er in Teilen
höchst bürokratisch und kostenaufwendig. Sie fordern
zum Beispiel, dass § 100 g StPO Abs. 4 dahin gehend
neu gefasst wird, dass eine Berichtspflicht geschaffen
wird und dass umfangreiche Statistiken geführt werden
müssen.
Ich sage zum Abschluss ganz offen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen: Mir ist es lieber, wenn
Staatsanwälte, wenn Polizeibeamte ihren eigentlichen
Tätigkeiten nachgehen können, Straftätern auf die Schliche zu kommen und Straftaten aufzudecken, als dass sie
am Schreibtisch sitzen und überflüssige Statistiken führen müssen.
({7})
Insofern ist sowohl der Gesetzentwurf der Linken als
auch der Gesetzentwurf der Grünen abzulehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Änderung der
Strafprozessordnung, Abschaffung der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12419, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7335 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen dann zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu
einer rechtsstaatlichen und bürgerrechtskonformen Ausgestaltung der Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaßnahme. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12419,
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/7033 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Auch hier entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Februar 2013, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.