Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer 222. Sitzung.
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich zunächst zwei Kollegen zu ihren Geburtstagen gratulieren, die sie in den zurückliegenden Tagen
gefeiert haben, und zwar dem Kollegen Ernst Hinsken
zu seinem 70. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Peter
Röhlinger zu seinem 74. Geburtstag.
({0})
Alle guten Wünsche im Namen des gesamten Hauses!
Dann haben wir noch eine Wahl durchzuführen. Für
die neue Amtszeit des Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes schlägt die Fraktion der CDU/CSU
vor, erneut die Kollegin Beatrix Philipp sowie Herrn
Professor Dr. Horst Möller als Mitglieder zu wählen.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist
offensichtlich der Fall. Damit sind die Kollegin Beatrix
Philipp und Herr Professor Möller für die neue Amtszeit
als Mitglieder des Beirats gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:
Haltung der Bundesregierung zum Missbrauch von Leiharbeit im Lichte der Berichte
über Vorfälle bei Amazon({1})
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Beteiligung an der EU-geführten
militärischen Ausbildungsmission EUTM Mali
auf Grundlage des Ersuchens der Regierung
von Mali sowie der Beschlüsse 2013/34/GASP
des Rates der Europäischen Union ({2}) vom
17. Januar 2013 und vom 18. Februar 2013 in
Verbindung mit den Resolutionen 2071 ({3})
und 2085 ({4}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/12367 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({5})-
Rechtsausschuss -
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Internationalen
Unterstützungsmission in Mali unter afrikanischer Führung ({6}) auf Grundlage der
Resolution 2085 ({7}) des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/12368 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({8})Rechtsausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
({9})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 38
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Wildtierhandel und -haltung in Deutschland einschränken und so den Tier- und Artenschutz stärken
- Drucksache 17/12386 27486
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ein effizientes Tierarzneimittelgesetz schaffen und die Antibiotikagaben in der Nutztierhaltung wirkungsvoll reduzieren
- Drucksache 17/12385 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})-
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Bettina Herlitzius, Dr. Valerie Wilms,
Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen
verbessern
- Drucksache 17/12194 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12})-
Haushaltsausschuss-
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten
Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes
- Drucksache 17/12353 Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss ({13})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 39
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung ({14}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius,
Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Angebot von Spielhallen mit dem Bauge-
setzbuch begrenzen
- Drucksachen 17/4201, 17/5698 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Peter Götz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung ({15}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Nicole Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr
- Drucksachen 17/5057, 17/7822 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({16})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung ({17}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa
- Drucksachen 17/6480, 17/7887 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Oliver Luksic
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung ({18}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Sven-Christian Kindler, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anbindung deutscher Seehäfen verbessern -
Alternativen zur Y-Trasse vorantreiben
- Drucksachen 17/11352, 17/12366 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Werner Simmling
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung ({19}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn,
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen
- Drucksachen 17/9947, 17/12369 Berichterstattung:Abgeordnete Veronika Bellmann
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP:
Umstrittene Weichenstellungen - rot-grüne
Politik in den Bundesländern
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck ({20}), Marieluise Beck
({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequent vorangehen für eine atomwaffenfreie Welt
- Drucksache 17/9983 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({22})VerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({23}), Marco
Wanderwitz, Johannes Selle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein,
Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner Deutschmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Originäre Kinderfilme aus Deutschland stärker fördern
- Drucksache 17/12381 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({24})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dagmar G. Wöhrl, Wolfgang Börnsen ({25}),
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen,
Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsfähigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft weiter erhöhen - Initiative der
Bundesregierung verstetigen und ausbauen
- Drucksache 17/12383 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({26})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Die Herausforderungen der Bildungsrepublik
mit den Erkenntnissen aus dem Nationalen
Bildungsbericht angehen
- Drucksache 17/12384 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({27})Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss
ZP 10 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE:
Erneute Zusagen für Rüstungsgeschäfte mit
Saudi-Arabien - Genehmigung für Lieferung
von Patrouillenbooten
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 14 und
18 abgesetzt.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Darf ich auch hier Einvernehmen feststellen? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Eidesleistung der Bundesministerin für Bildung und Forschung
Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er
am 14. Februar 2013 gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin die Bundesministerin
für Bildung und Forschung, Frau Professor Dr. Annette
Schavan, aus ihrem Amt als Bundesministerin entlassen
und Frau Professor Dr. Johanna Wanka zur Bundesministerin für Bildung und Forschung ernannt hat.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.
Frau Dr. Wanka, ich darf Sie bitten, zur Eidesleistung
zu mir zu kommen.
({28})
Frau Bundesministerin, ich möchte Sie bitten, den im
Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet. Ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses
für die übernommenen Aufgaben alles Gute, Erfolg und
Gottes Segen wünschen.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die Gelegenheit nutzen, Annette Schavan herzlich für die in diesem Amt geleistete Arbeit zu danken.
({0})
Annette Schavan hat über eine außergewöhnlich lange
Zeit die Bildungs- und Wissenschaftspolitik zunächst
auf Landesebene, dann im Bund begleitet und geprägt
und hat sich durch ihre Amtsführung in Politik wie in
Wissenschaft Respekt und große Anerkennung erworben. Wir freuen uns auf die weitere parlamentarische Zusammenarbeit mit einer geschätzten Kollegin.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates
am 7./8. Februar 2013 in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf dem letzten Europäischen Rat der Staatsund Regierungschefs haben wir uns im Kreis aller
27 Mitgliedstaaten auf den Finanzrahmen der Europäischen Union für die Jahre 2014 bis 2020 geeinigt. Ich
glaube, das ist ein in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzendes Ergebnis, und ehrlich gesagt haben nur wenige dieses Ergebnis für möglich gehalten,
weil vor dem Rat die Positionen noch sehr weit auseinanderlagen.
Es hat sich gezeigt: Ja, es war richtig, dass wir im November nicht schon eine Notlösung gewählt haben - mit
einer nicht vollständigen Mehrheit, bei der dann zum
Beispiel Großbritannien nicht dabei gewesen wäre. Ich
kann auch sagen: Ja, es war ein hartes Stück Arbeit,
diese Einigung aller 27 jetzt zu erzielen. Aber diese Anstrengung hat sich gelohnt.
Heute haben wir ein Ergebnis vor uns, das sich sehen
lassen kann. Wir haben eine Einigung im Kreis aller 27
gefunden, weil der Präsident des Europäischen Rates,
Herman Van Rompuy, die Verhandlungen sehr klug geführt und die Kommission uns mit ihrem Entwurf auch
die richtigen Leitprinzipien vorgegeben hatte. Wir haben
eine Einigung im Kreis aller 27 gefunden, weil sich alle
27 Staats- und Regierungschefs auf eine Tugend besonnen haben, ohne die Europa nicht Europa wäre, nämlich
auf die Bereitschaft aller zum Kompromiss im Interesse
aller.
Ich glaube, das ist das Wesen der europäischen Einigung schon seit Verabschiedung der Römischen Verträge
vor einem halben Jahrhundert. Das genau ist seither auch
die einzigartige Erfolgsgeschichte dieser europäischen
Idee.
Im November des vergangenen Jahres wurde ich noch
von vielen gefragt, warum wir bereits Anfang 2013 für
einen Haushalt, der erst 2014 in Kraft treten soll, eine
Einigung anstreben. Ich glaube, der Grund liegt auf der
Hand. Denn mit der Einigung können wir die Entwicklung für mehr Wettbewerbsfähigkeit verstärken. Wir verstärken damit auch die Entwicklung für eine nachhaltige
Stabilisierung des Euro, und wir setzen damit ein klares
Signal, dass wir auch wieder zu mehr Wachstum und
mehr Beschäftigung kommen. Jeder versteht, dass das in
der augenblicklichen Zeit von überragender Bedeutung
ist.
Was ist das Wichtige? Das Wichtige ist, dass der Abschluss der Finanzverhandlungen jetzt Planbarkeit und
Planungssicherheit schafft, und zwar für alle. Denn die
europäischen Mittel sind ja gerade für die Mitgliedstaaten so dringend notwendig, die im Augenblick harte Einsparungen vornehmen, die Strukturreformen durchführen müssen, und sie sind für die Mitgliedstaaten so
wichtig, die Aufholprozesse zu leisten haben.
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale
Bundesregierung hat in den Verhandlungen für den künftigen Finanzrahmen auf ein Ergebnis hingearbeitet, das
den Realitäten von heute Rechnung trägt und den Anforderungen von morgen gerecht wird. Ich möchte allen
danken, die daran mitgearbeitet haben. Das waren alle
Ressorts, aber ganz besonders natürlich das Auswärtige
Amt.
Wir hatten vier zentrale Verhandlungsziele, die uns
geleitet haben. Ich bin dankbar, dass diese vier Ziele
auch von so vielen Abgeordneten des Deutschen Bundestages geteilt wurden. Ich darf heute sagen, dass wir
alle vier Verhandlungsziele erreicht haben.
Erstens. Die Obergrenze des neuen Finanzrahmens
liegt mit rund 960 Milliarden Euro auf einer aus meiner
Sicht vernünftigen Begrenzung von 1 Prozent der EUWirtschaftsleistung. Damit wird der EU-Finanzrahmen
der erste Rahmen sein, der keinen Aufwuchs gegenüber
der letzten Finanzperiode verzeichnet, wenn wir von inBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
flationsbereinigten Zahlen sprechen. Man muss wissen,
dass in der europäischen Realität die Haushalte jährlich
um 2 Prozent als eine angenommene mittlere Inflationsrate erhöht werden. Aber inflationsbereinigt gibt es keinen Aufwuchs.
Ich glaube, damit trägt der Haushalt den heutigen
Realitäten Rechnung; denn er bildet genau das ab, was
wir in den Mitgliedstaaten angesichts massiver Konsolidierungszwänge leisten können. Schließlich befinden
sich von den 27 Staaten im Augenblick 20 Mitgliedstaaten in einem Defizitverfahren.
Ich sage es ganz unmissverständlich: Es wäre niemandem in Europa - weder in den von der Krise betroffenen Staaten noch in den Staaten, die die Hauptlast der
Solidarität zu tragen haben - vermittelbar gewesen,
wenn alle in Europa sparen müssten, nur Europa selbst
nicht.
({0})
Kein Bürger brächte dafür auch nur einen Funken Verständnis auf, und zwar zu Recht. Denn die Obergrenze
des Haushalts jetzt ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.
Ich weiß, dass wir jetzt noch das Europäische Parlament davon überzeugen müssen. Dazu machen wir dem
Europäischen Parlament zwei weitgehende Angebote.
Zum einen haben wir uns darauf verständigt, gemeinsam mit dem Parlament nach neuen Wegen der Flexibilität zwischen den Haushaltsjahren und zwischen den Rubriken zu suchen; denn natürlich muss die Europäische
Union ihre eingegangenen Zahlungsverpflichtungen
auch wirklich einhalten können. Ich mache keinen Hehl
daraus, dass mir und auch anderen dieser Schritt nicht
leichtgefallen ist; denn er bedeutet im Klartext, dass wir
genauso wie die anderen Mitgliedstaaten nicht mehr mit
Rückflüssen aus den nicht ausgegebenen EU-Mitteln
rechnen können, zumindest nicht mehr in dem Ausmaß,
wie das in den vergangenen Jahren immer der Fall war.
Aber ich halte diesen Schritt für richtig und für geboten.
Zum anderen haben wir eine Überprüfungsklausel
vereinbart, die während der Finanzperiode eine Anpassung des Finanzrahmens erlauben könnte. Das halte ich
schon deshalb für richtig, weil wir im Augenblick in einer Zeit sehr großer Ungewissheiten sind und daher ein
siebenjähriger Haushalt eine lange Wegstrecke darstellt.
Deshalb können wir uns nach der Europawahl durchaus
eine solche Überprüfung vorstellen.
Die Kürzungen, die notwendig sind, werden mit Augenmaß vorgenommen. Dadurch werden Spielräume für
die Modernisierung und die Zukunftsausrichtung des Finanzrahmens geschaffen. Ich weiß, dass es noch harte
Diskussionen mit dem Europäischen Parlament geben
wird. Das liegt in der Natur der Sache. Ich will nur auf
eines hinweisen: Ohne Einigung des Europäischen Rates
gäbe es im Parlament überhaupt keine Entscheidungsgrundlage. Insofern sind wir alle gemeinsam gut beraten,
auch hier nicht vorrangig das Trennende zu sehen, sondern uns auf das Verbindende zwischen Rat und Parlament zu konzentrieren.
({1})
Meine Damen und Herren, Deutschland hat auch sein
zweites zentrales Verhandlungsziel erreicht; denn der
neue Finanzrahmen ist stärker als der alte Finanzrahmen
auf Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung
ausgerichtet.
({2})
Gemeinsam haben wir erreicht, dass die Ausgaben für
die Wettbewerbsfähigkeit und die Forschung insgesamt
gegenüber der aktuellen Periode von heute 91,5 Milliarden Euro auf rund 125,6 Milliarden Euro, das heißt um
37,3 Prozent, ansteigen.
Gemeinsam haben wir erreicht, dass die Ausgaben für
das Forschungsprogramm „Horizont 2020“ und für das
wichtige Austausch- und Bildungsprogramm ERASMUS
für alle gegenüber dem Niveau von 2013 real zunehmen
werden, und zwar um mindestens 20 Prozent. Das sind
gute Nachrichten für die Studierenden, es sind gute
Nachrichten für den Forschungsstandort Europa und damit auch gute Nachrichten für die Zukunft Europas,
meine Damen und Herren.
({3})
Gemeinsam haben wir erreicht, dass auch die sogenannte Connecting Europe Facility, also die für die
Transport- und Energienetze, in die investiert werden
muss, besser ausgestattet wird. Das sind Instrumente, die
genau dafür geschaffen wurden, neue Verbindungen im
Bereich der Energie und der Transporte herzustellen.
Hierfür gibt es 29,3 Milliarden Euro. Das ist ein Aufwuchs um mehr als 50 Prozent gegenüber der laufenden
Finanzperiode. Das ist eine absolut richtige, notwendige,
aber auch gute Investition in die Zukunft.
({4})
Für diese Schwerpunktsetzung waren Umschichtungen im Finanzrahmen unumgänglich. Deshalb wird der
Anteil der Agrarpolitik am Gesamtfinanzrahmen weiterhin nur zurückhaltend, aber dennoch kontinuierlich abnehmen. Es war uns dabei sehr wichtig, sowohl bei den
Direktzahlungen als auch in der ländlichen Entwicklung
Brüche zu vermeiden. Zudem wird die Ausgabenpolitik
im Agrarbereich modernisiert, umweltfreundlicher gestaltet und zwischen den Mitgliedstaaten ausgeglichen.
Das heißt, dass die mittel- und osteuropäischen Länder
jetzt stärker berücksichtigt werden, als das in der letzten
Finanzperiode der Fall war.
Insgesamt werden auch die Mittel für die Strukturfonds zurückgehen. Das ist der Sache nach konsequent,
da auch die Zahl der bedürftigen Regionen EU-weit erfreulicherweise zurückgegangen ist. Wir haben schließlich durch die Investitionen in der Vergangenheit vieles
erreicht.
Die neuen Bundesländer sind aufgrund ihrer erfolgreichen Entwicklung aus der Höchstförderung herausgefallen. Aber wir konnten erreichen, dass für sie ein Sicherheitsnetz von 64 Prozent geschaffen wird. Damit
steht weiterhin ein sehr guter Rahmen für Investitionen,
Arbeitsplätze, Forschung und Qualifikation bereit. Das
wird von den neuen Ländern genauso gesehen,
({5})
im Übrigen auch parteiübergreifend so gesehen.
Zudem kommt allen Ländern zugute, dass nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuerausgaben bei der Förderung berücksichtigt werden. Dies war eine ganz wichtige
Forderung der Kommunen, weil damit mehr Investitionsmittel zur Verfügung stehen.
Schließlich haben wir erreicht, dass darauf hingewiesen wird, dass es notwendig ist, insbesondere für die ostbayerischen Landkreise entlang der tschechischen Grenze
Beihilferegelungen anzustreben, die die Brüche zwischen
der Tschechischen Republik und Bayern nicht zu groß
werden lassen.
({6})
- Die Gegebenheiten sind unterschiedlich, und man
muss an alles denken.
({7})
- Meine Damen und Herren, was ich jetzt sage, ist wichtig; deshalb bitte ich trotz der Freude über die Zukunft
der ostbayerischen Landkreise noch einmal um ein klein
wenig Konzentration.
({8})
Trotz genereller Kürzungen bei den Strukturfonds
werden wir mit Sonderzahlungen die Strukturförderung
auch in einzelnen Mitgliedstaaten unterstützen; das ist
ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben die Strukturfonds
also nicht nur nach allgemeiner Aufschlüsselung verteilt,
sondern wir haben gesagt: Für diejenigen Länder, die besonders von der Krise betroffen sind, brauchen wir zusätzliche Strukturfondsmittel. Hiervon werden Spanien,
Griechenland, Italien und Portugal profitieren.
Die Programmländer - auch das ist ganz wichtig - erhalten allesamt bessere Kofinanzierungsmöglichkeiten.
Das heißt, der Kofinanzierungsanteil wird geringer sein,
damit sie die europäischen Mittel auch wirklich in Anspruch nehmen können. Ich denke, auch das ist ein ganz
wichtiger Schritt.
({9})
Meine Damen und Herren, wichtig ist nun das dritte
Verhandlungsziel, das wir auch umgesetzt haben, nämlich die Ausgabenpolitik insgesamt effizienter zu gestalten; denn gerade in Zeiten knapper Kassen kommt es darauf an, jeden Euro gezielt auszugeben, sodass er einen
Mehrwert hat. Wenn wir kritisch auf die vergangenen Finanzperioden zurückblicken, dann müssen wir sagen:
Nicht in jedem Falle war das so. Deshalb hat Deutschland zusammen mit anderen EU-Partnern die Initiative
„Better Spending“, also eine bessere Ausgabenqualität,
verankert. Ich danke dem Deutschen Bundestag, dass die
Mehrheit hier in diesem Hause sich ganz bewusst dafür
eingesetzt hat. Das konnten wir so auch durchsetzen.
Wir haben jetzt einen Zusammenhang hergestellt zwischen dem Zugang zu Finanzmitteln aus europäischen
Fördermöglichkeiten und der Erfüllung der makroökonomischen Auflagen aus dem Stabilitätspakt. Das heißt, europäische Mittel werden die Mitgliedstaaten in Zukunft
stärker dabei unterstützen, die notwendigen Reformauflagen wirklich durchzuführen. Oder, um es andersherum zu
sagen: Wer die notwendigen makroökonomischen Reformauflagen aus dem neu geschaffenen Stabilitätspakt
nicht erfüllt, dessen Mittel können leichter ausgesetzt
werden. Damit gibt es einen Hebel, die notwendigen Reformen auch tatsächlich durchzuführen.
Wir werden bei der Strukturpolitik im Übrigen in Zukunft den Sachverstand der Europäischen Investitionsbank stärker nutzen - auch das ist wichtig -; denn diese
Bank hat eine erhebliche Expertise. Ich erinnere daran,
dass die Bedeutung der Europäischen Investitionsbank
auch durch unsere gemeinsame Verabredung zur Stärkung des Kapitals der Investitionsbank gestärkt wurde.
Deshalb ist diese Verbindung außerordentlich wichtig,
zumal die Kofinanzierung in vielen Ländern mit einer
schwierigen Finanzsituation zum Teil auch noch über die
EIB abgewickelt wird. Deshalb haben wir hier einen Zusammenhang hergestellt.
Die europäischen Mitgliedstaaten werden jetzt alle
zwei Jahre politisch überprüfen, ob die Mittelverwendung auch wirklich auf Ziele der EU-Wachstumsstrategie ausgerichtet ist oder ob Korrekturen notwendig sind.
Es geht also nicht sieben Jahre einfach so weiter, wie
man es begonnen hat, sondern es gibt einen Check, ob
das Ganze auf dem richtigen Weg ist. Das heißt, wir können genau auf diesem Wege erreichen, dass Mittel gezielter für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit verwendet werden.
Das ist ja auch unverzichtbar, wenn wir uns einmal
die Probleme vor Augen führen, vor denen wir stehen.
Deshalb haben wir auch ein besonders drängendes Problem, nämlich die hohe Jugendarbeitslosigkeit in viel zu
vielen Ländern der Europäischen Union, angepackt und
in dem Wissen etwas getan, dass Jugendarbeitslosigkeit
den jungen Menschen eine gute Zukunft buchstäblich
versperrt. Wir dürfen uns damit niemals abfinden.
Deshalb haben wir zusätzlich zu dem, was wir schon
im vergangenen Jahr geleistet haben, gesagt: Wir bleiben
dabei nicht stehen, sondern wir werden unsere europäischen Anstrengungen verstärken und haben einen neuen
Fonds in Höhe von 6 Milliarden Euro vereinbart, der den
Regionen zur Verfügung steht, in denen die Jugendarbeitslosigkeit über 25 Prozent liegt. Das heißt, die Mittel
kommen unter anderem Spanien, Italien, Griechenland
und Portugal zugute. Sie haben in den letzten Tagen sehen können, dass Spanien daraus bereits ein Programm
gegen die Jugendarbeitslosigkeit konstruiert hat, und so
werden weitere folgen.
Jetzt wird es darauf ankommen, dass zusammen mit
der Kommission und den Arbeitsministern sehr schnell
festgelegt wird, wie dieses Geld ausgegeben werden
kann. Ich denke, wir Deutschen haben hier sehr gute Erfahrungen auch aus der Arbeit in den neuen Bundesländern. Das heißt, wir müssen schauen, dass wir Jugendarbeitslosigkeitsprogramme auflegen, die mit einer hohen
Wahrscheinlichkeit auch wirklich in dauerhafte Arbeitsplätze münden. Auch müssen wir sehen - die Voraussetzungen dafür sind geschaffen -, dass dieses Geld nicht in
sieben Jahresscheiben abfließt, sondern dass wir viel
Geld am Anfang investieren, um die Jugendarbeitslosigkeit schnell zu bekämpfen. Ich glaube, das ist eine sehr
gute Sache, und mit 6 Milliarden Euro kann man an dieser Stelle auch wirklich etwas bewegen.
({10})
Gleichzeitig haben wir vereinbart, dass wir im Bereich
der sogenannten grenzüberschreitenden Mobilität - zu
Deutsch: wenn jemand aus einem anderen Mitgliedstaat
zum Beispiel in Deutschland oder in einem anderen Land,
das Arbeitskräfte sucht, eine Arbeit aufnehmen will oder
eine Ausbildung erhalten möchte - die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen. Deutschland bietet, wo immer es gewünscht wird - das ist jetzt in vielen europäischen Ländern so -, Hilfestellungen bei der dualen
Berufsausbildung an; denn die duale Berufsausbildung
- das hat sich inzwischen in Europa herumgesprochen ist der Schlüssel für eine dauerhafte Beschäftigung junger
Leute. Hier werden wir alles, was in unserer Macht steht,
tun, um hilfreich zu sein, meine Damen und Herren.
({11})
Wir haben mit der Einigung von Brüssel ein viertes
zentrales Verhandlungsziel erreicht, nämlich dass die
Starken in die Pflicht genommen werden und gleichzeitig Fairness zwischen den verschiedenen Nettozahlerstaaten hergestellt wird. Aufgrund der wirtschaftlichen
Kraft Deutschlands wird Deutschland auch weiterhin der
größte Nettozahler bleiben. Unsere Nettolast wird in Zukunft, relativ gesehen, sogar höher sein als in der Vergangenheit. Dabei ist es uns jedoch gelungen, eine faire
Lastenverteilung zwischen den Nettozahlern zu erreichen.
Den Gedanken, dass wir die Starken in die Pflicht
nehmen und Fairness herstellen, lebt Deutschland ja
nicht erst seit der Krise; aber in der Krise wird die Bedeutung dieses Gedankens noch einmal ganz offensichtlich. Dieser Gedanke leitet uns, wenn wir mit unserer
ganzen Kraft als größte und stärkste Volkswirtschaft Europas für die Bewältigung der Krise im Euro-Raum
kämpfen. Wir wollen, dass diese Krise nicht einfach von
Europa nur überstanden wird, sondern wir wollen, dass
Europa stärker aus dieser Krise herauskommt, als es in
diese Krise hineingekommen ist. Da wir das in Deutschland geschafft haben, sind wir fest davon überzeugt, dass
wir genau das auch in Europa schaffen können, meine
Damen und Herren.
({12})
Wir tun das in dem Bewusstsein, dass Deutschland
eine besondere Verantwortung für eine gute Zukunft der
Europäischen Union hat. Wir tun dies, weil wir wissen,
dass unsere gute Zukunft mit der Zukunft der Europäischen Union insgesamt eng verknüpft ist, und wir tun
dies in der Überzeugung, dass Europa nur so in der globalen Welt auch in Zukunft seine Werte und seine Interessen behaupten kann.
Meine Damen und Herren, es war deshalb auch unverzichtbar, dass wir auf dem Europäischen Rat nicht
nur über die mittelfristige finanzielle Vorausschau gesprochen haben, sondern auch über die Handelspolitik
der Europäischen Union. Dabei ist unser mit Abstand
wichtigstes Zukunftsprojekt ein Freihandelsabkommen
mit den USA. Die Verhandlungen dazu sollen im ersten
Halbjahr dieses Jahres aufgenommen werden, und die
Bundesregierung wird diesen Prozess nachhaltig unterstützen.
Das Ganze knüpft an an viele Initiativen, die immer
wieder unternommen wurden, aber ganz besonders an
eine aus unserer Präsidentschaft im Jahre 2007, als mit
dem Transatlantischen Wirtschaftsrat bereits ein ganz
wichtiger Schritt zur Vertiefung der Handelsbeziehungen
zwischen den USA und Europa gemacht wurde.
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Ein gemeinsamer
transatlantischer Markt liegt im europäischen, aber auch
ganz besonders im deutschen Interesse,
({13})
und zwar nicht nur, weil wir damit Handelshemmnisse
und Zölle abbauen können - das ist notwendig insbesondere angesichts der Tatsache, dass die multilateralen
Verhandlungen im Rahmen der WTO nicht so vorangehen, wie wir es uns gewünscht hätten -, sondern auch,
weil wir dabei gemeinsame Standards entwickeln können. Wir alle wissen: Gerade bei den Zukunftstechnologien wird es entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg sein, ob wir die maßgebenden Normen und
Standards wirklich setzen können - wir: die Europäische
Union zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika -; denn wenn wir das nicht tun, dann werden es andere auf der Welt tun, und zwar zu ihren Arbeits- und
Produktionsbedingungen, die zum Teil weit entfernt von
unseren Wertvorstellungen sind. Deshalb ist das ein ganz
wichtiges Projekt.
({14})
Es ist also nicht nur einfach ein Abkommen, sondern
es ist ein wirkliches Wachstumsprojekt. Jeder, der sich
mit diesen Dingen beschäftigt, weiß, dass auf beiden
Seiten die Wachstumsraten steigen könnten. Es erspart
dazu noch viel Doppelarbeit, viel Zeit und viel Geld.
Meine Damen und Herren, wir können heute ein positives Fazit ziehen: Deutschland hat seine vier zentralen
Verhandlungsziele erreicht. Die Beschlüsse der EUStaats- und Regierungschefs für einen neuen EU-Finanzrahmen sind weitreichend. Sie werden die Europäische
Union auf ihrem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Sie werden die
Verteilung der Finanzmittel hin zu mehr Wachstum,
mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Beschäftigung
ausrichten. Und sie sind im Interesse aller 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Vor allem: Sie werden
den Menschen in Europa dienen.
So sind sie eine hervorragende Grundlage für die nun
folgenden Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament. Uns alle - Europäischen Rat wie Europäisches
Parlament wie Deutschen Bundestag - eint dabei das gemeinsame Ziel, ein starkes und wettbewerbsfähiges Europa zu gestalten und vor allen Dingen ein Europa zu ge27492
stalten zum Wohle der 500 Millionen Europäerinnen und
Europäer. Das ist jede Mühe und jede Anstrengung wert.
Ich danke Ihnen.
({15})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist leider
nach wie vor in keiner guten Verfassung. Die LissabonStrategie für das erste Jahrzehnt, Frau Bundeskanzlerin,
Europa zu der wettbewerbsfähigsten und wissensbasiertesten Region global zu machen, ist gescheitert. Oder
vorsichtiger ausgedrückt: Sie hat nicht die Ergebnisse
gebracht, die wir uns versprochen haben. Warum ist sie
weitestgehend gescheitert? Weil Europa und die europäischen Mitgliedstaaten nicht in der Lage gewesen sind,
die finanziellen Ressourcen bereitzustellen, die notwendig gewesen wären, um Europa zur wettbewerbsfähigsten und wissensbasiertesten Region der Welt zu machen.
Ich sage Ihnen voraus: Mit diesem mittelfristigen Finanzrahmen für 2014 bis 2020 wird auch für das zweite
Jahrzehnt diese Strategie, die sich jetzt „Europa 2020“
nennt, scheitern, weil die Finanzmittel der Höhe nach
und der Struktur nach nicht mit diesen Zielen korrespondieren, die für Europa von erheblicher Bedeutung sind.
({0})
Europas Wirtschaft dümpelt weiter am Tiefpunkt.
2012 ist die europäische Wirtschaft geschrumpft. Die
Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Wir alle kennen die alarmierenden und skandalös hohen Arbeitslosenraten für
Jugendliche. In sieben Ländern liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 25 Prozent. In vier Ländern liegt die
Jugendarbeitslosigkeit bei über 30 Prozent. In zwei Ländern liegt sie bei - sage und schreibe - über 50 Prozent.
Das heißt, in diesen Ländern findet mehr als die Hälfte
der jungen Frauen und Männer keine Arbeit mehr. Was
denken sie über Demokratie? Was denken sie über Europa? Was denken sie über uns Politiker, die dafür eine
Mitverantwortung tragen?
Die Krise, die im Finanz- und Bankensektor ihren
Ausgang nahm, hat den Bürgerinnen und Bürgern in Europa sehr viele Opfer abverlangt. Manchmal habe ich
den Eindruck, dass wir Deutsche es nicht richtig zu würdigen wissen, mit welchen Verelendungserscheinungen
dies in einigen europäischen Nachbarstaaten teilweise
bereits verbunden ist.
Reformen und Konsolidierung der Staatshaushalte
sind notwendig, doch sie laufen ins Leere, wenn aus
Sparen ein Kaputtsparen wird, wenn neben der notwendigen Konsolidierung keine Wachstumsperspektiven für
diese Länder entstehen, wenn aus einer Rezession eine
Depression, eine Verelendung in Teilen der europäischen
Nachbarstaaten wird. Ich habe solche Verelendungserscheinungen bei meinem jüngsten Besuch in Athen selber erlebt. Gerade die jungen Menschen sagen dort: Wir
haben keine Perspektive mehr. - Es ist bedrückend, mit
anzusehen, dass sie dieses wunderbare Zivilisationsmodell Europa nicht mehr als etwas wahrnehmen, das ihnen
Zukunft verspricht und das es zu behaupten gilt.
Die ökonomische Krise, Frau Bundeskanzlerin, steigert sich in manchen Staaten zu einer Gefahr für die Stabilität der politischen und gesellschaftlichen Ordnung.
Wir reden nicht mehr allein über eine ökonomische
Krise, sondern wir reden über die Stabilität dieser unmittelbaren Nachbarstaaten in Europa.
({1})
Die Staats- und Regierungschefs müssen diesem Spardiktat endlich ein Wachstumsprojekt folgen lassen. Es ist
Zeit für mehr Investitionen in Infrastruktur, in eine industrielle Erneuerung, in Bildung, Forschung und Entwicklung, in die wesentlichen Größen und wichtigen
Ansatzpunkte, um Europa wieder nach vorne zu bringen:
mit einer größeren Wettbewerbsfähigkeit, mit einer weiter ausgebauten Industrie, mit vielen Arbeitsplätzen und
vor allen Dingen mit konkreten Berufsperspektiven für
die jungen Leute. Davon wird viel geredet; ich kann
mich erinnern, dass davon auch schon beim Europäischen
Rat Ende Juni 2012 geredet worden ist. Passiert und
konkret angekommen ist in diesem halben Jahr rein gar
nichts, insbesondere nicht bei den arbeitslosen Jugendlichen.
({2})
Präsident Obama hat in seiner Rede zur Lage der Nation letzte Woche gesagt - ich zitiere ihn -: „Defizitabbau allein ist kein Wirtschaftsplan“. Das ging, wie ich
glaube, nicht nur an die Adresse der Republikaner im
Repräsentantenhaus und im Senat, sondern bezog sich
auch auf die Europapolitik, also auf die Europapolitik
dieser Bundesregierung, die die treibende Kraft bei einem Sparkurs in Europa ist, der andere Länder zunehmend in eine Depression und Verelendung hineinzieht.
({3})
Der neue Finanzrahmen 2014 bis 2020 zeigt, dass die
Chefs der Regierungen und der Staaten, die beim Europäischen Rat aufgetreten sind, wenig gelernt haben. Anstatt das Angebot des Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Herrn Martin Schulz, anzunehmen, „sich zu
unserer gemeinsamen Zukunft zu bekennen“, anstatt in
die Zukunft Europas zu investieren, und zwar auch über
nationale Egoismen hinaus, ging es den europäischen
Staats- und Regierungschefs am 7. und 8. Februar im
Wesentlichen darum, verletzungsfrei zu ihrem heimischen Publikum zurückzukehren. Im Ergebnis entstand
ein Vorschlag für einen europäischen Finanzrahmen, der
im Europäischen Parlament sogar die Parlamentarier aus
Ihren eigenen Reihen zur Ablehnung veranlassen
könnte. Perspektivlos haben Sie sich in einer unheiligen
Kürzungsallianz ausgerechnet mit dem Regierungschef
verbunden, nämlich mit dem britischen Regierungschef
David Cameron, der gegebenenfalls sogar aus der Europäischen Union austreten will. Das ist eine ganz merkwürdige Allianz, um die Zukunft Europas in diesem
Jahrzehnt zu sichern.
({4})
Frau Merkel, wer in Zukunft mehr Europa will, der
braucht Partner, die ihre Zukunft auch in Europa sehen;
dann schlägt man sich nicht auf die Seite des Regierungschefs, der möglicherweise dieses Europa verlassen
will.
Mit Blick in die Zukunft geht es bei diesem Finanzrahmen gar nicht nur um die Höhe der Mittel, sondern
vor allen Dingen auch um die Struktur. Nach wie vor
fließen ungefähr 38 Prozent der Haushaltsmittel in den
Agrarsektor, ein Großteil davon zu großen Agrarunternehmen und Lebensmittelkonzernen. Aber nur ein kleinerer Teil geht in die wichtigen Felder, die für Wachstum
und Beschäftigung sorgen. Ausgaben für Wachstum und
Beschäftigung werden in der Tat um 23,5 Prozent gekürzt, nicht gegenüber dem früheren Finanzrahmen, aber
gegenüber dem Kommissionsvorschlag.
Sie haben auf das Programm „Connecting Europe Facility“, also auf die Verbesserung der Verbindungen über
Transport- und Energienetze, hingewiesen und sagten, es
handele sich hier um eine Steigerung der Mittel um
50 Prozent. Die Zahl ist für sich genommen richtig; aber
dieses Programm gab es vorher gar nicht. Gemessen an
dem Vorschlag der Kommission liegt dem eine Kürzung
und kein Aufwuchs zugrunde.
Nun schien es, dass es ein gutes Ergebnis gibt - das
Sie ja auch zitiert haben -, nämlich dass 6 Milliarden
Euro zusätzlich dafür aufgewendet werden, die Jugendarbeitslosigkeit in den Mitgliedstaaten zu verringern,
jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Job
zu finden. Wenn man allerdings genauer hinschaut, dann
stellt man fest, dass das ein makabrer Etikettenschwindel
ist;
({5})
denn von den 6 Milliarden Euro für die Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit kommen 3 Milliarden aus den
Einsparungen in den Sozialfonds. Das ist das Prinzip
„linke Tasche, rechte Tasche“, will sagen, ein neues Programm mit altem Geld, das Sie hier gerade wider alle
Tatsachen als großen Erfolg verkauft haben.
({6})
Die 3 Milliarden, mit denen die 6 Milliarden aufgefüllt wurden, fehlen bei der Verbesserung der europäischen Infrastruktur, zum Beispiel beim Aufbau eines flächendeckenden Internetzuganges, den gerade junge
Menschen brauchen, um an Information, an Ideen und
letztlich an Arbeit zu kommen. Das ist das, was Sie hier
gerade als großen Erfolg gefeiert haben.
Die Staats- und Regierungschefs in Europa tricksen.
Sie tricksen mit dem Unterschied zwischen Zahlungsund Verpflichtungsermächtigungen, das heißt, sie stellen
mit diesem Finanzrahmen zu wenig Geld zur Verfügung,
um die eingegangenen Verpflichtungen wirklich zu erfüllen. Das wird der entscheidende Punkt sein, warum
Sie mit diesem mittelfristigen Finanzrahmen auf erhebliche Widerstände im Europäischen Parlament und, wie
ich ziemlich sicher zu glauben weiß, auch in Ihren eigenen Reihen treffen werden.
({7})
Viele Länder sind in der Tat aufgefordert, Strukturreformen, ihre Governance und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Was mir in Ihren europapolitischen
Beiträgen fehlt, ist der Hinweis auf die Strukturprobleme
im europäischen Raum, die wir als Bundesrepublik
Deutschland mit zu verantworten haben: Das sind die
massiven Exportüberschüsse der Deutschen, die sich in
entsprechenden Leistungsbilanzüberschüssen bei uns
und in den entsprechenden Leistungsbilanzdefiziten in
den anderen Ländern widerspiegeln.
Deutschland hat inzwischen einen Leistungsbilanzüberschuss von 5 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung. Seit der Wiedervereinigung hat Deutschland
Güter und Dienstleistungen im Wert von über 1,5 Billionen Euro mehr verkauft als eingekauft. Dies spiegelt
sich zunehmend in erheblichen Ungleichgewichten in
den Austauschbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gehören, wider.
({8})
Das geht in einer Währungsunion aber nicht. Auf Dauer
ist dies in einer Währungsunion unmöglich, wenn kein
Ausgleich über entsprechende Wechselkursanpassungen
stattfinden kann. Das heißt, wir müssen uns politisch mit
der naheliegenden Frage beschäftigen - hier hätte ich
gerne mehr Auskunft von Ihnen -, wie wir in Deutschland die Kaufkraft verbessern, damit es zu einem besseren
Ausgleich dieser Ungleichgewichte in den Austauschbeziehungen kommt.
({9})
Das heißt auch, dass wir in Deutschland eine Politik zur
Stärkung der Binnennachfrage, eine Politik zur Stärkung
der Kaufkraft brauchen.
Nun kommen wir sehr konkret zu einigen Themen,
die uns beschäftigen werden, nicht nur mit Blick auf den
22. September: Wir brauchen faire Lohnabschlüsse,
({10})
die die Inflation kompensieren und den Produktivitätsfortschritt in der Einkommensentwicklung der abhängig
Beschäftigten widerspiegeln. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die die privaten und öffentlichen Investi27494
tionsquoten steigert. Wir brauchen eine Energiewende,
aber keine, die, wie im Augenblick, das größte Investitionsverhinderungsprogramm ist, das diese Republik je
gesehen hat.
({11})
Wir brauchen echte Mindestlöhne. Wir brauchen eine
Eindämmung der atypischen Beschäftigung. Wir brauchen eine Stärkung der Kaufkraft, indem die Menschen
bei Vollzeit so anständig und so gut bezahlt werden, dass
sie ihr Leben eigenständig und in Würde führen können.
({12})
Wenn wir über den mittelfristigen Finanzrahmen reden, über die Notwendigkeit einer weiteren Strukturförderung und von weiteren Wachstumsimpulsen, dann
wissen wir ziemlich genau, woher das Geld dafür kommen könnte, um in Infrastruktur, um in eine Reindustrialisierung in manchen Ländern zu investieren. Nach jahrelangem Druck, insbesondere von unserer Seite, haben
wir am 21. Juni hier im Deutschen Bundestag die Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer beschlossen.
Und jetzt? Die Europäische Kommission hat im Rahmen
der verstärkten Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union solide, sehr konkrete Vorschläge gemacht, und
prompt beginnt die FDP ein Rückzugsmanöver mit Blick
auf die Einführung der Finanzmarkttransaktionsteuer.
({13})
Dabei brauchen wir diese Steuer dringend. Sie liefert
Einnahmen für neues Wachstum in Europa, und sie
nimmt dieses Geld von dort, wo diese Krise entstanden
ist, nämlich vom Banken- und Finanzsektor, der uns
maßgeblich in diese Krise hineingestoßen hat.
({14})
Die EU-Kommission berechnet ein Aufkommen von
30 bis 35 Milliarden Euro. Im Vergleich zu den 1,6 Billionen Euro, die die europäischen Regierungen, die europäischen Staaten allein zwischen 2008 und 2010 für die
Stabilisierung der Banken und für Wachstumsimpulse
zur Verhinderung eines Absturzes der Konjunktur und
des Wachstums eingezahlt haben, ist das wahrlich ein
nicht zu hoch gegriffener Betrag. 30 bis 35 Milliarden
Euro sind umgekehrt aber auch das Fünf- bis Sechsfache
dessen, was im Augenblick zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vorgesehen ist. Diese Steuer ist nicht nur
gerecht, sie ermöglicht auch einen entscheidenden
Wachstumsimpuls für Europa, und deshalb brauchen wir
sie so schnell wie möglich.
({15})
Ich erwarte von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie Wort halten.
({16})
Der seinerzeitige Beschluss im Deutschen Bundestag
war wichtig, um die Unterstützung zu weiter reichenden
Maßnahmen zu gewinnen, auch vonseiten der Opposition - Stichwort „Fiskalpakt“. Das heißt, wenn es jetzt
ein Abrücken gäbe von dem ehrgeizigen Bemühen, eine
Finanzmarkttransaktionsteuer einzuführen, hätten Sie
die Vertrauensbasis, gegebenenfalls auch für weitere
Entwicklungen mit Blick auf Europa, bei denen Sie die
Opposition an Ihrer Seite wünschen, verspielt. Unser
Gedächtnis ist nicht so schlecht ausgestattet, als dass
dies plötzlich aus unserer Wahrnehmung verschwinden
würde.
({17})
Ich sage voraus, Frau Bundeskanzlerin, dass meine Fraktion das bloße Ankündigen, das Lavieren, das Aufweichen und das Umdrehen dessen, was wir mit dieser Finanzmarkttransaktionsteuer verbinden, nicht durchgehen
lässt.
({18})
Genauso ist es bei einem anderen Stichwort - einem
Trennbankensystem. Ich kann mich erinnern, dass ich
für meine Fraktion, für meine Partei Mitte September ein
Papier zur weiter gehenden Finanzmarktregulierung und
Finanzmarktaufsicht vorgestellt habe.
({19})
Ich kann mich auch erinnern, wie das Echo aus Ihren
Reihen darauf war, insbesondere zu dem Vorschlag, ein
Trennbankensystem in Deutschland einzuführen. Verehrter Herr Schäuble, Sie hatten nun mehrere Monate
Zeit und ein ganzes Ministerium zur Verfügung - ich
hatte damals einen einzigen Mitarbeiter -,
({20})
um etwas Vernünftiges vorzulegen. - Ja, das ist der Unterschied zwischen den Ressourcen, die die Regierung
hat, und den Ressourcen, die die Opposition hat. - Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Herr Schäuble hatte
sechs Monate Zeit, um zum Thema Trennbankensysteme
etwas Vernünftiges auf den Weg zu bringen. Herausgekommen ist eine Lösung „Trennbanken light“, die von
Ausnahmen und Auslassungen nur so wimmelt. Von einigen wenigen Banken werden einige wenige Geschäfte
ein wenig abgetrennt, so, dass wir niemandem richtig
wehtun, nach dem Motto: Der Berg kreißte und gebar
eine Maus. Das ist das, was Sie mit Ihrem Vorschlag zu
Trennbanken jetzt auf den Weg gebracht haben.
({21})
Sie haben die Druckmaschinen angeworfen und das
als riesigen Erfolg verkauft. Sie haben hübsche Etiketten
auf leere Flaschen geklebt. Aber was bleibt übrig? Ein
Etikettenschwindel. Aus Ihren eigenen Reihen ertönt bereits vorauseilender Widerstand, zum Beispiel von Herr
Flosbach - „Holzhammervorschläge“ - oder von Herrn
Wissing - „Scheinlösung“. Wir werden sehen, welche
Halbwertszeit dieser Vorschlag für ein Trennbankensystem in Ihren Reihen hat.
Das nächste Stichwort ist die Bankenunion. Beenden
Sie bitte Ihren Schleiertanz mit Blick auf die Fragestellung, wie eine Bankenunion in Europa aussehen soll. Wo
wollen Sie hin? Wir haben in einem gemeinsamen Papier im Sommer 2012 mit Ihnen beschlossen:
Ein wesentliches Element der Wachstums- und
Konsolidierungsstrategie ist die angemessene Beteiligung des Finanzsektors.
Ja. Wir debattieren in diesem Haus seit zwei Jahren über
die Notwendigkeit, ein europäisches Abwicklungsregime einzuführen. Dabei geht es um eine europäische
Abwicklungsbehörde und einen europäischen Restrukturierungsfonds, der nicht von den Steuerzahlern, sondern
von den Banken selbst finanziert wird, weil sie diejenigen sind, die zur Finanzierung der Folgekosten herangezogen werden müssen.
({22})
Ich glaube, dass es zwingend erforderlich ist, den
ESM vornehmlich auf die Rekapitalisierung von Staaten
zu konzentrieren, die es nötig haben. Das ist sinnvoller,
als aus dem ESM eine Direktkapitalisierung von Banken
vorzunehmen. Wenn das Ihre Meinung ist - mein Eindruck ist, dass das in Ihren Reihen ähnlich debattiert
wird -, dann sollten Sie auf europäischer Ebene und uns
auf nationaler Ebene zu Gesprächen über die Konstruktion eines solchen Restrukturierungsfonds, der von Banken finanziert wird, einladen.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, sind eine Last-MinuteKanzlerin.
({23})
Sie haben eine Neigung zum Nicht-Handeln, Nochnicht-Handeln, Später-Handeln. Das merkt man Ihnen
sehr genau an. So haben Sie laviert bei der Regulierung
der Finanzmärkte. So haben Sie laviert mit Blick auf den
jetzigen Vorstoß zum Trennbankensystem. So lavieren
Sie im Augenblick mit Blick auf den Mindestlohn, den
Sie nur unter einem anderen Begriff laufen lassen.
({24})
Es gibt mehrere Punkte, bei denen man den Eindruck
hat, dass Sie eher die Präsidentin eines Kabinetts sind.
Sie sind jedoch die Regierungschefin, die sich in die
Niederungen dieser Politik begeben muss.
({25})
Das gilt bei der Lebensleistungsrente, die ein Zynismus
ist. Das gilt bei Mietrechtsänderungen, die eine Schwächung der Mieterrechte bedeuten. Das gilt bei einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das in Wirklichkeit ein
Striptease des Arbeitnehmerdatenschutzes ist und bei
dem Sie anschließend dem DGB sagen, Sie seien sensibilisiert. Das gilt bei der Scheinlösung einer Lohnuntergrenze. Das gilt bei der Energiewende, die in Deutschland nicht klappt.
({26})
Das gilt beim Betreuungsgeld. Das gilt bei der Finanzmarkttransaktionsteuer. Das gilt auch bei der Frage nach
einem zukunftsweisenden Budget für die Europäische
Union.
Da Sie sich bei all diesen Themen sehr unbestimmt
verhalten, da Sie gern lavieren oder in Deckung bleiben,
bleibt nur eine einzige Möglichkeit, nämlich dass andere
diese Regierungsverantwortung übernehmen. Dazu ist
die SPD mit mir bereit.
Vielen Dank.
({27})
Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Staats- und Regierungschefs haben zum ersten Mal in
der Geschichte der EU einen Budgetrahmen beschlossen, der kleiner wird. Bislang ist der EU-Haushalt immer
gewachsen. Jetzt haben die Staats- und Regierungschefs
auf die Ausgabenbremse gedrückt. Das ist gut so. Das ist
richtig so. Das unterstützen wir.
({0})
In Zeiten, in denen fast alle nationalen Parlamente
und Regierungen den Gürtel enger schnallen, wäre ein
Draufsatteln nicht vermittelbar.
({1})
Das wäre ökonomisch falsch. Das wäre politisch falsch.
Übrigens übernimmt Deutschland sogar etwas mehr
Finanzverantwortung. In schweren Zeiten zeigt Deutschland besondere Solidarität. Dafür hätte, Herr Steinbrück,
die Opposition Respekt zollen können, aber Sie mäkeln
nur herum.
({2})
Der Kanzlerkandidat der SPD weiß alles besser. Sie machen Wünsch Dir was. Mit Realpolitik hat das nichts zu
tun.
({3})
Natürlich hätte man sich weitere Agrarreformen wie
angesprochen wünschen können. Aber ich frage Sie,
Herr Kollege Steinbrück: Wo war Ihre öffentliche Aufforderung an den sozialistischen Präsidenten Frank27496
reichs, bei der Agrarbeihilfe nachzugeben? Nichts hat
man von Ihnen gehört. Nichts, kein Wort!
({4})
Es bedarf hoher Staatskunst, damit Briten und Franzosen gleichermaßen zufrieden nach dem Gipfel nach
Hause gehen.
({5})
Es bedarf hoher Staatskunst, damit die aufstrebenden
Nationen Osteuropas und die gebeutelten Nationen aus
dem Süden ein solches Budget mittragen. Es bedarf hoher Staatskunst, damit die Nettozahlernationen aus dem
Norden bei der Stange bleiben.
({6})
Ich bin froh, dass unsere Bundeskanzlerin Angela
Merkel dort verhandelt hat - und nicht Peer Steinbrück,
der gelegentlich als „diplomatische Neutronenbombe“
bezeichnet wurde.
({7})
Aber es ist nicht nur Ihr Mangel an Diplomatie; Sie ticken auch volkswirtschaftlich falsch. Besser gesagt:
Herr Gabriel hat Sie umprogrammiert. Sie werden jetzt
vom Willy-Brandt-Haus an kurzer Leine geführt.
({8})
Sie gehen vor dem sozialistischen Modell von François
Hollande in die Knie. In Frankreich kann man die fatalen
Auswirkungen einer sozialistischen Staatswirtschaft besichtigen: mehr Arbeitslose, höhere Steuern, mehr Schulden, Herabstufung der Kreditwürdigkeit und schrumpfende Wettbewerbsfähigkeit.
({9})
Doch alle fatalen Signale reichen für ein Umsteuern
offensichtlich nicht aus. Immer wieder versucht Frankreich, nach unrealistischen außenwirtschaftlichen Ventilen zu suchen. Zuerst waren es die deutschen Exportüberschüsse; dies wurde auch von Ihnen aufgegriffen.
Herr Steinbrück, erklären Sie doch einmal den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von Volkswagen, dass
sie weniger Autos herstellen sollen.
({10})
Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
der BASF, dass sie weniger herstellen sollen. Sagen Sie
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Maschinenbau, dass sie weniger herstellen sollen. Erklären Sie
einmal Ihren Gewerkschaften, IG Metall, IG BCE, dass
weniger produziert werden soll. Das ist doch irreal, was
Sie erzählen.
({11})
Sie wollen die Binnennachfrage mit Steuererhöhungen
ankurbeln, aber so können Sie die Binnennachfrage
nicht ankurbeln. Das ist diametral falsch.
({12})
Nun zur Finanzmarkttransaktionsteuer. Sie wissen,
wir haben uns geeinigt, weil wir uns einigen mussten,
um die Verfassung zu ändern. Sonst hätte es in Deutschland und Europa keinen Fiskalpakt gegeben. Wir haben
uns aber auch darauf geeinigt, dass diese Transaktionsteuer nicht zulasten der Kleinsparer, nicht zulasten der
Riester-Sparer, nicht zulasten des Mittelstands und nicht
zulasten des Finanzplatzes Deutschland gehen soll. Dem
haben auch Sie zugestimmt. Da müssen Sie liefern. Es
geht nicht nur darum, Steuern zu erhöhen, sondern auch
darum, die korrekte Umsetzung wie vereinbart auf den
Weg zu bringen. Wer A sagt, muss auch B sagen.
({13})
Es wäre ein Fehler, dort anzusetzen. Sie wissen genau: Die Hälfte unserer Exportumsätze machen wir
durch Aufträge unserer europäischen Partner;
({14})
an diese liefern wir. Wenn Deutschland weniger erfolgreich wäre, hätte ganz Europa weniger Wirtschaftsmöglichkeiten. Das hängt zusammen.
({15})
Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu mindern,
wäre verkehrt. Die Wettbewerbsfähigkeit der anderen in
Europa zu steigern, das ist der richtige Weg. Diesen
müssen wir gehen.
({16})
Jetzt setzt der französische Präsident offenbar auf eine
Abwertung des Euro. Dadurch würden übrigens die Exportüberschüsse Deutschlands steigen und nicht abnehmen; so viel zu den ökonomischen Zusammenhängen.
Die Politik des schwachen Euro wäre genau der falsche
Weg. Wir wollen einen starken Euro. Ein schwacher Außenwert erhöht die Gefahr der importierten Inflation.
Das kann niemand wollen. Medien sind schnell bei Begrifflichkeiten wie Währungskrieg. Das ist sicher übertrieben, zumal protektionistische Tendenzen in der
Breite nicht erkennbar sind. Im Gegenteil: Die Signale
des amerikanischen Präsidenten, was die transatlantische
Freihandelszone betrifft, sind ermutigend. Auch die Erklärungen der Finanzminister vom G-20-Gipfel weisen
nicht in Richtung Abwertungswettlauf. Sie haben einer
Beggar-my-Neighbour-Policy eine klare Absage erteilt.
Aber wir müssen und sollten die Politik des billigen Geldes aufmerksam verfolgen.
Alle großen Zentralbanken haben ihre Geldbasis extrem erhöht. Das ist der fatale Nährboden für eine AssetPrice-Inflation, für neue Blasen an Aktien- und Immobilienmärkten. Die amerikanische Fed hat es offenbar erkannt und jetzt verkündet, dass sie die Luft herauslassen
und schneller aus dem Ankauf von Staatsanleihen herausgehen will als bisher erwartet. Ich hoffe, dass die
Börsen das Signal erkennen.
Aber natürlich ist in Japan und Amerika die Versuchung immer noch groß, ihre hohen Schuldenstände
durch Abwertung und Inflation zu senken. Umso wichtiger ist, dass Deutschland und Europa den Stabilitätsweg
gehen. Eine künstliche Abwertung und das Zulassen von
Inflation führen nur zu Muskeln an der falschen Stelle.
Dauerhaft hilft nur eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb müssen die Staatsanleihenankäufe der
EZB eine Ausnahme bleiben und dürfen nicht zur Regel
werden. Geldwertstabilität muss wieder stärker in den
Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik rücken. Wir sind für
eine Aufnahme der Geldwertstabilität ins Grundgesetz,
({17})
für eine Stärkung der Bundesbank. Sie hat in den EZBGremien genauso nur eine Stimme wie Malta. Das kann
nicht richtig sein.
({18})
Wir wollen im nächsten Bundeshaushalt eine schwarze
Null haben. Diese Koalition nimmt die Verpflichtung aus
der Schuldenbremse ernst. Diese Koalition nimmt den
europäischen Fiskalpakt ernst. Die Ankündigung der sozialistischen Regierung in Frankreich, mehr Schulden als
erlaubt zu machen, darf nicht zu einem Bruch des Fiskalpakts führen.
({19})
Wir jedenfalls werden Frankreich die Hand dafür nicht
reichen.
({20})
Rot-Grün hat unter Schröder in sieben Jahren fünfmal
die Maastricht-Kriterien gerissen, Sie haben den Stabilitätspakt kaputtgemacht, Sie haben Griechenland in die
Währungsunion aufgenommen. Die Misere, zu der
dieser Bruch führte, können wir seit zweieinhalb Jahren
besichtigen. Damals haben Sie die Grube gegraben, in
die die Länder der südlichen Peripherie der Europäischen Union jetzt gefallen sind.
({21})
Gerade erklärte Herr Steinbrück in Brüssel zum französischen Staatsdefizit:
Vielleicht wird es 3,2, 3,3 oder 3,4 Prozent.
({22})
Aus meiner Sicht sollte Frankreich diese Flexibilität haben.
({23})
Herr Steinbrück, mit solchen Aussagen sind Sie ein
Fiskalpaktbrecher. Sie sollten sich einmal überlegen,
was Sie sagen.
({24})
Sie sagen auch, wer das bezahlen soll. Ihre EuroBonds heißen jetzt Altschuldentilgungsfonds. Nach Ihrer
Idee soll Deutschland dauerhaft für die alten Schulden
Europas haften. Da kann ich Ihnen nur mit Karl Schiller
zurufen: Genossen, lasst die Tassen im Schrank!
({25})
Die christlich-liberale Koalition wird den Fiskalpakt
hart auslegen; alles andere würde den Euro dauerhaft
beschädigen. Wir werden uns um eine Währungsstrategie kümmern.
({26})
Der Dollar ist Leitwährung; das ist ein exorbitantes
Privileg, wie Giscard d'Estaing es nannte.
({27})
China greift diesen Status an, durch seine hohen Devisenbestände und Währungsabkommen mit den BRICStaaten, aber auch durch das Etablieren einer eigenen
Ratingagentur. In Europa zerbricht sich keiner den Kopf
darüber, wo wir mit der Gemeinschaftswährung hinwollen. Wollen wir, dass der Euro selbst Leitwährung wird?
Wollen wir, dass er nur zweite Leitwährung hinter dem
Dollar wird? Wie gehen wir mit Chinas Ambitionen
währungspolitischer Art um? Währungsfragen sind auch
Machtfragen. Meine Damen und Herren, diesen Zusammenhängen muss mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Blaupause für Rot-Grün ist das sozialistische
Frankreich: Die Wirtschaft soll reguliert, zementiert und
stranguliert werden. Das will die Gabriel/SteinbrückSPD jetzt auch für Deutschland.
Am Wochenende wurde bekannt: Die Vermögensteuerpläne von Peer Steinbrück würden 160 000 Unternehmen in Deutschland treffen.
({28})
Ihre Berater haben ein „nur“ davorgesetzt. Das ist besonders dreist. Sie treffen exakt 160 000 Unternehmen zu
viel. Unternehmen müssen Substanz aufbauen, sie müssen Gewinn machen, sie müssen investieren können.
Investitionen sind der Schlüssel für Arbeitsplätze. Diese
Steuerpläne vernichten Arbeitsplätze. Wenn wir vom
Verlust nur eines Arbeitsplatzes pro Unternehmen ausgehen, dann wären davon so viele Menschen betroffen wie
Heidelberg oder Potsdam Einwohner hat.
Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für viele
Mittelständler ist das die Unternehmensteuer; das trifft
sie ins Mark. Sie wollen den Rentenversicherungsbeitragssatz um 3 Prozentpunkte erhöhen. Dadurch werden
die Lohnzusatzkosten erhöht. Eine Erhöhung um 1 Prozentpunkt kostet etwa 100 000 Arbeitsplätze. Von diesen
Maßnahmen sind locker etwa eine halbe Million Arbeitsplätze betroffen. Da sind die verrückten Vorstellungen Ihres Möchtegern-Finanzministers Trittin noch gar
nicht dabei, der eine Vermögensabgabe mit einem Volumen von 100 Milliarden Euro einführen will.
Kollege Trittin tanzt dem Kanzlerkandidaten der SPD
ohnehin auf der Nase herum. Kürzlich hat er großzügig
erklärt: „Bei Steinbrück ist ein Bemühen erkennbar.“
({29})
Das ist ein wörtliches Zitat. Das klingt wie: Peer, Note
fünf bis sechs, setzen! Oberlehrer Trittin hat gesprochen.
({30})
Herr Steinbrück bekommt von Trittin und Gabriel
einen wirtschaftsfeindlichen Wahlkampf aufgedrückt.
Als Rot-Grün 2005 aufgehört hat, zu regieren, gab es
5 Millionen Arbeitslose. Sie haben in den letzten siebeneinhalb Jahren offensichtlich nichts dazugelernt.
({31})
Meine Damen und Herren, die Schuldenkrise in
Europa ist etwas abgeebbt. Die Signale aus Griechenland sind nicht mehr ganz so düster. Das haben sogar die
Ratingagenturen registriert. Aber für Zeichen der
Entwarnung ist es noch zu früh. Die Wahlen in Italien
werden zeigen, ob ein großes Mitgliedsland der Europäischen Union seinen Reformkurs fortsetzt - Monti hat
sich viel Vertrauen erarbeitet -, oder ob er wieder aufs
Spiel gesetzt wird.
Die nächste Herausforderung ist Zypern. Hier gibt es
einen klaren Fahrplan: Zuerst muss die Präsidentschaftswahl abgewartet werden, dann muss Zypern eine
Restrukturierung seines Bankensektors vornehmen; er
ist völlig überdimensioniert. Außerdem muss das Problem der Geldwäsche ernsthaft angepackt werden, bevor
man über Finanzhilfen aus dem ESM reden kann. Hier
hat Deutschland eine Schlüsselrolle, hier hat dieses Parlament eine Schlüsselrolle: Es wird nur dann Geld aus
dem ESM geben, wenn im Gouverneursrat 80 Prozent
der Stimmen Ja sagen. 27 Prozent der Stimmen hat
Deutschland; deshalb trägt dieses Parlament eine entscheidende Verantwortung dafür, ob dort entsprechende
Voraussetzungen geschaffen werden oder nicht.
({32})
Meine Damen und Herren, das, was bei der Haushaltsberatung auf europäischer Ebene beschlossen
wurde, ist beachtlich: Rund 1 Billion Euro, das ist die
Hälfte unserer Jahreswirtschaftsleistung. Mit so viel
Geld kann man viel bewegen. Ich glaube nicht, dass sich
unsere Kollegen im Europäischen Parlament einen Gefallen damit tun, wenn sie das Ergebnis dieses Kraftaktes
ablehnen. In diesen nicht einfachen Zeiten muss Europa
Handlungsfähigkeit zeigen; das erwartet die Welt von
uns, und das erwarten die Mitbürger von uns. Herr
Steinbrück hat so getan, als würden jetzt magere Jahre
auf uns zukommen. Im Gegenteil, wenn wir es richtig
machen, werden es fette Jahre sein. Packen wir’s an!
({33})
Für die Fraktion Die Linke erhält nun die Kollegin
Sahra Wagenknecht das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Merkel hat uns gerade wieder eine wunderbare
Märchenstunde beschert: Europa ist auf einem guten
Weg, ein fantastischer Haushalt ist beschlossen, alles
wird gut.
Die Realität sieht leider etwas anders aus. Ich möchte
mich vor allem auf einige Entwicklungen beziehen, die
über die Finanzierungsspielräume der europäischen
Staaten in den nächsten Jahren mit Sicherheit wesentlich
mehr entscheiden werden als der Umstand, ob der europäische Haushalt jetzt 10 oder 15 Milliarden Euro mehr
umfasst. Es geht dabei vor allem um die ökonomischen
Entwicklungen.
Peer Steinbrück hat auf die dramatische Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union hingewiesen, vor allem
auf die dramatische Situation der Jugendlichen. Dabei
frage ich mich allerdings schon, Herr Steinbrück, wie
Ihre zur Schau gestellte Betroffenheit in dieser Frage mit
Ihrem Abstimmungsverhalten hier im Bundestag zu vereinbaren ist.
({0})
Sie haben diesen ganzen Kürzungspaketen immer wieder zugestimmt.
Zur Realität in Europa gehört auch, dass trotz der
inzwischen 4,5 Billionen Euro, die die europäischen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dafür aufgebracht
haben, marode Banken zu retten, es für die Unternehmen
nach wie vor von Monat zu Monat schwieriger wird, bei
diesen Banken Kredite zu bekommen, um Investitionen
tätigen zu können.
Zur Realität gehört genauso, dass die Krise inzwischen auf Deutschland zurückgeschlagen ist: Im letzten
Quartal 2012 ist die Leistung der deutschen Wirtschaft
deutlich eingebrochen, und es gibt überhaupt keinen
Grund für die Annahme, dass in diesem Jahr Südostasien
oder die krisengeschüttelten USA oder welche Region
der Welt auch immer das ausgleichen kann, was uns an
Nachfrage verloren geht aufgrund der tiefen Krise, die
wir hier in Europa haben.
({1})
Es gibt eine aktuelle Studie von Ernst & Young, nach
der die Hälfte aller mittelständischen Unternehmen in
Deutschland mit sinkenden Umsätzen rechnet. Man
sollte vielleicht nicht immer nur auf die DAX-Konzerne
schauen. Die Unternehmen planen eher Entlassungen als
Neueinstellungen. Nach dieser Studie kämpft in
Deutschland jeder zehnte Mittelständler ums Überleben,
und das obwohl - oder vielleicht gerade weil - die
Löhne sich in Deutschland seit über zwölf Jahren hundsmiserabel entwickelt haben. Sie müssten um 12 Prozent
höher liegen, wenn sie wenigstens im Gleichgang mit
der Produktivität gestiegen wären.
({2})
Zur Wahrheit gehört natürlich auch - darauf hat die
OECD vor kurzem hingewiesen -, dass viele große
Unternehmen und Konzerne auch hier in Europa inzwischen Steuerquoten von etwa 5 Prozent haben. Zur
Realität gehört, dass sich in den Steueroasen weltweit
privates Vermögen im Volumen von über 32 Billionen
Dollar nahezu steuerfrei vermehrt. Dagegen tut die
Bundesregierung nichts; trotz allen Geredes über Konsolidierung und Schuldenbremsen ist das offenbar kein
Problem.
Das Problem ist allerdings, dass ganz Europa immer
wieder sogenannte Sparhaushalte und Kürzungen diktiert werden unter dem Vorwand, dass man so die Staatsschulden reduziert. Komischerweise sinken die Staatsschulden in Europa aber nicht, in keinem einzigen Jahr.
Sie sind immer wieder gestiegen. Der Chefökonom
des Internationalen Währungsfonds, den Sie immerhin
selbst ins Boot geholt haben, hat im Oktober 2012 darauf
hingewiesen, dass in den Krisenländern die Wirtschaftsleistung nicht zuletzt gerade wegen dieser Kürzungsdiktate immer weiter eingebrochen ist. Insoweit denke ich,
es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn die Mitglieder
dieser Bundesregierung etwas weniger Zeit damit
verbringen würden, diverse Investmentbanker von der
Deutschen Bank und Goldman Sachs zu treffen und etwas mehr Zeit damit, sich von Fachleuten bzw. Ökonomen beraten zu lassen, die ein bisschen was von Makroökonomie verstehen.
({3})
Ich bin wirklich gespannt, mit welchen Verrenkungen
Sie demnächst im Bundestag erklären werden, dass man
selbstverständlich auch die zypriotischen Banken mit
deutschem Steuergeld retten muss; und im Grunde ist
das natürlich auch nur konsequent. Wenn uns griechische Oligarchen Milliarden wert sind, warum dann nicht
auch russische Oligarchen,
({4})
zumal auf zypriotischen Konten - ähnlich wie auf irischen natürlich - auch genug Geld aus Steuerflucht und
anderen kriminellen Geschäften lagert, und das muss
selbstverständlich unbedingt gesichert werden, sonst
bricht ja die Welt zusammen, zumindest die Welt dieser
Bundesregierung.
({5})
Sie sind ja auch alle ganz stolz darauf,
({6})
dass sich die Finanzmärkte in Europa seit einiger Zeit
beruhigt haben und sich nicht nur die Krisenstaaten, sondern sogar die größten Pleitebanken plötzlich wieder
refinanzieren können. Aber was der Grund dafür ist, das
sagen Sie den Menschen nicht. Der Grund dafür ist nämlich nicht, dass die Probleme kleiner geworden sind. Das
Volumen fauler Kredite in den Bankbilanzen wächst. Es
soll nach Prognosen in diesem Jahr bis zu 1 Billion Euro
faule Kredite in den Bankbilanzen europäischer Banken
geben. Wenn spanische Banken alle Verluste konsequent
abschreiben würden, dann hätten sie wahrscheinlich keinen müden Euro Eigenkapital mehr, und dann würde es
auch für deutsche Banken eng, die nämlich in Spanien
50 Milliarden Euro im Feuer haben.
Warum also bekommen Pleitebanken plötzlich wieder
Geld? Warum wird auf einmal wieder ohne großes Misstrauen gezockt? Der Grund ist ganz einfach: weil ein riesiges Großbankensubventionsprogramm in Vorbereitung
ist. Die Finanzmärkte sind beruhigt, weil den Banken
und Hedgefonds zugesagt wurde, dass sie auch in Zukunft keine Angst vor Verlusten haben müssten, sondern
dafür der Rettungsschirm ESM einspringen werde.
Das ist doch die Quintessenz des von der Europäischen Kommission im letzten Herbst vorgelegten „Fahrplans“ für eine Bankenunion. Mindestens bis 2018 soll
die Haftung privater Gläubiger komplett ausgeschlossen
werden. Ja, und wenn die privaten Gläubiger nicht haften, wer dann? Dann soll es doch wieder der Steuerzahler sein, an dem der ganze Finanzmüll hängenbleibt. Dabei geht es um Riesensummen, im Vergleich dazu ist die
ganze bisherige sogenannte Euro-Rettung nichts als eine
laue Aufwärmübung.
Aber gab es irgendeinen massiven Protest der Bundesregierung und ihrer angeblich eisernen Sparkanzlerin? Ich habe nichts gehört. Ja, Herr Schäuble hat kürzlich vorgeschlagen, das Haftungsvolumen des ESM für
die Banken auf 80 Milliarden Euro zu beschränken.
Aber dass die Banken und Märkte nach dieser Ankündigung noch nicht einmal ein wenig nervös geworden sind,
zeigt eben auch nur, dass sich inzwischen bis zum letzten
Händler herumgesprochen hat, dass rote Linien für diese
Bundesregierung nur dazu da sind, überschritten zu werden. Die Deutsche Bank wird wissen, warum sie es sich
leisten kann, allein für 2012 wieder 3,2 Milliarden Euro
an Boni auszuschütten. Warum auch Eigenkapital bilden, wenn man eine Bundesregierung hat, die eine wunderbare Vollkasko-Verlustversicherung anbietet?
({7})
Wenn die Bundestagswahl erst einmal überstanden
ist, dann ist ohnehin alles egal - so kalkulieren Sie doch.
Deshalb gibt es auch die Giftlisten von der weiteren Erhöhung der Mehrwertsteuer bis zu weiteren Angriffen
auf die Renten, die bekanntermaßen längst in Ihren
Schubladen lagern; und das Schlimme ist, dass man leider damit rechnen muss, dass eine SPD unter Herrn
Steinbrück dies alles auch wieder genauso brav mittra27500
gen wird wie die ganzen Bankenrettungspakete der letzten Jahre.
({8})
Der Chef des Ifo-Institutes, Hans-Werner Sinn, hat Ihnen bekanntlich vorgeworfen, dass Sie mit Ihrer Politik
faktisch eine negative Vermögensteuer eingeführt haben;
und ich finde, er hat recht. Eine positive Vermögensteuer
ist bekanntlich, wenn Millionäre jährlich einen gewissen
Prozentsatz ihres Vermögens an die Allgemeinheit dafür
abgeben müssen, dass ordentliche Schulen, gute Krankenhäuser und eine auskömmliche Rente finanziert werden können.
Eine negative Vermögensteuer bedeutet natürlich das
Gegenteil: Die Allgemeinheit muss auf ordentliche
Schulen, gute Krankenhäuser und auskömmliche Renten
verzichten, weil ein großer Teil der Steuereinnahmen dafür verschwendet wird, Millionäre vor Vermögensverlusten zu bewahren. Das ist die Politik, die Sie machen!
Sie sorgen für eine negative Vermögensteuer. Wir sagen, wir wollen, dass endlich die Millionäre und Multimillionäre und diejenigen, die von den ganzen miserablen Geschäften in den letzten Jahren in Europa profitiert
haben, zahlen.
({9})
Ihre Politik macht Europa kaputt. Ihre Politik macht
die Demokratie in Europa kaputt. Diese Politik wird
weiterhin auf unseren massiven Widerstand stoßen.
({10})
Michael Meister von der CDU/CSU-Fraktion ist der
nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Steinbrück hat ein bemerkenswertes Zitat des amerikanischen Präsidenten Barack Obama
gebracht, nämlich, Schuldenabbau sei kein Plan. Wenn
das hier irgendein Kollege aus dem Deutschen Bundestag gesagt hätte, dann hätte ich unterstellt: Er weiß nicht
ganz, was er sagt. Bei einem ehemaligen deutschen Finanzminister darf man das, glaube ich, aber schon annehmen.
Barack Obama wird nach eigenen Planungen und
nach Aussage des Budget-Büros des amerikanischen
Kongresses in seiner Amtszeit voraussichtlich so viele
Schulden machen wie alle amerikanischen Präsidenten
innerhalb von 230 Jahren vor ihm. Wenn man vor diesem Hintergrund sagt, Schuldenabbau sei kein Plan,
dann, so muss ich sagen, leidet man unter einer massiven
Wahrnehmungsstörung. Wir erleben in den USA, in Japan, in Europa und weltweit nicht eine Diskussion über
die Frage, wie Schulden abgebaut werden, sondern wir
erleben in einem historisch noch nie dagewesenen Maße,
wie Schulden aufgebaut werden. Herr Steinbrück, das,
was Sie vertreten, ist wider besseres Wissen unverantwortlich für die Nachhaltigkeit und für künftige Generationen.
({0})
Es geht ums Maßhalten und nicht darum, dass das Land
oder Europa in unmäßiger Weise kaputtgespart würden.
({1})
Ich will einen zweiten Präsidenten zitieren, weil Sie,
Herr Steinbrück, so sehr schön gesagt haben, für die
Wettbewerbsfähigkeit in Europa müssten die Volkswirtschaften mehr zusammenrücken. Ja, wenn wir unsere
Währung dauerhaft gemeinsam bewahren wollen, dann
müssen sich die Leistungskräfte der Volkswirtschaften
annähern. Abraham Lincoln hat aber gefragt: Kann ich
wirklich den Schwachen dadurch stark machen, dass ich
den Starken schwäche?
({2})
- Sie haben hier vorgeschlagen, die Leistungsfähigkeit
der deutschen Volkswirtschaft zu reduzieren, um das
Problem zu lösen.
({3})
Nein, meine Antwort ist: Wir brauchen eine Lösung, mit
der wir alle Volkswirtschaften in Europa stärker machen,
damit sie auch global wettbewerbsfähig sind.
({4})
Wenn wir unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat
behalten wollen, dann werden wir das nur über die Wettbewerbsfähigkeit in der Weltwirtschaft schaffen. Deshalb brauchen wir ein Programm zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.
Sie haben die Lissabon-Strategie angesprochen, die
vom Bundeskanzler der Sozialdemokraten, Gerhard
Schröder, ausgehandelt wurde. In diesem Papier hat man
sich tolle Ziele gesetzt. Anschließend hat man aber vollkommen darauf verzichtet, zu überprüfen, ob die Ziele
von den Einzelnen auch eingehalten werden.
Ich sage einmal: Hier haben wir etwas anderes. Die
amtierende Bundeskanzlerin hat sich zwar für etwas
Ähnliches eingesetzt, nämlich den Euro-Plus-Pakt, aber
darin werden nicht nur Ziele zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit verabredet, sondern man hat auch ein enges zeitliches Monitoringsystem festgelegt, durch das
genau geprüft wird, ob das, was man vereinbart hat, auch
gemacht wird. Das ist der Unterschied zwischen der
Politik von Sozialdemokraten und der Politik von Christdemokraten: Wir nehmen sie verantwortlich wahr, und
Sie betreiben eine Laisser-faire-Politik.
({5})
Damit sind wir am entscheidenden Punkt. Ihre Aussage, Herr Steinbrück, war: Mehr Geld und mehr UmDr. Michael Meister
verteilung in Europa lösen die Probleme in Europa.
Nein, nicht mehr Geld und mehr Umverteilung, sondern
die Beachtung der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft in Europa lösen unsere Probleme. Umverteilung
gehört eben nicht zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Wir nehmen Solidarität wahr. Deutschland
nimmt seine Solidarität in dem neuen Finanzrahmen
wahr. Deutschland nimmt seine Solidarität bei der Stabilisierung des Euro wahr. Aber zur sozialen Marktwirtschaft, Herr Steinbrück, gehört auch Eigenverantwortung. Da reicht es nicht, wenn man durch Europa reist
und allen verspricht: Wir werden Euro-Bonds einführen,
die Haftung vergemeinschaften und gemeinsam für die
Spareinlagen haften. Das hat nichts mit Eigenverantwortung zu tun, das ist Verantwortungslosigkeit. Wir brauchen Eigenverantwortung der einzelnen Länder. Jeder
muss an der Stelle, wo er handelt, dafür auch die Verantwortung tragen, meine Damen und Herren.
({6})
Deshalb wird es mit uns keine gemeinsame Haftung für
Spareinlagen geben.
({7})
- Was den Restrukturierungsfonds angeht, lieber Herr
Steinbrück, sind wir nicht der Meinung, dass wir ihn vergemeinschaften sollten. Wir kämpfen darum, dass er
kommt und dass zunächst einmal - das ist das Wichtigste - die Eigentümer von Finanzinstituten Verantwortung tragen. Wir treten dafür ein, dass es im Rahmen des
Restrukturierungsfonds eine Umlage gibt und der jeweilige Sektor beteiligt wird. Das sollten wir aber national
machen. Wenn dann dieser Sektor überfordert ist, soll
der jeweilige Staat eintreten. Erst in der letzten Stufe soll
- wenn ein einzelner Staat überfordert ist - die Solidarität greifen.
Sie fordern, dass all diese Verantwortungsstufen nicht
stattfinden und die Probleme grundsätzlich in Verantwortungslosigkeit von der Allgemeinheit gelöst bzw.
vergemeinschaftet werden. Diesen Weg wollen wir
nicht. Deshalb geht es nicht um die Frage, ob wir einen
Restrukturierungsfonds haben wollen oder nicht, sondern um die Frage, ob wir Verantwortung wahrnehmen
oder verantwortungslos handeln, meine Damen und Herren.
({8})
Wenn man schon - das ist wunderbar - über Strukturreformen in Europa spricht - Sie haben die Lissabon-Strategie angesprochen -, darf man nicht nur anderen empfehlen, Strukturreformen durchzuführen, sondern muss
bei sich selbst beginnen.
Die Sozialdemokraten feiern dieses Jahr ihren
150. Geburtstag.
({9})
Das wird überall groß thematisiert. Ich finde es jedoch
bemerkenswert, dass Sie den 10. Geburtstag der Agenda
2010 nicht feiern. Der steht nämlich in wenigen Tagen
an. Wenn wir in Europa über Strukturreformen reden,
könnten wir doch auch den 10. Geburtstag der Agenda
2010 groß feiern. Wer wäre besser als der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten dazu berufen, solche Feierlichkeiten anzusetzen und groß durchzuführen? Denn
damit haben wir es geschafft, Deutschland wettbewerbsfähiger zu machen, Jugendarbeitslosigkeit zu beseitigen,
Langzeitarbeitslose in Beschäftigung zu bringen und
endlich wieder Wachstum in Deutschland auf die Beine
zu stellen. Meine Damen und Herren, wäre das nicht ein
Grund, gemeinsam zu feiern und zu sagen: Das war erfolgreiche gemeinsame Politik?
({10})
Sie haben von „lavieren“ gesprochen. Ich habe ein
wenig den Eindruck, dass der Kanzlerkandidat um folgende Fragen herumlaviert: Soll er jetzt stolz sein? Soll
er sich eher kritisch zeigen? Soll er vielleicht sogar vorschlagen, den einen oder anderen Reformschritt, der gemacht worden ist, wieder zurückzugehen? Ich nenne in
dem Zusammenhang das Stichwort „Renteneintrittsalter“.
Es wäre nicht nur besser, festzustellen, dass das die
richtige Richtung war, sondern auch richtig, klar und
deutlich zu sagen: In der Zukunft brauchen wir in
Deutschland mehr Strukturreformen. Wir werden sie anpacken, und dann sollte ein Wettbewerb bzw. Wettlauf in
Bezug auf die Frage beginnen, was die richtigen Strukturreformen in unserem Lande sind.
Weil Sie vorhin dazwischengerufen haben, will ich
Sie darauf hinweisen, dass Sie in der letzten Woche einen Koalitionsvertrag in Niedersachsen abgeschlossen
haben. Dort haben Sie zu dem Thema Folgendes vorgeschlagen: Erstens. Wir machen mehr Schulden. Zweitens. Wir erhöhen die Steuern und Belastungen für die
Menschen. - Ich weiß nicht, ob das die Strukturreformen
sind, die wir brauchen, ob das in die richtige Richtung
weist.
({11})
Meine Damen und Herren, wir müssen dieses Europa
auch wollen, und das heißt, dass wir integrieren müssen.
Bei dem Gipfel hat mir sehr gut gefallen, dass es eine
enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich gab und dass es gelungen ist, trotz schwieriger Fragen und unterschiedlicher Interessen die beiden großen
Länder zusammenzuhalten. Außerdem hat mir sehr gut
gefallen, dass Großbritannien ausdrücklich integriert
und nicht an den Rand gestellt worden ist. Wir werden,
wenn wir Europa erfolgreich gestalten wollen, Großbritannien innerhalb der Europäischen Union mit benötigen.
({12})
Deshalb wundere ich mich sehr, mit welcher Rhetorik
man hier - zum Teil betrifft das auch Sozialdemokraten
im Europäischen Parlament - mit Großbritannien und
der britischen Regierung umgeht.
Natürlich kann man eine „Wünsch-dir-was“-Politik
betreiben. Wenn man beliebig viel Geld hat, kann man
sich wünschen, für alle Ziele beliebig viel auszugeben.
Es ist im Leben aber nicht so, dass wir unbegrenzte Res27502
sourcen haben und sagen können: Alle Wünsche dieser
Welt werden erfüllt. Vielmehr ist mein Verständnis von
Politik: Wir haben begrenzte Ressourcen. Wir haben begrenzte Mengen von Geld. Wir müssen Prioritäten setzen.
Da fängt es an. Herr Steinbrück, Sie haben eine Rede
in der Art gehalten: Wir müssen Prioritätensetzung vermeiden. Wir möchten lieber mehr Geld ausgeben. - Wir
sind der Meinung: Wir haben die Weichen von der Vergangenheit auf die Zukunft gestellt. Wir bauen das um,
was bisher war, um in die Zukunft zu investieren. Wir
führen Europa zusammen, und zwar über die Verbindungen von wichtigen Infrastrukturmaßnahmen: Das wird
gestärkt. Wir fördern Forschung und Technologie: Das
wird gestärkt. Wir fördern die Bildung in Europa: Das
wird gestärkt. Das heißt, dort, wo Strukturen für die Zukunft aufgebaut werden, setzen wir Akzente, und es gibt
mehr Geld, ohne dass der Finanzrahmen insgesamt ausgeweitet wird. Das ist die eigentliche Leistung, die an
dieser Stelle zu würdigen ist.
({13})
Ich komme zu dem wichtigen Thema „junge Menschen in Europa“. Wie wollen wir Europa gestalten,
wenn wir die Jugend nicht mitnehmen? Beim Thema
„junge Menschen“ ist dem Kollegen Steinbrück eingefallen, darauf hinzuweisen, man bräuchte mehr Geld. Ja,
in diesem Finanzrahmen gibt es mehr Geld. Aber ist das
Problem wirklich mit mehr Geld gelöst? Ich glaube, wir
brauchen die richtigen Strukturen. Auch dafür haben wir
einen Vorschlag.
({14})
Ich glaube, wir haben richtige Strukturen. Wir sollten
mit unseren Freunden in Europa darüber reden, ob wir
mit diesen richtigen Strukturen Europa voranbringen
und damit auch mehr jungen Menschen eine Perspektive
eröffnen können.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank, Frau Bundeskanzlerin, für das Ergebnis. Ich hoffe, dass auch bei den Kollegen im Europäischen Parlament die Klugheit und Einsicht vorhanden sind, die Flexibilität des Finanzrahmens
und die Frage der Evaluierung zu erkennen und dem zuzustimmen, sodass wir Europa auf sicherer Grundlage in
die Zukunft führen können.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja
gute Übung hier im Haus, dass über die Ergebnisse des
Europäischen Rates berichtet wird. Es ist natürlich eine
völlig abwegige Vermutung, dass die sehr späte und
gleichzeitig hektische Ankündigung dieser Regierungserklärung etwas damit zu tun haben könnte, dass morgen
der Bundespräsident eine europapolitische Grundsatzrede halten möchte.
Aber Sie werden sich an einer Sache messen lassen
müssen, Frau Merkel, nämlich an der Mahnung Joachim
Gaucks, dass die Kanzlerin die Erste ist, die Europa erklären muss. Ich kann Ihnen leider nach der heutigen
Rede nur sagen: Das ist Ihnen erneut nicht gelungen.
({0})
Sie haben nicht einmal erklären können, warum Sie Europa etwas anderes aufzwingen, als Sie selber praktizieren.
Wie war das, als 2008 die Finanzkrise Deutschland
heimgesucht hat? Da haben Sie gegen die Krise investiert: in sinnvolle Dinge wie Kurzarbeitergeld, energetische Gebäudesanierung; in weniger sinnvolle Dinge wie
Abwrackprämie oder Commerzbank-Einlagen. Sie haben sich dafür zum Beispiel im Jahre 2008 vom Bundestag eine Kreditermächtigung in Höhe von 80 Milliarden
Euro geben lassen. Zur Bekämpfung der Krise haben Sie
massiv auf kreditfinanzierte Investitionen gesetzt.
Lieber Herr Brüderle, von wegen Schuldenabbau.
Unter dieser Kanzlerin ist die Zahl der Staatsschulden in
Deutschland um 500 Milliarden Euro gewachsen und die
Schuldenquote von 63 auf 84 Prozent gestiegen.
({1})
Das ist Ihre Politik. Jetzt tun Sie nicht so, als seien Sie
das nicht gewesen. Sie waren das.
({2})
Aber die Frage ist doch: Was tun Sie in einer Situation, in der in Europa Banken zusammenkrachen, in der
in Spanien massenhaft Häuser geräumt und Menschen
um ihre Wohnung gebracht werden, in der die Hälfte der
jungen Menschen arbeitslos ist und wir eine Entwicklung erleben, die nicht nur dieses Gemeinwesen, sondern
die Idee eines gemeinsamen Europa wirklich in Gefahr
zu bringen beginnt?
Ich will zitieren, was Sie in dieser Situation machen.
Mit rund 960 Milliarden Euro - Zitat der Kanzlerin -:
wird der EU-Finanzrahmen der erste Rahmen sein,
der keinen Aufwuchs gegenüber der letzten Finanzperiode verzeichnet …
Das ist ein Euphemismus, und Euphemismus ist ein
Fremdwort für eine politische Lüge. Dieser Finanzrahmen ist der erste, der gekürzt wird, und zwar um
3,7 Prozent.
({3})
Das heißt, Sie kürzen in einer ökonomischen Krise den
EU-Haushalt. Das, liebe Frau Bundeskanzlerin, ist nicht
mehr Europa; das ist weniger Europa, und das ist unverantwortlich.
({4})
Wer in der Krise nur konsolidiert und nicht investiert,
der verschärft, verlängert und verteuert die Krise. Sie
wissen, dass das nicht funktioniert. Das hat Ihnen der Internationale Währungsfonds - es ist schon bizarr, dass
Grüne sich jetzt auf den Internationalen Währungsfonds
berufen müssen - dieser Tage ins Stammbuch geschrieben. Für jeden öffentlich eingesparten Euro in den
Krisenländern schrumpft die Wirtschaft um mehr als einen Euro. Sie müssen sich diesen Konsequenzen doch
endlich einmal stellen.
({5})
Nun könnte ich mich noch auf folgende Frage einlassen. Sie haben einen schwierigen Job, und da ist auch
David Cameron mit seinen europafeindlichen Konservativen und einer übrigens verantwortungslosen Opposition in Großbritannien.
({6})
Sie haben sich doch genauso feige verhalten wie
Cameron. Statt für Europa und für mehr Gemeinsamkeit
zu streiten, haben Sie klein beigegeben. Was hätte es
denn gekostet, sich auf den Standpunkt zu stellen, zu
sagen: „Wir kürzen das Volumen nicht, und innerhalb
dieses Volumens regeln wir alles durch andere Prioritäten“? Was wäre passiert, wenn Herr Cameron sich darauf
nicht eingelassen hätte? Gar nichts. Es wäre bei dem
alten Volumen geblieben. Das wäre übrigens Rechtssicherheit gewesen. Das, was Sie produziert haben, ist
ein Dauerkonflikt.
Aber was sind denn das für Prioritäten bei dem, was
Sie auf den Weg gebracht haben? Schlimmer als das
abgesenkte Volumen finde ich die Prioritäten, die Sie mit
diesem Haushalt setzen. Sie subventionieren, statt zu
investieren. Dieses Verhandlungsergebnis ist rückwärtsgewandt; es ist unökologisch und unsozial. Sie bedienen
eine Klientel, und Sie beschneiden Zukunftsinvestitionen.
Nehmen wir eine klassische Klientel der CDU. Die
CDU ist nicht nur in Niedersachsen der parlamentarische
Arm von Wiesenhof und Wesjohann.
({7})
Aber sie sind Ihnen echt was wert. Nicht nur beim Erneuerbare-Energien-Gesetz werden sie begünstigt; nein,
Sie geben für Direktzahlungen an die Agrarindustrie in
diesem mittelfristigen mehrjährigen Finanzrahmen
277 Milliarden Euro aus. Das ist mehr als doppelt so viel
wie für Wachstum und Beschäftigung. Dafür gibt es nur
125 Milliarden Euro - 49 Milliarden Euro weniger, als
die Kommission ursprünglich beantragt hat.
Damit das mit den Agrarsubventionen nicht so auffällt, haben Sie einfach gesagt: Dann kürzen wir doch
bei der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik,
dem ökologischen Landbau, der integrierten ländlichen
Entwicklung und den Agrarumweltmaßnahmen. - In
Deutschland wird hier um 17 Prozent gekürzt.
({8})
Mit anderen Worten: Sie wollen Dioxin im Hühnerei,
Sie wollen Pferd in der Lasagne, Sie wollen Antibiotika
im Hühnerfleisch subventionieren, und dafür kürzen Sie
bei der Agrarwende. Das ist Ihre Politik.
({9})
Oder nehmen wir eine andere Klientel. In Deutschland müssen Sie ja jetzt gegen die Atomindustrie sein. In
Brasilien geben Sie dafür Bürgschaften. Und in Europa?
Da wird der Forschungsetat zugunsten eines Projekts
wie ITER mal eben um 2,7 Milliarden Euro geplündert.
Vor 50 Jahren hieß es: Die Kernfusion wird in 50 Jahren
Strom liefern. - Das wird es in 50 Jahren auch noch
heißen.
Man kann sich stundenlang über ITER streiten. Die
entscheidende Frage ist aber eine andere: Was passiert
eigentlich mit den heute produzierten Kilowattstunden?
Da gibt es einen interessanten CDU-Mann namens
Günther Oettinger. Er hat in den letzten Tagen auch
kluge Dinge zur Türkei-Politik der CDU gesagt.
({10})
- Ich möchte aber nicht sehen, dass Sie auf Knien rutschen, Frau Bundeskanzlerin.
Er hat gesagt, es wäre doch viel besser, wenn die
Griechen mit der Photovoltaik Geld verdienen würden;
dann würden sie aus der Krise kommen. Der Mann hat
recht. Nur, wie kommt der Strom eigentlich aus Griechenland hierher? Er hat dann 50 Milliarden Euro für einen europaweiten Netzausbau vorgeschlagen.
Was macht diese Kanzlerin? Sie kürzt die Aufwendungen für den Netzausbau um 42 Prozent von 50 Milliarden Euro auf 29 Milliarden Euro, und der größte Teil
geht in den Straßenbau. 5 Milliarden bleiben für den
Netzausbau, 5 Milliarden in sieben Jahren!
({11})
Wissen Sie, was Sie mit 5 Milliarden beim Netzausbau
machen können? Damit können Sie gerade fünf
Offshorewindparks anschließen. Mehr ist das nicht. Ein
europäisches Stromnetz kriegen Sie so nicht hin. Mit
diesem Haushalt sabotieren Sie Ihre eigene Energiewende in Europa.
({12})
Dann das mit den 6 Milliarden Euro für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit: Sie wissen genau, dass
Sie das aus anderen Stellen des Europäischen Sozialfonds herausgenommen haben, dass Sie Geld einfach
umgewidmet haben.
Aber: Sie haben uns bei den Verhandlungen zum
Fiskalpakt zugesagt, Sie wollten mit dem mehrjährigen
Finanzrahmen einen grundlegenden Wandel zugunsten
von Beschäftigung, Wachstum, Innovation und Technologie, Ausbildung und Forschung erreichen. Das, was
Sie hier heute vorlegen, was Sie hier verteidigen, das ist
das glatte Gegenteil von dem, was Sie diesem Bundestag
bei der Ratifizierung des Fiskalpaktes zugesagt haben.
({13})
Hören Sie auf, uns über Solidität zu belehren! Wer
eine Neuverschuldung, eine Staatsverschuldung dieses
Ausmaßes zu verantworten hat, sollte in der Hinsicht
vorsichtiger sein.
Wenn Sie sich einmal in diesem Haushalt die Lücke
zwischen den Zahlungsermächtigungen und den Verpflichtungsermächtigungen angucken, dann stellen Sie
fest: Die ist so groß wie nie zuvor. Anders gesagt: Sie
werden Zusagen machen, von denen Sie heute schon
wissen, dass Sie sie in den nächsten sieben Jahren nicht
bedienen können.
({14})
Das ist die Umgehung des Kreditverbots für die Europäische Union. Das ist nicht solide, das ist unsolide; das
sind Taschenspielertricks.
({15})
Ich sage Ihnen eines: Finanzielle Solidität hat auch etwas mit Einnahmen zu tun. Wie kommt es eigentlich,
dass wir bis heute nicht eine Chance haben, das Verschwinden von Geld in Trusts, in Holdings in Zypern
und in Irland in den Griff zu bekommen? Wir sind - das
haben wir vielfach bewiesen - für europäische Solidarität, aber wer diese Solidarität beansprucht, der muss sich
von unsolidarischen Geschäftsmodellen der Geldwäsche
und des Steuerdumpings - in Zypern wie in Irland - verabschieden.
({16})
Meine Damen und Herren, Ihr Haushalt ist die falsche
Antwort auf Europa. Sie werden in einen massiven
Konflikt mit dem Europäischen Parlament kommen. Ich
wünsche Elmar Brok, Markus Ferber und wie die anderen Vertreter der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament heißen mehr Rückgrat, als Sie es gegenüber David Cameron bewiesen haben.
({17})
Ich wünsche uns allen, dass damit aufgehört wird, bei
Verhandlungen in Europa dem nationalen Affen Zucker
zu geben. So erklären Sie Europa nicht, so machen Sie
Europa nicht stärker, und weil das so ist, freue ich mich
jetzt doch auf die Rede des Bundespräsidenten morgen.
({18})
Johannes Singhammer ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es erfolgreich
geschafft, das Geld der deutschen Steuerzahler zusammenzuhalten,
({0})
Europa eine klare Perspektive zu geben und den Landwirten eine finanzielle Basis zu sichern. - Danke schön.
({1})
- Sie haben etwas anderes gesagt, Herr Trittin. Sie haben
ja eine Vorliebe für falsche Zahlen. Immer wieder bringen Sie die Zahl von 63 Prozent Neuverschuldungsquote, die es bei der Regierungsübernahme der Kanzlerin gegeben hätte. Tatsächlich waren es 68 Prozent beim
Amtsantritt der Bundeskanzlerin. Das ist eine „Kleinigkeit“ von 120 Milliarden Euro und macht aber auch nur
ein Drittel des Bundeshaushalts aus. Da muss man nicht
so kleinlich sein, Herr Trittin.
({2})
Jahrzehntelang galt der Erfahrungssatz: Wenn es in
Europa nicht voranging, zahlt Deutschland immer mehr.
Die Bundeskanzlerin hat mit diesem für viele in Europa
bequemen Mechanismus gebrochen. Die EU-Kommission verlangte ursprünglich 1 200 Milliarden Euro für
den Siebenjahresplan. Tatsächlich ausgegeben werden
dürfen nunmehr 908 Milliarden Euro plus Inflationsausgleich. Das ist eine segensreiche Verbesserung; denn
wenn alle Nationalstaaten sparen müssen - von Irland
bis Griechenland einschließlich Deutschland als Vorbild -,
dann kann auch die Europäische Union nicht in die Vollen gehen.
({3})
In Europa sparen heißt - logisch zwingend -, dass
einige Rückflüsse nach Deutschland und in andere
Mitgliedstaaten geringer ausfallen. Trotzdem haben wir
insbesondere die deutsche Landwirtschaft abgesichert.
({4})
Uns ist es ein Anliegen - dazu stehen wir -, dass die
Bauern in Deutschland angesichts ihrer höheren Produktionskosten nicht unter Wettbewerbsverzerrung leiden.
Deshalb brauchen wir weitere Beihilfen.
({5})
Wir wollen es nicht zu einem Bruch kommen lassen. Das
bedeutet, dass es für die Landwirte in Deutschland bis
zum Jahr 2020 durchschnittlich 294 Euro je Hektar geben wird. 2013 werden es durchschnittlich 318 Euro
sein. Das sind zwar 7 Prozent weniger, aber das ist akzeptabel,
({6})
weil es sich hier um eine berechenbare und sichere Basis
handelt und andere Kürzungswünsche, die ursprünglich
erörtert worden sind, damit allesamt beerdigt worden
sind.
Wir als Union sorgen uns um die Existenz der Bäuerinnen und Bauern. Ja, das tun wir. Deshalb sollen über
5 Milliarden Euro Direktzahlungen Jahr für Jahr und
weitere 1,2 Milliarden Euro jedes Jahr für die ländlichen
Räume garantiert werden. Wenn es nach Ihnen gegangen
wäre, Herr Steinbrück - hören Sie einmal zu! -, dann
hätte das anders ausgesehen. Noch im Mai 2012, also
vor neun Monaten - das ist noch nicht allzu lange her -,
hat der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten verlangt,
die Axt an den europäischen Agrarhaushalt zu legen.
Anstatt mehr als 40 Prozent des EU-Haushalts für
Agrarsubventionen auszugeben, solle man hier massiv
kürzen, so sein Rezept in dem offiziellen SPD-Papier
Der Weg aus der Krise - Wachstum und Beschäftigung
in Europa. Weiter wird Herr Steinbrück darin zitiert: Die
gegenwärtige Diskrepanz zwischen dem Agrarhaushalt
und den Zukunftsbereichen sei grotesk. Dann, am 8. Februar dieses Jahres, also vor wenigen Tagen, wird es
Herrn Steinbrück mulmig. Top agrar online meldet unter
der Überschrift „Steinbrück entdeckt die Landwirtschaft“ - Zitat -:
Zu den aktuellen Beratungen über den EU-Finanzhaushalt sagte Steinbrück ganz klar, dass er gegen
Einschnitte im Agrarhaushalt sei.
Es ist richtig, dass die Eierproduktion ein wichtiger
Bestandteil der Landwirtschaft ist. Aber Rumeiern hat
nichts mit guter Landwirtschaftspolitik zu tun.
({7})
Wir setzen auf Verlässlichkeit.
({8})
Das heißt, dass noch über einige Einzelheiten verhandelt
wird und auch verhandelt werden muss. Dabei ist es
wichtig, dass die nachweisbaren Vorleistungen, die die
deutsche Landwirtschaft erbracht hat, nicht durch eine
pauschale Verpflichtung zur Flächenstilllegung, das sogenannte Greening, entwertet werden. Wir wollen Natur
und Landwirtschaft in Einklang halten. Wir sind froh
darüber, dass die ursprünglichen Pläne, 800 000 Hektar
Ackerfläche - das entspricht der Fläche von BadenWürttemberg - stillzulegen, nicht mehr verfolgt werden.
Ich freue mich aus bayerischer Sicht auch darüber, Frau
Bundeskanzlerin, dass die Tür offengehalten worden ist
und dass nationale Beihilfen in den Grenzregionen
gerade in Ostbayern an der Grenze zu Tschechien weiterhin möglich sind. Das ist ganz besonders wichtig für
diejenigen, die einen großen Beitrag für das Zusammenwachsen Europas geleistet haben. Deshalb brauchen wir
hier - ganz wichtig - Übergangsmodalitäten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, manche haben kritisiert, Deutschland möchte Europa angeblich kaputtsparen. Wer uns das vorwirft, der muss zunächst einmal nachweisen, dass Gesundschulden ein erfolgreiches
Konzept ist. Hat sich Griechenland eigentlich gesundgeschuldet?
Tatsache ist eines: Deutschland leistet einen riesigen
Solidaritätsbeitrag für Europa.
({9})
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat vor kurzem eindrucksvolle Zahlen präsentiert. Danach hat Deutschland
von 1991 bis 2011 170 Milliarden Euro mehr an den
Haushalt in Brüssel einbezahlt, als es zurückerhalten hat.
Ich sage Ihnen: Es ist nicht unbillig, sondern gerecht - das
erwarten die Menschen in Deutschland -, dass wir darauf achten, dass mit dem Geld sorgfältig umgegangen
wird und dass alle Verpflichtungen auch punktgenau und
exakt eingehalten werden.
Dabei ist mir eine Verpflichtung wichtig, und dies ist
keine Kleinigkeit: Das ist der Gebrauch der deutschen
Sprache.
({10})
- Da brauchen Sie nicht zu stöhnen.
Sparen in der Brüsseler Bürokratie ist nötig, aber an
der richtigen Stelle. Wenn 22 Übersetzer für Deutsch
entlassen und gleichzeitig 14 neue Stellen für englische
Übersetzer geschaffen werden sollen, dann ist das nicht
richtig, weil wir alle zusammen hier in diesem Parlament
immer wieder beklagt haben, dass die amtlichen Übersetzungen - hier geht es ja um komplexe Sachverhalte nicht rechtzeitig an uns übermittelt worden sind.
({11})
Wir haben gemeinsam im Deutschen Bundestag am
14. Juni vergangenen Jahres beschlossen, darauf hinzuwirken, dass die Übersetzungen rechtzeitig kommen.
Das ist nicht nur eine Frage der notwendigen Sicherheit
in der Beurteilung von hochkomplexen Sachverhalten,
sondern sollte auch dem Respekt gegenüber der größten
Sprachfamilie in Europa mit 100 Millionen Deutsch
sprechenden Menschen geschuldet sein. Keine andere
Sprache wird in Europa von mehr Menschen gesprochen
als die deutsche Sprache. Deshalb soll die EU-Kommission auch wissen: Ohne deutsche Übersetzungen gibt es
keine Entscheidungen des deutschen Parlaments.
Danke schön.
({12})
Michael Roth ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, ich weiß nicht, auf welchem
Kontinent oder auf welchem Stern Sie Verhandlungen
geführt haben. Aber mit der derzeitigen dramatischen
Lage in Europa hat das, was Sie in der Haushaltsplanung
für die nächsten Jahre verabredet haben, rein gar nichts
zu tun.
({0})
Es gibt von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, kein schlüssiges Konzept, wie Wachstum und Beschäftigung in Zeiten einer schwächelnden Konjunktur und einer massiv
steigenden Arbeitslosigkeit endlich wieder auf Touren
kommen sollen.
Für mich gibt es zwei zentrale Fragen, die uns in diesem Hause gemeinsam bewegen sollten: Erstens. Wie
können wir die dramatische soziale Spaltung in Europa
überwinden? Zweitens. Wie kann dieser Haushalt den
größten Verlierern der Krise, nämlich den jungen Leuten
- nicht nur in Griechenland und in Spanien -, neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft geben?
Auf diese beiden Fragen geben Ihre Verhandlungsergebnisse null Antworten. Es ging wie immer um die
nationalen Interessen, und Europa ist wieder einmal als
orientalischer Basar oder als Spielkasino gebrandmarkt
worden. Sie haben das Haushaltsgeschacher auf dem
Rücken der jungen Generation ausgetragen. Herr
Cameron genießt weiterhin großzügig seinen Britenrabatt, und Frau Merkel - das hat Kollege Singhammer
eben noch einmal mit stolzgeschwellter Brust zum Ausdruck gebracht - vertritt in Wahlkampfzeiten die Interessen der Großbauernlobby. Ja, da waren Sie erfolgreich.
Aber das hat mit der Zukunft der Europäischen Union
rein gar nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({1})
Wo sind anstelle von Wahlkampfgeschenken ausreichend Mittel für die Krisenstaaten, für die sozialen
Brennpunkte, für den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit? Die Zahlen kann man gar nicht dramatisch genug beschreiben: 5,7 Millionen Jugendliche in Europa
sind ohne Arbeit, mehr als die Zahl der Einwohnerinnen
und Einwohner von Dänemark. In 13 Mitgliedstaaten
beträgt die Jugendarbeitslosenquote über 25 Prozent, in
Griechenland und in Spanien sind es fast 60 Prozent.
Die Agentur Eurofound hat kürzlich deutlich gemacht, dass uns die Jugendarbeitslosigkeit 2 Milliarden
Euro kostet - in der Woche. Was setzen Sie dagegen?
6 Milliarden Euro, die Sie im sozialen Bereich an anderen Stellen gekürzt haben. Diese 6 Milliarden Euro sind
Ihre Antwort - 6 Milliarden Euro für sieben Jahre. Das
sind 0,6 Prozent des Gesamthaushalts und für jeden arbeitslosen Jugendlichen gerade einmal 150 Euro im Jahr.
150 Euro, das ist eine Monatskarte für den ÖPNV. Damit
wollen Sie eine Antwort auf die dramatische Massenjugendarbeitslosigkeit geben? Sie sollten sich für dieses
Verhandlungsergebnis schämen, liebe Frau Bundeskanzlerin!
({2})
Dieser Haushaltsplan ist aber auch ein Wortbruch gegenüber dem Deutschen Bundestag.
({3})
Sie haben als Bundesregierung auf Drängen von SPD
und Grünen mit dem Bundestag einen Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung verabredet.
({4})
Dieser Pakt stellt klar - hier haben Sie eine Zusage gegeben, meine Damen und Herren von der Bundesregierung -:
Keine Kürzungen bei den Struktur-, Kohäsions- und Sozialfonds. Wie sieht die Realität aus? Minus 30 Milliarden Euro gegenüber der derzeitigen Haushaltsplanung.
Das ist ein Wortbruch, den wir Ihnen nicht vergessen
werden, Frau Bundeskanzlerin.
({5})
Sie betreiben eine Politik gegen die Parlamente: eine
Politik gegen das Europäische Parlament und eine Politik gegen diesen Deutschen Bundestag. Insofern ist dies
auch eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit.
Wenn Vereinbarungen mit der Opposition nicht länger
eingehalten werden, dann darf sich die Bundesregierung
nicht wundern, wenn meine Fraktion bei künftigen europapolitischen Entscheidungen besonders kritisch abwägen wird, ob sie den Zusagen der Bundesregierung
vertrauen kann. Derzeit besteht dazu keinerlei Anlass.
Deshalb ist dieser Kompromiss ein Zeichen Ihrer
Schwäche; er ist eine Beleidigung für den Bundestag;
({6})
er ist eine Beleidigung für die arbeitslosen Jugendlichen,
aber kein Zeichen für die Zukunftsfähigkeit Europas.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Bettina Kudla für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020, kurz MFR genannt, konnten
nach einem rund eineinhalbjährigen Beratungsvorlauf
zum Abschluss gebracht werden. Das ist ein großer Erfolg für die Bundesregierung und ein wichtiger Beitrag
zur Weiterentwicklung der europäischen Einigung. Rund
960 Milliarden Euro können in den nächsten sieben Jahren in den 27 EU-Staaten für viele gute und wichtige Investitionsprojekte, aber auch für viele kulturelle und soziale Projekte ausgegeben werden. Der Bundeskanzlerin
ist es gelungen, durch Abschluss der komplexen Verhandlungen rechtzeitig vor Beginn der neuen Finanzperiode
Planungssicherheit für die europäischen Regionen zu
schaffen. Dies ist für die öffentlichen Projekte wichtig,
ganz besonders für die europäischen.
Die Ergebnisse des Europäischen Rates zeigen eine
klare Linie der Bundesregierung, die sich auch durch die
einzelnen Ressorts zieht. Diese Linie der Bundesregierung ist: die richtige Balance zwischen der Bereitstellung umfangreicher Investitionsmittel und zugleich einer
Begrenzung der Ausgaben des Gesamthaushaltes halten.
({0})
Dies wurde mit dem MFR erreicht.
Die Bundesregierung sorgt für Nachhaltigkeit.
„Nachhaltig“ bedeutet hier, dass die Regionen in Europa, die bisher eine Förderung erhalten haben und nun
über die 75-Prozent-Schwelle des durchschnittlichen
BIP der EU gelangt sind - ab 75 Prozent ist man normalerweise keine Förderregion mehr -, in ihrer Entwicklung nicht wieder zurückfallen. Das ist gerade für Regionen mit schrumpfender Bevölkerung wichtig. In
Deutschland sind besonders die neuen Bundesländer betroffen. Die Bundesregierung stärkt die neuen Bundesländer. Die bisherigen Förderregionen werden weiterhin
64 Prozent ihrer Förderung erhalten. Aber auch strukturschwache Grenzregionen, wie zum Beispiel an der
Grenze von Bayern zu Tschechien, werden gefördert.
Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
vom November 2011 - schließlich dauerten die Verhandlungen fast eineinhalb Jahre ({1})
forderte ein sogenanntes Sicherheitsnetz für die neuen
Bundesländer. Diese Forderung konnte erfolgreich umgesetzt werden. Aber auch aus den anderen wichtigen
Forderungen dieses Antrages sind nun konkrete Ergebnisse geworden.
({2})
Die Eigenerzeugung von Lebensmitteln in ausreichender Menge ist ein wichtiger Faktor der europäischen
Stabilität.
({3})
Die Landwirtschaft wird weiterhin Mittel in annähernd
gleicher Höhe erhalten.
({4})
Stabilität und Kontinuität für die Bauern in Europa sind
gegeben.
({5})
Auch die Kohäsionsregionen in Europa können sich
freuen. Niedrige Kofinanzierungssätze bestehen weiterhin. Die wirtschaftliche Angleichung in Europa kann
also weiter voranschreiten.
({6})
Und um Investitionen in sogenannten Programmländern
zu fördern - gemeint sind die Staaten, die sich unter dem
europäischen Rettungsschirm befinden -, werden diese
Länder besondere Kofinanzierungssätze erhalten.
Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist ein
weiterer Schwerpunkt des MFR.
Der Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung steigt von 9 auf immerhin 13 Prozent am Gesamthaushalt.
({7})
Zusammengefasst: Der MFR für die Jahre 2014 bis
2020 steht. Der MFR ist ausgewogen und zukunftsweisend.
({8})
Der Ball liegt nun beim Europäischen Parlament. Das
Europäische Parlament muss dem MFR zustimmen, damit dieser in Kraft treten kann. Das Europäische Parlament hat Bedenken geäußert.
({9})
Diese Bedenken sind meines Erachtens nicht nachvollziehbar. Die Kritik des Präsidenten des Europäischen
Parlaments und auch die Kritik gerade eben von Jürgen
Trittin betreffen die Verpflichtungsermächtigen. Die Kritik
lautet, dass die geplanten Ausgaben von 960 Milliarden
Euro nicht durch entsprechende Einnahmen vollständig
gedeckt sind. Es klafft eine Lücke von 52 Milliarden
Euro.
({10})
Aber: Was bedeuten Verpflichtungsermächtigungen?
Verpflichtungsermächtigungen sind in öffentlichen Haushalten üblich und notwendig. Sie dienen dazu, dass die
öffentliche Hand kontinuierlich investieren kann. Die
Lücke bei den Verpflichtungsermächtigungen beträgt,
bezogen auf das Volumen, unter 1 Prozent jährlich. Dies
ist durchaus vertretbar und sichert eine kontinuierliche
Investitionstätigkeit. Mit dieser Kritik wird demnach ein
Popanz aufgebaut.
({11})
Wir lehnen weiterhin die Einführung eines neuen Eigenmittelsystems ab. Keine neuen Belastungen für die
Bürger Europas durch neue Steuern!
Ich kann nur an das EP appellieren, die Beschlussfassung zum MFR nicht länger hinauszuzögern. Dies verursacht Verunsicherung und weitere Kosten, und das kann
sich die EU nicht leisten.
({12})
Frau Kollegin, Sie denken an die Zeit?
Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank für das gute Ergebnis der Verhandlungen beim Europäischen Rat. Dem
Außenminister und seiner Mannschaft, insbesondere
Staatsminister Link, gilt ebenfalls mein herzlicher Dank
({0})
für die intensive und erfolgreiche Tätigkeit im Zusammenhang mit der Aufstellung des mittelfristigen Finanzrahmens der EU.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Schließlich haben wir auch im Europaausschuss unzählige Gesprächsrunden zu diesem Thema absolviert.
({0})
Herr Kollege Dehm, ich vermute, dass Ihre Selbstbewerbung als zeitweiliger Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion registriert worden ist.
({0})
Ich würde ihr trotzdem nur begrenzte Erfolgsaussichten
einräumen.
Jetzt hat jedenfalls der Kollege Alexander Ulrich für
die Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Europäischen Union herrscht Rekordarbeitslosigkeit,
die Armut wächst, wir haben kaum Wirtschaftswachstum, und die Kanzlerin fährt nach Europa, diktiert einen
Sparhaushalt und will sich dafür auch noch im Bundestag feiern lassen. Es ist gemessen an dem, was in Europa
passiert, eigentlich eine Katastrophe, dass der EU-Haushalt erstmals in der Geschichte reduziert wird.
({0})
Man kann nur hoffen, dass das Europaparlament den
Haushalt ablehnt; die Linke im Europaparlament wird
das auf jeden Fall tun.
({1})
Man kann sich nicht aus einer Krise heraussparen.
Das haben wir in Deutschland selbst vorgemacht, als wir
viele Milliarden Euro in die Hand genommen haben, um
gegen die Krise anzukämpfen. Wir sehen an den Negativbeispielen europäischer Länder wie Griechenland
oder Portugal, dass man über Sparhaushalte nicht mehr
Wachstum, weniger Arbeitslosigkeit und weniger Schulden erreicht hat, sondern das Gegenteil. Die Situation in
Griechenland hat sich deutlich verschärft. Das Signal,
das von diesem mehrjährigen Finanzrahmen ausgeht, ist:
Wir wollen das griechische Modell jetzt überall umsetzen. - Das heißt, Europa wird noch stärker in die Krise
gewirtschaftet.
Die EU hat den Friedensnobelpreis bekommen; aber
der soziale Frieden steht auf der Kippe. Wenn die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin hier nicht gestoppt werden, dann wird die europäische Idee scheitern.
({2})
Dramatisch ist, dass in dieser Situation auch noch bei
den Struktur- und Kohäsionsfonds gekürzt wird; denn
gerade darüber könnte man den betroffenen Regionen
helfen, gerade darüber könnte man in den strukturschwachen Ländern tatsächlich Wachstum organisieren. Frau
Bundeskanzlerin, warum stellen Sie sich nicht hierhin
und sagen: „Jawohl, ich habe in Brüssel etwas entschieden, das auch auf Kosten der ostdeutschen Länder
geht“? Die Mittel für die ostdeutschen Länder werden
massiv, um mehrere Milliarden, zusammengestrichen.
Sie haben Ostdeutschland in Brüssel verraten.
({3})
Deutschland ist nicht Lösung, sondern Mitverursacher des Problems. Die riesigen Außenhandelsüberschüsse und das deutsche Lohndumping sind Mitverursacher der Euro-Krise. Herr Brüderle, Sie haben sich
hier vielleicht für die heute-show morgen Abend beworben.
({4})
Aber bei dem, was Sie hier erzählen, nämlich man könne
Außenhandelsüberschüsse abbauen, indem man VW
oder BMW verbietet, Autos zu verkaufen, schaut jeder
Volkswirt beschämt auf den Boden. Solch einen Unsinn
kann man wirklich nur von der FDP erwarten.
({5})
Man kann auch Außenhandelsüberschüsse abbauen, indem man in Deutschland endlich für vernünftige Löhne,
einen Mindestlohn von 10 Euro, einen Hartz-IV-Regelsatz von 500 Euro und kräftige Lohnerhöhungen in den
Tarifverträgen sorgt. Das wäre in Deutschland dringend
notwendig.
({6})
Herr Steinbrück - er ist leider nicht mehr da; vielleicht hält er wieder irgendwo einen Vortrag ({7})
hat sich hier ebenfalls für eine bessere Lohnpolitik ausgesprochen. Herr Gabriel, vielleicht können Sie das
Herrn Bullerjahn sagen, der Verhandlungsführer für die
Länder in den Tarifverhandlungen des öffentlichen
Dienstes ist: Wenn die SPD glaubwürdig für bessere
Löhne eintreten will, dann muss Herr Bullerjahn aufhöAlexander Ulrich
ren, im öffentlichen Dienst die Flanken anzugreifen. Wer
Tariferhöhungen unterhalb der Inflationsrate will, der tut
nichts für eine bessere Lohnentwicklung. Die SPD sollte
deshalb auch in den Ländern Flagge zeigen für eine bessere Lohnpolitik und hier keine Sonntagsreden halten.
({8})
Ich komme zum Schluss mit einem Aufregerthema.
Die Menschen sind beunruhigt, weil die Europäische
Kommission den Wassermarkt privatisieren will. Über
1 Million Menschen haben jetzt das Bürgerbegehren
„Wasser ist Menschenrecht!“ unterschrieben. Das ist
eine tolle Idee. Wenn wir die Menschen wieder von Europa begeistern wollen, muss die Privatisierung gestoppt
werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie
die EU-Kommission stoppt. Wasser darf nicht privatisiert werden, Wasser muss in kommunaler, öffentlicher
Hand bleiben.
({9})
Das ist ein Menschenrecht. Die Linke unterstützt dieses
Bürgerbegehren.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Alexander Ulrich. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Frau Veronika Bellmann. Bitte schön, Frau Kollegin
Bellmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir besprechen heute die Ergebnisse des EU-Gipfels zum mittelfristigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Fragt
man die Bürger nach Europa, nach Gipfeln, dann antworten sie: Lasst uns in Frieden! Sie winken ab: Krise,
Rettungsschirme, Verschwendung, Streit. - All das
konnten wir mit diesem Gipfel widerlegen. Es gibt nicht
nur ein europäisches Satellitennavigationsprogramm mit
dem Namen Galileo. Es gibt auch einen Spruch von Galileo Galilei, der sagte: „Und sie bewegt sich doch!“ Man könnte hier sagen: Und sie bewegen sich doch;
denn der europäische Gipfel hat gezeigt, dass sich die
Staats- und Regierungschefs bewegt haben, bewegen
mussten, um Einigkeit zu erreichen. Das ist bei 27 europäischen Mitgliedstaaten schon ein europäischer Mehrwert an sich.
Offenbar schärfen Krisenzeiten den Blick für politische Realitäten, für den Dreiklang aus Notwendigkeit,
Machbarkeit und Wünschenswertem. Ein weiterer Dreiklang findet sich im mehrjährigen Finanzrahmen wieder.
Er ist, wie Ratspräsident Van Rompuy sagte, ein Haushalt der Zukunft, der Mäßigung und der Solidarität.
Lassen Sie mich den Bereich Zukunft ein wenig näher
beschreiben. Nicht umsonst ist er direkt der Teilrubrik 1 a
zugeordnet. Diese Teilrubrik beschreibt als oberste Priorität die Ausgaben für Bildung, Forschung und Innovation. Sie sollen deutlich angehoben werden; denn sie sind
wichtige Wachstumstreiber für Wettbewerbsfähigkeit
und Beschäftigung. In der gleichen Teilrubrik finden sich
nicht ohne Grund die Bereiche Verkehr, Energie und
Kommunikation; denn gezielte Investitionen in diese Infrastrukturen führen zu dem, was Europa jetzt besonders
nötig hat, nämlich Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze,
soziale Sicherheit, kurzum: Vertrauen in die Zukunft.
({0})
Das brauchen die 500 Millionen Menschen, vor allen
Dingen die jugendlichen Europäer, damit sie auf dem
schönen alten Kontinent ein menschenwürdiges Leben
führen können.
({1})
Das ist das A und O für ein wirtschaftlich erfolgreiches
Europa und die Teilhabe der Bürger an der Informationsund Wissensgesellschaft.
Dafür wurde im mehrjährigen Finanzrahmen erstmalig die Einführung eines europäischen Finanzierungsinstruments, Connecting Europe Facility genannt, vereinbart. Die Europäische Kommission und der Rat legen
damit erstmals einen konkreten Plan vor, der Investitionen von fast 30 Milliarden Euro vorsieht. Das sind - an
die Adresse von Herrn Steinbrück gerichtet - eben nicht
nur neue Mittel, sondern 50 Prozent mehr Ausgaben in
genau diesen Bereichen. Davon sollen Projekte finanziert werden, mit denen die Lücken bei den europäischen
Verkehrs- und Energietrassen sowie den digitalen Netzen geschlossen werden können.
Ich zitiere selten den Präsidenten der Europäischen
Kommission Barroso, aber hier brachte er es auf den
Punkt:
Connecting Europe und die Projektanleiheninitiative machen deutlich, welchen Mehrwert Europa
bewirken kann … Wir beseitigen Lücken in Europas Infrastrukturnetzen … Mit diesen Investitionen
schaffen wir Wachstum und Arbeitsplätze und vereinfachen gleichzeitig die Arbeits- und Reisebedingungen für Millionen europäischer Bürger…
({2})
Die Summe von 30 Milliarden Euro soll nach oben
offen sein. Was heißt das? Das Ziel dieser Fazilität ist es,
Projekte finanziell zu unterstützen, vor allem aber auch,
andere private und öffentliche Investitionen anzureizen,
zu mobilisieren; denn wir wissen, dass in diesen Bereichen ein Vielfaches der Gelder gebraucht wird, die jetzt
zur Verfügung stehen. Insofern ist die Finanzierungsfazilität eine Art Investitionsanreizprogramm.
Klar ist, dass damit die Mitgliedstaaten weder ihrer
Planungs- noch ihrer Finanzierungshoheit enthoben worden sind. Klar sollte aber auch sein, dass das Management
dieser Fördermittel und Anleihen durch das vorhandene
Personal der bereits bestehenden Exekutivagenturen und
der Europäischen Investitionsbank bewältigt werden
muss. Schließlich sollen die Mittel den Investitionspro27510
grammen zugute kommen und nicht als Verwaltungskosten verbucht werden.
({3})
Der Ratsbeschluss zum mehrjährigen Finanzrahmen gibt
den europäischen Parlamenten insofern genügend Spielraum, zum Beispiel für Ausgabenbegrenzungen.
Ich hoffe sehr, dass das Europäische Parlament wegkommt vom trotzigen Ablehnen dieses Vorschlags. Ein
gutes Programm zeichnet sich nicht durch Fortschreibung des Status quo oder bloßes Draufsatteln aus, sondern durch eine intelligente Aus- und Aufgabenstruktur.
Das Europäische Parlament sollte sich genauso kompromissfähig zeigen wie der Europäische Rat und die Europäische Kommission. Es sollte sich vernünftig auf den
Dreiklang verständigen: Zukunft, Mäßigung und Solidarität. Dann könnte man wieder mit Galileo Galilei sagen:
Und sie bewegen sich doch.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich
Kiesewetter.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen
ein Europa des Zusammenhalts und ein Europa der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb an dieser
Stelle noch einmal ein ganz herzlicher Dank an die Bundesregierung unter Führung unserer Kanzlerin.
({0})
Was sie in den harten Verhandlungen Anfang Februar erreicht hat, ist beispielhaft für das, was man tun muss, um
Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.
({1})
Wir stehen in Europa vor erheblichen Herausforderungen. Ich möchte drei nennen. Die erste Herausforderung ist: Wie erhalten wir wirtschaftlichen Wohlstand?
Die zweite Herausforderung ist: Wie schaffen wir eine
gesicherte Energieversorgung innerhalb Europas? Drittens: Wie treten wir als Europäer im Rahmen unseres
Programms „Europa in der Welt - Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik und Entwicklungszusammenarbeit“ weltweit glaubwürdig auf? Darauf möchte ich mich
in den nächsten Minuten konzentrieren.
Es geht hier um einen sehr kleinen Ansatz innerhalb
des fast 1 Billion Euro umfassenden Haushalts. Es geht
um nicht einmal 60 Milliarden Euro, um knapp 6 Prozent. Wenn wir die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Besonderen betrachten, dann sprechen
wir über gerade einmal 0,2 Prozent des EU-Haushalts.
Gestern haben wir hier im Bundestag - im Rahmen der
ersten Lesung über Anträge zu entsprechenden Bundeswehreinsätzen - über Mali gesprochen. Am Beispiel
Mali möchte ich deutlich machen, was europäische Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet. Nie in der Geschichte der EU war es so schnell möglich, eine Ausbildungsmission im Rahmen der sicherheitspolitischen
Zusammenarbeit zu entwickeln. Deutschland beteiligt
sich daran auf Grundlage des einen Mandates mit insgesamt bis zu 180 Soldaten. Zusammen mit dem Mandat
für den Einsatz unter afrikanischer Führung beteiligt sich
Deutschland mit insgesamt etwa 410 Soldaten. Darum
geht es mir aber nicht. Es geht mir darum, dass wir im
Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik im Süden der Europäischen Union vor großen Herausforderungen stehen.
Ich hatte unlängst Gelegenheit, wieder einmal in Libyen zu sein. Ich hatte auch Gelegenheit, mit dem Kollegen Gloser von der SPD und unserem Bundestagspräsidenten in Marokko und Algerien zu sein. Hier stellen
sich Herausforderungen, wie wir mit diesen Regionen
umgehen, wie wir durch gute Nachbarschaftspolitik Zusammenhalt erreichen, wie wir die verschiedenen Parteien an einen Tisch bekommen.
Zur Sicherheitspolitik gehört auch, dass wir innerhalb
der Europäischen Union Lehren aus bisherigen Einsätzen ziehen, zum Beispiel aus dem Einsatz in Afghanistan. Die Konfliktparteien müssen sehr früh an einem
Tisch zusammenkommen. Es geht darum, dass wir sehr
früh den regionalen Kontext betrachten. Gerade mit
Blick auf Algerien und Marokko muss man sehen: Mali
liegt nur eine Staatsgrenze weiter südlich von der Europäischen Union.
In diesem Jahr wird die europäische Sicherheitsstrategie zehn Jahre alt. Sie wurde zwar im Jahr 2007 überarbeitet; allerdings fehlen Herausforderungen wie der
arabische Wandel, Cyberkriminalität und einige andere
Fragen. Es geht schlichtweg um vier Punkte, die wir
auch für Deutschland beantworten müssen:
Erstens. Was sind unsere Interessen, und wo nehmen
wir unsere Interessen wahr? Sicherlich ist es in unserem
Interesse, Frankreich zu unterstützen. Aber es ist auch in
unserem Interesse, uns im südlicher gelegenen Afrika
um die Herausforderungen zu kümmern und durch nichtmilitärische Mittel zu versuchen, bereits im Vorfeld der
Konflikte aktiv zu werden.
Zweitens. Nach den Interessen geht es um die Aufgaben. Welche Aufgaben wollen wir wahrnehmen, insbesondere beim Zusammenbringen der verschiedenen
Konfliktparteien oder beim Aussöhnungsprozess? Das
ist ein ganz wichtiger Lehrpunkt aus Afghanistan.
Drittens. Mit welchen Instrumenten machen wir das?
Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit. Wir haben
Krisenprävention. Wir haben auch eine ganze Reihe von
Unterausschüssen, die sich im Parlament damit beschäftigen. Wir haben Streitkräfte, die reformiert werden. Inzwischen gibt es in Deutschland mehr Polizisten als SolRoderich Kiesewetter
daten. Aber unsere Soldaten müssen auch auf diese
Missionen hervorragend vorbereitet werden. Sie zählen
auch zu den sicherheitspolitischen Instrumenten unseres
Landes.
Viertens. Wir müssen uns natürlich auch um die Frage
kümmern, in welchen Regionen wir vertreten sind. Mit
welchen Partnern arbeiten wir? Sind wir Anlehnungspartner? Unterstützen wir innerhalb der Europäischen
Union die Kultur der Zurückhaltung militärischen Eingreifens, oder sind wir auch bereit, militärisch Flagge zu
zeigen und unsere Partner innerhalb der Europäischen
Union zu unterstützen?
Darüber müssen wir uns in Deutschland Gedanken
machen. Das wäre aber auch ein wesentlicher Beitrag
zur Fortentwicklung der europäischen Sicherheitsstrategie. Wie gesagt: Es sind nur 6 Prozent des Haushalts;
aber es geht um die Glaubwürdigkeit Europas in der
Welt.
Lassen Sie uns gemeinsam am Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union arbeiten und an einer
glaubwürdigen, wettbewerbsfähigen und auch einsatzbereiten Europäischen Union.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. - Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt
kommen, kommen wir zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/12387. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD? - Das ist die Fraktion der
Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Linksfraktion. Enthaltungen? -
Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ent-
schließungsantrag ist somit abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Volker
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht
- Drucksache 17/11900 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine sozio-kulturelle Existenzsicherung
ohne Lücken
- Drucksache 17/12389 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Gabriele Hiller-Ohm, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vorbereitung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung in der
17. Wahlperiode - Armuts- und Reichtumsberichterstattung weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Armuts- und Reichtumsbericht zum Ausgangspunkt für Politikwechsel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit machen
- Drucksachen 17/4552, 17/6389, 17/8508 Berichterstattung:Abgeordneter Ottmar Schreiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Sie
sind damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Katrin Göring-Eckardt. Bitte
schön, Frau Kollegin Göring-Eckardt, Sie haben das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben diese Debatte auf die Tagesordnung gesetzt, weil
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die
Augen vor der Realität in diesem Land weiterhin
verschließen wollen und weil wir Ihr Verzögern und
Verschieben leid sind. Wir sind es leid, eine Spaltung der
Gesellschaft zu haben, die sich immer weiter vertieft,
während Sie noch nicht einmal bereit sind, sich mit dem
Armuts- und Reichtumsbericht zu beschäftigen. Seit
letztem Sommer verschieben Sie wieder und wieder die
Verabschiedung des Berichts - Diskussion gleich null.
({0})
Es ist zugleich gravierend, dass Sie nicht einmal die
Kritik aus der Zivilgesellschaft, die Ihnen deutlich gemacht hat, worum es geht und was alles in diesem Bericht fehlt, auch nur im Mindesten zur Kenntnis oder
auch ernst nehmen. Egal ob es die Initiative für Wohnungslose ist, ob es die Caritas oder die Diakonie ist, alle
haben Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Sie sich
endlich mit der Realität der Armut in diesem Land auseinandersetzen müssen. Sie tun nichts. Sie verschieben
und verzögern es. Es ist Ihnen noch nicht einmal eine
Kabinettsberatung wert, dass diese Gesellschaft gespalten ist. Das werden wir nicht akzeptieren.
({1})
Man kann es ganz einfach ausdrücken: Die Aussagen
des Berichts passen einfach nicht in Ihre Schönwetterstrategie. Sie passen nicht in das neoliberale Weltbild der
FDP. Ich sage einmal, welche Sätze Sie streichen wollen
oder gestrichen haben: „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt.“ Gestrichen. „Einkommensspreizung … verletzt das Gerechtigkeitsempfinden
der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.“ Gestrichen.
({2})
Alleinstehenden mit Vollzeitjob reiche der Stundenlohn
nicht für eine Sicherung des Lebensunterhalts. - Gestrichen. Sie versuchen, die soziale Realität in diesem Land
durch Zensur zu verschleiern. Ich sage Ihnen klar: Wir
brauchen eine andere, eine soziale Politik.
({3})
Was ist denn die Realität? Ich fange einmal bei den
Niedriglöhnen an. Fast 8 Millionen Menschen in unserem Land leben von Niedriglöhnen. Das sind übrigens
mehr Menschen, als in den vier größten deutschen Städten - Berlin, Hamburg, München und Köln - zusammen
wohnen. Die schieren Zahlen sind schon erschreckend.
Die Mehrheit der Bevölkerung, die Gewerkschaften, zunehmend auch die Arbeitgeber und, ja, auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages sagen
klar und deutlich: Wir brauchen einen flächendeckenden
Mindestlohn.
({4})
Was machen Sie? Sie kündigen jetzt an, dass Sie vielleicht ein Gesetz machen wollen, in dem eine allgemeine
Lohnuntergrenze festgelegt wird.
({5})
Sogar die FDP erkennt jetzt plötzlich und unerwartet,
dass 3 oder 4 Euro vielleicht nichts mehr mit sozialer
Marktwirtschaft zu tun haben.
({6})
Ich sage Ihnen klar und deutlich: Ihr Versuch, den Druck
aus dem Kessel zu nehmen, wird scheitern; denn das,
was Sie hier bieten, hat nichts mit einem gesetzlichen
Mindestlohn zu tun. Es hat nichts mit einer wirklichen
Verbesserung der Situation zu tun. Es ist wieder das
Gegenteil; denn es hilft nicht. Es hilft nicht der Friseurin
in Sachsen-Anhalt, es hilft nicht der Floristin in Thüringen und auch nicht der Bäckereiverkäuferin in Brandenburg. Sie werden weiter zu Niedrigstlöhnen arbeiten. Ich
fordere Sie auf: Bekennen Sie endlich Farbe für den gesetzlichen Mindestlohn! Wir brauchen ihn dringend.
({7})
Ich sage Ihnen: Wir werden im Bundesrat dafür sorgen, dass es einen entsprechenden Gesetzentwurf gibt.
8,50 Euro sind - das wissen wir alle - nur ein erster
Schritt,
({8})
wenn es um menschenwürdige Löhne geht. Es freut uns
sehr, dass es Kolleginnen - mit kleinem i - in der Union
gibt, die deutlich machen, dass sie dem zustimmen. Ich
kann Sie nur warnen: Blockieren Sie hinterher mit Ihrer
Mehrheit im Bundestag nicht die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns! Er wird für die Gerechtigkeit
und den Zusammenhalt in unserem Land gebraucht.
({9})
- Es geht nicht um unser letztes Thema, Herr Kollege,
({10})
sondern um die Lebenssituation, die Realität von Millionen von Beschäftigten in diesem Land. Diese Realität
ignorieren Sie weiterhin nach dem Motto: Uns geht das
nichts an. - Wir sagen: Das gehört auf die Tagesordnung,
und zwar ganz oben.
({11})
Zur Realität „prekäre Beschäftigung“. Ich rede von
denen, die befristet arbeiten, in Teilzeit, in Leiharbeit,
die sich mit Honorarverträgen über Wasser halten.
({12})
Das betrifft inzwischen ein Viertel aller Beschäftigten.
Hier geht es eben nicht mehr um den Einstieg in den Arbeitsmarkt - das war einst ganz vernünftig gedacht -,
sondern darum, dass inzwischen durch Minijobs immer
mehr reguläre Arbeitsplätze wegfallen. Hier geht es
darum, dass diese Leute bei den Karrierechancen hintanstehen, dass sie bei Weiterbildung, ja selbst beim Urlaub
und bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse sind.
Das können wir nicht wollen. Deswegen müssen wir das
ändern.
({13})
Wir müssen endlich dafür sorgen - das hat nicht nur
der Fall Amazon gezeigt -, dass wir eine klare gesetzliche Regelung für einen flächendeckend gleichen Lohn
bekommen, der auch für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gilt.
({14})
Sie können sich dem nicht weiter verweigern. Sie können sich nicht hinstellen und sagen: Es ist uns egal, ob
die einen für gerechten Lohn arbeiten, während die anderen auch noch befürchten müssen, schon übermorgen
möglicherweise keinen Job mehr zu haben, weil ihr
Leiharbeitsverhältnis endet. - Sie können nicht wollen,
dass Lkw-Fahrer in Deutschland überhaupt nicht mehr
planen können, weil ganz schnell jemand in Leiharbeit
für sie einspringt, der ein Drittel weniger verdient und
ihnen den Job wegnimmt. Sie können nicht wollen, dass
wir mit Mobilität und Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt immer nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer meinen, aber nicht die Arbeitgeber, die für bessere
Arbeitsbedingungen sorgen müssen. Hier muss der Staat
einspringen. Deswegen sagen wir ganz klar: Die Regelungen zur Leiharbeit, die wir in Deutschland haben,
brauchen eine Veränderung, nämlich gleichen Lohn für
alle.
({15})
Zur Realität gehört natürlich auch die Ungleichheit.
Es ist immer noch so, dass Frauen fast ein Viertel weniger verdienen als Männer. Sie bekommen 58 Prozent
weniger Rente. Aber Sie reden von Leistungsgerechtigkeit.
({16})
Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Lassen Sie den
Quatsch mit dem Betreuungsgeld! Es mag zwar Herrn
Seehofer helfen, Kitaplätze entstehen so aber nicht, und
Wahlfreiheit bleibt ein Fremdwort.
({17})
Deutschland ist hier in Europa so weit hinten, dass es
schon peinlich ist und man sich für diese Koalition
fremdschämen muss.
({18})
- Ja, so ist es. Lesen Sie nur einmal, was der Economist
gerade erst über die „Supermodels“ Schweden und
Norwegen geschrieben hat!
({19})
Lesen Sie, was dort zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zu Fortschrittsmöglichkeiten geschrieben steht!
({20})
Lesen Sie, wie man dafür sorgen kann, dass Leistung in
einer Gesellschaft gerecht entlohnt wird, dass es Aufstiegschancen gibt und dass nicht diejenigen draußen
bleiben, die immer schon draußen gewesen sind!
Das ist übrigens auch ökonomisch total sinnlos. Mehr
Mädchen als Jungen machen Abitur, und mehr Frauen
als Männer erwerben einen Studienabschluss. Dennoch
sagen wir den Frauen: In einem Job brauchen wir euch
nicht.
({21})
So ist der Fachkräftemangel vorprogrammiert. Das hat
mit Ihrer Politik zu tun. Daher muss sie geändert werden.
({22})
Da ich gerade beim Thema Bildung bin, möchte ich
klar sagen: Es ist und bleibt ein Skandal, dass die soziale
Herkunft, der Migrationshintergrund, der Bildungsstand
der Eltern und der Umstand, ob man alleinerziehend ist
oder behindert, über die Chancen im Leben entscheiden.
Wir leben quasi in einer blockierten Gesellschaft.
Schwarz auf weiß hat das Statistische Bundesamt dies in
dieser Woche bestätigt. Nur einer von zehn Gymnasiasten hat Eltern, die einen Hauptschulabschluss oder
keinen Schulabschluss haben. An den Hauptschulen ist
die Situation genau umgekehrt: Weit mehr als die Hälfte
der Schülerinnen und Schüler einer Hauptschule haben
Eltern, die einen Hauptschulabschluss oder gar keinen
Schulabschluss haben, während nur 12 Prozent von ihnen bei Eltern mit Abitur aufwachsen. Das zeigt doch
ganz klar: Das ursprüngliche Versprechen der sozialen
Marktwirtschaft: „Wenn du lernst und dich anstrengst,
dann schaffst du es auch“, gilt für 2,5 Millionen Kinder,
die in Armut leben, nicht mehr. Dass die Tochter einer
Anwältin studiert, ist normal, bei der Tochter einer Putzfrau ist das eine Sensation. Arm bleibt arm, und ungebildet bleibt ungebildet - das ist die beschämende Realität.
Wir sagen: Das wollen wir ändern, und das können wir
auch ändern.
({23})
Sie leisten sich stattdessen eine billige Debatte über
das Sitzenbleiben. Nein, es sind nicht nur ein paar
Promis, die jetzt dafür herhalten müssen, dass das nicht
schadet. Es sind diejenigen, die sich eh abgehängt fühlen, denen wir sagen: Bleibt, wo ihr seid! Bleibt hocken,
wir brauchen euch nicht! - Das hat nichts mit Leistungsfeindlichkeit zu tun. Das hat mit der Frage zu tun, ob wir
eigentlich die Talente aller Menschen erkennen oder nur
denen eine Chance geben wollen, die es sowieso schon
besser haben. Wir brauchen eine andere Bildungspolitik,
eine Bildungspolitik, die allen mit ihrem jeweiligen
Talent einen Aufstieg garantiert und bei der nicht die
Herkunft entscheidet, meine Damen und Herren.
({24})
Zum Schluss will ich klar und deutlich sagen: Wenn
der Staat handlungsfähig werden soll, wenn es Chancengleichheit wirklich geben soll, dann bedeutet das auch,
das Geld dafür bereitzustellen. Deswegen brauchen wir
den Dreiklang aus Haushaltskonsolidierung, Subventionsabbau und, ja, auch Steuererhöhungen.
Der Armuts- und Reichtumsbericht macht deutlich:
Die starken Schultern können mehr tragen. Das werden
wir nach der Bundestagswahl berücksichtigen. Wir können etwas ändern, und wir werden etwas ändern. Dafür
gibt es große Zustimmung in der Bevölkerung, die klar
und deutlich sagt: Diese Regierung hat bei der sozialen
Gerechtigkeit versagt, diese Regierung hat dabei versagt,
den Staat bei maroden Schulen handlungsfähig zu machen, diese Regierung hat dabei versagt, den Staat handlungsfähig zu machen, wenn es darum geht, eine Infrastruktur aufzubauen, die tatsächlich allen hilft.
Ich sagen Ihnen klar und deutlich: Ihre Politik nach
dem Motto „Wir verschließen die Augen vor der Realität“ führt dazu, dass Sie schön weiter träumen können.
Die Gesellschaft ist längst aufgewacht. Die Gesellschaft
ist längst auf einer anderen Schiene. Die Gesellschaft
sagt längst: Wir brauchen mehr Gerechtigkeit. Wir wollen mit den Schwächsten zusammenarbeiten, wir wollen
mit ihnen auf Augenhöhe lernen, wie sie die vielen Probleme, die sie jeden Tag haben, auch tatsächlich bewältigen. Wir wollen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir
wollen die Realität anschauen.
Träumen Sie weiter! Wir machen eine andere Politik,
ab 22. September.
({25})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Zur Geschäftsordnung hat sich Kollege Volker Beck
gemeldet.
Ist es Wahnsinn, so hat es wenigstens Methode, wie
die Bundesregierung mit dem Armuts- und Reichtumsbericht umgeht: Erst wird er getürkt,
({0})
dann kommt Ihre Ministerin nicht. Wir meinen, dass die
beiden Minister, die meinen, Armut dadurch bekämpfen
zu können, dass sie diesen Bericht frisieren, sich wenigstens diese Debatte antun müssen. Deshalb zitiere ich
({1})
die Bundesministerin für Arbeit und Soziales und den
Bundeswirtschaftsminister herbei.
({2})
Für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Michael
Grosse-Brömer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist schon interessant,
dass der Kollege Beck jetzt schon persönlich Minister
herbeizitieren will.
({0})
Ich schlage vor, dass wir darüber nachdenken, ob es klug
ist, die Ministerin, die sich selbstverständlich in diesem
Gebäude befindet und gerade eine Besprechung hat
- wie es allen von uns schon häufiger gegangen ist in
wichtigen Debatten -, herbeizuzitieren. Wir können ihr
nebenan gerne Bescheid sagen, sie möge doch jetzt auf
der Regierungsbank Platz nehmen. Das wäre, wenn es
für Sie nachvollziehbar und verständlich ist, ein wesentlich eleganterer Weg.
({1})
Dann müssten Sie persönlich jetzt niemanden herbeizitieren. - Die Ministerin hat soeben mit der Bundeskanzlerin - mehr Beachtung für dieses Thema geht gar
nicht - den Plenarsaal betreten.
({2})
Infolgedessen bin ich sehr froh, feststellen zu können,
dass die Aufgeregtheit des Kollegen Beck, die nicht völlig neu ist, in diesem Fall völlig überflüssig und unnötig
ist.
({3})
Vielen Dank. - Ich gehe davon aus, dass sich der Antrag damit erledigt hat.
({0})
Dazu noch einmal der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Zum Bundeswirtschaftsminister ist festzustellen, dass
er vorhin noch hier gesessen hat.
({0})
Auch bei ihm ist nicht auszuschließen, dass er zurzeit
Gespräche führt, die ihn davon abhalten, anwesend zu
sein. Infolgedessen halte ich es nicht für erforderlich,
den Bundeswirtschaftsminister herbeizuzitieren. Wenn
die bei diesem Thema federführende Ministerin - im
Übrigen: mit Staatssekretär - anwesend ist, bitte ich, einmal darüber nachzudenken, was berechtigte Interessen
zum Punkt Anwesenheit sind und wann Schikane beginnt.
({1})
Sie können notfalls auch noch die Bundesjustizministerin herbeizitieren,
({2})
wenn Sie in diesem Reichtumsbericht eine entsprechende Passage finden. Ich glaube aber, wir tun gut daran, hier einmal sachlich und nüchtern festzustellen: Die
fachlich zuständige Ministerin, die Ministerin, die federführend ist, ist anwesend.
({3})
Ich glaube, das muss reichen.
({4})
Ich gehe davon aus, dass damit Einverständnis besteht.
({0})
Ich gehe davon aus, dass ein Antrag, wenn er nicht
zurückgezogen ist, dann auch zur Abstimmung gestellt
wird. Der Antrag lautete, beide Minister herbeizuzitieren. Bei Frau Ministerin von der Leyen hat sich dies
durch Anwesenheit erledigt. Das begrüße ich ausdrücklich. Ich begrüße Sie hier im Plenum des Deutschen
Bundestages, Frau Kollegin! Aber der Bundeswirtschaftsminister hat auf diesen Bericht durch Streichung
ganzer Passagen maßgeblich Einfluss genommen. Deshalb bitte ich, einen Beschluss darüber zu fassen, ihn
herbeizuzitieren.
({0})
Das Wort hat dazu für die Fraktion der FDP Kollege
Martin Lindner.
Ich bitte zu überlegen, ob wir jetzt hier Kasperletheater machen oder uns ernsthaft dieser Debatte widmen
wollen. Dass Sie Kasperletheater machen wollen, erkennt man daran, dass auf der Bundesratsbank kein einziger Ihrer Sozialminister sitzt. Sie verlangen hier die
komplette Anwesenheit der Bundesregierung, aber Ihre
eigenen Leute zeigen, dass Sie hier nichts als Kasperletheater aufführen wollen und es Ihnen nicht um die Debatte geht, Sie sich bereits im Wahlkampf befinden und
nichts anderes im Sinne haben, als uns allen die Zeit zu
stehlen. Wir lehnen das ab.
({0})
Zur Geschäftsordnung spricht noch Kollege Sigmar
Gabriel.
Herr Kollege, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist:
Die Mitglieder der Landesregierungen gehören nicht der
Bundesregierung an, sie haben keinen Bericht gefälscht
und auch keine Aufträge zur Streichung gegeben. Deshalb müssen sie nicht hier sein.
Hier geht es um die Ministerin, die aus unserer Sicht
einen durchaus akzeptablen Bericht vorgelegt hat, und
um die Einflüsse des Restes des Kabinetts, an der Spitze
der Wirtschaftsminister, der offensichtlich versucht hat,
diesen Bericht zu fälschen und Zensur auszuüben. Diese
Minister gehören in das Plenum des Deutschen Bundestages, wenn der Bundestag Rechenschaft darüber haben
will, warum Berichte der Bundesregierung zensiert und
gefälscht werden sollen. Darum geht es.
({0})
Wir kommen nun zu dem Antrag des Kollegen Volker
Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es geht
um die Abstimmung über den Antrag auf Herbeizitierung des Wirtschaftsministers. Wer dafür ist, den bitte
ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! ({0})
Man ist sich hier heroben nicht einig.
({1})
Wir kommen daher zur Abstimmung über den Herbeizitierungsantrag der Fraktion der Grünen durch Zählung der Stimmen.
({2})
Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen. 27516
Vizepräsident Eduard Oswald
({3})
Ich darf Sie noch einmal herzlich bitten, den Saal zu
verlassen. Das gilt bitte auch für die Regierungsbank.
Sind die Türen mit Schriftführern besetzt? - Noch
nicht. Wenn die Schriftführer an den Türen stehen, bitte
ich Sie, mir das zu signalisieren. - Nachdem jetzt alle
Schriftführer an den Türen stehen, ist die Abstimmung
eröffnet.
Kann ich einmal ein Signal erhalten, wie weit man an
den Türen ist? Dann müsste jemand nach vorne kommen
und uns sagen, wie der Stand ist.
Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, uns das Ergebnis bekannt
zu geben. Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstimmung bekannt: Mit Ja haben gestimmt
166 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 239 Abgeordnete,
({4})
Enthaltungen keine. Der Antrag ist somit abgelehnt.
Trotzdem begrüße ich den Herrn Bundeswirtschaftsminister herzlich unter uns!
({5})
- Sie war vorhin schon da.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde jetzt
trotzdem herzlich bitten, dass Sie Platz nehmen, damit
wir in der Reihenfolge unserer Rednerinnen und Redner
weitermachen können. Das Thema ist so interessant,
wichtig und spannend, dass alle dableiben dürfen.
({7})
Nächster Redner in unserer Debatte - ich bitte um
Aufmerksamkeit - ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege
Dr. Zimmer.
({8})
Danke schön, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren, nach diesem Intermezzo körperlicher Ertüchtigung, das wir dem Kollegen Beck verdanken ({0})
wir kommen relativ wenig dazu, uns körperlich zu bewegen; insofern bin ich dafür dankbar ({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf noch einmal bitten, dem Redner Respekt entgegenzubringen und
zuzuhören. - Bitte schön, Dr. Zimmer. Sie haben das
Wort.
- danke schön, Herr Präsident -, wäre es mir ein Anliegen gewesen, mich bei dem Kollegen Beck zu bedanken, aber ich sehe, er hat die Debatte verlassen. Das
finde ich ausgesprochen schade.
({0})
Zumindest eines darf man aber nicht unwidersprochen stehen lassen: Lieber Herr Gabriel, Sie haben eben,
bevor der Hammelsprung angesetzt wurde, behauptet,
die Bundesregierung habe einen Bericht zensiert.
({1})
Das ist natürlich Unfug. Sie hat einen Bericht in die Ressortabstimmung gegeben.
({2})
Sie wissen ganz genau, wie so etwas funktioniert:
({3})
Erst nach der Ressortabstimmung kann überhaupt ein
Bericht der Bundesregierung vorliegen. Aber es ist natürlich einfacher, die Menschen hinter die Fichte zu führen, wie Sie das getan haben.
({4})
Meine Damen und Herren, ich freue mich darauf,
wenn der Bericht endlich der Öffentlichkeit vorgelegt
werden wird; denn er wird zeigen, dass es den Menschen
in der Bundesrepublik gut geht, dass sie nicht massenweise von Verelendung betroffen sind,
({5})
wie es die Opposition behauptet. Diese Verelendung
wollen Sie herbeireden. Es ist Wahlkampf. Richtig aber
ist: Die sozialen Spannungen in Deutschland sind unter
Rot-Grün gestiegen, unter der Regierung Merkel wurden
sie deutlich abgebaut.
({6})
Lassen Sie uns einen Blick in die Zahlen werfen! Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet:
Die Armutsgefahr hat in Deutschland zwischen 1999 und
2004 deutlich zugenommen, seither nicht mehr. Im Gegenteil, die Einkommensschere hat sich wieder geschlossen.
({7})
Das zeigt: Wo Rot-Grün regiert, geht es den Menschen
schlecht.
({8})
Unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel geht es den
Menschen besser.
({9})
Ich bin mir sicher: Der Armuts- und Reichtumsbericht
wird genau das auch bestätigen, und deswegen ist es an
der Zeit, ihn zu veröffentlichen.
Nun höre ich häufig, die Armutsgefährdung in
Deutschland steige. Fast 16 Prozent der Haushalte seien
davon betroffen. Armutsgefährdet ist, wer über weniger
als 60 Prozent des gewichteten Nettoeinkommens verfügt. Das ist eine häufig vorgenommene Definition der
EU.
({10})
Das ist aber lediglich eine statistische Größe, lieber Herr
Birkwald, und sagt über die Lebenslage der Menschen
nichts aus. Sie ist zudem unsinnig.
({11})
Wenn in einer Gesellschaft wie Nordkorea alle Menschen hungern, ist gleichzeitig statistisch betrachtet keiner armutsgefährdet. Es hungern ja alle gleich, und weniger als 60 Prozent des gewichteten Nettoeinkommens
hat keiner.
({12})
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn ein
Land wie Irland durch die Bankenkrise in eine gefährliche gesamtwirtschaftliche Schieflage kommt, kann das
am Ende bedeuten, dass in der Krise weniger Menschen
arm oder armutsgefährdet sind als in den Boomjahren.
Das Medianeinkommen ist ja schließlich deutlich gesunken. Das zeigt, diese Begrifflichkeit taugt allenfalls zu
politischer Propaganda, als Messinstrument sinnvoll ist
sie nicht.
({13})
Das gilt im Übrigen auch für den Begriff des Reichtums. Statistisch gesehen ist derjenige reich, der über
200 Prozent des gewichteten Medianeinkommens verfügt. Demnach wäre jemand mit 952 Euro und weniger
im Monat armutsgefährdet, und reich wäre jemand ab einem Nettoeinkommen von 3 250 Euro. Also, zwischen
armutsgefährdet und reich liegen - statistisch gesehen gerade einmal 2 200 Euro an Nettoeinkommen. Das ist
aus meiner Sicht ziemlich absurd. Es ist von der Begrifflichkeit her kontraintuitiv,
({14})
weil es die landläufigen Meinungen darüber, was arm
und reich ist, vollkommen infrage stellt.
({15})
Um es auf die Spitze zu bringen: Ein Student vor dem
Abschluss des Studiums gilt in der Regel als armutsgefährdet oder arm. Mit seinem ersten Job kann er dann
von einem Tag auf den anderen plötzlich reich werden.
So schnell ändern sich die Lebenslagen, und das ist
schon abenteuerlich: Arbeit kann zur Reichtumsgefährdung führen. - Bei Ihnen natürlich nicht, bei Ihnen wird
ja der Reichtum sofort wieder besteuert.
({16})
- Lieber Kollege Birkwald, wenn Sie an der Macht wären, dann brauchten wir nur einen Armutsbericht, keinen
Reichtumsbericht.
({17})
Meine Damen und Herren, vielleicht ist es aber sinnvoll, sich andere Zahlen anzuschauen. Damit meine ich
den sogenannten Gini-Koeffizienten, der das Maß an
Ungleichverteilung in einer Gesellschaft untersucht. Die
Werte reichen von 0 bis 1, wobei 0 die Gleichverteilung
bedeutet und 1 die größtmögliche Ungleichverteilung,
also eine Person das komplette Vermögen oder Einkommen erhält.
Nun geistert seit dem Buch von Richard Wilkinson
und Kate Pickett mit dem deutschen Titel Gleichheit ist
Glück die einigermaßen eigentümliche Vorstellung
durch die Medien und durch die politische Debatte, dass
eine Gesellschaft dann gerechter sei, wenn sie möglichst
alles gleichmacht.
({18})
Ich stehe auf dem etwas altmodischen Standpunkt,
({19})
dass neben der Verteilungsgerechtigkeit auch die Leistungsgerechtigkeit berücksichtigt werden muss, aber lassen wir das einmal für einen Augenblick beiseite.
({20})
Für Deutschland zeigt sich zunächst einmal, dass die
Ungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 2007
rückläufig ist, während sie von 2000 bis 2005 zugenommen hat. Das betrifft die Nettoäquivalenzeinkommen auf
Haushaltsebene, also alle Einkommensarten. Etwas anders sieht es bei der Vermögensverteilung aus. Hier sind
nach den letzten Zahlen von 2008 die Privatvermögen
im Zeitraum von 1998 bis 2008 im obersten Dezil gestiegen. Allerdings sind in den Renten- und Pensionskassen angehäufte Ansprüche - anders als die Kapitallebensversicherungen - nicht berücksichtigt. Bezieht man
diese sogenannten Sozialvermögen in Höhe von etwa
5 Billionen Euro in die Vermögensrechnung ein, entsteht
auch hier ein erheblich gleichmäßigeres Bild hinsichtlich
der Vermögensverteilung.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck:
Die ganze Debatte wird ohnehin zu sehr mit Blick auf lediglich materielle Faktoren geführt. Menschen können
sich durchaus bei genügender materieller Grundausstattung als arm empfinden, wenn sie sozial vereinsamt sind,
wenige oder keine personalen Netzwerke haben, wenn
sie von Krankheiten geplagt sind oder sich in trostlosen
Lebenslagen befinden. Umgekehrt können Menschen
sich auch trotz geringer materieller Mittel ihr Leben als
reich und glücklich vorstellen. Wohlstand und Lebensqualität sind keine ausschließlichen Funktionen des Einkommens. Dahinter steht auch die Frage nach einem guten Leben, einem gelingenden Leben. Dafür ist die
materielle Ausstattung ein Faktor, aber für viele Menschen sicherlich nicht der wichtigste. Darüber führen wir
gerade eine spannende Debatte in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.
Das ist vielleicht auch der Grund, warum wir es unterlassen sollten, uns künstlich arm zu reden, Frau GöringEckardt, wie Sie das heute getan haben.
({21})
Armut ist ein relativer Begriff, zum einen relativ zu dem
Einkommen oder Vermögen anderer, aber auch relativ zu
anderen uns wichtigen Lebenschancen. Vieles davon
können wir messen, vieles nicht. Den Menschen und
seine Lebenschancen lediglich auf die materiellen Möglichkeiten zu reduzieren, erscheint mir falsch. Unsere
Gesellschaft als eine zu denunzieren, in der Armut zunimmt, ist schief und falsch.
({22})
Es ist etwas, was Jonathan Swift einmal als eine politische Lüge bezeichnet hat. Sie müsse, so Swift,
nur eine Stunde lang geglaubt werden …, um ihr
Werk zu tun; sie hat dann keinen Sinn mehr. Die
Falschheit fliegt, und die Wahrheit kommt hinterhergehinkt.
So ist es auch mit der Falschheit der Behauptung, in
Deutschland nehme die Armut zu. Zunehmen tut lediglich der Druck der Oppositionsparteien, ein Thema zu
finden.
Ich bin zuversichtlich. Sobald der Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht ist,
({23})
können sich die Menschen selbst ein Bild machen und
feststellen: Deutschland geht es gut, den Menschen hier
geht es gut, und das hat viel mit der von der Union geführten Bundesregierung zu tun.
({24})
Vielen Dank.
({25})
Vielen Dank, Kollege Dr. Zimmer. - Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Sigmar Gabriel. Bitte schön, Kollege Sigmar Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Zimmer, die Opposition musste ja gar kein Thema suchen. Ihre Ministerin Frau von der Leyen hat einen Entwurf zum Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt. In
ihm steht alles, worüber Frau Göring-Eckardt und ich
sowie andere Abgeordnete reden wollen. Aber Sie haben
diesen dann kassiert und Streichungen vorgenommen.
({0})
- Jedenfalls Ihre Regierung hat das getan. Noch habe ich
den Eindruck, dass Sie sich mit Ihrer Regierung identifizieren.
({1})
Wenn ich Ihnen schon zu nahe trete, wenn ich Sie mit Ihrer Regierung identifiziere, könnte ich das verstehen.
Aber so weit sind Sie, glaube ich, noch nicht.
Wir reden also nicht über etwas, das wir erfunden haben, sondern über etwas, das Ihre Ministerin der Öffentlichkeit geben wollte. Aber dann hat sich der Rest Ihrer
Regierung verschworen, das nicht zu tun.
Jetzt reden wir einmal nicht über Statistiken, sondern
über ein paar Lebenssachverhalte; denn das, was die
meisten Menschen an der Politik nervt, ist ihr Eindruck,
wir hätten überhaupt keine Ahnung mehr davon, wie es
im Alltag der Menschen aussieht. Deswegen, meine ich,
sollten wir einmal darüber reden.
Herr Kollege, 6 Millionen Menschen gehen in Deutschland für weniger als 8 Euro in der Stunde arbeiten. Die
Übersetzung lautet: Wer Vollzeit arbeitet, hat am Ende
des Monats nicht einmal das, was jemand bekommt, der
gar nicht arbeiten geht. Wissen Sie, wenn Sie über Lohnuntergrenzen reden und das verhandeln wollen - die CDU
schlägt jetzt so etwas vor, die FDP will nicht einmal das -,
dann verstehen Sie nicht, worum es bei diesem Thema
geht. Es geht - darin haben Sie recht - nicht nur um die
Höhe des Lohns, sondern auch um den Wert und die
Würde von Arbeit.
({2})
Es kann nicht wahr sein, dass Menschen hart arbeiten
und am Ende des Monats so wenig haben, dass sie beim
Sozialamt betteln gehen müssen.
({3})
Das wollen wir nicht mehr in Deutschland. Darum geht
es bei dieser Debatte.
({4})
Aber das machen Sie doch nicht, Herr Kollege. Sie
schlagen Lohnuntergrenzen vor, die Sie irgendwie verhandeln wollen. Da gibt es nichts zu verhandeln. Dieser
Mindestlohn liegt heute bei 8,50 Euro, und er wird in
den nächsten Jahren steigen müssen. Mit jedem Cent,
den Sie diesen unterbieten, schicken Sie die Leute trotz
Vollzeitarbeit zum Betteln beim Sozialamt. Das wollen
Sie. Wir wollen das nicht. Ich finde, wir müssen in diesem Haus einmal festhalten, dass es da Unterschiede
zwischen uns gibt.
({5})
- Nein, Herr Kollege, sozial ist nicht, was Arbeit schafft.
Sozial ist vielmehr das, was Arbeit schafft, von der man
leben kann. Darum soll es in Deutschland wieder gehen.
({6})
25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten
in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen:
Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge, Praktika. Jeder
zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist befristet. - Ich
kann die Sonntagsreden, warum wir in Deutschland zu
wenig Kinder haben, nicht mehr hören. Wir können das
Kindergeld noch x-fach erhöhen; aber wenn junge Leute
nach Fleiß in Ausbildung und Studium nicht einmal einen festen Arbeitsplatz kriegen, dann werden wir nicht
mehr Kinder in Deutschland haben. Deswegen müssen
wir wieder dazu kommen, dass es feste Arbeitsverhältnisse für gut Ausgebildete in Deutschland gibt.
({7})
Frauen - darauf hat Frau Göring-Eckardt schon hingewiesen - erhalten bei gleicher Arbeit fast ein Viertel
weniger als Männer.
Arm trotz Arbeit, Herr Kollege, das ist ein zentrales
Problem für unser Land; denn die Bundesrepublik
Deutschland ist nicht wirtschaftlich stark und sozial sicher geworden, weil die soziale Kluft sich vergrößert
hat, sondern weil sich Arbeit und Anstrengung für die
Menschen - jedenfalls früher, in der Vergangenheit - gelohnt haben. Dies gilt heute nicht mehr. Deswegen haben
wir in Ihrem Bericht und in vielen anderen erschreckende Zahlen gefunden:
12 Millionen Menschen in Deutschland leben an oder
unter der Armutsgrenze.
Mitten in Deutschland stehen täglich 1,5 Millionen
Menschen für altes Brot Schlange, weil sie sich frisches
nicht einmal mehr in den Discountläden leisten können.
2,4 Millionen Kinder sind armutsgefährdet, weil ihre
Eltern, obwohl sie arbeiten, kein anständiges Einkommen haben.
Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersarmut.
Wir reden auch über Jugendarmut, Familienarmut, die
Armut der Alleinerziehenden, die Armut der Menschen,
die fleißig arbeiten und trotzdem keinen anständigen
Lohn bekommen. Das alles, Herr Kollege Zimmer, wollen Sie der Öffentlichkeit verschweigen. Das ist kein
Wunder; denn einen solch dramatischen Befund gab es
in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik noch
nicht.
({8})
Früher galt in unserem Land: Fleiß und Anstrengung
lohnen sich. Heute führt nicht Leistung zum Aufstieg,
sondern Beziehungen, Herkunft, Vermögen, im Zweifel
Erbschaften. Deutschlands Nachkriegsgeschichte war
gekennzeichnet von dem Versuch, die sozialen Differenzen abzubauen. „Wohlstand für alle“ war das Credo der
sozialen Marktwirtschaft. Heute ist nach den Befunden
des von Frau von der Leyen vorgelegten Entwurfs eher
„Reichtum für wenige“ das Credo unserer Wirtschaft.
({9})
Herr Kollege Zimmer, nicht wir Sozialdemokraten,
nicht die Grünen, nicht die Linken reden über Ungleichverteilung im Land, sondern der Bericht Ihrer Ministerin
tut das. Ich zitiere einmal:
Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt.
Etwas später heißt es: Das „verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung“.
({10})
Das ist doch nicht Propaganda der Linkspartei; vielmehr
ist das ein wörtliches Zitat von Frau von der Leyen, das
Sie aus dem Bericht streichen wollen. Darum geht es
hier in Deutschland.
({11})
Wir müssen die großen Vermögen stärker einbeziehen und für mehr Gerechtigkeit in Deutschland
sorgen.
Nun raten Sie einmal, woher das stammt! - Aus
„Lebenslagen in Deutschland“, dem von Ihrer Ministerin
vorgelegten Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts. Tun Sie doch nicht so, als hätten wir uns das
ausgedacht. Vielmehr hatten Sie ausnahmsweise eine
mutige Frau in Ihrer Regierung, die Sie mundtot
gemacht haben. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik in
Deutschland.
({12})
Als wären die Zustände selbst nicht schlimm genug,
verstehen Sie, Herr Kollege Zimmer, offensichtlich
nicht, warum das, was Sie da in der Regierung gemacht
haben, die Öffentlichkeit so sehr ärgert. Da erklärt Ihr
Vizekanzler von der FDP, er halte diesen ganzen Bericht
von Frau von der Leyen für Unsinn und wolle ihn erst
einmal - wie haben Sie das so schön gesagt? - „in die
Ressortabstimmung geben“.
({13})
Die Kanzlerin assistiert ihm brav - ich zitiere -:
Jetzt wird dieser Bericht … abgestimmt in der
Bundesregierung - da ist noch nicht einmal die
erste Runde gelaufen. Und dann werden wir das im
November
- das ist auch schon vorbei ({14})
im Kabinett beraten. Und ich bin ganz optimistisch,
dass wir dann einen gemeinsamen Standpunkt
haben.
Sie verstehen gar nicht, worum es bei diesem Bericht
geht. Der Bericht fordert nicht einen gemeinsamen
Standpunkt von Ihnen, und die Wirklichkeit kann man
nicht „ressortabstimmen“. Der Bericht soll vielmehr
sagen, was in Deutschland los ist.
({15})
Es geht um die Wirklichkeit; die wollte Frau von der
Leyen schildern, und die haben Sie jetzt versucht zu
fälschen. Genau dieser Fälschungsversuch wird Ihnen
öffentlich vorgehalten, aber doch nicht von uns: Der
renommierteste Sozialhistoriker unseres Landes, HansUlrich Wehler, wirft Ihnen eine klare Täuschungsabsicht
vor. Herr Kollege Zimmer, ich habe vorhin zitiert, und
ich zitiere jetzt Professor Wehler. Er spricht wörtlich von
einem „Bubenstück“ und von einer „Verstümmelung“
des neuen Armuts- und Reichtumsberichts. Er wirft der
Bundesregierung - übrigens bis heute unwidersprochen;
die wehren sich noch nicht einmal gegen das, was ihnen
öffentlich vorgeworfen wird - vor:
Getäuscht wird am Ende der mündige Staatsbürger,
dem man eine ehrliche Debatte offenbar nicht zumuten möchte.
Die Süddeutsche Zeitung stellt zu Ihrem Vorgehen fest:
„Verwässert und verschleiert: Die Bundesregierung hat
… bewusst geschönt.“ Und der Herausgeber der FAZ,
Herr Schirrmacher, wie ich vermute, kein Sozialdemokrat, wirft Ihnen in seinem aktuellen Buch vor, Sie
betrieben „Umetikettierung“.
Sie in der Bundesregierung scheinen gar nicht zu
merken, dass es nicht nur um Ihre Blindheit gegenüber
der sozialen Lage geht. Um die geht es auch; das wäre
für sich genommen schlimm, aber für die meisten auf
unserer Seite des Hauses keine Überraschung. Vielmehr
geht es hier vor allem auch darum, dass Sie, die Sie sich
selbst eine bürgerlich-liberale Koalition nennen, einen
der wichtigsten Werte einer bürgerlichen Demokratie
mit Füßen treten, und zwar den Wert der Wahrhaftigkeit.
Dass Sie diesen Wert mit Füßen treten, macht man Ihnen
öffentlich zum Vorwurf.
({16})
Wissen Sie, wenn Sie in der CDU/CSU und in der
FDP der Meinung sind, es gäbe in Deutschland keine sozialen Probleme, dann ist dies zwar falsch, aber Ihr gutes
Recht. Was aber nicht geht, ist, dass Sie die Ihnen zugänglichen Informationen über die soziale Lage in
Deutschland vor der Öffentlichkeit geheim halten. Ich
zitiere noch einmal Herrn Wehler, der zu Recht sagt,
dass die Bundesregierung „dem Staatsbürger fundamental wichtige Informationen kaltblütig vorenthält“.
Vieles dürfen eine Bundesregierung und eine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag tun; aber
sie dürfen nicht, meine Damen und Herren, die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger dieses Landes entmündigen. Genau dies versuchen Sie aber gerade.
({17})
Bislang war es übrigens eher in totalitären Staaten
üblich, dass die Wirklichkeit gefälscht wurde,
({18})
Statistiken verändert wurden, retuschiert wurde und
Zensur ausgeübt wurde.
({19})
- Ja, das ist so: Totalitäre Staaten bauen gerne Potemkin`sche Dörfer auf.
({20})
Das Bemerkenswerte an Ihnen ist, dass Sie nun auch
versuchen, das Schicksal und den Lebensalltag, die
Alltagswirklichkeit und die Lebensleistungen von
Millionen von Menschen zu tilgen, zu kürzen oder
auszublenden.
({21})
Wer zu solchen Mitteln der kosmetischen Berichtschirurgie greift, verhöhnt nicht nur die Betroffenen. Er
schadet auch der demokratischen Öffentlichkeit, und er
schadet der Demokratie in unserem Land, meine Damen
und Herren.
({22})
Wissen Sie, jeder Beobachter, der Ihre Debatte über
den Armuts- und Reichtumsbericht verfolgt, muss doch
den Eindruck haben, dass er gerade live dabei ist und in
das Innere einer politischen Fälscherwerkstatt gucken
darf. Man weiß nicht so ganz genau, in welchem Teil der
Regierung die Fälscherwerkstatt steht; aber man hat
doch wirklich den Eindruck, dass dort politische
Fälscher am Werke sind, und offensichtlich schämen Sie
sich noch nicht einmal dafür. Übrigens finden Sie alle
nötigen Kronzeugen dafür im Entwurf des 4. Armutsund Reichtumsberichts, den Frau von der Leyen abgegeben hat. Sie hat dort geschrieben:
Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die
Progression über die Einkommensteuer hinaus
privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung
öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.
Das ist eine mutige Aussage. Wir sind gespannt, wie sie
diese Ankündigung, die Ungleichverteilung der Lasten
für das Gemeinwohl auszugleichen, umsetzen will.
80 Prozent der Gemeinwohllasten werden von den
ganz normalen Menschen, die Lohnsteuer, Mehrwertsteuer oder Umsatzsteuer zahlen, getragen. Nur 12 Prozent der Gemeinwohllasten tragen die Einkommensbesitzer von Kapital und Vermögen. Daran wollte Frau von
der Leyen offensichtlich etwas ändern. Sie offensichtlich
nicht. Wir haben doch eine neue soziale Frage in unserem Land: Wie verteilen wir die Lasten für das Gemeinwohl wieder fair und gerecht? Wie kommen wir wieder
zu einem neuen sozialen Ausgleich in unserem Land?
Übrigens hat sich Frau von der Leyen in ihrem Bericht
nicht auf uns berufen, sondern auf die Mittelstandsstudie
der Konrad-Adenauer-Stiftung. Dort geht es genau um
diese Fragestellungen. Und Sie sind nicht bereit, das öffentlich zu diskutieren. Sie demontieren Ihre eigenen
Wissenschaftler, selbst die, die Ihrer Partei angehören.
({23})
Meine Damen und Herren, Mindestlohn, Leih- und
Zeitarbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und übrigens
auch wieder Geld, um in Bildung zu investieren - das ist
nötig. Denn wir sind doch längst auf dem Weg in eine
Zweiklassengesellschaft. Ich wiederhole: Nicht Anstrengung und Leistung bringen den Aufstieg in unserer
Gesellschaft,
({24})
sondern Herkunft, Beziehungen, hohe Vermögen, Erbschaften.
({25})
Dass Sie von der FDP bzw. der CSU das dufte finden,
kann ich mir gut vorstellen. Das ist ein Milieu, in dem
Sie sich gut auskennen. Das wissen wir, meine Damen
und Herren.
({26})
Aber wir wollen, dass die Tochter des iranischen
Einwanderers in Neukölln wieder die gleichen Chancen
hat wie der begüterte Unternehmersohn aus Schwaben.
Dazu werden wir auch mehr in Bildung investieren
müssen.
Wir wollen Ihre Lebenslüge nicht mitmachen, die vor
Wahlen immer lautet: Keine Sorge, wir senken Schulden. Keine Sorge, wir geben mehr für Bildung aus und
natürlich werden wir auch noch die Steuern senken. Nein, wir werden für einige, nicht für alle, in Deutschland die Steuern anheben müssen, damit alle wieder
mehr davon haben. Wir werden den Spitzensteuersatz erhöhen. Wir werden Kapital- und Vermögenseinkommen
stärker besteuern. Wir brauchen die Finanztransaktionsteuer, damit die ganz normalen Menschen nicht mehr so
viel dafür bezahlen müssen, wenn wir wieder in Bildung,
in Infrastruktur und in die Sicherheit unserer Städte und
Gemeinden investieren. Darum geht es.
({27})
Sie wollen daraus eine Neiddebatte machen.
({28})
Es ist ganz interessant, wenn man sich das, was Sie normalerweise bürgerliche Presse nennen, durchliest. Dort
schreiben nämlich diejenigen, die etwas von bürgerlichen Werten, von Anstand, von Wahrhaftigkeit und von
Fairness verstehen. Letzten Samstag schrieb Eckhard
Fuhr in der Welt - das ist auch nicht gerade das Zentralorgan der deutschen Linken -:
Die Soziale Ungleichheit in Deutschland ist eben
nicht das Resultat einer freien Gesellschaft, sondern
sie ruht auf Vermachtung, Verkrustung und
Abschottung.
Er fügt hinzu:
Wer hier aber wieder nur eine neue „Neiddebatte“
heraufziehen sieht, versteht nicht, was die Stunde
geschlagen hat.
Genau das passiert bei Ihnen.
({29})
Für uns steht fest: Der Sozialstaat ist die größte zivilisatorische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit einer demokratischen Verfassung. Dieser
Sozialstaat muss alles dafür tun, damit ererbter Status
nicht zum Schicksal wird. Wir wollen nicht, dass die
Frage der Herkunft das Schicksal der Menschen
bestimmt. Dafür müssen wir allerdings die Verteilungsfragen wieder auf unsere Tagesordnung setzen. Wir
brauchen eine neue Verteilung der Gemeinwohllasten
und eine neue Verteilung von Chancen in unserem Land.
Dafür allerdings braucht unser Land vor allem eines:
eine neue Regierung, meine Damen und Herren.
({30})
Vielen Dank, Kollege Sigmar Gabriel. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal
Kober. Bitte schön, Kollege Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Schwester im Glauben Katrin Göring-Eckardt,
({0})
vielleicht wissen Sie von der Armutsdenkschrift unserer
gemeinsamen Kirche: Gerechte Teilhabe - Befähigung
zu Eigenverantwortung und Solidarität. Da werden wir
Christinnen und Christen aufgefordert, populistischen
Dramatisierungen entgegenzuwirken.
({1})
Liebe Katrin Göring-Eckardt, ich fordere Sie auf:
Wirken Sie Sigmar Gabriel entgegen!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
der Armuts- und Reichtumsbericht beschreibt Erfolge,
die auch durch noch so populistische Reden nicht
wegzudefinieren sind. Er beschreibt sicherlich auch Aufgaben.
Wer aber wie Sie von Rot und Grün die steuerliche
Entlastung der kleinen Einkommen verhindert, wer wie
Sie von Rot und Grün sich an den kleinen Einkommenserhöhungen bereichern will, die kleinen Einkommen
belasten will und den Abbau der kalten Progression im
Bundesrat verhindert, der sollte - das ist meine Auffassung - beim Thema soziale Gerechtigkeit wesentlich
bescheidener auftreten, als Sie es heute tun.
({3})
Wer wie Sie von Rot-Grün zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder wie Sie von Grün-Rot in BadenWürttemberg durch Verschuldung die Zukunftschancen
künftiger Generationen gefährdet, der sollte beim Thema
soziale Gerechtigkeit wesentlich bescheidener auftreten,
als Sie es heute hier tun.
Wer wie Sie in Ihren Wahlprogrammen Steuererhöhungen in Milliardenhöhe für den Mittelstand fordert
und damit den Abbau von Tausenden von Arbeitsplätzen
in unserem Land billigend in Kauf nimmt, auch der
sollte zum Thema soziale Gerechtigkeit schweigen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es Ihnen
wirklich um die Menschen ginge, würden Sie eine andere Politik machen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Grün und Rot, ich nehme es Ihnen nicht ab, dass
es Ihnen um die Menschen geht. Ihnen geht es um die
Macht, und da ist Ihnen jede populistische Dramatisierung recht. Was herauskommt, wenn Sie regieren, das
haben wir in sieben Jahren rot-grüner Bundesregierung
erlebt und erleben es in verschiedenen Ländern auch
heute noch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen doch
anerkennen: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten so viele Menschen eine Arbeit wie heute.
Ja, nicht jeder Arbeitsplatz ist perfekt; aber jeder
Arbeitsplatz bietet eine Chance und ist besser als keiner.
({5})
Noch nie seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen
gab es in Deutschland so wenige Transferempfänger wie
heute. Das Risiko für Kinder, in Armut aufzuwachsen,
ist heute eindeutig rückläufig, und zwar erstmals seit
langer Zeit.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
wenn Sie das nicht anerkennen, wenn Sie darüber hinwegsehen, dann frage ich mich, ob Sie überhaupt ein
Herz oder ein Empfinden für die Sorgen der Menschen
haben. Denn hinter all diesen Zahlen, hinter all diesen
Statistiken stehen Hunderttausende Menschen, die
nachts wieder schlafen können und tagsüber wieder eine
Perspektive für sich und ihre Familien sehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
hören Sie auf, die Sachen so zu dramatisieren! Arbeiten
Sie lieber an vernünftigen Konzepten und unterstützen
Sie diese Regierungskoalition bei ihren Erfolgen für die
Menschen!
({7})
Wir versprechen den Menschen kein Schlaraffenland das kann Politik nie. Aber die Menschen in unserem
Land wissen, dass sie sich auf uns verlassen können,
({8})
dass sie sich darauf verlassen können, dass diese Regierungskoalition hart daran arbeiten wird, dass jeder in
diesem Land seine Chance erhält, wieder einzusteigen
und aufzusteigen. Deshalb investiert ja diese Regierungskoalition so wie keine zuvor in Bildung. Deshalb
investiert diese Regierungskoalition so wie keine zuvor
in eine bessere Kinderbetreuung.
({9})
Deshalb hat diese Regierungskoalition zu Beginn der
Legislaturperiode gerade die Familien um insgesamt
8,5 Milliarden Euro entlastet. Deshalb haben wir in dieser Legislaturperiode die Arbeitsvermittlung in Deutschland so stark und effizient aufgestellt wie noch nie in der
Geschichte. Deshalb strengen wir uns bei der Konsolidierung der Haushalte an wie noch keine Regierungskoalition zuvor,
({10})
damit auch künftige Generationen eine Chance haben.
Deshalb wollen wir, dass die kleineren Einkommen in
einem weiteren Schritt jetzt endlich einmal entlastet werden.
({11})
Hören Sie auf, den Abbau der kalten Progression im
Bundesrat zu verhindern! Das ist Ihre Aufgabe. Es liegt
in Ihrer Verantwortung, in diesem Bereich etwas zu tun.
Diese Regierung hat mit dem Armuts- und Reichtumsbericht und vor allen Dingen mit den aktuellen Zahlen der letzten Monate, die im Armuts- und Reichtumsbericht gar nicht erfasst sind, gezeigt, dass sie an der
Seite der Menschen steht. Mit unserem Powerpaar aus
Niedersachsen, Ursula von der Leyen und Philipp
Rösler,
({12})
arbeiten wir erfolgreich für die Menschen und helfen
wirklich da, wo Hilfe nötig ist.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Katja Kipping. Bitte schön, Frau Kollegin Katja
Kipping.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt
nun der zweite Entwurf - wohlgemerkt: Entwurf - des
4. Armuts- und Reichtumsberichts vor. Ob es SchwarzGelb schafft, sich im März endlich auf eine endgültige
Version zu einigen, ist noch ungewiss. Das Ganze dauert
deswegen so lange, weil FDP und CDU/CSU jede kritische Aussage darin fälschen.
Leider ist meine Redezeit begrenzt; deswegen kann
ich nur ein Beispiel von mehreren nennen. Noch im ersten Entwurf stand die Tatsache, dass in den vergangenen
zehn Jahren die Einkommen der unteren Gruppen
- preisbereinigt - gesunken sind. Dazu hieß es - ich zitiere aus dem ersten Entwurf -:
Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das
Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und
kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.
Das ist ein schlichter Fakt.
({0})
Dass viele Menschen in diesem Land von ihrer Arbeit
nicht leben können, das ist traurige Realität. Aber selbst
hier versucht Schwarz-Gelb sich im Schönfärben.
Wir halten also fest: Schwarz-Gelb lässt unerwünschte Abschnitte streichen. Sie versuchen diesen
politisch wichtigen Bericht zu sterilisieren, und das
Ganze läuft nach dem Motto „Ich mache mir den Bericht, widde widde wie er mir gefällt“. Was bei einer
Kinderbuchheldin wie Pippi Langstrumpf vielleicht
noch ganz nett ist, ist für eine Bundesregierung bloß
noch peinlich.
({1})
Anstatt Berichte zu schönen, sollten Sie lieber die
Wirklichkeit verbessern. Ich finde, einer Regierung, die
beim Armuts- und Reichtumsbericht Verschleierung betreibt, der muss man die Verantwortung entziehen. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass in Zukunft eine unabhängige Kommission die Erstellung des Armuts- und
Reichtumsberichts übernimmt,
({2})
in der Fachleute, Betroffene, Sozialverbände und Gewerkschaften mitwirken.
Nun konnte auch Schwarz-Gelb nicht alle Fakten aus
dem Bericht streichen. Insofern finden wir auch bemerkenswerte Angaben, zum Beispiel zur Vermögensverteilung. So heißt es: Die ärmsten 50 Prozent der Haushalte
verfügen lediglich über 1 Prozent des gesamten Nettovermögens, während die reichsten 10 Prozent über die
Hälfte des Nettovermögens verfügen. - Das muss man
sich vergegenwärtigen: Die ärmste Hälfte der Bevölkerung verfügt über 1 Prozent des Nettovermögens, und
die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über
die Hälfte der Vermögen.
({3})
Hier zeigt sich eine einfache Tatsache: Die Armut der
vielen geht einher mit dem Reichtum von wenigen.
({4})
Das ist das Problem. Wer etwas gegen Armut unternehmen will, der darf zum Reichtum nicht schweigen.
({5})
Deswegen wollen wir als Linke Millionäre, Spekulanten
und Konzerne zur Kasse bitten.
({6})
Im Gegensatz zu anderen haben wir den Biss nach
oben, und dafür haben wir gute Gründe:
Erstens. Die öffentliche Hand braucht Gelder, um Armut zu verhindern, um Teilhabe zu garantieren, um das
Öffentliche für alle zugänglich zu machen. Dass alle mit
Bus und Bahn mobil sein können, und zwar barrierefrei,
dass alle einen Kitaplatz bekommen, dass es ein warmes,
gesundes Mittagessen für jedes Kind gibt, das ist doch
nicht zu viel verlangt!
({7})
Um dies zu finanzieren, müssen wir die Millionäre stärker besteuern.
Der zweite Grund, warum wir Reichtum stärker besteuern wollen, ist der, dass inzwischen die Einkommen
in diesem Land so weit auseinanderklaffen, dass man
das wahrlich nicht mehr mit Leistungsunterschieden begründen kann.
({8})
Lassen Sie mich dafür zwei Beispiele nennen. Ein
Zugbegleiter im Nachtverkehr erhielt im Jahr 2011 rund
28 600 Euro brutto im Jahr. Der Bahnchef Grube ist bestimmt ein fleißiger und guter Mann, aber mit seinen gut
2,5 Millionen verdient er das 86-Fache davon. Wie, bitte
schön, will man das 86-Fache eines Zugbegleiters im
Nachtverkehr leisten?
Anderes Beispiel. Eine Reinigungskraft, die zum Beispiel in einer Bank in den neuen Bundesländern saubermacht, verdient, wenn es gut läuft, im Jahr brutto
21 000 Euro. Der Chef der Deutschen Bank,
Ackermann, erhielt das 447-Fache. Glauben Sie wirklich, der leistet das 447-Fache einer Reinigungskraft?
({9})
Das zeigt doch deutlich, dass die Managergehälter und
die Vorstandsvergütung in diesem Land völlig außer
Rand und Band sind.
({10})
Wir meinen: Eine solche Spreizung führt zu einer Zerreißprobe für die Demokratie. Deswegen heißt die
Agenda der Linken: Armut verhindern, Reichtum umverteilen, Managergehälter begrenzen!
({11})
- Herr Zimmer, Ihre Unterstellung, dass man bei uns
keinen Reichtumsbericht braucht, muss ich ergänzen:
Bei uns brauchte man nur einen Wohlstandsvertiefungsbericht.
({12})
In den Debatten über den Armuts- und Reichtumsbericht haben wir auch so einiges über das Demokratieverständnis der FDP erfahren. Wir sprachen schon darüber,
welche Stellen die FDP alle streichen ließ, weil sie nicht
in ihre Ideologie passten. Besonders bezeichnend fand
ich aber das Agieren eines FDP-Vertreters bei einer Debatte über den Armutsbericht am Montag: Ein Bündnis
aus Sozialverbänden und Betroffeneninitiativen hat Abgeordnete aller Fraktionen eingeladen. Als nun der FDPAbgeordnete ausführte, warum er den Hartz-IV-Regelsatz ausreichend findet, gab es kritische Zwischenrufe.
Ja, es gab Unmutsbekundungen. Aber, unter uns: Wir gehen hier manchmal ruppiger miteinander um, als die Betroffenen dort mit Ihnen umgegangen sind.
({13})
Daraufhin meinte der FDP-Abgeordnete: Wenn Sie so
mit uns umgehen, erreichen Sie nur, dass wir nicht wieder zu Ihren Diskussionen kommen. - Da formulieren
Betroffene ihren Unmut, und schon wird der Dialog abgebrochen?
({14})
Ist das das Demokratieverständnis der FDP? Suchen Sie
nur noch mit denen den Dialog, die Sie beklatschen oder
hohe Spenden überweisen? Ist das Ihr Demokratieverständnis? Erwerbslose dürfen nur klatschen, aber nicht
kritisieren?
({15})
Wenn ja, ist das ein wahres Armutszeugnis.
Wenn man sich einmal vergegenwärtigt - damit
komme ich zum Schluss -, wie schwer es ist, mit dem
Regelsatz über die Runden zu kommen, wie schwer es
ist, sich vom Regelsatz die Kosten für eine Brille abzusparen, dann muss man einsehen, dass kritische Nachfrage das Mindeste ist, womit man als gut bezahlter Abgeordneter klarkommen muss.
({16})
Ich und die Linke meinen: Es ist Ausdruck einer lebendigen Demokratie, wenn sich Erwerbslose wie Beschäftigte, Behinderte wie Studierende kritisch zu Wort
melden. Deswegen unterstützen wir natürlich Bündnisse
wie das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum.
({17})
Deswegen unterstützen wir auch die Aktionen zum
„Umfairteilen“-Aktionstag am 13. April. Um Armut in
diesem Land zu verhindern, braucht es bessere Berichte,
aber vor allen Dingen andere Kräfteverhältnisse.
Danke schön.
({18})
Vielen Dank, Frau Kollegin Katja Kipping. - Nächster Redner in unserer Aussprache für die Fraktion CDU/
CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön, Kollege Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon bemerkenswert: Wir führen heute eine Debatte,
die auch von Grünen und SPD nicht ernsthaft geführt
wird, sondern als Wahlkampfveranstaltung betrachtet
wird.
({0})
- Ja, natürlich. Sie alle wissen, dass wir hier über einen
Bericht debattieren, den es noch gar nicht gibt. Am
6. März 2013 wird er dem Bundeskabinett vorgelegt und
dann dem Parlament zugeleitet.
({1})
Sie wollen nicht auf der Grundlage von Daten und Fakten debattieren, sondern Sie wollen billige Polemik machen. Das hilft in keiner Weise den betroffenen Menschen in unserem Lande. Letztendlich führt das zu
Frustration bei den Menschen draußen. Wenn Sie die
ganze Zeit von Fälschung, Betrug und Ähnlichem reden,
({2})
Herr Vorsitzender der SPD, dann ist das niederste politische Kultur in diesem Hause.
({3})
Wir erleben, wie ernst Sie es meinen. Die SPD ist ja
angeblich die Partei der sozialen Gerechtigkeit.
({4})
Ihr Kanzlerkandidat Steinbrück hat sich diesem Thema
inzwischen angeblich auch verschrieben. Er hat sich
aber schon wieder verdrückt. Er kam schnell zur Abstimmung, zum Hammelsprung. Er ist aber nicht bereit,
an der Debatte teilzunehmen. Darüber hinaus geht er
wahrscheinlich schon wieder seiner persönlichen Reichtumsmehrung nach.
({5})
Anders kann ich das nicht werten. Das zeigt sehr deutlich: SPD und Grüne haben überhaupt kein Interesse an
einer ernsthaften Debatte.
({6})
Dies hat auch der Beitrag des Kollegen Gabriel hier
bewiesen. Der Kollege Gabriel war auch einmal Kabinettsmitglied. Er müsste wissen, dass innerhalb eines
Kabinetts grundsätzlich über Berichte, die die Bundesregierung vorzulegen hat, abgestimmt wird. Ich nehme an,
auch der Kollege Gabriel musste in seiner Funktion als
Umweltminister über so manchen Bericht im Kabinett
mit dem Bundeswirtschaftsminister und den Vertretern
der anderen Ressorts abstimmen.
({7})
Ich verstehe nicht, Herr Kollege Gabriel, wie Sie ein solches Vorgehen hier monieren können. Das zeigt sehr
deutlich: Ihnen geht es nur um Polemik und um sonst gar
nichts.
({8})
Es ist auch bemerkenswert, welches Bild hier von den
Zuständen in unserem Land gezeichnet wird, um die wir
insgesamt von allen Menschen in Europa und weit darüber hinaus beneidet werden. Sehr viele Menschen würden die angebliche Armut in Deutschland liebend gerne
ertragen - insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt,
dass man hier nicht um Sozialleistungen betteln muss,
Herr Gabriel, sondern Rechtsansprüche hat. Darauf sind
wir stolz.
({9})
Das zeigt sehr deutlich, dass Sie letztlich keine parlamentarische, gute und fachlich fundierte Auseinandersetzung wollen; Sie wollen hier nur Polemik betreiben
und sonst gar nichts.
({10})
Dann klagen Sie an, dass es angeblich eine ungerechte Verteilung gibt. Natürlich gibt es reiche Menschen in Deutschland, und natürlich gibt es auch arme
Menschen in Deutschland.
({11})
Aber reiche Menschen tragen auch einen Großteil dazu
bei, dass viele Menschen bei uns in Arbeit und Brot sind.
Das ist etwas Wichtiges. Sie zahlen vor allen Dingen
auch Steuern. 8 Prozent der Bürger zahlen 50 Prozent
der Einkommensteuer. Das ist ein großer Beitrag für soziale Gerechtigkeit in Deutschland.
({12})
50 Prozent der Steuerzahler zahlen nur 10 Prozent der
Einkommensteuer. Das zeigt sehr deutlich: Die starken
Schultern tragen auch mehr in unserer Gesellschaft. Dies
ist hier mit zu verdeutlichen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte schon
daran erinnern: Wir in Niederbayern sind mit BMW derzeit großartig gesegnet. Wir sind auch der Familie
Quandt dankbar, dass sie in einer schwierigen Zeit bereit
war, sich bei BMW und bei den Glas-Werken in Dingolfing zu engagieren. Wir sind stolz darauf, dass es in
Deutschland Aktionärinnen und Aktionäre gibt, die zum
Wirtschaftsstandort Deutschland stehen und damit die
Arbeitsplätze sichern.
Das war gerade auch im Wahlkreis von Stefan Müller
mit der Firma Schaeffler der Fall. Vor vier Jahren, als es
der Firma schlecht ging, sind 8 000 Menschen auf die
Straße gegangen und haben für den Erhalt der Arbeitsplätze demonstriert.
({13})
Dafür hat die Familie Schaeffler gesorgt. Das muss auch
einmal gesagt werden, statt dass ständig gegen reiche
Leute in Deutschland polemisiert wird.
({14})
Sie sollten gegen Ihre eigenen Genossen polemisieren. Herr Zumwinkel hat sein Geld ins Ausland gebracht
und es nicht einmal versteuert. Er gehört der SPD an,
werte Damen und Herren.
({15})
Herr Kollege Gabriel hat von Bildungschancen gesprochen und gesagt, dass sie sich nicht nach der Herkunft richten sollten. Das ist richtig.
({16})
Wir stehen für die größten Bildungschancen in unserem
Land. Die werden am besten in Bayern eröffnet, weil wir
die fundierteste Bildungspolitik haben. Bei uns gibt es
ein gutes Bildungssystem: Man macht einen Abschluss
und kann danach darauf aufbauen. Man kann auch mit
einem Hauptschulabschluss zum Schluss einen Hochschulabschluss bekommen. Dabei geht es nicht nach der
Herkunft, Herr Kollege Gabriel. Besonders gut sind bei
uns Migrantinnen und Migranten integriert.
Das Bildungssystem in Niedersachsen hat der damalige
Ein bayerischer Schüler müsse, wenn er nach Niedersachsen umzieht, zwei Jahre in der Hängematte liegen, um auf
dasselbe Niveau zu kommen.
({0})
Das war das damalige Bildungssystem unter einer sozialdemokratischen Landesregierung.
({1})
Das zeigt sehr deutlich, was möglich ist, wenn wir mitzuentscheiden haben.
Dasselbe gilt letztlich auch für die Familienunterstützung. Sie wollen das Ehegattensplitting abschaffen. Sie
wollen das Kindergeld, wenn es geht, sogar noch reduzieren,
({2})
weil Sie der Meinung sind, dass Kitaplätze besser als das
Geld für die Eltern sind; denn Sie unterstellen den Eltern, dass sie das Geld zweckentfremden und nicht für
die Kinder ausgeben würden. So ist doch die Lage in unserem Land.
({3})
Sie wollen das Betreuungsgeld abschaffen,
({4})
mit dem junge Familien unterstützt werden, die sich momentan der Kindererziehung hingeben wollen.
({5})
Wir wollen niemandem vorschreiben, wie er sich zu
verhalten hat. Bei Ihnen ist es so:
({6})
Kaum ist das Kind auf die Welt gekommen, soll es in die
Krippe gegeben werden, und die Mama muss sofort wieder am Arbeitsplatz erscheinen. Was ist das für ein Menschenbild, das Sie hier zeichnen?
({7})
Letztendlich geht es Ihnen darum, dass Sie über alles
bestimmen wollen. Der damalige Abgeordnete Scholz
hat einmal gesagt, dass er wieder die Lufthoheit über die
Kinderbetten haben möchte. Das ist der Anspruch der
Sozialdemokratie in unserem Land.
Noch einmal zur Herkunft: Herr Kollege Gabriel, ich
muss Ihnen vorhalten, was in Nordrhein-Westfalen bei
den Vorträgen in Bochum geschehen ist. Herr Steinbrück
hat das Geld dort natürlich genommen.
({8})
Aber Uli Hoeneß, der mehr der CSU zugerechnet wird,
hat darauf verzichtet. Das hat nicht nur mit Parteibuch
und Herkunft, sondern auch mit Anstand zu tun.
({9})
Deshalb sollten Sie vor Ihrer eigenen Haustür kehren
und eine vorzügliche Arbeit für die Menschen machen.
Das wünsche ich Ihnen, aber ich habe den Eindruck,
dass Sie dazu nicht fähig sind. Deshalb werden wir weiterhin die Bundesregierung stellen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. - Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Vizepräsident Eduard Oswald
Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Hilde Mattheis.
Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Straubinger musste hier ja schon sehr herumschreien, um die Zahlen, die die eigene Bundesregierung
vorgelegt hat, überhaupt nicht nennen zu müssen.
({0})
Wenn Sie sich Ihre Rede in stiller Stunde einmal anschauen, Herr Straubinger,
({1})
dann gelingt es Ihnen vielleicht, sich ein bisschen zu
schämen; denn - das sage ich Ihnen an dieser Stelle - Sie
haben als Regierungskoalition selbstverständlich eine
Mitverantwortung. Es geht hier nämlich nicht um populistischen Wahlkampf,
({2})
sondern es geht um Lebensqualität und Lebensperspektive für die Bevölkerung. Das ist Ihre Verantwortung.
({3})
Ich glaube, Sie sollten sich ein paar Zahlen ansehen.
({4})
Im Entwurf des Berichts sehen Sie zum Beispiel die Einkommensspreizung. Beim ersten Dezil der Bevölkerung,
dem untersten Zehntel der Einkommensbezieher, gab es
einen Einkommensverlust von 8,9 Prozent. Beim obersten Zehntel gab es einen Einkommenszuwachs von fast
6 Prozent. Dies wirkt sich auf die Vermögensverteilung
aus. In den letzten Jahren konnten wir Vermögenszuwächse, vor allem bei den besonders Reichen, verzeichnen. Die Vermögen der privaten Haushalte sind insgesamt - das sind Ihre Zahlen - von 4,6 auf 10 Billionen
Euro angestiegen. Angesichts dieser Zahlen kann ich mir
vorstellen, dass es nicht in Ihrem Interesse ist, diesen Bericht zeitnah, wie es sich gehört hätte, dem Parlament
vorzulegen.
Dieses Interesse wurde, Gott sei Dank, im Sommer
durch einen Pressebericht unterlaufen. Man kann sagen:
Fluch und Segen liegen eng beieinander. Dadurch haben
wir erfahren, dass der erste Entwurf an der einen oder
anderen Stelle, nicht nur bei der Analyse, sondern auch
bei den Schlussfolgerungen, doch kritische Inhalte aufgezeigt hat. Diese kritischen Inhalte sind hier in der einen oder anderen Rede schon zitiert worden. Dabei geht
es um die Verantwortung, zu prüfen, ob diejenigen mit
den hohen Vermögen genug zum Gemeinwohl beitragen.
Dies wurde geändert in: Sie könnten ja bitte spenden. Das haben Sie gerade noch einmal sehr deutlich hervorgehoben. Wir sagen „Nein“. Starke Schultern müssen
mehr tragen.
({5})
Der eigentliche Auftrag, den Rot-Grün dem Parlament und der jeweiligen Regierung gegeben hat, war, die
aktuelle Datenlage zusammenzuführen, um ein offenes,
transparentes und alle Facetten abklopfendes Lagebild
der gesellschaftlichen Zustände zu bieten. Dies hätten
Sie während der Jahre 2009, 2010 und 2011 tun sollen.
Sie haben hier aber nicht einmal ansatzweise die Daten
ausgewertet, die nicht nur das DIW, sondern jetzt auch
andere Forschungsinstitute vorgelegt haben. Da muss
ich gar nicht die Hans-Böckler-Stiftung nennen; da kann
ich auch christliche Institute und die Kirchen nennen.
Die Spaltung der Gesellschaft hat sich vertieft. Die
Schere ist auseinandergegangen.
({6})
- Schauen Sie sich Ihre eigenen Zahlen an! Wenn Sie
Ihre Zahlen lesen, dann wissen Sie es.
({7})
Versuchen Sie aber nicht, eine Falschinterpretation vorzunehmen. Ich sage Ihnen: Das Allensbach-Institut hat
im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
eine Umfrage gemacht - die Ergebnisse wurden erst vor
wenigen Tagen veröffentlicht - und kam schlicht und ergreifend zu dem Ergebnis: Fast zwei Drittel der Bevölkerung, 64 Prozent, sind der Meinung, dass sich die Ungerechtigkeiten vertieft haben.
({8})
- Das habe ich nicht gesagt. Ich habe von einer Umfrage
gesprochen.
({9})
Umfragen
({10})
sind auch Erhebungen darüber, wie die Befindlichkeit
und die Wahrnehmung in der Bevölkerung sind.
({11})
Lesen Sie einmal einer Alleinerziehenden vor, was
Sie geschrieben haben. Sie haben nämlich - übersetzt 27528
geschrieben: Sie müssen leider länger Leistungen nach
dem SGB II beziehen, weil es an Betreuungsangeboten
fehlt. - Sie haben aber nichts dazu geschrieben, was
Sie dagegen unternehmen wollen. Handlungsoptionen
fehlen komplett. Stattdessen haben Sie das Betreuungsgeld eingeführt, die Verdienstgrenze bei Minijobs von
400 Euro auf 450 Euro im Monat erhöht,
({12})
einen Mindestlohn eingeführt, der seinen Namen nicht
verdient und den Sie jetzt uns unterschieben wollen, und,
und, und. All das sind falsche Antworten auf die soziale
Spaltung.
Aber das Schlimmste ist etwas anderes. In verschiedenen Reden wurde von Ihnen behauptet, Geld sei nicht
alles. Aber die Zukunftsperspektiven der Kinder beschneiden Sie total. Es gibt nicht nur die gläserne Decke
für Frauen. Es gibt auch eine gläserne Decke für Kinder,
die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen.
({13})
Das ist unverzeihlich. Sie reden von der Zukunft des
Landes; aber Sie tun nichts dafür.
({14})
Die Bundesregierung hat den Auftrag, den ihr das
Parlament 2011 erteilt hat, nicht erfüllt. Sie verschärfen
die soziale Ungleichheit und sorgen dafür, dass der soziale Frieden in diesem Land womöglich nicht weiter bestehen bleibt. Sie setzen ihn aufs Spiel. Das weiß die
Mehrheit der Bevölkerung.
Danke.
({15})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hilde Mattheis. - Nächster Redner in unserer Aussprache für die Fraktion der
FDP unser Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege
Johannes Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wir hier erleben, ist, dass die Opposition mit ihrem
wirklich lächerlichen Zensurvorwurf
({0})
- es findet ein ganz normaler Prozess statt, nämlich eine
Ressortabstimmung - versucht, von den Dingen abzulenken, die in allen bisherigen Entwurfsfassungen des
Armuts- und Reichtumsberichts standen und die von niemandem bestritten werden.
Ich nenne nur ein paar Fakten. Wir haben weniger Arbeitslose, weniger Langzeitarbeitslose und die niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa zu verzeichnen,
({1})
und es leben weniger Kinder in Hartz-IV-Familien. Sie
sagen dann immer: Aber das sind alles schlechte Jobs. Sehen wir uns das einmal an. Der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ist stabil; da wird
nichts ersetzt, Frau Kollegin Göring-Eckardt. Der Niedriglohnsektor ist zuletzt geschrumpft. Die Einkommensungleichheit hat seit 2006 nicht weiter zugenommen.
Die Zahl der Transferleistungsempfänger sinkt seit 2006,
übrigens auch die Zahl der Vollzeitaufstocker.
({2})
Bei aller Liebe, Kolleginnen und Kollegen: Von einer
Geschichte des sozialen Verfalls kann mit Blick auf
diese Regierung ganz sicher nicht die Rede sein.
({3})
Lieber Herr Kollege Gabriel, Sie haben eben die Süddeutsche Zeitung zitiert. Ich möchte die Zeit zitieren,
eine Zeitung, die, wie ich glaube, bei uns allen sehr angesehen ist, die aber niemand als Verkündigungsorgan
der schwarz-gelben Regierung bezeichnen würde; sie
wird ja immerhin von einem ehemaligen SPD-Kanzler
herausgegeben. Lieber Herr Gabriel, ich zitiere aus einem Artikel aus der Zeit, in dem es genau um dieses
Thema geht, nämlich die Lage in Deutschland, was Armut und Reichtum betrifft:
Und SPD-Parteichef Sigmar Gabriel erklärte auf
dem Parteitag …: „… Die Armut wächst.“ Das sei
„die katastrophale Bilanz Angela Merkels“.
Die Zeit stellt danach weiter fest:
Und doch ist dieses Narrativ nicht richtig. Denn es
ist keineswegs so, dass sich die Armut in Deutschland immer weiter ausbreitet. Eher ist das Gegenteil
der Fall. Und wenn man aus diversen Untersuchungen überhaupt eine „katastrophale Bilanz“ herauslesen kann, dann beträfe sie die Regierungsjahre
von Gerhard Schröder.
({4})
Das sagen nicht wir, das sagt die Zeit, lieber Herr Kollege Gabriel.
({5})
Johannes Vogel ({6})
Aber ich will einmal auf die Grundlagen der Debatte
eingehen; denn es ist ja interessant, dass Sie immer wieder auf die Frage der Vermögensverteilung eingegangen
sind. Ich verstehe das, liebe Katja, aus der Perspektive
der Kolleginnen und Kollegen von den Linken. In ihrem
Weltbild ist das ein Problem; denn sie übersetzen Gerechtigkeit vor allem mit Gleichheit. Aber dass Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, das
auch tun, das finde ich schon bemerkenswert.
({7})
- Herr Gabriel, hören Sie gut zu, bis zum Ende!
Was ist die zentrale Kategorie von Gerechtigkeit?
Dass sich die Frage, ob eine Gesellschaft fair ist, viel
weniger an Gleichheit und viel mehr an der Frage „Haben alle gleiche Chancen?“ entscheidet, kann man zum
Beispiel in Europa sehen. Wenn man den Gleichheitsbegriff anwendet, der hinter dem Begriff der relativen Armut steht, kommen ganz bemerkenswerte Ergebnisse heraus: In Griechenland ist die Armut in den Zeiten der
Krise nur um 1 Prozent gestiegen,
({8})
in Irland ist sie niedriger als zu Boomzeiten, in Portugal
ist sie so niedrig wie noch nie in der Geschichte dieses
Landes. - Das kann doch nicht ernst gemeint sein!
({9})
Wenn diese Statistik ergibt, dass, wenn es Ländern
schlecht geht, wenn es Gesellschaften schlecht geht, die
Armut sinkt, weil die Gleichheit zunimmt, dann hat das
mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nichts zu tun.
({10})
Das kann doch kein Konzept sein, das wir hier im Deutschen Bundestag allen Ernstes vertreten wollen, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({11})
Wenn wir über die faire Gesellschaft reden, dann
muss es um Chancen gehen.
({12})
Dann ist es eben nicht so einfach, wie Sie es sich machen. Es geht zum Beispiel um Einstieg und Aufstieg auf
dem Arbeitsmarkt. Deshalb ist es richtig, Missbrauch zu
verhindern; so hat diese Koalition zum Beispiel die Zeitarbeit reguliert, ohne sie zu zerschlagen. Deshalb ist es
richtig, den Arbeitsmarkt offen zu halten und mehr in
Qualifikation zu investieren - was wir tun -,
({13})
weil das Aufstiegschancen schafft.
Dann geht es natürlich auch - das ist mein letzter
Punkt - um Bildung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lieber Herr Gabriel, liebe Frau Kollegin GöringEckardt, Sie haben beide das Thema Bildung angesprochen. Bei der Bildung kommen wir zu den Bundesländern; denn sie sind ja für die schulische Bildung zuständig. Dass Sie das Thema Bildung allen Ernstes als Beleg
für die Richtigkeit Ihrer Politik anführen und vor allem
für die angebliche Notwendigkeit, den Bürgern die Steuern zu erhöhen, das finde ich schon bemerkenswert.
Schauen wir uns die Bundesländer einmal an: In
Sachsen und Bayern regieren schwarz-gelbe Koalitionen.
({14})
Diese Länder kommen mit ihrem Geld aus, sie tilgen
Schulden und liegen, wenn es um Bildung geht, wenn es
um Chancen geht, seit Jahren in allen Pisa-Evaluationen
vorn.
({15})
Bremen zum Beispiel - seit Menschengedenken SPDoder rot-grün regiert - ist hoffnungslos verschuldet und
liegt in allen Bildungsevalutionen hinten.
({16})
Diesen Weg wollen Sie jetzt auch noch in NordrheinWestfalen, Baden-Württemberg und Niedersachsen gehen. Das können Sie machen. Nur, mit Fairness, mit
Chancen, mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun. Wenn
man sich die Länder anschaut, sieht man, welche Koalition wirklich für mehr Chancen sorgt: Das ist SchwarzGelb, das sind ganz sicher nicht Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot und Grün.
Vielen Dank.
({17})
Vielen Dank, Kollege Johannes Vogel. - Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege
Matthias W. Birkwald. Bitte schön, Kollege Matthias W.
Birkwald.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Zimmer! Mit
der Lohnentwicklung stimmt etwas nicht. In den Jahren
von 1998 bis 2008 - in dieser Zeit waren von den Parteien hier außer der Linken alle an der Regierung beteiligt - haben vor allem die untersten 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten reale Lohnverluste erleiden müssen.
Das stand im ersten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts. Wörtlich hieß es da:
Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das
Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und
kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.
Das stimmt voll und ganz; doch die FDP, der Wirtschaftsminister, hat diese richtige Einsicht ganz schnöde
wegzensiert. Das ist unseriös, und das ist feige.
({0})
Meine Damen und Herren, lieber Kollege Vogel, die
Wahrheit ist: Inzwischen arbeiten 4,7 Millionen Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnbereich. Das ist mehr als ein
Fünftel aller Vollzeitbeschäftigten. Wir können lesen,
dass in der Leiharbeit selbst Ingenieure beim Lohn zurückliegen. Insgesamt arbeiten rund 8 Millionen Menschen für einen Niedriglohn, also für weniger als 9 bis
10 Euro brutto die Stunde. 1,4 Millionen arbeiten sogar
für weniger als 5 Euro in der Stunde. Das alles schreit
doch förmlich nach einem flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von mindestens 10 Euro - übrigens
in Ost und West -; denn Arbeit darf nicht arm machen,
von Arbeit muss man leben können.
({1})
Nun ist es ja so, dass inzwischen auch die Union und
sogar die FDP über so etwas wie Lohnuntergrenzen
nachdenken. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail.
Damit meine ich nicht die FDP, die bisher noch jedes
von CDU und CSU angekündigte Minireförmchen ausgebremst hat - ich sage nur: Rentenreform -, nein, ich
meine den Vorschlag der Union selbst; denn sie schlägt
vor, allgemeinverbindliche Lohnuntergrenzen für Branchen ohne Tarifverträge einzuführen. Das hört sich toll
an, geht aber leider an der traurigen Tatsache vorbei,
dass wir reihenweise Tarifverträge mit Dumpinglöhnen
haben. Denken Sie nur an die Friseurinnen in Sachsen:
3,82 Euro brutto! Das ist die Wirklichkeit. Da müssen
wir ran, deshalb hilft hier wirklich nur ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn.
({2})
Meine Damen und Herren, viele Aussagen des Armutsberichts sind der unsäglichen FDP-Zensur zum Opfer gefallen. Aber auch das, was der Bericht beispielsweise zur Altersarmut enthält, hat oft mit der
Wirklichkeit rein gar nichts zu tun. Im Bericht selbst erklärt die Bundesregierung, Kollege Zimmer, dass je nach
Statistik das Armutsrisiko bei 848 Euro, bei 952 Euro
oder gar bei 1 063 Euro beginne, und dennoch behaupten CDU/CSU und FDP in demselben Bericht allen
Ernstes, dass die sogenannte Grundsicherung im Alter
Altersarmut verhindere. Das Grundsicherungsniveau beträgt derzeit allerdings durchschnittlich nur 707 Euro,
also deutlich weniger als 1 063 oder 952 Euro und auch
weniger, Herr Straubinger, als 848 Euro.
({3})
Armut verhindert die sogenannte Grundsicherung also
nicht. Sie, meine Damen und Herren von der Union und
der FDP, verharmlosen und verschleiern die Wirklichkeit. Und was das Schlimmste ist: Sie verhöhnen die
Menschen, die von der Grundsicherung im Alter leben
müssen. Das ist schäbig, das muss aufhören, und darum
fordern wir Linken eine solidarische Mindestrente.
1 050 Euro sind das Ziel.
({4})
Es ist erst wenige Monate her, dass Sie, Frau von der
Leyen, als zuständige Bundesministerin für Arbeit und
Soziales das Land mit einer rentenpolitischen Schocktabelle aufgerüttelt haben, und dafür bin ich Ihnen immer
noch dankbar. Doch Ihre Schocktabelle hat in der Bundesregierung ganz offensichtlich nur eine intellektuelle
und politische Schockstarre ausgelöst.
({5})
Denn einerseits kündigen Union und FDP seit Monaten
nahezu wöchentlich, ja zuweilen sogar täglich an, endlich etwas gegen Altersarmut tun zu wollen. Aber in Ihrem ärmlichen Armutsbericht behaupten Sie dann andererseits, dass die Rente sicher sei. Ich zitiere:
Millionen Rentnerinnen und Rentner und Millionen
Beschäftigte können darauf vertrauen, dass das
Rentensystem stabil ist.
Mit ihrer Rentenschocktabelle hat Frau von der Leyen
aber doch uns allen etwas völlig anderes gezeigt: 86 Prozent der Menschen, die uns die Haare frisieren, 81 Prozent derer, die Gebäude putzen, 77 Prozent der Menschen, die uns im Restaurant, in Imbissbuden oder
Eisdielen bedienen, 67 Prozent der Leiharbeiterinnen
und Leiharbeiter - dies muss immer wieder und angesichts des Amazon-Skandals besonders laut gesagt werden -, sämtliche Floristinnen und Floristen, Bäckerinnen
und Bäcker sowie Hotelkauffrauen und -männer, sie alle
werden in die Altersarmut fallen, wenn wir nichts ändern. Denn sie alle haben deutlich weniger als
2 500 Euro brutto im Monat, und das ist das Einkommen, das nach den Berechnungen von Frau von der
Leyen direkt in die Altersarmut führen wird. Ja, auch für
diese Menschen ist die Rente sicher, und zwar sicher zu
niedrig, und genau das will die Linke ändern: mit guten
Löhnen, mit guter Arbeit und mit einer guten Rente.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Man muss sich in dieser Debatte schon die Frage stellen:
Peter Weiß ({0})
Geht es jetzt um politischen Klamauk im Hinblick auf
den Wahlkampf, oder geht es uns um die Menschen in
unserem Land, die armutsgefährdet sind?
({1})
Nun kann man natürlich eine Debatte führen, wie es
die Oppositionsfraktionen getan haben, in der man sich
darüber auslässt: Welchen kommentierenden Text
schreibt wohl die Bundesregierung zu diesem Bericht?
Aber seien Sie doch einmal ehrlich: Egal was die Bundesregierung im Armuts- und Reichtumsbericht schreiben würde, Herr Gabriel, Frau Göring-Eckardt und alle
anderen Redner der Oppositionsfraktionen würden diesen Text in der Debatte anschließend kritisieren. Von daher ist es aus der Sicht der Oppositionsfraktionen doch
egal, was die Bundesregierung schreibt.
({2})
Das Entscheidende am Armuts- und Reichtumsbericht ist aber - deswegen wird er in jeder Legislaturperiode vorgelegt -, dass uns eine große Zahl renommierter, unabhängiger Wissenschaftler Zahlen, Daten, Fakten
und Entwicklungslinien aufzeigt. Diese liegen vor, und
diese kann man auch interpretieren, ohne einen Kommentar der Bundesregierung dazu gelesen zu haben. Ich
verstehe nicht, warum sich die Rednerinnen und Redner
der Oppositionsfraktionen diesem objektiven Teil des
Berichts nicht zugewandt haben.
({3})
Die Kernaussage ist: Das Hauptarmutsrisiko in
Deutschland sind lange Phasen der Arbeitslosigkeit. In
der Tat: In den Jahren der Massenarbeitslosigkeit bei uns
in Deutschland ist die Armutsgefährdung für viele Menschen deutlich angestiegen. Seit dem Jahr 2007 ist die
Zahl der Langzeitarbeitslosen aber Gott sei Dank um
rund 40 Prozent gesunken. Der Jahresdurchschnitt lag
2007 bei 1,73 Millionen und im Jahr 2011 bei 1,06 Millionen. Die wichtigste Aussage des Berichts ist deswegen: Ja, wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir alles unternehmen, um die Langzeitarbeitslosigkeit in
Deutschland weiter abzubauen und den Menschen Chancen auf Arbeit zu geben.
({4})
Das betrifft vor allen Dingen die jungen Leute. Was
die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, stehen wir europaweit am besten da. Weil gerade auch diejenigen jungen
Leute - sie kommen zumeist aus schwierigen Verhältnissen -, die noch keine Chance hatten, eine Chance bekommen sollen, haben wir mit Frau Bundesministerin
von der Leyen und der Bundesagentur für Arbeit ein
neues Programm gestartet, um denjenigen, die bislang
noch keine Chance hatten, eine solche zu eröffnen. Wir
wollen, dass jeder junge Mensch in Deutschland eine
Chance auf gut bezahlte Arbeit bekommt.
({5})
Richtig ist: In Deutschland ist der Niedriglohnsektor
über die Jahre gewachsen.
({6})
Richtig ist: In Deutschland hat die Einkommensspreizung gegenüber früher zugenommen.
({7})
Jetzt schauen Sie sich aber einmal die Statistik im Armuts- und Reichtumsbericht an: Der Anteil des Niedriglohnsektors in Deutschland ist, bezogen auf alle Beschäftigte, in den Jahren zwischen 2001 und 2007
deutlich ausgebaut worden, und zwar von 18,8 Prozent
in 2001 auf 24,2 Prozent in 2007. Seither sinkt er wieder
leicht.
Schauen Sie sich die Einkommensverteilung an: Ausgerechnet in den Regierungsjahren von Rot-Grün ist,
wie im Bericht dargestellt, die Einkommensschere in
Deutschland deutlich auseinandergegangen. Danach ist
sie Gott sei Dank nicht noch weiter auseinandergegangen. In den letzten zwei Jahren war die Spreizung sogar
wieder leicht rückläufig.
({8})
Das heißt, das Problem „Wachsende Einkommensdifferenzierung, Einkommensschere, Niedriglohnsektor“
ist vor allem in rot-grüner Regierungszeit geschaffen
worden. Dazu hätte ich von Rot und Grün in diesem Parlament doch gerne einmal ein Wort gehört.
({9})
Angesichts der Daten und Fakten im Armuts- und
Reichtumsbericht kann man meinetwegen mit dem Finger auf die CDU/CSU und die FDP zeigen. Aber wenn
Sie das tun, dann zeigt gleichzeitig eine ganze Hand auf
Sie und Ihre politische Verantwortung zurück, die Sie für
den Niedriglohnsektor und die Einkommensdifferenzierung in Deutschland tragen.
({10})
Was soll man denn von Wahlkämpfern halten, die angeblich nach diesem September in Deutschland regieren
wollen, aber hier im Deutschen Bundestag kein einziges
kritisches Wort zu dieser ihrer Regierungsverantwortung
von damals sagen, sondern so tun, als hätten sie mit dem
Problem überhaupt nichts zu tun? Hier sitzen die Problemverursacher! Sie hätten sich heute zu Ihrer Verantwortung bekennen können.
({11})
Richtig ist: Wenn wir dafür sorgen wollen, dass das
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft auch in Zukunft
Peter Weiß ({12})
gilt, dass nämlich eine Konkurrenz um die beste Leistung, um die besten Innovationen und um die besten
Ideen, aber nicht um die schlechtesten Löhne stattfindet,
dann brauchen wir in Deutschland in den Bereichen, in
denen Tarifverträge nicht mehr funktionieren, einen tariflichen Mindestlohn. Dafür setzen wir uns als Union
ein.
({13})
Herr Gabriel hat die Unterschiede angesprochen. Diesen tariflichen Mindestlohn wollen wir so finden, dass
Arbeitgeber und Gewerkschaften ihn miteinander aushandeln und der Staat ihn per Rechtsverordnung für verbindlich erklärt. Wir wollen nämlich weiterhin starke
Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände in den
Tarifverhandlungen. Das war das Erfolgsmodell der Tarifautonomie in Deutschland. Wir wollen das für die Zukunft wieder stärken.
({14})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Bemerkenswerte an dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht
ist aber,
({15})
dass er sich nicht einfach mit Zahlen, Daten und Fakten
beschäftigt, sondern erstmals ausführliche Untersuchungen zur Lebenslage armutsgefährdeter Menschen beinhaltet. Das Armutsrisiko wird eben nicht nur als statistische Größe betrachtet, sondern es werden auch
Rahmenbedingungen für soziale Mobilität geprüft.
({16})
Dabei geht es um die Frage, wie man aus Armut aussteigen kann. Der neue Armuts- und Reichtumsbericht
orientiert sich an den wesentlichen Stationen des Lebensverlaufes, und er analysiert entscheidende Übergänge für erfolgreiche Teilhabe in der jeweiligen
Lebensphase. Weiter benennt er Risiko- und Erfolgsfaktoren für soziale Mobilität und wirkungsorientierte Maßnahmen.
Wir müssen in allen Lebenslagen Möglichkeiten
schaffen, sodass jeder die Chance hat, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten und auch eigenes Vermögen aufzubauen. Auch Menschen mit kleinem Einkommen müssen die Chance haben, aufzusteigen und
sich selber Besitz zu erarbeiten. Aufstiegsmobilität, das
ist unser Motto.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die entscheidende Frage ist nicht: Wie kann die Armutsgefährdung
in Deutschland analysiert werden? Vielmehr müssen
Wege aufgezeigt werden, um aus der Armutsgefährdung
herauszukommen. Das heißt zuallererst, dass es Chancen
geben muss, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Zweitens
muss Aufstieg durch Bildung und Weiterbildung möglich sein. Drittens muss es Chancen geben, damit Migrationshintergrund kein Hemmnis mehr ist, um in
Deutschland aufzusteigen. Wir als Union, wir als Koalition von CDU, CSU und FDP wollen eine Aufsteigergesellschaft. Das ist unser Motto.
({17})
Dazu sprechen die Daten und Fakten des aktuellen
Armuts- und Reichtumsberichts, wie ich finde, eine
klare Sprache. Wir haben in der Tat schwierige Jahre zunehmender Armutsgefährdung in Deutschland hinter
uns. Das ist für viele Menschen nach wie vor eine bedrohliche Perspektive. Der Bericht zeigt aber auf, dass es
in der Regierungszeit von Angela Merkel gelungen ist,
diesen Negativtrend nicht nur zu stoppen, sondern auch
eine Trendwende herbeizuführen.
Verehrter Herr Kollege Gabriel, um zu Ihrer Rede zurückzukommen: Die Menschen in Deutschland hoffen
deswegen nicht auf eine neue Regierung, sondern sie
vertrauen zu Recht Angela Merkel,
({18})
dass sie diesen Trend zum Positiven auch nach der Bundestagswahl 2013 fortsetzen kann. Dafür arbeiten wir als
Union.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte eine kurze Bilanz ziehen und einige Bemerkungen zur Debatte machen. Erstens finde ich bemerkenswert: Kollege Volker Beck stellt zu Beginn dieser Debatte lautstark einen Antrag und verschwindet nach
Bekanntgabe des Ergebnisses des Geschäftsordnungsantrags tonlos, ohne jede Erklärung, aus diesem Saal. Ich
habe zunächst gedacht: Der muss hinausgehen, um ein
kurzes Interview zu geben. Dass er aber die gesamte Debatte versäumt, nachdem alle, die er aufgefordert hat, zu
erscheinen, auch tatsächlich hier erschienen sind, ist
skandalös und unkollegial bis zum Gehtnichtmehr.
({0})
- Aha, jetzt kommt er wieder zurück, um sich seine
Schelte abzuholen. Sie haben hier alles verpasst, Herr
Kollege Beck. Das zeigt, welches Interesse Sie am
Thema Armut wirklich haben. Dieses Thema ist Ihnen
nämlich schietegal. Ihnen ging es nur darum, in dieser
Debatte Klamauk zu machen. Das haben Sie auch ein
Stück weit erreicht.
({1})
Zum Thema Nachhaltigkeit - die Opposition ist ja
immer sehr für Nachhaltigkeit -: Insgesamt kann ich hier
kein sehr nachhaltiges Interesse bei der Opposition feststellen. Nachdem Sie am Anfang der Debatte so zahlreich erschienen waren, ist es jetzt mehr als dürftig, wie
viele von Ihnen noch hier im Plenum vertreten sind.
({2})
Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, richtet sich an den Kollegen Gabriel. Das muss man sich einmal vorstellen: Da tritt der Führer der Opposition im
Deutschen Bundestag auf, wirft sein ganzes Gewicht in
diese Debatte, hält einen 15-minütigen Wortbeitrag, und
am Ende bleibt nicht mehr als das Gefühl: Der Berg
kreißte und gebar ein Redemäuschen.
({3})
Einen Punkt Ihrer Rede, Herr Kollege Gabriel, muss
ich hervorheben.
({4})
- Herr Gabriel, es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden. Das ist in Debatten nicht ganz unüblich.
({5})
Herr Präsident, ich glaube, das ist doch sehr unkollegial,
was der Kollege Gabriel macht. Ich weiß nicht, ob am
anderen Ende der Leitung wirklich jemand ist. - Herr
Gabriel, Folgendes will ich Ihnen sagen: Ich finde es unglaublich und unerträglich, dass der Vorsitzende der ältesten Partei in Deutschland einer demokratisch gewählten Bundesregierung vorwirft, sie übe Zensur aus. Herr
Kollege Gabriel, das sollten Sie nicht nur zurücknehmen, sondern diese Aussage müssen Sie zurücknehmen.
Es geht einfach nicht, dass man in diesem Haus so miteinander umgeht.
({6})
Ich weiß nicht, wie Berichte oder Beschlüsse in der
SPD zustande kommen. Aber ich empfinde es eher als
einen Ausdruck von Demokratie, dass man über einen
Bericht diskutieren darf.
({7})
Nur in totalitären Regimen wird nicht über Berichte diskutiert. Da gibt nämlich einer, der Diktator, vor, wie die
Sache zu laufen hat. Hier bei uns läuft das anders. Das
ist auch gut so, Herr Kollege Gabriel.
({8})
Mir bleibt noch eine dritte Bemerkung. Die einzige
Neuerung, die diese Debatte heute gebracht hat, war: Sie
sagen jetzt nicht mehr: „Arbeit ist der beste Schutz vor
Armut!“ - dem stimme ich vollkommen zu; das haben
bisher alle Bundesregierungen in allen Armuts- und
Reichtumsberichten so gesehen -, sondern Sie erweitern
diesen Satz um die Aussage: „von der man auch leben
kann“.
Herr Kollege Gabriel, ich fände es nett, wenn Sie zur
Kenntnis nehmen würden, dass von den vollzeitarbeitenden Alleinlebenden in Deutschland mehr als 99 Prozent
von dem leben können, was sie verdienen, und dass es
vor allen Dingen Verheiratete und Personen mit Kindern
sind, die zum Amt gehen und aufstocken müssen.
({9})
Dass es diese Möglichkeit des Aufstockens gibt, haben
Sie und die Regierung, der Sie damals angehört haben,
vor etwa fünf bis acht Jahren in diesem Land erst eingeführt. Die Show, die Sie heute hier aufgeführt haben,
läuft ein Stück weit nach dem Motto: Haltet den Dieb; er
hat mein Messer im Rücken!
({10})
Nein, es bleibt dabei: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! Der Kollege Kober hat zu Recht gesagt: Dass
Sie die Abschaffung der kalten Progression im Bundesrat verhindern, ist ein Trauerspiel und der SPD absolut
unwürdig. Aber dass Sie hier beklagen, es gebe keine
Chancen für junge Menschen aus Hartz-IV-Haushalten,
und als SPD-Regierung vergessen haben, überhaupt etwas für Bildung im Regelsatz von Hartz IV vorzusehen,
ist doch der eigentliche Skandal.
({11})
Wir haben 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung und damit auch für Hochschulen auf den Weg
gebracht. Wir haben - ich komme aus Hessen - in diesem Bundesland 2 000 neue Lehrer eingestellt. Das sind
Bildungschancen.
({12})
Da, wo Sie regieren, in Nordrhein-Westfalen, in BadenWürttemberg, werden Lehrerstellen eingespart. Das ist
das Gegenteil von Bildungschancen.
({13})
Wer so handelt, der sollte sich hier nicht so aufblasen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Frank Heinrich
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es bleibt mir als letztem Redner ein Stück
weit die Aufgabe, die Puzzleteile zusammenzusetzen
oder vielleicht auch die Scherben zusammenzufügen.
Gestern bin ich sehr spät abends mit einem Freund in
den Kinofilm Les Misérables gegangen, der als solches
wirklich zu empfehlen ist. Es war deswegen so spät, weil
dieser Film eigentlich erst heute startet. Warum bin ich
in diesen Film gegangen? Erstens gehe ich gerne ins
Kino. Zweitens dachte ich, dieser Film - in der Übersetzung heißt er Die Elenden nach dem Roman von Victor
Hugo - könnte möglicherweise eine Anregung für meine
heutige Rede in der Debatte zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht sein bzw. zur Armuts- und Reichtumsberichterstattung, wie wir hier lesen; denn da geht es ja offensichtlich noch weit über das hinaus, was wir hier
diskutieren. Tatsächlich hat mich dieser Film ins Nachdenken gebracht und meine Vorbereitung durcheinandergebracht.
Ich spreche zu Ihnen aus zweierlei Perspektiven: Zum
einen spreche ich als Abgeordneter und Kollege, in dem
Fall einer Regierungsfraktion, zum anderen als - das war
mein vorheriger Beruf - Heilsarmeeoffizier, der sein Leben lang mit Armut zu tun hatte und selber einen großen
Teil seines Lebens unter der sogenannten Armutsgrenze
oder - so haben Sie, Herr Gabriel, es genannt - der Armutsgefährdungsgrenze gelebt hat.
Aus der ersten Perspektive, aus der eines Abgeordneten, will ich auf die Formalitäten eingehen. Das kam mir,
ehrlich gesagt, ein bisschen zu kurz, bis mein Kollege
Peter Weiß darauf eingegangen ist. Wir reden also zum
einen über einen Bericht, der noch nicht vorliegt, und
zum anderen über Anträge und eine Große Anfrage von
Ihnen, den Grünen.
Neben dem, dass wir sehr wohl ernst nehmen, was
Armut und die Reaktion darauf in Deutschland ist,
möchte ich zwei Thesen und eine Botschaft aus den Zahlen und Inhalten ableiten.
Die erste These ist: Dieses Land ist nicht arm; es redet
sich arm. Deutschland - das hat auch Herr Kollege
Zimmer vorhin gesagt - ist teilweise dabei, sich in einen
Zustand hineinzureden. Wer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgeht, ist in den seltensten
Fällen tatsächlich bedürftig; wir haben das gerade von
meinem Vorredner gehört. Gut ausgebildete Personen
sind in der Regel dauerhaft vor einem sozialen Abstieg
geschützt.
({0})
Seit 2005 ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger deutlich gesunken. Das ist ein eindeutiges und objektives Indiz dafür, dass die Gesellschaft auf einem guten Weg ist
- ich finde, das ist ein sehr deutliches Zeichen - und keineswegs in ungleicher Verteilung zerfällt, wie manche
hier wieder sehr laut verkündet haben. Die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre sind europa- und weltweit sehr anerkannt - ich finde, zu Recht.
Zweite These: stabile Mittelschicht auf der einen Seite
- auch da wird immer wieder hineingeredet und davon
weggeredet - und auf der anderen Seite, aus den Statistiken zusammengezählt, eine gleichbleibende, wenn man
so will, Unterschicht. Die unterschiedlichen Studien der
letzten Monate belegen: Deutschlands Mitte ist stabil; sie
schrumpft nicht. Ich nenne nur drei Studien - eine wurde
vorhin in Gegenrede zitiert -, die von der KonradAdenauer-Stiftung, der Bertelsmann-Stiftung und vom
DIW: deutliche Signale. Es gibt keinen Anlass für Alarmismus in die Gesellschaft hinein, keine Erosion der Mittelschicht oder gar ein - ich zitiere aus dem, was Sie auf
Ihrem Parteitag gesagt haben, Herr Gabriel; ich hoffe,
dass es so wörtlich ist - Zerreiben dieser Schicht zwischen der wachsenden Armut und dem steigenden Reichtum in Deutschland.
Zählt man alle Bürger zur Mittelschicht, die über
60 bis 200 Prozent, also ungefähr über das Doppelte, des
Durchschnittseinkommens verfügen, gehören vier Fünftel, also 80 Prozent, der Bevölkerung zur Mittelschicht.
Bei einer engeren Definition von 70 bis 150 Prozent sind
es 60 Prozent der Bevölkerung.
Es zählen heute mehr Menschen zu dieser Mittelschicht als zu Beginn der 90er-Jahre, insbesondere in
den neuen Bundesländern, wo gerade die Arbeiterschicht, die uns dort stärker ausgemacht hat, zugunsten
der Mittelschicht geschrumpft ist. Und doch gilt: Wer
von unten kommt und unten ist, bleibt meist unten. Deshalb müssen wir genau an dieser Stelle arbeiten. Aber
Achtung: Die Armutsdefinition - das wurde schon erwähnt - ist willkürlich und eben Definitionssache. Zitat
FAZ letzte Woche.
Bei den Maßstäben bin ich mir nicht sicher, ob wir
den immer wieder von allen drei Oppositionsfraktionen
in dieser Debatte vorgetragenen Punkt, der offensichtlich
nicht in die Studie hineingehören soll, zugrunde legen
wollen, nämlich das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen
zum Maßstab machen zu wollen für den wirklichen Tatbestand von Armut. Das kommt mir seltsam vor.
({1})
Fachleute unterscheiden drei Elemente: subjektive
Armut - das sind Betroffene, die sich arm fühlen, es aber
nicht unbedingt sind; Herr Zimmer hat vorhin ausgeführt, in welchen Bereichen das so sein kann -, absolute
Armut, wenn es ums nackte Überleben geht, und relative
Armut; da ist das Leben gesichert, das soziokulturelle
Existenzminimum jedoch noch nicht.
In Entwicklungsländern - wir vergleichen uns nicht
mit ihnen; das ist mir sehr wohl bewusst - ist absolute
Armut der Maßstab, mit weniger als 1,25 Dollar am Tag
zum Überleben. Bei uns ist es der Begriff der relativen
Armut.
Gleichwohl gibt es hier Menschen mit besonderem
Risiko, in soziale Not zu geraten. Gefährdung besteht,
wie gesagt, für drei Bereiche; drei Gruppen werden in
dem Bericht genannt: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und ihre Kinder sowie Migranten. Ihnen muss unsere besondere Aufmerksamkeit gelten, und es geht uns
letzten Endes hoffentlich um die Praxis und die Umsetzung dessen, was wir als Theorie gehört und gelesen haben. Es gilt, das in den Fokus zu nehmen.
Das Dritte, was ich dazu sagen wollte: Die Botschaft
daraus ist: Bildung, Bildung, Bildung. Es geht darum,
gesellschaftliche Aufstiegschancen in den Fokus zu nehmen. Da bin ich ganz bei Ihnen, Frau Göring-Eckardt,
bei der Rednerin ganz am Anfang dieser Debatte: Bildung im Zentrum des möglichen Aufstiegs.
Was ist also zu tun? Hartz IV und Wohngeld erhöhen?
Grundeinkommen und Mindestrente einführen? Das
würde vermutlich den Anreiz zur Arbeit senken und unserem sozialstaatlichen Prinzip des Förderns und Forderns widersprechen und nicht zuletzt Milliarden Euro
kosten, die uns einfach nicht jedes Jahr in dieser Höhe
zur Verfügung stehen.
Der Schlüssel im Kampf gegen Armut ist Bildung.
Die zentrale Botschaft dieses Armuts- und Reichtumsberichts ist genau das. Wir müssen auch den Einfluss der
Bildungsherkunft neutralisieren. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.
Ich hatte am Anfang gesagt, ich möchte einige Momente auch aus einer anderen Perspektive reden, Abstand nehmen von der Rolle als Abgeordneter, der sich
der einen oder der anderen Seite zuordnen lassen muss,
und einfach nur laut nachdenken. Bei dieser Auseinandersetzung - die Debatte heute hat das einmal mehr gezeigt - wird mir an der einen oder anderen Stelle übel.
Damit meine ich jetzt nicht die Debatte selbst, sondern
die dahinterstehenden Argumente. Das sage ich als jemand, der den Geruch von Armut kennt.
Wenn wir den wirklich Armen in diesem Land gerecht werden wollen, dann dürfen wir sie nicht alle einfach über einen Kamm scheren - nach oben nicht und
nicht nach unten. Es grenzt - so fühle ich mit Menschen,
mit denen ich zu tun habe - an Denunziation, diejenigen,
die wirklich in Not sind, auf eine Stufe mit allen jenen zu
stellen, die armutsgefährdet sind oder ähnlichen Begriffen zuzuordnen sind.
({2})
Und das tun wir in unserem Land, das tun wir in diesem
Haus, das tun wir in den Medien, und das tun wir auch in
vielen sozialen Organisationen. Wir machen die Menschen glauben, die Spaltung unserer Gesellschaft hätte
dramatische Formen angenommen. Die Zahlen - auch in
diesem Bericht - sagen etwas vollkommen anderes.
Aber damit werden wir denen nicht gerecht, die diese
Hilfe tatsächlich brauchen; denn es geht uns ja am
Schluss um diese Menschen. Oder habe ich da etwas
falsch verstanden? Wir spielen mit den Begriffen, und
zwischen den Worten werden die zerquetscht, die uns
brauchen, weil sie ihre Krisen eben nicht allein gemeistert bekommen.
Not müssen wir Not nennen. Arm? Da sind wir gefragt. Aber einen großen Teil zusätzlich arm zu nennen,
das ist nicht nur eine Beleidigung für die, die unsere
politische Arbeit - jenseits der Parteilichkeit - brauchen,
sondern es könnte auch bedeuten, die Menschen, die Jugend und die Gesellschaft - je länger, je mehr - zu Meckerern und Beklagern und hin und wieder sogar zu Mimosen zu erziehen. Damit werden wir beiden Gruppen
nicht gerecht.
Ich frage mich wirklich, ob wir uns nicht an unserer
Gesellschaft und unseren Nachkommen versündigen,
wenn wir nicht auch fordern. Ist nicht auch dieses
Kämpfen und Streben ein Teil dessen, was Leben und
Entwicklung ausmacht, was uns als Mensch ausmacht?
Herr Kober sprach mit Bezug auf eine Denkschrift der
EKD von der Befähigung zu Eigenverantwortung und
Solidarität.
Ein katholischer Philosoph, Romano Guardini, hat
mich sehr geprägt. Er redet unter anderem von den Lebensphasen und den Krisen, die es im Übergang immer
wieder gibt. Allerdings werden wir ohne die Bewältigung dieser Hürden eben nicht weiterkommen, nicht
wirklich weiterkommen im Leben.
Dies auszuschließen, Menschen die Herausforderungen, Krisen und Klippen zu nehmen, das hinterlässt bei
mir einige Sorgenfalten. Ich bin froh, in einem Land zu
leben, in dem es einen Armuts- und Reichtumsbericht
alle vier Jahre geben muss, und ich stehe voll dazu, dass
die Menschen, die es allein nicht schaffen, nicht auf der
Strecke bleiben dürfen. Allerdings halte ich es für
schwierig, die Forderungen und Leistungsanreize, die
dieses Leben mit sich bringt,
({3})
an allen möglichen Stellen - prophylaktisch - aus dem
Weg zu räumen.
Ich komme zum Ende.
Ja, bitte sofort. Nicht gleich, sondern sofort.
Ich will nichts gutreden. Wichtig ist mir: Besser hinschauen, weniger verallgemeinern, den Menschen mehr
zutrauen, nicht alles abnehmen und im Not- und Zweifelsfall alle erdenkliche Hilfe beim Über-die-HürdenKommen anbieten.
Zum Schluss richte ich ein Plädoyer
({0})
für mehr Solidarität an diejenigen, die im Hinblick auf
Einkommen und Besitz am oberen Ende der Skala leben.
Da muss nicht erst der Staat sagen: Einkommen verpflichtet. Diese Wahrheit
Herr Kollege Heinrich.
- ist auch ohne Steuergesetze richtig.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12389 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/8508. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/4552 mit dem Titel „Vorbereitung des 4. Armuts- und
Reichtumsberichts der Bundesregierung in der 17. Wahl-
periode - Armuts- und Reichtumsberichterstattung wei-
terentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/6389 mit dem Titel „Armuts- und Reichtumsbericht
zum Ausgangspunkt für Politikwechsel zur Herstellung
sozialer Gerechtigkeit machen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion der Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 j sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:
38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver
Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage
Asse II
- Drucksache 17/12298 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften
- Drucksache 17/12299 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Gesundheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Branntweinmonopols ({2})
- Drucksache 17/12301 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Finanzen ({3})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes
- Drucksache 17/12338 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})-
Ausschuss für Gesundheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll von Nagoya/Kuala Lumpur vom
15. Oktober 2010 über Haftung und Wiedergutmachung zum Protokoll von Cartagena
über die biologische Sicherheit
- Drucksache 17/12337 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai 2012 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Korea über die Seeschifffahrt
- Drucksache 17/12336 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})-
Auswärtiger Ausschuss -
Rechtsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung seeverkehrsrechtlicher und sonstiger
Vorschriften mit Bezug zum Seerecht
- Drucksache 17/12348 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grünlanderhalt ist Klimaschutz
- Drucksache 17/11028 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sozial und regional - Tourismus in ländlichen
Räumen stärken
- Drucksache 17/11373 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({9})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Volker Beck ({10}), Marieluise Beck
({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Landbeschaffungsgesetz überprüfen
- Drucksache 17/12195 Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss ({12})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wildtierhandel und -haltung in Deutschland
einschränken und so den Tier- und Artenschutz stärken
- Drucksache 17/12386 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ein effizientes Tierarzneimittelgesetz schaffen
und die Antibiotikagaben in der Nutztierhaltung wirkungsvoll reduzieren
- Drucksache 17/12385 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({14})-
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Dr. Valerie Wilms, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen verbessern
- Drucksache 17/12194 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15})-
Haushaltsausschuss-
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes
- Drucksache 17/12353 Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss ({16})Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 q sowie
Zusatzpunkte 4 a bis 4 e auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 39 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 12. Januar 2012 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Königreich der Niederlande über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreitenden Missbrauchs bei Sozialversicherungsleistungen und -beiträgen durch
Erwerbstätigkeit und bei Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie von
nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit und ille27538
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
galer grenzüberschreitender Leiharbeit ({17})
- Drucksache 17/12015 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({18})
- Drucksache 17/12410 Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsMartin Gerster Holger Krestel
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12410, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12015 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({19}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, zur Änderung der
Verordnung zur Begrenzung der Emissionen
flüchtiger organischer Verbindungen beim
Umfüllen oder Lagern von Ottokraftstoffen,
Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie
zur Änderung der Verordnung zur Begren-
zung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der
Betankung von Kraftfahrzeugen
- Drucksachen 17/12164, 17/12238 Nr. 2,
17/12411 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Dr. Michael Paul-
Ute Vogt-
Dr. Lutz Knopek-
Ralph Lenkert-
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12411, der Verordnung der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/12164 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkte 39 c und 39 d:
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({20})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/12285 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Jörg van Essen
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({21})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 17/12286 Berichterstattung:Abgeordneter Jörg van Essen
Ich erteile nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages als erstem Redner das Wort dem Abgeordneten
Roland Claus von der Linken. Bitte schön.
({22})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Der Deutsche Bundestag will soeben beschließen, dass gegen zwei Mitglieder meiner Fraktion staatsanwaltschaftlich ermittelt werden kann, weil sie vor
zwei Jahren friedlich und konsequent gegen Neonazis in
Dresden protestierten. Meine Fraktion stimmt gegen diesen Beschluss, weil wir meinen, dass couragierter Protest gegen Nazis unterstützt und nicht strafverfolgt gehört.
({0})
Caren Lay und Michael Leutert haben im Februar
2011 an einer Sitzblockade gegen mehrere Tausend Neofaschisten in Dresden teilgenommen. Ein Anwalt aus der
Naziszene hat sie beschuldigt, hierdurch rechtswidrig
gehandelt zu haben, und die Staatsanwaltschaft Dresden
will nun wegen dieser Anzeigen gegen beide ermitteln.
({1})
Wir haben im Ausschuss dagegen gestimmt.
({2})
Ich will hier, weil es viele irreführende Veröffentlichungen dazu gibt, nur klarstellen: Wir reden hier nicht
über eine Aufhebung der Immunität von Abgeordneten.
Das haben wir für den Einzelfall von Ermittlungsersuchen bereits zu Beginn der Legislaturperiode getan. Wir
hätten aber die Möglichkeit, hier im besonderen Einzelfall durch die Immunität einen Rechtsschutz zu gewähren.
Die Linke hat im Ausschuss dagegen gestimmt, weil
sie der Mehrheitsargumentation, die hier noch vorgetragen werden wird, nicht folgt, die da sagt: Man muss ErRoland Claus
mittlungen zulassen, weil wir Mitglieder des Bundestages
ja nichts Besseres sein wollen. Wo gegen 200 ermittelt
wird, kann nicht für zwei eine Ausnahme geschaffen werden. - Das klingt ziemlich gut, ist aber unseres Erachtens
weltfremd. Das wäre exakt die Logik, die man an vielen
Stellen antrifft: gleiches Unrecht für alle. Wir wollen aber
gleiches Recht.
({3})
Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Demonstrationen erwarten doch geradezu, dass Abgeordnete ihre Stellung in der Gesellschaft beispielhaft einbringen, und wo
immer es nötig ist, Zivilcourage zeigen. Es würde den
200, die hier von Ermittlungsverfahren belastet sind, helfen und nicht schaden, wenn wir hier anders beschließen
würden, als Sie es wollen, meine Damen und Herren.
({4})
Die heute in Rede stehende staatsanwaltschaftliche
Ermittlung der Vorgänge von 2011 ignoriert meines Erachtens auch den eigenen Erkenntnis- und Lernprozess
von Polizei und Staatsanwaltschaft im Umgang mit den
Dresdner Protesten. So ist doch gerade aus den Vorfällen
des Jahres 2011 eine Lehre gezogen worden, sodass es in
den Jahren 2012 und 2013 gelungen ist, ein weitgehend
kooperatives Zusammenwirken von Demonstrierenden
und Polizei zu organisieren. Das hat auch mit dem engagierten und besonnenen Handeln von Abgeordneten
durchaus mehrerer Fraktionen zu tun, meine Damen und
Herren.
({5})
In Dresden erfährt der Protest gegen Neonazis inzwischen eine breite parlamentarische Unterstützung. Das
ist gut, könnte aber noch besser werden. Wo immer neue
Nazis alte Nazis rechtfertigen wollen, gehört der Widerstand auf die Straße und ins Parlament.
({6})
Wo immer sich kahle Schädel drauf und drunter auf Straßen und Plätzen zur Rechtfertigung von Völkermord und
Rassismus aufmachen, gehört der ganze Deutsche Bundestag auf die Straße und nicht vor den Kadi.
({7})
Um das noch einmal zu erklären: Es handelt sich hier
nicht um eine Aussprache, sondern um Erklärungen jeweils eines Mitgliedes jeder Fraktion aus dem 1. Ausschuss. Bei Erklärungen kann es keine Zwischenfragen
und Kurzinterventionen geben. Deswegen sage ich das
noch einmal ausdrücklich.
Jetzt hat das Wort der Vorsitzende des 1. Ausschusses, der Abgeordnete Thomas Strobl von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als
Vorsitzender des für die Immunitätsangelegenheiten zuständigen 1. Ausschusses darf ich kurz daran erinnern,
worum es hier eigentlich geht: Es geht um zwei Anträge
auf Genehmigung zur Durchführung von Strafverfahren.
Herr Kollege Claus, das ist Ihr Denkfehler: Wir entscheiden in diesem Moment nicht über Recht oder Unrecht. Wir entscheiden auch nicht über Schuld oder Unschuld. Wir entscheiden auch nicht darüber, ob sich
Kollegen strafbar gemacht haben oder ob sie sich nicht
strafbar gemacht haben.
({0})
Das ist aus guten Gründen Aufgabe der Gerichte und
nicht des Deutschen Bundestages. Sie haben die Gewaltenteilung nicht begriffen,
({1})
einen Verfassungsgrundsatz, der besagt, dass wir unterschiedliche Gewalten in diesem Staat haben. Dies ist
also die Aufgabe der Gerichte und nicht die Aufgabe des
Parlaments.
({2})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, appelliere ich eindringlich an uns alle, dass aus dieser kurzen Debatte nicht ein falsches Signal nach draußen geht,
nämlich das Signal, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages darüber entschieden, welche Gesetze
für sie selber gelten und welche nicht für sie gelten;
({3})
denn wir leben in einem Rechtsstaat, in dem die Gesetze
für alle gelten. Gerade wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die wir ja die Gesetzgeber sind,
müssen uns auch an diese Gesetze halten, natürlich insbesondere an die Strafgesetze. Gerade wir können doch
den Menschen nicht das falsche Bild vermitteln, dass die
Abgeordneten selbst entschieden, ob und wann diese
Gesetze für sie gälten, ob und wann ihre eigenen Handlungen strafbar seien und ob und wann unter dem
Schutze der Immunität Abgeordnete ungestraft auch gegen Gesetze verstoßen dürften. Dies wäre doch ein völlig falscher Eindruck.
({4})
Das Immunitätsrecht, meine Damen und Herren, hat
allein den Zweck, die Funktionsfähigkeit des Parlaments
als Ganzes sicherzustellen. Es ist also nicht dafür da,
Herr Kollege Claus, einzelne Abgeordnete vor einem
Strafverfahren zu bewahren. Wir Abgeordnete sollen
durch das Immunitätsrecht ausdrücklich nicht bessergestellt werden als die Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land.
Thomas Strobl ({5})
Deswegen prüft der Immunitätsausschuss, wenn eine
Staatsanwaltschaft wie in den beiden vorliegenden Fällen den Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen Abgeordnete stellt, ob dieser
Antrag nachvollziehbar begründet ist, nicht mehr und
nicht weniger. Das hat der Ausschuss, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie in jedem Fall auch in den beiden
vorliegenden Fällen mit der größtmöglichen Sorgfalt
und unter strikter Einhaltung der seit langem bewährten
Verfahrensregeln getan. Dies versichere ich Ihnen als
Ausschussvorsitzender, und das wird Ihnen jedes einzelne Mitglied des Immunitätsausschusses bestätigen,
auch die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke werden Ihnen das bestätigen.
({6})
Im Übrigen sind dies Verfahrensregeln, denen alle
Fraktionen - ich betone: alle Fraktionen - des Deutschen
Bundestages zugestimmt haben. Wir achten sehr darauf,
dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in jedem einzelnen Fall von willkürlichen und sachfremden Erwägungen frei ist. Darüber bestand am Ende der wiederholten intensiven und sorgfältigen Beratungen gerade in
diesen beiden Fällen Einigkeit bei den Fraktionen von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen.
Die Staatsanwaltschaft hat das Verhalten der betroffenen Abgeordneten mit nachvollziehbarer Begründung
als Straftat bewertet und dargelegt, dass dies auch in
zahlreichen anderen vergleichbaren Verfahren, in denen
keine Abgeordneten betroffen waren, genauso geschehen ist.
({7})
Es liegt also ausdrücklich keine Willkür speziell gegen
Abgeordnete vor, sondern umgekehrt würden wir Abgeordnete gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die sich
solchen Strafverfahren ausgesetzt sehen, jetzt privilegieren. Dafür aber gibt es keinen erkennbaren Grund.
({8})
Damit hat der Ausschuss mit einer ganz großen Mehrheit - Ausnahme waren nur die Kollegen der Fraktion
Die Linke - keine immunitätsrechtlichen Gründe für
eine Wiederherstellung der Immunität der Betroffenen
gesehen. Daher bitte ich um Zustimmung zu den beiden
Anträgen.
Besten Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sonja Steffen von der
SPD Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Sprecherin des Immunitätsausschusses für
die Fraktion der SPD ist es mir ein Bedürfnis, zu den
Fällen der Kollegen der Linksfraktion ein paar klärende
Worte zu sagen.
Am 19. Februar 2011 haben Tausende Menschen den
Nazis die Stirn geboten und versucht, einen Marsch der
Neonazis zu blockieren. Unter ihnen waren - das werden
viele von Ihnen wissen - Vertreter der Gewerkschaften,
der Sozialverbände, der Kirchen und auch viele Politikerinnen und Politiker aller demokratischen Parteien, unter
ihnen auch Landtags- und Bundestagsabgeordnete. Nun
haben die Polizei und die Staatsanwaltschaft gegen diese
Gegendemonstranten ermittelt, und es sind strafrechtliche Maßnahmen erfolgt. Die gingen von einer Einstellung über die Einstellung unter Auflagen bis hin zu
Strafbefehlen und Urteilen. Das kam auf die jeweiligen
Einzelfälle an.
Nun fragt man sich wahrscheinlich, was an einer solchen Blockade, solange sie friedlich vonstatten geht,
strafrechtlich relevant sein soll.
({0})
Strafrechtlich relevant ist nach § 21 Versammlungsgesetz, wenn - ich zitiere aus einer Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichtes -:
eine Straße durch in mehreren Reihen zum Teil eingehakt sitzende Demonstranten für Fußgänger blockiert und dadurch ein angemeldeter Demonstrationszug … zum Halten gezwungen wird.
Dies, meine Damen und Herren, ist nicht nur in Bayern so, sondern diese Definition wird - das werden viele
von Ihnen, die Jura studiert haben, schon im ersten Semester erfahren haben - bis zum heutigen Tag von der
deutschen Rechtsprechung angewandt.
({1})
Ich bin zwar überzeugt davon, dass viele Abgeordnete
- ich höre die Zurufe von den Linken - und auch viele
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land an dieser
Stelle mit Unverständnis reagieren. Aber es ist tatsächlich bis zum heutigen Tage so: Wer sich in allerbester
und vor allem friedlicher Absicht durch eine Blockade
gegen einen Aufzug von Neonazis stellt, kann nach heutigem Recht strafrechtlich verurteilt werden.
({2})
Ihr Vorbringen ist daher sympathisch und verständlich,
aber unser deutsches Recht ist so.
Die Dresdner Sicherheitsbehörden übrigens stehen im
Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den Antineonaziprotesten massiv in der Kritik. Später wurde beispielsweise bekannt, dass bei einer massenhaften Erfassung
die Handyverbindungsdaten Tausender Demonstranten
- ich habe gelesen, dass es sogar insgesamt 138 000 Daten waren - gespeichert worden sind. Ein solches Vorgehen macht auch mir große Sorgen.
({3})
Anlässlich der Demonstration in der Fritz-LöfflerStraße, um die es hier geht, an der die beiden Kollegen
der Linksfraktion teilgenommen haben, hat die Staatsanwaltschaft Dresden - das hat der Vorsitzende des Immunitätsausschusses schon gesagt - gegen eine Vielzahl
von Personen Ermittlungsverfahren wegen des Tatbestandes des § 21 Versammlungsgesetz durchgeführt. Unter den mehr als 200 strafrechtlich verfolgten Personen
befanden sich insgesamt zwölf Abgeordnete aus Landtagen und Bundestag. Übrigens waren neben den beiden
Kollegen der Linksfraktion auch Abgeordnete von SPD
und den Grünen unter den bestraften Personen.
Vor dem Gesetz, meine Damen und Herren, sind alle
Menschen gleich. Aber es besteht für die Abgeordneten
des Bundestages eine Besonderheit. Für sie gilt nämlich
Art. 46 Grundgesetz. Jede strafrechtliche Verfolgung eines Abgeordneten ist grundsätzlich nur mit Genehmigung des Bundestages möglich. Der Vorsitzende des Immunitätsausschusses hat es schon gesagt: Die Immunität
schützt nicht den Abgeordneten selbst vor Strafe, sondern sie soll die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes sicherstellen. Diese historische Bestimmung hat ihren Ursprung aus der Zeit der Weimarer Republik.
Daher darf der Immunitätsausschuss nicht über Sinn
und Unsinn der strafrechtlichen Verfolgung im Zusammenhang mit Blockaden gegen Aufzüge entscheiden.
Auch in eine Beweiswürdigung darf er nicht eintreten,
und er darf vor allem nicht politisch entscheiden nach
dem Motto: Wer für eine staatspolitisch sinnvolle und
wichtige Sache kämpft, darf nicht bestraft werden. Der
Immunitätsausschuss hat einzig danach zu entscheiden,
ob ein Akt staatlicher Willkür aus politischen Motiven
gegen einen Abgeordneten vorliegt. Hier haben wir uns
die Prüfung weiß Gott nicht leicht gemacht. Wir haben
mehrmals intensiv im Immunitätsausschuss über diese
Fälle beraten. Die erste Stellungnahme der Dresdner
Staatsanwaltschaft war übrigens so dünn, dass wir von
der Opposition sie als so unzureichend empfunden haben, dass wir uns zunächst für die Immunität der beiden
Abgeordneten eingesetzt haben. Aber eine weitere Stellungnahme der Staatsanwaltschaft hat gezeigt, dass unsere Bedenken nicht berechtigt waren; denn, wie bereits
erwähnt, neben den beiden Kollegen der Linken wurden
nicht nur Abgeordnete und Mandatsträger, sondern eine
Vielzahl weiterer Personen wegen des gleichen Tatbestandes strafrechtlich behandelt.
Um es abschließend auf den Punkt zu bringen: Wir
sind als Immunitätsausschuss nicht berechtigt, uns an die
Stelle der Staatsanwaltschaft und der Gerichte zu setzen,
sondern haben eine willkürliche Strafverfolgung von
Abgeordneten zu verhindern.
Vielleicht bieten die Vorfälle in Dresden jedoch der
Dresdener Staatsanwaltschaft die Gelegenheit, zukünftig
ihr Vorgehen gerade im Zusammenhang mit politisch
motivierten Aufzügen noch gründlicher und sensibler zu
organisieren.
({4})
Ich habe vorhin vernommen, dass das 2012 schon wesentlich besser vonstatten gegangen ist. Darüber hinaus
bin ich der Meinung, dass es sehr zu begrüßen wäre,
wenn wir diese Fälle zum Anlass nähmen, im Parlament
über die strafrechtliche Relevanz von friedlichen Blockaden bei Demonstrationen zu debattieren.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat der Kollege Jörg van Essen von der FDPFraktion als Berichterstatter das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Präsident hat es gerade schon gesagt:
Ich bin der Berichterstatter in dieser Angelegenheit. Ich
unterstütze den Antrag, den der Vorsitzende des Immunitätsausschusses hier vorgetragen hat.
Was sind die Fakten? Ich glaube, es kommt ganz wesentlich auf die Fakten an. Zunächst einmal ist es richtig:
Es hat hier eine angemeldete und nicht verbotene Demonstration von Kräften von rechts außen gegeben.
({0})
Dagegen hat sich ein Bündnis gebildet. Ich glaube, dass
wir es hier - das muss man feststellen - in der ganzen
Breite des Hauses schätzen, dass es so etwas gibt, dass
sich die Menschen mit diesen Aufzügen von rechts nicht
zufriedengeben. Und trotzdem - ich finde, die Kollegin
Steffen hat das sehr gut herausgearbeitet - haben wir all
das im Immunitätsausschuss nicht zu bewerten.
Vielmehr haben wir das zu bewerten, was uns rechtlich
zusteht, und das sind folgende Fakten: Nach Mitteilung
der Staatsanwaltschaft - im Gegensatz zur Kollegin
Steffen habe ich keinen Anlass, in diesem Zusammenhang irgendwelche Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft in Dresden zu erheben - hat es gegen 12.30 Uhr ein
Durchbrechen der Polizeiabsperrungen und die Blockade
einer Kreuzung gegeben. Es hat dann um 13.30 Uhr die
Anmeldung einer Gegendemonstration durch eine Kollegin aus dem Bundestag gegeben. Bei den Verhandlungen
zwischen der Kollegin als Versammlungsleiterin und der
Polizei ist es zu der polizeilichen Auflage gekommen, die
Blockade um etwa 100 Meter zu verlegen. Die Kollegin
aus dem Bundestag hat offensichtlich mit den Demonstranten gesprochen
({1})
und danach der Polizei mitgeteilt, dass sie keinen Einfluss auf die Demonstranten habe. Es war die Kollegin
aus dem Deutschen Bundestag, die dann um 14.05 Uhr
diese Gegendemonstration für aufgelöst erklärt hat. Das
heißt, wir hatten zu prüfen, ob hier möglicherweise Demonstrationsrechte aus Art. 8 des Grundgesetzes zum
Tragen kommen, und wir müssen feststellen, dass es
eine Kollegin des Bundestages war, die die Versammlung für aufgelöst erklärt hat. Die Polizei hat dann nicht
sofort Maßnahmen ergriffen, sondern etwa eine halbe
Stunde abgewartet und zwischen 14.27 Uhr und
14.37 Uhr mehrfach zum Verlassen der Kreuzung aufgefordert. - Das ist der Tatbestand.
Für uns war wichtig: Gibt es irgendwelche Hinweise
auf Willkür aus politischen Gründen? Ich glaube, dass
hier die Tatsachen dafür sprechen, dass das nicht der Fall
war. Es sind über 200 Ermittlungsverfahren eingeleitet
worden, davon zwölf Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder von Verfassungsorganen wie des Landtages
Sachsen und des Bundestages. Wichtig ist - das spricht
ganz wesentlich gegen Willkür -: Von diesen zwölf Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete sind inzwischen
sechs wegen Geringfügigkeit unter Auflagen eingestellt
worden. Diese Einstellung nach § 153 a StPO setzt voraus, dass zum einen der Betroffene, dem eine Straftat
vorgeworfen wird, zustimmt, dass ihm eine Auflage gemacht wird, und zum anderen das zuständige Amtsgericht zustimmt, weil es prüfen muss, ob tatsächlich ein
strafrechtlicher Vorwurf zu erheben ist oder nicht. Das
ist in diesen sechs Fällen so geschehen. Das heißt, diese
Kollegen haben mit ihrer Zustimmung deutlich gemacht,
dass sie einsehen, dass es hier einen Verstoß gegen § 21
des Versammlungsgesetzes gegeben hat. Ich finde die
Lösung übrigens der Situation sehr angemessen, weil die
Kollegen damit nicht vorbestraft sind.
Einige der Betroffenen haben sich mit dem Angebot
der Staatsanwaltschaft nicht einverstanden erklärt. Auch
in einem solchen Fall hat ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland eine klare Lösung: Ein unabhängiger Richter hat zu entscheiden, ob der Vorwurf zu
Recht erhoben wird oder nicht. Inzwischen gibt es elf
rechtskräftige Verurteilungen wegen dieses Vorgangs.
Das alles macht deutlich, dass man von Willkür überhaupt nicht sprechen kann.
({2})
Wir empfehlen, dass wir auch hier die unabhängige Justiz entscheiden lassen und niemanden sonst.
({3})
Wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen, erfolgt das,
was bei allen anderen Bürgern auch geschehen ist: Die
unabhängige Justiz prüft, ob ein berechtigter Vorwurf
gegen diese beiden Kollegen aus der Linksfraktion erhoben wird oder nicht. Deshalb ist meine herzliche Bitte,
dass wir kein Sonderrecht für zwei Abgeordnete schaffen, sondern dass wir die Justiz prüfen lassen, ob dieser
Vorwurf durch die Staatsanwaltschaft zu Recht erhoben
wird oder nicht. Das ist der richtige Weg. Der Bundestag
war immer gut beraten, dass er die unabhängige Justiz
hat entscheiden lassen.
Vielen Dank.
({4})
Die letzte Erklärung erfolgt jetzt durch den Kollegen
Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr van
Essen, ich komme zum gleichen Ergebnis, aber mit etwas anderen Akzenten in der Argumentation. Egal, wie
wir auf die Tat und auf die politische Motivation, die
hinter der Tat steht, blicken, das Entscheidende ist: Was
haben wir als Deutscher Bundestag, was haben wir als
Immunitätsausschuss zu entscheiden?
Sie haben völlig korrekt gesagt: Wir entscheiden
nicht, ob die rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft Dresden richtig ist. Wir entscheiden auch nicht,
ob wir das für eine moralisch oder politisch billigenswerte Tat halten, sondern wir entscheiden nur: Erkennen
wir in den Ermittlungen, in den Sanktionen eine Schikane der Justiz gegen einen Abgeordneten, um die Freiheit des Mandats oder die Freiheit und Arbeitsfähigkeit
des Bundestages zu treffen?
Das war uns zu Beginn des Verfahrens nicht ganz
klar, weil die Staatsanwaltschaft zunächst sehr dünn berichtet hat. Sie von der Koalition hatten sich dann trotz
der Sachlage - vertrauend darauf, dass es so sein möge,
wie es dann am Ende auch war - entschlossen, als Mehrheit zu sagen: Wir heben die Immunität auf und lassen
die Sanktion zu. Erst als die Koalition gemerkt hat, dass
wir uns wegen der nicht beantworteten Fragen, die ich
gestellt hatte und die alle Kollegen von der Opposition
gleichermaßen bewegt haben, entschieden hatten, der
Aufhebung nicht zuzustimmen - es war Weihnachten,
eine besinnliche Zeit -, hat sich die Koalition besonnen
und die Fragen schließlich doch an die Staatsanwaltschaft Dresden übermittelt.
Das Ergebnis dieser Befragung war ganz eindeutig:
200 Bürgerinnen und Bürger sahen sich für die gleiche
Tat zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt.
({0})
Wenn das so ist, dann kann es nicht sein, dass mit Abgeordneten anders umgegangen wird als mit anderen Bürgerinnen und Bürgern.
Ich sehe aber schon - und das ist meine Botschaft
nach Dresden -, dass die Staatsanwaltschaften mit juristischen Tatbeständen trotz gleicher Rechtslage unterschiedlich umgehen. Die Staatsanwaltschaft Dortmund
zum Beispiel hat bei Blockadevorgängen eine ganz andere Praxis. Ich will der Staatsanwaltschaft Dresden vermitteln - wenn wir hier schon frei reden -, dass ich mir
wünsche, Dresden würde sich die zum Vorbild nehmen.
Wenn sie das nicht tut, dann bleibt im Falle einer als ungerecht empfundenen Sanktion nur der Weg, sich durch
die Instanzen zu klagen.
Das ist der Sinn von Gewaltenteilung. Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem wir als Legislative eine Rolle
haben, die Justiz eine andere Rolle hat und die Exekutive
wieder eine andere Rolle hat. Daran müssen wir uns halten. Als Abgeordnete dürfen wir uns nicht anheischig
machen, hier eine Sonderrolle in Anspruch zu nehmen.
Damit dieses Verfahren des Immunitätsrechts Akzeptanz
in der Bevölkerung und unter den Kolleginnen und
Kollegen findet, wird von uns als Mitgliedern des ImmuVolker Beck ({1})
nitätsausschusses verlangt, besondere Zurückhaltung in
der Öffentlichkeit bezüglich der strafrechtlichen
Vorwürfe zu üben. Wir haben diese Vorwürfe zu prüfen,
aber nur im Lichte des Immunitätsrechtes und nicht im
Sinne der Motivation der Kolleginnen und Kollegen,
und wir dürfen nicht als Ersatzstrafrichter in diesen
Fragen auftreten.
An dieser Stelle will ich eine kritische Anmerkung
machen, Herr Kollege Strobl, unser Ausschussvorsitzender. Wir haben am gleichen Tag über einen weiteren Fall
diskutiert, über die Nichtwiederherstellung der Immunität des Kollegen Gysi. Dabei ging es um eine angebliche
Falschaussage an Eides statt. Dazu haben Sie in einem
Interview gesagt: „Aber natürlich wirkt schon der Vorwurf schwer.“ Ich finde, wenn wir so argumentieren, wie
ich es gerade bezüglich der Dresdner Blockadefälle getan habe, dann steht uns als Mitgliedern des Ausschusses
und Ihnen als Vorsitzendem unseres Ausschusses eine
solche Bewertung nicht zu.
({2})
Das mögen andere Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des Meinungskampfes zwischen den Fraktionen
auch bei solchen Fragen halten, wie sie wollen. Ich rate
da generell zur Zurückhaltung. Ich halte es für möglich,
dass auch für Abgeordnete in einem Strafverfahren zunächst einmal die Unschuldsvermutung gilt. Das mögen
andere anders handhaben, aber wir müssen die Akzeptanz dieses Verfahrens, das von der Linksfraktion durch
Politisierung angegriffen wird, schützen, indem wir uns
besonders zurückhaltend zu diesen Fragen äußern.
Mir wurden die gleichen Fragen wie Ihnen gestellt.
Ich hätte das Interview auch geben können. Ich habe alle
Anfragen zurückgewiesen.
({3})
Ich weiß, der Kollege van Essen hat das genauso gehandhabt. Ich finde, daran sollten wir uns halten, um die
Akzeptanz des Verfahrens nicht zu gefährden.
Ich hoffe, dass die Verfahren, über die wir heute reden, die Bürgerinnen und Bürger nicht dazu bringen,
sich zurückhaltender zu engagieren. Wir Abgeordnete
sagen: Auch wir Abgeordnete stehen für die Konsequenzen unseres Handelns ein. Ich war letztes Jahr auch in
Dresden. Mich hat es komischerweise nicht erwischt;
aber das war eher Zufall. Ich war dieses Jahr in Magdeburg und habe blockiert gegen die Naziaufmärsche. Ich
muss das oft in Köln gegen die lokale rechtsradikale Partei pro Köln tun. Ich werde das weiter tun. Ich will da
keine Extrawurst, sondern ich will den Bürgerinnen und
Bürgern sagen: Ich stelle mich möglichen Konsequenzen, wenn ich eine Linie übertreten habe, weil ich
dachte, ich sei moralisch und politisch dazu berechtigt
oder sogar dazu verpflichtet. Ziviler Ungehorsam bedeutet auch, dass man für die Konsequenzen des zivilen
Ungehorsams einsteht. Diesbezüglich haben wir als Abgeordnete eine Vorbildfunktion. Wir müssen sagen: Ja,
wir stehen zu diesen Konsequenzen,
({4})
und wir wollen nicht privilegiert und geschützt werden.
Sie fordern für sich ein Privileg und ein Sonderrecht.
Das ist nicht legitim.
({5})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die zwei
Beschlussempfehlungen. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seinen Beschlussempfehlungen, die Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens jeweils zu erteilen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12285? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12286? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist mit gleichem
Stimmverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 4/12
- Drucksache 17/12397 Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Kauder ({1})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen
und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Martin
Nettesheim als Prozessbevollmächtigten zu bestellen.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({2})
Übersicht 8
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/12398 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Wiederum einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 39 g bis 39 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 39 g auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 526 zu Petitionen
- Drucksache 17/12201 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 527 zu Petitionen
- Drucksache 17/12202 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 i auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 528 zu Petitionen
- Drucksache 17/12203 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 j auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 529 zu Petitionen
- Drucksache 17/12204 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 530 zu Petitionen
- Drucksache 17/12205 Wer ist dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie ist
bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen sowie der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 531 zu Petitionen
- Drucksache 17/12206 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist bei Gegenstimmen der Grünen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 m auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 532 zu Petitionen
- Drucksache 17/12207 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 n auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 533 zu Petitionen
- Drucksache 17/12208 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist bei Gegenstimmen der SPD mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 534 zu Petitionen
- Drucksache 17/12209 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 535 zu Petitionen
- Drucksache 17/12210 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von
SPD und Grünen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 39 q auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 536 zu Petitionen
- Drucksache 17/12211 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sie
ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 4 a bis e auf. Zunächst
kommen wir zum Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({14}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Harald
Terpe, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetzbuch begrenzen
- Drucksachen 17/4201, 17/5698 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Götz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5698, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4201 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sie ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und
Linken.
Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({15}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Nicole
Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr
- Drucksachen 17/5057, 17/7822 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({16})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7822, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5057 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Dagegen? - Enthaltungen? - Sie ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPDFraktion.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 4 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({17}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan
Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa
- Drucksachen 17/6480, 17/7887 Berichterstattung:Abgeordneter Oliver Luksic
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7887, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6480 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sie ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({18}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, SvenChristian Kindler, Bettina Herlitzius, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Anbindung deutscher Seehäfen verbessern Alternativen zur Y-Trasse vorantreiben
- Drucksachen 17/11352, 17/12366 Berichterstattung:Abgeordneter Werner Simmling
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12366, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11352 abzulehnen. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen
Deutschland und Polen
- Drucksachen 17/9947, 17/12369 Berichterstattung:Abgeordnete Veronika Bellmann
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12369, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9947 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Jetzt rufe ich Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Umstrittene Weichenstellungen - rot-grüne
Politik in den Bundesländern
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Frank Steffel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({20})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bund der Steuerzahler ist von den rot-grünen
Plänen geschockt und spricht von einer „Steuererhöhungsorgie“. Die Medien sprechen von einem steuerpolitischen Amoklauf, und das Handelsblatt titelt: Der
rot-grüne Steuerhammer schlägt zu.
({0})
Ursache für diesen Aufschrei der Medien, der Wissenschaft und der Fachleute
({1})
sind die rot-grünen Koalitionsverträge in NordrheinWestfalen, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und
jüngst in Niedersachsen. Sie erhöhen in den rot-grün geführten Ländern Steuern, Gebühren und Abgaben dramatisch.
Sie wollen den Spitzensteuersatz um 7 Prozentpunkte
anheben. Dadurch würden höhere Steuersätze nach den
Vorstellungen der Grünen schon ab 54 000 Euro und
nach den Vorstellungen der Sozialdemokraten ab 64 000
Euro Jahresbruttoeinkommen greifen.
({2})
Sie sind gegen die Abschaffung der kalten Progression
und dagegen, dass Menschen, die mehr leisten und eine
kleine Lohnerhöhung bekommen, davon etwas übrig behalten.
({3})
Sie wollen für den Mittelstand und für unsere Unternehmen die Gewerbesteuer erhöhen. Sie wollen die Grundsteuer und die Grunderwerbsteuer erhöhen bzw. haben
das in den meisten rot-grün geführten Ländern bereits
getan; die Erhöhung ist dramatisch und hoch zweistellig.
Sie wollen das Ehegattensplitting und gleichzeitig die
Kinderfreibeträge abschaffen.
({4})
Sie wollen eine kommunale Wirtschaftsteuer - was
auch immer das ist - einführen.
({5})
Sie erhöhen die Gebühren für staatliche bzw. behördliche Leistungen in allen rot-grün geführten Bundesländern deutlich.
({6})
Sie sprechen sich für eine Erhöhung kommunaler Abgaben aus. Sie wollen die Vermögensteuer wieder einführen, obwohl es als Ausgleich für ihre Abschaffung 1997
eine deutliche Anhebung der Grunderwerbsteuer und der
Erbschaftsteuer gegeben hat. Außerdem wollen Sie die
Einnahmen aus der Erbschaftsteuer durch eine Erhöhung
der Erbschaftsteuer deutlich steigern.
Sie wollen das Dienstwagenprivileg abschaffen und
die pauschale Versteuerung von 1 Prozent auf 1,5 Prozent des Listenpreises um sage und schreibe 50 Prozent
erhöhen. Sie wollen die Schenkungsteuer drastisch erhöhen, wie man in Ihren Koalitionsvereinbarungen nachlesen kann.
({7})
In Schleswig-Holstein wollen Sie sogar noch zusätzlich
eine Klimaschutzsteuer - was immer das nun wieder ist einführen.
Sie täuschen die Menschen, wenn Sie sagen, diese
Steuererhöhungen träfen nur die Reichen. Diese Steuererhöhungen treffen alle Menschen in Deutschland.
Natürlich treffen sie zuerst die Bezieher mittlerer Einkommen und die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
({8})
Wenn Sie die Steuern für Vermieter erhöhen, zahlt der
Mieter die Zeche.
({9})
Wenn Sie die Steuern für Handwerksbetriebe erhöhen,
zahlen die Verbraucher durch höhere Preise und die Mitarbeiter durch sinkende oder nicht steigende Löhne die
Zeche. Wenn die Unternehmen in Deutschland mehr
Steuern zahlen müssen, entlassen sie ihre Mitarbeiter
und erhöhen die Preise. Die Konsequenzen sind: Die Arbeitslosigkeit steigt, und die Lohnnebenkosten steigen
ebenfalls.
Sie von Rot-Grün haben unser Land ab 1998 mit
Schröder, Lafontaine, Fischer und Trittin gegen die
Wand gefahren.
({10})
Das Ergebnis rot-grüner Politik waren 5 Millionen Arbeitslose, Rekordpleiten von Unternehmen, Rekordpleiten im Mittelstand und übrigens auch Rekordpleiten bei
Privatpersonen.
({11})
Sie haben durch Ihre falsche Politik Millionen von Menschen in Hartz IV geschickt, und Sie haben den Begriff
„Minuswachstum“ überhaupt erst eingeführt.
({12})
Sie haben Rekordschulden gemacht, Herr Heil, Sie haben gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen, und Sie
tragen die Verantwortung für die Aufweichung des
Euros.
({13})
Sie haben die Lohnnebenkosten auf 42 Prozent erhöht.
({14})
Deutschland war nach wenigen Jahren Rot-Grün das absolute Schlusslicht in Europa und trug die rote Laterne.
({15})
Als Schröder seinen Irrtum bemerkte, hat ihm die SPD
die Gefolgschaft verweigert. Deswegen, meine Damen
und Herren, ist seit 2005 Angela Merkel Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.
Seitdem hat sich Deutschland verändert.
({16})
Die Arbeitslosigkeit ist um die Hälfte gesunken. Mit
über 42 Millionen Erwerbstätigen haben wir in Deutschland Rekordbeschäftigung. Die Schuldenbremse wird
eingehalten. Ab 2014 werden wir keine neuen Schulden
mehr machen. Die Beitragssätze zur Sozialversicherung
sinken kontinuierlich; mittlerweile liegen sie insgesamt
deutlich unterhalb von 40 Prozent. Wir haben die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen, und das haben wir
ganz ohne Steuererhöhungen geschafft.
({17})
Es ist 1 Million Menschen weniger in Hartz IV, davon
übrigens 250 000 Kinder; das finde ich besonders wichtig.
({18})
Heute, unter Angela Merkel, sind wir spitze in Europa. Wir sind spitze beim Wachstum. Wir sind spitze
bei der Beschäftigung. Wir sind spitze beim Konsolidieren. Wir sind absolute Weltspitze beim Export. Wir sind
spitze bei Wissenschaft, Bildung und Forschung. Wir
sind spitze bei den Steuereinnahmen und bei der Steigerung der Steuereinnahmen, und das alles ohne Steuererhöhungen. Meine Damen und Herren, Deutschland geht
es besser.
({19})
Wenn Sie Fachleuten, Wissenschaftlern und naturgemäß uns nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens Ihrem Altkanzler Gerhard Schröder.
({20})
Altkanzler Schröder hat sich gerade in einem Interview
zu den Plänen der SPD geäußert und gesagt:
Die Pläne, die Steuern zu erhöhen, halte ich für
ganz falsch.
Niemand in Deutschland, meine Damen und Herren,
kann sagen, er habe das nicht gewusst. Die rot-grün regierten Länder machen vor, was man im Bund vorhat,
wenn man die Wahlen gewinnen würde. Insofern haben
Sie recht: Deutschland steht im September 2013 vor einer Richtungsentscheidung. In Anbetracht der Ergebnisse Ihrer Politik bin ich sicher, die Deutschen werden
die richtige Richtungsentscheidung treffen.
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen haben bei der Landtagswahl am 20. Januar dieses Jahres
den Wechsel gewählt. Sie haben der SPD und dem
Bündnis 90/Die Grünen einen Regierungs- und Gestaltungsauftrag erteilt. Nach Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein haben
CDU/CSU und FDP damit ein weiteres Bundesland verloren. Schwarz-Gelb regiert nur noch in drei Bundesländern. Ich füge hinzu: Im Herbst gibt es die Möglichkeit,
dies in zwei weiteren Bundesländern, in Hessen und
Bayern, zu ändern.
({0})
Ohne Zweifel, Herr Steffel, sind die Wahlniederlagen
Ihrer Ministerpräsidenten auch das Ergebnis einer verfehlten Politik in den Ländern, aus jeweils sehr spezifischen Gründen. Aber eines werden Sie den Menschen
nicht ausreden können: Die dramatische Serie der Wahlniederlagen von Schwarz-Gelb ist auch ein dramatisches
Misstrauensvotum der Menschen gegenüber dieser
Merkel-Regierung.
({1})
Nach meiner festen Überzeugung ist das auch kein Wunder. Schließlich ist Ihre Regierung die schlechteste Regierung seit 1949;
({2})
ich komme gleich darauf zurück.
Ich sage Ihnen: Den Schmerz in Ihren Reihen kann
ich verstehen. Wahlniederlagen sind schmerzhaft. Wir
haben das erlebt, und Sie, Herr Steffel, haben das hier in
Berlin dramatisch erlebt. Wahlniederlagen tun wirklich
sehr weh. Der Schmerz in Ihren Reihen muss so groß
sein, dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben.
Was immer der Grund dafür war, diese Aktuelle Stunde
zu beantragen - es ist ein sehr durchsichtiger Grund; das
Hubertus Heil ({3})
war ja während Ihrer Rede spürbar -, Sie zeigen damit
vor allen Dingen eines: Sie sind ganz schlechte Verlierer.
Das mögen die Menschen nicht. Sie versuchen, die niedersächsische Landesregierung, die gerade einmal zwei
Tage im Amt ist, mit Vorwürfen und Behauptungen zu
überziehen. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, dass
wir uns an zwei Stellen einmal mit diesen Vorwürfen
auseinandersetzen können.
Fangen wir an mit der Finanzpolitik. Wie sieht denn
die Bilanz von schwarz-gelber Regierungspolitik in Niedersachsen aus? Sie hinterlassen der neuen Landesregierung in Hannover eine Landesverschuldung von 60 Milliarden Euro; das ist das Ergebnis von zehn Jahren
Regierung Wulff bzw. McAllister.
({4})
Ich sage Ihnen: Die Regierung von Stephan Weil, die
neue rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen, wird
die Neuverschuldung konsequent zurückführen und die
Schuldenbremse, die laut Grundgesetz auch für die Länder vorgesehen ist, einhalten, und zwar durch eine sparsame Haushaltspolitik.
Gleichzeitig müssen wir in Zukunft investieren, zum
Beispiel in eine bessere Bildung unserer Kinder und Jugendlichen. Dafür trägt eine gerechtere Politik auf Bundesebene - in der Steuerpolitik - eine Mitverantwortung.
({5})
Herr Steffel, Sie können noch so sehr im Sound der
Tea Party über die Steuern in diesem Land reden - Tatsache ist, dass, wenn Steuern und Abgaben zusammengezählt werden, herauskommt, dass in Deutschland die unteren und mittleren Einkommen die Hauptlast tragen.
Deshalb ist es nicht schlimm, zu sagen, dass Menschen,
die durch Spitzeneinkommen Vorteile in dieser Gesellschaft genießen, auch ein Stück mehr dazu beitragen sollen, die Haushalte zu konsolidieren und in die Zukunft
dieses Landes zu investieren. Das zu diffamieren, ist ein
durchsichtiges Spiel, Herr Steffel. Mit der Realität in
Niedersachsen und in Deutschland hat das nichts zu tun.
Wir bekennen uns dazu: Wir wollen die öffentlichen
Haushalte in Ordnung bringen. Angesichts eines veränderten Aufbaus unserer Gesellschaft müssen wir gleichzeitig mehr in Bildung und in Forschung und in die Infrastruktur in diesem Land investieren.
({6})
Deshalb geht nicht zusammen, was Sie den Menschen
versprechen: gleichzeitig mehr Geld auszugeben und
mehr zu sparen und die Steuern zu senken. Dieser
schwarz-gelbe Weg ist - das werden wir deutlich machen - zu Ende. Die Schuldenbremse verpflichtet die öffentliche Hand, auf der Ausgabenseite vernünftig zu
haushalten, sie verpflichtet uns aber auch, dafür zu sorgen, dass Bund, Länder und Kommunen vernünftig finanziert sind. Angesichts verrottender Infrastruktur gerade in unseren Kommunen - das liegt an der falschen
Politik Ihrer Regierung - sage ich Ihnen: Schauen Sie
sich einmal an, was in den Kommunen Niedersachsens
nach zehn Jahren schwarz-gelber Politik an öffentlicher
Infrastruktur übrig geblieben ist und was verrottet ist und
was alles geschlossen werden musste! Das bedroht das
Zusammenleben der Menschen in den Kommunen.
Doch dort entscheidet sich, ob der Zusammenhalt einer
Gesellschaft gelingt.
Deshalb sage ich: Ja, wir sind für eine Politik mit Augenmaß, auch im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik.
Wir werden mit den Steuergeldern sparsam umgehen;
aber wir wollen auch mehr in Bildung, Forschung und
Infrastruktur investieren. Dafür brauchen wir einen angemessenen Beitrag der Spitzenverdiener in diesem Land.
({7})
Zweiter Punkt - präventiv; weil ich ahne, dass Herr
Döring gleich für die FDP das Wort ergreifen wird -: In
den letzten Tagen war allerlei zu lesen und zu hören,
Rot-Grün wolle in Niedersachen das Sitzenbleiben abschaffen. Es kann sein, dass der eine oder andere von Ihnen da traumatische frühkindliche Erfahrungen gemacht
hat. Ich sage Ihnen: Mit der Formulierung, die in den
Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, ist etwas ganz
anderes gemeint. Richtig ist, dass in meinem Heimatland
Niedersachsen nach Studien der Bertelsmann-Stiftung
- einem unabhängigen Institut - in schwarz-gelber Zeit
ein trauriger Rekord in der Schulpolitik aufgestellt
wurde: Das Abstufen nach unten in der Bildung hatte
richtig Konjunktur, der soziale Aufstieg war in Niedersachsen besonders schwierig.
Deshalb wollen wir, wo immer es geht - durch die
frühe und individuelle Förderung von Kindern, auch
durch die Möglichkeit zu längerem gemeinsamem Lernen -, dafür sorgen, dass kein Kind zurückgelassen wird,
dass jeder eine Chance auf sozialen Aufstieg durch Bildung bekommt. Wir wollen, dass Leistung und Talent
sich entfalten können und nicht Herkunft in diesem Land
zählt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({8})
Deshalb ist es richtig, dass Rot-Grün in Niedersachsen die Studiengebühren, die Sie eingeführt haben, wieder abschafft. Inzwischen macht das ja Schule: Die CSU
ist inzwischen auch auf die Idee gekommen, die Studiengebühren in Bayern infrage zu stellen.
Ich sage Ihnen zum Schluss: Es wird Ihnen nicht gelingen, Ihren Schmerz mit lauten Reden zu übertönen,
Herr Steffel. Sie haben in vielen Städten und Ländern in
Serie Wahlen verloren. Das wird sich fortsetzen. Der
Grund liegt, wie gesagt, auch in Ihrer Bundespolitik. Ich
werde Ihnen zum Schluss ein paar Fragen mit auf den
Weg geben, die Sie beantworten müssen.
Herr Kollege Heil.
Schlusskurve, Herr Präsident.
Bitte.
Ich frage Sie: Wer verweigert den Menschen in
Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn? Es ist die
Merkel-Regierung. Wer hat ein unsinniges Betreuungsgeld eingeführt? Es ist die Merkel-Regierung. Wer versucht, durch ein Abkommen mit der Schweiz Steuerkriminelle zu schützen? Es ist die Merkel-Regierung.
So, jetzt ist es aber gut.
Das ist der Grund, warum wir im Herbst auf den
Wechsel setzen - der jetzt eingeleitet wird mit den Wahlen in Niedersachsen und darüber hinaus.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring für die
FDP-Fraktion.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer angesichts eines demokratischen, aber knappen Ergebnisses in Niedersachsen hier,
lieber Herr Heil, von einem dramatischen Vertrauensverlust spricht, der hat nicht den nötigen Respekt vor den
Wählerinnen und Wählern; man kann hier auch anders
auftreten.
({0})
Die Freien Demokraten und die Union haben das
Land in einer Zeit übernommen, als es auf einem Abstiegsrang stand - im Wachstum, bei der Verschuldung
und in der Bildung. Jetzt, zehn Jahre nachdem Union
und FDP dieses Land regiert haben, sind so viele Menschen in Niedersachsen Lehrer wie noch nie in der Geschichte des Landes. Die Neuverschuldung für die
nächsten Haushalte ist so niedrig angesetzt wie noch nie,
und wir lagen im Wirtschaftswachstum auf Platz 2 hinter
Bayern vor dem grün-rot regierten Baden-Württemberg.
({1})
Das ist die Bilanz nach zehn Jahren Schwarz-Gelb in
Niedersachsen.
({2})
Wenn man Ihren Koalitionsvertrag und jene in BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen liest und die
praktische Politik in diesen Ländern betrachtet, dann
sieht man: Trotz Rekordsteuereinnahmen steigen die
Schulden in all diesen Bundesländern überproportional.
Die Neuverschuldung in den Bundesländern in Deutschland hat zwei Farben: Rot und Grün. Sie sind nicht bereit
zu sparen, und genau das ist der Fehler.
({3})
Die niedersächsische Landesregierung hat in ihrem
Koalitionsvertrag viele Wohltaten versprochen und ist
im Unkonkreten geblieben. Steuererhöhungen im Bund,
die niemals kommen werden, sollen die Wohltaten bezahlen. Steuererhöhungen im Land sind angekündigt.
Wer Grundsteuer und Grunderwerbsteuer erhöht, der belastet nicht die Superreichen und die Immobilienbesitzer,
sondern er belastet am Ende die Mieterinnen und Mieter.
Das ist Politik von Rot-Grün in schwieriger Zeit.
({4})
Kommen wir zu der wunderbaren Diskussion über die
Schulpolitik. Lieber Herr Heil, ich will mich nicht in den
schulpolitischen Details verlieren.
({5})
Ich möchte einmal den Satz erwähnen, den die neue Kultusministerin sagte und der aus meiner Sicht bemerkenswert ist. Sie sagte: „Leistung macht krank, und wir wollen ein Lernen ohne Angst.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grundfesten dieser sozialen Marktwirtschaft sind zuallererst:
„Leistung macht stolz“, und wir sollten in unseren Schulen vermitteln, dass Leistung etwas Gutes und Schönes
ist und nichts, was angst oder krank macht.
({6})
Das Einzige, was in Ihren Schulsystemen den Menschen mit auf den Weg gegeben wird, ist, dass sich der
Staat in jedem Fall kümmern wird und man möglichst
viel abgenommen bekommt, nicht nur Verantwortung,
sondern am Ende auch Geld. Das ist genau der Punkt.
({7})
Dann wird hier so blumig gesagt, wir wollten den vermeintlich Reichen
({8})
- in Wahrheit der gesellschaftlichen Mitte - mehr Geld
für Bildung und Infrastruktur abnehmen. Was passiert
denn? In Baden-Württemberg und in Niedersachsen sollen zukünftig weniger Menschen Lehrer im Schulsystem
vor Ort sein. Sie wollen Personalkosten sparen, statt in
Bildung zu investieren. Sie nehmen mit der Abschaffung
der Studiengebühren ohne Kompensation - jedenfalls
ohne gegenfinanzierte - den Universitäten in Niedersachsen gewaltige Geldmengen,
({9})
und der Qualitätsverlust in unseren Hochschulen wird
groß sein. Was ich aber viel schlimmer finde: Sie haben
alle sinnvollen verkehrspolitischen Projekte im Land auf
Eis gelegt. Diese Landesregierung wird nicht in Infrastruktur investieren, sondern sie wird sich auf die blumigen Versprechen derjenigen besinnen, die irgendwo irgendwann mal eine Bahnlinie planen wollten. Die
konkreten Projekte sind unterfinanziert, weil Sie sie
nicht wollen.
({10})
Sie sind bei A 20 und A 39 eingeknickt, und das ist
das Schlimmste, was dem Land passieren kann.
({11})
Niedersachsen ist eine starke Wirtschaftsregion, im
Wachstum die zweitstärkste in Deutschland - auch, weil
Niedersachsen als Vorhof zu Hamburg und Bremen sowie mit dem eigenen Tiefwasserhafen eine große industrielle Bedeutung hat.
({12})
Gerade die Logistikwirtschaft spielt eine entscheidende Rolle beim Wachstum von Niedersachsen. Dass
eine neue Landesregierung nicht erkennt, dass der Ausbau von Straße, Schiene und Wasserstraße existenziell
für dieses Land ist, und Planungsmittel streicht, um Fantastereien der Grünen zu finanzieren, spricht Bände. Sie
wollen Infrastruktur nicht finanzieren, so wie Sie es
schon in Baden-Württemberg und NRW nicht tun.
({13})
Letzte Bemerkung. Die zweitgrößte Wirtschaftskraft
in Niedersachsen entfaltet die unternehmerische Landwirtschaft zusammen mit der gewerblichen Ernährungswirtschaft. Bei dem, was wir darüber lesen und hören,
kann einem angst und bange werden.
Wir sind stolz darauf, dass es in Niedersachsen und in
ganz Deutschland gewerblich orientierte Landwirte gibt,
die nicht zurück zu der subventionsfinanzierten kleinbäuerlichen Struktur, sondern sich am Markt beweisen
wollen.
({14})
Das können sie in Niedersachsen Gott sei Dank,
({15})
und das soll auch so bleiben, wenn es nach uns geht.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Johanna Voß das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Mit dieser Aktuellen Stunde fährt die Regierung
ein billiges Manöver. Mit Blick auf den 22. September
2013 soll hier ein Lagerwahlkampf inszeniert werden.
Dafür fehlen die Voraussetzungen jedoch ganz erheblich.
Die Unterschiede zwischen der Regierungskoalition und
SPD und Grünen sind definitiv gering. Bei zentralen
Punkten sind die Übereinstimmungen viel stärker.
Nehmen Sie die Friedenspolitik. Seit dem KosovoEinsatz unterscheidet sich die rot-grüne Politik, abgesehen von Einzelkämpfern wie Christian Ströbele, kaum
von der konservativen Kriegsführung. Aktuell unterstützen Sie in Mali einen neokolonialen Krieg - auch im Interesse der französischen Atomindustrie.
({0})
Trittin kritisiert die Regierung von rechts und meint,
Frankreich würde militärisch nicht klar genug unterstützt. Auch der Entsendung von Patriot-Raketen in die
Türkei haben fast alle Abgeordneten von SPD und Grünen zugestimmt.
({1})
Wer eine militärische Eskalation vermeiden will, der
darf keine Waffen in Krisengebiete schicken. Nur die
Linke steht für eine konsequente Friedenspolitik, und die
fängt mit der Armutsbekämpfung hier und in Afrika an.
({2})
Ein weiterer Punkt. Alle vier Fraktionen verkünden
einhellig die neoliberalen Glaubenssätze. Auch hier bildet nur die Linke einen Gegenpol, einen sozialen Gegenpol.
({3})
Das gilt auch dann noch, wenn die SPD in der Opposition einige Forderungen der Linken, wie den Mindestlohn, aufgegriffen hat. Ein kurzer Blick auf den KanzlerJohanna Voß
kandidaten zeigt nämlich, wie ernst es der SPD mit der
tatsächlichen Umsetzung sozialer Forderungen ist.
({4})
Mit Agenda-2010-Steinbrück sehe ich keinen Politikwechsel. Am 14. März 2013 ist es zehn Jahre her, dass
die Agenda-Politik angefangen hat. Das ist wahrlich
kein Ruhmesblatt.
Der Koalitionsvertrag in Niedersachsen zeigt, dass
Rot-Grün mit dem Diktat der Schuldenbremse die fatale
neoliberale Politik fortschreiben wird. Die Schuldenbremse soll nun auch in Niedersachsen landesrechtlich
verankert werden. Gleichzeitig haben SPD und Grüne in
den vergangenen Jahren gemeinsam mit CDU und FDP
für leere Staatskassen gesorgt.
Die Steuergeschenke für Unternehmen und Rettungspakete für Banken: Dazu sagt nur die Linke „Nein“. Nur
die Linke lehnt das konsequent ab. Wir wollen die Reichen zur Kasse bitten; dann können wir die Kosten der
Wirtschafts- und Finanzkrise finanzieren. Eine Millionärssteuer, wie sie die Linke fordert, würde allein in Niedersachsen 8 Milliarden Euro in die Landeskasse spülen.
Stellen Sie sich das einmal vor! Aber der Koalitionsvertrag ist wachsweich.
Ich wohne im Wendland und bin seit 30 Jahren, wenn
nicht schon länger, in der Anti-Atom-Bewegung und war
Mitglied im Gorleben-Untersuchungsausschuss. Ich
habe es begrüßt, dass auch SPD und Grüne in Niedersachsen zu der Einsicht kamen, dass Gorleben nicht als
Atomklo geeignet ist und aus der weiteren Endlagersuche heraus muss.
({5})
Doch das war vor der Regierungsübernahme.
Von der Zusage im Wahlkampf, ein Endlagersuchgesetz nur unter Ausschluss von Gorleben mitzutragen,
blieb nun - ich zitiere den Koalitionsvertrag -:
Wir sehen die Gefahr, dass bei einem Verbleib Gorlebens … die Sicherheits-, Ausschluss- und Abwägungskriterien auf Gorleben zugeschnitten werden
würden.
Folgender klarer Satz fehlt: Wenn Gorleben im Topf
bleibt, können wir einem Endlagersuchgesetz nicht zustimmen. - Das ist keine standhafte Politik; das lässt
jede Menge Hintertürchen offen.
Im Koalitionsvertrag fehlt ebenso ein klares Bekenntnis zu einem Fracking-Verbot. Es gibt keine klaren Aussagen dazu, nicht einmal so etwas wie ein Moratorium
wie in NRW.
({6})
Auch das Verpressen des giftigen Lagerstättenwassers
in den Untergrund soll, nun jedoch mit wasserrechtlicher
Erlaubnis, weitergehen. Das alles fällt sogar hinter die
Forderung von SPD und Grünen im Bundestag sowie
hinter die der Umweltministerkonferenz zurück.
({7})
Was ist los? Der Koalitionsvertrag in Niedersachsen
enttäuscht alle, die auf einen wirklichen Politikwechsel
gehofft haben.
({8})
Wie bitte soll bei diesem großen neoliberalen Konsens
zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün ein Lagerwahlkampf aufgemacht werden können? Ein wirklicher Politikwechsel hin zu mehr Demokratie, zu einem existenzund rentensicheren Mindestlohn und zu einer friedlichen
Außenpolitik braucht eine starke Linke.
Unsere Vorschläge haben wir gestern mit dem Entwurf des Wahlprogramms vorgelegt. Eindeutig fordern
wir ein Fracking-Verbot. Eindeutig fordern wir: kein
Endlagersuchgesetz mit Gorleben im Topf. Wir haben
klare Konzepte für bezahlbare Mieten und Energiepreise, und wir haben ein durchgerechnetes Steuerkonzept. Das ist machbar und sozial gerecht, und es gibt
Kommunen und Ländern wieder notwendige Handlungsspielräume. - So groß ist der Unterschied zwischen
Rot-Grün und Schwarz-Gelb in Wirklichkeit nicht.
Danke schön.
({9})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin
Ekin Deligöz.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir
stehen am Anfang eines Wahljahres. Union und FDP
müssen feststellen, dass sie eine Wahl nach der anderen
verlieren und Rot-Grün diese gewinnt. Sie werden nervös. Das Ergebnis ist, dass Sie zu solchen Instrumenten
wie der Aktuellen Stunde greifen. Eigentlich, liebe Kollegen und Kolleginnen, müssen wir Ihnen dafür danken;
denn zum einen geben Sie uns jetzt die Gelegenheit, ein
paar Sachen zurechtzurücken, und zum anderen zeigen
Sie der Öffentlichkeit endlich einmal, wie verzweifelt
Sie sind, wenn Sie hier so laut herumbrüllen und so einen komischen Krawall veranstalten, im Versuch, sich
zu behaupten.
({0})
Glauben Sie mir, die Menschen nehmen Ihnen das nicht
ab.
Wenn wir schon darüber reden: Was ist mit den Steuern? Die Frage ist doch nicht, was geschieht, sondern,
warum es zu Steuererhöhungen kommen muss. Es muss
dazu kommen, weil Sie die Kommunen und die Länder
im Stich gelassen haben.
({1})
Sie haben diese vor Ort ausbluten lassen,
({2})
und Sie haben verhindert, dass vor Ort echte Investitionen in Bildung bzw. zur Schaffung von Teilhabegerechtigkeit überhaupt stattfinden können.
Ja, Baden-Württemberg hat die Steuern erhöht - zugunsten von Bildung. Ja, in Bremen wird unter den widrigsten Umständen versucht, eine Schuldenbremse einzuhalten. Die Bürger und Bürgerinnen stöhnen nicht
unter diesen Länderregierungen, sondern unter dieser
Bundesregierung.
({3})
Sie stöhnen, weil Sie hier komplett konzeptlos hin und
her agieren. Darunter stöhnen die Bürger und Bürgerinnen!
Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele: Finanztransaktionsteuer, Mindestlohn, Rentenpolitik.
({4})
Was genau sind da Ihre Vorschläge? Was haben wir da
zu erwarten? Sie trauen sich hier noch nicht einmal, die
Frauenquote zu behandeln. Es könnte ja etwas „Falsches“ dabei herauskommen. Die Mietpreisexplosion interessiert Sie überhaupt nicht.
({5})
Worüber haben wir geredet? Wir haben über die Einnahmen der Vermieter gesprochen, aber nicht über die Mieter. Sie ignorieren Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern in diesem Land und sagen: Alles muss
bleiben, wie es ist. - Sie wollen Deutschlands Zukunft in
die Vergangenheit zurückführen. Sagen Sie doch mal
ehrlich, dass das Ihr Ziel ist!
Ich gebe Ihnen weitere Beispiele dafür. In der Bildungspolitik behaupten Sie, das Abendland würde untergehen, weil Rot-Grün anscheinend das Sitzenbleiben abschafft.
({6})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, das ist einfach so nicht
wahr.
({7})
Wir wollen Kinder fördern, und wir wollen, dass die
Schulen die Kinder fördern. Wir wollen eine individuelle
Förderung; wir wollen, dass Kinder eine Chance bekommen, weiter voranzukommen. Wir wollen nicht, dass sie
ein Jahr verlieren, sondern wir wollen gute Bildung.
Deshalb sagen wir, dass Sitzenbleiben keine Antwort ist.
Was wollen Sie? Sie wollen sortieren, Kinder zurücklassen und ausgrenzen. Genau dazu führt die Politik des
Sitzenbleibens. Und das wollen wir nicht,
({8})
weil die Kinder von heute die Fachkräfte von morgen
sind. Wenn Sie das ignorieren, ist das eine rückwärtsgewandte Politik.
Genau das Voranbringen durch beste Förderbedingungen steht im Koalitionsvertrag für Niedersachsen. Ich
lese es Ihnen vor:
… Sitzenbleiben und Abschulung durch individuelle Förderung überflüssig machen.
Das bedeutet, dass Kinder gefördert und nicht in erster
Linie althergebrachte Strukturen bewahrt werden sollen.
Das müssen Sie wahrnehmen.
Auch wenn Sie so laut schreien: Es ist kein Zufall,
dass es inzwischen überhaupt keinen CDU- bzw. FDPKultusminister mehr gibt; denn Ihre Bildungspolitik
wird abgewählt.
({9})
Auch Ihre Studiengebühren sind abgewählt worden. In
München standen Menschen mitten im Winter Schlange,
damit sie gegen Studiengebühren unterschreiben konnten. In Niedersachsen sind die Menschen auf die Straße
gegangen und haben Rot-Grün gewählt, weil sie gegen
Studiengebühren sind. Ich bin einmal gespannt, was Ihre
neue Bundesbildungsministerin macht, die immer noch
davon schwärmt, wie toll Studiengebühren in diesem
Land sind. Das ist die Politik, für die Sie stehen. Sagen
Sie das hier doch einmal klipp und klar!
({10})
Ein anderes Beispiel: Krippenausbau. RheinlandPfalz hat schon heute die 35-Prozent-Quote bei Betreuungsplätzen für unter Dreijährige erfüllt. NordrheinWestfalen wird von Ihnen schwer dafür angegriffen, dass
es anscheinend die Quote nicht erfüllen kann. In Nordrhein-Westfalen hatte Ihre Regierung für das Jahr 2013
ganze 8 Millionen Euro für den Krippenausbau zur Verfügung gestellt. Heute stellt die Regierung dafür
253 Millionen Euro bereit. Alle, die Nordrhein-Westfalen kritisieren, müssen sich fragen, wo Nordrhein-Westfalen stehen würde, wenn Sie weiter regiert hätten, und
wie dann die Quote aussehen würde.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus
Bayern. Den besten Beweis dafür, dass die Bürger in diesem Land weiter sind als die Regierenden, auf Bundesebene und auch in Bayern, können Sie in Bayern sehen.
Die Menschen gehen auf die Straße. In München zum
Beispiel glich das Ganze dem Kampf von David gegen
Goliath, als die Menschen gegen den Ausbau des Flughafens aufgestanden sind. David - nämlich die Bürger Ekin Deligöz
hat gewonnen. Die Menschen haben ein Signal gesetzt.
Sie haben sich ferner gegen Studiengebühren entschieden. Auch Ihrem Betreuungsgeld wird dort bei weitem
nicht so applaudiert, wie Sie das immer behaupten.
Ich wünsche mir für Bayern nichts sehnlicher, als
dass wir eine Regierung wie in Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Bremen und nun Niedersachsen bekommen, weil
das gute Regierungen sind. Das ist eine gute Art und
Weise, die Zukunft voranzubringen. Die Uhr tickt, insbesondere für Sie. Da helfen Ihnen auch keine Aktuellen
Stunden.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Andreas Mattfeldt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mitnichten wird auf der rechten
Seite irgendjemand nervös. Aber wir erleben Weichenstellungen durch rot-grüne Landesregierungen, die eben
erhebliche Nachteile für die Menschen in unserem Land
bedeuten. Darauf hinzuweisen, das ist Aufgabe der Politik. Das ist der Anlass dieser Aktuellen Stunde.
({0})
Rot-Grün nimmt durch diffuse Entscheidungen billigend in Kauf, dass die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland erheblichen Schaden nimmt und die gute Arbeitsmarktlage nachhaltig gefährdet wird. Das sehen wir
leider ganz aktuell in meinem Heimatbundesland Niedersachsen. Dort wurde während des Wahlkampfes viel
versprochen. Doch was die Menschen jetzt bekommen,
das verschlechtert ihre Lebensbedingungen massiv.
({1})
Dabei hat Ihnen, Herr Heil, die christlich-liberale
Landesregierung in Niedersachsen ein gut bestelltes
Land mit besten Perspektiven übergeben:
({2})
hohes Wirtschaftswachstum, niedrige Arbeitslosigkeit,
leistungsfähige Schulen und Hochschulen und, Herr
Heil, vor allen Dingen solide Landesfinanzen.
({3})
Wenn Sie hier von Schulden in Höhe von 60 Milliarden
Euro sprechen - Sie wiederholen es gerade -, dann gehört zur Wahrheit dazu, dass 46 Milliarden Euro an
Schulden aus Ihrer Zeit, aus der Zeit von Herrn Gabriel
übernommen wurden und er in seiner letzten Zeit noch
3 Milliarden Euro gemacht und uns übergeben hat. Das
ist die Wahrheit.
({4})
Angesichts des Koalitionsvertrags der neuen Landesregierung bin ich zutiefst entsetzt. Rot-Grün hat sich
entschieden, den Erfolgspfad solider Entscheidungen
dauerhaft zu verlassen und stellt einmal mehr Parteiinteressen vor Landesinteressen.
({5})
Rot-Grün hat sich vom wichtigsten politischen Ziel für
nachfolgende Generationen, nämlich vom Ziel der Haushaltskonsolidierung, verabschiedet
({6})
und steht für höhere Schulden sowie für eine regelrechte
Orgie an Steuererhöhungen.
({7})
Es fehlt das Geld, um die teuren und ideologischen
Wahlversprechen zu finanzieren. Deshalb drehen Sie
jetzt munter an der Steuerschraube.
({8})
Es wundert natürlich wenig, dass sich Rot-Grün vom
McAllister-Ziel verabschiedet hat, die Schuldenbremse
bereits 2017 einzuhalten.
({9})
Sie wollen nun erst 2020, also weit nach der kommenden
Landtagswahl, dieses Ziel einhalten. Es ist immer leicht,
sich Ziele zu setzen, die so weit in der Zukunft liegen,
dass sie wohl erst von nachfolgenden Regierungen realisiert werden müssen.
({10})
Rot-grün agiert hier ganz nach dem Motto „Nach mir die
Sintflut“.
({11})
Verantwortungsbewusstes Regieren gerade für junge
Menschen in diesem Land sieht anders aus.
({12})
Wenn man dann noch wie beim Kitaausbau zusätzliches
Geld für Investitionen und Bewirtschaftung anbietet, es
Ihnen quasi hinterherträgt, dann wollen Sie es noch nicht
einmal annehmen, wie wir gesehen haben, sondern Sie
verweigern durch ideologische Blockadehaltung im
Bundesrat die zügige Auszahlung von 580 Millionen
Euro an die Städte und Gemeinden bei uns im Land. Erst
ein eiliges Gesetz durch die Bundesregierung musste
dieses heilen, damit Städte und Gemeinden endlich
bauen können.
Meine Damen und Herren, Niedersachsen erwartet
jetzt aber auch ein Mehr an Ausgaben für die Sozialindustrie.
({13})
Denn es ist logisch, dass zuerst die eigene Wählerklientel die Einlösung von Wahlversprechen erwartet.
({14})
Mehr Sozialausgaben - das hört sich zunächst schön und
vor allen Dingen auch großzügig an. Uns allen ist aber
heute schon klar, dass kommende Generationen diese
Großzügigkeit nicht werden bezahlen können.
Erst einmal werden die Ausgaben nun aber ganz einfach dadurch finanziert, dass man wichtige Fernstraßenund Infrastrukturprojekte auf Eis legt. Aber kluge Menschen wissen, dass man dadurch nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die hervorragenden Arbeitslosenzahlen in Niedersachsen und nicht nur dort
erheblich gefährdet.
Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger meines Wahlkreises beschäftigen sich derzeit mit
vielen Fragen im Bereich der Erdgasförderung. Auch in
diesem Bereich hält der niedersächsische Koalitionsvertrag nicht das, was gerade Sie vorher lauthals versprochen haben. Kurz vor Weihnachten haben wir an dieser
Stelle über einen Antrag von Ihnen, den Grünen, debattiert, in dem ein Moratorium für Fracking gefordert
wurde. Ich habe dem sogar - das macht man nicht jeden
Tag - zugestimmt.
({15})
Wer allerdings jetzt glaubt, dass Derartiges im rot-grünen Koalitionsvertrag in Niedersachsen festgehalten
wurde, der wird bitter enttäuscht. Im Koalitionsvertrag
findet man nur vage und unbestimmte Äußerungen zum
Thema Fracking.
({16})
Ich habe den Eindruck, 500 Millionen Euro Förderzins
haben die rot-grüne Landesregierung dazu gebracht, ihre
Versprechungen ganz, ganz schnell über Bord zu werfen.
In Niedersachsen enttäuscht der Koalitionsvertrag
nicht nur, weil Versprochenes nicht eingehalten wurde,
sondern vor allen Dingen, weil wichtige Aufgaben nicht
angegangen, sondern in ferne Zukunft nach der nächsten
Wahl verschoben wurden.
Alles in allem kann ich Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Eine verantwortungsbewusste Politik sieht bei weitem anders aus.
Danke schön.
({17})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Oliver Kaczmarek.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin ein
bisschen enttäuscht. Ich habe mich vorbereitet und überlegt, mit welchen Finten Sie jetzt die Landespolitik in
den rot-grün geführten Ländern auseinandernehmen
könnten und wie wir darauf reagieren sollten. Aber im
Grunde sind Sie, glaube ich, nur sauer über den Liebesentzug durch die Wählerinnen und Wähler, und so reagieren Sie auch: irrational.
({0})
Dabei ist die Antwort auf die Frage, warum Sie so
viele Landtags- und im Übrigen auch Oberbürgermeisterwahlen verloren haben, ziemlich einfach: Sie haben
selbst falsche Weichenstellungen vorgenommen. Sie haben Studiengebühren eingeführt. Sie haben in der frühkindlichen Bildung die Gruppengrößen heraufgesetzt.
Dazu gibt es eine aktuelle Auseinandersetzung auch in
Hessen. Sie haben die Gesamtschulen benachteiligt. Das
ist in Niedersachsen ein ganz großes Problem.
Sie haben massiv gegen das Gerechtigkeitsempfinden
der Menschen und massiv gegen das Chancengleichheitsverständnis verstoßen. Deswegen sind Sie abgewählt worden, und das zu Recht.
({1})
Dass Sie daraus nichts gelernt haben, zeigt ein Blick
in mein Heimatland Nordrhein-Westfalen. Denn in diesen Minuten kommt der Haushalts- und Finanzausschuss
des nordrhein-westfälischen Landtags zusammen. Die
CDU wird dort ihre bekannten Vorschläge noch einmal
vortragen: Wiedereinführung von Studiengebühren und
Wiedereinführung von Elternbeiträgen im letzten Kindergartenjahr.
Sie wollen im Haushalt das Geld, das jetzt den Universitäten und Kindertageseinrichtungen als Kompensation zur Verfügung gestellt wird, streichen, und Sie wollen dafür die Eltern zur Kasse bitten. An diesem Beispiel
wird der Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und RotGrün aus meiner Sicht überdeutlich.
Während wir in Nordrhein-Westfalen die Familien
durch die Abschaffung der Studiengebühren und die
Beitragsfreistellung im letzten Kindergartenjahr um
400 Millionen Euro entlasten und das sauber mit einer
Erhöhung der Grunderwerbsteuer gegenfinanziert haben, wollen Sie die Familien in Nordrhein-Westfalen mit
400 Millionen Euro belasten. Sie wollen eine Umverteilungspolitik zulasten der Familien in Nordrhein-WestfaOliver Kaczmarek
len. Deswegen sind Sie auch zu Recht so weit weg von
der Regierungsverantwortung.
({2})
Sie wollen jetzt stattdessen aus Enttäuschung über
Ihre Wahlniederlagen - klar! -, aber auch aus einer gewissen Verantwortungslosigkeit, wie ich finde, gegenüber den Ländern die Länder schlechtreden, um sich
eine bessere Ausgangsposition für die Bundestagswahl
zu verschaffen.
Das führt mich zu zwei Schlussfolgerungen. Erstens.
Ich glaube, dass diese Verweigerungshaltung, diese Verantwortungslosigkeit zeigen: Sie sind nicht mehr willens
oder in der Lage, gesamtstaatliche Verantwortung zu
übernehmen, und das insbesondere in der Bildungspolitik.
Auf keinem anderen Politikfeld erwarten die Menschen
nämlich - zu Recht - mehr Zusammenarbeit von Bund
und Ländern wie in der Bildungspolitik.
({3})
Wir müssen noch mehr in frühkindliche Bildung investieren, wir müssen mehr Ganztagsschulen einrichten, wir
brauchen eine Ausbildungsgarantie. Viele weitere Beispiele könnte man dafür anführen, wo Bund und Länder
dringend besser kooperieren müssen. Denn keines der
Länder - ich hätte auch noch die Hochschulen anführen
können - wird das auf Dauer allein schaffen.
Doch die Koalition verweigert sich einer systematischen Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der
Bildung. Sie halten am Kooperationsverbot fest und legen stattdessen eine Mini-Grundgesetzänderung vor,
({4})
die für - das wissen Sie selbst - die großen Bildungsherausforderungen nichts bewegt. Deswegen: Tun Sie
sich endlich mit den Ländern zusammen! Die Menschen
erwarten das zu Recht. Keiner will Ihr verantwortungsloses Schwarzer-Peter-Spiel gegen die Länder. Die
Menschen erwarten zu Recht ein Miteinander in der Bildungspolitik und nicht ein Gegeneinander und Schuldzuweisungen.
({5})
Zweite Schlussfolgerung. Während sich SchwarzGelb in zentralen Fragen eben nicht einigen kann, zeigen
die rot-grünen Landesregierungen, wie man eine Haltung einnimmt und damit auch Verantwortung übernimmt.
({6})
Vor drei Wochen hat hier der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger gestanden, ein sehr geschätzter
Mann, der eben nicht nur über Rechtsextremismus redet,
sondern der ihn auch konsequent verfolgt und Organisationen verbietet. Er hat die Botschaft aller Innenminister
überbracht, ein Verbotsverfahren gegen die NPD zu eröffnen.
Ich will das in der Sache gar nicht weiter ausführen,
aber welcher Unterschied ist auch das? Hier ein Innenminister, der für alle Innenminister der Länder spricht,
eine klare Haltung zum NPD-Verbot übermittelt, und
dort im Saal eine Koalition und eine Bundesregierung,
die noch nicht einmal in der Lage sind zu sagen, ob sie
für oder gegen ein NPD-Verbotsverfahren sind, die nicht
in der Lage sind, überhaupt irgendeine Haltung einzunehmen. Das ist ein echtes Armutszeugnis und auch ein
klarer Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und RotGrün.
({7})
Ein anderes, ein letztes Beispiel. Der Bundesrat hat
Verantwortung für das Thema Steuergerechtigkeit übernommen und deshalb auch zu Recht das von Ihnen ausverhandelte Steuerabkommen mit der Schweiz abgelehnt. Welch ein Unterschied auch hier! Hier auf der
rechten Seite diejenigen, die Steuerbetrügern für ein Taschengeld das Freikaufen ermöglichen wollen, und dort
diejenigen, die mit konsequenter Strafverfolgung gegen
Steuerbetrug vorgehen - auch durch den Ankauf entsprechender CDs. Das ist eine Frage, die das elementare
Gerechtigkeitsempfinden der Menschen betrifft. Auch
hier ein ganz deutlicher Unterschied zwischen SchwarzGelb und Rot-Grün.
({8})
Insofern - ich komme zum Schluss - ist diese Aktuelle Stunde dann doch vielleicht sinnvoll, um deutlich
zu machen, wo die Unterschiede liegen: Wir haben Verantwortung übernommen, Haltung gezeigt, Partei ergriffen. Wir haben Chancen geschaffen. Sie haben Ihre
Chance seit 2009 nicht genutzt.
Vielen Dank.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Birgit
Homburger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist hier in dieser Debatte gerade einiges gesagt worden,
was man dringend richtigstellen muss. Das fängt damit
an, dass hier behauptet worden ist, dass wir die Kommunen und die Länder im Stich lassen würden.
({0})
Das Gegenteil, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ist der Fall. Ich mache Ihnen das nur einmal an einem
Beispiel deutlich: In Baden-Württemberg nimmt eine
grün-rote Landesregierung 350 Millionen Euro aus dem
kommunalen Finanzausgleich raus, Geld, das man den
Kommunen wegnimmt, weil das Land angeblich diese
Mittel braucht.
Sie ignorieren auch völlig, dass der Bund zwischenzeitlich erhebliche Lasten zum Beispiel dadurch dauerhaft übernommen hat, dass er zukünftig die Grundsicherung im Alter komplett bezahlt. Damit werden die
Länder und die Kommunen entlastet. Im letzten Jahr betrug diese Entlastung für die Bundesländer 10,5 Milliarden Euro, in diesem Jahr werden es 12 Milliarden Euro
sein, und in den nächsten Jahren werden es ebenfalls
zweistellige Milliardenbeträge sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von einer
solchen Entlastung sind Sie weit weg. Wir machen sie,
Sie quatschen drüber.
({1})
Wenn ich mir die Steuerpolitik in allen rot-grün regierten Ländern anschaue, dann heißt das zuallererst:
Steuererhöhungen. Angesichts der höchsten Steuereinnahmen, die wir in diesem Land jemals hatten, ist das
ein Schlag in das Gesicht aller anständigen Bürgerinnen
und Bürger.
({2})
In der Haushaltspolitik versagen Sie vollkommen.
Die allermeisten rot-grün regierten Länder sind überhaupt nicht bereit, trotz massiver Steuermehreinnahmen
den Haushalt zu konsolidieren. In Baden-Württemberg
will man im Jahr 2020 einen ausgeglichenen Haushalt
erreichen, also erst dann, wenn es die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse vorsieht. In Nordrhein-Westfalen hat die Landesregierung nun gesagt, man will dieses
Ziel noch nicht einmal 2020 erreichen. Ja, wo sind denn
da die Anstrengungen zur Verbesserung der Zukunftsfähigkeit in diesen Ländern?
({3})
Gleiches gilt für die Infrastrukturpolitik und die Bildungspolitik. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben mehr
Geld in Bildung und Forschung investiert. Wir haben im
Bundesrat auf den Weg gebracht, dass das Kooperationsverbot geändert wird und dass Forschungseinrichtungen
dauerhaft auch vom Bund mitfinanziert werden können.
Sie sind es, die das blockieren, weil Ihnen das Geld, das
wir den Ländern und den Forschungseinrichtungen geben wollen, noch nicht reicht. Das ist kleinkariert. Sie
blockieren Zukunftschancen in diesem Land.
({4})
Bildung ist die soziale Frage unserer Zeit.
({5})
Wir wollen Aufstieg durch Bildung, und zwar unabhängig von der Herkunft. Das ist das Ziel, das wir erreichen
wollen. Deswegen brauchen wir ein möglichst differenziertes Bildungssystem, möglichst individuelle Förderung und mehr Entscheidungsfreiheit der Schulen vor
Ort. In Niedersachsen schwadronieren Sie von mehr individueller Förderung. Erklären Sie mir bitte mal, wie
Sie das mit deutlich weniger Lehrkräften hinkriegen
wollen!
({6})
Was Sie vorhaben, ist nichts anderes als eine Einheitsschule. Die heißt dann in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen Gesamtschule, die an allen Ecken und Enden
stärker gefördert wird. In Baden-Württemberg heißt das
Ganze Gemeinschaftsschule.
({7})
Wenn das ein Angebot wäre, wäre das okay. Aber das,
was Sie machen, ist kein Angebot, sondern die gezielte
Förderung einer einzigen Schulart durch entsprechende
finanzielle Rahmenbedingungen. Sie wollen die Einheitsschule in Deutschland. Das bedeutet sozialen Abstieg.
({8})
Ich sage Ihnen genauso deutlich: Wenn wir in diesem
Land Exzellenz behalten wollen, wenn wir wollen, dass
wir weiterhin spitze bei Forschung, Wissenschaft und
Innovation sind,
({9})
dann ist das nicht möglich, wenn unser Schulsystem immer schlechter wird. Das Gymnasium bildet die Grundlage von Exzellenz. Wer das Gymnasium ausbluten will
wie in NRW, wer es kaputt machen will, macht sich zum
Sargnagel von Qualität und Exzellenz unseres Bildungssystems. Das sind Sie von Rot-Grün.
({10})
Sie führen in der Bildungspolitik permanent Strukturdebatten. Wir führen Qualitätsdebatten,
({11})
weil wir der Auffassung sind, dass Kinder und Jugendliche mehr Unterstützung brauchen. Es soll keiner auf der
Strecke bleiben. Das ist eine Frage der Schwerpunktsetzung, auch in den Haushalten. Deshalb haben wir mit
Eintritt der FDP in die Bundesregierung 2009 entschieden, dass wir mehr Geld in Bildung und Forschung investieren. Das waren in dieser Legislaturperiode auf
Bundesebene 13 Milliarden Euro mehr. Im Vergleich
dazu sehen Sie alt aus. Sie sollten diesen Anstrengungen
nacheifern und nicht einen solchen Unsinn erzählen.
({12})
Sie wollen mit einer Kuschelpädagogik den Kindern
etwas vormachen. Keine Noten und kein Sitzenbleiben
soll es mehr geben; das steht auch in diesem Koalitionsvertrag in Niedersachsen. Das alles gaukelt den Schülern
eine heile Welt vor. Es gaukelt ihnen vor, dass Erfolge
ohne Anstrengung und Leistung erreichbar wären. Damit betrügen Sie Kinder um ihre Zukunftschancen.
({13})
Was wir in der Bildungspolitik brauchen, ist mehr Anstrengung. Kein Kind darf verloren gehen. Das bedeutet:
Wir müssen in diesen Bereich investieren. Wir müssen
vor allen Dingen von der Qualität her denken. Wir müssen die Kinder mitnehmen, ihnen Chancen geben, eventuelle Defizite auszugleichen, und sie gegebenenfalls
durch Sommer- oder Wochenendkurse fit machen.
Die Politik der rot-grünen Regierungen in den Ländern führt zu nichts anderem als zu einer Zweiklassengesellschaft: diejenigen, die sich eine Privatschule leisten
können, und diejenigen, die sich eine Privatschule nicht
leisten können. Das, meine Damen und Herren, ist nicht
zukunftsfähig. Deswegen wollen wir Bildung als Bürgerrecht. Dafür werden wir weiter kämpfen.
({14})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Albert
Rupprecht.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Deligöz, mit Stand von heute erreichen die Parteien CDU und CSU nach Meinungsumfragen 43 Prozent; in Bayern sind es für die CSU sogar
47 Prozent. Das heißt, es würde sogar zu einer absoluten
Mehrheit reichen. Das wissen Sie als Bayerin. Deswegen
können Sie mir glauben, dass wir nicht ängstlich sind,
sondern ausgesprochen optimistisch auf die Wahl im
September blicken.
({0})
Zur Sache. Wir haben es ja schwarz auf weiß: Seit
PISA, IKB und anderen Bildungsstudien wissen wir,
welche Bildungspolitik erfolgreich ist und welche nicht.
Fakt ist schlichtweg, dass die Bundesländer mit rot-grüner Bildungspolitik auf dem Gebiet der Bildung seit Jahren das Schlusslicht in Deutschland sind. Bei allen Tests
sind die Schüler aus Bayern und aus Sachsen - alte und
neue Bundesländer - meilenweit besser
({1})
als die Schüler aus SPD-regierten Ländern wie beispielsweise Bremen und Brandenburg, und dies, obwohl Sachsen und Brandenburg vor 22 Jahren mit denselben Voraussetzungen gestartet sind. Heute, nach 22 Jahren, sind
die Unterschiede dramatisch. Das liegt nicht daran, dass
die Kinder in Bremen und Brandenburg dümmer wären
als die Kinder in Bayern oder in Sachsen. Nein, sehr geehrte Damen und Herren, das liegt daran, dass die Bildungspolitik dieser Länder grottenschlecht bzw. miserabel ist.
({2})
Auch im Jahr 2013 ist die rot-grüne Bildungspolitik
- zu den Details werde ich gleich kommen - eine Ansammlung von gebrochenen Versprechen und von ideologischen Verirrungen. Vor den Wahlen reden Sie davon,
wie wichtig Ihnen die Bildung sei, und danach streichen
und kürzen Sie dramatisch. Sie schwadronieren von Inklusion und individueller Förderung - Frau Homburger,
Sie haben das angesprochen -, aber streichen allerorts
Stellen, zum Beispiel bei den Lehrern. In RheinlandPfalz streicht die SPD 2 000 Lehrerstellen. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein streicht 3 000 Lehrerstellen. In Bremen ist deswegen im November sogar die
Schulsenatorin zurückgetreten. In Niedersachsen - Diskussion dieser Woche - kündigt die Regierung an, die
demografische Rendite nicht in mehr Lehrer, sondern in
weniger Lehrer umzusetzen. Was heißt das in der Konsequenz? Ich zitiere die Osnabrücker Zeitung: Bis zu
10 000 Lehrerstellen sollen durch Rot-Grün in Niedersachsen gestrichen werden. - Am schlimmsten ist es in
Baden-Württemberg unter grüner Führung. Angekündigt
waren im Wahlkampf zusätzliche Lehrerstellen; in Wirklichkeit werden rund 12 000 - ich wiederhole: 12 000 Lehrerstellen gestrichen. Nach wenigen Wochen der rotgrünen Regierung in Baden-Württemberg herrscht im
früheren Musterländle so viel Chaos,
({3})
dass die zuständige Bildungsministerin WarminskiLeitheußer zurücktreten musste. Das ist die Realität dort,
wo Sie regieren.
({4})
Zur selben Zeit haben wir in anderen Bundesländern das
entgegengesetzte Bild. Wen verwundert es, dass ich hier
Bayern anführe? In Bayern werden in den Jahren 2012/
2013 fast 4 000 Lehrer eingestellt. Das ist der Unterschied.
({5})
Oder nehmen wir die Hochschulpolitik. In Hamburg
hat Bürgermeister Scholz, SPD, Folgendes angekündigt
- ich zitiere -: Wir brauchen exzellente Universitäten.
Wir werden dafür sorgen, dass sie unter besseren Rahmenbedingungen arbeiten können. - Was hat er in Wirklichkeit getan?
({6})
Er streicht den Hochschulen inflationsbereinigt 5 Prozent der Gelder. Das nennt man nicht Unterstützung; das
nennt man Kaputtsparen der Hochschulen. Das ist kein
Wachstumsprogramm, sondern ein Abbauprogramm.
({7})
Jeder muss wissen, dass wir inzwischen vonseiten des
Bundes mit Milliardengeldern beim Hochschulpakt, bei
der Exzellenzinitiative und bei vielen anderen Bereichen
den Ländern unter die Arme greifen. Täten wir dies nicht,
leisteten wir nicht vonseiten des Bundes diesen Kraftakt,
gingen in den Hochschulen Hamburgs die Lichter aus.
({8})
Albert Rupprecht ({9})
Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt ein Beispiel,
wie man es anders machen kann. Zur selben Zeit wird
nämlich im CSU-geführten Bayern, dem Bildungsland
Nummer eins in Deutschland, ein ganz anderer Weg beschritten.
({10})
Wir haben eine klare Priorität für Bildung und Forschung. Die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung
steigen im Jahr 2013 um 6 Prozent; in den vergangenen
Jahren haben wir die Ausgaben im Bildungsbereich um
sage und schreibe 41 Prozent gesteigert.
({11})
Ein Drittel des gesamten Landeshaushalts geht in die
Bildung. Auch deswegen haben die bayerischen Schüler
bei den Tests ausgezeichnete Ergebnisse.
({12})
Auch auf Bundesebene muss jeder wissen: Wir halten
Wort. Wir haben eine Priorität für Forschung und Bildung angekündigt. Im Gegensatz zu den rot-grün regierten Ländern leben wir das. Wir hatten 12 Milliarden
Euro mehr für Forschung und Bildung angekündigt.
Dies haben wir nicht nur realisiert und somit Wort gehalten, sondern wir setzen noch eines drauf: Wir werden in
dieser Legislaturperiode 13 Milliarden Euro für Forschung und Bildung ausgeben. Deswegen ist es auch
möglich, dass die Politik in manchen Ländern überhaupt
noch funktionieren kann.
Herr Kollege, wir setzen keines drauf bei der Redezeit. Deswegen wäre es gut, wenn Sie zum Ende kämen.
Frau Präsidentin, ich bin am Ende.
({0})
Es gäbe noch viele andere Beispiele. Wir machen auch
Versprechungen; aber wir halten unser Wort. Rot-Grün
verspricht vieles, hält aber eben nicht Wort.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Niederlagen in
den Ländern müssen wirklich sehr schmerzhaft sein.
({0})
Das sage ich ohne Häme, weil alle von uns Niederlagen
kennen. Aber ich glaube, dass es hier noch eine besondere Komponente gibt, die etwas mit der Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung zu tun hat. Der Kollege Steffel hat gesagt: Wir sind spitze.
({1})
Wenn das die Selbstwahrnehmung ist, wie will man
dann verstehen, dass man reihenweise abgewählt wird.
Wenn man spitze ist, dann ist doch klar, dass man nicht
abgewählt wird.
Vielleicht haben Sie selber sogar eine Erklärung geliefert, als Sie die hohen Steuereinnahmen bejubelt haben, die jetzt sprudeln. Ich finde es auch toll, wenn man
ein hohes Steueraufkommen hat. Aber warum haben Sie
gleichzeitig die Verschuldung so exorbitant erhöht? Das
kann man nicht erklären.
({2})
Wenn man solche Erklärungen schuldig bleibt, dann hat
man ein Problem. Die gute Lage, die Sie beschreiben,
könnte man genauer analysieren; denn es wird jeder
Fachmann folgen, dass Schwarz-Gelb hier schon drei
Jahre von den Erfolgen, die Rot-Grün vor längerer Zeit
und danach die Große Koalition erreicht haben, und deren Weichenstellung zehrt. Ich glaube, die Menschen
spüren, dass diese Regierung vom Volk nicht mehr lange
auszuhalten ist. Ich denke, dass es im September einen
ähnlichen Weg gehen wird, den das Volk jetzt schon in
den Ländern gegangen ist, weil diese Erklärung von Ihnen fehlt.
({3})
Ganz evident ist dies auch entlang der Entscheidungsschwäche der Kanzlerin. Man muss nur einmal gucken,
was sie wirklich entscheidet. Ist es nicht so, dass sie vorgibt, die Sparguthaben der kleinen Leute in Deutschland
zu schützen, während in Wahrheit die EZB bzw. Herr
Draghi oder auch einmal Frankreich entscheidet? In
Wahrheit entscheiden immer andere. Es ist eine Ersatzvornahme für die fehlende Politik in dieser Regierung,
die mehr oder weniger dahindümpelt.
Ich will zwei Gedanken zu den Ländern äußern, und
zwar zu der Frage der Glaubwürdigkeit und der Zuverlässigkeit. Es gab ja den sogenannten EnBW-Deal, bei
dem Herr Mappus irgendwie mit Aktien gehandelt hat.
Nun gibt es irgendwelche Unklarheiten. Ich will da nicht
vorgreifen und behaupten, was richtig oder falsch bzw.
unwahr war, zumal es dazu auch einen Untersuchungsausschuss gibt. Interessanterweise musste der Vorsitzende dieses Ausschusses, der CDU-Kollege Ulrich
Lothar Binding ({4})
Müller, zurücktreten, weil er Herrn Mappus über interne
Unterlagen berichtet hat. Man muss sich einmal vorstellen, welch ein Bild eine Partei auf diese Weise präsentiert, die dann auch noch sagt, sie sei spitze und wolle
wiedergewählt werden. - Abgesehen davon hätte Herr
Kollege Rupprecht ruhig ein Wort dazu sagen können,
wie die CSU in Bayern eigentlich mit den Studiengebühren umgehen wird; denn das ist auch so ein Eiertanz, den
eigentlich niemand, der seriöse Politik im Blick hat, verstehen kann.
({5})
Sie haben das Wort „Weichenstellung“ benutzt. Stellen wir uns vor, es sitzt jemand im Zug und merkt plötzlich, dass der Zug in die falsche Richtung fährt. Was
macht er? Er läuft so lange, wie es geht, gegen die Fahrtrichtung, und denkt, er werde am richtigen Bahnhof ankommen. Das ist aber leider falsch, und deshalb kann
eine solche Art der Politik gar nicht funktionieren. Es ist
viel wichtiger, danach zu fragen, wer die Schienen gelegt, die Weichen gestellt und den Zug gestartet hat.
Schauen wir auf das zurück, was Sie bisher gemacht
haben. Sie haben dreieinhalb Jahre lang gesagt, Sie arbeiteten an einem einfachen, niedrigen und gerechten
Steuersystem. Wenn Sie uns das zeigten, wäre es genial.
Ich suche die ganze Zeit. Was finde ich? Nichts!
({6})
Nach Berechnung des BMF hatte die FDP Steuersenkungen in Höhe von 80 Milliarden Euro versprochen.
({7})
Am Ende waren es magere 6 Milliarden Euro. Diese
Steuersenkungen waren allerdings schwierig verteilt und
wurden auch noch mit der falschen Erklärung „Absenkung der Progression“ verknüpft. Das Ergebnis ist, dass
die ärmeren Leute eine Tasse Kaffee und die Reichen
30 Euro extra im Monat haben. Im Haushalt gibt es aber
6 Milliarden Euro weniger für die Erledigung wichtiger
Aufgaben: Über Familienpolitik und Bildung wurde
heute schon viel gesprochen.
({8})
- Verkehrsinvestitionen.
({9})
Auch die Kommunen sind zu bedenken. - Sie merken,
wir haben so viele Aufgaben vor uns und Sie haben so
viele Probleme mit dem Geld, dass es besser wäre, Sie
würden abgewählt.
Aber werden wir genauer. Ich zitiere die Koalitionsvereinbarung, die Sie schon mehrfach erwähnt haben: steuerliche Entlastung insbesondere der Bezieher unterer und
mittlerer Einkommen in Höhe von 24 Milliarden Euro.
Kann mir jemand zeigen, wo diese 24 Milliarden Euro
sind? Das kann mir keiner zeigen. Was haben Sie also damals damit gemeint? Im Ergebnis gab es das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Damit haben Sie Leute bedient,
die Ihnen zuvor etwas gespendet haben, Stichworte „Hotelsteuer“ und „Mövenpick“. Das wurde schon gelegentlich genannt.
({10})
Eine Kommission - das steht auf Seite 14 Ihres Koalitionsvertrags - soll die Neuausrichtung der Gemeindefinanzierung erarbeiten. Können Sie mir zeigen, wo das
passiert ist? Gibt es das? Finde ich das irgendwo, oder
stand das nur in der Koalitionsvereinbarung? Im Ergebnis hat es die Kommunen 2,5 Milliarden Euro gekostet.
({11})
Sie wollten die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse umsetzen und eine generationengerechte Finanzpolitik praktizieren. Im Ergebnis haben Sie im Bereich
„Arbeit und Soziales“ gekürzt. Sie haben das Elterngeld
für Arbeitslose gestrichen. Sie haben die Rentenversicherungsbeiträge ruiniert. Sie haben den Heizkostenzuschuss beim Wohngeld gestrichen. Sie haben den Eingliederungstitel für Arbeitslose gesenkt.
({12})
Sie haben gemeint, das wäre gute Sozialpolitik. Wer Ihnen das glaubt, der wird Sie auch wählen. Alles Gute!
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die zentrale Frage, vor der unser Land steht, vor der die
öffentlichen Haushalte stehen, ist: Wie schaffen wir es,
die Schuldenbremse einzuhalten, ohne dass es zu Verwerfungen insbesondere im sozialen Bereich kommt?
Diese Bundesregierung hat eine klare Lösung des Problems gefunden. Die Lösung liegt im soliden Wirtschaften, im Sparen. Wir haben das mit einem Sparhaushalt in
Deutschland vorgemacht. Wir schaffen es, die Schuldenbremse durch seriöse und konsequente Ausgabenkürzung vorzeitig einzuhalten. Die Bundesregierung - die
Bundeskanzlerin hat heute eine Regierungserklärung
dazu abgegeben - schafft es auch, diese Politik der
Haushaltsvernunft in Europa durchzusetzen. Deswegen
haben wir erstmals einen rückläufigen europäischen
Haushalt. Das sind die Erfolge christlich-liberaler Regierungspolitik.
({0})
Es gibt ein zweites Ziel; denn mit Sparen allein ist es
nicht getan. Das zweite Ziel ist, Wachstum in unserem
Land zu generieren. Die christlich-liberale Regierung
hat in Deutschland einen Wachstumserfolg geschafft, der
in ganz Europa seinesgleichen sucht. Was aber machen
die rot-grünen Landesregierungen im Bundesrat? Sie
versuchen, die Weichen weg von einer wachstumsorientierten Finanzpolitik hin zu einer Politik der konsequenten Steuererhöhung umzulenken. Das gefährdet die Stabilität Europas, die Stabilität Deutschlands und auch die
Stabilität unseres Sozialstaates.
({1})
Während wir heute über solide Staatsfinanzen in Europa reden, muss Rheinland-Pfalz einen Nachtragshaushalt in Höhe von 200 Milliarden Euro beschließen, weil
Rot-Grün die Finanzen nicht im Griff hat. Ich will Ihnen
auch sagen, warum. Rot-Grün hat die Finanzen nicht im
Griff, weil 300 Millionen Euro in Achterbahnen und
Freizeitparks investiert wurden und am Ende nichts anderes als Insolvenz produziert wurde.
({2})
Sie können nur Pleite in den Ländern.
({3})
Sie bekommen auch die Infrastrukturpolitik in den
Ländern nicht in den Griff. Wir haben gehört, dass der
Straßenbau in Niedersachsen unter dieser Regierung
nicht mehr vorankommt.
({4})
In Rheinland-Pfalz gibt es ein Debakel um den Flughafen Hahn. Die Verkehrsstraßen werden nicht ausgebaut.
Sie stellen die Weichen gegen Wachstum in der Zukunft,
und damit stellen Sie die Weichen gegen Zukunftschancen in Deutschland.
({5})
Was haben Sie im Bundesrat im Zusammenhang mit
der kalten Progression veranstaltet? Wir haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei 2 Prozent Inflation mit den Gewerkschaften an ihrer Seite hart um
2 Prozent Lohnerhöhung streiten müssen.
({6})
Aber was passiert jetzt dank SPD und Grünen im Bundesrat bei 2 Prozent Lohnerhöhung? Die Lohnerhöhung
kommt nicht bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an; sie bekommen nicht einmal eine Nullrunde mit
Inflationsausgleich. Nein, sie müssen auch noch höhere
Steuern bezahlen, weil Sie die kalte Progression verschärft haben. Das ist arbeitnehmerfeindliche Politik;
({7})
das gefährdet die Binnennachfrage, die Konjunktur, das
Wachstum. Es ist desaströs, was Sie diesem Land mit Ihrer rot-grünen Mehrheit im Bundesrat antun.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD will das
Steueraufkommen um 40 Milliarden Euro erhöhen; das
ist nur das, was die SPD auf die Waagschale legt. Die
Grünen setzen mit der Vermögensabgabe noch eins
drauf: 15 Prozent sollen die Deutschen an den Staat abführen.
({9})
Bei der Vermögensabgabe, die zusätzlich zur Vermögensteuer, zu höheren Einkommensteuern und höheren Unternehmensteuern kommen soll - 100 Milliarden Euro
sollen die Deutschen insgesamt zahlen -, berufen Sie
sich auf ein Gutachten von Herrn Professor Wieland von
der Verwaltungshochschule in Speyer. Er sagt, man
müsse das dadurch ergänzen, dass man den Menschen
eine Alternative zur Zahlung in bar gibt, indem man ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihr Immobilienvermögen,
ihr Eigentum direkt an den Staat zu übertragen. Das ist
die Politik, die Sie wollen. Das ist der Ausstieg aus der
sozialen Marktwirtschaft. Das ist der Ausstieg aus der
Wachstums- und Stabilitätspolitik. Deswegen sagen wir
dazu ganz klar: Das darf in Deutschland nicht mehrheitsfähig werden.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
Sie erhöhen die Abgaben in den Ländern. In RheinlandPfalz bauen Sie Lehrerstellen ab; weit über 1 000 Lehrerstellen werden gestrichen, weil Sie den Haushalt mit Ihrer unsinnigen Politik nicht in den Griff bekommen.
({11})
Wir haben dort eine neue Ministerpräsidentin, die erklärte, wie man das Geld gerechter verteilt, aber vergaß,
eine einzige Silbe dazu zu sagen, wie man in Deutschland ein entsprechendes Wachstum schaffen kann, um all
das zu erwirtschaften, was wir brauchen, um unseren Sozialstaat zu stabilisieren.
({12})
Die Menschen in Deutschland müssen wissen, dass
die Politik, die Sie betreiben, zum Schaden unseres Landes ist.
({13})
Es ist eine Politik, die Wachstum beendet, eine Politik,
die stabile Staatsfinanzen in Deutschland gefährdet, eine
Politik, die die wirtschaftliche Stabilität ganz Europas
und damit die Stabilität unserer gemeinsamen Währung
gefährdet. Deswegen muss jetzt Schluss sein
({14})
mit diesem rot-grünen Unsinn. Wir brauchen eine Stärkung von Schwarz-Gelb, von CDU/CSU und FDP, in
Deutschland,
({15})
für Wachstum, für Stabilität, für Solidität bei Bildung
und Finanzen.
({16})
Dirk Fischer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um zu sehen, wie Rot-Grün in der Verkehrspolitik
den Rückwärtsgang einlegt, muss man sich nur die letzten Koalitionsvereinbarungen aus den Ländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen
ansehen - von Baden-Württemberg ganz zu schweigen.
Das ist in weiten Teilen nichts anderes als Propagandaund Blockadepolitik, die unserem Land und unseren
Leuten Schaden zufügt.
({0})
Unsere Koalition im Bund dagegen handelt und
macht Gesetze, die nachweislich auch den Ländern und
den Gemeinden zugutekommen. In den letzten beiden
Bundeshaushalten wurden zusätzliche Investitionsmittel
in Höhe von 1,75 Milliarden Euro für Bundesfernstraßen, Bundesschienenwege und Bundeswasserstraßen bereitgestellt.
({1})
Allein 300 Millionen Euro wurden für den Ausbau der
Schleuse Brunsbüttel am Nord-Ostsee-Kanal bereitgestellt.
Rot-Grün in Niedersachsen fordert eine anteilige Finanzierung der Netze der nicht bundeseigenen Bahnen
durch den Bund. Offenbar sind die im Tiefschlaf; denn
die Bundesregierung hat schon vor zwei Wochen einen
Gesetzentwurf zur Ausführung der Förderung der nicht
bundeseigenen Bahnen beschlossen. Die Haushaltsmittel
- das haben Sie wahrscheinlich auch noch nicht gemerkt hat der Deutsche Bundestag schon im letzten November
bewilligt. Da kommen Sie wohl etwas sehr spät.
({2})
Rot-Grün in Niedersachsen will die Planung für die
A 20 und die A 39 nur noch mit eingeschränktem Mitteleinsatz weiterführen,
({3})
anstatt ohne Schranken nach vorne zu blicken und dem
Land endlich die dringend nötige Infrastruktur zu geben.
({4})
Ich kann nur sagen: Ha, ha, ha, unsere liebe SPD im
Schwitzkasten der Grünen. Das ist einfach nur jämmerlich.
({5})
Rot-Grün in Niedersachsen will für den Feldversuch
mit Lang-Lkw keine neuen Strecken ausweisen. RotGrün in Schleswig-Holstein will sich aus dem Feldversuch zurückziehen. Mit dieser Verweigerungshaltung
werden deutliche Einsparpotenziale beim Kraftstoffverbrauch und damit bei den CO2-Emissionen vergeben.
Wo heute drei LKW fahren, werden es im Feldversuch in
der Zukunft nur noch zwei Lang-Lkw sein.
Rot-Grün in Schleswig-Holstein schließt den Weiterbau der A 20 westlich der A 7 in dieser Legislaturperiode aus. Das bedeutet Stillstand. Ich kann nur sagen:
hoffentlich nur bis zur nächsten Wahl. Der Bund hat
nämlich schon einen ersten Teilabschnitt in seinem Investitionsrahmenplan als prioritäres Vorhaben vorgesehen. Sie aber hauen hier eine Blockade rein, um dieses
wichtige Infrastrukturprojekt zu verhindern.
Die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung insbesondere für die Eigenheimbesitzer haben rot-grün regierte Länder verhindert. Das trifft Hauseigentümer und Mieter gleichermaßen und offenbart ein
wirklich merkwürdiges Umweltverhalten der Grünen;
denn sie haben damit aus niederen, hauseigentümerfeindlichen Gründen einen entscheidenden Beitrag zur
CO2-Reduzierung blockiert. Wir wissen aber, dass der
Gebäudesektor neben dem Verkehrssektor der wichtigste
Bereich zur Minderung von CO2-Emissionen ist. Da
kann ich nur sagen: Das ist ein wirklich peinlicher dunkelroter Fleck am grünen Rock.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, so
kann man sich als Ökopartei auf dem Laufsteg vor den
Wählern nicht sehen lassen.
Heute Abend beraten wir in erster Lesung die Fortzahlung der Entflechtungsmittel. Dabei geht es auch um
den sozialen Wohnungsbau. Ich kenne den Widerstand
der Länder und der Opposition zum vorliegenden Gesetzentwurf. Aber die Länder müssen sich fragen lassen,
welchen Beitrag sie in den letzten Jahren geleistet haben,
um eine Fortzahlung auf hohem Niveau zu rechtfertigen.
Die Bundesmittel werden von den Ländern nur teilweise
oder gar nicht für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt.
Die eigene frühere Kofinanzierung der Länder ist weitgehend gestrichen worden. Obwohl Sie die Aufgabenverantwortung haben, wollen Sie dem Bund anlasten,
dass er für den sozialen Wohnungsbau zu wenig tut? Das
ist doch wahrheitswidrig. Es gibt keinen Bundesfinanzminister, der taub ist, wenn ihn solche Berichte erreichen. Er muss sich doch fragen, ob eine Bundesförderung hier wirklich zielgenau zur Erledigung der Aufgabe
eingesetzt wird. Damit haben die betreffenden Länder
Dirk Fischer ({7})
den Verhandlungen über die Fortzahlung der Entflechtungsmittel einen Bärendienst erwiesen.
Ich komme zum Ergebnis: Wer nach den Hilfen des
Bundes ruft, muss zunächst einmal Selbstkritik üben und
daraus glaubhafte Maßnahmen der eigenen Besserung
ableiten. Erst dann kann er beanspruchen, ernst genommen zu werden. Ansonsten - das ist bedauerlich für
Land und Leute - missbraucht Rot-Grün die Macht in
den Ländern, um Gutes für unsere Bürger und unser
Land zu verhindern.
({8})
Wäre ich Franzose, würde ich sagen: À la barricade, citoyen! - Aber ich bin ein deutscher Abgeordneter. Ich
sage: „Wehrt euch, Bürger!“, und zwar friedlich, mit
dem Stimmzettel.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/61/EU über die Verwalter alternativer Investmentfonds ({0})
- Drucksache 17/12294 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({1})Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Verabredet ist, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk für die
Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in diesem Haus eine hohe Einigkeit darüber,
dass wir unverändert daran arbeiten müssen, die richtigen Lehren aus der Finanzmarktkrise mit ihren Folgen
für die Volkswirtschaften, für die Staaten zu ziehen.
Diese Bundesregierung hat auf allen politischen Ebenen,
natürlich in erster Linie auf internationale Ebene, zum
Beispiel auf G-20-Ebene, aber natürlich auch auf Ebene
der Europäischen Union, immer eine Schrittmacherfunktion inne, wenn es darum geht, die notwendige Regulierung der Finanzmärkte voranzutreiben.
Heute legen wir einen Gesetzentwurf vor, mit dem
eine wichtige europäische Richtlinie umgesetzt wird,
nämlich die Europäische Richtlinie über die Verwalter
alternativer Investmentfonds. Mit dem heute in den Bundestag eingebrachten Gesetzesvorhaben wird in Deutschland ein Kapitalanlagegesetzbuch geschaffen, das sämtliche Fondsmanager und Fonds einer Finanzaufsicht unterwirft.
Ziel dieser europäischen Richtlinie ist, dass Manager
von alternativen Investmentfonds einer Zulassungspflicht unterworfen und fortlaufend beaufsichtigt werden. Die Manager müssen ein angemessenes Risiko- und
Liquiditätsmanagement einrichten. Sie müssen über besondere Sachkenntnisse, Erfahrung und Zuverlässigkeit
verfügen, und sie müssen auf Grundlage dieser neuen
Regelung umfangreiche Berichtspflichten erfüllen. Ferner
muss ein Fondsmanager gemäß den Anforderungen dieser europäischen Richtlinie sicherstellen, dass für jeden
von ihm verwalteten alternativen Investmentfonds eine
sogenannte Verwahrstelle bestellt wird. Die Verwahrstellenregelungen, insbesondere die Regelung zur Unterverwahrung und zur Haftung, wurden als Lehre aus dem
Schneeballbetrugssystem des ehemaligen US-Finanzund Börsenmaklers Madoff, dem sogenannten MadoffSkandal, getroffen.
Für Manager von Fonds, die in beträchtlichem Umfang hebelfinanziert sind, die sogenannten Hedgefonds,
gelten besondere und zusätzliche Transparenzpflichten,
um den Aufsichtsbehörden einen besseren Blick auf
mögliche systemische Risiken zu geben und so eine Gefahr zu bannen.
Hinsichtlich der Regulierung werden aus Gründen
des Anlegerschutzes Fonds, die an Kleinanleger vertrieben werden, sogenannte Publikumsfonds, strengeren Regelungen unterworfen. Das dient insbesondere dem Anlegerschutz. So werden den Managern von Publikumsfonds zum Beispiel umfangreichere Informationspflichten gegenüber den Anlegern auferlegt als Managern von
Fonds für professionelle Anleger. Ferner werden die bereits im bisherigen Investmentgesetz getroffenen Regelungen zu Anlagegrenzen für offene Publikumsfonds
wie zum Beispiel gemischte Sondervermögen oder sonstige Sondervermögen übernommen.
Wir mussten auch im Bereich der offenen Publikumsfonds Konsequenzen ziehen; denn bei den offenen Immobilienfonds ist es in der Vergangenheit vermehrt zu
Fondsschließungen und -abwicklungen gekommen. So
wurde in dem Gesetzentwurf die Möglichkeit der Rücknahme von Anteilen an offenen Publikumsimmobilienfonds auf ein Mal im Kalenderjahr begrenzt. Wir meinen, ein fester jährlicher Rückgabetermin bietet eine
höhere Schockresistenz. Er dient dem Ziel, die Inkonsistenz zwischen kurzfristigen Rückgabemöglichkeiten und
langfristiger Anlage in illiquide Vermögensgegenstände
zu beseitigen, und wahrt damit die im Rahmen der
Schattenbankdiskussion geforderte Fristenkongruenz.
Um den Marktbedürfnissen zu entsprechen, wird die
Ausgabe von Anteilen an offenen Publikumsimmobilienfonds anders als nach dem Investmentgesetz nicht
mehr an die Rücknahmetermine gekoppelt. AnteilsausParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
gaben können bis zu viermal im Jahr vorgesehen werden.
Geschlossene Publikumsfonds und ihre Manager werden durch das Kapitalanlagegesetzbuch erstmals einer
umfassenden Regulierung unterworfen. Damit wird ein
weiterer Schritt unternommen, um den grauen Kapitalmarkt in Europa und damit auch in Deutschland zu verengen.
Bei der Regulierung wollen wir aber nach dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgehen. Deshalb
werden auch Abstufungen vorgenommen. So wird zum
Beispiel die Schwellenwertregelung der AIFM-Richtlinie, nach der Manager kleiner Fonds einer Registrierungs-, aber keiner Zulassungspflicht unterliegen, auch
auf die Manager von den kleinen Publikumsfonds erstreckt. Zusätzlich gelten für diese aber auch wichtige
anlegerschützende Vorschriften wie zum Beispiel die
Verwahrstellenregelung und die Informationspflichten
gegenüber den Anlegern.
Lassen Sie mich etwas zur Regulierung der sogenannten Spezialfonds sagen. Bei der Regulierung von Managern, die Fonds für professionelle Anleger verwalten,
wurden die Vorschriften der europäischen Richtlinie eins
zu eins übernommen. Um jedoch dem Bedürfnis insbesondere von Sozialkapital wie Versicherungen und Pensionskassen an der Beibehaltung von bewährten Produktregeln und gesetzlichen Rahmenbedingungen für
die steuerliche und bilanzielle Einstufung Rechnung zu
tragen, wurden die aus dem Investmentgesetz bestehenden Produktregulierungen für diese Spezialfonds übernommen.
Im Gegenzug müssen aber die zu erfüllenden Aufsichtsregeln für Fondsmanager gemäß den Vorgaben der
europäischen Richtlinie übernommen werden. Sie erhalten einen EU-Pass, der ihnen dann den EU-weiten Vertrieb von Fonds für professionelle Anleger erlaubt.
Neben der Umsetzung der europäischen AIFM-Richtlinie werden in das neue Kapitalanlagegesetzbuch als
zweiter wichtiger Bereich die bisherigen Regelungen des
Investmentgesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über
Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren,
die sogenannte OGAW-Richtlinie, übernommen, und
das Investmentgesetz wird aufgehoben.
Lassen Sie mich den dritten und letzten Bereich der
Umsetzung dieser europäischen Richtlinie nennen. Zum
Dritten geht es nämlich darum, mit dem Umsetzungsgesetz dieser europäischen Richtlinie unser nationales
Recht an die europäische Verordnung über europäische
Risikokapitalfonds und an die europäische Verordnung
über europäische Fonds für soziales Unternehmertum
anzupassen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung verfolgt seit Beginn dieser Legislaturperiode ein
ganz klares Ziel: Kein Finanzmarkt, kein Finanzakteur
und kein Finanzprodukt darf unbeaufsichtigt bleiben.
Schritt für Schritt haben wir einen neuen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte geschaffen. Deutschland war
bei vielen dieser Gesetzgebungsvorhaben auf europäischer und auf G-20-Ebene Vorreiter.
Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Europäischen Richtlinie über die Verwalter
alternativer Investmentfonds wurde ein weiteres wichtiges Gesetzesvorhaben zur Erreichung unserer Regulierungsziele für die Finanzmärkte auf den Weg gebracht.
Ich bitte daher um Unterstützung bei der parlamentarischen Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Carsten Sieling.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute wieder so, wie wir es schon mehrfach in diesem Hause erlebt haben: Mit großem Gestus tritt die
Bundesregierung auf und legt uns Gesetzesentwürfe vor
mit der Botschaft, damit wäre bei der Finanzmarktregulierung ein weiterer Meilenstein erreicht, und sie würde
umgesetzt, wie es vereinbart sei. Kein Markt, kein Produkt, nichts solle ohne Regulierung bleiben.
({0})
Die Wirklichkeit ist: Man macht nichts anderes - und
das in der Regel, nachdem die Zeit schon länger abgelaufen ist -, als europäische Vorgaben umzusetzen, und
Sie, meine Damen und Herren, setzen sie auch noch
schlecht um. Dazu werde ich gleich einige Ausführungen machen.
Ich sage dies deshalb, weil dass das übliche Lied ist
und wir das in der Vergangenheit schon mehrfach erlebt
haben. In diesem Falle werden wir uns bei der Beratung
- Herr Staatssekretär, Sie haben das angesprochen - natürlich sehr konstruktiv bemühen, hieraus noch etwas
Ordentliches zu machen. Aber wir haben es mit einem
Gesetzentwurf, sozusagen einem Kapitalanlagegesetzbuch, mit einem Umfang von fast 600 Seiten zu tun
- dieser Umfang ist in den Beratungen hier selten -, in
dem viele Elemente neu sortiert werden.
({1})
- Ein Kollege der Koalition ruft dazwischen, das sei eine
große Leistung. - Ja, Sie, bzw. nicht Sie, sondern die
Ministerien, haben sich nach der Beschlussfassung auf
europäischer Ebene 20 Monate Zeit genommen, um das
auszuarbeiten. Wir haben hier jetzt verdammt wenig
Zeit, um das parlamentarisch zu begleiten und umzusetzen. Das ist nicht Demokratie. Da will man uns ein bisschen über den Tisch ziehen.
({2})
Ich hätte mir gewünscht, dass man den Gesetzentwurf
hier früher einbringt und wir eine wirkliche Gelegenheit
haben, im Parlament darüber zu reden, bevor wir es umsetzen.
Es hat schon eine ganze Reihe anderer Gesetze im
Bereich Anlegerschutz und im Bereich Stabilität der Finanzmärkte gegeben, die hier immer mit großem Elan
eingebracht wurden und die aus unserer Sicht in der Regel immer Lücken gelassen haben, durch die die Finanzbranche leider weiter ihre Spielräume haben wird. Hier
sehen wir Gefährdungen für die Stabilität und eben auch
Schwächen im Bereich des Anlegerschutzes.
Das ordnet sich insgesamt in das ein, was hier meist
vorgelegt wird. Es gibt dabei entweder die Variante
„Bruder Leichtfuß“, die Variante „Verwirrung“ oder die
Variante „Wortbruch“, dass man sozusagen an unterschiedlichen Stellen Wortbrüche gegenüber dem, was
man einmal geäußert hat, begeht.
Die Variante „Bruder Leichtfuß“ erleben wir gerade
beim Thema Trennbanken. Das hat schon heute Morgen
im Rahmen der Regierungserklärung eine Rolle gespielt.
Es gibt ordentliche Vorschläge zu diesem Thema. Erst
war die Bundesregierung komplett dagegen, jetzt legt
man etwas vor, das die Situation in der Tat verwässert
und keine Lösung ist. Das sind Raubkopien von guten
Ideen, die in diesem Zusammenhang auch von unserer
Seite, der Seite der Sozialdemokraten, namentlich von
Peer Steinbrück, vorgebracht worden sind.
({3})
Sie kopieren die Ideen und bringen sie hier in einer
schlappen Variante ein. Dadurch werden die Finanzmärkte nicht reguliert; das wird keine Stabilität schaffen.
({4})
Ich schaue mir einmal die Aufsichtsdebatte an. Ich
bin ja in den letzten Tagen vom Stuhl gefallen, als ich lesen musste, dass es nun auch im Bundesfinanzministerium wieder eine muntere Debatte darüber gibt, ob die
Finanzaufsicht nicht doch von der BaFin weg und bei
der Bundesbank angesiedelt werden soll.
({5})
Das ist ein Hin und Her, bei dem Sie von Beginn an nicht
wussten, was Sie machen.
({6})
Sie bringen auch in die Aufsichtsbereiche Unsicherheit.
Das ist nicht zu verantworten.
({7})
- Nein, ich verbiete niemandem, nachzudenken, Herr
Kollege, ich äußere mich nur dazu, dass auch seitens des
Bundesfinanzministeriums darüber nachgedacht worden
ist.
Ich komme zum wichtigsten, schwierigsten und problematischsten Thema, das ganz eng im Zusammenhang
mit der Regulierung und mit der Ordnung, die wir im Investmentbereich brauchen, steht. Wir müssen dafür sorgen, dass spekulative Elemente begrenzt werden, dass es
exzessive Gewinne und kurzfristig orientierte Handlungsweisen nicht mehr gibt. Deshalb hatten wir im
Sommer letzten Jahres unter ganz schwierigen Bedingungen hier im Hause die Vereinbarung getroffen, eine
Finanztransaktionsteuer auf den Weg zu bringen. Ich
weiß, dass sich die Bundesregierung Mühe gibt, aber
man hört auch immer wieder Gegenteiliges.
Gerade heute Morgen musste ich wieder diese Zwischenrufe und Äußerungen vonseiten der FDP hören, zu
denen ich nichts anderes sagen kann, als dass das eine
völlig falsche Darstellung dessen ist, was vereinbart
worden ist. Immer wieder wird an dieser Stelle nicht auf
die Stabilität und die notwendige Regulierung geachtet,
sondern es wird gesagt, die Kleinanleger seien bedroht.
Das geht sehr weit. Ich darf hier zitieren, was sich Herr
Wissing erlaubt in diesem Zusammenhang zu sagen. Er
sagt, nach den Vorschlägen der Brüsseler Behörde zur
Finanztransaktionsteuer wären es vor allem - vor allem! die Kleinsparer und mittelständischen Betriebe, die diese
35 Milliarden Euro zahlen müssten.
({8})
- Dadurch, dass Sie jetzt klatschen, weiß ich, dass Sie
die Blockierer an dieser Stelle sind.
Ich will Ihnen einmal sagen, wie die Wirklichkeit aussieht. 85 Prozent aller Umsätze und Aktivitäten, die angegangen werden, finden zwischen Finanzinstituten
statt. Davon wird überhaupt kein Anleger, erst recht kein
Kleinanleger, betroffen sein. Es geht vielleicht um potenziell 15 Prozent. Da sind wir zum Beispiel im Bereich
der hier diskutierten Investmentfonds und Immobilienfonds; um diese könnte es in der Tat gehen. Ich darf Sie
darauf hinweisen - aber Sie wissen das ja alles besser;
Sie wissen es genau -:
({9})
Jemandem, der heutzutage 10 000 Euro anlegen will - das
ist ja wohl ein Kleinanleger -, werden an Gebühren und
Ausgabeaufschlag erst einmal mindestens 200 Euro, also
2 Prozent, abgenommen; das sind Durchschnittswerte.
Ob darauf jemals eine Finanztransaktionsteuer erhoben
wird, hängt vom jeweiligen Geschäftsmodell ab. Wenn
dies der Fall wäre, wären das bei 10 000 Euro maximal
0,1 Prozent, also 10 Euro. Ich meine, allein daran sieht
man schon die Dimension Ihrer Angstmache.
Die Formulierung des Kollegen Wissing war: vor allem Kleinsparer und mittelständische Betriebe. Ich sage:
Das ist eine bewusste Falschbehauptung; man könnte
das an dieser Stelle auch „Lüge“ nennen. Ich fordere Sie
auf, gerade die Bundesregierung, dem endlich einen Riegel vorzuschieben und dafür zu sorgen, dass wir erfahren, wofür Deutschland und diese Regierung stehen.
Verabredungen, die hier im Deutschen Bundestag getroffen wurden, müssen Sie einhalten. Sie dürfen sie nicht
hintergehen, meine Damen und Herren.
({10})
Konkret zum vorliegenden Gesetzentwurf, der in eine
ganz ähnliche Richtung zielt.
({11})
Ich beziehe mich jetzt nur auf den Bereich der geschlossenen Fonds und auf den grauen Kapitalmarkt, der auch
reguliert werden soll. Der ursprüngliche Gesetzentwurf
ist an verschiedenen Stellen durchlöchert und weichgemacht worden.
({12})
Da der Herr Staatssekretär davon gesprochen hat, dass
auch solche Vorgänge wie bei Madoff und Ähnliches angegangen werden sollen, muss ich sagen: Ich erwarte
- ich will nur diesen einen Punkt nennen -, dass wir, wie
ursprünglich vorgesehen, weiter daran festhalten, dass
solche Fonds extern und nicht von den jeweiligen Firmen selber bewertet werden. Das ist ein wesentlicher
Punkt, ein Vorschlag des Bundesrates, dem wir folgen
sollten.
Ich kann aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nur diesen einen Punkt ansprechen.
({13})
Ich spreche ihn deshalb an, weil vor einigen Tagen eine
Razzia bei der S&K-Gruppe durchgeführt wurde. Diese
Finanzholding hat falsche Bewertungen vorgenommen.
Millionen von Anlegern werden in Schwierigkeiten gebracht, weil dort unredliche Geschäfte gemacht wurden.
In diesem Gesetzentwurf haben Sie gegen so etwas keine
Vorkehrungen getroffen. Ich könnte Ihnen noch eine
ganze Reihe von Punkten nennen, an denen ebenfalls
dringender Nachbesserungsbedarf besteht; ob nachgebessert wird, ist allerdings sehr fraglich. Ich bitte Sie und
fordere Sie auf, die Anhörung diesmal ernsthaft dazu zu
nutzen, Veränderungen herbeizuführen,
Herr Kollege.
- damit ein besserer Gesetzentwurf herauskommt als
der, den Sie vorgelegt haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Björn Sänger hat das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Es ist noch ganz schön neblig hier von der Kerze, die
der Kollege Sieling abgefackelt hat.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Sieling, wenn Sie sich nicht
sachfremd geäußert, sondern zum Thema gesprochen
hätten,
({1})
hätten Sie noch den einen oder anderen Gedanken, der in
dieser Debatte möglicherweise - die Wahrscheinlichkeit
ist allerdings nicht sehr hoch - nutzbringend gewesen
wäre, loswerden können. Dafür wären wir Ihnen sehr
dankbar gewesen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine Regulierungslücke geschlossen, nämlich bei alternativen Investmentformen. Sie erhalten einen Ordnungsrahmen.
Das ist neu, das ist grundsätzlich gut, und das ist ein weiterer Schritt hin zu einem Anlegerschutz in dem Segment, das häufig mit dem Begriff „grauer Kapitalmarkt“
umschrieben wird.
Bei allem, was wir da machen, sollten wir uns vor
Augen führen, dass wir alternative Investmentformen
vor dem Hintergrund der weiteren Regulierung, insbesondere in Anbetracht von Basel III, zukünftig möglicherweise mehr als bisher brauchen werden, um unsere
Volkswirtschaft zu finanzieren. Insofern müssen durch
die Regulierung die Risiken eingedämmt werden,
gleichzeitig aber müssen solche Investments ermöglicht
werden.
({2})
Die Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein; Staatssekretär Koschyk hat schon darauf hingewiesen. Ich will
jetzt nicht vorgreifen, aber man kann schon einmal festhalten: Das ist mit diesem Gesetzentwurf ganz gut gelungen.
({3})
Dabei muss klar sein: Das Anlagesegment der geschlossenen Fonds ist per se eigentlich kein Anlagesegment für
Kleinanleger. Innerhalb der Pyramide, als die man sich
den Vermögensaufbau denken kann, bewegen wir uns
hier im oberen Drittel, in der Spitze, in dem Bereich, wo
man sozusagen noch etwas beimischen kann, seine Anlagebedürfnisse aber im Grunde genommen schon erledigt hat.
Aber auch für die Kleinsparer ist in diesem Gesetz etwas enthalten: das sogenannte Pension Asset Pooling,
also die Bündelung von betrieblichem Altersvorsorgevermögen multinational aufgestellter Unternehmen an
einem Ort. Das war bisher in Deutschland nicht möglich;
da hatten wir einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Belgien, Großbritannien, Luxemburg, den Niederlanden
oder Irland. Ich bin ein Stück weit stolz, dass es gelungen ist, die Lücke in diesem Bereich zu schließen, sodass
dieses Pension Asset Pooling nun auch in Deutschland
angeboten werden kann. Jetzt gibt es für die betriebliche
Altersvorsorge der deutschen Anleger eine deutsche Regulierung. Die Bündelung hat den Vorteil geringerer
Verwaltungskosten und bietet die Chance auf eine höhere Rendite. Nicht zuletzt stärkt diese Regelung den Finanzstandort. Allein bei den DAX-30-Unternehmen geht
es um ein Volumen von 200 bis 300 Milliarden Euro. Insofern ist dieses Gesetz ein gutes Gesetz für die betriebliche Altersvorsorge.
Des Weiteren wird mit diesem Gesetz der wichtige
Bereich des Venture Capitals geregelt. Da möchte ich
- der Kollege Burgbacher wird das bestimmt ausrichten - dem Bundesminister Rösler ausdrücklich danken.
Der Minister ist ja in die USA gereist und hat sich angeschaut: Wie ist da die Unternehmenskultur, wie ist da die
Gründungskultur, wie ist da die Finanzierungskultur?
Wir müssen feststellen: Wir werden an diesen Finanzierungsformen schlichtweg nicht vorbeikommen.
Auch hier gilt es, verhältnismäßig zu regulieren. Das
ist mit den De-minimis-Regelungen gelungen: Wenn
Fremdkapital eingesetzt wird, gelten die Regelungen bis
zu einer Grenze von 100 Millionen Euro. Wenn kein
Fremdkapital eingesetzt wird und die ersten fünf Jahre
ein Kündigungsriegel existiert, gelten die Regelungen
bis zu einer Grenze von 500 Millionen Euro. Die Manager können die entsprechenden Regeln freiwillig anwenden, müssen es aber nicht unbedingt. Ich denke, auch an
dieser Stelle haben wir einen guten Kompromiss zwischen den Chancen auf der einen Seite und den systemischen Risiken auf der anderen Seite gefunden.
({4})
Auch im Bereich der Mindestanlage waren Fragen zu
klären. Auch hier noch einmal die Erinnerung: Das ist
im Prinzip kein Produkt für den Kleinanleger; denn es
gilt eine Mindestanlagegröße von 20 000 Euro. Im Gespräch waren ursprünglich 50 000 Euro. Ich begrüße,
dass die Bundesregierung bei der Mindestanlagegröße
auf 20 000 Euro heruntergegangen ist, weil man 50 000
dann schon auf zwei Fonds streuen kann.
Ich appelliere an die Initiatoren solcher Fonds - sie
sind in der Verantwortung -, sicherzustellen, dass im Vertrieb klargemacht wird, um was für ein Anlageprodukt es
sich bei diesen Fonds handelt. Das entsprechende Produktinformationsblatt - das wir ja auch einführen - kann
helfen, dem Anleger deutlich zu machen: Du eröffnest
kein Tagesgeldkonto, sondern es handelt sich bei diesen
Fonds ein Stück weit um eine unternehmerische Beteiligung, mit allen Chancen oder eben auch Risiken, die damit gewissermaßen einhergehen.
Ein weiteres Problem ist die Fremdkapitalquote. Ich
denke, diesen Bereich müssen wir uns noch einmal anschauen. Auch hier gilt: Es gibt gesellschaftlich gewünschte Projekte, die mit der Fremdkapitalquote, die
momentan vorgesehen ist, möglicherweise nicht auskommen. Ich denke beispielsweise an Windparks; da sind
Fremdkapitalquoten von über 60 Prozent gang und gäbe.
Wenn wir es ernst meinen mit der Energiewende - wir
werden das nicht alles vom Staat aus finanzieren können,
wir brauchen dazu privates Kapital -, dann dürfen wir
auch hier nicht so regulieren, dass diese Investitionen
nicht möglich sind; dazu wird der Kollege Breil gleich
noch etwas sagen.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch zwei, drei Sätze über
die offenen Immobilienfonds verlieren. Sie sind ein
wichtiges und wertvolles Anlageinstrument, um gerade
für den Kleinsparer eine Eintrittsmöglichkeit zu schaffen
in eine Assetklasse, die er sonst nicht hat. Hier gilt es
wirklich, genau darauf zu schauen, dass diese Assetklasse nicht verloren geht, sondern weiter für den Vermögensaufbau erhalten bleibt. In diesem Sinne freue ich
mich auf die weitere parlamentarische Beratung.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Axel
Troost das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie
legen wieder ein aus unserer Sicht dürftiges Gesetz vor
und wollen dies den Wählerinnen und Wählern - das
wird hier wieder deutlich - als Meilenstein der Finanzmarktregulierung verkaufen.
Konkret debattieren wir hier über die sogenannten
Schattenbanken, im Volksmund auch „Heuschrecken“
genannt, das heißt, spekulative Fonds wie Hedgefonds
und Private-Equity-Fonds. In Ihrem Gesetz heißen sie
vornehm „alternative Investmentfonds“. Inzwischen verwalten diese Fonds wieder genauso viel Geld wie vor der
Krise, und ihr Zweck ist, möglichst viel Geld zu machen mit oft sehr aggressiven Mitteln. Deswegen heißen sie
häufig „Heuschrecken“. Der realwirtschaftliche Hintergrund interessiert überhaupt nicht; wichtig ist nur, möglichst viel Rendite zu machen. Anders gesagt: Sie sind
reine Melkkühe ohne volkswirtschaftlichen Nutzen.
Vor der Krise wurden Hedgefonds damit gerechtfertigt, dass sie Risiken auf sich nehmen, die andere nicht
auf sich nehmen würden. Das ist aber genau das Problem: Sie nehmen außergewöhnliche Risiken auf sich,
was aber die Finanzstabilität bedroht. Man sollte das
nicht herunterspielen. Der legendäre Hedgefonds LTCM
hat 1998 mit seiner Pleite das Finanzsystem schwer erschüttert.
({0})
Die Pleite der Investmentbank Bear Stearns durch zwei
hausinterne Hedgefonds war der Auftakt für die Finanzmarktkrise. Hedgefonds haben das rapide Wachstum der
Märkte der toxischen Wertpapiere befeuert. 2008 platzte
die Immobilienpreisblase ebenfalls, die dadurch angeheizt worden war. Deshalb ist es dringend erforderlich,
diese Fonds schärfer zu regulieren.
({1})
Die Latte dafür haben Ihre Vorvorgänger allerdings sehr,
sehr niedrig gelegt. Ich will aus dem rot-grünen Gesetz
zur Modernisierung des Investmentwesens von 2003 zitieren:
Anbieter von Hedgefonds sollen nach dem Gesetzentwurf in Deutschland auf moderne und liberale
rechtliche Rahmenbedingungen treffen.
({2})
Etwas weiter:
Die Hedgefonds-Branche scheint sich zu einer
Branche entwickelt zu haben, die sich der mit
Hedgefonds verbundenen Risiken bewusst ist und
mit ihnen verantwortungsvoll umgeht. Es darf daher erwartet werden, dass die vom Gesetzgeber vorgesehenen Freiräume nicht missbraucht werden.
({3})
Das hört sich heute an wie ein Witz, wie Satire. Es
war damals naiv, und es ist jetzt naiv.
({4})
Insofern muss hier Grundlegendes geändert werden.
Aber viele Passagen im vorgelegten Gesetzentwurf klingen ähnlich. Sie sind zu schwach, deshalb reichen sie aus
unserer Sicht nicht einmal in Ansätzen aus.
Im Detail möchte ich drei Schwächen der neuen Regelung ansprechen:
Erstens. Mit dem Gesetz unterliegen Fondsmanager
künftig einer Zulassungspflicht in der EU. Fonds mit
weniger als 100 Millionen Euro an verwaltetem Vermögen brauchen keine Erlaubnis. Wir haben eben den frenetischen Applaus der FDP gehört. Damit fallen aber
70 Prozent sämtlicher Fonds eben nicht unter die Zulassungspflicht.
Zweitens. Bei der Zulassung müssen die Fondsmanager ein Mindesteigenkapital nachweisen. Wenn man an
Fonds auch nur in Ansätzen ähnliche oder gleiche Vorschriften wie für Banken anlegen würde, wäre weit mehr
Eigenkapital erforderlich.
Drittens. Die nationalen Behörden können bei Verdacht auf Systemrisiken die Geschäfte auf Pump, den sogenannten Leverage-Effekt, einschränken. Das setzt aber
eine gut ausgestattete und aktive Aufsicht voraus. Solche
Erwartungen sind in der Vergangenheit häufig enttäuscht
worden. Insofern halten wir es für absolut erforderlich,
die Hebelwirkung generell zu begrenzen, das heißt, die
Verschuldung einzudämmen und in bestimmte Relationen zum Eigenkapital zu setzen.
({5})
Außerdem gibt es eine sehr großzügige Übergangsregelung bis 2018, die im Prinzip eine Zulassung nach nationalem Recht möglich macht. Das bedeutet, dass sich
Fondsmanager bei den großzügigen Behörden in Großbritannien oder Irland registrieren lassen und auch hier
entsprechend wirken können.
Es wäre aber nicht fair, jetzt nur davon auszugehen,
dass die Vorlagen schlecht waren, sondern Sie hätten
auch aus unserer Sicht deutlich mehr betreiben können.
Immer mehr bankähnliche Geschäfte werden von Fonds
betrieben, die sich der Regulierung der Banken entziehen. Wir hören seit Monaten, dass diese Schattenbanken
ein riesiges Problem darstellen. Passiert ist aber nicht
wirklich etwas.
Ihre eigene Expertenkommission „Neue Finanzarchitektur“ hat Ende 2011 ein Papier mit konkreten Maßnahmen zur Regulierung von Schattenbanken vorgelegt. Das
verstaubt seither in der Schublade. Ein Gesetz von Ihnen, das sich daran orientieren könnte und mit dem auch
im Zusammenhang mit dem G-20-Prozess versucht werden könnte, weitere Regulierungen anzugehen, ist von
daher in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr zu erwarten.
Das Problem von Schattenbanken ist, dass sie sich
weitgehend in regulierungsfreien Zentren - wie den
Kayman-Inseln oder auch Delaware in den USA - organisieren. Wir fordern - wie bei Steueroasen - eine Initiative gegen diese Schattenbankfinanzierungsplätze.
({6})
Insofern können Sie mit der Regulierung anfangen und
diese Zentren austrocknen, etwa durch Abschlagsteuern
auf Gewinnübertragungen oder den Entzug von Lizenzen für alle Banken, die dort Niederlassungen betreiben.
Ich habe in der letzten Woche in unserer parteinahen
Stiftung eine Broschüre mit dem Titel „Deals im Dunkeln - Ziele und Wege der Regulierung von Schattenbanken“ herausgegeben. Ich stelle Ihnen die gerne zur
Verfügung. Wir versuchen, darin unsere konkreten Vorschläge auch nachlesbar zu entwickeln.
Meine Damen und Herren, wir haben insofern dem
zugrundegelegten Gesetzentwurf bereits im Europäischen Parlament nicht zugestimmt, weil wir der Ansicht
waren, dass das Ganze zu lax ist und nicht ausreicht.
Wenn sich nicht Erhebliches ändert, werden wir auch in
der zweiten und dritten Lesung diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.
Danke schön.
({7})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir jetzt gerade als Gesetz diskutieren,
hat einen Bezug zu dem, was dieser Tage medial öffentlich wurde, als nämlich Polizei und Staatsanwaltschaft
mit einer bundesweiten Razzia gegen ein Unternehmen
- ich rede von der Firmengruppe S&K - vorgingen, das
viele Millionen in vermeintlich sichere Immobilien investiert haben soll, wo aber der Verdacht besteht, dass da
ein Schneeballsystem aufgebaut und für die Anleger ein
Schaden in dreistelliger Millionenhöhe verursacht worden ist. Das betrifft mehrere Tausend Personen, die dort
investiert haben.
Gegenstand der Ermittlungen sind mehrere Anlagefonds mit einem Volumen im neunstelligen EuroBereich. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main sagt,
dort seien wohl betrügerisch erlangte bzw. veruntreute
Anlagegelder für den extrem aufwendigen und exzessiven Lebensstil der Beschuldigten, die Anschubfinanzierung, den Aufbau und die hohen laufenden Kosten von
eigenen und verbundenen Unternehmen sowie zweckwidrige Objektfinanzierungen verwendet worden. Dabei geht es um die Dinge, die wir in diesem Bereich des
Kapitalmarkts immer wieder feststellen: Das, was die
Anleger meinen zu tun - nämlich in vermeintlich sichere
Anlagen zu investieren -, findet nicht statt, sondern die
Gelder landen ganz woanders.
({0})
- Das ist Betrug. - Wir werden die Auswüchse nie völlig
verhindern können. Die Frage ist nur, ob wir es durch die
Regulierung schaffen, dass das früher erkannt wird und
von Beratern auf Probleme hingewiesen wird, die schon
bekannt sind, oder ob es besonders einfach ist, so etwas
auf den Weg zu bringen. Es besteht das Interesse, unseren Finanzmarkt da möglichst sicher zu gestalten.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die AIFMRichtlinie umgesetzt. Dabei geht es aber nicht nur um
den Bereich der alternativen Investmentfonds, sondern
der Gesetzentwurf stellt auch Bezüge zur OGAW-Richtlinie her, die bisher in Deutschland im Investmentgesetz
abgebildet worden ist. Damit kommen wir zur Schaffung
eines Kapitalanlagegesetzbuches. Wir finden es vom
Grundsatz her erst einmal sinnvoll, diese Regelungen in
einem einzelnen Buch zusammenzufassen, auch wenn
das bedeutet hat, dass es um sehr viele unterschiedliche
Regelungen ging und sich unsere Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter und wir selbst deshalb durch ziemlich viel
Papier durcharbeiten mussten.
Im Zuge der OGAW-Richtlinie für den Investmentfondsbereich gibt es bereits seit Jahren Regelungen sowohl
für die Verwalter von Fonds als auch für Fondsprodukte
selbst. Für Manager und Verwalter von alternativen Investmentfonds werden jetzt neue Regelungen aufgestellt. Das ist im Grunde richtig, insbesondere geht es
um Publikumsinvestmentvermögen. Im Bereich geschlossene Publikumsinvestmentfonds qualifizieren beispielsweise die geschlossenen Schiffs-, Medien- oder
Immobilienfonds, also zum Beispiel das, worüber ich
vorher im Zusammenhang mit der Firma S&K gesprochen habe. Diese Fonds haben sich in den letzten
Jahrzehnten nämlich zum gängigen Anlageprodukt entwickelt, häufig mit Steuervorteilen angepriesen. Wir
haben bei diesen Fonds häufig aggressive Verkaufsmethoden zu beklagen; auch haben sie sich für Millionen
von Anlegerinnen und Anlegern als finanzielles Desaster
herausgestellt.
Bei geschlossenen Immobilienfonds waren die Immobilien oft in baufälligem Zustand und die prognostizierten Erträge weit weg von realistischen Berechnungen. In
geschlossene Schiffsfonds - ein Thema, über das wir,
glaube ich, bisher zu wenig geredet haben, wenn man
sich deren Bedeutung für die internationalen Schiffsmärkte anschaut - sind in den letzten Jahren über
20 Milliarden Euro investiert worden. Diese Fonds sind
jetzt von der Finanzkrise besonders stark betroffen. Es
geht also in diesem Segment um die Vernichtung von
Anlegergeldern in immenser Höhe.
Wir als grüne Fraktion haben diese Anlegerschutzdefizite im Bereich der geschlossenen Fonds bereits 2007
angesprochen, als es um die Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie MiFID ging. Wir haben aber in der damaligen Legislaturperiode nur anregen können, dieses
Thema anzugehen. Es ist deswegen richtig, dass, nachdem in diesem Bereich schon einzelne Anpassungen erfolgt sind, jetzt mit dem Kapitalanlagegesetzbuch für geschlossene Fonds selbst Regelungen getroffen werden,
zum Beispiel die Einführung einer Erlaubnispflicht.
({1})
Es gibt allerdings eine Reihe von Aspekten, die durchaus
diskussionsbedürftig sind. Diese werden wir in den Beratungen stärker thematisieren.
Zum einen sieht der Gesetzentwurf im Gegensatz
zum Diskussionsentwurf für die Verwalter von kleinen
geschlossenen Publikums-AIF eine weitreichende Ausnahme vor. Nach dieser Sonderregelung sollen jene Verwalter, deren verwaltetes Vermögen den Wert von insgesamt 100 Millionen Euro nicht überschreitet und die
ausschließlich inländische geschlossene alternative Investmentfonds verwalten, lediglich eingeschränkten Regelungen unterliegen. Da gibt es Klärungsbedarf. Das
war in der Richtlinie ursprünglich so nicht vorgesehen.
Wir müssen befürchten, dass gerade die Fälle, die wir
jetzt beklagen, durch die Ausnahmeregelung, die jetzt
geschaffen wird, auch in Zukunft weiterhin eintreten
werden. Wir werden uns bei den Ausschussberatungen
noch einmal genau anschauen müssen, ob diese Ausnahmeregelung nicht in die falsche Richtung geht und dadurch nicht genau die Modelle in der Praxis weiterhin
möglich sind, deren Existenz wir beklagen.
Zum anderen - auch das muss man sich anschauen gibt es neben dem Vertrieb von Finanzprodukten auch
unternehmerisches Engagement. Wir sehen das im Bereich der Energiewende, wo über genossenschaftliche
Modelle oder regionale Bürgerwindkraftfonds Investitionen getätigt werden, welche wir im Zusammenhang
mit der Energiewende auch wollen. Dabei müssen wir
jetzt schauen, wie wir die Schnittstelle zwischen Finanzanlageprodukten mit einem sauberen Vertrieb und einer
guten Fondsregelung einerseits und unternehmerischen
Investitionen, die wir für sinnvoll halten, andererseits
ausgestalten und beide Seiten vernünftig austarieren. Da
gibt es unterschiedliche Einschätzungen: Was heißt der
Gesetzentwurf für Genossenschaften? Was heißt das beispielsweise für einzelne Windkraftfonds vor Ort? Wir
werden uns das bei den Ausschussberatungen genau anschauen. Ich glaube, das ist sinnvoll. Hier gibt es ja ein
gemeinsames Interesse. Ich nehme zumindest an, dass
das bei Ihnen in der Fraktion ähnlich diskutiert wird.
Ich will noch ein anderes Thema ansprechen, das uns
intensiv beschäftigt und große Marktbedeutung hat: das
Thema offene Immobilienfonds. Es ist schon erstaunlich, dass hier in derselben Legislaturperiode noch einmal eine Korrektur vorgenommen werden soll. Hinzu
kommt noch ein gewisses Hin und Her: Der erste Vorschlag aus dem Ministerium ist jetzt noch einmal korrigiert worden, sodass wir innerhalb kürzester Zeit sozusagen mehrere Regulierungsvorschläge aus der Koalition
zu demselben Themenbereich bekommen haben.
Ich glaube, dass es sinnvoll ist, die bestehende Regulierung erst einmal beizubehalten. Es gibt aber einzelne
Punkte, die man korrigieren muss. Wir werden uns genau anschauen müssen, was man bei den offenen Immobilienfonds macht. Wir hatten ja schon an mehreren Stellen Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Wir fragen uns,
ob das damals falsch gemacht worden ist und ob die Regelungen, die jetzt vorgesehen sind, in die richtige Richtung gehen.
Ich will außerdem den Punkt „Verwahrstellen für geschlossene Fonds“ ansprechen. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass die Verwahrstelle bestimmter geschlossener alternativer Investmentfonds auch ein Treuhänder sein
kann. Wir haben Zweifel, ob eine sinnvolle Form von
Anlegerschutz gewährleistet ist, wenn wir das auf diese
Art und Weise machen.
Des Weiteren will ich die Anlagebedingungen bei offenen Publikumsfonds - das wird auch in unseren Ausschussberatungen eine Rolle spielen - thematisieren. Ist
dabei die Kostentransparenz gewährleistet oder nicht?
Die Bundesregierung hat in der Erwiderung auf die Stellungnahme des Bundesrates versprochen, etwas zu tun.
Das habe ich zur Kenntnis genommen; das werden wir
aufmerksam weiterverfolgen.
Ich will zum Schluss noch ein Thema ansprechen.
Das mag Sie ein bisschen nerven, aber ich spreche es
trotzdem an, auch wenn es keinen unmittelbaren Bezug
zu dieser EU-Richtlinie hat. Wir müssen aber gegen
Ende dieser Legislaturperiode schon konstatieren, dass
wir in Deutschland im Bereich Zertifikate, also RetailDerivaten, die an Kleinanleger vertrieben werden, mehr
als vier Jahre nach dem Kollaps von Lehman Brothers,
im Zuge dessen die Probleme mit diesen Produkten jedem offenkundig wurden, immer noch keine wirkliche
Regelung haben. Auch das werden wir in den Ausschussberatungen thematisieren. Denn es kann nicht
sein, dass an dieser Stelle keine Lehre aus der Finanzkrise gezogen wird.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Ralph Brinkhaus hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
heute ein etwas umfangreicheres Manuskript mitgebracht: 600 Seiten mit mehreren 100 Paragrafen
So lang ist die Redezeit nicht.
- umfasst nämlich der Gesetzentwurf, den wir heute
behandeln. Ich möchte Ihnen
({0})
kurz vorlesen, um was es darin alles geht.
Es geht um ein komplett neues Kapitalanlagegesetzbuch. Es geht um die Aufhebung des Investmentgesetzes,
Änderungen des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes,
des Bürgerlichen Gesetzbuchs, des Unterlassungsklagengesetzes, des Handelsgesetzbuchs, des Einführungsgesetzes
zum Handelsgesetzbuch, des Wertpapierhandelsgesetzes,
des Wertpapierprospektgesetzes, des Börsengesetzes,
des Vermögensanlagengesetzes, des Aktiengesetzes, des
Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften,
des Depotgesetzes, des Strafgesetzbuchs, des Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen, der Gewerbeordnung, des Kreditwesengesetzes, des Einlagensicherungsund Anlegerentschädigungsgesetzes,
({1})
des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes, des Finanzstabilitätsgesetzes, des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes, des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank, des
Pfandbriefgesetzes, des Versicherungsaufsichtsgesetzes
und des Bausparkassengesetzes sowie Folgeänderungen
in ungefähr zehn Rechtsverordnungen.
Dabei handelt es sich, meine Damen und Herren, nur
um einen einzigen Gesetzentwurf. Wir haben in dieser
Legislaturperiode noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht. Wir haben reguliert die Vergütungsstrukturen.
Wir haben reguliert die Leerverkäufe. Wir haben reguliert die Ratingagenturen. Wir haben reguliert die Großkredite. Wir haben reguliert die Verbriefungen. Wir haben reguliert Produkte des grauen Kapitalmarktes. Wir
haben reguliert den Anlegerschutz. Wir haben reguliert
und neugeordnet die europäische und deutsche Aufsichtsstruktur. Wir haben reguliert die Restrukturierung
der Banken und dabei eine Bankenabgabe eingeführt.
Wir sind dabei, die Eigenkapital- und Liquiditätsvorschriften von Banken und Versicherungen zu regulieren.
Wir regeln den Hochfrequenzhandel. Wir regeln die Honorarberatung. Wir werden die Risiken in den Banken in
einer Art Trennbankensystem regulieren, und wir werden die KfW unter eine andere Aufsicht stellen.
Meine Damen und Herren, ich erzähle Ihnen das alles
nicht, weil ich besonders stolz darauf bin, dass ich viele
Gesetze gemacht habe. Das ist nicht christdemokratischer Anspruch. Aber ich erzähle es Ihnen deswegen,
weil in diesem Haus zwei grundlegende Irrtümer bestehen. Das haben wir heute Morgen bei der Rede des amtierenden, muss man ja sagen, Kanzlerkandidaten der
SPD gehört, und das haben wir auch gerade bei der Rede
des Kollegen Sieling gehört.
Erster Irrtum: Es ist nichts oder zu wenig im Bereich
der Regulierung der Finanzmärkte gemacht worden.
Meine Damen und Herren, keine Bundesregierung hat
bei den Finanzmärkten so viel reguliert wie die christlichliberale Koalition. Niemals ist so viel geregelt worden
wie in den letzten dreieinhalb Jahren.
({2})
Ich glaube, das ist unbestritten. Das hat der eine oder andere vielleicht nicht mitgekriegt.
Die Antwort auf die Frage, warum er es nicht mitgekriegt hat, leitet über zum zweiten grundlegenden Irrtum. Der zweite grundlegende Irrtum ist, anzunehmen,
dass Finanzmarktregulierung aus zwei oder vielleicht
aus drei großen grünen Knöpfen besteht, durch die im
Prinzip alles erledigt werden kann.
Der erste grüne Knopf - der ist heute Morgen in der
Rede des Kanzlerkandidaten vorgekommen, der ist gerade in wahrscheinlich über 60 Prozent der Redezeit von
Herrn Sieling vorgekommen - ist die Finanztransaktionsteuer. Meine Damen und Herren, wir werden die Finanztransaktionsteuer bekommen, weil sich dafür eine
christlich-liberale Koalition auf europäischer Ebene eingesetzt hat.
({3})
Wir werden eine Finanztransaktionsteuer bekommen,
weil sich dafür ein christdemokratischer Finanzminister
auf europäischer Ebene eingesetzt hat. Aber: Diese Finanztransaktionsteuer wird hilfreich sein, jedoch bei
weitem nicht das erledigen, Herr Sieling, was Sie sich
davon versprechen, dass nämlich die Finanzmärkte stabilisiert werden und gleichzeitig so viele Einnahmen generiert werden, dass wechselweise oder wahlweise die
Armut in dieser Welt, der Hunger, der Klimawandel, die
Jugendarbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung und ganz
viele andere Sachen geregelt werden können.
Da dem einen oder anderen das vielleicht aufgegangen ist, dass die Finanztransaktionsteuer nicht dieser
große grüne Knopf ist, hat man sich einen zweiten großen grünen Knopf gesucht. Das ist das Trennbankensystem. Auch das Trennbankensystem werden wir in der
von uns als gut erachteten Form hier in Deutschland bekommen. Aber auch das Trennbankensystem wird die
Finanzmärkte nicht final sichern, meine Damen und
Herren. Dazu bedarf es mehr.
Der Kollege Troost hatte gerade noch einen dritten
Punkt erwähnt - das ist dann praktisch großer grüner
Knopf 3.0 -, nämlich Maßnahmen gegen die Schattenbanken.
({4})
Meine Damen und Herren, Finanzmarktregulierungen
sind nicht große grüne Knöpfe, sondern Finanzmarktregulierung ist wenig spektakulär. Das ist Kärrnerarbeit,
das ist hart, das ist das Bohren von ganz dicken Brettern.
({5})
Das haben wir getan. Während Sie die letzten dreieinhalb Jahre damit verbracht haben, über Finanztransaktionsteuer und über Trennbanken zu räsonieren, haben
wir gearbeitet, haben an mehr als 25 Projekten mitgewirkt, haben viele Dinge auf deutscher Ebene auf den
Weg gebracht, sind auf europäischer Ebene vorangegangen. Ich erinnere hier nur an die Leerverkäufe, an das
Restrukturierungsgesetz und einige andere Projekte.
Und darauf können wir stolz sein.
({6})
Das Ganze ist auch extrem wichtig, wie auch dieses
Gesetz extrem wichtig ist. Herr Staatssekretär Koschyk
hat es bereits vorgestellt: Es geht im Gesetzentwurf nicht
nur um die Umsetzung von europäischen Regulierungen
im Hinblick auf alternative Investmentfonds, sondern es
geht insbesondere darum, dass wir - der Kollege Schick
von den Grünen hat es angesprochen: Wir leisten hier etwas Epochales - die Gesetzgebung für den gesamten Investmentbereich in einem Kapitalanlagegesetzbuch zusammenfassen. Damit werden wir Rechtsgeschichte
schreiben.
Darüber hinaus werden wir circa 40 Gesetze und Verordnungen ändern, und wir werden noch ein steuerliches
Begleitgesetz zu diesem Gesetz mit auf den Weg bringen. Am Ende des Tages, wenn wir im Mai dieses Gesetz in der zweiten und dritten Lesung verabschiedet haben werden, werden wir wieder einen Schritt hin zu
besseren und stabileren Finanzmärkten gemacht haben.
Wir werden einen höheren Verbraucherschutz haben,
und wir werden dabei sicherstellen, dass die Finanzierung der Realwirtschaft durch die Finanzmärkte auch
weiterhin störungsfrei erfolgen wird.
Wenn man sich jetzt einmal die Bedeutung dieses Bereiches anguckt, dann erkennt man, dass es sich um mehr
handelt, lieber Axel Troost, als Hedgefonds. Die Bedeutung dieses Bereiches ist nicht zu unterschätzen. Das haben wir alle schon gemerkt angesichts der Menschen, die
uns schon im Diskussionsprozess aufgesucht und gefragt
haben: Mensch, was passiert da eigentlich? Die Bedeutung dieses Bereiches liegt irgendwo - das können Sie
sich jetzt auf der Zunge zergehen lassen - im Billionenbereich. Es geht um Anlagevermögen in Höhe von mehreren Billionen Euro, die wir in Deutschland in diesem
Bereich haben. Das ist einfach auch Geld, das in der Realwirtschaft gebraucht wird.
Investmentvehikel finanzieren die Realwirtschaft und
nicht nur Schiffe für die deutsche Hochseeflotte, sondern
auch Venture Capital, Start-ups, kleinere Unternehmen,
mittlere Unternehmen und deutsche Aktiengesellschaften. Investmentvehikel finanzieren die deutsche Immobilienwirtschaft, und zwar nicht nur Hotels am Pariser
Platz, Einkaufszentren in Hamburg oder Bürotürme in
Frankfurt, sondern auch die von Ihnen so dringend geforderten Wohnimmobilien in den Ballungsräumen. Investmentvehikel finanzieren die Energieversorgung in
Deutschland, und zwar nicht Kernkraftwerke oder Kohlekraftwerke, sondern insbesondere erneuerbare Energien zum Beispiel in Form von Bürgerwindparks, Genossenschaften und Ähnlichem. In Investmentvehikeln
liegt halt nicht, lieber Axel Troost, das Geld von Spekulanten oder von mir aus auch von Zahnärzten oder
Steuerberatern, wie ich einer bin, sondern darin liegt das
Geld von Millionen von Kleinanlegern,
({7})
weil nämlich auch Versicherungen, Banken und ähnliche
Institutionen in diese Vehikel investiert haben. Deswegen ist es der Mühe wert, dass wir uns mit diesem Komplex beschäftigen
({8})
und dass wir es richtig und gut machen. Wir tragen bei
den Beratungen dieses Gesetzes eine sehr hohe Verantwortung.
({9})
Meine Damen und Herren, bei allen Parteien sind ja
schon Menschen durch die Tür gekommen, die gemeinhin als Lobbyisten bezeichnet werden. Ich will das jetzt
auch gar nicht negativ sehen. Diese Lobbyisten und Verbände haben legitime Interessen. Sie kämpfen für ihre
Interessen. Natürlich ist nicht jeder, der durch die Tür
geht, ehrlich. Der eine oder andere argumentiert auch
pro domo, das heißt für sein Produkt, für seinen Markt
und vielleicht für Intransparenz, die ihm zugutekommt.
Wenn man sich aber genau anschaut, wer da durch die
Tür kommt, dann stellt man fest: Es sind nicht nur Vertreter großer Investmentvermögen, sondern auch Vertreter von Fonds, in denen mehrere Hunderttausend Euro
angelegt sind. Es sind nicht nur Hedgefondsmanager. Ich
habe gestern ein Gespräch mit einem Landwirt geführt,
der einen Bürgerwindpark begleitet und verwaltet und
sich nun Sorgen um dieses Gesetz macht. Es sind nicht
nur Immobiliensachverständige, sondern auch Verbraucherschützer. Es sind nicht nur Private-Equity-Gesellschaften, sondern auch Volksbanken. Ich halte das für
gut und richtig.
Unsere Aufgabe wird es sein, zu unterscheiden, was
gut und was richtig ist: Ist das richtig, was das Bundesfinanzministerium aufgeschrieben hat? Ist das richtig,
was die Verbraucherschützer sagen? Ist das richtig, was
die Verbände und Unternehmen sagen? Diese Aufgabe
werden wir verantwortungsvoll wahrnehmen.
Weil hier hin und wieder gesagt wird, dass der Bundestag nicht transparent arbeitet: Wir werden am
13. März eine Anhörung zu diesem Thema durchführen;
sie ist öffentlich. - Ich sehe gerade die Vorsitzende des
Finanzausschusses. Diese Anhörung wird im Parlamentsfernsehen übertragen oder zumindest protokolliert.
Die Stellungnahmen, die die Lobbyverbände, die zu dieser Anhörung eingeladen sind, abgeben werden, werden
im Internet veröffentlicht und sind dann für jeden einsehbar. Jeder Abgeordnete, der sich mit diesem Gesetzentwurf befasst, ist offen für alle Anregungen, die
gegeben werden. Wir werden außerdem Berichterstattergespräche zu diesem Thema führen.
Wir werden in den nächsten drei Monaten - ich
glaube, das ist ausreichend Zeit, lieber Kollege Sieling im Finanzausschuss über diesen Gesetzentwurf beraten
und ihn im Mai verabschieden. Wenn wir das gut gemacht haben, wenn wir konstruktiv und ohne Schaum
vor dem Mund daran arbeiten, dann werden wir es hinbekommen, dass die Investmentwelt besser sein wird als
zuvor. Dafür lohnt es sich, meine Damen und Herren, die
600 Seiten des Gesetzentwurfs durchzulesen.
Danke schön.
({10})
Lothar Binding hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in unserem
Fachausschuss sind wir uns alle einig - so haben wir es
bisher auch gehandhabt -, dass ein Umfang von 600 Seiten einer kritischen Würdigung bedarf. Denn es ist klar:
Wer 600 Seiten verfasst, kann gar nicht alles so richtig
machen, dass es mehrheitsfähig wird. Damit gehen wir
seriös um. Aber, Herr Brinkhaus, man darf jetzt nicht
Qualität durch Quantität ersetzen. Es kann sein, dass vieles von dem, was geschrieben wurde, falsch ist. Auch
diese Möglichkeit muss man in Betracht ziehen.
Sie haben gesagt, dass es nicht nur um Hedgefonds
geht. Das stimmt. Aber gerade weil es auch um Kleininvestoren und vielleicht indirekt sogar um Spargelder
geht, muss man besonders vorsichtig sein und genau darauf achten, was damit auf welchem Markt und in welchen Dimensionen unter Inkaufnahme welcher Risiken
passiert. Das ist doch unsere Aufgabe. Wenn man dann
in Betracht zieht, dass in der realen Welt im Jahr nur Güter im Wert von 70 Billionen Dollar produziert werden,
es hier aber um Märkte geht, auf denen Geld- und Wertpapiertransfers im vierstelligen Billionenbereich vorge27572
Lothar Binding ({0})
nommen werden, kann man nur zu dem Schluss kommen: So einfach ist es nicht, wenn die Risiken, die auf
solchen Märkten eingegangen werden, plötzlich von
Menschen in der realen Welt übernommen werden sollen. Sie haben gesagt, Investmentvehikel würden gebraucht. Ja, sie werden gebraucht. Die Frage lautet aber,
in welchem Maß. Wie weit wollen wir den Spekulationsmarkt eindampfen, um ihn näher an den realen Markt zu
bringen?
Herr Troost, eine kritische Bemerkung hat mich ein
bisschen geärgert. Sie haben gesagt, dass das, was RotGrün ab 2003 gemacht hat, nichts getaugt habe.
({1})
Meine Antwort lautet: Was wir gemacht haben, war sehr
klug. Wir hatten damals relativ wenig Erfahrung mit
Hedgefondsstrategien; darüber war nicht viel bekannt.
Aber es gab auch Anlass zur Sorge; denn es ging zu viel
Geld an Deutschland vorbei. Was haben wir gemacht?
Wir haben Hedgefonds zugelassen, aber gleichzeitig
stark reguliert.
({2})
- Wie ich sehe, entrüsten sich die Linken gerade ein
bisschen. Ich will das deshalb mit Zahlen belegen.
Deutschland ist eine relativ starke Wirtschaftsnation.
Man könnte also vermuten, dass Deutschland eine gewisse Zahl der weltweit tätigen Hedgefonds beherbergt.
In Europa gibt es 1 180 Hedgefonds. Weltweit gibt es
über 8 000 Hedgefonds. Wie viele haben sich wohl in
der starken Wirtschaftsnation Deutschland angesiedelt?
Welche Anzahl erwarten Sie: 1 000 oder sogar 2 000?
Die Antwort lautet: 18. Ganze 18 Hedgefonds gibt es in
Deutschland. Das heißt, wir haben sehr gut reguliert und
die Menschen erst einmal davor geschützt.
({3})
Das hat über Jahre gehalten. Das war also sehr gut.
Man kann das auch noch an einer anderen Tatsache
festmachen: Damals hieß es, Abermilliarden - es war die
Rede von über 80 Milliarden Euro - gingen an Deutschland vorbei. Wie viele Euro sind heutzutage in deutsche
Hedgefonds investiert? Die Antwort lautet: 1,3 Milliarden Euro. Daran sieht man, dass die gegenwärtigen Gefahren mit der alten Regulierung wunderbar beherrscht
werden.
Dennoch muss man viel tun, weil sich der Markt inzwischen erweitert hat. Es gibt ganz neue Strategien, das
Risikopotenzial hat sich deutlich vergrößert. Kollege
Koschyk hat eben gesagt, für Hedgefonds gälten besondere Regulierungsvorschriften. - Das finden wir gut. Er
hat auch gesagt, der graue Kapitalmarkt solle eingeengt
werden, hat das aber gleich im nächsten Satz eingeschränkt, indem er sagte, man werde dabei die „Verhältnismäßigkeit“ im Blick haben. Nun stimmt das ja immer; aber ich glaube, da muss man schon genauer
hingucken: Zulassungsverfahren, EU-Pass, Risiko- und
Liquiditätssteuerung, Managerpflichten, externe Verwahrstellen, Mindesteigenkapitalvorgaben - all das ist
gut. Hedgefonds werden dadurch stabiler. Die Koalition
klopft sich dafür auf die Schulter, unter diesem Blickwinkel zu Recht.
Aber wer sind eigentlich die Anleger in Hedgefonds?
Es sind wirklich sehr vermögende Privatanleger, es sind
institutionelle Anleger, es sind Banken. Es sind also eigentlich - früher dachte ich das immer - die Experten im
Markt. Deshalb ist der Ansatz unzureichend. Wir meinen: Solange Hedgefonds alle Geschäfte machen dürfen,
die man sich nur ausdenken kann, also auch offene Spezial-AIF bzw. alternative Investmentfonds, müssen wir
darauf achten, dass durch dieses Gesetz nicht nur die
professionellen Anleger geschützt werden. Wir müssen
gucken, ob wir nicht hinsichtlich der Gefahren, die von
diesem Instrument Hedgefonds ausgehen - es ist ja ein
Werkzeug -, mehr machen müssen. Die Frage lautet
also: Hat man im vorliegenden Gesetzentwurf auch
Marktrisiken, indirekte Risiken für Kleinanleger im
Blick?
Ich will es einmal an einem Beispiel deutlich machen.
Das, was wir hier machen, würde bedeuten, dass wir
zwar regeln, dass ein Auto zum TÜV muss, dass der
Tank voll sein muss und dass die Versicherungsprämie
bezahlt sein muss, aber zugleich überall auf Ampeln und
auf die Straßenverkehrs-Ordnung verzichtet würde, und
Polizei auch nicht vorgesehen ist. Was für Folgen das haben kann, haben wir eben schon gehört: Wenn so etwas
wie bei S&K möglich ist, dass 37 000 Anleger in betrügerischer Absicht hintergangen werden, dann muss man
mehr machen, als in diesem Gesetzentwurf jetzt vorgesehen ist.
({4})
Wir müssen auch fragen: Brauchen wir Hedgefonds
überhaupt? Das ist natürlich die Kardinalfrage. Vielleicht brauchen wir sie ja ein bisschen; aber wir müssen
zumindest fragen: Brauchen wir sie, oder gehen davon
Gefahren aus, die wir mithilfe dieses Gesetzes nicht regulieren können und wir also nicht dafür sorgen können
- wahrscheinlich wird das ganze Haus dies unterschreiben -, dass im Markt der Grundsatz „Gleiches Geschäft,
gleiches Risiko, gleiche Regeln“ gilt? Wenn wir entsprechende Regelungen vorsehen könnten, wäre sicherlich
viel erreicht. Aber das ist zugleich meine Kritik am Gesetz: Es gibt eben keine Lösungsvorschläge für Risiken
im System. Es wird nur auf Teilmärkte reagiert.
Wir wissen ja inzwischen, dass die globalen Krisen
von den Knotenpunkten in diesem Markt ausgehen, sozusagen von einer implizierten Instabilität nicht nur der
Produkte, sondern auch der Beziehungen der Institutionen zueinander. Diese Knotenpunkte - nennen wir sie
Eigenhandelstransaktionen zwischen regulierten Banken
und unregulierten Hedgefonds - müssen wir anschauen:
Wertpapierleihgeschäfte, Rückkaufsvereinbarungen, also
Repo-Geschäfte, extreme Fristentransformationen. All
das müssen wir in den Blick nehmen, weil es dann, wenn
Lothar Binding ({5})
diese miteinander kommunizieren und sich auch austauschen, eine Risikokonzentration im Markt gibt, die für
uns wieder unbeherrschbar ist. Mit den vorhin genannten
Grenzen von 100 Millionen Euro ist das evident.
Die Präsidentin mahnt mich, zum Schluss zu kommen. Daher sage ich abschließend: Im Moment hat die
Bundesregierung meines Erachtens noch keine Idee, wie
wir diese Strukturen auflösen und Risiko und Haftung an
der richtigen Stelle entzerren können, und zwar so, dass
zum guten Schluss nicht der Steuerzahler das Nachsehen
hat. Dieser Aufgabe sollten wir uns beim Lesen des dicken Werkes sicher unterziehen.
Schönen Dank.
({6})
Der Kollege Klaus Breil spricht jetzt für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute inmitten eines der bedeutendsten Projekte der Bundesregierung: dem Um- und Ausbau
der Energieinfrastruktur. An diesem Projekt will die
Bundesregierung auch in Zukunft möglichst viele beteiligen. Mit „viele“ meine ich gerade die Bürgerinnen und
Bürger.
({0})
Es geht in dieser Debatte nicht um die Kosten. Die
Beteiligungs- und Gewinnmöglichkeiten, die sich aus
der Energiewende ergeben, wollen wir möglichst vielen
Privatpersonen zugänglich machen. Damit lassen sich
zumindest teilweise die individuellen finanziellen Belastungen begrenzen. Das wiederum kann der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz nur guttun.
Zu Anfang dieses Jahrtausends, als ich in meinem früheren Beruf die ersten Erneuerbare-Energien-Fonds, sogenannte New Power Fonds, auflegte, spielten Bürgerenergieprojekte, wie wir sie heute kennen, keine große
Rolle. Heute ist das anders: Ihnen kommt eine zunehmend wichtigere Rolle zu, insbesondere auch in der
Rechtsform der Genossenschaften. Sie helfen uns, zwei
wichtige Ziele zu erreichen: Erstens beschleunigen sie
unseren Weg hin zu einer dezentraleren Erzeugerstruktur. Zweitens unterstützen sie die regionale Wertschöpfung.
Die unmittelbare individuelle Beteiligungsmöglichkeit - von 500 Euro bis zu mehreren Tausend Euro zum
Beispiel bei Genossenschaften - im direkten räumlichen
Umfeld erhöht auch die lokale Akzeptanz gegenüber
Energieanlagen und dem Ausbau der Infrastruktur. Aus
der Erfahrung wissen wir, dass die Beträge der Beteiligungen in den meisten Fällen überschaubar sind. Dafür
ist die Anzahl der Teilhaber oft recht groß. Bürgerenergieprojekte sind daher nur bedingt mit Kapitalanlageprojekten gleichzustellen, um die es im Rahmen dieses Umsetzungsgesetzes eigentlich geht.
Wir haben uns daher, wie in der Richtlinie vorgesehen, für eine De-minimis-Regel für alternative Investmentfonds mit einem Vermögen von unter 100 Millionen Euro eingesetzt. Die Verwaltung von AIF ist weder
für die Finanzmarktstabilität noch für die Markteffizienz
mit nennenswerten Risiken verbunden. Wenn ein AIF
nicht hebelfinanziert ist und die Anleger in den ersten
fünf Jahren nicht aus ihrem Investment aussteigen können, liegt die De-minimis-Schwelle für die Maßnahmen
im Rahmen des Umsetzungsgesetzes bei 500 Millionen
Euro.
Gründung, Verwaltung und Betrieb von Bürgerenergieanlagen erfolgen oft durch ehrenamtliches Engagement. Diesem Umstand tragen wir im Rahmen der Novellierung des Kapitalanlagegesetzbuches ausreichend
Rechnung. Manager, deren nicht gehebelte Fonds unter
die De-minimis-Regel fallen, müssen sich lediglich registrieren und unterliegen keiner der weiteren Maßnahmen aus der Richtlinie.
In den kommenden Berichterstattergesprächen Mitte
März werden wir darauf achten, dass wir keine Regelungen beschließen, die die eingeleitete positive Entwicklung abbremsen werden.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die internationale Finanzkrise hat uns zwei Dinge
gezeigt: Erstens. Schwerwiegende Störungen in der Finanzwirtschaft in einem Teil der Welt können schwerwiegende weltweite Folgen nicht nur für die gesamte
Finanzwirtschaft, sondern auch für die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Zweitens. Alternative
Investmentfonds, Private-Equity-Fonds, Risikokapitalfonds oder Hedgefonds bergen Risiken für das gesamte
Finanzsystem. Sie haben ihren Teil zur internationalen
Finanzkrise beigetragen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, beraten wir
jetzt einen neuen Ordnungsrahmen und Leitplanken für
diesen Teil der Finanzwirtschaft zum Schutz der Gesamtwirtschaft, ihrer Unternehmen und Arbeitnehmer
und zum Schutz der Anleger. Diese Bundesregierung
und die sie tragende Koalition haben sich deshalb in Europa und darüber hinaus bei G 20 für einen internationalen Regelungsrahmen starkgemacht.
Ein Ergebnis dieser konsequenten Politik ist die
AIFM-Richtlinie der Europäischen Union. Diese gilt es
nun sachgerecht in nationales Recht umzusetzen. Dass
der heute zu beratende Gesetzentwurf 600 Seiten umfasst, bin ich weniger stolz. Mir geht es um die Verhältnismäßigkeit und die Praxisnähe dieser Regulierung. Es
ist sinnvoll, dass wir diesen Gesetzentwurf dazu nutzen,
um ein geschlossenes Regelwerk für Investmentfonds zu
schaffen.
Wir wollen damit unser Finanzsystem krisenfester
machen. Wir wollen Transparenz von Produkten und
Märkten. Wir wollen Haftung und Kontrolle verbessern
und damit eine Stärkung des Anlegerschutzes erreichen.
So werden Übertreibungen auf den Finanzmärken eingedämmt, und so wird auch Betrug erschwert. Diese Ziele
gehen wir fachlich und praxisnah an. Aber für die Realwirtschaft wollen wir - das muss klar sein - einen funktionsfähigen Kapitalanlagemarkt. Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht diesen Markt. Ihn müssen wir
nur ordentlich regulieren.
({0})
Wir können doch nicht eine einzige Sache zum Maßstab machen. Wir können nicht einen einzelnen, sicher
bedauerlichen Betrugsfall herauspicken, wie es Herr
Schick gemacht hat. Keine Regulierung kann die Absicht zu Betrug verhindern. Wir dürfen nicht eine völlig
falsche Hoffnung in die Öffentlichkeit hineintragen. Wir
stellen die Finanzbranche nicht unter Generalverdacht,
sondern wir fordern Lernbereitschaft des Finanzmarktes,
und das mit Verhältnismäßigkeit. Nur so kann man überzeugen, und nur so kann man die Zukunft dieses Marktsystems durchsetzen.
Wir sind also für einen funktionierenden Kapitalanlagemarkt. Das Kapitalanlagegesetzbuch ist ein Meilenstein. Wir haben dabei keinen ideologischen Schaum vor
dem Mund, sondern wir korrigieren jetzt auch Fehlentwicklungen im Finanzsektor unter Rot-Grün. Wir haben
inzwischen rund 15 Regulierungsgesetze auf den Weg
gebracht. Der Kollege Brinkhaus hat alle wunderbar aufgezählt. Das ist lobenswert, Herr Kollege.
({1})
Der finanzpolitische Besserwisser Steinbrück und
Rot-Grün haben keine gute Bilanz, so wie wir sie vorweisen können. Nur zur Erinnerung, liebe Kollegen von
Rot-Grün: Es war Ihre damalige Bundesregierung, es
war die Regierung Schröder/Fischer mit Hans Eichel als
Finanzminister, die den Hedgefonds in Deutschland Tür
und Tor geöffnet hat, mit allen Folgen, die wir heute
kennen. Ich stelle fest: Die SPD ist heute noch stolz auf
die 18 deutschen Hedgefonds, die der Kollege Binding
letzten Endes noch einmal verteidigt hat. Dies ist ein
treffliches Beispiel dafür, was passiert, wenn man Sie
machen lässt. Darüber können Sie auch mit Ihrem nachträglichen Gejammere über Heuschrecken nicht hinwegtäuschen.
({2})
Sie von Rot-Grün ziehen zumeist die falschen Lehren
aus den Krisen. Sie ziehen die falschen Lehren aus dieser Finanzmarktkrise. Ich sage deutlich: Sie sind eine
Gefahr für Unternehmen, Arbeitsplätze und Vermögen.
Sie sind eine Gefahr für sinnvolle Rahmenbedingungen
am Finanzmarkt.
Wir bringen das jetzt in Ordnung, wie wir schon anderen Murks von Ihnen in Ordnung gebracht haben. Wir
verbieten jetzt Hedgefonds für Privatanleger. Wir halten
Wort. Wir handeln. Das ist die Tatsache. Jetzt gehen wir
mit dem Regierungsvorhaben Kapitalanlagegesetzbuch
in die Sachverständigenanhörung. Unsere parlamentarische Beratung wird in fachlicher Prüfung sicher einige
Modifikationen des Entwurfs vornehmen. Das ist ganz
normal. Wir Parlamentarier haben das letzte Wort. Wir
sind für funktionsfähige offene Immobilienfonds, und
wir wollen die Erhaltung der Spezialfonds in der richtigen Verhältnismäßigkeit durchsetzen.
Es darf auch keine Verunsicherungen gegenüber den
bisherigen Regulierungen geben, wo sich das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz bewährt hat.
Dies ist zum Beispiel beim Bewertungsregime der Fall.
Ich bin der Auffassung, dass das Bewertungsregime
nicht jeden Monat angewandt werden darf. Ich bin der
Auffassung, dass sich das Bewertungsregime bewährt
hat und nicht geändert werden muss. Ich bin auch der
Auffassung, dass die Zweiklassengesellschaft im Hinblick auf Neuanleger und Altanleger zu überprüfen und
zu hinterfragen ist.
All das sind Dinge, die wohldurchdacht sein müssen;
denn die Produkte müssen sich zum Schluss auch am
Markt bewähren können. Das ist entscheidend: Auf der
einen Seite brauchen wir Regulierung. Auf der anderen
Seite müssen die Anbieter wissen, dass sie mit ihrem
Kapital eine Rendite erzielen können, insbesondere
dann, wenn der Markt diese Kapitalanlageprodukte annimmt.
Zum Abschluss. Alles, die neuen Bestimmungen und
die bereits vorhandenen Bestimmungen des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes, wird im
Kapitalanlagegesetzbuch zusammengefasst.
Herr Kollege.
Das dient den Anlegern und dem Finanzmarkt. Meine
Damen und Herren, so sieht Politik aus, die Wort hält.
Das sollten Sie sich als Beispiel nehmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12294 an die Ausschüsse vor-
geschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Petra
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Missbrauch von Werkverträgen bekämpfen
- Drucksache 17/12378 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verhinderung des Missbrauchs von Werkverträgen
- Drucksache 17/12373 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})Rechtsausschuss
Hier wurde verabredet, eine Stunde zu debattieren. Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das ebenfalls so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat
die Kollegin Anette Kramme das Wort.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es läuft eine öffentliche Diskussion unter dem
Titel „Missbrauch von Werkverträgen“. Dieses Phänomen droht eine neue Niedriglohnwelle in Deutschland
auszulösen. Ich glaube, ich brauche an dieser Stelle nicht
anzufügen, dass die Situation bei den Niedriglöhnen in
Deutschland schon problematisch ist; wir stehen hier unmittelbar hinter den USA. Man kann es an einzelnen
Zahlen festmachen, beispielsweise daran, dass 23 Prozent aller Haupt- und Nebenbeschäftigten weniger als
8,50 Euro verdienen. Man kann es aber auch an der Einkommensentwicklung im unteren Einkommensbereich
festmachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele sind in den
letzten Wochen dabei erwischt worden, dass sie beim
Spiel Werkverträge mitmachen: Netto und Kaufland,
Rossmann und Real. Über Schlachtbetriebe wird berichtet, dass nur noch 20 Prozent der dort Arbeitenden bei
den Schlachtbetrieben selbst beschäftigt sind. Auch
BMW und Porsche sind bei diesem Spiel dabei. Der Betriebsrat von Daimler hat uns in der Sachverständigenanhörung berichtet, dass es dort ebenfalls Probleme gibt.
Die Zielsetzungen derjenigen Unternehmen, die diese
Werkverträge nutzen, sind im Prinzip klar und eindeutig:
Einerseits geht es darum, den Mindestlohn in der
Leiharbeit zu unterlaufen. Bereits an dieser Stelle sei
angemerkt: Ein Mindestlohn ist nicht alles, was wir im
Bereich der Leiharbeit brauchen; es geht selbstverständlich um Equal Pay. Die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit sind keinesfalls großartig, und dennoch werden sie
unterlaufen.
Andererseits fürchten die Branchen, die solche Werkverträge einsetzen, dass die europäische Leiharbeitsrichtlinie hier durch Gerichte unmittelbar angewendet
wird. Beispielsweise hat das LAG Brandenburg aktuell
im Januar so entschieden. Es hat eindeutig gesagt: Leiharbeit, die nicht vorübergehend, sondern dauerhaft ist,
führt dazu, dass der Leiharbeitnehmer Mitarbeiter des
Entleihers wird. Da fürchten natürlich viele Unternehmen, dass sie diese Menschen plötzlich - in Anführungszeichen - „an der Backe“ haben.
An sich ist der Titel „Missbrauch von Werkverträgen
bekämpfen“ falsch. Denn der Werkvertrag an sich ist nur
Ausdruck für die Rechtsbeziehungen zwischen den
Unternehmen. Aber es geht um das Lohndumping beim
Einsatz von Fremdpersonal, und es geht um den Status,
unter dem Fremdpersonal in das dritte Unternehmen
hineinkommt: Sie kommen als Leiharbeitnehmer, sie
kommen als reguläre Arbeitnehmer, und manche dieser
regulären Arbeitnehmer sind dann doch Leiharbeitnehmer. Sie kommen als Soloselbstständige oder als Scheinselbstständige. Ein Problem in diesem Zusammenhang
sind Betriebsübergänge, die dazu genutzt werden, bestehende Tarifverträge zu unterlaufen.
Die Abgrenzung, wann ein Beschäftigter Leiharbeitnehmer und wann er einfacher Arbeitnehmer ist, ist
schwierig. In der Rechtsprechung wurden Kriterien entwickelt. Primär geht es darum, wer das Weisungsrecht
ausübt: ob das Weisungsrecht durch den Entleiher ausgeübt wird oder ob das Weisungsrecht bei der dritten Firma
liegt.
Es werden darüber hinaus eine Unzahl weiterer Kriterien angewendet. Das kann für uns nur eine Schlussfolgerung ergeben: Damit Überwachungsbehörden arbeiten
können, damit Arbeitnehmer und Betriebsräte ihre
Rechte durchsetzen können, brauchen wir eine Vermutungsregelung, die wir an sieben Kriterien festmachen,
von denen drei erfüllt sein müssen.
Es geht darum, dass eine Vermutungsregelung nicht
ohne Konsequenzen bleibt. Wir sprechen uns eindeutig
dafür aus: Liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Scheinwerkvertrag handelt, muss dem nachgegangen werden. Bestätigt sich die Vermutung, dann geht es
im Ergebnis um Arbeitsvermittlung. Es besteht also ein
Arbeitsverhältnis zwischen demjenigen, der das Fremdpersonal eingestellt hat, und dem entsprechenden Arbeitnehmer.
Aber es geht auch darum, die Informationsrechte von
Betriebsräten zu stärken. Zwar gibt es dort bereits
Rechte, aber Betriebsräte wissen damit nicht umzugehen. Die Rechte als solche sind auch unzureichend
dargestellt.
({0})
Es geht darum, dass Betriebsräte mitbestimmen können,
wenn Einstellungen von Fremdpersonal vorgenommen
werden.
Mit dem Begriff der Einstellung können wir an dieser
Stelle nicht arbeiten. Deswegen sagen wir: Es geht um
die Besetzung, die dem unternehmerischen Konzept des
eigentlichen Arbeitgebers unterliegt. So können
Betriebsräte ihre Zustimmung zu einer Einstellung verweigern, wenn der eigene Personalbestand gefährdet ist,
weil Entlassungen drohen oder sonstige Nachteile zu befürchten sind. Es geht darum, dass reguläre Betriebsvereinbarungen Anwendung finden, beispielsweise die
Arbeitszeit betreffend.
Das bringt mich zum nächsten Thema, das ich bereits
angedeutet habe: Soloselbstständige. Wir brauchen eine
Vermutungsregelung für den Fall, dass keine Scheinselbstständigkeit vorliegt, sondern Arbeitnehmerschaft.
({1})
Ein allerletzter Punkt, ganz kurz erwähnt: Es geht
darum, die Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im Falle eines Betriebsübergangs zu verbessern. Derzeit ist es häufig so, dass Tarifverträge nur
noch statisch wirken, dass Tarifverträge gar keine
Anwendung mehr finden bzw. dass die Haftungsmasse
des neuen Unternehmens weitaus schlechter ist,
({2})
dass zwangsweise neue Arbeitsverträge unterschrieben
worden sind. Das alles soll künftig einer Sozialplanpflicht unterliegen.
({3})
Frau Arbeitsministerin von der Leyen hat das
Problem im Januar 2012 zwar bezeichnet, bis heute ist es
jedoch lediglich zu einem Symposium gekommen, das
diesen Monat stattfindet.
({4})
Frau Kollegin.
Ich bin fast fertig. - Mein letzter Satz:
({0})
Sollte es so sein, dass es in diesem Tempo weitergeht,
werden wir in 15 bis 20 Jahren mit großen Problemen zu
rechnen haben; denn die Entwicklung ist verschlafen
worden.
({1})
Karl Schiewerling hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kramme, ich will gar
nicht verschweigen, dass im Antrag der SPD die eine
oder andere Situation treffend beschrieben ist.
({0})
Vor allem aber will der Antrag der SPD das wieder einführen, was die SPD unter Rot-Grün abgeschafft hat:
({1})
Sie will, dass die sogenannte Vermutungsregelung, die
unter Rot-Grün abgeschafft worden ist, wieder aufgenommen wird. Sie wollen wieder einführen, dass es eine
Grenze, eine Höchstdauer im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung gibt.
({2})
Auch das ist unter Rot-Grün abgeschafft worden. - Ich
will das überhaupt nicht verkennen. Ich will nur sagen,
dass in Ihrem Antrag bezeichnenderweise viele Dinge
beschrieben und dargestellt werden, die letztendlich auf
Ihr Konto gehen. Ich glaube, dass es notwendig ist, dies
deutlich zu sagen.
In Ihrem Antrag gibt es auch einen interessanten Hinweis auf das Thema Werkverträge. In Ihrem Antrag
steht, dass wir manche Auseinandersetzung über das Instrument der Werkverträge haben, die darauf zurückzuführen ist, dass im Bereich der Zeitarbeit Regulierungen
vorgenommen worden sind.
({3})
Sie schreiben völlig zu Recht: Seitdem es Mindestlöhne
im Bereich der Zeitarbeit gibt, wird sie für einige Unternehmen zunehmend unattraktiv. Die ursprünglichen Regelungen sind von der rot-grünen Koalition eingeführt
worden, und die jetzige Koalition hat diese Dinge reguliert.
({4})
Man wird von der augenblicklichen Diskussion überrascht. Vielleicht hören viele das Wort „Werkvertrag“
zum ersten Mal und halten das Ganze per se für Teufelszeug. Werkverträge sind im BGB geregelt. Sie sind ein
uraltes vertragliches Regelungsinstrument. So liegen
beispielsweise die Herstellung und der Einbau eines
Fensters, das dann auch noch schließt und dicht ist, einem Werkvertrag zugrunde. Es wird nicht die Zeit bezahlt, die der Schreiner braucht, sondern bei Erfolg das
funktionierende Fenster samt Lieferung und Einbau,
auch wenn der Schreiner zehnmal kommen muss. Bei
Mängeln wird die Rechnung erst beglichen, wenn alles
in Ordnung ist. Das ist klar. So habe ich das gelernt. Das
ist völlig unstrittig.
Strittig wird es in der Tat erst dann, wenn die Kriterien
eines Werkvertrags nicht eingehalten werden. Kriterien
sind: Ein Werkunternehmer erbringt ein Werkerzeugnis;
der Werkunternehmer behält seine unternehmerische Dispositionsfreiheit; der Werkunternehmer trägt das unternehmerische Risiko einschließlich der Gewährleistung
sowie die erfolgsorientierte Erbringung der Werksleistung. Es kann sein, dass nicht ganz klar ist, ob es sich bei
dem Auftrag nicht doch um eine Arbeitnehmerüberlassung handelt, weil es Anweisungen des Auftraggebers an
den Werkarbeitnehmer gibt und die Grenzziehung zur
Zusammenarbeit mit anderen Arbeitnehmern im konkreten Fall nicht mehr klar ist.
Schwierig wird es auch dann, wenn es sich um einen
Dienstvertrag handelt, also um einen Vertrag mit einer
einzelnen Person, die selbstständig ist, deren Gestaltungsspielräume eng sind, die mit dem sonstigen Personal des Auftraggebers eng zusammenarbeitet, wenn es
ein Miteinander gibt und eine genaue Einpassung des
Soloselbstständigen in Prozesse, die vom Auftraggeber
gekauft werden.
Diese juristischen Unterscheidungen sind etwas trocken, aber sie sind klarzumachen. Es gibt in der Tat eine
Grauzone. Es gibt in der Tat Gestaltungsmöglichkeiten
und Gestaltungsspielräume. Allerdings halte ich nichts
davon, ein Gesetz zu verändern, wie es jetzt von der SPD
vorgeschlagen wird, und die Vermutungsregelung wieder einzuführen. Sie ist damals völlig zu Recht abgeschafft worden. Warum ist sie abgeschafft worden? Weil
- Frau Kollegin Connemann wird darauf später näher
eingehen - letztendlich im Einzelfall sowieso Gerichte
Klarheit herbeiführen müssen, weil wir nicht jedes einzelne Detail regeln können. Im Streitfall sind die Gerichte gefordert.
Besonders schwierig wird es allerdings dann, wenn
ein Unternehmen sowohl Arbeitnehmerüberlassung anbietet als auch die Übernahme von Aufträgen im Rahmen von Werkverträgen. Da die christlich-liberale Koalition die Zeitarbeit strukturiert hat, die Tarifpartner
aufgrund unseres Drucks Mindestlöhne eingeführt
({5})
- ja, daran waren wir mächtig beteiligt - und Regelungen zur gleichen Behandlung von Stammbelegschaft und
Leiharbeitnehmern geschaffen haben, gibt es mittlerweile natürlich - das haben Sie in Ihrem Antrag richtig
beschrieben - Ausweichmanöver bestimmter Zeitarbeitsunternehmen hin zu Werkverträgen.
Das spielt sich dann so ab - so haben mir das Verbände
geschildert -: In den Verhandlungen mit möglichen Auftraggebern, in denen es eigentlich um Arbeitnehmerüberlassung geht, sagt der Unternehmer: Ich kann es Ihnen
auch billiger machen; wandeln wir das Ganze in einen
Werkvertrag ab; dann sind wir nicht an die Mindestlöhne
gebunden.
Zurückhaltend formuliert: Da gibt es Gestaltungsmissbrauch. Um es deutlich zu formulieren: Dieses Unternehmen hat nicht begriffen, dass dies mit der unternehmerischen Freiheit in unserer sozialen Marktwirtschaft nichts
zu tun hat. Das ist ein Unterlaufen von tariflichen Vereinbarungen. Man fügt darüber hinaus nicht nur der Zeitarbeitsbranche, sondern auch dem Wirtschaftsstandort
Deutschland und dem Ansehen des Unternehmens
schweren Schaden zu. Das sehen übrigens die Bundesverbände BAP und iGZ genauso. Deswegen sind sie sehr
an einer eindeutigen und präzisen Regelung dieser Fragen
interessiert. Wir können das als Fraktion nur begrüßen
und unterstützen sie dabei ausdrücklich.
({6})
Meine Damen und Herren, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer -
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Schaaf zulassen?
Wenn er will, kann er gern fragen.
({0})
Bitte schön.
Ich habe in dieser Debatte keine Redezeit; aber ich
bin immer für Redlichkeit. Deswegen muss ich jetzt kurz
nachfragen.
Lieber Kollege Schiewerling, zur Regulierung der
Zeit- und Leiharbeit habe ich nur eine Nachfrage. Ich
bitte um Bestätigung oder Verneinung an dieser Stelle.
Ist es nicht so, dass es schon zu Zeiten der Großen Koalition eine Initiative von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
aus der Zeit- und Leiharbeit gab - insbesondere im Hinblick auf die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
mit den DGB-Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträgen -, wobei es dann in der Großen Koalition die
Union war, die mit dem Hinweis auf konkurrierende Tarifverträge die Allgemeinverbindlichkeitserklärung verweigert hat?
Erst als die Gewerkschaften, auf die sich die Union
bezogen hat, nämlich die christlichen Gewerkschaften,
durch Gerichte für tarifunfähig erklärt worden waren,
haben Sie dann - nach Ende der Großen Koalition - die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung tatsächlich umgesetzt. Erzählen Sie hier nicht, Sie hätten das gemacht.
Sie haben sich in der Großen Koalition verweigert. Erst
als die Gewerkschaften, auf die Sie sich gestützt haben,
für tarifunfähig erklärt worden sind, haben Sie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung auf den Weg gebracht.
({0})
Um Ihrem Wunsch zu entsprechen, sage ich Nein,
({0})
und zwar deswegen, weil es in der Tat so lange konkurrierende Tarifverträge gab, bis ein Tarifvertrag für ungültig erklärt worden war. Ich sage sehr deutlich: Danach
sind die neuen Regelungen getroffen worden. Vorher
war das Argument, dass es konkurrierende Tarifverträge
gibt, richtig. Nachdem es keine konkurrierenden Tarifverträge mehr gab, mussten neue Regelungen her. Deswegen sind sie eingeführt worden.
({1})
Insofern ist Ihre Beschreibung völlig richtig, und unsere
Haltung war okay.
({2})
Meine Damen und Herren, es geht letztendlich auch
um Fairness am Arbeitsmarkt; das ist völlig unstrittig. In
aller Regel sind von diesen vertraglichen Gestaltungsmechanismen Menschen betroffen, die nicht zu den
Topqualifizierten gehören; vielmehr handelt es sich um
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine einfache
Ausbildung haben, die sich in einer Anlernsituation befinden und die des besonderen Schutzes bedürfen und
diesen auch verdienen.
Allerdings haben wir einige Probleme:
Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Werkverträge
im Dienstleistungsbereich bestehen und wie viele Menschen davon überhaupt betroffen sind.
({3})
Es gibt überhaupt keinen Überblick. Wenn man Ihren
Worten glaubt, hat man den Eindruck, als würde ganz
Deutschland nur noch mit Werkverträgen arbeiten. Wir
hätten eine Verelendung der gesamten Bevölkerung,
weil alle nur noch auf der Basis von Werkverträgen arbeiten. Das ist schier barer Unfug. Wir haben noch nicht
einmal einen Überblick, wie viele solcher Verträge es
wirklich gibt. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns
zunächst einmal einen Überblick verschaffen; das begrüße ich ausdrücklich.
Wir brauchen auch Regulierungen für die Überwachung durch die Rentenversicherung, vor allem durch
den Zoll und die Bundesagentur für Arbeit. Gerade der
Zoll benötigt entsprechende Hilfen. Wenn der Zoll nämlich einen Schlachthof kontrollieren will, muss er mit einer Hundertschaft anrücken. Bis alle hundert Kontrolleure die Sicherheitsschleuse passiert haben, damit sie
keine Krankheitserreger hineintragen, können die Dinge
im Schlachthof möglicherweise schon wieder geordnet
sein. Wir brauchen andere Regelungen, damit vernünftige Überwachungen durchgeführt werden können.
Ferner muss klar sein, ob es sich um eine Arbeitnehmerüberlassung oder um einen Werkvertrag handelt. Dabei kommt es auf den Inhalt an. Am besten wäre es,
wenn Unternehmen, die Arbeitnehmerüberlassung anbieten und auch Aufträge in Form von Werkverträgen
übernehmen können, getrennt werden oder wenn zumindest bei Vertragsabschluss eindeutig geklärt wird, dass
Verschiebungen innerhalb eines Betriebes nicht mehr
möglich sind. Überall da, wo Werkverträge für Dienstleistungen vergeben werden, von denen Arbeitnehmer
des Betriebes betroffen sind, die diese Dienstleistungen
bisher erledigt haben, ist der Betriebsrat einzubeziehen.
Der sozialen Marktwirtschaft liegt das Konzept des
freien Marktes zugrunde. Sein Wesen ist die Freiheit des
unternehmerischen Handelns. Sein Wesen sind jedoch
auch ein fairer Wettbewerb und ein faires Verhalten am
Markt.
({4})
Es gibt auch für Werkverträge gesetzliche Regelungen.
Der Missbrauch muss bekämpft werden.
({5})
Die Gestaltung, die dazu führt, dass es zu großen Problemen für die betroffenen Menschen kommt, muss bekämpft werden. Im Mittelpunkt steht für uns letztendlich
der Mensch, der ein Recht auf faire Arbeitsbedingungen
und Fairness hat.
({6})
Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. - Was ich gestern bereits zu
Amazon gesagt habe,
Das steht im Protokoll.
- das sage ich auch zu diesem Fall: Wirtschaft kommt
nicht ohne Ethik aus. Es wäre für alle Unternehmen gut,
sich, bevor Kunden auf Missstände reagieren, auf diese
Ethik zu verständigen und zu wissen, dass man nur so
glaubwürdig wirtschaften kann.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Klaus Ernst.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Werkverträge gab es immer. Die Veränderung besteht darin, dass Unternehmen inzwischen ganz
bewusst Tätigkeiten an ein anderes Unternehmen ausgliedern. Die Angestellten machen dann dieselbe Tätigkeit, die sie vorher gemacht haben, aber für weniger
Geld. Dies sehen wir auch bei einzelnen Personen, und
zwar massenhaft. Wir haben den Skandal bei Schlecker
erlebt - Stichwort „Drehtürklausel“ -, und wir haben
Probleme bei der Leiharbeit gesehen, die man teilweise
zu lösen versucht hat.
Diese Dumpingkarawane ist längst weitergezogen. Es
kommt nun darauf an, dass wir dem tatsächlich einen
Riegel vorschieben. Andere - nicht wir - haben das
Lohnniveau in der Bundesrepublik Deutschland deutlich
nach unten gedrückt. Mit der Methode der Werkverträge
werden die Löhne um bis zu 50 Prozent weiter nach unten gedrückt.
Die Berichte, die vorliegen, dürften auch Sie kennen.
Ich will einige erwähnen, als Erstes den Bericht zum Fall
Danish Crown. Von der Peripherie Europas werden Beschäftigte angeworben. Sie werden über Subunternehmen
für weniger als 5 Euro in der Stunde für die Arbeit an
Schlachtbändern beschäftigt. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten versuchte, einen Betriebsrat zu
gründen. Letztendlich führte das dazu, dass dem Subunternehmen gekündigt und ein anderes Subunternehmen
herangezogen wurde. Dadurch geht es genauso weiter
wie vorher. Bis zu 20 Beschäftigte müssen in einer Zweizimmerwohnung unter katastrophalen hygienischen Bedingungen leben. Sie müssen dafür auch noch 200 Euro
Miete zahlen.
Oft wird gesagt, das seien nur Einzelfälle. Herr
Schiewerling, das sind keine Einzelfälle. In den einzelnen Schlachtbetrieben gibt es inzwischen einen Anteil an
Werkverträgen von bis zu 90 Prozent.
({0})
Die zuständigen Gewerkschaften haben diese Daten bereits erhoben. Es geht hier also nicht nur um schwarze
Schafe; vielmehr sind ganze Herden in Europa unterwegs, die Beschäftigte „abgrasen“ und versuchen, möglichst billige Fachkräfte oder Arbeitskräfte in die Firmen
zu vermitteln. Es wird geschätzt, dass im Einzelhandel
circa 120 Fremdfirmen mit bis zu 350 000 Beschäftigten
unterwegs sind. Wir reden hier also nicht über Einzelfälle. Das sage ich mit aller Klarheit.
({1})
Selbst in der Automobilindustrie, also bei unseren
Vorzeigeunternehmen, ist dies so. Bei BMW in Leipzig
arbeiten auf der einen Seite des Montagebands BMWBeschäftigte, auf der anderen Seite arbeiten Werkvertragsarbeiter, die Material zuliefern. Sie tragen eine andersfarbige Arbeitskleidung, werden schlechter bezahlt
und haben schlechtere Arbeitsbedingungen. Sie machen
aber letztendlich dasselbe. Ihre Tätigkeit unterscheidet
sich nicht von der Tätigkeit der anderen Beschäftigten.
Wir haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich
möchte Ihnen ganz deutlich sagen: Sie kennen die Verhältnisse. Sie lesen die Berichte genauso wie wir.
({2})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie das nicht ändern, sind Sie mitverantwortlich für die Zustände, die inzwischen in den
Schlachthöfen herrschen - Sie persönlich, alle, die Sie
hier sitzen. Sie können sich da nicht aus der Verantwortung stehlen.
({3})
Herr Schiewerling, Ihnen möchte ich ganz deutlich
sagen: Sie greifen die Missstände zwar auf, Sie beschreiben sie sogar richtig, aber Sie machen keinen einzigen
Vorschlag, wie sie zu beheben sind. Ich habe vonseiten
der Regierung nichts dazu gelesen, was sie tun will, um
die Missstände abzustellen - keinen einzigen Vorschlag.
({4})
Sie sind eine Regierung, keine Appellierung. Sie appellieren aber nur. Das reicht nicht, meine Damen und Herren.
({5})
- Das war gar nicht komisch; das ist leider Fakt. Wenn
Sie wirklich einmal etwas tun würden, müsste man nicht
immer jammern.
Frau von der Leyen, Sie muss ich an dieser Stelle leider persönlich ansprechen. Sie sitzen so lange auf der
Herdplatte, bis es dampft, dann gehen Sie an die Öffentlichkeit, und Ihre eigene Partei pfeift Sie zurück. Das ist
doch die Lage. Ich bin davon ausgegangen, dass auch
Sie die Verhältnisse, die Sie hier vorfinden, nicht akzeptieren. Aber ich kann keinen einzigen Vorschlag der Regierung erkennen, der tatsächlich dazu führen würde,
dass sich an diesen Verhältnissen in irgendeiner Form etwas ändert.
({6})
Was müssen wir tun? Natürlich brauchen wir Regelungen, die den Missbrauch einschränken, zum Beispiel
die Vermutungsregelung. Die Vermutungsregelung hat
den Vorteil, dass einem Arbeitnehmer, der im Vergleich
zu dem Unternehmen, in dem er beschäftigt wird, in einer schlechteren Situation ist, von der anderen Seite
nachgewiesen werden muss, dass er tatsächlich ein ordentliches Arbeitsverhältnis, das einem Werkvertrag entspricht, hat. Insofern ist die Vermutungsregelung sehr
wichtig.
({7})
Die Vermutung, dass es sich um keinen ordentlichen
Vertrag handelt, ist dann gegeben, wenn die Materialien
und die Werkzeuge des Bestellers verwendet werden und
nicht die des Unternehmens, in dem der Arbeitnehmer
eigentlich schafft, wenn der Unternehmer für das erbrachte Ergebnis nicht haftet oder wenn der Unternehmer in die Arbeitsorganisation oder das Arbeitsregime
des Bestellers einbezogen ist und selbstständig gar keine
Entscheidung zu treffen hat. Sie wissen, dass das massenhaft der Fall ist.
Wir brauchen auch eine Regelung, um die Scheinselbstständigkeit einzudämmen. Wir müssen klarstellen,
wann jemand scheinselbstständig ist. Wenn jemand regelmäßig für dasselbe Unternehmen arbeitet und weisungsgebunden ist,
({8})
wenn jemand sonst keine unternehmerische Tätigkeit am
Markt ausübt,
({9})
wenn seine Tätigkeit der Tätigkeit entspricht, der er
möglicherweise vorher in demselben Unternehmen als
abhängig Beschäftigter nachgegangen ist, dann kann
man davon ausgehen, dass es sich um eine Scheinselbstständigkeit handelt.
Herr Schiewerling, Sie haben vorhin bemängelt, es
gebe keine statistischen Angaben zu Werkverträgen. In
den beiden Vorlagen, in der Vorlage der SPD und in der
von uns, fordern wir, dass genau dies gesetzlich geregelt
wird. Wir wollen, dass erfasst wird, wie viele Werkverträge von Unternehmen abgeschlossen werden. Von Ihnen habe ich dazu nichts gehört, außer dass das nicht so
einfach ist. Auch die Einführung einer Generalunternehmerhaftung, die wir vorschlagen, wäre eine Möglichkeit,
das Ganze einigermaßen vernünftig zu regeln.
({10})
Meine Damen und Herren, meine Kollegin Jutta
Krellmann hat die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage gefragt, ob sie nun endlich stärker gegen den Missbrauch von Werkverträgen vorgehen wolle. Sie hat die
Antwort bekommen - ich möchte sie zitieren -:
Die Bundesregierung sieht zum jetzigen Zeitpunkt
keinen Bedarf, den Abschluss von Werkverträgen
stärker zu regulieren. Unternehmen steht es im
Rahmen der geltenden Gesetze grundsätzlich frei
zu entscheiden, ob sie Tätigkeiten durch eigene Arbeitnehmer ausführen lassen oder Dritte im Rahmen von Werkverträgen beauftragen.
So lautet die Antwort der Bundesregierung.
Dazu muss ich ganz deutlich sagen: Wenn diese unternehmerische Freiheit dazu führt, dass massenhaft Beschäftigte und ihre Familien durch Lohndrückerei entwürdigt und in die Armut getrieben werden, dann leisten
Sie Beihilfe zur permanenten Ausbeutung. Das lassen
wir Ihnen nicht durchgehen, meine Damen und Herren.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in Deutschland eine große Vielfalt von Beschäftigungsformen. Ich bin sehr froh und glücklich, dass es
diese Vielfalt gibt. Es gibt sie nicht zuletzt deswegen,
weil die rot-grüne Regierung seinerzeit mit wegweisenden Reformen im Rahmen der Agenda 2010 die Weichen dafür gestellt hat. Bedauerlich ist nur, dass die damals Regierenden heute, da sie in der Opposition sind,
mit ihrem vormaligen Handeln nichts mehr zu tun haben
wollen; das will ich hier einmal feststellen.
({0})
Wir haben ja in dieser Woche und in den letzten Wochen in mehreren Aufzügen und mit unterschiedlichen
Akzentsetzungen das Schauspiel „Blame the government“ erlebt. Ist diese Vielfalt von Beschäftigungsformen jetzt eine Katastrophe oder ein Glücksfall? Ich habe
schon gesagt: Aus meiner Sicht ist sie ein Glücksfall.
Gerade in den letzten zwei Jahren konnten wir feststellen, dass diese Vielfalt von Beschäftigungsformen in
Deutschland zu der hohen Beschäftigungsquote, zu den
niedrigen Arbeitslosenquoten - vor allen Dingen der
niedrigen Jugendarbeitslosigkeit - und zu steigenden
Durchschnittslöhnen geführt hat. In dieser Ausprägung,
mit diesem Ergebnis ist die zu verzeichnende Vielfalt
von Beschäftigungsformen eine Bereicherung für den
Standort Deutschland.
({1})
- Einige mögen gedacht haben, dass ich jetzt noch mal
draufhaue; aber das will ich lassen.
Die mit Abstand häufigste Beschäftigungsform ist
immer noch die sozialversicherungspflichtige unbefristete Vollzeitstelle.
({2})
Ich finde das auch gut, und das soll auch in Zukunft so
bleiben.
Wichtig ist, dass daneben eine andere Beschäftigungsform eine gute Vereinbarkeit von privaten
Erfordernissen und Beruf ermöglicht, nämlich die Teilzeitbeschäftigung. Manche verteufeln die Teilzeitbeschäftigung. Ich möchte sie daran erinnern: Dass man
die unterschiedlichen Erwartungshorizonte Privat/Beruf
mit Teilzeitbeschäftigung unter einen Hut bringen kann,
wurde in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit noch
als große Errungenschaft gefeiert.
Die Zeitarbeit ist in Deutschland meiner Meinung
nach ein unverzichtbares Instrument am Arbeitsmarkt.
({3})
Für Einsteiger, aber auch für Wiedereinsteiger - nach
Arbeitslosigkeit, oft auch nach Langzeitarbeitslosigkeit ist die Zeitarbeit hervorragend geeignet, einen zukünftigen Arbeitgeber von den eigenen Qualitäten zu überzeugen, und auch eine Möglichkeit, verschiedene Beschäftigungen auszuprobieren.
Mini- und Midijobs stellen vor allen Dingen für Schüler, Studenten und Rentner eine bevorzugte Möglichkeit
dar, nebenher etwas zu verdienen.
All diese Beschäftigungsformen haben also ihre Berechtigung neben der sozialversicherungspflichtigen
Vollzeitbeschäftigung, und das ist auch gut so.
Neben abhängiger Beschäftigung gibt es andere Formen der Erwerbstätigkeit: die Selbstständigkeit. Selbstständigkeit ist ohne Werkverträge undenkbar.
({4})
Herr Kollege Ernst, da haben Sie irgendwie einen
Denkfehler. Die Frage ist doch: Wie kommt es überhaupt
zu Werkverträgen? Ganz einfach: In einer arbeitsteiligen
Wirtschaft und Gesellschaft bekommt jemand, weil er
besser ausgebildet ist, schneller arbeiten kann, erfahrener ist, weniger Fehler macht, effizienter arbeitet - auch
weil er die besseren Maschinen hat -, von einem anderen
einen Auftrag. Woanders produzieren zu lassen und dafür mehr Geld auszugeben, wäre wirtschaftlich unsinnig,
Herr Ernst. Es ist für den Werkvertrag geradezu konstitutiv, dass man billiger einkauft, als man selbst produzieren könnte.
({5})
Das ist nicht verwerflich. Wenn Sie Werkverträge pauschal diskreditieren wollen, dann ist das aus meiner
Sicht unlauter und zeigt, dass Sie ein Stück weit nicht
verstanden haben, wie die arbeitsteilige Produktion
funktioniert. Wenn am Ende jeder alles selbst macht,
dann sind wir wieder bei den Kombinaten, die über vier
Jahrzehnte in der DDR gezeigt haben, dass es so nicht
geht - jedenfalls nicht mit wirtschaftlichem Erfolg.
Herr Kollege Ernst möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Sicher, klar. Ich wäre sonst gleich zu Ende gewesen.
Bitte.
Sehr gern ermögliche ich Ihnen eine Verlängerung der
Redezeit.
Herr Kollege Kolb, Sie haben, wenn es um Mindestlöhne ging, schon oft dargestellt, dass Sie ein extremer
Verfechter der Tarifautonomie sind.
Ja.
Es geht jetzt nicht um den normalen Werkvertrag,
sondern um den Missbrauch von Werkverträgen. Es ist
etwas anderes, ob eine Automobilfirma einem anderen
den Einbau der Fenster überträgt oder ob sie einem anderen plötzlich die ganze Montage am Band überträgt und das, obwohl die Arbeitnehmer vorher im eigenen
Unternehmen beschäftigt waren. Ist Ihnen bewusst, dass
durch die Regelungen, um die es jetzt geht, Tarifverträge
ausgehebelt werden, weil der andere, wie Sie selbst sagen, in der Regel billiger ist? Ist Ihnen das bewusst, und
liegt das in Ihrer Absicht? Können Sie sich vorstellen,
dass es, wenn Sie so argumentieren wie jetzt, Menschen
gibt, die sagen: „Wenn sich die FDP um die Qualität von
Tarifverträgen Sorgen macht, dann ist das so, als würde
sich die katholische Kirche um die Qualität von Kondomen sorgen“?
({0})
Können Sie das verstehen?
({1})
Herr Kollege Ernst, das kann ich Ihnen nicht bestätigen. Sie hatten allenfalls insoweit recht, als dass uns die
Tarifautonomie in unserem Lande, also das, was in
freien Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften an Vereinbarungen zustande kommt, am
Herzen liegt.
Das ist übrigens genau der Grund, warum die FDP in
dieser Legislaturperiode - aber auch schon in früheren
Legislaturperioden - Mindestlöhne auf der Basis von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich erklärt hat. Wir
haben ja mittlerweile für 4 Millionen Menschen in
Deutschland Mindestlöhne, alle auf der Basis von Tarifverträgen. Wenn Sie sich einmal informieren und genau
hinschauen, Herr Kollege Ernst, dann werden Sie feststellen: Fast alle dieser Mindestlöhne sind unter Regierungsbeteiligung der FDP zustande gekommen.
({0})
Deswegen ist es vollkommen unlauter, wenn Sie hier
den Eindruck erwecken, die FDP hätte ein Problem mit
der Anwendung von Tarifverträgen. Nein, wir haben in
einer ganzen Reihe von Branchen sogar Mindestlöhne
für allgemeinverbindlich erklärt. Sie wissen das eigentlich, Herr Kollege Ernst, und hätten deshalb nicht fragen
müssen.
({1})
- Nein, ich wiederhole am laufenden Band, weil ich die
Hoffnung habe, dass es Ihnen dann besser eingeht, Herr
Kollege. Man muss es Ihnen immer wieder sagen.
({2})
Ihre Frage war aber, Herr Kollege Ernst - ich hoffe,
Sie geben mir weiter die Gelegenheit, zu antworten -:
Wie ist das an den Montagebändern? Aus meiner Sicht
findet Arbeitsteilung dann statt, wenn ein Subunternehmer ein Gewerk günstiger erstellen kann als der Auftraggeber. Das muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass
die Löhne bei dem Subunternehmer niedriger sind. Im
Gegenteil, ich glaube, dass durch Spezialisierung, durch
den wirtschaftlicheren Einsatz von Humankapital, aber
auch von Maschinen Spielräume entstehen, die ein Subunternehmer nutzen kann und nutzen wird, insbesondere
dann, wenn er im Bereich Automobilbau, Maschinenbau, Elektrotechnik oder wo auch immer darauf angewiesen ist, qualifiziertes Personal am Arbeitsmarkt zu
akquirieren und für seinen Produktionsprozess zu nutzen. Wir sprechen hier in der Regel nicht über große industrielle Unternehmen, sondern gerade auch über die
Beschäftigung von Handwerksunternehmen, die personalintensiv und auf einem hohen Qualifikationsniveau
stattfindet. Also, diese Spielräume müssen genutzt werden.
({3})
Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen, um auf
Ihre Frage zu antworten. Die überwiegende Zahl der
Werkverträge ist auch bei genauem Hinsehen über jeden
Zweifel erhaben. Aber ich konzediere Ihnen, dass es eine
Reihe von Werkverträgen - hier bin ich sogar bereit, zu
sagen: sogenannten Werkverträgen - gibt, bei denen zumindest die Vermutung naheliegt - wahrscheinlich ist
dies im Ergebnis auch zuzugestehen -, dass es sich dabei
überhaupt nicht um Werkverträge handelt. Dafür hat die
Rechtsprechung eine ganze Reihe von Merkmalen entwickelt. Es würde zu weit gehen, im Rahmen der Beantwortung dieser Frage alle diese Kriterien vorzutragen.
({4})
Aber - so viel will ich noch sagen -: Ich finde es richtig, dass es in unserem Rechtsstaat die Möglichkeit gibt,
im Einzelfall eine Überprüfung vornehmen zu lassen, ob
mehrere Merkmale zusammenkommen, die darauf
schließen lassen, dass kein Werkvertrag besteht, sondern
dass es sich möglicherweise um ein abhängiges Arbeitsverhältnis handelt. Dazu braucht es übrigens keine Veränderung der Rechtslage. Vielmehr bietet das bereits
heute bestehende Recht hinreichende Möglichkeiten. Ich
halte insbesondere die Möglichkeit, dass sich Arbeitnehmer an die Deutsche Rentenversicherung wenden können, um den Status ihres Arbeitsverhältnisses überprüfen
zu lassen, für eine Errungenschaft unseres Sozialstaates.
Darin sollten Sie, Herr Kollege Ernst, mir eigentlich
recht geben und mit mir gemeinsam darauf stolz sein.
({5})
Nun weiß ich nicht, welche Aspekte Sie noch angesprochen haben.
Herr Kollege Kolb, zunächst einmal möchte ich mich
im Namen des Hauses für die Kürze Ihrer Antwort bedanken
({0})
und bitte Sie, doch zum Ende zu kommen.
Dann will ich nur noch so viel sagen: Wir stellen fest,
dass die Opposition bemüht ist, an den Ergebnissen dieser Regierung kein gutes Haar zu lassen. Ich stelle aber
fest: 29 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, 41 Millionen Erwerbstätige in
Deutschland,
({0})
die niedrigste Arbeitslosigkeit in ganz Europa - das sind
Ergebnisse, die Sie auch mit noch so vielen Attacken
nicht schlechtreden können, und das wissen und merken
auch die Menschen draußen im Lande.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig, dass heute wieder zwei
Vorlagen zum Thema Werkverträge auf der Tagesordnung stehen. Auf den ersten Blick gibt es viele Überschneidungen zu unserem Antrag vom letzten Jahr. Wir
werden also genau prüfen und in den Ausschüssen bestimmt ausreichend diskutieren.
Heute geht es mir aber erst einmal ganz allgemein um
das Thema Werkverträge und um Überzeugungsarbeit in
Richtung der Regierungsfraktionen, insbesondere in
Richtung der FDP, Herr Kolb. Der Missbrauch von Werkverträgen ist Realität, und er nimmt schlichtweg zu. Dabei geht es uns nicht um die moderne arbeitsteilige Arbeitswelt, Herr Kolb, die Sie gerade angesprochen haben,
sondern es geht um die sogenannten Scheinwerkverträge.
Die Zustände in der Fleischwirtschaft sind hinlänglich bekannt. Im Einzelhandel kennen wir beispielsweise
die Regaleinräumerinnen und Regaleinräumer. Inzwischen gibt es auch den kompletten Kassenbereich als
Werkvertrag. Das ist ein neueres Angebot. In der Druckbranche werden ganze Schichten und Rotationsmaschinen als Werkverträge vergeben. Der Fantasie ist hier
keine Grenze gesetzt. Genau dieser Trend muss endlich
gestoppt werden.
({0})
Die entsprechenden Firmen werben offen und ohne
Skrupel. Ich zitiere ein Beispiel aus dem Internet:
Am Ende haben Sie vielleicht weniger eigene Mitarbeiter. Aber mit Sicherheit einen höheren Gewinn.
Diese Fakten sind bekannt. Allerdings sind allein die
Opposition und die Gewerkschaften alarmiert. Sie, die
Regierungsfraktionen - das muss heute wieder festgestellt werden -, ignorieren diese Fehlentwicklungen. Insbesondere die FDP erinnert dabei an die drei Affen, die
nichts sehen, nichts hören und auch nichts sagen. Verantwortungsbewusste Politik sieht unserer Meinung nach
anders aus.
({1})
Werkverträge stehen hoch im Kurs; denn damit werden der Kündigungsschutz, die betriebliche Mitbestimmung, die tarifliche Bezahlung und somit der soziale
Schutz der Beschäftigten unterlaufen. Mit Werkverträgen können die Arbeitgeber Urlaubsgeld, Sonderzahlungen, Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge problemlos einsparen. Im Einzelhandel liegen die Löhne bei den
Werkverträgen rund 45 Prozent unter den Tariflöhnen.
Hier geht es vor allem um Minijobs. Vor allen Dingen
gibt es häufig auch Arbeit auf Abruf. Das alles zusammen ist Lohndumping und Wettbewerb um die niedrigsten Löhne. Das ist nicht akzeptabel.
({2})
Natürlich wird mit diesen zweifelhaften Werkvertragskonstruktionen auch die Leiharbeit umgangen. Wer
das nicht glaubt, muss nur ganz kurz im Internet nach
Seminaren Ausschau halten. Aktuell wird dort folgendes
Seminar angeboten: „Wunderwaffe Werkvertrag & andere Alternativen zur Zeitarbeit“. In der Beschreibung
steht - ich zitiere in Auszügen -:
Unwirksame Tarifverträge und Lohnuntergrenzen:
Die Zeitarbeit wird für viele Unternehmen zunehmend unattraktiv. Ein neuer Weg … sind Werkverträge … Doch bei dieser „Wunderwaffe“ gibt es
viele juristische Fallstricke … Sie erhalten vom Referenten Lösungsansätze für die rechtssichere Gestaltung von Werkverträgen …
In welcher Welt leben wir eigentlich? Da verdient
sich ein Jurist für 1 142,40 Euro pro Teilnehmer eine
goldene Nase mit Anleitungen für Lohndumping und zur
Tarifflucht, und Sie, die Regierungsfraktionen, verweisen noch immer auf die unternehmerische Freiheit. Das
geht überhaupt nicht.
({3})
Beim Thema Werkverträge geht es uns um den Wert
der Arbeit, aber auch um die Arbeitswelt insgesamt.
Wenn, bedingt durch Werkverträge, immer mehr Firmen
auf demselben Betriebsgelände arbeiten, zersplittern die
Belegschaften. Kollegialität und innerbetriebliche Solidarität werden zerstört, und es entstehen Konkurrenz,
Unsicherheit und Misstrauen. Die gewerkschaftlichen
Errungenschaften, die über lange Zeit hart erkämpft
wurden, existieren nur noch auf dem Papier. Das
schwächt nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die
Betriebsräte und Gewerkschaften. Vor allem wird mit
dem Geschäftsmodell „Werkvertrag“ der jahrzehntealte
gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Das können Sie, die Regierungsfraktionen,
doch wohl nicht unterstützen. Werden Sie also Ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht!
Wenn Sie schon keine Empathie für die Beschäftigten
und die Betriebsräte entwickeln können,
({4})
dann denken Sie doch zumindest an die verantwortungsvollen Arbeitgeber, die ihre Beschäftigten fair behandeln
und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Sie wollen beim
Wettbewerb um die niedrigsten Löhne nicht mitmachen.
Sie brauchen deshalb Schutz, damit sie nicht vom Markt
gedrängt werden. Wir brauchen also wieder soziale Leitplanken auf dem Arbeitsmarkt, auch bei den Werkverträgen.
({5})
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, auch Frau Merkel
hat den Missbrauch von Werkverträgen - zumindest verbal - entdeckt und meinte, darauf müsse man ein Auge
haben. Das ist natürlich zu wenig. Handeln ist angesagt.
Herr Schiewerling, Sie haben vorhin die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit angesprochen. Da können Sie relativ
schnell etwas unternehmen. Es geht um eine bessere personelle Ausstattung. Es geht um Befugnisse. Es geht darum, dass die Werkverträge wirklich zielgenau geprüft
werden.
Nehmen Sie die heutigen Vorlagen als Denkanstöße.
Lehnen Sie nicht alle Vorlagen wie im letzten Jahr reflexartig ab. Beenden Sie diese unsägliche Werkvertragskonstruktion. Jegliche Arbeit hat ihren Wert. Bei
Lohndumping hört die unternehmerische Freiheit
schlichtweg auf.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat das Wort der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich - da knüpfe ich gerne an den Kollegen Kolb an - einmal festhalten: Wir haben circa 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, den
höchsten Stand seit Jahrzehnten. Es gibt nur in einem
ganz geringen Teil prekäre Beschäftigung. Wir haben ein
ständiges Anwachsen der Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse.
({0})
Insgesamt gesehen geht es der Wirtschaft und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Lande
sehr gut.
({1})
Ich wehre mich - ich sage das auch im Lichte der Debatte von heute Vormittag - schon dagegen, dass wir hier
den ganzen Tag nur eine negative Sicht auf unsere Wirtschaft und unsere Arbeitsverhältnisse zu hören bekommen.
({2})
Das kann es nicht sein; denn insgesamt ist Deutschland
stark aus der Krise hervorgegangen. Angesichts der heutigen europäischen Verhältnisse darf man das in dieser
Debatte einmal in dieser Deutlichkeit sagen.
({3})
- Sie haben dazu beigetragen. Jetzt machen Sie sich vom
Acker, weil Sie die Agenda 2010 nicht mehr wahrhaben
wollen. Da nützt auch die rote Krawatte nichts mehr.
({4})
Wir haben - darauf hat der Kollege Schiewerling hingewiesen - natürlich das eine oder andere schwarze
Schaf, das das Instrument der Werkverträge missbraucht.
Aber ich will nicht meine Rede von vor einigen Wochen
wiederholen.
({5})
Wir haben konkrete rechtliche Bestimmungen, was ein
Werkvertrag ist und was kein Werkvertrag ist.
({6})
Wir haben eine eindeutige Rechtsprechung dazu, was ein
Werkvertrag ist und was kein Werkvertrag ist. Wir haben
schon heute die Möglichkeit, zu kontrollieren, ob ein
Werkvertrag vorliegt oder nicht.
({7})
Wir haben für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
immer noch die Möglichkeit der Statusanfrage bei der
Deutschen Rentenversicherung. Es ist also nicht so, dass
hier alles im Argen liegen würde.
({8})
Um Scheinwerkverträge zu verhindern, gibt es - das
ist vorhin schon angesprochen worden - den Zoll, die
Rentenversicherung, aber natürlich auch die Gerichte.
Ich habe es schon mehrfach gesagt: Ich habe Vertrauen
in unsere Judikative. Das möchte ich an dieser Stelle
deutlich unterstreichen.
({9})
- Kennen Sie die Unterschiede zwischen Exekutive, Judikative und Legislative? Ich kann Sie da gerne aufklären; dann machen wir hier ein Grundlagenseminar.
({10})
Eines ist natürlich auch klar: Bereits heute sind
Dienstleistungen unter dem Deckmantel eines Werkvertrags illegale Zeitarbeit.
Nur, Kollege Ernst, was Sie vorhin hin und her gespielt
und hin und her geschmissen haben, ist eine klare Vermischung von Werkvertrag und Zeitarbeit. Wenn Sie vorhin
die juristische Definition des Kollegen Schiewerling genau aufgenommen hätten, dann wäre Ihnen das nicht passiert. Die Rechtsprechung hat klare Kriterien - ob die
Eingliederung oder das Weisungsrecht; ich will das nicht
alles wiederholen.
Insgesamt hat sich unser System der Werkverträge
zum Beispiel in der Automobilindustrie nicht nur beim
Einbau von Fenstern, sondern auch in der Zulieferung
bewährt. Natürlich - und auch hier ist unsere Ministerin
tätig - findet derzeit aufgrund der Debatte eine qualitative Untersuchung statt. Das ist richtig.
Auch die Möglichkeiten im Sinne der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit sind sicherlich auf der Tagesordnung.
Eines geht aber mit Sicherheit nicht: Das sind Ihre
Vermutungsregelungen oder gar der von Ihnen, den Linken, vorgeschlagene § 92 b BetrVG. Hier geht es schon
ganz massiv um einen Eingriff in die freie unternehmerische Entscheidung: Nehme ich einen Werkvertrag, kaufe
ich mir ein Werk zu oder produziere ich im Betrieb selber?
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, es
führt überhaupt kein Weg hin zu Ihrem § 92 b. Wer
schon heute ins Betriebsverfassungsgesetz schaut, stellt
fest: § 80 Abs. 1 Nr. 8 betrifft die Beschäftigung im Betrieb,
({12})
§ 90 Abs. 1 Nr. 3 die Beratungsrechte bei Arbeitsverfahren und -abläufen, § 92 die Personalplanung, § 92 a die
Beschäftigungssicherung, § 106 den Wirtschaftsausschuss und § 111 ff. Betriebsänderungen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, tun Sie bitte nicht
so, als ob wir nicht auch ausreichend Normen für die Regelung der Mitbestimmung hätten.
({14})
- Dann sollte leiser geschaltet werden.
Die spezialisierten Bereiche und die arbeitsteilige
Wirtschaft verlangen auch weiterhin die Möglichkeit der
Werkverträge. Missbrauch ist zu bekämpfen. Dafür haben wir Regelungen. Wir brauchen nicht reflexartig neue
Gesetze. Aber wir sollten dafür sorgen, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland weiterhin die Arbeitsplatzgarantie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bietet, wie wir sie heute haben.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Josip Juratovic von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unser Land ist sehr reich und wird auch von
außen von vielen so betrachtet und bewundert.
({0})
Doch wenn man aus der Nähe hinschaut, sieht man: Unser Land ist auch reich an Ungerechtigkeit.
({1})
Es ist ein Skandal, dass Menschen in unserem Land
über einen Werkvertrag für beispielsweise 173 Euro im
Monat im Akkord Tiere schlachten. Es ist ein Skandal,
dass in unserem Land über 300 000 Menschen zum Arbeits- und Sozialamt müssen, um aufzustocken.
({2})
Es ist auch ein Skandal, dass dieser Bundesregierung
nicht jeder Mensch in unserem Land gleich viel wert ist.
({3})
Die Würde vieler Menschen wird durch den Missbrauch
auf dem Arbeitsmarkt mit Füßen getreten, von der Wertschätzung der Arbeit und der Wertschätzung der Menschen ganz zu schweigen.
Die Solidarität und der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sind durch die Spaltung des Arbeitsmarktes,
durch prekäre Beschäftigung gefährdet. Denn viele Arbeiter mit Werkverträgen werden sowohl im Betrieb als
auch in der Gesellschaft stigmatisiert. In den Betrieben
gibt es ein Vier-Kasten-System: die Angestellten ganz
oben, die Stammbelegschaft, dann befristete Beschäftigte und Neueinsteiger und ganz unten Leiharbeiter und
Arbeitnehmer mit Werkverträgen. Bei der Bank erhalten
sie keinen Kredit. Auch Mietverträge sind schwierig zu
bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Werkverträge waren
ursprünglich dazu gedacht, Dienstleistungen, die nichts
mit dem Unternehmen direkt zu tun haben - zum Beispiel die Wartung von Aufzügen -, an andere Unternehmen zu vergeben. Mittlerweile sind Werkverträge jedoch
zum Kalkulationsgegenstand der Unternehmen geworden, um Lohnkosten zu drücken.
Wir müssen klarstellen, dass die Kalkulation mit prekärer Beschäftigung weder tüchtig noch besonders
schlau ist.
({4})
Es ist vielmehr unredlich, Wettbewerb auf Kosten der
Schwächsten und der Allgemeinheit zu betreiben.
({5})
Auch die anständigen Unternehmer, die ihre Mitarbeiter fair bezahlen, leiden unter Dumpingmethoden der
ausbeuterischen Unternehmer, weil sie durch den Wettbewerb unter Druck geraten. Es ist bemerkenswert, dass
selbst vermeintlich arbeitgebernahe Parteien wie die
Union und die FDP die ehrlichen Unternehmer nicht vor
unanständiger Billigkonkurrenz schützen.
({6})
Es ist unerträglich, dass die Arbeitsministerin von der
Leyen zwar geübt vor Kameras ihr Mitgefühl für die
Umstände und Zustände in diesem Land zum Ausdruck
bringt. In der Bundesregierung unternimmt sie aber rein
gar nichts, um den Menschen zu helfen und sie vor Missbrauch zu schützen. Oder kann sie sich nicht durchsetzen? Das kann ich jetzt nicht einschätzen.
({7})
Die Menschen in unserem Land brauchen endlich Sicherheit durch Gesetze statt Mitgefühl und Appelle.
({8})
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, es ist
peinlich, welch scheinheilige Argumente Sie hier vorbringen. Einmal wissen Sie nicht, wie viele tatsächlich
davon betroffen sind, als ob es nicht um jeden Bürger in
unserem Land geht, der geschützt werden muss, dann
verstecken Sie sich hinter Tarifautonomie und Mitbestimmungsrechten, und dann erklären Sie uns hier was
von Informationsrechten. Dann wandeln Sie doch diese
Informationsrechte in Mitbestimmungsrechte um! Dann
haben wir das Problem gelöst.
({9})
Wir brauchen Regeln für einen fairen Wettbewerb;
denn ohne Regeln für einen Wettbewerb - ob in der
Wirtschaft oder im Sport - gibt es Chaos. Unser SPDAntrag gibt diese Regeln für einen fairen Wettbewerb
vor, damit die Menschen in unserem Land, in unserem
reichen Land, wieder Gerechtigkeit erfahren.
Ich bin kein Jurist und rede daher nicht nur über
Recht. Mir als ehemaligem Arbeiter ist das Gespür für
Gerechtigkeit wichtig. Deshalb setze ich mich dafür ein,
der Gerechtigkeit Recht zu verschaffen. Unser SPDAntrag ist ein wichtiger Schritt dazu. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstützung. Hier handelt es sich um die
Schwächsten in unserer Gesellschaft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach einer aufgeheizten Grundsatzdebatte heute Morgen
über Grundfragen von Armut und Reichtum und Gerechtigkeit sind wir jetzt wieder in den Details der Fachpolitik angekommen.
({0})
- Nein, beides ist wichtig, Frau Kollegin. Man hat aber
bei dem Thema, das Sie wählen, den Eindruck, Sie sind
ein Stück weit auf der Suche nach etwas Neuem. Es geht
ja hier im Kern auch um die Abgrenzung zwischen Zeitarbeit und Werkverträgen und um die Frage, wird möglicherweise das eine ausgenutzt, um das andere zu umgehen. Was Sie vielleicht auch im Sinne unserer guten
Debattenkultur für sich noch ein bisschen klären sollten,
ist, wie eigentlich Ihr Blick auf Zeitarbeit ist.
({1})
Gestern hatten wir eine Aktuelle Stunde, und da haben Sie, obwohl - das haben wir ja gestern schon diskutiert - in dem konkret diskutierten Fall mehr als der von
Ihnen geforderte Mindestlohn gezahlt wurde, im Kern
suggeriert: Zeitarbeit ist per se Lohndumping, das ist
Ausbeutung.
({2})
Heute legen Sie uns einen Antrag vor, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, in dem es heißt - ich
zitiere -:
Für die Leiharbeit existiert mittlerweile ein Mindestlohn.
Deshalb „war“ - nicht ist - die Zeitarbeit „ein Instrument zum Lohndumping“ und sei heute für Unternehmen unattraktiver.
Also, gestern sagten Sie noch, Zeitarbeit ist
Lohndumping, und heute legen Sie einen Antrag vor, der
das Gegenteil behauptet. Ich glaube, es wäre uns allen
geholfen, wenn Sie sich entscheiden würden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
({3})
Sie machen sich Gedanken darüber, wie man verhindern kann, dass Menschen aus der Zeitarbeit in Scheinwerkverträge - unabhängig davon, ob das häufig oder
selten der Fall ist - gedrängt werden. Das impliziert,
dass Sie offenbar erkannt haben, dass die Zeitarbeit, so
wie wir sie reguliert haben, per se nichts Schlechtes
mehr ist. Es wäre schön, wenn Sie das offen zugestehen
würden. Dann könnten Sie uns solche Debatten in Zukunft ersparen. Zumindest in diesem Wahljahr sollten
Sie sich irgendwann einmal entscheiden.
({4})
Kommen wir zum allgemeinen Thema Werkverträge
zurück.
({5})
- Bitte, Frau Kollegin, gern geschehen. - Ich glaube, ich
muss das nicht ausführlich ergänzen, was der Kollege
Kolb eben kompakt und im Überblick zur allgemeinen
Bedeutung der Werkverträge in unserer Wirtschaft ausgeführt hat. Im Kern geht es um arbeitsteiliges Wirtschaften. Das ist grundsätzlich Quelle des menschlichen
Fortschritts. Damit ist nicht zu spaßen. Das sollte nicht
kaputt gemacht werden. So verstehe ich Sie aber auch
nicht. Ihnen geht es darum, Scheinwerkverträge auszumerzen, und zwar dort, wo faktisch Arbeitnehmerüberlassung durch das Instrument des Werkvertrags stattfindet.
Ich sage Ihnen: Darin sind wir uns einig. Das wäre ein
Missbrauch des Instruments Werkvertrag. Aber dieser
Missbrauch ist schon heute illegal.
({6})
Es gibt klare Kriterien in der Rechtsprechung, die eine
Abgrenzung ermöglichen.
({7})
Weder gibt es Daten, die fundiert belegen, dass hier
systematischer Missbrauch in relevanter Zahl stattfindet
- deshalb ist es richtig, dass das Bundesarbeitsministerium genau prüft, ob es sich hier tatsächlich um substanziell begründbare Sorgen handelt -, noch machen Sie
deutlich, welche zusätzlichen Kontrollmöglichkeiten erforderlich sind. Sie legen ein Sammelsurium an Maßnahmen vor. Ich greife eine heraus: die BeweislastumJohannes Vogel ({8})
kehr. Sie soll wieder eingeführt werden. Das gab es
schon einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken. Sie haben das schon in einem Antrag aus dem
letzten Jahr gefordert. Ich zitiere die Aussagen der Experten in der Anhörung zu diesem Instrument: Es sei unverhältnismäßig und unzumutbar, schaffe Rechtsunsicherheit,
({9})
führe zu unüberwindlichen Problemen in der Praxis und
zu einem unbürokratischen Mehraufwand, der untragbar
sei. - Bis heute sind Sie schuldig geblieben, zu belegen,
was sich daran geändert haben soll. Sie werfen in Ihren
Vorlagen zum Teil Fragen wieder auf, die die Bundesregierung in ihrer Antwort auf Ihre Anfrage schon beantwortet hat.
Sie werden für die zweite und dritte Lesung im Ausschuss nachlegen müssen. Wir sind ganz gespannt und
freuen uns auf die vertiefte Beratung. Ich freue mich,
wenn die Debatte zumindest zu dem Ergebnis führt, dass
Sie die Zeitarbeit in Zukunft nicht mehr diskreditieren.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Gabriele Groneberg.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
Kollegin hat vorhin gesagt, dass es eine regelrechte
Welle des Missbrauchs von Werkverträgen gibt. Wenn
ich meine Region betrachte, dann muss ich sagen, dass
es sich hier um Wellenberge handelt. Das ist bei Ihnen
noch gar nicht richtig angekommen. Diese Praxis ist in
den Schlachtbetrieben mittlerweile Tagesgeschäft. Sie
hat sich ausgeweitet. Seit Jahren werden nun Aufgaben
für gelernte Schlachter, also Fachkräfte, outgesourct. Sie
sind zu teuer. Die Arbeit wird im Rahmen von Werkverträgen auf andere Unternehmen, die dann aber im
Schlachthof tätig sind, verlagert; das ist Fakt. Die Größe
der Stammbelegschaft im Verhältnis zu Werkvertragsarbeitern beträgt vielfach nur noch ein Fünftel. Das, Herr
Kolb, sollten Sie sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Die Arbeitskräfte findet man überwiegend in Osteuropa. Sie folgen falschen Versprechungen in Bezug auf
die Arbeitsbedingungen, den Verdienst und die Wohnsituation. Sie sprechen kein Deutsch und sind auf die Einpeitscher des Unternehmens angewiesen. Stundenlöhne
von 3 bis 5 Euro sind die Regel. Erhalten die Betreffenden mehr, wird ihnen spätestens bei der Gestellung der
Wohnmöglichkeit das Fell über die Ohren gezogen. Mit
bis zu acht Leuten auf 20 Quadratmetern, mieseste hygienische Bedingungen, Arbeitszeiten, die nichts mit einem Achtstundentag zu tun haben - das ist keine Seltenheit. Muckt jemand auf oder verletzt sich jemand bei
seiner Tätigkeit, wird er umgehend in sein Heimatland
zurückgeschickt. Betriebsräte? - Kaum vorhanden!
({0})
Gewerkschafter, die hier zu helfen versuchen, die die
Öffentlichkeit immer wieder über diese Zustände informieren, werden ausgegrenzt, mit Drohungen und Klagen
überzogen.
({1})
Diese Methoden haben sich etabliert. Wenn es nicht
so wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen, würden nicht
die Schweine aus Dänemark zum Schlachten ins Billiglohnland Deutschland gebracht werden. Darauf kann
man doch wohl nicht stolz sein.
({2})
Meines Erachtens ist es eine Schande für den Wirtschaftsstandort Deutschland, dass wir uns so etwas leisten, vor allem in Bezug auf den sozialen Standort
Deutschland.
Sicherlich handelt es sich hierbei um Missbrauch.
({3})
Aber es ist so, dass wir nicht die Kontrollmöglichkeiten
haben, um diesem Missbrauch entsprechend zu begegnen, Herr Kolb.
({4})
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kolb, haben das die Menschen im meiner Region begriffen, und sie beginnen,
sich dagegen zu wehren.
({5})
Den Ausschlag gaben eine umfassende, deutliche Hintergrundreportage der örtlichen Presse - den Journalisten
sei von dieser Stelle aus gedankt -, scharfe zustimmende
Reaktionen vonseiten der Kirche und eine Veranstaltung
der Gewerkschaft NGG mit rund 400 Menschen, die
deutlich machte: Wir hier werden diese Verhältnisse
nicht mehr tolerieren.
Was ist daraufhin passiert? - Mafiareife Reaktionen:
Gewerkschafter, Oberstaatsanwalt und der Kirchenmann
werden bedroht. Prälat Kossen, der in dankenswerter
Weise klare Worte zum Umgang mit den Arbeitnehmern
gefunden hat, wird ein totes Kaninchen als Drohung vor
die Haustür gelegt. - Ja, wo sind wir denn hier? Das geht
doch wohl nicht so.
({6})
Jetzt müsste auch dem Letzten der Ernst der Lage,
insbesondere mit Blick darauf, mit wem man es hier zu
tun hat, deutlich werden. Hier muss endlich etwas passieren. Wir als SPD solidarisieren uns mit allen, die gegen diese Missstände kämpfen.
Auf einmal geht auch einiges. Die Landkreise und
Kommunen haben endlich Mittel und Wege gefunden,
besonders auffällige Wohnsituationen zu kontrollieren
und zu beseitigen.
({7})
Nun zu glauben, damit wären diese Missstände behoben,
ist falsch. Jetzt findet man die Arbeitnehmer in umzäunten
ehemaligen Kasernengebäuden. Versuche von Pressevertretern und Gewerkschaftsvertretern, mit den Menschen
dort Kontakt aufzunehmen, scheitern am Sicherheitspersonal des Betreibers. Ich bitte Sie!
Herr Schiewerling, hier geht es eben nicht mehr um
unternehmerische Freiheit. Was hier passiert, ist auch
eindeutig ein Werteverfall, ein Verfall von Werten, die
einen anständigen Umgang mit den Menschen gebieten
sollten.
({8})
Gerade auch Sie als Katholik - ich spreche Sie an müssten wirklich absolut dagegen sein.
({9})
Der Wertekonsens, den wir einmal hatten, wird hier einseitig von Verantwortlichen in der Fleischwirtschaft aufgekündigt. Es ist aber deutlich geworden, dass das mittlerweile auch in anderen Bereichen der Fall ist.
Wir legen heute einen Antrag vor, mit dem erreicht
werden soll, deutlich mehr mögliche Maßnahmen gegen
diese Machenschaften in die Hand zu bekommen, um
hier wirksam tätig werden zu können,
({10})
und zwar vonseiten der Behörden, die sagen: Wir brauchen dringend einen größeren Handlungsrahmen, wir
brauchen hier mehr Wirkungsmöglichkeiten.
Ich erwarte von allen aus den Reihen der CDU, von
der Kanzlerin über den CDA-Bundesvorsitzenden bis
hin zu meinem Kollegen, dem Wahlkreisabgeordneten
Franz-Josef Holzenkamp, sich nicht nur offiziell mit
Worten gegen diese Verhältnisse zu wehren und sie zu
kritisieren, sondern sich unserem Antrag anzuschließen
und endlich ganz schnell Schluss mit dieser Art von
Menschenhandel zu machen. Ich erwarte von Ihnen
nicht nur einen Workshop und noch einen Workshop,
sondern den Mut, sich dagegen zu wehren und entsprechend zu handeln.
({11})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sagt Ihnen die Klamottenkiste noch etwas?
({0})
- Wunderbar. Die Klamottenkiste war eine SlapsticksSerie. Alte Filme wurden aus der Versenkung herausgeholt. Sie wurden abgestaubt und dann wieder verwertet.
Genau an diese Klamottenkiste erinnern mich die
heute zu beratenden Vorlagen von den Linken und der
SPD.
({1})
Bei den Linken ist das nicht neu. Inzwischen - das konzediere ich voller Hochachtung -, sind Sie die Meister
des Recyclings. Immer wieder legen Sie dieselben Anträge vor.
({2})
Das einzige, was wechselt, ist der Titel und natürlich die
Schuldigen, und zwar sind es in dem heutigen Fall die
Werkunternehmer. Dazu heißt es in Ihrem Antrag ganz
markig - ({3})
- Es gibt ein wunderbares Sprichwort: Mit Schreien
wirst du es nicht erreichen. - Kommen Sie einfach ein
bisschen herunter.
({4})
Ich wollte doch gerade aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren. Da heißt es sehr markig:
Werkverträge werden von Unternehmen missbraucht, um Löhne und Gehälter zu drücken.
Das ist der erste Satz.
({5})
- Lieber Herr Ernst, mit diesem Generalverdacht stellen
Sie jeden Malermeister, jeden Kfz-Betrieb in die
Schmuddelecke; denn der Werkvertrag ist die Grundlage
des deutschen Handwerks. Das nenne ich absolut infam.
Aber wozu sollten Sie auch differenzieren oder sich
informieren? Wenn Sie dies getan hätten, dann wüssten
Sie, dass die von Ihnen geforderte Ausweitung der Mitbestimmungsrechte ein übermäßiger Eingriff in die unternehmerische Freiheit und damit verfassungswidrig ist.
Aber dies interessiert Sie wie immer nicht.
({6})
Überrascht hat mich allerdings das Vorgehen der
SPD. Ich schätze Sie, liebe Frau Kramme, wirklich als
Arbeitsrechtlerin. Aber hier haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht; denn das was Sie heute fordern, hatte
die SPD schon 1998 wortgleich zum Gesetz gemacht
und dann selbst wieder abgeschafft, übrigens gemeinsam
mit den Grünen.
Ich sage nur Eismann: Der Hersteller von Tiefkühlkost hatte seine Verkaufsfahrer kurzerhand zu selbstständigen Unternehmern umdeklariert. Die Männer mieteten
sich von Eismann ihren Lkw, bekamen ein Verkaufsgebiet und lieferten dort auf festgelegten Routen aus. Dies
hatte natürlich überhaupt nichts mit einem selbstständigen Unternehmer zu tun. Sie waren eindeutig Scheinselbstständige.
({7})
So stellte es dann eben auch der Bundesgerichtshof auf
Grundlage des geltenden Gesetzes fest. Das Gesetz
funktionierte also.
({8})
Dennoch nahm 1998 Rot-Grün diesen Fall zum Anlass für ein Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit.
({9})
Da wurde genau das getan, was Sie heute fordern: Es
wurde ein Katalog von Kriterien im Gesetz verankert.
Wenn zwei, später drei davon vorlagen, wurde die
Scheinselbstständigkeit vermutet. Das Gesetz war sicherlich gut gemeint; aber es war vollkommen untauglich.
Journalisten, Programmierer, Grafiker, Rechtsanwälte
usw. sahen sich plötzlich mit der Forderung konfrontiert,
ihre Selbstständigkeit nachweisen zu müssen. Vor allen
Dingen Existenzgründern fiel dies unendlich schwer. Bei
den damaligen Regierungsparteien von Rot-Grün setzte
sich sehr schnell die Erkenntnis durch, dass das Gesetz
die erwünschten Unternehmensgründungen behinderte.
Nachbesserungen halfen nicht, und am Ende stampfte
Rot-Grün dieses Gesetz wieder ein. Die Kriterien wurden abgeschafft und die Beweislast wieder umgekehrt.
Seitdem, seit 2002, gilt die heutige Rechtslage.
({10})
Haben Sie das vergessen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD?
({11})
Oder haben Sie geglaubt, dass wir das vergessen würden?
Offensichtlich, denn Sie fordern heute exakt dasselbe,
was Sie 2002 in die Tonne getreten haben. Dies ist mir
nicht verständlich.
({12})
Das zeigt leider auch, dass nicht jeder aus Erfahrung
klug wird. Dies ist aber auch Ausdruck Ihrer Hilflosigkeit bei dem Thema der heutigen Debatte, nämlich dem
Missbrauch von Werkverträgen. Fakt ist, dass dieses
Thema vor einigen Monaten von den Linken entdeckt
worden ist.
({13})
Sie war auf der Suche, nachdem die Zeitarbeit als Buhmann ausrangiert worden war. Hinsichtlich der Zeitarbeit hatten wir - der Kollege Vogel hat zutreffend darauf
hingewiesen - die Regelungen verschärft und eine Lohnuntergrenze eingeführt. Seit diesem Jahr gelten übrigens
Branchenzuschläge. Dies alles wurde geschaffen von der
christlich-liberalen Koalition.
({14})
Der Blick der Linken fiel auf den Werkvertrag, der
seit 1900 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert ist. Dieser hat 112 Jahre deutscher Politik überstanden. Aber
jetzt kommen die Linken, und die SPD lässt sich leider
verleiten. Dies bedauere ich; denn Daten über den Missbrauch oder die tatsächliche Ausbreitung von Werkverträgen gibt es nicht. Es gibt also keine validen Unterlagen, sondern die Angaben gehen im Wesentlichen auf
Umfragen zurück - es gibt eine DGB-Umfrage -, und
zum Teil geht es auch um Vermutungen.
({15})
Diese Vermutungen erhalten ohne Frage Nahrung
durch aufrüttelnde Medienberichte insbesondere aus der
Fleischwirtschaft. Schlachtung und Zerlegung erfolgen
dort übrigens nicht erst seit drei Jahren durch Drittfirmen,
sondern das erfolgt in dieser Form auch schon seit 1900,
und zwar auf der Grundlage des damaligen Preußischen
Schlachthofgesetzes.
({16})
Damals wurde den Gemeinden ermöglicht, Verträge mit
Metzgern zu schließen, die dann nicht als Arbeitnehmer,
sondern als Werktätige tätig wurden.
Seit 30 Jahren ist das Outsourcen von Schlachtung und
Zerlegung in der Fleischbranche allgemein üblich. Das
Bundesarbeitsgericht, liebe Frau Kollegin Groneberg,
hat sich mehrfach mit diesem Vertragskonstrukt beschäf27590
tigt und hat zuletzt im Jahr 2007 gesagt: Dieses Vertragskonstrukt ist rechtlich völlig in Ordnung.
({17})
Inzwischen haben natürlich - hier gebe ich Ihnen Recht diese Drittfirmen ihren Sitz im europäische Ausland;
denn - auch das gehört zur Wahrheit - es finden sich
trotz guter Bezahlung kaum noch deutsche Mitarbeiter,
die diesen Knochenjob machen wollen. Das verstehe ich.
Ich würde es auch nicht machen wollen.
({18})
Es gibt Berichte über menschenunwürdige Unterbringung, über Ausbeutung dieser Mitarbeiter - ähnlich wie
bei Amazon. Auch hier gilt - und das sage ich sehr deutlich im Namen meiner Fraktion -: Jedem Verdacht muss
nachgegangen werden. Schuldige müssen mit aller Härte
bestraft werden. Aber dafür brauchen wir eines: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Diese findet statt. Insbesondere für meinen Wahlkreis kann ich dies sagen. Auch in
meinem Wahlkreis habe ich einen Schlachthof: den
Schlachthof Weidemark.
({19})
Dort finden regelmäßig unangemeldete Kontrollen statt.
Es gibt mit den Verantwortlichen vor Ort einen runden
Tisch. Dort sind über 103 Veterinäre und Fleischbeschauer tätig. Lieber Herr Ernst, ich empfehle Ihnen,
sich solche Betriebe anzuschauen und nicht über sie zu
reden. Ich lade Sie herzlich ein, mit mir diesen Betrieb
anzusehen.
({20})
Es gibt aber keinen Anlass, um den Werkvertrag in
Gänze infrage zu stellen; denn Werkverträge sind unverzichtbar in unserem arbeitsteiligen Wirtschaftsleben. Sie
sind Ausdruck der Spezialisierung der Betriebe, die es
den Betrieben überhaupt erst ermöglicht, wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben. Anlass dafür ist nicht der
Wunsch nach Tarifflucht, sondern in der Regel die Differenzierung der Wertschöpfungskette, manchmal auch
das fehlende Know-how oder auch Sicherheits- und
Qualitätsaspekte.
Sicherlich gibt es auch Missbräuche, ohne Frage.
Aber für diese Missbräuche gilt eins: Sie sind heute
schon gesetzlich verboten. Das heißt, Ihr Gesetz könnte
an dieser Stelle überhaupt nicht nachschärfen.
({21})
Missbrauch ist verboten. Das einzige, was wir brauchen,
ist tatsächlich: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle.
({22})
Hierauf müssen wir ein Auge haben. Das hat auch unsere Bundeskanzlerin deutlich gemacht, übrigens auch
die Ministerin von der Leyen.
Ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, kann immer
nur das Gericht feststellen,
({23})
und zwar in jedem Einzelfall und nicht holzschnittartig.
Das hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt,
mit dem ich enden will. Es hat die vorliegenden Formulierungen als notwendig herausgestellt, und zwar mit folgender Begründung - ich zitiere -:
… da es gerade der … Rechtsfigur … zu verdanken
sei, dass die Vorschriften über die Versicherungsund die Beitragspflicht … mit ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung und Literatur über
Jahrzehnte hinweg auch bei geänderten sozialen
Strukturen ihren Regelungszweck erfüllen und insbesondere die Umgehung der Versicherungs- und
Beitragspflicht zum Nachteil abhängig beschäftigter Personen verhindern konnten.
So sagt es das Bundesverfassungsgericht. Dem gibt es
nichts hinzuzufügen.
({24})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/12378 und 17/12373 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11819 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dagmar
Enkelmann, Jan Korte, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11821 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/12417 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Reinhard Grindel-
Gabriele Fograscher-
Dr. Stefan Ruppert-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Halina Wawzyniak-
Wolfgang Wieland
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({1})
- Drucksache 17/1047 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler,
Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 17/1150 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 17/12424 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Ingo Wellenreuther-
Rüdiger Veit-
Serkan Tören-
Sevim Dağdelen-
Wolfgang Wieland
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
Matthias W. Birkwald, Andrej Hunko, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige einführen
- Drucksachen 17/1146, 17/12424 Berichterstattung:Abgeordnete Ingo WellenreutherRüdiger VeitSerkan TörenSevim DağdelenWolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Michael Grosse-Brömer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Wahlrecht ist ein Themenfeld, das besonders große Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte
erhält, wenn man es ändert. Wir alle haben im Rahmen
der Arbeit an dieser Aufgabe festgestellt: Es gibt sehr
viele Bürgerinnen und Bürger, die sich fast hobbymäßig
mit dem Wahlrecht beschäftigen.
({0})
Es war für uns eine große Herausforderung, diese Aufgabe ordnungsgemäß durchzuführen; aber ich meine,
wir haben sie in letzter Konsequenz ganz gut erfüllt.
({1})
Spannenderweise geht es beim Wahlrecht immer um
die Fragen: Welchem Wahlsystem folgen wir? Wer darf
wählen? Wer darf gewählt werden? Wie sind Wahlen
durchzuführen? - Das sind spannende Fragen für die Demokratie und letztendlich für das Parlament und den Parlamentarismus. Weil sie machtpolitischen Charakter hat,
ist am Schluss die spannendste Frage: Wie werden nach
der Wahl aus den vielen Millionen Stimmen einige Hundert Parlamentssitze? - Auch darum mussten wir uns
kümmern. Ich habe gerade gelesen, dass 62 Millionen
Deutsche am 22. September wahlberechtigt sein werden.
Die hoffentlich in hoher Anzahl abgegebenen Stimmen
gilt es dann entsprechend aufzuteilen. In letzter Konsequenz geht es dabei auch um die Arbeitsfähigkeit unseres Parlamentes.
Weil all diese Fragen und insbesondere die Antworten
auf diese Fragen von hoher Bedeutung sind, ist es jedenfalls aus meiner Sicht gut, dass fast alle Fraktionen hier
im Deutschen Bundestag den am heutigen Tage vorliegenden Gesetzentwurf zum Wahlrecht mitgezeichnet haben. Es ist mittlerweile das Zweiundzwanzigste Gesetz
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, das wir heute in
zweiter und dritter Lesung zur Abstimmung stellen. Vier
von fünf Fraktionen tragen den vorliegenden Entwurf
mit. Das ist aus meiner Sicht sehr erfreulich, zumal wir
alle unterschiedliche Ausgangspositionen hatten, je nach
Größe der Fraktion und je nach Hoffnung auf Überhangmandate unterschiedliche Interessenslagen hatten.
({2})
- Es ist immer wieder schön, Herr Wiefelspütz, wenn
Sie diese positiven Zwischenrufe machen, und dann
auch noch in meine Richtung.
({3})
Dann muss in diesem Fall irgendetwas gut gelaufen sein.
({4})
- Zu viel Lob kann auch schädlich sein - das ist wohl
wahr -, aber ich nehme es heute einfach mal freundlich
entgegen.
({5})
Es ist so, dass das Wahlrecht von uns schon einmal etwas anders konzipiert worden war.
({6})
Wir wollten jedenfalls keine Vergrößerung des Deutschen Bundestages. Das wäre bei Umsetzung unseres
ersten Vorschlags auch nicht passiert.
({7})
Gleichwohl gab es Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichtes, und so mussten wir schwierige Detailfragen
lösen, insbesondere zum Stichwort „negatives Stimmgewicht“, aber auch zu den Überhangmandaten. Ich
glaube, weil wir konstruktiv zusammengearbeitet haben,
haben wir alle zusammen eines geschafft - vielleicht
müsste man eine Fraktion ausnehmen, aber dazu komme
ich gleich noch -: Wir haben deutlich gemacht, dass dieses Parlament funktionsfähig und in der Lage ist, fraktionsübergreifend gute Kompromisse bei schwierigen
Fragen zu finden. Ich glaube, das ist ein positives Ergebnis dieser Beratungen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grundzüge dieses Wahlrechtes sind schon in der ersten Lesung angesprochen worden und eigentlich bekannt. Ich will, weil
ich hier als erster Redner stehe, kurz der Übersicht wegen nochmals die Kernpunkte erwähnen: Es wird keine
Listenverbindung mehr geben. Wir führen stattdessen
Ländersitzkontingente ein: Jedes Bundesland bekommt
entsprechend seinem Anteil an der Wohnbevölkerung
ein bestimmtes Kontingent zugewiesen; in einem zweiten Schritt werden die Stimmen je nach Zweitstimmenergebnis an die jeweiligen Parteien unterverteilt. Überhangmandate werden künftig durch zusätzliche Mandate
an andere Parteien ausgeglichen, sodass ein gewisser
Proporz nach Zweitstimmen garantiert wird.
Wie gesagt: Aus unserer Sicht wäre es denkbar gewesen, eine gewisse Anzahl von Überhangmandaten zu realisieren; das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem Urteil durchaus zugelassen.
({9})
Die anderen Fraktionen wollten das nicht. Wir haben das
zur Kenntnis genommen und unsere Kompromissfähigkeit unter Beweis gestellt, im Sinne eines übergeordneten Zieles. Darauf können wir als CDU/CSU ein Stück
weit stolz sein.
({10})
Wir haben dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Rechnung getragen. Ich fand, das war nicht einfach.
Wir mussten klare Vorgaben umsetzen. Glücklicherweise bin nicht nur ich der Auffassung, dass wir den
Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht geworden
sind. Es gab am 14. Januar dieses Jahres eine Sachverständigenanhörung, bei der deutlich geworden ist, dass
wir die Aufgaben, die uns gestellt wurden, gut umgesetzt
und erfüllt haben.
Durch die Einführung von Ländersitzkontingenten
haben wir den Effekt des negativen Stimmgewichts - soweit es verfassungsrechtlich relevant ist - beseitigen
können. Das haben die Sachverständigen bestätigt. Sie
haben auch bestätigt, dass es uns gelungen ist, den Charakter der Verhältniswahl zu bewahren.
Frau Kollegin Wawzyniak, Sie und Ihre Fraktion haben sich leider einer gemeinsamen einvernehmlichen
Lösung verweigert. Ich bedauere das sehr. Sie sagen immer, Sie haben angeblich ein besseres Modell, das keine
rechtlichen Risiken aufweist
({11})
und gleichzeitig eine Vergrößerung des Bundestages vermeidet. Das hört sich nicht schlecht an.
({12})
Das scheint zunächst ein wunderbares Modell zu sein,
aber wenn man genauer hinschaut, dann ergeben sich
doch manche Risiken und Nebenwirkungen,
({13})
die Sie immer wieder vergessen zu erwähnen; en passant
die Fünfprozentklausel abzuschaffen und den föderalen
Proporz massiv zu verzerren - auch das vergessen Sie zu
erwähnen.
({14})
Ich halte es nach wie vor nicht für sinnvoll, dass man,
wenn man in Kiel abstimmt, jemanden am Bodensee
wählen könnte. Ich halte es nach wie vor für richtig, dass
wir uns darauf nicht eingelassen haben; denn es geht darum, dass die Wählerin, der Wähler die Konsequenzen
verstehen. Deswegen finde ich es bedauerlich, dass Sie
unserem Kompromissmodell trotz guter Argumente
nicht folgen konnten.
Auch Bündnis 90/Die Grünen kann ich nicht so ganz
von der Kritik ausnehmen. Herr Kollege Beck - der
skandalöserweise gerade nicht zuhört ({15})
hat am 14. Dezember anlässlich der ersten Lesung der
Novelle zum Wahlrecht gesagt: Die Gleichheit der Wahl
und die Chancengleichheit der Parteien werden durch
den vorgeschlagenen Gesetzentwurf gewährleistet. Dann
hat er noch gesagt, der Gesetzentwurf sei ein anständiger
Kompromiss. - Ich begrüße es ausdrücklich und finde es
gut, dass die Grünen den vereinbarten Kompromiss mittragen.
Leider haben Sie einen aus meiner Sicht schlechten
Änderungsantrag nachträglich in den Innenausschuss
eingebracht. Schon der erste Entwurf einer Änderung
wurde von mehreren Sachverständigen kritisiert. Auch
der neue Antrag weist nach allgemeiner Kenntnis der
Sachverständigen mehrere Ungenauigkeiten und DeuMichael Grosse-Brömer
tungsprobleme auf. Deswegen ist es gut, dass wir Ihrem
Anliegen nicht nachgekommen sind; denn das Letzte,
was wir vor der Bundestagswahl gebrauchen können, ist
Regelungschaos, das dazu führt, dass wir bei der Wahl
keine vernünftigen Ergebnisse erzielen.
({16})
Zum Änderungsantrag der Grünen kann man nur sagen:
Hättest du geschwiegen, hätten wir dich weiterhin für
weise gehalten.
({17})
Aber das gilt in Richtung der gesamten Fraktion, nicht
nur im Hinblick auf eine Person.
Schlechte Absichten hatten die Grünen mit ihrem
Antrag nicht. Es ging um die bessere Verständlichkeit
des Textes. § 6 des Wahlgesetzes ist in der Tat ein ganz
spezieller und ein etwas anstrengender Paragraf. Deswegen war es in letzter Konsequenz nicht falsch, zu überlegen: Kann man es besser machen? Aber die Sachverständigen haben zu diesem vermeintlich guten Anliegen
gesagt: Es scheitert an der Komplexität der Materie und
den zu regelnden Sachverhalten.
Man muss aufpassen, dass man bei diesem schwierigen Thema nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet;
denn die Grundprinzipien des neuen Wahlrechts - auch
das ist wichtig - müssen weiterhin verständlich bleiben.
Auch wenn der eine oder andere Paragraf für denjenigen, der ihn zum ersten Mal oder vielleicht zum zweiten
oder dritten Mal liest, nicht verständlich ist, so glaube
ich doch, dass das Wahlrecht allen Menschen in
Deutschland, die wahlberechtigt sind, und auch den anderen, die Möglichkeit gibt, die Grundzüge des Wahlrechts zu verstehen und zu wissen, was sie mit ihrer
Stimme jeweils bewirken, wenn sie zur Wahl gehen.
({18})
Das ist wichtig. Deswegen haben wir es vermieden, an
den bestehenden und bewährten Grundsätzen des Bundeswahlrechts etwas zu ändern. Das ist gut. Das dient
weiterhin dem besseren Verständnis; denn die Menschen
müssen darauf vertrauen können, dass sie mit ihrem Votum das bewirken, was sie sich vorstellen.
Mit der vorliegenden Novelle haben wir unsere
Aufgabe erfüllt. Wir haben die Vorgaben des Verfassungsgerichtes umgesetzt. Wir haben für die Bürger
mehr Sicherheit geschaffen. Dafür danke ich allen Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen. Für meine
Fraktion danke ich ausdrücklich dem Kollegen Krings
und seinem Team, ebenso dem Kollegen Uhl, weil sie
exzellente Vorarbeit geleistet haben.
({19})
- Herr Wiefelspütz, stellen Sie sich vor, Herr Krings
wäre nicht dabei gewesen. Dann hätten Sie alleine geredet. Das hätte keiner gewollt,
({20})
auch wenn manche Schlussfolgerung von Ihnen sehr
verständlich und gut war. Das muss man angesichts der
großen Harmonie an diesem Tag in puncto Wahlrecht
doch noch einmal erwähnen.
Ein herzliches Dankeschön gilt auch den Mitarbeitern
des Bundesinnenministeriums. Ich muss den Staatssekretär bitten, diesen Dank weiterzugeben. Diese Mitarbeiter haben exzellent gearbeitet, sie haben uns auch exzellent zugearbeitet, und sie sind von uns exzellent
kontrolliert worden. Es war wichtig, dort Spezialisten zu
haben, die alles noch einmal überprüft haben.
Infolgedessen bleibt mir neben dem Dank, den ich
hier abgestattet habe, letztlich nur, von Ihnen die logische Konsequenz einzufordern, die Zustimmung zu dieser gelungenen Wahlrechtsnovelle. Möge sie für längere
Zeit vielleicht die letzte sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Thomas
Oppermann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beenden heute eine fast fünfjährige Debatte über verfassungswidriges Wahlrecht in Deutschland.
({0})
Das ist schon einmal eine gute Nachricht.
Vor viereinhalb Jahren hat das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Dann hat die Regierungsmehrheit das Wahlrecht nach eigenen Wünschen und Interessen und gegen
den Willen der Opposition neu gestaltet. Das war ein
Fehler; denn danach hat das Bundesverfassungsgericht
das Wahlrecht im letzten Sommer zum zweiten Mal für
verfassungswidrig erklärt. Nach monatelangen Verhandlungen haben wir uns jetzt mit ganz großer Mehrheit auf
ein neues Wahlrecht verständigt. Das neue Wahlrecht ist
verfassungskonform. Das ist eine gute Nachricht. Wir
können endlich wieder wählen, ohne daran zu denken,
dass das auf einer verfassungswidrigen Grundlage geschieht.
Ich möchte mich bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Mit ihrer Expertise standen uns Juristen,
Mathematiker und Politologen zur Seite.
({1})
Auch die Kolleginnen und Kollegen beim Bundeswahlleiter und in den Ministerien standen uns zur Seite. Sie
alle haben dazu beigetragen, dass das ein gutes Ergebnis
geworden ist. Vielen Dank dafür!
({2})
Freiheit und Gleichheit, das Sozialstaatsgebot und das
Wahlrecht bilden eigentlich das Fundament unserer
demokratischen Ordnung. Das Wahlrecht ist das Verfahren, in dem die Wählerinnen und Wähler die beim Volk
liegende Staatsgewalt auf das Parlament übertragen.
Deshalb muss dieses Verfahren sehr genau sein. Es muss
fair ausgestaltet sein, und es muss durch und durch vom
Grundsatz der Gleichheit geprägt sein. Das sind sehr
hohe Anforderungen, aber ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf haben wir sie jetzt erfüllt. Ich glaube, das ist
ein gutes Ergebnis.
Überhangmandate spielen im deutschen Wahlrecht
keine Rolle mehr. Sie werden vollständig ausgeglichen.
Jeder Wähler kann sich darauf verlassen, dass er mit seiner Stimmabgabe die Partei wirksam unterstützt, die er
gewählt hat. Das negative Stimmgewicht ist beseitigt.
Jahrelang hatten Wählerinnen und Wähler in Deutschland ein doppeltes Stimmgewicht. Jahrelang stand das
Wahlrecht mit den Überhangmandaten im Widerspruch
zu dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien.
In der ganzen Zeit bestand die Gefahr, dass Überhangmandate das Mehrheitsverhältnis umdrehen und eine
Partei, die gar nicht die Mehrheit der Stimmen hat, plötzlich im Parlament zusammen mit einer anderen Partei
die Mehrheit der Mandate hat. Jahrelang wollten die Koalitionsfraktionen nicht wahrhaben, dass Überhangmandate verfassungswidrig sind. Diesen Missstand beseitigen wir heute. Jede Stimme hat nach dem neuen
Wahlrecht das gleiche Gewicht. Mit dem neuen Wahlrecht können sich die Wählerinnen und Wähler darauf
verlassen, dass sie mit ihrer Stimme das bewirken, was
sie zu bewirken beabsichtigt haben. Jetzt entscheiden allein die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Zweitstimme
über die Zusammensetzung des Bundestages, und es gibt
nicht mehr irgendwelche Absurditäten des Wahlrechts.
Damit haben wir das große Versprechen der Demokratie eingelöst: faires und gleiches Wahlrecht für alle.
Aber damit dürfen wir uns am Ende nicht zufriedengeben. Es gibt neue Herausforderungen beim Wahlrecht.
Dazu gehört für uns ganz klar auch das Wahlrecht für
Ausländer, die schon seit vielen Jahren in Deutschland
leben, hier arbeiten und Steuern zahlen. Ihnen wollen
wir die Mitwirkung an der politischen Willensbildung
auf kommunaler Ebene nicht länger verweigern.
({3})
Deswegen haben wir in einem anderen Verfahren und in
einem anderen Entwurf einen Vorschlag zum Kommunalwahlrecht für Ausländer eingebracht.
Die andere große Herausforderung ist, das Wahlrecht
auch für diejenigen effektiv zu machen, die nicht lesen
und schreiben können.
({4})
Wir führen eine Debatte über Analphabetismus in
Deutschland. Es ist schlimm genug, dass es ihn in unserem modernen und reichen Land noch immer gibt, aber
7,5 Millionen Menschen sind in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, Texte zu lesen und sie so zu verstehen. 3 Millionen Menschen können nur einzelne Worte lesen. Einige Hunderttausend können nicht einmal ihren eigenen
Namen schreiben.
Menschen, die nicht lesen können, kommen auch mit
den Wahlzetteln nicht zurecht. Sie gehen entweder gar
nicht erst zur Wahl, oder sie stehen hilflos vor den Wahlzetteln. Deshalb werden wir in einer weiteren Reform
des Wahlgesetzes dafür sorgen müssen, dass Analphabeten Hilfen bekommen und
({5})
dass wir die Kandidaten und Parteien so kenntlich machen, dass auch diejenigen, die nicht lesen können, wählen können. Das wollen wir auch noch erreichen.
({6})
Herr Kollege Oppermann, der Kollege Seifert würde
gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne. Ich bin jetzt eigentlich auch schon am Ende,
({0})
dann erlaube ich die Zwischenfrage gern.
Herr Seifert, bitte.
Herr Kollege Oppermann, Sie haben gerade davon
gesprochen, dass Sie in einem weiteren Schritt Menschen, die Analphabeten sind, das Wählen ermöglichen
wollen.
Sie sagen auch, dass das Menschen betreffen soll, die
unter voller Betreuung stehen. Sie hatten gestern im
Ausschuss nicht nur die Möglichkeit, einen Antrag zu
stellen, in dem Sie fordern, dass die Bundesregierung einen solchen Gesetzentwurf vorlegen soll, sondern auch
die Möglichkeit, einem Änderungsantrag von uns zuzustimmen.
Sie haben das abgelehnt. Können Sie bitte begründen,
wieso Sie nicht einem fertigen Änderungsantrag zugeDr. Ilja Seifert
stimmt haben, wenn Sie das darin enthaltene Anliegen
theoretisch wollen? Das sieht ein bisschen unglaubwürdig aus.
Weil wir das sehr sorgfältig prüfen müssen. Sie sprechen einen dritten Bereich an: Personen, die unter vollständiger Betreuung stehen, sind im Augenblick vom
Wahlrecht ausgeschlossen. Das ist für uns auch mit Blick
auf die Verfassung ein nicht akzeptabler Zustand.
({0})
Das sagen wir ganz klar.
Die vollständige Betreuung kann niemals ein automatisches, einziges und entscheidendes Kriterium für den
Ausschluss vom Wahlrecht sein. Das wollen wir ändern.
Denn es gibt durchaus Menschen unter Betreuung, die
einen politischen Willen haben und artikulieren können.
Dann muss man ihnen das Wahlrecht eröffnen. Das zu
regeln, ist aber keine einfache Aufgabe. Das wollen wir
ganz sorgfältig machen und keinen Schnellschuss abgeben. Aber das ist die dritte Baustelle, auf der wir unser
Wahlrecht noch reformieren müssen.
Ich hoffe, dass wir das gemeinsam tun können. Ich
fand es sehr gut, dass wir hier einen Konsens bei der Reform des Wahlrechts gefunden haben. Er wird von Dauer
sein. Das ist gut für die Verlässlichkeit und für die Berechenbarkeit unserer Demokratie.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Dr. Stefan Ruppert
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat: 60 Jahre lang hat dieses Land ein bewährtes, gutes Zwei-Stimmen-Wahlrecht gehabt.
Die gute Neuigkeit des heutigen Tages ist: Wir werden dieses Zwei-Stimmen-Wahlrecht in seinen Grundzügen erhalten. Es hat in Deutschland immer wieder dazu
geführt, dass die Mitte der Gesellschaft hier im Parlament repräsentiert war und dass wir eine Abbildung aller
Bevölkerungsgruppen durch dieses System hier gesehen
haben. Das bewährte Zwei-Stimmen-Wahlrecht bleibt
also erhalten.
Mir ist nie ganz klar, warum diejenigen, die ein EinStimmen-Wahlrecht befürworten, das für ein demokratischeres Prinzip halten. Denn eigentlich ist es ganz
einfach: Wer zwei Stimmen abgeben kann, hat mehr Einflussnahme auf die Demokratie ausgeübt als jemand, der
nur eine Stimme abgeben kann. Insofern ist das, glaube
ich, ein erstes gutes Ergebnis.
Als wir vom Bundesverfassungsgericht die Aufgabe
bekommen hatten, das Wahlrecht neu zu regeln, ging
dieser Auftrag zuerst an Herrn Oppermann und die
Große Koalition. Diese hat das dann auf die nächste Regierung vertagt, der sie in der Sache anscheinend mehr
zutraute.
({0})
Wir haben uns dann dieser Aufgabe angenommen. Dabei
haben wir mehrere Prinzipien zugrunde gelegt, die wir
leider nie ganz in Ausgleich bringen konnten.
Das erste Prinzip war, kein größeres Parlament zu bekommen. Wir hatten uns in unserem ursprünglichen Entwurf, den ich nach wie vor für den leicht besseren halte,
dafür entschieden, das Parlament nicht zu vergrößern.
Wir hatten bewusst gesagt, dass die Größe von 598 Mitgliedern adäquat ist.
Zweitens wollten wir, dass Brandenburg, BadenWürttemberg, Hessen, dass alle unsere Bundesländer
entsprechend ihrer Bevölkerungszahl im Deutschen
Bundestag vertreten sind. Ein föderaler Proporz sollte
also erhalten bleiben.
Drittens hatten wir die Vorstellung, dass es in kleinen
Landesverbänden keine verlorenen Stimmen geben soll.
Auch das haben wir erhalten.
Wir haben damals gesagt: Ein kleiner Teil an Überhangmandaten wäre in der Tat vertretbar. Sie haben das
anders gesehen. Allerdings - auch das gehört, glaube
ich, zur Wahrheit - gab es den von Ihnen, Herr
Oppermann, beschriebenen Fall einmal, dass eine Mehrheit des Deutschen Bundestages überhaupt nur noch aufgrund von Überhangmandaten bestand.
({1})
Sie haben einmal allein deswegen politisch überlebt,
weil sich die rot-grüne Bundesregierung bei einer Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag auf Überhangmandate stützen konnte.
({2})
Damals waren Sie ein großer Fan des politischen Überlebens auf diese Weise und dieser Überhangmandate.
({3})
Erst als sich der Wind etwas drehte und auch andere Parteien Überhangmandate bekamen, haben Sie deren Problematik anscheinend nachhaltig entdeckt. Aber damals,
als Herr Schröder deswegen politisch überlebte, waren
Sie doch eigentlich ganz zufrieden.
Wir haben jetzt die Wahl zwischen einem Gesetzentwurf von vier Fraktionen und einem Gesetzentwurf von
einer Fraktion. Ich will deutlich sagen, dass der Gesetzentwurf der Linken so, wie er heute vorliegt, erhebliche
Mängel hat, wenn nicht gar verfassungswidrig ist.
Sie müssen sich einmal folgenden Fall vorstellen:
360 000 Menschen in Brandenburg gehen zur Wahl und
entschließen sich aus mir nicht ganz erfindlichen Gründen, die CDU zu wählen. Ich könnte ihnen eigentlich einen besseren Tipp geben. Also, wenn 360 000 Brandenburger die CDU wählen, bekommt die CDU nach dem
Vorschlag der Linken dafür kein einziges Mandat, während die CDU, wenn sich 58 000 Baden-Württemberger
entschließen, sie zu wählen, ein Mandat dafür bekommt.
Das heißt, Sie schlagen uns ein Wahlrecht vor, bei dem
sechsmal so viele Bürger aus dem Osten kein Wahlrecht
geltend machen können bzw. ihren politischen Willen
nicht niedergeschlagen finden, weil durch ihre Stimmen
kein Mandat errungen wird, während durch die Stimmen
von knapp 60 000 Baden-Württembergern, also einem
Sechstel davon, ein Mandat errungen wird. Ich glaube,
dies kann nicht ernsthaft in Ihrem Interesse sein. Insofern lade ich Sie ein, dem etwas besseren Gesetzentwurf
unserer vier Fraktionen heute zuzustimmen.
Lassen Sie mich am Ende meiner Rede noch eine Bemerkung zu der Frage machen, ob wir ein zu großes Parlament haben. Ich glaube, dieses Wahlrecht ist auf Dauer
angelegt; das hat Herr Oppermann völlig richtig gesagt.
Wir haben im internationalen Vergleich, zum Beispiel
mit Italien, Großbritannien oder Frankreich, durchaus
ein Parlament, das nicht übermäßig groß ist, wenn man
die Zahl der Wähler bzw. Bürger, die auf einen Abgeordneten kommen, betrachtet. Gleichwohl werden wir beobachten müssen, wie sich dieses Wahlrecht auswirkt.
Bei zu starkem Anwachsen der Zahl der Mitglieder des
Bundestages wird meine Fraktion in der nächsten Legislaturperiode darauf dringen ({4})
- jeder kann helfen, Herr Wiefelspütz -, etwas zu tun,
damit der Bundestag nicht dauerhaft zu groß wird.
Ich danke allen, die daran beteiligt waren. Auch im
Hintergrund haben viele Mitarbeiter ganz tolle Arbeit
geleistet, zum Beispiel im BMI, beim Bundeswahlleiter
und bei anderen Behörden, sodass wir eine hochkomplexe Materie
({5})
heute zu einem wirklich guten Abschluss bringen. Das
perfekte Wahlrecht gibt es nicht. Insofern haben wir ein
gutes, wenn auch nicht das perfekte Wahlrecht, dem ich
heute aus voller Überzeugung zustimme. Ich lade Sie
dazu ganz herzlich ein. Die Linken sollten noch einmal
darüber nachdenken, ob sie den Osten so sträflich behandeln wollen, wie es ihr Entwurf tut.
({6})
Machen Sie es lieber besser, und behandeln Sie die ostdeutschen Wähler genauso gut wie die westdeutschen
Wähler. Stimmen Sie unserem Entwurf zu!
Vielen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Halina Wawzyniak.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich dachte schon, die Debatte wird langweilig. Aber
wenn sich die FDP als Vertreterin der Ostdeutschen aufspielt, ist das immer eine Überraschung.
({0})
Es wird Sie trotzdem nicht überraschen, dass wir dieses
Wahlrecht ablehnen werden,
({1})
weil es zu einer Vergrößerung des Bundestages führt,
obwohl es eine verfassungsgemäße Alternative gibt. Ich
will sehr deutlich sagen: Gäbe es diese verfassungsgemäße Alternative nicht, müsste eine Vergrößerung des
Bundestages um der Demokratie willen selbstverständlich hingenommen werden; aber es gibt eine verfassungsgemäße Alternative.
({2})
Zu den Regelungen des Gesetzentwurfes, den Sie vorgelegt haben. Für die Wählerinnen und Wähler ist es
ziemlich schwer, zu verstehen, wie aus den Prozentzahlen, die am Wahlabend genannt werden, Sitze werden.
Ich will Ihnen zugutehalten: Das liegt nicht an Ihren Formulierungskünsten - auch ich hätte das wahrscheinlich
nicht besser hinbekommen -, sondern an dem Verfahren,
das Sie gewählt haben.
Sie haben das Verfahren gewählt, mit dem in einer
ersten Stufe die 598 gesetzlich vorgeschriebenen Sitze
an die Bundesländer verteilt werden. An dieser Stelle
will ich Sie ausdrücklich loben: Sie haben die Anhörung
ernst genommen, hier eine Änderung vorgenommen und
gesagt: Wir verdoppeln nicht mehr die Wahlkreise, sondern wir machen das am Bevölkerungsanteil fest. - Das
ist lobenswert, auch wenn ich noch nicht ganz sicher bin,
ob die praktische Umsetzung, so wie sie uns gestern erklärt worden ist, funktioniert.
In einem nächsten Schritt werden die Sitze innerhalb
der Länder verteilt. Da kann es vorkommen, dass eine
Partei mehr Direktmandate als Zweitstimmen erhält. Das
führt dann zu einer Vergrößerung des Bundestages, weil
sich das Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene in der
Sitzverteilung des Bundestages widerspiegeln muss. Bei
diesem Verfahren gibt es diverse Divisoren und Rundungseffekte; allein diese könnten zu einer Vergrößerung des Bundestages führen. Wir haben dazu eine Alternative vorgelegt.
Unsere Alternative lautet: Wir verrechnen auf der
Bundesebene - es handelt sich schließlich um eine Bundestagswahl, nicht um verbundene Landtagswahlen die Direktmandate mit den Zweitstimmen. Die Sitze, die
dann noch übrig sind, werden an die Parteien verteilt.
Der zentrale Einwand dagegen lautet, das würde den föderalen Proporz verzerren. Ich streite das gar nicht ab.
Aber diese Probleme gibt es auch bei anderen Modellen.
Ich habe Sie in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes auf Folgendes hingewiesen: Die SPD in Mecklenburg-Vorpommern erhielte auf Basis ihres Wahlergebnisses von 2009 bei 598 Sitzen drei Sitze und bei
671 Sitzen zwei Sitze. Viel Spaß den Genossinnen und
Genossen der SPD in Mecklenburg-Vorpommern! Die
CDU in Sachsen-Anhalt erhielte bei 598 Sitzen sechs
Sitze und bei 671 Sitzen fünf Sitze. Vielleicht ist Ihnen
der Osten dann doch nicht so wichtig, wie Sie gerade
vorgetragen haben.
({3})
Um wieder etwas sachlicher zu werden: Was wir gemeinsam versucht haben, ist die Quadratur des Kreises.
Wir haben versucht, vier Prinzipien in Übereinstimmung
zu bringen: Wir wollten das negative Stimmgewicht vermeiden, die Überhangmandate ausgleichen, den föderalen Proporz möglichst wahren und eine Vergrößerung
des Bundestages vermeiden. Man muss feststellen: Sie
setzen den Schwerpunkt bei der Wahrung des föderalen
Proporzes - das kann man machen -, wir setzen den
Schwerpunkt bei dem Prinzip, eine Vergrößerung des
Bundestages zu vermeiden. Festhalten müssen wir - da
sind wir uns, glaube ich, alle einig -: Diese vier Prinzipien können wir nicht zu 100 Prozent verwirklichen, solange wir am Zwei-Stimmen-Wahlrecht festhalten.
Offen bleibt - auch das will ich noch sagen; Herr Professor Meyer hat das in der Anhörung angesprochen -,
ob in der ersten Stufe wirklich Mindestsitzzahlen festgelegt werden sollten. Wenn Sie in der ersten Stufe Mindestsitzzahlen festlegen wollen, sind zumindest rechtliche Schwierigkeiten nicht ganz ausgeschlossen.
Um zum Thema Kompromissfähigkeit zu kommen:
In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich
gesagt, dass wir bereit waren, uns auf ein drittes Modell
einzulassen, nämlich auf das Modell Pukelsheim III. Das
Modell Pukelsheim III ist ein bisschen wie unser Modell, was den föderalen Proporz angeht, aber nicht ganz
so verzerrend wie unseres. Wir waren bereit, uns auf dieses Modell einzulassen; auch Grüne und SPD haben es ja
ursprünglich favorisiert. Am Ende wollten sich Grüne
und SPD damit nicht mehr zufriedengeben. Jetzt werfen
Sie uns fehlende Kompromissbereitschaft vor. Nein, das
ist falsch. Wir sind kompromissbereit. Wir sind aber
nicht prinzipienlos.
({4})
Jetzt liegen ein Gesetzentwurf der SPD, ein Gesetzentwurf der Grünen und ein Antrag der Linken zur Änderung des Grundgesetzes für ein kommunales Wahlrecht für Drittstaatenangehörige vor. Selbstverständlich
werden wir in allen drei Fällen zustimmen; denn wir finden, dass ein kommunales Wahlrecht ein Anfang ist und
die Entwürfe in die richtige Richtung gehen. In Deutschland leben 6,7 Millionen Menschen ohne die deutsche
Staatsangehörigkeit. 4,3 Millionen dieser Menschen
kommen aus Ländern, die nicht zur Europäischen Union
gehören. Diese Menschen leben hier, diese Menschen arbeiten hier, diese Menschen zahlen hier Steuern, sie sind
in Vereinen aktiv, sie kümmern sich um das Gemeinwesen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum diese
Menschen nicht mitentscheiden dürfen. Insofern ist es
für uns eine Selbstverständlichkeit, dass auch Menschen,
die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, das kommunale Wahlrecht erhalten sollen. Wir sind sehr froh,
dass die SPD das jetzt auch so sieht. In der letzten Legislaturperiode hat sie das ja noch nicht ganz so gesehen.
({5})
Wir wollen, dass diese Menschen das kommunale
Wahlrecht erhalten. Das reicht aber nicht. Wir wollen,
dass darüber hinaus alle Menschen, die seit fünf Jahren
legal in Deutschland leben, auch das Wahlrecht auf Länder- und Bundesebene erhalten. Der SPD-Vorsitzende
sieht das nun auch so, auch wenn er mit der Übertragung
des Wahlrechts ein bisschen länger warten will. Was
Herr Gabriel sagt, ist das eine; aber wo bleiben die Taten? Wir haben damals einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Ich verspreche Ihnen: Nach der nächsten
Bundestagswahl werden wir den Punkt „Wahlrecht auf
Länder- und Bundesebene für Menschen, die seit fünf
Jahren in Deutschland leben“ wieder auf die Tagesordnung setzen.
({6})
Ein letzter Satz. Wenn es um die Integration geht,
dann sollten wir beim Wahlrecht nicht stehen bleiben.
Deswegen wiederhole ich an dieser Stelle gern: Die Sondergesetze für Asylsuchende und Flüchtlinge - die Residenzpflicht - gehören abgeschafft. Wir wollen gleiche
Rechte für alle hier lebenden Menschen. Das fängt beim
Wahlrecht an und endet bei der Abschaffung dieser Sondergesetze.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt
eine gute Botschaft, die von diesem Tage ausgeht: Die
Bundesrepublik Deutschland hat wieder ein verfassungskonformes Wahlrecht. Damit steht der Abwahl von
Schwarz-Gelb wahlrechtlich nichts mehr im Wege.
({0})
Die zweite gute Nachricht ist: Es gibt einen Konsens
über ein verfassungskonformes Wahlrecht - unter Zu27598
Volker Beck ({1})
rückstellung der verschiedenen Interessen und der wahlpolitischen Präferenzen der einzelnen Fraktionen. So einen Kompromiss sollte man nicht kleinreden; denn er ist
wichtig: Er ist auch ein Signal an die Bürgerinnen und
Bürger draußen im Lande, dass hier niemand einen egoistischen Vorteil durchgesetzt hat, sondern dass wir ein
faires Wahlrecht haben, das am Ende allein den Bürger
und die Bürgerin entscheiden lässt, welche Fraktion in
welcher Stärke in den nächsten Deutschen Bundestag
einzieht, und nicht zulässt, dass durch einen Kniff im
Wahlrecht das Ergebnis womöglich ins Gegenteil verkehrt wird - wie es Schwarz-Gelb mit dem ersten Entwurf, der in Karlsruhe gescheitert ist, vorhatte.
({2})
Der Resozialisierungsgedanke, dem die Grünen ja anhängen, hat sich bewährt: Die Koalition ist in die Reihen
der Vertreter eines verfassungskonformen Wahlrechts
zurückgekehrt.
({3})
Wir heißen Sie recht herzlich willkommen!
({4})
SPD und Grüne haben verfassungskonforme Gesetzentwürfe vorgelegt. Wir konnten sie in den Verhandlungen nicht durchsetzen. Unsere Entwürfe, Frau Kollegin
Wawzyniak, waren in der Tat besser. Der Gesetzentwurf,
den wir in der letzten Wahlrechtsdebatte vorgelegt hatten, war überhaupt der konsequenteste: Bei uns wäre
kein einziges Überhangmandat entstanden; deshalb wäre
auch nichts auszugleichen gewesen. Wir hätten eine
Punktlandung bei 598 Abgeordneten gemacht. Bei dem
Regionalproporz, der laut Verfassungsgericht ein Kriterium ist, das im Wahlrecht von Gesetzes wegen berücksichtigt werden kann, aber nicht berücksichtigt werden
muss, hatte unser Gesetzentwurf zugegebenermaßen ein
paar Unwuchten, die der Unionsfraktion nicht gefallen
haben. Das haben wir in den Verhandlungen verstanden
und am Ende auch respektiert. Deshalb sind wir hier zu
einem anderen Ergebnis gekommen.
Der Kollege Grosse-Brömer hat vorhin ein bisschen
vollmundig erklärt, wir hätten in den Ausschussberatungen einen Vorschlag gemacht, der untauglich war. Das
ist nun wirklich nicht der Fall. Das, was wir jetzt als Gesetzestext beschließen - Herr Kollege, das müssen Sie
konzedieren -, ist ein guter Tipp für jeden Kabarettisten,
der sich über die Gesetzgebungsarbeit des Deutschen
Bundestages lustig machen will. Ich hoffe zumindest,
dass einer versteht - nämlich der Bundeswahlleiter -,
was wir da aufgeschrieben haben. Viel größer dürfte die
Zielgruppe dieser Norm in puncto Verständlichkeit nicht
sein.
({5})
Wir haben einen Vorschlag gemacht, daran hätte man
arbeiten können. Das wollten Sie nicht - gut, Schwamm
drüber. Ab morgen ist diese komplizierte Regelung
Gesetz. Ich denke, wir müssen in der nächsten Wahlperiode in puncto Verständlichkeit und Entstehen von
Überhangmandaten nochmals nacharbeiten, damit wir
nicht dauerhaft zu einer ziemlichen Vergrößerung des
Deutschen Bundestages kommen; denn das ist nicht gut
für die Arbeitsfähigkeit und die Akzeptanz dieses Parlaments in der Bevölkerung.
Aber, Frau Kollegin von der Linken, in Verhandlungen gibt es ein Geben und Nehmen. Die Koalition hat
darauf aufmerksam gemacht: Es wäre doch möglich gewesen, dass sie irgendeinen Entwurf durchgeschummelt
hätten, in dem am Ende 15 Überhangmandate stehen
bleiben, was unter Umständen das Risiko bedeutet hätte,
dass Rot-Grün zwar die Wahlen beim Volk gewonnen
hätte, aber nicht die Mehrheit der Sitze im Deutschen
Bundestag hätte.
({6})
Darauf hat die Koalition verzichtet, aber verlangt,
dass wir - umgekehrt - diesen Regionalproporzgedanken respektieren, obwohl er verfassungsrechtlich nicht
zwingend ist. Politikfähig sein bedeutet, dass man in
Respekt vor den unterschiedlichen Interessen in der
Lage ist, Kompromisse zu schließen. Kompromisse bedeuten aus der eigenen Perspektive zwangsläufig, dass
man etwas nur Zweitbestes tut. Sie sind aber immer nur
bereit, das, was schon „ums Eck“ ist, als letzte Kompromisslinie zu akzeptieren. Das zeigt, dass die Linke, unabhängig von ihren Positionen, einfach vom Verfahren
und vom Politikverständnis her nach wie vor nicht politikfähig ist, da sie nicht in der Lage ist, am Verhandlungstisch fair auf jemanden zuzugehen.
({7})
In einem Punkt bin ich allerdings bei Ihnen: Sie haben
am Schluss, genau wie der Kollege Oppermann, das
Thema Kommunalwahlrecht für Ausländer angesprochen. Grüne, Linke und SPD haben Entwürfe zur Änderung der Verfassung vorgelegt, die ermöglichen, dass
sowohl EU-Bürger als auch Bürger von Drittstaaten, die
dauerhaft hier leben, endlich in den Kommunen unseres
Landes gleichberechtigt an Wahlen und Abstimmungen
teilnehmen dürfen. Ich halte dies für ein wichtiges Integrationssignal. Wenn ich im Ausschussbericht lese, das
Argument der CDU dagegen sei, dazu bedürfe es einer
Verfassungsänderung - wo die Oppositionsfraktionen
gerade eine Verfassungsänderung vorschlagen -, dann
finde ich, dass dies eine sehr schwache Argumentation
ist, die letztendlich zeigt, dass Sie nur am Stammtisch
Punkte sammeln und kein Signal der Integration im
Wahlrecht setzen wollen. Das finde ich schade und
hoffe, dass Sie sich diese Position noch einmal überlegen.
({8})
Die zentrale Perspektive für Ausländer ist nicht im
Wahlrecht aufzuzeigen, sondern meines Erachtens im
Staatsbürgerschaftsrecht. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Menschen, die fünf Jahre und länger hier im Land leben, hier Steuern zahlen, arbeiten und SozialversicheVolker Beck ({9})
rungsbeiträge entrichten, die vollen Rechte haben, auch
darüber zu bestimmen, was mit dem Geld geschieht und
welche Prioritäten die Politik setzt. Das können sie nur,
wenn sie das Wahlrecht über die Staatsbürgerschaft bekommen.
Deshalb müssen wir noch einmal an die Staatsbürgerschaft herangehen und sagen: Die doppelte Staatsbürgerschaft soll kein Hindernis für den Erhalt des deutschen
Passes sein. Ferner müssen wir die alte Trophäe von
Herrn Brüderle aus Rheinland-Pfalz, von der 1999erReform, endlich in den Papierkorb expedieren: nämlich
die Optionsregelung, dass sich ein Kind von Migranten,
das hier in Deutschland geboren worden ist oder in den
ersten zehn Jahren hier lebte und dann die deutsche
Staatsbürgerschaft bekam, mit 23 Jahren zwischen dem
Pass des Landes, in dem es immer gelebt hat, und dem
Pass der Eltern entscheiden muss. Das ist ein unnötiger
Keil, den wir in die Familien treiben, eine falsche Entscheidungsalternative. Wir wollen, dass diese Menschen
Ja zu diesem Land sagen. Wir wollen sie nicht vor solche
Entscheidungen stellen. Sie sollen vielmehr hier mitwirken dürfen. Deshalb brauchen wir dringend eine Staatsbürgerschaftsreform, die beim Wahlrecht entsprechend
dafür sorgt, dass die Menschen voll und ganz teilhaben
können.
Das Gleiche gilt für die Behinderten. Die UNKonvention müssen wir umsetzen. Wir haben einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der mit dem Ausschluss der
Betreuten vom Wahlrecht Schluss macht. Ich meine, der
Respekt vor der Verschiedenheit der Menschen gebietet
das, auch der Respekt vor Betreuten und Behinderten,
die vielleicht bei manchen Dingen im Leben Unterstützung brauchen, aber deshalb nicht vollständig entmündigt werden dürfen und auch bei freien Wahlen ihren
Willen artikulieren können müssen.
({10})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Günter Krings von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Beck ist schon recht euphorisch. Er
sprach eben davon, dass das neue Wahlrecht morgen in
Kraft tritt.
({0})
Das Gesetzgebungsverfahren in Deutschland ist ein
wenig komplizierter. Es gibt Art. 82 der Verfassung:
Danach gibt es noch einen Bundespräsidenten, der ausfertigt. Das kann ich Ihnen gleich im Einzelnen noch
einmal erklären. Trotzdem - das ist die Brücke, lieber
Herr Kollege Beck -, ich teile Ihre Begeisterung, dass
wir nun zum Abschluss des parlamentarischen Verfahrens kommen und dieses Gesetz in zweiter und dritter
Lesung hoffentlich heute beschließen können. Wir haben
es gemeinsam gründlich und zügig beraten. Beides zusammen ist, glaube ich, wichtig.
Die Anhörung hat gezeigt: Alle Experten haben die
Verfassungsgemäßheit des Gesetzentwurfes bestätigt.
Daher können wir ihn Ihnen heute hier mit zwei ganz geringfügigen Änderungen guten Gewissens zur Abstimmung empfehlen.
Es bleibt dabei: Dieser Gesetzentwurf verbindet vier
wichtige Ziele. Das ist, wenn man so will, ein Parallelogramm, das nicht einfach zusammenzubekommen ist.
Zunächst einmal ging es um den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Wir ersparen uns alle die nochmalige Definition
dieses Phänomens. Aber das gibt es, Mathematiker
haben es entdeckt. Es soll beseitigt werden.
({1})
Diesen klaren Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
haben wir umgesetzt. Inzwischen gibt es sogar schon
verschiedene Definitionen des negativen Stimmgewichts. Es gibt so weitgehende, dass man bei ihnen sogar
Zweifel haben könnte. Ich glaube aber, dass wir das, was
man realistischerweise als negatives Stimmgewicht bezeichnen kann, mit dem Entwurf beseitigt haben.
Wir haben ein Weiteres getan, nämlich Überhangmandate beseitigt. Das Verfassungsgericht hat gesagt:
Ihr dürft 15 Überhangmandate ausgleichslos stehen lassen. Niemand weiß genau, woher diese Zahl kommt.
({2})
Das soll aber hier kein Thema sein. Aber da sie rational
nicht hinreichend erklärbar ist - so auch das Gericht selber -, haben wir, glaube ich - ich sage das so offen -, gut
daran getan, konsequenter zu handeln als das Gericht
selber, indem wir die Grenze bei null festgelegt haben.
Damit kann man, glaube ich, am ehesten künftigen unerquicklichen Auslegungsstreitigkeiten beim Wahlrecht
aus dem Weg gehen bzw. sie vermeiden.
Wir haben drittens - das ist in der Tat ein zumindest
allgemeinpolitisch, wenn nicht auch verfassungspolitisch wichtiger Punkt - eine extreme Ungleichverteilung
der Mandate in der Bundesrepublik Deutschland verhindert. Das Beispiel ist bekannt, der Kollege Ruppert hat
es genannt. Ich könnte ein anderes nennen, aber ich
bleibe beim Brandenburger Beispiel. Über 300 000
Wähler der CDU in Brandenburg hätten nach einem
Wahlrecht, wie es ursprünglich beispielsweise die Grünen vorgeschlagen haben, leicht ohne einen einzigen
CDU-Abgeordneten aus ihrem Land im Parlament dastehen können. Das wäre, glaube ich, starkes Gift.
({3})
Es wäre geradezu tödlich für die Akzeptanz von Wahlen
in Bundesländern gewesen. Wenn knapp ein Drittel der
Menschen eine Partei wählen, aber keinen einzigen Ver27600
treter dieser Partei aus ihrem Bundesland im Bundestag
vorfinden, kann man darüber philosophieren, ob das verfassungsrechtlich gerade noch so geht. Verfassungspolitisch und demokratiepolitisch wäre es eine große Katastrophe gewesen, meine Damen und Herren.
({4})
Mit diesem Entwurf haben wir ein Weiteres erreicht.
Wir haben keine radikale bzw. grundlegende Abkehr
vom Prinzip der personalisierten Verhältniswahl vorgenommen. Uns als Union hätte der Gedanke eines Mehrheitswahlrechts oder eines halben Mehrheitswahlrechts
durchaus gefallen. Das wäre für uns hervorragend gewesen; dann hätten wir über Koalitionspartner wahrscheinlich gar nicht mehr nachdenken müssen. Meine Damen
und Herren, das wäre aber von den Menschen nicht als
fair empfunden worden; denn das wäre eine grundlegende Abkehr von einem Wahlsystem gewesen, das sich
in über 60 Jahren in Deutschland bewährt hat und das
ein Exportschlager für andere Länder gewesen ist und
immer noch ist.
Aus diesem Grunde ist es gut, dass wir bei dem System mit zwei Stimmen - einer Erststimme im Wahlkreis
und einer Zweitstimme bzw. einer Listenstimme - bleiben. Ich finde es nicht richtig - das sage ich an die
Adresse der Kollegen Oppermann und auch Beck, die
das eben so ein wenig insinuiert haben -, so zu tun, als
ob nur die Zweitstimme eine Bedeutung hat. Beide Stimmen sind bei der Wahl wichtig. Die Stimme, mit der ich
meinen Kandidaten vor Ort aussuche, ist eine ganz wichtige Stimme. Die Geringschätzung oder, wie wir das sehen, die Hochschätzung der Erststimme ist für mich der
Lackmustest der Bürgernähe einer Partei, nämlich ob sie
es wichtig findet, im Wahlkreis den direkten Kontakt zu
den Bürgern zu haben. Deswegen ist es mir wichtig, dass
wir diese beiden Stimmen haben, dass wir ein ZweiStimmen-Wahlrecht behalten.
({5})
Der Erfolg ist natürlich auch, dass wir bei diesem
Wahlrecht vier von fünf Fraktionen an Bord haben. Wir
von Union und FDP haben entgegen anderslautenden
Behauptungen mehrere Versuche gemacht, auch schon
2011 mit anderen Fraktionen ins Gespräch zu kommen
und einen Kompromiss zu finden. Das war damals nicht
möglich. Das haben wir auch respektiert. Das ist uns nun
gelungen; darüber freue ich mich. Ich bedanke mich daher sehr für die gute und konstruktive Zusammenarbeit
bei den Kollegen aus den anderen Fraktionen, bei deren
Mitarbeitern, aber natürlich auch bei den Mitarbeitern
des Bundesinnenministeriums.
Nach dem Dank für die gute und konstruktive Zusammenarbeit wende ich mich mit einer Bitte, mit einer Aufforderung an die Grünen. Es wäre schon gut, wenn wir
jetzt nicht mehr die Kritteleien an dem Gesetzentwurf in
den Mittelpunkt stellen würden, sondern die Gemeinsamkeit des Vorgehens.
({6})
Wir können auch festhalten, dass wir nicht nur bei diesem Gesetzentwurf, sondern auch in anderen Bereichen
wirklich gut zusammengearbeitet haben. Wir haben den
subjektiven Rechtsschutz im Wahlrecht, also den subjektiven Wahlrechtsschutz, eingeführt.
Wir haben vor einigen Tagen die Neuregelung des
Wahlrechts für Auslandsdeutsche herbeigeführt. Der
Kollege Grindel war mit seiner Truppe sogar noch
schneller. Ein Lob an ihn, dass er diese Regelung sehr
schnell und sehr gut hinbekommen hat. Wenn wir nach
der diesbezüglichen Verfassungsgerichtsentscheidung
nämlich nichts gemacht hätten, hätte bei der nächsten
Bundestagswahl kein einziger im Ausland lebender
Deutscher abstimmen können. Das wäre nicht gut gewesen. Es ist gut, dass wir das geschafft haben. Dafür noch
einmal ganz herzlichen Dank.
Herr Kollege Krings, der Kollege Ilja Seifert möchte
Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Krings, Sie alle haben so großen Wert
darauf gelegt, dass das Wahlverfahren demokratisch ist
und dass alle Stimmen gewertet werden sollen. Können
Sie mir jetzt bitte erklären, warum Ihre Fraktion nicht
unserem Antrag zugestimmt hat, Menschen, die unter
Betreuung stehen - ich habe dieselbe Frage schon Herrn
Oppermann gestellt -, das Wahlrecht zu geben?
({0})
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung,
Mitglied Ihrer Fraktion, der Kollege Hüppe, will das genauso und hat genau die gleichen Argumente wie ich
und wie viele andere, etwa das Deutsche Institut für
Menschenrechte. Es gibt überhaupt kein Erkenntnisproblem. Es gibt nur noch die Frage: Warum setzen Sie
nicht um, dass diese Menschen bei der nächsten Bundestagswahl wählen dürfen?
Ich bedanke mich, Herr Kollege Seifert, für die Frage,
weil sie wichtig und berechtigt ist. Ich kann sie leicht beantworten. Ich teile Ihre Prämisse nicht, dass es hier in
Bezug auf die schlussfolgernde Analyse eine einheitliche Meinung gibt und nur die Umsetzung fehlt.
Erst einmal müssen wir - das liegt sicherlich auch in
Ihrem Interesse - die Menschen an den Fernsehgeräten
oder diejenigen, die die Debatte nachlesen, auf eines hinweisen: Es gibt in Deutschland ein Behindertenwahlrecht.
({0})
Wenn wir so tun - das ist sicher nicht Ihre Absicht -, als
ob es das nicht gäbe, ist das sehr gefährlich. Behinderte
Menschen in Deutschland dürfen wie nichtbehinderte
Menschen selbstverständlich ihre Stimme abgeben. Es
gibt dazu auch vielfältige Hilfen,
({1})
übrigens auch für solche, die des Lebens und Schreibens
nicht kundig sind. Auch diese können wählen. Sie können sich einer Hilfsperson bedienen. Es gibt an dieser
Stelle keinen Handlungsdruck.
Das Wahlrecht gilt nicht nur für behinderte Menschen, sondern es gilt auch für Menschen, die unter
Betreuung stehen. Auch Menschen, die unter Betreuung
stehen, können ihr Wahlrecht in aller Regel ausüben.
Unter den Betreuten wiederum gibt es eine ganz kleine
Gruppe von Menschen, die dauerhaft und in allen
Lebensangelegenheiten unter Betreuung stehen. Das
sind wirklich Schwerstbehinderte.
Da kann man natürlich darüber sprechen - insofern ist
das vielleicht ein theoretisches Anliegen -, inwieweit
diese Menschen überhaupt in der Lage sein werden, ihren Willen so zu bilden und zu artikulieren, dass eine
Teilnahme an der Wahl überhaupt möglich sein wird. Es
ist wichtig, festzuhalten, dass zurzeit nur diese vom
Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das stellt auch nach
Meinung aller Experten, die jedenfalls ich dazu gehört
habe, keinen Konflikt mit der UN-Konvention dar. Das
machen andere Länder ähnlich.
Aber eines ist wichtig. Ich bin sehr dafür, dass wir
noch einmal schauen: Wie ist die Praxis des Betreuungsrechts in Deutschland? Ab wann werden Menschen unter
Betreuung gestellt? Ich warne nur davor, das Thema der
vollständigen und dauerhaften Betreuung - das sind nur
ganz wenige extreme Fälle - von der Frage des Wahlrechts zu trennen. Was nützt es dem schwerstbehinderten
Menschen, wenn er zwar bei der Wahl seine Stimme abgeben kann, aber nicht einmal in der Lage ist, vorher
eine Zeitung zu kaufen, um festzustellen: Was oder wer
steht überhaupt zur Wahl?
Wir müssen auch aufpassen, dass wir das Wahlrecht
nicht als ein minderwertiges Recht ansehen, indem wir
sagen: Es kann zwar selbst der einfachste Kaufvertrag
nicht abgeschlossen werden - das ist nämlich die Folge
des Betreuungsrechts -, nicht einmal Schokolade oder
ein kleiner Gegenstand kann gekauft werden, aber wählen darf man.
Ich glaube, den Menschen, die vielleicht im Einzelfall
zu Unrecht unter vollständiger Betreuung stehen, wäre
nicht damit geholfen, wenn wir sagen: Wir geben euch
das Wahlrecht zurück, aber alles andere dürft ihr weiterhin nicht. - Wir müssen vielmehr noch kritischer prüfen,
ob vielleicht im Einzelfall eine vollständige Betreuung
zu leichtfertig ausgesprochen wird. Dazu wird jetzt ein
Gutachten von der Bundesregierung in Auftrag gegeben.
Ich halte das für wichtig.
Aber noch einmal: Ich würde davor warnen, vollständige Betreuung und Wahlrecht zu trennen. Ich glaube, es
gibt gute Gründe dafür, das zusammenzunehmen. Ich
fürchte nämlich, wenn wir es trennen würden, könnte
das dazu führen, dass Stimmen in diesem Land sagen:
Gibt es nicht viele Missbrauchsfälle? Müssen wir nicht
noch viel kritischer hinschauen und sogar Menschen, die
nicht unter vollständiger Betreuung stehen, das Wahlrecht nehmen? - Diese Diskussion möchte ich nicht haben. Denn wichtig ist mir: Menschen mit Behinderung
können in Deutschland wählen, genau wie Menschen
ohne Behinderung in Deutschland wählen können.
({2})
- Wenn noch eine weitere Frage gewünscht ist, gerne.
Bitte schön, Herr Seifert.
Zu Ihrer Argumentation mit dem Missbrauch: Missbrauch ist schon verboten. Man kommt eh schon vor den
Kadi, wenn man das Wahlrecht missbraucht. Das
braucht man nicht mehr zu beschließen. Das ist zum
Glück so geregelt.
Aber, bitte schön, warum wollen Sie ein Wahlrechtsproblem nicht im Wahlgesetz lösen, sondern im Betreuungsrecht? Das ist überhaupt nicht zu verstehen. Dass
wir im Betreuungsrecht noch viel zu tun haben, darin
stimmen wir durchaus überein. Da haben wir ganz dicke
Bretter zu bohren. Aber ein Wahlrechtsproblem muss
man im Wahlrecht lösen und nicht irgendwo anders.
Wir können darüber gerne noch einmal ausführlicher
diskutieren. Es gibt aber so etwas wie die Einheit der
Rechtsordnung. Ich glaube, es gibt durchaus Wechselbezüglichkeiten zu der Möglichkeit eines Menschen, überhaupt als Geschäftsfähiger Geschäfte zu tätigen. Auch
der Wahlvorgang ist eine rechtsverbindliche bzw. rechtlich relevante Erklärung. Von daher kann man das schon
verbinden.
Ich beispielsweise finde auch den Gedanken interessant, den, glaube ich, der Kollege Ruppert in einer Besprechung eingebracht hat, nämlich ob man nicht beispielsweise in der Tenorierung eines Urteils, durch das
die Betreuung angeordnet wird, gleichzeitig über das
Thema Wahlrecht mitentscheidet, damit klar ist, dass es
auch um das Wahlrecht geht.
Sie sehen schon, es gibt vielfältige Möglichkeiten, ob
und wie man reagieren kann. Ich bin gerne bereit, dieses
Gespräch weiterzuführen, aber ich glaube, es gibt gute
Gründe, das nicht in dem heutigen Gesetzentwurf zu thematisieren. - Vielen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe eben auf das
Wahlrecht für Auslandsdeutsche hingewiesen. Das war
ein wichtiger Punkt.
Ich hätte übrigens an dieser Stelle der Rede noch etwas zum Behindertenwahlrecht gesagt, aber das muss
ich jetzt nicht mehr tun.
Ich will aber noch etwas zu dem sagen, was vielfältig
angeklungen ist, nämlich zur Frage des Wahlrechts für
Ausländer, und zwar für Nicht-EU-Ausländer. Auch dabei gibt es wieder ein Missverständnis: Natürlich können
EU-Ausländer bei Kommunalwahlen wählen. Es geht
um die Ausländer aus Drittstaaten.
Wenn hier für Kommunalwahlen oder teilweise auch
allgemein ein Wahlrecht gefordert wird, dann muss ich
sagen: Wir als Union jedenfalls haben ein etwas anderes
Verständnis. Wir werben darum, dass möglichst viele
ausländische Mitbürger, die hier länger leben, sich einbürgern lassen. Wir wollen, dass sie die vollen Rechte einer deutschen Staatsbürgerschaft haben. Wir wollen sie
nicht auf eine Art Staatsbürgerschaftsrecht light verweisen und sagen: „Ihr kriegt bei den Kommunalwahlen ein
Wahlrecht“, und das reicht uns dann.
Nein, wir wollen die volle Integration, und die ist, wie
ich finde, mit der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft als Schlusspunkt erreicht. Dann gibt es das Wahlrecht nicht nur bei Kommunalwahlen, sondern auch bei
Landtags- und Bundestagswahlen.
Um es auf den Punkt zu bringen und das Thema der
doppelten Staatsbürgerschaft noch einmal anzusprechen,
das eben schon genannt worden ist: Doppelte Staatsbürgerschaft heißt letztlich auch doppeltes Stimmgewicht,
zwar in verschiedenen Staaten, aber immerhin. Das, was
von den Grünen und anderen im Wahlrecht immer als
Gift bezeichnet wird, wird außerhalb des Wahlrechts auf
einmal als normal hingenommen. Auch das ist, glaube
ich, ein Punkt, über den man noch einmal nachdenken
sollte. Ich glaube, es ist richtig, dass wir auch dieses
Thema in dieser Reform, die wichtig war, nicht ansprechen.
Herr Kollege Krings, Herr Kollege Beck würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte schön.
Ich würde gerne verstehen, warum das doppelte
Stimmgewicht und die doppelte Staatsbürgerschaft bei
manchen ein Problem ist und bei anderen nicht. Sie haben einen Ministerpräsidentenkandidaten gehabt,
McAllister, der einen britischen und einen deutschen
Pass hat. Da hat es offensichtlich niemanden in der
Union gestört, dass er doppeltes Stimmgewicht hat.
Bei dem türkischen Gemüsehändler bei mir um die
Ecke und seinem Sohn ist das offensichtlich ein riesiges
Problem.
({0})
Deshalb stellen wir den Sohn vor die Entscheidung, die
die Optionsregelung mit sich bringt.
Können Sie mir erklären, warum in manchen Fällen
- bei Kindern von binationalen Paaren, bei EU-Ausländern, bei Ländern, mit denen wir entsprechende Abkommen haben - die doppelte Staatsbürgerschaft uns kein
Problem bereitet, wir aber bei diesen komischen Türken,
die bei uns leben,
({1})
auf einmal ein Riesenbohei machen, wenn es um eine
doppelte Staatsbürgerschaft geht? Das kommt mir etwas
eigenartig vor. Ich würde gerne verstehen, ob es da eine
Ratio gibt oder ob die Ratio, wie ich glaube, doch eigentlich dem Vorurteil gehorcht.
Herr Kollege Beck, ich will Ihnen gerne zugestehen,
dass Sie das mit den „komischen Türken“ ironisch gemeint haben. Aber nicht einmal als Ironie sollten wir
hier im Hause einen solchen Begriff benutzen, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Es ist in der Tat so - das werden Sie wissen -:
Deutschland ist Mitglied der Europäischen Union. Ich
glaube nicht, dass Sie etwas dagegen haben. Natürlich
überformt europäisches Recht nationales Recht. Insofern
gibt es schon einen Unterschied bezüglich Menschen aus
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und denen, die
nicht aus der EU sind. Das würde auf den von Ihnen genannten Ministerpräsidenten von Niedersachsen zutreffen.
({1})
- Ja, er kommt vielleicht bald wieder, nicht?
({2})
Von daher ist das ein durchaus triftiger, sachlicher
Grund.
Es gibt ferner - Sie haben es angedeutet - auch familiäre Konstellationen, in denen es zu unzumutbaren Härten führen würde, keine doppelte Staatsbürgerschaft auszusprechen. Die Beispiele beweisen, dass unser Recht
sehr flexibel und sehr human auf diese Anliegen reagiert.
({3})
Aber wenn sich jemand entscheidet, dauerhaft hier in
Deutschland zu leben, dann soll er sich auch zur deutschen Staatsbürgerschaft bekennen. Dann ist in diesen
Fällen eine doppelte Staatsbürgerschaft nicht zwingend
erforderlich. - Vielen herzlichen Dank.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist ja auch viel darüber
gerätselt worden - es sind sogar klare Prognosen abgegeben worden -, was dieses Wahlrecht denn für die
Größe des Bundestages bedeutet. Zunächst einmal ist es
ein guter Zeitpunkt, dass wir heute dieses Wahlrecht verabschieden können, weil wir seit einigen Tagen auch den
Wahltermin kennen, den 22. September. Ich würde doch
allen, die jetzt schon genau wissen, wer die Wahl gewinnen wird oder wie groß der nächste Bundestag sein wird,
raten, aus Respekt vor den Wählerinnen und Wählern
unseres Landes den 22. September dieses Jahres abzuwarten.
({5})
Ich rate deshalb von allen wilden Prognosen nicht nur
über den Wahlausgang, sondern auch über die Bundestagsgröße ab. Das betrifft auch die Frage, wie viele
Überhangmandate, wie viele Ausgleichsmandate am
22. September anfallen werden, und das betrifft auch die
oftmals schon reflexhafte Klage über die Vergrößerung
des Bundestags. Ich halte das für unsinnig.
Wenn man - ich will hier nicht nach vorn schauen; ich
will nicht irgendwelche nicht haltbaren Prognosen aufstellen - das Ergebnis der letzten Bundestagswahl zugrunde legen würde - das darf man, glaube ich, einmal
sagen -, wäre der Bundestag zwar etwas größer geworden - weil wir uns leider mit unserem Wahlrecht nicht
haben durchsetzen können -, aber diese Vergrößerung
wäre in einem Maße geschehen, dass die Bundesrepublik Deutschland immer noch das zweitkleinste Parlament innerhalb der Europäischen Union, gemessen an
unserer Bevölkerungszahl, hätte. Ich glaube, das sind
keine dramatischen oder unzumutbaren Zustände. Auch
das muss man in die richtige Perspektive rücken.
Ich halte es für uns alle gemeinsam, hoffe ich, für besorgniserregend, dass in weiten Teilen unserer Gesellschaft das Parlament offenbar in erster Linie als Kostenfaktor angesehen wird. Zum einen ist es wichtig, dass
wir dann als Parlamentarier gemeinsam für unsere Arbeit werben, gemeinsam dieser reinen Betrachtung des
Parlaments als Kostenfaktor entgegentreten. Denn wir
haben nur diese Demokratie, wir sollten sie verteidigen.
Zum anderen müssen wir natürlich das ernst nehmen,
was an Kritik kommt, warum so viele Menschen die Arbeit des Bundestages nicht mehr positiv wahrnehmen,
sondern eher negativ als Kostenfaktor. Das sollte vielleicht auch stilbildend für den Wahlkampf werden, den
wir im Sommer dieses Jahres führen werden: dass wir
auch immer im Auge behalten, dass es nicht nur darum
geht, den Nutzen für die eigene Partei zu mehren, sondern auch zu schauen, wie wir das Vertrauen in die Institution Bundestag wiederherstellen können, sodass man
uns in dieser Republik nicht ausschließlich als Kostenfaktor ansieht.
Lassen Sie mich einen allerletzten Punkt ansprechen.
Natürlich hat der Bundestag auch bei diesem Gesetz eine
Gesetzesbeobachtungspflicht nach der Verabschiedung
heute. Ich bin der Auffassung - wie das die Redner vor
mir gesagt haben -: Wir müssen nach der Wahl natürlich
analysieren, ob das Wahlgesetz wirklich zu einer unangemessenen Vergrößerung des Bundestages geführt hat.
Ich rechne zwar nicht damit, aber es ist natürlich nicht
auszuschließen. Der Gesetzgeber wird dann gegebenenfalls darauf zu reagieren haben.
Ich finde es wichtig und notwendig, dass wir auch das
dann wieder in einem parteiübergreifenden Konsens machen, und ich finde, dass wir diesen Konsens in einer
formalen Weise am ehesten dauerhaft sicherstellen können, wenn wir über eine jedenfalls teilweise Verankerung des Wahlrechts in der Verfassung nachdenken, dass
wir also Grundzüge unseres Wahlsystems in unsere Verfassung schreiben. Das würde garantieren, dass die Weiterentwicklung des Wahlrechts immer von mindestens
zwei Dritteln dieses Hauses getragen werden würde.
Meine Damen und Herren, sollten aus der Bundestagswahl im September also Konsequenzen im Wahlrecht gezogen werden müssen, so sollten diese Konsequenzen aus meiner Sicht im Grundgesetz gezogen
werden.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Dieter
Wiefelspütz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in dieser Debatte wenig Streit. Das würde mir
jetzt auch nicht gelingen, in eine einvernehmliche Debatte Streit hineinzubringen. Lassen Sie mich aber mit
dem beginnen, bei dem es vielleicht doch die eine oder
andere Kontroverse gibt: beim kommunalen Ausländerwahlrecht.
Herr Krings, Sie haben hier die Position Ihrer Fraktion vorgetragen. Die Union ist mit dieser Position hier
im Hause allein. Das muss nichts Schlimmes sein.
({0})
Ich weise nur darauf hin, dass die Oppositionsfraktionen
und die FDP an dieser Stelle anderer Auffassung sind.
Ich bitte Sie sehr nachdrücklich darum, diese Diskussion
in Ihrer Fraktion bzw. in Ihrer Partei fortzuführen. Ich
verstehe ernsthaft nicht, warum Sie Angst oder Beden27604
ken haben. Wir sind gemäß unserem Menschenbild - ich
denke, gemeinsam - der Auffassung, dass Teilhabe, Partizipation, Übernahme von Verantwortung und Aktivbürgerschaft in unserer parlamentarischen Demokratie
herausragende Elemente sind. Deswegen sollte jedes Instrument, das geeignet ist, diese zu befördern, genutzt
werden. Ich bin der Auffassung, dass das kommunale
Ausländerwahlrecht für Drittstaatsangehörige in Sachen
Integration kein Patentrezept darstellt. Aber es handelt
sich um einen nicht unwichtigen Baustein, weil Wahlrecht auf kommunaler Ebene ein zentrales und wichtiges
Recht der Bürgerinnen und Bürger ist. Wenn wir den
Drittstaatsangehörigen, die seit Jahren in Deutschland zu
Hause sind, nicht dieses Recht gewähren, schließen wir
locker 2 Millionen bis 3 Millionen Menschen von dieser
demokratischen Teilhabe aus. Warum sollte das, was auf
EU-Ebene funktioniert, nicht auch bei Menschen funktionieren, die aus der Türkei oder Nordafrika zu uns gekommen sind und seit Jahren in Deutschland leben, ohne
bislang die deutsche Staatsangehörigkeit zu haben?
Also, bitte, haben Sie keine Angst vor dem Ausländerwahlrecht für Drittstaatsangehörige, und bewegen Sie
sich an dieser Stelle! Sie sind mit Ihrer Position allein im
Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU. Hier besteht massiver Änderungsbedarf. Deswegen werbe ich sehr dafür, dem, wenn nicht
heute, so doch hoffentlich in Zukunft zuzustimmen.
Das Wahlrecht für Behinderte wurde bereits kurz angesprochen. Das wird ein großes Thema in der kommenden Wahlperiode sein. Die Zeit ist zu knapp, um das jetzt
noch zu regeln, einfach so. Herr Kollege Seifert, auch
aus Respekt vor Ihrem Anliegen ist es sachgerecht, uns
Zeit für eine ernsthafte Betrachtung dieses Themas zu
nehmen. Ich bin gemeinsam mit meiner Fraktion der
Auffassung, dass die gegenwärtige Rechtslage unzureichend und verfassungsrechtlich bedenklich ist. Bislang
gilt die Fiktion bzw. der Automatismus, dass das Wahlrecht entfällt, wenn Vollbetreuung besteht. Das ziehen
wir in Zweifel. Das halten wir für hoch problematisch,
wenn nicht sogar für verfassungswidrig. Das müssen wir
anpacken. Was wir aber anstelle dessen machen, Herr
Seifert, muss in aller Ruhe überdacht werden. Wir sollten im Parlament einen seriösen Diskussionsprozess einleiten, um hier zu einem guten Ende zu kommen.
({1})
Ich will noch ein Thema aufgreifen, das nicht unmittelbar Gegenstand der heutigen Gesetzgebung ist: Wahlrecht und Analphabetentum. Ich sage freimütig - ich
schließe mich da ein -, dass wir das bislang völlig unterschätzt bzw. ausgeblendet haben, weil wir vielleicht zu
selbstverständlich davon ausgehen, dass jeder lesen und
schreiben kann. Das ist aber nicht der Fall. In Deutschland gibt es Millionen Menschen, die entweder voll und
ganz Analphabeten sind oder - technisch ausgedrückt funktionale Analphabeten, also mehr oder weniger Analphabeten sind. Hier bestehen im Zusammenhang mit
dem Wahlrecht Beeinträchtigungen, Hemmungen, Erschwernisse und sogar Diskriminierungen, die vielleicht
gar nicht beabsichtigt sind, sich aber tatsächlich auswirken. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Ich habe
keine perfekte Lösung. Aber man wird daran arbeiten
müssen. Es wird ein großes Thema in der nächsten
Wahlperiode sein, Millionen Menschen, die ein Problem
mit Lesen und Schreiben haben, die Teilhabe zu erleichtern. Dieses Thema hat der Deutsche Bundestag in den
vergangenen Jahren völlig ausgeblendet. Er hat es nicht
zur Kenntnis genommen. Dieses Thema müssen wir anpacken.
Im Mittelpunkt stehen heute Überhangmandate, Ausgleichsmandate und das negative Stimmgewicht. Dazu
ist bereits alles gesagt worden, was dazu gesagt werden
kann. Wir haben eine ordentliche Debatte geführt und
einvernehmliche Ergebnisse erzielt. Wir haben ein solides Wahlrecht. Es war bislang zu 98 bzw. 99 Prozent gut
und überzeugend. Aber dieses eine oder die zwei Prozent - Überhangmandate und negatives Stimmgewicht stellen ein großes Problem dar. 1 Prozent oder 2 Prozent
mag dem einen oder anderen wenig erscheinen. Aber
wenn Wahlen knapp ausgehen, sind genau diese Margen
gigantisch. Ich darf einmal daran erinnern: Wie knapp es
zugehen kann, zeigte sich auch bei der letzten Wahl in
Niedersachsen. Da ging es, glaube ich, um 0,4 Prozent
der abgegebenen Stimmen.
Dieses Problem haben wir jetzt verfassungskonform
gelöst. Insoweit ist das ein guter Tag. Wahlrecht ist Wettbewerbsrecht in der parlamentarischen Demokratie, und
dieses Wettbewerbsrecht muss fair, transparent, klar und
sauber sein. Das war es eben nicht; das hat uns Karlsruhe
sehr deutlich bescheinigt. Dies reparieren wir heute einvernehmlich, und das ist eine gute Botschaft. Einvernehmlich war das nur deshalb möglich, weil alle Beteiligten bis auf die Linksfraktion aufeinander zugegangen
sind. Sie haben ihre Interessen zwar nicht verleugnet,
aber doch auch die Interessen der jeweils anderen Gruppierungen ernst genommen. Diese Grundbedingung für
einen Kompromiss ist beherzigt worden. Deswegen gab
es einen guten, soliden Kompromiss. Dafür sind wir ausgesprochen dankbar. Insofern können wir mit fairen
Wettbewerbsbedingungen in den Wahlkampf eintreten.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Serkan
Tören das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich kurz etwas zu den gesonderten Anträgen der
Opposition zum kommunalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige sagen.
Professor Ingo von Münch, seinerzeit stellvertretender Bürgermeister in Hamburg und FDP-Mitglied, hat
schon vor Jahrzehnten über diese Thematik gesprochen
und sich darüber Gedanken gemacht. Die FDP-Bundestagsfraktion kann sich über eine Länderöffnungsklausel
durchaus ein kommunales Wahlrecht für Ausländer vorSerkan Tören
stellen. Die Bundesländer sollen selbst entscheiden können, ob sie ein kommunales Wahlrecht für Ausländer
wollen oder nicht. Unser Ideal ist, dass die Bürger vor
Ort über möglichst viel entscheiden, was sie betrifft.
Was am besten vor Ort entschieden werden kann, soll
auch vor Ort entschieden werden.
({0})
Den Bürgern vor Ort kommt für uns daher eine besondere Bedeutung zu. Gerade weil wir den Entscheidungen
in den Kommunen einen so hohen Stellenwert einräumen, können wir das Recht, an ihnen teilzuhaben, nicht
ohne jede Bedingung vergeben. Genau das ist aber das
Ziel der Anträge der Opposition. Das Wahlrecht soll
überwiegend an den Wohnort gekoppelt und unabhängig
von bestimmten Bedingungen sein. Diese Richtung mag
zwar richtig sein; nur schießen Sie über das Ziel hinaus.
Wer sich in seiner Gemeinde einbringen will, muss
mit den Gegebenheiten vor Ort, zumindest aber mit denen in Deutschland vertraut sein. Das ist meines Erachtens nur gegeben, wenn jemand mindestens fünf Jahre in
Deutschland gelebt hat. Damit bekämen all diejenigen
das kommunale Wahlrecht, die in Deutschland aufgewachsen sind, aber auch Angehörige der ersten Generation, die eingewandert sind und sich nicht für die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden haben. Der große
Unterschied zum Vorschlag der Opposition aber ist, dass
nicht jeder, der von außerhalb der EU nach Deutschland
kommt, sofort mitentscheiden darf, sondern nur diejenigen, die ausreichend lange bei uns leben.
Die FDP wird heute die Gesetzentwürfe der Opposition ablehnen. Für die Integration in unserem Land ist
das kein Problem; da mag die Opposition noch so laut
tönen. Internationale Studien zeigen immer wieder, dass
die Wahlbeteiligung von Ausländern bei Kommunalwahlen deutlich niedriger ist als die der Staatsangehörigen. Die Beispiele Kanada, wo es ein kommunales
Wahlrecht für Ausländer gibt, und Norwegen verdeutlichen das. Ganz offensichtlich gehört das kommunale
Wahlrecht für Ausländer nicht zu den drängendsten Zielen der Betroffenen selbst. Umso wichtiger ist es, dass
wir hier für die deutsche Staatsangehörigkeit werben.
Wer Deutscher geworden ist, engagiert sich weitaus stärker als derjenige, der noch nicht Deutscher geworden ist.
Das Ziel muss die volle Staatsangehörigkeit sein.
({1})
Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer aus Drittstaaten kann zwar eine Hilfe sein; ein bedingungsloses
Wahlrecht, wie von den Vertretern von SPD, Grünen und
Linken gefordert, ist aber keine Hilfe.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Mir liegen drei Erklärungen zur Abstimmung gemäß
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wir nehmen diese
Erklärungen entsprechend unserer Geschäftsordnung zu
Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes. Der Innenaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12417, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11819 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12417, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/11821 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der antragstellenden Fraktion Die Linke ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 9 b. Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des
Grundgesetzes, Art. 28 Abs. 1. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12424, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1047 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Da-
mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Grundgesetzes, Art. 28 Abs. 1 - Kommunales Aus-
länderwahlrecht. Der Innenausschuss empfiehlt unter
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Petra Pau
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12424, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1150 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Tagesordnungspunkt 9 c. Wir setzen die Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf
Drucksache 17/12424 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1146 mit dem Titel „Kommunales Wahlrecht für
Drittstaatenangehörige einführen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Axel Troost,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Einstieg in gute öffentlich geförderte Beschäftigung beginnen
- Drucksache 17/12377 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Agenda 2010 wird in diesem Jahr zehn
Jahre alt. Damit begann Rot-Grün einen Systembruch:
Sozialstaat ade. Rot-Grün wollte nun die Arbeitslosigkeit durch einen aktivierenden Sozialstaat senken, nach
dem Prinzip „Fördern und Fordern“.
({0})
Wie sieht es heute, zehn Jahre danach, aus? Nach amtlichen Angaben waren Ende letzten Jahres über 1 Million
Menschen langzeiterwerbslos. Im letzten Jahr sank die
Zahl der Langzeiterwerbslosen auch nur um 1 Prozent,
und das, obwohl die Unternehmen in Deutschland gute
Geschäfte gemacht haben und Arbeitnehmer gefragt waren. „Fördern und Fordern“ hat nicht wirklich gut funktioniert.
({1})
Nun hat diese Bundesregierung beschlossen, die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den kommenden
Jahren zu reduzieren.
({2})
Das hat bereits jetzt Auswirkungen auf die beschäftigungschaffenden Maßnahmen, die die Bundesagentur finanziert: Die Zahl der Teilnehmer an diesen Maßnahmen
ist zwischen 2010 und 2012 um 46 Prozent gesunken.
({3})
Das sind schlechte Nachrichten für Menschen, die langzeitarbeitslos sind. Statt den Menschen Mut zu machen
und ihnen eine Perspektive zu geben, werden sie mit
Sanktionen unter Druck gesetzt. Ihre Würde wird aufs
Schärfste verletzt. Dafür muss sich diese Bundesregierung eigentlich schämen.
({4})
Wenn man sich dieses Jahr anschaut, dann sind die
wirtschaftlichen Prognosen schlechter als im vergangenen Jahr. Deshalb brauchen wir einen sofortigen Wechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Seriöse Untersuchungen
zeigen, dass die meisten Langzeiterwerbslosen nicht nur
arbeiten wollen, sondern auch gute Leistungen erbringen
können, wenn sie die Chance dazu bekommen. Arbeit
bedeutet Bestätigung und Selbstwertgefühl. Aber es
fehlt das Angebot an Arbeitsplätzen. Das allein privaten
Unternehmen zu überlassen, ist aussichtslos. Private Unternehmen sind keine Sozialvereine. Ihr Ziel ist es, Gewinne zu machen. Soziale Gesichtspunkte sind oftmals
nur Nebeneffekte. Die Unternehmen haben nicht ausreichend Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose geschaffen.
Deshalb fordert die Linke den Aufbau eines öffentlich
geförderten Beschäftigungssektors, ÖBS. Den gab es
schon einmal in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin,
und das war erfolgreich.
({5})
In unserer Gesellschaft gibt es nach wie vor viele Bereiche, in denen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit geleistet werden müsste. Aber mit denen ist oftmals kein Profit
zu machen. Diese Lücke muss öffentliche Beschäftigung
dringend schließen.
({6})
Wir wollen mit dem ÖBS weg von demütigenden Formen von Beschäftigungstherapien wie 1-Euro-Jobs, weg
von öffentlich geförderten Niedriglöhnen, die ergänzende Sozialleistungen notwendig machen, hin zu sinnvoller Arbeit und einer mittelfristigen Perspektive. Diese
Arbeit muss vernünftig tariflich bezahlt werden. Wo
keine Tarife bestehen, muss es einen Rechtsanspruch auf
einen Mindestlohn von 10 Euro geben, auch bei ÖBS.
({7})
Wir haben die Vorschläge zur Einrichtung eines
sozialen Arbeitsmarktes, die SPD und Grüne im Herbst
gemacht haben, zur Kenntnis genommen. Wir können
uns diesen Vorschlägen aber nicht anschließen; denn sie
brechen nicht mit der Logik der Agenda 2010. Die Linke
will mit einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor eine grundlegende Abkehr von den Prinzipien
erreichen, die der Agendapolitik zugrunde lagen. Wir
wollen gute Arbeit für Langzeiterwerbslose. Schluss mit
jeder Form von Sanktionen!
({8})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias
Zimmer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Frau Krellmann, ich hatte bei Ihrer Rede über weite Strecken die Anmutung einer argumentativen Notwasserung.
({0})
Es ist beinahe ein Déjà-vu, das ich beim Antrag der Linken habe: einmal mehr öffentlich geförderte Beschäftigung. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode,
während der Krise, damit beschäftigt. Jetzt, nach der
Krise, kommen Sie wieder mit der öffentlich geförderten
Beschäftigung. Für jede Lebenslage schlagen Sie vor:
öffentlich geförderte Beschäftigung. Es ist schon richtig,
Frau Krellmann: Wer nur einen Hammer hat, für den sehen alle Probleme aus wie Nägel. - Das ist ein bisschen
einfältig.
({1})
Aber nun gut; ich habe mir sagen lassen: Früher, als Sie
noch Hammer und Sichel hatten, war es auch nicht besser.
({2})
Schauen wir uns Ihren Antrag einmal an. Da sprechen
Sie von einer hohen Langzeiterwerbslosigkeit, vergessen
aber, zu vermelden: In den letzten Jahren wurde die Zahl
der Langzeiterwerbslosen aufgrund der Erfolge der
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung fast halbiert. Da beklagen Sie, dass wir Maßnahmen zusammengestrichen hätten, die Langzeiterwerbslosen neue
Perspektiven eröffnen. Das einzige Programm, das wir
tatsächlich deutlich gekürzt haben, ist das Existenzgründerprogramm; da gab es zu viele Mitnahmeeffekte. Aber
dass sich ausgerechnet Ihre Partei, das zum Programm
gewordene Investitionshindernis, als Schutzpatron der
Selbstständigen aufspielt, ist schon ein starkes Stück.
({3})
Dann kritisieren Sie, wir hätten in der Arbeitsmarktund Beschäftigungsbeförderung eingespart. Sie verschweigen allerdings, dass wir die Mittel für Programme
der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsförderung auf dem
Höhepunkt der Krise deutlich nach oben gefahren haben.
Trotz der danach vorgenommenen Reduzierung geben
wir heute pro Kopf mehr für die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt aus als vor der
Krise. Aber das passt natürlich nicht in Ihr Weltbild.
Gibt es mehr Arbeitslose, muss mehr Geld ausgegeben
werden; gibt es weniger Arbeitslose, muss auch mehr
Geld ausgegeben werden. Wer so rechnet, dem bleibt am
Ende natürlich nichts anderes übrig, als die Steuern zu
erhöhen und zu behaupten, in Deutschland gebe es ohnehin zu viele Reiche. Da zeigt sich schon, liebe Frau
Krellmann, dass Adenauer recht hatte: Alles was die Sozialisten vom Geld verstehen, ist die Tatsache, dass sie
es von anderen haben wollen.
({4})
Frau Krellmann, richtig amüsiert hat mich ein Lapsus
Linguae in Ihrem Antrag, weil er ein wenig verrät,
worauf Sie eigentlich hinauswollen. Sie sprechen vom
Instrument des Aktiv-Passiv-Transfers, meinen aber offensichtlich den Passiv-Aktiv-Transfer, also die Zusammenführung passiver Leistungen zur Aktivierung am
Arbeitsmarkt. Das kann in der Aufregung passieren;
aber wie gesagt: Es wirft eben auch ein Licht auf Ihre
Gedankenwelt. Denn beim Begriff „Aktiv-Passiv-Transfer“ hatte ich sofort das bedingungslose Grundeinkommen vor Augen, also die Finanzierung der Passivität
durch die wenigen noch verbliebenen Aktiven.
({5})
Es ist schon erstaunlich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken: Die Marx-Rezeption der Linken ist am
Ende bei Paul Lafargue angekommen, jenem Schwiegersohn von Karl Marx, der mit seinem Buch Das Recht auf
Faulheit sowohl Marx als auch Engels zur Weißglut gereizt hat. Aber das ist eben auch Stand der Debatte bei
den Linken, und ich kann es Ihnen nicht verdenken; die
Toskana-Fraktion der Salonsozialisten unter Oskar
Lafontaine lässt grüßen.
({6})
Dazu passt natürlich, dass Sie in Ihrem Antrag beklagen, dass wir auf eine schnelle Vermittlung in Arbeit
setzen. Ja, worauf denn sonst? Wenn ich der öffentlich
geförderten Beschäftigung etwas abgewinnen könnte,
dann doch nur dies: dass sie Menschen in Arbeit bringt,
wo es der Markt im Augenblick nicht kann. Selbst bei
der öffentlich geförderten Beschäftigung gilt: Es ist Arbeit und keine Einladung zum Wohlergehen auf Kosten
der öffentlichen Hand.
Aber zurück zu Ihrem Antrag. Ich meine, dass wir
diese Form der öffentlichen Beschäftigung im Augenblick nicht brauchen. Die bisher bereitgestellten Instrumente sind ausreichend.
({7})
Die ganze Hilflosigkeit Ihres Antrags zeigt sich auch in
der Vermischung mit den alten üblichen Forderungen:
Mindestlohn von 10 Euro, Verweis auf drohende Altersarmut, Beschwerde darüber, dass es Sanktionen gibt,
also der ganze Reigen der sozialistischen Folklore, der
uns seit vielen Jahren begleitet. Das ist alles legitim, am
Ende jedoch nichts als alter Wein in noch älteren Schläuchen, eine Politik von gestern, die wir im Interesse einer
Chancengesellschaft von morgen ablehnen.
({8})
Die Kollegin Katja Mast hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Einmal mehr debattieren wir hier im
Hohen Hause über die Teilhabe und Integration von
Langzeitarbeitslosen.
({0})
Einmal mehr müssen wir feststellen, dass die Bundesregierung - im Gegensatz zu der Behauptung meines
Kollegen Zimmer - keine Antworten hat;
({1})
denn sonst würden hier Anträge von Ihnen vorliegen.
Bereits im November haben wir die Anträge von SPD
und Grünen diskutiert; heute diskutieren wir den von der
Linken. Von der Regierungskoalition liegt kein Antrag
vor.
({2})
Herr Kollege Zimmer, es stimmt eben nicht, dass die
Bundesregierung nur die Existenzgründungsförderung
für Langzeitarbeitslose abgeschafft hat.
({3})
- Reden Sie einmal mit den Gründerinnen und Gründern, die keine Zuschüsse mehr bekommen. Was Sie gemacht haben, ist de facto eine Abschaffung.
({4})
Lassen Sie uns aber beim Thema bleiben. Es geht um
die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Das sind die
Menschen, über die Ihr ehemaliger Parteivorsitzender
gesagt hat, sie wären spätrömisch dekadent, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
({5})
- Schreien hilft auch nicht, Herr Kober. Stellen Sie doch
eine Zwischenfrage!
({6})
Setzen Sie sich mit den langzeitarbeitslosen Menschen auseinander, die in Beschäftigungsprojekten arbeiten, die in einem Laden der „Tafel“ Gemüse sortieren
oder bei der „Beschäftigungsinitiative“ in der Küche stehen oder im Garten helfen! Wo auch immer sie mit diesen Menschen zu tun haben, wird Ihnen immer eine
Frage gestellt: Was können Sie dafür tun, dass ich nach
dem Auslaufen des Projektes weiter arbeiten kann? Das ist die Frage, die uns die Menschen zu Recht stellen.
Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben
die Pflicht, uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
({7})
Wir sind der Meinung - da unterscheiden sich übrigens die Ansätze der Linken von denen der SPD -, dass
nicht alle Langzeitarbeitslosen in die öffentlich geförderte Beschäftigung sollen, das heißt: in Beschäftigung
mit sozialversicherungspflichtigem Arbeitsvertrag, die
auf Dauer ausgerichtet ist; denn wir glauben, dass es
viele gibt, die man durch Fördern und Fordern für den
ersten Arbeitsmarkt fit machen kann, und zwar zeitnah.
({8})
Das können wir derzeit in Baden-Württemberg erleben.
Aber es gibt auch Langzeitarbeitslose, die ganz am Rand
stehen. Sie sind schon drei, vier, fünf oder sechs Jahre
arbeitslos und arbeitsuchend. Sie haben mehrere Vermittlungshemmnisse; viele Alleinerziehende sind dabei.
Für sie brauchen wir eine andere Lösung, als zu sagen:
Durch schnelle Qualifizierung bekommen wir sie auf
den ersten Arbeitsmarkt. - Hier setzt das Konzept des
sozialen Arbeitsmarktes der SPD an, das echte Chancen
auf Teilhabe eröffnet.
Die Menschen wollen einen Arbeitsvertrag. Das hat
etwas mit der Würde der Arbeit zu tun. Ein Arbeitsvertrag ist nicht auf sechs Monate befristet wie eine Arbeitsgelegenheit oder Ähnliches, sondern auf Dauer, mindestens drei bis fünf Jahre, angelegt. Auch hier
unterscheidet sich unser Konzept von den Konzepten der
Linkspartei. Wir meinen, dass alle sechs Monate überprüft werden muss: Können wir dafür sorgen, dass die
Person nicht in den öffentlichen Beschäftigungssektor,
den sogenannten dritten Sektor, vermittelt wird, sondern
wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert wird? Das
Ziel von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist nach wie vor eine echte Teilhabe am ersten
Arbeitsmarkt. Das ist unser Bestreben. Dafür kämpfen
wir mit allem, was wir tun. Wir wollen VollbeschäftiKatja Mast
gung für alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland.
({9})
Sie von der Regierung haben Folgendes gemacht: Sie
haben von 2009 bis 2013 den Eingliederungstitel für
langzeitarbeitslose Menschen um 40 Prozent abgesenkt.
Die Arbeitslosigkeit ist im gleichen Zeitraum um 2 bis
3 Prozent zurückgegangen. Das heißt, Sie haben einen
massiven Kahlschlag in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
vorgenommen.
({10})
Sie haben sich an dieser Stelle von dem Prinzip des
Förderns und Forderns in der Arbeitsmarktpolitik abgewendet. Wir wollen uns den Menschen zuwenden und
uns nicht von ihnen abwenden, wie Sie von der Regierungskoalition das tun.
Ich möchte noch einmal auf meine Kolleginnen und
Kollegen von der Linksfraktion zu sprechen kommen,
die ihren Antrag heute vorgelegt haben. Ich danke Ihnen
für die Chance, heute noch einmal darüber zu diskutieren. Hinsichtlich der Kahlschlagpolitik der Bundesregierung sind wir uns einig. Wir sind uns auch darüber einig,
dass wir über öffentlich geförderte Beschäftigung reden
müssen.
({11})
Allerdings sind wir uns über die Dimensionen nicht einig. Sie wollen einen dritten Arbeitsmarkt für alle Langzeitarbeitslosen. Wir wollen, dass die Menschen schnell
in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Wir sind uns auch
an einer anderen Stelle nicht einig. Sie definieren die
Zielgruppe nicht. Sie gehen der Frage, um wen es eigentlich geht, völlig aus dem Weg. Wir haben „langzeitarbeitslos“ definiert: mindestens 24 Monate arbeitsuchend, über 25 Jahre alt - für Jugendliche brauchen
wir andere Instrumente - und zwei Vermittlungshemmnisse; in Ausnahmefällen reicht ein besonders schwerwiegendes Vermittlungshemmnis. Wir haben uns die
Mühe gemacht, aus den Erfahrungen, die wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung gesammelt haben, eine
Definition abzuleiten, um echte Teilhabeperspektiven zu
bieten. Diesbezüglich ist Ihr Antrag - wir haben heute
die erste Lesung und den parlamentarischen Beratungsprozess noch vor uns - an der einen oder anderen Stelle
durchaus verbesserungswürdig und verbesserungsfähig.
Da muss noch nachgelegt werden, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linksfraktion.
({12})
Darüber hinaus ist festzustellen, dass Sie einer Logik
folgen, die eigentlich die Regierung vertritt.
({13})
Wir sagen: Öffentlich geförderte Beschäftigung muss
sinnvoll sein. Sie muss im normalen Wirtschaftsprozess
stattfinden können.
({14})
Sie sagen: Sie wollen, dass sie zusätzlich und im öffentlichen Interesse ist. Auf diese Kriterien verzichten wir
ganz. Wir sagen: Wir haben vor Ort Beiräte, die darüber
entscheiden können.
Außerdem wollen wir ein Vetorecht für Arbeitgeber
und Gewerkschaften bei der Definition dieses Beschäftigungssektors. Die Entwicklung dieser Definition war
- das sage ich Ihnen - ein weiter Weg. Ich würde sagen:
Ihrem Antrag fehlt an dieser Stelle noch die Reife. Sie
gehen genauso wie wir von einer Förderungsdauer von
drei bis fünf Jahren aus. Sie wollen aber nicht alle sechs
Monate prüfen. Sie sagen einfach: Die Leute bleiben
dort. - Wir wollen keinen Stempel „öffentlich geförderte
Beschäftigung“. Wir wollen alle in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Deshalb wollen wir alle sechs Monate
überprüfen.
Wir wollen bei der Finanzierung einen Passiv-AktivTransfer,
({15})
weil wir festgestellt haben, Herr Kollege Zimmer, dass
diese Bundesregierung den Eingliederungstitel so
massiv zusammenstreicht, dass es keine echte Perspektive für eine Teilhabe mit sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung gibt.
({16})
Reden Sie mit den Beschäftigungsträgern vor Ort! Sie
werden Ihnen dasselbe sagen.
Ich freue mich - ich sage das an dieser Stelle für
meine Fraktion - auf den parlamentarischen Beratungsprozess. Ich freue mich auf die Anhörung, in der über die
Anträge der Opposition diskutiert wird. Von Ihnen gibt
es ja leider keine. Aber seien Sie sicher: Am 22. September werden die Bürgerinnen und Bürger entscheiden,
und dann wird es einen echten öffentlich geförderten Beschäftigungsbereich in Deutschland geben.
Vielen Dank.
({17})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist doch erfreulich, dass die Zahl der Langzeitarbeits27610
losen zum ersten Mal seit 45 Jahren in Zeiten des Aufschwungs sinkt.
({0})
Seit unserem Regierungsantritt ist ihre Zahl um über
250 000 Menschen gesunken. Ihnen persönlich, Frau
Krellmann und Frau Mast, nehme ich ab, dass Sie sich
insgeheim, auch wenn Sie das hier nicht zugeben, für jeden einzelnen dieser 250 000 Menschen wirklich freuen.
({1})
Ich glaube, das ist etwas, was wir zunächst einmal
festhalten sollten. Das ist eine gute Leistung, und dafür
sollten wir alle zusammen dankbar sein.
Die Lage der Langzeitarbeitslosen hat sich in Zeiten
dieser christlich-liberalen Regierungskoalition deutlich
verbessert. Aber wir ruhen uns auf den Erfolgen nicht
aus. Jeder, der keine Arbeit hat und arbeiten will in unserem Land, ist einer zu viel, der keine Arbeit hat. Das sehen wir auch so.
Aber man muss eben auch sehen, dass die Gruppe der
Langzeitarbeitslosen in unserem Land sehr heterogen ist.
Es finden sich unter ihnen zum Beispiel Alleinerziehende, zumeist Frauen, die wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder keinen Arbeitsplatz annehmen können.
({2})
Es finden sich unter ihnen zum Beispiel Menschen mit
Migrationshintergrund, deren mangelnde Sprachkenntnisse das Finden eines Jobs erschweren. Es finden sich
unter ihnen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters Probleme haben, einen Job zu finden, und es finden sich unter ihnen
Menschen, die aufgrund persönlicher Schicksalsschläge,
zum Beispiel Krankheit, Schulden oder Suchterfahrung,
Probleme haben, eine Arbeit aufzunehmen.
Jeder einzelne Langzeitarbeitslose hat seine ganz eigene individuelle Biografie, und seine Arbeitslosigkeit
hat ganz individuelle Ursachen. Da sind pauschale Lösungsansätze zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit, wie Sie sie jetzt vorschlagen, kein geeignetes Mittel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wenn
man wirklich etwas für die Langzeitarbeitslosen tun und
dieses Problem lösen will, muss man sich gedanklich etwas mehr anstrengen. Einfache Lösungen gibt es in diesem Bereich nicht. Man muss differenziert vorgehen. So
tut es diese Bundesregierung und die sie tragende Regierungskoalition.
({3})
Sie müssen Ihre Politik mehr an den Bedürfnissen der
Menschen ausrichten und weniger an politischer Taktik
oder Ideologie.
({4})
Wir machen das anders als Sie. Deshalb sind wir auch im
Sinne der Menschen erfolgreich. So fördert zum Beispiel
der Bund den Ausbau der Kinderbetreuung bis zum Jahr
2014 mit fast 5,4 Milliarden Euro. Ab 2015 werden wir
vonseiten des Bundes den dauerhaften Betrieb der neu
geschaffenen Kinderbetreuungsplätze mit jährlich 845 Millionen Euro fördern. Das ist ein Weg, um einem Teil der
Langzeitarbeitslosen eine echte Hilfestellung zu bieten.
Mit besseren Betreuungsmöglichkeiten können viele Alleinerziehende wieder eine bessere Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
({5})
Auch Vorsorge gehört zu einer klugen Politik gegen
Arbeitslosigkeit. Zum Beispiel haben wir das Programm
„Offensive frühe Chancen“ auf den Weg gebracht, wo
wir mit 400 Millionen Euro insgesamt 4 000 Schwerpunktkindertageseinrichtungen fördern. Dabei liegt ein
ganz besonderer Schwerpunkt auf der Integration von
Kindern, die Sprachschwierigkeiten haben.
Ihr Ansatz ist ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor. Sie erklären jedoch nicht - darauf hat auch
die Kollegin Katja Mast schon hingewiesen -, wie viele
Arbeitsplätze da gefördert werden sollen. Sie erklären
nicht, wer die Personengruppe am Ende sein soll. Sie erklären nicht, wie Sie diese öffentlich geförderte Beschäftigung überhaupt finanzieren wollen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen der Linken, das ist keine seriöse Politik,
sondern nur der Anschein von Politik.
({6})
Herr Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Vogler?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Danke, Herr Kollege, dass Sie eine Zwischenbemerkung von mir gestatten.
Frage.
({0})
Es hält mich jetzt einfach nicht auf dem Stuhl, weil
ich mir schon zum zweiten Mal an diesem Tage anhören
muss, wie ein Vertreter der Koalition hier Bemühungen
für gute Arbeit und gegen Langzeitarbeitslosigkeit damit
konterkariert, dass er sagt: Aber wir tun so viel für die
Bildung.
({0})
Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, dass Sie, wenn Sie in solchen Debatten sagen:
„Wir kümmern uns aber um die Bildung der Kinder, damit sie später nicht langzeitarbeitslos sind“, damit zweierlei tun? Zum einen schreiben Sie die älteren Menschen, die Erwachsenen, ab. Zum Zweiten unterstellen
Sie denen auch noch kollektiv, sie seien ungebildet. Es
ist tatsächlich so, dass viele dieser Menschen über gute
Qualifikationen verfügen und trotzdem keinen Arbeitsplatz finden, was damit zu tun hat, dass Arbeitsplätze,
die dieser Qualifikation entsprechen, nicht zur Verfügung stehen.
({1})
Wie reagieren Sie darauf? Wie gehen Sie damit um?
Schreiben Sie diese Millionen Menschen in unserem
Land einfach ab, oder sind Sie willens, sich Gedanken
darüber zu machen, dass man auch denen eine Perspektive eröffnen muss, die eben nicht bedeutet, regelmäßig
zum Amt zu gehen, jede Woche 20 Bewerbungen zu
schreiben, die erfolglos sind, und mit Sanktionen bedroht zu werden, wenn sie einmal nur 19 Bewerbungen
schreiben?
({2})
Frau Kollegin Vogler, ich glaube, wir sind in der Zielrichtung gar nicht so weit auseinander. Meiner Rede zielt
ja gerade darauf ab, zu sagen, dass die Langzeitarbeitslosen eine sehr heterogene Gruppe mit ganz individuellen
Problemen sind. Deshalb müssen wir auch individuell
auf die Probleme reagieren. Ein Beispiel sind der Ausbau der Kinderbetreuung und die Verbesserung der Qualität der Kinderbetreuung, gerade auch die Verbesserung
der Betreuung und der Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund. Der Sinn dieser Passage meiner Rede
war ja: Einerseits geht es um die Sorge für diejenigen,
die jetzt beschäftigungslos sind, andererseits müssen wir
in einer klugen Politik natürlich auch langfristig denken
und zukünftige Langzeitarbeitslosigkeit verhindern. Ich
habe in meiner kurzen Redezeit versucht, einzelne
Punkte zu benennen, um deutlich zu machen: Wir wollen
einen differenzierten Ansatz wählen, weil wir dem Problem nur mit einem differenzierten Ansatz insgesamt
Herr werden können.
Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen: Nicht jeder ist
unqualifiziert. Ich habe beispielsweise über die Alleinerziehenden gesprochen. Sehr häufig ist bei Alleinerziehenden - auch das habe ich ausgeführt - ja nicht das
Problem, dass sie keine Qualifikation haben. Sehr viele
von ihnen, gerade Frauen, sind sehr gut qualifiziert, haben einen Berufsabschluss. Sie haben aber in einer bestimmten Phase ihres Lebens, wenn sie ein Kind allein
erziehen, keine ausreichende Möglichkeit der Kinderbetreuung. Diese Langzeitarbeitslosen haben überhaupt
keinen Qualifizierungsbedarf, wir helfen ihnen auch
nicht mit einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor; denn dadurch haben sie ja keine Kinderbetreuung.
({0})
Vielmehr müssen wir dieser Personengruppe unter den
Langzeitarbeitslosen helfen, indem wir die Kinderbetreuung ausbauen. Das ist ein Baustein, eine Maßnahme,
um insgesamt dem Problem der Langzeitarbeitslosigkeit
begegnen zu können.
Das war die bisherige Aussage meiner Rede. Ich habe
ja noch einige Minuten, um meine Rede fortzusetzen.
Dabei werde ich versuchen, Ihnen noch weitere Aspekte
zu nennen.
({1})
Vorsorge gehört zu einer klugen Politik, auch wenn
sie nicht alle Probleme löst; das ist klar. Vorsorge darf
man nicht vergessen. Ihr Ansatz ist ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor. Ich habe schon gesagt:
Ähnlich wie der Kollegin von der SPD fehlt mir hier ein
genaueres Konzept, in dem Zahlen, Daten, Fakten und
Kosten genannt werden. Wir haben hier im Plenum
schon mehrfach über öffentlich geförderte Beschäftigung gesprochen. Ich habe an dieser Stelle schon gesagt,
dass wir vonseiten der FDP zum Beispiel der Idee des
Passiv-Aktiv-Transfers einiges abgewinnen können.
Wahrscheinlich ist dies für einen ganz kleinen Teil der
Langzeitarbeitslosen die richtige Lösung, um sie langfristig für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren.
Liebe Kollegin Katja Mast, wir wissen ja, dass wir
dazu die Länder brauchen. Weil Sie ja ideologisch bedingt und aus taktischen Gründen sowie aus Machtgründen gerade im Bundesrat alles Kluge blockieren und
nichts auf den Weg bringen wollen, sehen wir im Moment, jetzt kurz vor der Wahl, keine Chance, einen Antrag einzubringen, um mit Ihnen etwas umzusetzen.
({2})
Das bedaure ich sehr, liebe Katja Mast. Als Generalsekretärin in Baden-Württemberg könnten Sie ja von Ihrer
bedeutenden Stellung aus etwas mäßigend auf Ihren Parteivorsitzenden und auf Ihren Kanzlerkandidaten einwirken. Vielleicht würden wir dann am Ende mehr für die
Menschen in unserem Land erreichen, beispielsweise
beim Abbau der kalten Progression.
({3})
Das Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung ist nicht die Antwort auf jedes Problem. Eines
möchte ich Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Partei Die Linke. Katja Mast, hör auch
gut zu. Sie fordern in Ihrem Antrag einen Mindestlohn
von 10 Euro. Jetzt sind Sie ja in Brandenburg an der Regierung. Dort haben Sie zusammen mit der SPD ein Programm für öffentlich geförderte Beschäftigung aufgelegt. Dort ist festgelegt, dass Sie 7,50 Euro als untere
Lohngrenze zahlen.
({4})
Bei den Kolleginnen und Kollegen von der Linken und
von der SPD zeigt sich wieder: Handeln und Reden klaffen auseinander.
({5})
Das werden Ihnen die Menschen draußen, die uns zuhören, nicht weiter abnehmen. Sie fordern hier das eine,
und wenn Sie irgendwo in Regierungsverantwortung
sind, machen Sie das andere. Die Menschen haben es
sieben Jahre lang bei rot-grüner Bundesregierung erfahren: Ankündigung und tatsächliche Politik sind unterschiedlich. Sie erfahren es in den Ländern, zum Beispiel
in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg,
({6})
wo Sie hemmungslos die Zukunft der Kinder durch eine
übermäßige Verschuldung aufs Spiel setzen und in unverantwortlicher Weise die sozialen Probleme der Zukunft schon jetzt vorprogrammieren.
({7})
Kollege Kober, Sie dürfen jetzt aber auch nicht hemmungslos die Zeit überziehen, nachdem Sie mit der Kollegin Vogler schon so ausführlich debattiert haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten Deutschland nicht regieren. Das wird im September dieses Jahres auch nicht der Fall sein.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Zimmer, Ihre Rede war im Wesentlichen durch Realitätsverweigerung gekennzeichnet.
({0})
Sonst hätten Sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass weder der wirtschaftliche Aufschwung noch der demografische Wandel noch der Fachkräftemangel an den Problemen der Langzeitarbeitslosigkeit qualitativ irgendetwas
verändert haben.
({1})
Wir haben immer noch über 1 Million langzeitarbeitslose Menschen. Hunderttausende von ihnen sind seit
mehr als drei Jahren im Hartz-IV-Bezug eingemauert.
({2})
Es ist doch ganz offensichtlich, dass die Instrumente der
aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir derzeit haben, nicht
geeignet sind, das Problem zu lösen.
({3})
Ich will etwas zu Ihren vermeintlichen Erfolgen sagen. Ihre Erfolge bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit basieren im Wesentlichen auf statistischen
Tricks.
({4})
Ein Beispiel. Über 100 000 Langzeitarbeitslose werden
einfach nicht mehr gezählt, weil sie 58 Jahre alt sind und
ein Jahr lang kein Arbeitsangebot bekommen haben;
dann fallen sie aus der Statistik heraus.
({5})
Aber, Herr Zimmer, das ändert nichts an der Tatsache,
dass diese Menschen arbeitslos sind.
({6})
Ich habe eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung
gestellt. In den Antworten auf meine Fragen ist offensichtlich geworden, dass die Langzeitarbeitslosenquote,
wenn man die statistischen Tricks herausrechnet, in den
letzten drei Jahren um einen einzigen Prozentpunkt zurückgegangen ist; so viel, Herr Zimmer, zu Ihren Erfolgen bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit.
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Vogel?
Ja, bitte.
({0})
Liebe Frau Kollegin Pothmer, Sie haben ja gerade gesagt, die erfreuliche Reduktion der Arbeitslosigkeit und
der Langzeitarbeitslosigkeit in den letzten drei Jahren,
also seitdem diese Koalition regiert, würde auf statistischen Tricks beruhen, Brigitte Pothmer ({0}):
Ja.
- und Sie haben eine Besonderheit der Arbeitslosenstatistik angeführt. Könnten Sie mir erklären, inwiefern
- wenn diese Besonderheit von einer vorigen Bundesregierung eingeführt wurde und aufgrund der Tatsache,
dass diese Koalition die Statistik überhaupt nicht verändert hat - die positive Entwicklung in dieser Legislaturperiode auf einen statistischen Trick zurückzuführen
sein soll? Das erschließt sich mir logisch nicht. Ich
würde da gerne aufgeklärt werden.
Lieber Herr Vogel, die Tatsache, dass Sie diesen statistischen Trick nicht eingeführt haben, ändert doch
nichts an der Tatsache, dass das nur ein rein statistischer
Effekt ist.
({0})
Ich will Ihnen einen weiteren statistischen Effekt nennen. Aus den Antworten auf meine Anfrage geht auch
hervor, dass diejenigen, die aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen, nur zu 15 Prozent in Arbeit gehen. Die anderen verschwinden im Nirwana, lieber Herr Vogel. Das
ist ein weiterer statistischer Effekt.
({1})
Sie erwecken hier den Eindruck, als würden Sie die
Langzeitarbeitslosen durch Ihre Arbeitsmarktpolitik in
Arbeit bringen. Aber Sie steuern diese Menschen aus.
Ich kann Ihnen sagen: Die Langzeitarbeitslosen sind die
Verlierer der Arbeitsmarktpolitik von Frau von der
Leyen.
({2})
Für diese Menschen waren dreieinhalb Jahre SchwarzGelb dreieinhalb verlorene Jahre.
({3})
- Nicht von den Langzeitarbeitslosen, mein lieber Herr
Kober.
({4})
Ich will Ihnen sagen: Auch diese Menschen haben ein
Recht auf Arbeit, und auch diese Menschen haben ein
Recht auf Teilhabe durch Arbeit. Deswegen brauchen
wir - da haben die Linken recht - einen verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt.
({5})
Ich begrüße, dass die Linken, nachdem wir einen Gesetzentwurf erarbeitet haben und auch die SPD etwas
vorgelegt hat, einen Vorschlag dazu gemacht haben;
({6})
das ist gut für die Debatte. Aber ich will an dieser Stelle
nicht verhehlen: Mit den konkreten Vorschlägen, die Sie
in Ihrem Antrag machen, habe ich erhebliche Probleme,
insbesondere was das Prinzip der Zusätzlichkeit angeht.
Ihr Antrag enthält das Prinzip der Zusätzlichkeit. Wir
wissen aber, dass gerade diese Zusätzlichkeit in der Vergangenheit flächendeckend zu Konflikten geführt hat.
Dieses Kriterium hat dazu geführt, dass die Tätigkeiten
auf dem sozialen Arbeitsmarkt quasi in Kunstwelten abgedriftet sind; diese Tätigkeiten waren zum Teil Lichtjahre entfernt von dem, was auf dem ersten Arbeitsmarkt
gebraucht wird. Wenn der soziale Arbeitsmarkt so abgespalten wird, ist ein Übergang in Normalbeschäftigung
auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht mehr möglich. Das
muss aber unser Ziel bleiben. Deswegen finden wir das
Kriterium der Zusätzlichkeit falsch.
({7})
Aus genau diesem Grund haben wir Grüne uns entschieden, das Prinzip der Zusätzlichkeit, des öffentlichen
Interesses und der Wettbewerbsneutralität aus den Regelungen herauszunehmen; denn wir wollen arbeitsmarktnahe Tätigkeiten. Wenn all diese Ansprüche erfüllt werden müssen, bleibt es am Ende wirklich dabei, dass der
Sandhaufen von der einen Seite auf die andere Seite hinund hergeschippt wird. Mit Würde der Arbeit hat das
nichts zu tun.
({8})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
({9})
Ich bin froh, dass wir eine Anhörung verabredet haben.
Wir werden die unterschiedlichen Ideen und Vorstellungen im Rahmen dieser Anhörung abklären können. Eines ist für mich jedenfalls ganz klar: Die Frage ist nicht
mehr, ob wir einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, die
Frage ist nur noch, wie wir ihn ausgestalten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau
Krellmann, Sie haben bei der Vorstellung Ihres Antrags
bzw. bei Eröffnung der Debatte ausgeführt, die Agenda 2010
hätte nicht funktioniert. Jetzt frage ich Sie: In welcher
Welt haben Sie die letzten vier Jahre gelebt? Vor vier Jahren standen wir vor Beginn der größten Wirtschaftskrise
nach dem Zweiten Weltkrieg. Dank der - zugegebenermaßen unter Rot-Grün eingeführten - Reformen der
Agenda 2010 hatten wir die richtigen Instrumente, um
der Krise besser zu begegnen als jedes Land um uns herum: Wir haben weniger Arbeitslose als vor der Krise.
Wir haben die Krise besser gemeistert, als uns das jeder
zugetraut hätte.
({0})
Wir haben die Krise sogar besser gemeistert, als wir uns
es selber vor vier Jahren zugetraut hätten.
({1})
Dazu - das muss man einmal sagen - hat die
Agenda 2010 mit ihren Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt und den Erleichterungen bei der Arbeitnehmerüberlassung beigetragen.
Beigetragen haben aber auch die Maßnahmen, die die
christlich-liberale Koalition eingeleitet hat: angefangen
von der Abwrackprämie über die Konjunkturpakete I
und II bis hin zur Verlängerung des Bezugs von Kurzarbeitergeld. Wir haben die richtigen Maßnahmen ergriffen.
({2})
- Langsam! Ich bin schon dabei. - Die Agenda 2010 war
eine wesentliche Voraussetzung für die ordnungsgemäße
Bewältigung dieser Krise. Ich gehe davon aus, dass viele
Länder in Europa - insbesondere in Südeuropa - in den
nächsten Jahren ähnliche Sozialreformen vor sich haben
werden, wenn sie die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
- die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit - bewältigen wollen.
Meine Damen und Herren, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist auf 29 Millionen gestiegen. Insgesamt - die Kollegen haben bereits darauf
hingewiesen - sind in Deutschland sogar 41 Millionen
Menschen in Beschäftigung. Allein in den letzten drei
Jahren sind 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstanden; lediglich
350 000 davon sind Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse.
Das heißt, die umsichtige und kluge Arbeits- und Wirtschaftspolitik der Koalitionsregierung wirkt sich positiv
aus.
Jetzt komme ich noch einmal zu Ihrem Antrag, Frau
Krellmann. Eine Ausweitung des öffentlich geförderten
Beschäftigungsmarktes, wie Sie sie fordern, haben wir
genau vor einem Jahr beim Nachjustieren der arbeitsmarktpolitischen Instrumente geprüft. Wir haben gesagt:
Die christlich-liberale Koalition möchte den Schwerpunkt bei der Vermittlung in Arbeit setzen und nicht bei
der Verfestigung von Arbeitslosigkeit. - Das unterscheidet uns von Ihnen.
({3})
Frau Pothmer, Sie haben die hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen beklagt.
({4})
Wir haben die Zahl der Langzeitarbeitslosen - das wurde
schon gesagt - etwa auf die Hälfte reduzieren können.
Die statistischen Tricks, die Sie uns vorwerfen, haben
Sie doch eingeführt;
({5})
es gehört zur Ehrlichkeit, das zuzugeben. Sie haben damals das Kinderbildungsgesetz vergessen, Frau Pothmer.
Jetzt jammern Sie und sagen: Wir brauchen aber mehr
Bildung. - Wir haben bei dem, was unter Rot-Grün
falsch gemacht wurde, nachgebessert. Gestehen Sie uns
das einmal zu, und loben Sie uns auch einmal dafür!
({6})
Meine Damen und Herren, die Kollegin Mast hat vermisst, dass noch kein Antrag der Koalitionsfraktionen
vorliegt. Wir haben das vor einem Jahr, im April, im Zusammenhang mit den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten auf den Weg gebracht,
({7})
wir haben das als Ermessensentscheidung mit mehr Befugnis in die Jobcenter vor Ort gegeben, weil die Jobcenter die Situation besser kennen. Bei Ihnen gilt dasselbe,
was ich bei Frau Krellmann gesagt habe: Wir wollen die
Menschen wieder in Arbeit vermitteln. Für uns ist Arbeit
Menschenwürde und nicht Manifestierung in einem
1-Euro-Job.
({8})
Ich empfinde es als Frechheit, wenn die Linke behauptet, es fehlten ausreichende Arbeitsplätze auf dem
ersten Arbeitsmarkt. Wir haben es geschafft, mit den
richtigen Maßnahmen in der Krise neue Arbeitsplätze zu
schaffen. Wir haben jetzt mit 41 Millionen Beschäftigten
den höchsten Beschäftigungsstand in Deutschland seit
dem Krieg. Auch das gehört zur historischen politischen
Wahrheit, und auch dafür gebührt ein Wort des Dankes.
Es ist ein großes Verdienst der christlich-liberalen Regierung, dass es trotz der bereits angesprochenen weltweit schwierigen Finanz- und Wirtschaftssituation gelungen ist, unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig zu
machen und zu halten. Für uns ist die Schaffung von Arbeitsplätzen die beste Sozialpolitik. Eine gute Bildungsund Familienpolitik - auch darauf haben wir hingewiePaul Lehrieder
sen - ist aber ebenso Voraussetzung für eine langfristig
positive wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb haben wir
zum Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket für benachteiligte Kinder geschaffen und es dieser Tage erst
im Ausschuss reformiert bzw. mit Sachleistungen angepasst, die wir damit gewähren können, damit kein Kind
in seiner Entwicklung behindert wird, nur weil die Eltern
nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügen.
Die Linkspartei hat aus rein parteitaktischen Gründen
immer gegen unsere zielführenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente gestimmt. Darüber sind wir nicht
überrascht. 29 Millionen sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse zeigen jedoch, dass der von
uns konsequent verfolgte Weg der richtige war, ist und
bleiben wird.
Trotz dieser berechtigten Euphorie ist jedoch richtig:
Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Deshalb müssen wir
ein besonderes Augenmerk darauf legen, dass auch
Langzeitarbeitslose und weniger Qualifizierte zügig den
Weg zurück in den Arbeitsmarkt finden. Dies erreichen
wir aber nicht mit den Vorschlägen der Linken, die Geld
nach dem Gießkannenprinzip verteilen möchte. Bei dem
vorliegenden Antrag der Linken handelt es sich quasi um
die Wiedereinführung der sogenannten ABM, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sich in den vergangenen
Jahrzehnten nicht in ausreichendem Maße bewährt haben. Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass
von 1 Milliarde Euro, die in den geförderten Arbeitsmarkt geflossen ist, 700 Millionen Euro bei den Institutionen geblieben und nur 300 Millionen Euro tatsächlich
bei den Berechtigten, den Bedürftigen angekommen
sind. Ich glaube, dafür können wir die Gelder des Bundes nicht zum Einsatz bringen. Wir halten es für sinnvoller und effizienter, die Gelder zielgenau für die Betroffenen einzusetzen. Wir hätten heute Nacht noch die
Debatte über die sogenannte zweite Chance geführt, die
Bildung junger Erwachsener, die den ersten Bildungsabschluss versäumt haben. Dies ist leider zu Protokoll gegangen. Von daher: Wir achten darauf, dass jeder seine
Chance hat und in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt
wird. Das ist für die Menschen ehrlicher, fairer und langfristig nachhaltiger, als wenn wir sie in den sogenannten
ABM parken.
Deshalb ist der Antrag der Linken nicht zielführend
und abzuweisen.
Ich bedanke mich.
({9})
- Ja, danach dann, langfristig. Frau Enkelmann, wir weisen ihn schon später noch zurück.
Das werden Sie dann an anderer Stelle fortsetzen, bevor wir zur Abstimmung hier im Plenum kommen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Michalk, Michael Grosse-Brömer, Stefan
Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor, Rainer Brüderle
und der Fraktion der FDP
Mehr Berücksichtigung von Qualität bei
der Vergabe von Dienstleistungen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({2}), Anette Kramme, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Ausschreibungspflicht für Leistungen der
Integrationsfachdienste stoppen - Sicherstellung von Qualität, Transparenz und Effizienz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung für Leistungen der Integrationsfachdienste ermöglichen
- Drucksachen 17/10113, 17/4847, 17/5205,
17/11084 Berichterstattung:Abgeordnete Maria Michalk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir bleiben bei der Arbeitsmarktsituation und der Beschäftigungsquote. Noch einmal: Es hat seit der Wiedervereinigung Deutschlands noch nie eine so niedrige Arbeitslosigkeit und eine so hohe Beschäftigungsquote
gegeben. Allerdings - darin sind wir uns einig - profitieren nicht alle davon. Die Zahl der arbeitslosen Menschen
mit Behinderung stagniert. Dies zu ändern, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns alle stellen.
Es geht genauso die Arbeitgeber, die Belegschaften, die
Bundesagentur für Arbeit, also alle in der Gesellschaft
an, jeweils eine sehr passgenaue, auf die individuelle
Situation der betroffenen Menschen zugeschnittene Lö27616
sung zu finden. Es besteht oftmals aufgrund der Beeinträchtigung ein ganz besonders hoher Unterstützungsbedarf, um die schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt
auszugleichen.
Hier haben - da sind wir uns alle einig - die Integrationsfachdienste mit ihrem träger- und schnittstellenübergreifenden Ansatz viele einzelne Unterstützungsmaßnahmen entwickelt und praktiziert. Sie haben sich in
der Praxis bewährt. Die Leistung in der Arbeitsmarktvermittlung, die im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit erfolgt, umfasst sowohl die Fähigkeits- und Interessenanalysen, die Vermittlung an sich, die Vorbereitung
auf den Arbeitsplatz und sehr oft auch eine sehr langfristige, manchmal monatelange Begleitung am Arbeitsplatz.
Diese Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben ist
nach wie vor unverzichtbar. Die Betreuung aus einer
Hand wurde von den Arbeitgebern gelobt und geschätzt.
Diese Arbeitsmarktdienstleistungen sind natürlich nicht
zum Nulltarif zu haben. Sie sind dem Vergaberecht nach
europäischen Kriterien unterworfen. Der Wegfall der
freihändigen Vergabe in diesem Bereich ging mit der Befürchtung einher, dass eine lange aufgebaute Fachkompetenz verloren gehen könnte. Bei diesen Befürchtungen
ging es zum Beispiel um wechselnde Ansprechpartner
nach den Ausschreibungsergebnissen, die zu Vertrauensund vielleicht sogar auch Motivationsverlusten bei den
zu unterstützenden Arbeitsuchenden führen könnten.
Das war politisch nie gewollt. Andererseits ist die
Trägervielfalt bei den Leistungen im Dienstleistungsbereich auf der Grundlage der Vergabekriterien bei öffentlichen Ausschreibungen ein unabdingbarer Bestandteil
der sozialen Marktwirtschaft. Für uns in der CDU/CSUBundestagsfraktion war es deshalb wichtig, die Praxiserfahrungen seit dem Jahr 2002, seit dem dies gilt, zu beobachten und zu beleuchten. Sie sind grundsätzlich erst
einmal positiv. Es hat sich aber auch gezeigt, dass das
bestehende Vergaberecht für die Beschaffung von sozialen Dienstleistungen noch kein durchgehendes Instrumentarium für die Anforderungen der Praxis bereitstellt.
Wenn wir uns die Ergebnisse der Ausschreibungen
- das müssen wir jetzt ehrlich machen - im Jahr 2012
ansehen, ist festzustellen, dass bei 30 Prozent der 39 neu
ausgeschriebenen Losen der IFD, und zwar als Einzelbieter oder in Bietergemeinschaften, beteiligt ist. Die
Beteiligung des IFD ist damit gegenüber 2011 deutlich
zurückgegangen. Da lag diese Zahl noch bei 55 Prozent.
In der Ausschussberatung haben wir uns immer wieder darauf verständigt, dass wir das beobachten wollen.
Ich möchte an dieser Stelle lobend hinzufügen, dass die
Anträge - auch die von der Opposition -, die heute zur
Diskussion stehen, seinerzeit, also im Jahr 2011, sogar
zurückgestellt wurden, weil wir gesagt hatten: Wir wollen das beobachten, die Qualität dieser Vermittlungsund Leistungsarbeit ist für uns wichtig.
Bieterbezogene Kriterien, wie Qualifikation, Fachkenntnisse der Ausführungskräfte, Erfahrungen und Vermittlungsergebnisse, dürfen immer nur im Rahmen der
Mindestanforderungen an die Eignung der Bieter, also
nur bei der grundsätzlichen Eignungsprüfung, aber nicht
bei der finalen Auswahlentscheidung, berücksichtigt
werden. Das haben wir erkannt und einen Antrag eingebracht, der heute zur Abstimmung steht. Wir möchten,
dass in Zukunft die Qualität stärker gewichtet und nicht
nur ausschließlich der Preis berücksichtigt wird.
Die strikte Trennung von Eignungs- und Zuschlagskriterien, die auf die Vorgaben der europäischen Vergaberichtlinie und die entsprechende Rechtsprechung
zurückzuführen sind, ist bei den Arbeitsmarktdienstleistungen schwierig durchzuführen, weil manchmal - wir
wissen das auch - der etwas teurere Anbieter wegen zügigerer und nachhaltigerer Integration in Ausbildung
und Beschäftigung durchaus wirtschaftlicher sein kann.
Deshalb sind Qualität und Vermittlungserfolge stärker zu
gewichten.
Wir haben daher in unserem Antrag zwei Forderungen
formuliert. Zum einen soll diese Gewichtung in der Ausschreibung enthalten sein, und zum anderen soll darauf
hingewirkt werden, dass bei dem aktuell anstehenden Novellierungsprozess des europäischen Vergaberechts die
Regelungen für diese speziellen Dienstleistungen modifiziert werden. Wir lagen mit unserer Vermutung richtig;
denn bei dem jetzt schon vorliegenden Entwurf ist in Ziffer 2 unser Ansatz - ich will den jetzt nicht noch näher beleuchten - sehr genau aufgeführt. In Kap. 1 sind die besonderen Beschaffungsregelungen für soziale und andere
besondere Dienstleistungen extra hervorgehoben.
Was ich zum Schluss noch lobend erwähnen möchte,
ist, dass bei diesen Ausschreibungen ein höherer
Schwellenwert angesetzt ist, nämlich 500 000 Euro, wohingegen für die übrigen Dienstleistungen der Schwellenwert von 200 000 Euro gilt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, in dem Zeitraum zwischen dem Einbringen unseres Antrages und
der heutigen Beschlussfassung ist schon eine Menge
passiert und sind viele Fortschritte erreicht worden. Wir
lagen mit unseren Forderungen richtig. Für mich haben
sich damit die Anträge der Opposition eigentlich erledigt. Ich jedenfalls werbe ausdrücklich dafür, unserem
Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Katja Mast hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Dienst des Menschen am Menschen
wird immer wichtiger. Deutschland ist ein starker Sozialstaat und hat ein breites soziales Netz für Menschen,
die unsere Hilfe und Unterstützung brauchen. Deshalb
genießt unser soziales Sicherungssystem auch international große Anerkennung.
Klar ist, dass wir vor großen Herausforderungen stehen: die Bewältigung des demografischen Wandels, die
Überwindung der Spaltung am Arbeitsmarkt, aber eben
auch die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Nur
mit der Unterstützung von Menschen für Menschen
schaffen wir das.
({0})
Heute reden wir über die Vergabe von sozialen
Dienstleistungen. Ich will klar voranstellen, dass wir
beim Einkauf von sozialen Dienstleistungen eben nicht
die gleichen Kriterien wie beim Einkauf von irgendeinem anderen Produkt haben dürfen. Das Aussuchen
eines persönlichen Betreuers, der einen in allen Lebenslagen begleitet, ist eben doch etwas anderes als der Einkauf eines Taschenrechners. Deshalb müssen wir eben
bei der Vergabe von sozialen Dienstleistungen anders
hinschauen. Menschen brauchen einfach mehr.
Die Vergabe dieser sozialen Dienstleistungen - das
hat meine Vorrednerin schon betont - darf nicht nur nach
ökonomischen Leitlinien erfolgen. Das bestehende Vergaberecht für die Beschaffung von allgemeinen Dienstleistungen kann eben nicht eins zu eins auf soziale
Dienstleistungen übertragen werden. Das hat auch die
Koalition erkannt. Deshalb stimmen wir dem Antrag zu,
den die Koalition vorgelegt hat.
({1})
- Jetzt überlege ich es mir noch einmal, Herr Kollege
Lehrieder, wenn das Ihrer Meinung nach der einzige
gute Satz war.
({2})
Aber immerhin haben Sie zugehört. Das ist auch schon
ein gutes Signal.
Die strittige Frage - unabhängig davon, ob wir zustimmen - ist nicht, ob wir neue Regelungen brauchen,
sondern wie wir die aktuellen Regelungen künftig ausgestalten wollen. Da sind die Vorstellungen sehr unterschiedlich. Genau deshalb gibt es einen eigenen Antrag
der SPD-Fraktion; denn diesen Handlungsbedarf blenden Sie ein Stück weit aus. Besser wäre es gewesen,
wenn Sie auch schon die entsprechenden Rechtsverordnungen auf den Weg gebracht hätten. Dann bräuchten
wir heute nämlich gar nicht miteinander zu diskutieren.
Es darf einfach nicht sein, dass bei sozialen Dienstleistungen die Frage der Wirtschaftlichkeit, also die nach
dem günstigsten Angebot, bei der Vergabe ausschließlich ausschlaggebend ist. Was haben wir davon, wenn
zum Beispiel für einen arbeitslosen Jugendlichen günstig
entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, er aber
hinterher nicht vermittelt wird? Davon haben wir gar
nichts. Deshalb geht es auch um die Qualität.
Es geht um bieterbezogene Qualitätskriterien. Für all
diejenigen, die sich nicht jeden Tag mit dem Vergaberecht auseinandersetzen, übersetze ich das einmal: Es
werden zum einen alle Kriterien einer öffentlichen Ausschreibung erfüllt, aber es werden zum anderen eben
auch die stillen Kriterien, die sonst nicht erfasst werden,
zum Beispiel langjährige erfolgreiche Erfahrung bei der
Vermittlung junger Menschen oder ein Netzwerk vor Ort
- es muss also kein Büro vor Ort eröffnet werden -,
berücksichtigt. All dies sind bieterbezogene Qualitätskriterien. Diese müssen wir bei diesen Ausschreibungen
also stärker berücksichtigen.
({3})
Wir sind der Meinung - das schließt den Kreis zur öffentlich geförderten Beschäftigung, über die wir gerade
eben diskutiert haben -, dass bei dem Einkauf von sozialen Dienstleistungen nicht nur die Integration in den
Arbeitsmarkt zu messen ist, sondern es auch um Integrationsfortschritte gehen muss. Das, was wir immer als
Teilhabefortschritte bezeichnen, muss also besser berücksichtigt werden. Es wäre ein dankbares Projekt für
die Bundesregierung mit ihren großen Ministerien, einen
gescheiten Katalog vorzulegen, wie man das messen
kann. Denn das wäre in der Tat am Ende des Tages alle
Arbeit wert.
Genau deshalb haben wir als Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten schon 2011 unseren Antrag eingebracht. Wir haben dabei die Teilhabechancen der
Menschen mit schwerer Behinderung in den Mittelpunkt
gestellt.
Es geht unseres Erachtens bei der Ausschreibung von
Leistungen der Integrationsfachdienste darum, dass hierbei völlig andere Kriterien als bei dem Einkauf von
Maßnahmen durch die Bundesagentur für Arbeit und
Ähnlichem gelten müssen. Denn wir finden, dass die
Kontinuität in der Betreuung und in der Arbeit von Menschen mit Behinderung der Schlüssel zum Vermittlungserfolg ist. Wenn es infolge der Ausschreibungspflicht zu
häufig zum Wechsel von Trägern kommt, die dieses Angebot machen, werden wir unserer Ansicht nach den
Menschen wie auch letztendlich dem Ziel, sie in Arbeit
zu vermitteln, nicht gerecht.
Für diejenigen, die sich nicht jeden Tag mit dem
Thema Integrationsfachdienste beschäftigen, will ich an
einem Beispiel klarmachen, was dort geleistet wird und
warum es so wichtig ist, dabei auf die üblichen Ausschreibungskriterien zu verzichten. Nehmen wir zum
Beispiel einen Mann, der einen Motorradunfall hatte und
nun seinen rechten Arm nur noch eingeschränkt bewegen kann und dadurch seinen Job als Gerüstbauer verliert. Das kann jeden Tag auf unseren Straßen passieren.
Jetzt fängt die Arbeit des Integrationsfachdienstes an.
Der Integrationsfachdienst nimmt sich dieses Gerüstbauers an und sucht nach passgenauen Lösungen, wo und
wie er künftig noch arbeiten kann. Er sucht für ihn eine
Baufirma und entwickelt eventuell mit ihr eine speziell
angefertigte Maschine, die man nur mit einer Hand bedienen kann - das kann eine Lösung sein -, und begleitet
dann diesen Mann nicht nur am ersten Tag oder beim
Einrichten des Arbeitsplatzes, sondern so lange wie
nötig, also bis es im Job wieder rundläuft. Das leistet der
Integrationsfachdienst.
Um diese Arbeit leisten zu können, braucht man gute
Netzwerke vor Ort. Man braucht Verlässlichkeit und
muss wissen, welchen Arbeitgeber man ansprechen
kann. Man braucht auch Erfahrung in der Begleitung
von Menschen in solchen Sondersituationen. Genau deshalb sagen wir, dass die wertvolle Arbeit der Integrationsfachdienste unterstützt werden muss und ihnen keine
Hürden in den Weg gelegt werden dürfen. Allein im Jahr
2009 sind 7 324 schwerbehinderte Menschen von Integrationsfachdiensten in Arbeit vermittelt worden. Das ist
ein Zeichen dafür, wie wertvoll und wichtig diese Arbeit
ist. Auch da geht es um Vollbeschäftigung; denn wir
finden: Jeder Mensch soll das Recht auf Teilhabe am
Arbeitsmarkt haben.
({4})
Deshalb ist die Ausschreibung von Leistungen im Bereich der individuellen Dienstleistungen, die auf einen
Menschen persönlich zugeschnitten sind, für schwerbehinderte Menschen aus unserer Sicht völlig ungeeignet,
die Vermittlung und Begleitung am Arbeitsmarkt erfolgreich zu organisieren. Diese Forderung wird im Übrigen
auch von den Teilnehmern der 87. Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder unterstützt, und zwar vollumfänglich.
Im Sinne der Menschen mit Behinderung in unserem
Land werben ich und meine Fraktion deshalb an dieser
Stelle eindringlich um Zustimmung auch zu unserem
Antrag. Wir gehen über die Brücke und können Ihrem
Vorschlag zustimmen. Das können Sie doch auch bei uns
machen. In diesem Sinne freue ich mich auf die Abstimmung nachher.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Die Kollegin Molitor spricht nun für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Antrag „Mehr Berücksichtigung von Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen“ sorgt die Koalition dafür, dass der hohe Standard sozialer Dienstleistungen auch im Rahmen eines
europäisierten Vergabeverfahrens aufrechterhalten wird.
Das Vergaberecht ist in meinen Augen überhaupt kein
Hinderungsgrund, Qualität sichern zu können. Ganz im
Gegenteil: Das Vergaberecht kann sogar dazu führen,
dass mehr Qualität erreicht wird.
({0})
Trotzdem haben wir uns vorgenommen, uns die Praxis noch einmal genauer anzusehen, und haben unseren
Antrag auch entsprechend aufgebaut. Es ist uns nämlich
ein sehr wichtiges Anliegen, Menschen mit Behinderung
in das Berufsleben einzugliedern und ihnen dabei alle
Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Die Anträge der
Opposition gehen da jedoch in die falsche Richtung,
weil in ihnen gefordert wird, soziale Dienstleistungen
nicht mehr öffentlich auszuschreiben, sondern zu einer
freihändigen Vergabe zurückzukehren.
({1})
Ich denke, dass gerade die öffentliche Vergabe „ein
Höchstmaß an Qualität, Transparenz und Wirtschaftlichkeit bei der Leistungserbringung“ sicherstellt. Diese Formulierung stammt aus dem Antrag der Grünen, und ich
kann diese Formulierung nur unterstützen.
({2})
Denn die genannten Kriterien werden durch die Bindung
an objektive Kriterien im Vergaberecht erfüllt.
Ich bin der Meinung, die befristete Zuteilung von sozialen Dienstleistungen kann im Gegenteil sogar einen
Anreiz darstellen, die Qualität der geleisteten Arbeit
auch auf Dauer zu sichern.
({3})
Wir unterstützen es daher, dass, bedingt durch den Vergaberhythmus, eine Art Erfolgskontrolle passiert
({4})
und damit auch Neuanbietern eine Markteintrittschance
verschafft wird.
({5})
- Gut, das ist Ihr gutes Recht. Aber ich denke, eine Praxis der stillschweigenden Auftragserteilung aufgrund
nicht objektiv nachvollziehbarer Kriterien
({6})
oder möglicher enger persönlicher Bindungen eines
Sachbearbeiters an das gewählte Unternehmen ist mit
uns als Regierungskoalition nicht zu machen.
({7})
Wir fordern Transparenz und Effektivität bei der Auftragsvergabe.
Wir sehen ja, dass es Spielräume gibt; diese sollen bei
der Rechtsetzung genutzt werden, um bieterbezogene
Qualitätsmerkmale stärker zum Zuge kommen zu lassen.
Wir wollen die strikte Trennung von Eignungs- und ZuGabriele Molitor
schlagskriterien aufweichen und schauen, dass hier auch
der Qualität zum Erfolg verholfen wird.
Aber die Vorschläge der Opposition erreichen das
Ziel nicht.
({8})
Das Festhalten an den Integrationsfachdiensten als einzig mögliche Dienstleister für die Eingliederung von
Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt zeigt, dass
es eigentlich nur darum geht, bestehende Strukturen zu
sichern. Ich finde, das schadet eigentlich dem Ziel; denn
wir wollen hier durch Wettbewerb auch Veränderungen
möglich machen, wir wollen, dass sich auch neue Anbieter bewerben können. Wenn wir das verhindern, werden
wir nie wissen, ob nicht vielleicht ein neuer Dienstleister
zu viel besseren Erfolgen kommt. Die Vermittlungsquote
der Integrationsfachdienste liegt im Augenblick bei
32 Prozent. Es ist aber durchaus möglich, dass das auch
durch andere Formen noch getoppt werden kann.
Die Opposition behauptet, dass durch Ausschreibungen besonders Neuanbieter gefördert werden, die erforderliches Wissen und Kontinuität nicht aufweisen. Für
die IFD wird befürchtet, dass die öffentliche Ausschreibung aufgrund der Wettbewerbssituation zu einer
Erosion bestehender Strukturen führen wird. Auch
werden Ängste verbreitet, dass bei der Anwendung des
Vergaberechts einige wenige Anbieter den Markt unter
sich aufteilen und damit andere kleinere Anbieter verdrängen. Diese Ängste halte ich für unbegründet,
({9})
denn die Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung von
Menschen mit Behinderung machen für die IFD nur einen Teil ihrer Arbeit aus. Sie leisten noch andere Dinge.
Die Vergangenheit hat jedenfalls nicht gezeigt, dass kleinere Anbieter hier Probleme bereiten.
({10})
Ich glaube, uns Liberale macht aus, dass wir eine
Partei bzw. eine politische Richtung darstellen, die dem
Wettbewerb vertraut, weil er nämlich bestmögliche
Lösungen und auch Fortentwicklungen möglich macht.
({11})
Ich denke, es ist auch in diesem Fall überhaupt nicht
schlimm, wenn immer wieder bessere Erfolge in den sozialen Dienstleistungen angemahnt werden und dazu
auch ein Anreiz besteht. Bei den öffentlich vergebenen
Arbeitsmarktdienstleistungen sehen wir das ja bereits; da
stellt das überhaupt keine Problematik dar.
({12})
Alles in allem: Wir müssen zum einen zu Verbesserungen in Deutschland bei der Vergabepraxis kommen
und uns zum anderen auch für eine einheitliche Vergabepraxis in der gesamten Europäischen Union einsetzen;
das besagt auch unser Antrag. Wir wollen gemeinsam
mit unseren europäischen Partnern eine einheitliche Gewichtung der bieterbezogenen Kriterien erarbeiten. Das
wird uns mit Sicherheit gelingen.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Ilja
Seifert jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! In der Behindertenpolitik geht es auch immer um leichte Sprache. Ich präsentiere Ihnen nun in dieser Hinsicht einen linguistischen
Leckerbissen.
({0})
- Deswegen sage ich es ja. - Wir sollen einem Antrag
zustimmen, mit dem die Koalition die Regierung beauftragt, „den nationalen Rechtsetzungsspielraum zu nutzen, um insbesondere bei sozialen Dienstleistungen die
Berücksichtigung bieterbezogener Qualitätskriterien bei
der Zuschlagserteilung stärker zu gewichten“. Ich finde,
das ist eine dufte Steilvorlage für eine Straßenumfrage
bei der heute-show.
({1})
Die zentrale Frage würde lauten: Verstehen Sie diesen
Satz? - Oder soll hier jeder alles darunter verstehen können, also nichts? Mein linkes Verständnis biete ich gern
als Dienstleistung an. Wir reden hier nämlich über arbeitslose Menschen, insbesondere über 180 000 Menschen mit schwerer Behinderung, die die größten Schwierigkeiten haben, einen regulären Arbeitsplatz zu finden.
Und wenn sie einen finden, dann bekommen sie ihn
nicht.
Wir reden des Weiteren über 208 Integrationsfachdienste, deren rund 1 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besonders gut wissen, was zu tun ist, um schwerbehinderte Menschen auf einen passenden Arbeitsplatz
zu vermitteln; darauf haben schon viele hingewiesen.
Diese Mitarbeiter wissen, wie man Arbeitgeber motiviert, ihre Vorbehalte zu überwinden, und sie begleiten
die schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch im Arbeitsleben, um das Arbeitsverhältnis
dauerhaft zu sichern. Das betraf 2011 mehr als 67 000
Menschen.
Wir reden auch darüber, dass die Bundesagentur für
Arbeit bis 2009 den Auftrag, schwerbehinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln, freihändig an
Integrationsfachdienste vergeben konnte, eben weil deren Qualität darin bestand, genau zu wissen, worauf es
ankommt. Der Gesetzgeber hat ja 2001 diese Fachdienste überhaupt erst geschaffen, um entsprechende
Qualität zu entwickeln. Seit drei Jahren ist aber besondere soziale Qualität kein Maßstab mehr. Die Vermittlung schwerbehinderter Menschen kann nämlich seither
über eine öffentliche Ausschreibung vergeben werden.
Es ist also schon richtig Schaden angerichtet worden, es
ist schon richtig etwas kaputtgemacht worden. Das wol27620
len Sie jetzt weiter vertiefen. Das kann doch nicht Sinn
der Sache sein.
({2})
Vor fast zwei Jahren kamen von den Kollegen von
den Oppositionsfraktionen SPD und Grünen zwei Anträge, die zum Ziel hatten, die Ausschreibungspflicht zurückzunehmen. Der Markenkern der Fachdienste - Vermittlung und Begleitung in reguläre Beschäftigung aus
einer Hand - sollte erhalten bleiben und nicht dem unkontrollierten Wettbewerb ausgesetzt werden. In der entsprechenden Anhörung sagten acht von zehn Sachverständigen, dass das vernünftig sei. Heute, nach fast zwei
Jahren, werden auch die Vermittlungsleistungen im Bereich des SGB IX, also des Schwerbehindertenrechts,
ausgeschrieben, zum Beispiel bei der Unterstützten Beschäftigung. Die Zahl der Aufträge zur Arbeitsvermittlung an die Fachdienste sank um fast die Hälfte. Vom gesetzlichen Gründungsanspruch der Fachdienste ist die
heutige Situation jedenfalls weiter entfernt denn je - so
heißt es im Jahresbericht der Integrationsfachdienste.
Nun - das verwundert mich wirklich - stimmen die
Kollegen der Oppositionsfraktionen dem Antrag der Koalition zu,
({3})
obwohl er das genaue Gegenteil von dem darstellt, was
die Opposition beantragt hat. Das ist der Witz an der Sache. Wie können Sie sich da wundern, dass die Koalition
Ihren Vorschlägen nicht zustimmt!
Man kann über die Integrationsfachdienste sicherlich
geteilter Meinung sein. In einer inklusiven Welt ohne
Arbeitslose, ohne Barrieren und ohne Sondereinrichtungen wären sie wohl überflüssig. Bei größerem Vermittlungserfolg würden sie sich also selber überflüssig machen. Doch weil wir davon weit entfernt sind, plädiert
die Linke gegenwärtig dafür, die Integrationsfachdienste
zu stärken und zur freihändigen Vergabe zurückzukehren.
({4})
Deshalb stimmen wir heute gegen den Antrag der Koalition und somit auch gegen die Beschlussempfehlung des
Ausschusses.
Wer Qualität gewichten will, muss schon sagen, was
er damit meint. Weder wir hier im Parlament noch die
Menschen mit Behinderung brauchen solch leeres Wortgeklingel, wie ich es eingangs vorgelesen habe.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Markus Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich einmal vor, die Kriterien für die
Vergabe würden auf den Bereich der schulischen Bildung übertragen. Dann würde beispielsweise eine Grundschule in Bielefeld 1 500 Stunden Mathematik-, 500 Stunden Sachkunde- und 1 000 Stunden Deutschunterricht
bei einem regionalen Einkaufszentrum in Düsseldorf beantragen. Von dort aus würde anschließend eine breite
Ausschreibung gemacht. Dann käme aus den Niederlanden eine Firma - nennen wir sie Easy Education Incorporated -, die zu Billigsttarifen Lehrkräfte einstellen
würde, die vor allen Dingen preiswert wären. Diese würden dann von Düsseldorf aus oder von woher auch immer nach Bielefeld geschickt. Dort würden sie dann drei
Jahre lang unterrichten, immer in Angst um die Verlängerung des Vertrages,
({0})
und würden dabei untertariflich bezahlt. Das würden wir
unseren Kindern, denen wir die beste Bildung zukommen lassen wollen, niemals zumuten.
({1})
Aber genau so wird es bei denjenigen gemacht, die
komplexe, teils sehr schwierige Unterstützungs-, Bildungs- und Qualifizierungsbedarfe haben. Dieser Vergleich zeigt schon, dass man bei der Vergabe von Dienstleistungen am Menschen nicht nach den gleichen Kriterien verfahren kann wie bei der Beschaffung von Bleistiften.
({2})
Man muss an dieser Stelle auch ganz klar konstatieren, dass im Grundsatz die Fraktionen der Regierungskoalition diesen Gedankengang in ihrem Antrag zumindest grundsätzlich nachvollzogen haben; das will ich
gleich vorwegschicken, gerade auch an die Adresse des
Kollegen Seifert. Auch wir werden diesem Antrag der
die Regierung tragenden Fraktionen zustimmen, unserem eigenen Antrag natürlich auch, weil so in Zukunft
die Praxis der Vergabe, wie sie bisher gewesen ist, zumindest ein Stück weit verändert werden kann. Jetzt
können nämlich die bieterbezogenen Qualitätskriterien
auch zum Zuschlagskriterium gemacht werden. Das ist
die entscheidende Änderung gegenüber dem, was in der
Vergangenheit war.
({3})
Ich meine, da sollte man auch ruhig als Opposition über
den eigenen Schatten springen und sagen: Eine kleine
Verbesserung ist besser als gar nichts.
({4})
Wir werden allerdings genau gucken, ob Sie das auch
umsetzen, zum Beispiel über die VOL/A, die Vergabeund Vertragsordnung für Leistungen - hoffentlich recht
rasch -, und natürlich auch im Prozess der europäischen
Neuordnung des Vergaberechts.
({5})
Ich muss allerdings noch anmerken, dass die Ausschreibung eines Teils der Leistungen der Integrationsfachdienste nicht zweckmäßig ist. Der Gesetzgeber hat
damals - soweit ich weiß, haben auch Sie, FDP und
CDU/CSU, dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch zugestimmt - die Integrationsfachdienste als ganzheitliche
Dienstleistung konzipiert. Der Gesetzgeber hat in § 110
SGB IX gesagt, der IFD soll die Menschen im Vorfeld
beraten und unterstützen, er soll vermitteln, er soll Ansprechpartner für die Arbeitgeber sein und vor allen Dingen auch nach der Vermittlung die Personen begleiten
- das ist ganz wichtig auch für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen - und Ansprechpartner für
Probleme sein, falls der Arbeitgeber solche nach der
Vermittlung hat.
Es macht also Sinn, das in eine Hand zu legen. Es gibt
jetzt zwar eine unterschiedliche Kostenverantwortung
- die Bundesagentur für Arbeit hat die Kostenverantwortung für die Vermittlung -, aber es ist grundfalsch,
daraus nun abzuleiten, dass der Bereich der Vermittlung
ausgeschrieben und an einen externen Dienstleister vergeben wird, während jemand anders weiterhin Ansprechpartner bei Beratung und Unterstützung ist. Dies
widerspricht dem Geist - ich würde fast sagen: dem
Buchstaben - dessen, was im Gesetz steht, und macht
auf jeden Fall keinen Sinn.
({6})
Wir wollen zu einer ganzheitlichen vernünftigen Vergabe zurückkehren. Dies ist auch nach jetzigen rechtlichen Maßstäben möglich. Sie wissen, dass die Fraktion
der Grünen auch eine Anfrage an den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gestellt hat, der
ausdrücklich festgestellt hat, dass in diesem Bereich eine
Vergabe nicht zwingend ist. Insofern hält Sie nichts davon ab, wieder zum ursprünglichen Willen des Gesetzgebers zurückzukehren und eine vernünftige Praxis im
Sinne aller Menschen mit Behinderung zu befolgen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die
Vorredner haben fast ausnahmslos bestätigt - ich denke,
wir sind uns darin alle einig -, dass das Instrumentarium
des Vergaberechts einen wesentlichen Teil unserer sozialen Marktwirtschaft darstellt, ein Instrumentarium, um
den erforderlichen Anforderungen an die zu erbringenden Dienste flexibel gerecht zu werden. Dies gilt vermehrt auch im Bereich von Dienstleistungen. So nutzt
auch die Bundesagentur für Arbeit Arbeitsmarktdienstleistungen im Rahmen des Vergaberechts.
Seit 2009 ist eine freihändige Vergabe an die Integrationsfachdienste aufgrund der Änderungen der VOL/A,
auf die von Vorrednern bereits hingewiesen wurde, nicht
mehr möglich. An diese Rechtsänderung infolge der
Rechtsprechung zum Vergaberecht ist auch die Bundesagentur für Arbeit als öffentlicher Auftraggeber gebunden. Hierzu zählen auch die Leistungen der Integrationsfachdienste zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen.
§ 46 Abs. 4 Satz 1 SGB III beinhaltet einen deklaratorischen Verweis auf das Vergaberecht, wonach dieser anzuwenden ist, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, also wenn Verträge der Integrationsämter mit
privaten Dritten geschlossen werden, sofern es sich nicht
um Rehabilitationsleistungen nach §§ 111 und 113 SGB IX
handelt. Im Übrigen möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass ein gleicher Zugang aller privaten Dienstleister
zu öffentlichen Aufträgen im Rahmen wettbewerblicher
Vergabeverfahren grundsätzlich verfassungsrechtlich
zwingend zu gewährleisten ist. Dies erfordert Art. 3 Abs. 1
unseres Grundgesetzes.
Gleichwohl wird - das muss ganz offen angesprochen
werden; darauf haben auch Sie, Herr Kollege Kurth, mit
dem Hinweis auf komplexe Unterstützungsbedarfe eindringlich aufmerksam gemacht - das hiesige Vergaberecht speziell im Rahmen von sozialen Dienstleistungen
den Anforderungen der Praxis nicht immer vollumfänglich gerecht. Es handelt sich bei den zu integrierenden
Mitbürgerinnen und Mitbürgern gerade nicht um Waren
oder beliebig austauschbare Dienstleistungen, sondern
um Menschen, bei denen es um Vertrautheit, um komplexe Sachverhalte geht. Es geht hier nicht um eine Akte
und nicht um eine Bewerbung, die man einem Unternehmen mit den Worten schicken kann: Stellt den mal ein,
es wird schon klappen. - Vielmehr muss man sich den
Bewerber anschauen; man muss sich seine Geschichte,
seine Beschwerden anhören; man muss seine Eignung
im Detail überprüfen; man muss sich eingehend mit dieser Person beschäftigen, bevor man ihn überhaupt in einen Job empfehlen kann, und dann auch noch die Nachsorge ein Stück weit mitmanagen.
Hier handelt es sich um Menschen, bei denen die Aspekte der Behinderung, die Geschichte, das Umfeld, die
Kontakte, die familiäre Situation, aber auch Präferenzen
und insbesondere die Krankheitsgeschichte oder die Geschichte der Behinderung eine große Rolle spielen. Deshalb ist es wichtig, nach der Vermittlung auch eine Begleitung am Arbeitsplatz mit zu übernehmen. Frau
Kollegin Mast hat in ähnlicher Form darauf hingewiesen, dass es gerade nicht um austauschbare Elemente
oder Waren geht, sondern um Menschen und Schicksale.
Deshalb jedoch völlig auf eine Ausschreibungspflicht
für Leistungen der Integrationsfachdienste, also Vermittlung und begleitende Hilfe, zu verzichten, wie Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es in Ihrem Antrag fordern, oder eine Rechtsänderung zu fordern, durch
welche die Bundesagentur für Arbeit künftig wieder
Aufträge zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen
an Integrationsfachdienste freihändig vergeben kann,
wie es die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Antrag fordern, halten wir nicht für
zielführend. Warum soll sich denn nicht auch der Integrationsfachdienst um Ausschreibungen auf der Grundlage von § 46 SGB III bewerben können?
Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben
im Übrigen auch die Sachverständigen im Rahmen der
vom Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführten
öffentlichen Anhörung am 17. Oktober 2012 bestätigt.
Die christlich-liberale Koalition verfolgt den Ansatz,
die Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen besser
zu berücksichtigen. Ich will es gerne wiederholen, Herr
Kollege Seifert, nachdem Sie dies vorhin als unüberwindbaren rhetorischen Fauxpas bezeichnet haben: Wir
fordern die Bundesregierung auf, „den nationalen
Rechtssetzungsspielraum“, das heißt, die Möglichkeit,
rechtliche Gestaltung vorzunehmen, „zu nutzen, um insbesondere bei sozialen Dienstleistungen die Berücksichtigung der bieterbezogenen“ - es geht also um das Unternehmen, das sich um die Integrationsdienstleistung
bewirbt - „Qualitätskriterien bei der Zuschlagserteilung
stärker zu gewichten sowie auf europäischer Ebene sich
für die Schaffung einer entsprechenden, für alle Dienstleistungen geltenden Regelung bei der anstehenden Reform der Vergaberichtlinien einzusetzen.“
Im Rahmen der beschränkten Ausschreibung kennt
man die sogenannte Bewährtheit und Zuverlässigkeit der
Unternehmen, die sich um die Ausschreibung bewerben.
Genau dort kann man das einbeziehen, was Sie individualisiert für die Menschen als Schwerpunkt der Integrationsdienste gesehen haben. Ich glaube, das ist eine Lösung im Hinblick auf eine viel bessere Problemsituation
für die Betroffenen und die zu vermittelnden Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Wir müssen feststellen - was betrüblich ist -: Die positive Entwicklung der letzten Jahre auf dem Arbeitsmarkt ist an unseren gehandicapten Mitbürgerinnen und
Mitbürgern nahezu vollständig vorbeigegangen; Frau
Kollegin Michalk hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen. Wir müssen aufpassen, dass wir die Menschen
in Problemsituationen, die gehandicapten und behinderten Menschen, am wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes teilhaben lassen.
In allen anderen Bereichen des Arbeitsmarktes - ich
verweise auf die Langzeitarbeitslosen, über die wir gerade diskutiert haben, und die Halbierung der Jugendarbeitslosigkeit - haben wir Erfolge erzielt. Dazu leisten
die Integrationsfachdienste einen wertvollen Beitrag.
Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, ein geordnetes, vernünftiges Ausschreibungsverfahren ohne große
Vergaberichtlinien und unter Vermeidung von Haus- und
Hoflieferanten durchzuführen, was anbieterbezogen ausgestaltet werden kann. Damit werden wir hoffentlich
mehr Erfolge bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen und behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern haben. Dabei sollten Sie uns begleiten.
Ich bedanke mich bei der SPD und den Grünen für die
Zustimmung zu unserem Antrag. Bei den Linken dauert
es mit der Zustimmung noch ein wenig. Vielleicht werden Sie uns auch einmal zustimmen. Die Betroffenen haben eine möglichst breite Unterstützung durch dieses
Haus verdient.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/11084. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10113 mit dem Titel „Mehr Berücksichtigung von Qualität bei der Vergabe von Dienstleistungen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4847 mit dem Titel
„Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste stoppen - Sicherstellung von Qualität,
Transparenz und Effizienz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5205 mit dem Titel „Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung für Leistungen der Integrationsfachdienste ermöglichen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Sascha Raabe, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ernährung sichern, ({0})Lebensbedingungen in Entwicklungsländern strukturell verbessern - Ländliche Entwicklung als Schlüssel
zur Bekämpfung von Hunger und Armut
- Drucksache 17/12379 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1}) Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVizepräsidentin Petra Pau
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! 1 Milliarde Menschen leben in extremer Armut,
870 Millionen hungern. Armut ist für diese Menschen
kein abstraktes Problem. Gerade für die Menschen in
Subsahara-Afrika geht es dabei ums Überleben. Ein
Sprichwort des afrikanischen Volkes der Haya sagt:
Armut ist wie ein Löwe - kämpfst du nicht, wirst
du gefressen.
Leider werden die Kleinsten und Schwächsten zuerst
gefressen: Jedes Jahr sterben 2,5 Millionen Kinder an
Mangelernährung. Dabei gibt es mehr als genug Lebensmittel auf der Welt. Kein Kind, kein Mensch müsste
hungern. Es ist genug da; es ist nur ungerecht verteilt.
Nelson Mandela hat gesagt:
Die Überwindung der Armut ist keine Geste der
Barmherzigkeit. Sie ist ein Akt der Gerechtigkeit …
Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht, und
deshalb müssen wir alles unternehmen, damit den Ärmsten der Armen Gerechtigkeit wiederfährt und wir spätestens bis zum Jahr 2030 endgültig Hunger und Armut
überwinden.
({0})
Unser Antrag zur ländlichen Entwicklung kann einen
wesentlichen Beitrag dazu leisten; denn drei Viertel der
Armen und Hungernden leben auf dem Land. Es ist also
entscheidend, hier die Lebensbedingungen strukturell zu
verbessern. Ländliche Entwicklung wurde jahrelang
vernachlässigt, sowohl von den Geberländern als auch
von den Partnerländern, und das hat seine Gründe: Wir
haben jahrzehntelang durch Agrarexportsubventionen
die Märkte dort so zerstört, dass es sich für Bauern nicht
gelohnt hat, eigene Produkte anzubauen, weil die Märkte
mit europäischem Milchpulver oder mit Geflügel und
Schweinehälften aus Europa und den USA überschwemmt wurden. Aber jetzt gibt es eine Chance für
Kleinbauern; die Weltmarktpreise sind gestiegen. Das ist
eine Chance, die es zu nutzen gilt.
Wir Sozialdemokraten sagen aber auch - das lesen
Sie in unserem Antrag -: Ländliche Entwicklung bedeutet für uns mehr, als den Kleinbauern nur dabei zu helfen, in der Subsistenzwirtschaft nicht zu verhungern.
Vielmehr ist es uns wichtig, ländliche Entwicklung als
Querschnittsthema zu begreifen, also die Wertschöpfung
und die Weiterverarbeitung vor Ort zu verbessern und
das ganze Paket mit all seinen wirtschaftlichen, sozialen
und klimapolitischen Aspekten zu betrachten.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, eine eigene haushalterische Zielgröße für die Förderung der
ländlichen Entwicklung festzulegen, damit die Stärkung
dieses Bereiches nicht zulasten anderer Bereiche geht.
Denn es würde uns schaden, wenn die Mittel innerhalb
des Einzelplans 23 nur umgeschichtet würden, also eine
stärkere Förderung der ländlichen Entwicklung zulasten
der Bereiche Gesundheit und Bildung sowie anderer
Sektoren ginge. Wir müssen die zusätzlichen Mittel, die
wir hier brauchen, über einen Aufwuchs, über mehr Mittel generieren. Das haben wir auch versprochen: Bis zum
Jahr 2015 wollen wir einen Anteil der Entwicklungshilfe
am BIP von 0,7 Prozent erreichen. Es ist eine Schande,
Frau Staatssekretärin, dass die Mittel des Einzelplans 23
gekürzt wurden. Wir brauchen einen Aufwuchs, damit
den Menschen im ländlichen Raum mehr Chancen zuteilwerden.
({1})
Wir fordern in unserem Antrag auch, dass die Programme stärker auf die ärmsten Entwicklungsländer ausgerichtet werden. Wir erwarten von den Ländern mit
mittleren Einkommen und von den Schwellenländern
mehr Eigenverantwortung bei der Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung. Es ist schon eine Schande,
dass etwa die Hälfte aller hungernden Menschen weltweit immer noch in China und Indien lebt, obwohl es
dort mittlerweile Reichtum und Luxusstädte gibt.
Natürlich ist gute Regierungsführung eine Voraussetzung dafür - das wollen wir gar nicht verschweigen -,
dass es den Menschen in den Entwicklungsländern besser geht. Durch eine gute, gerechte Land- und Bodenreform könnte man schon vielen Menschen helfen, und das
wollen wir natürlich von unseren Partnerländern einfordern. Wer aber nur mit dem Finger auf die Partnerländer
zeigt, der greift viel zu kurz. Denn auch Deutschland und
Europa müssen ihre Hausaufgaben machen. Wir haben
noch immer einen ungerechten Welthandel. Deswegen
müssen wir unsere Agrarsubventionen senken. Gerade
werden in Europa wieder Agrarsubventionen beschlossen;
sie sollen fast 40 Prozent am EU-Haushalt ausmachen.
Aber nicht nur die Agrarexportsubventionen, sondern
auch die internen Stützungen wirken handelsverzerrend.
Wir müssen beim Abschluss von Freihandels- und
Partnerschaftsabkommen darauf achten, dass die Partnerländer weiterhin Schutzzölle zugunsten ihrer Landwirtschaft erheben dürfen. Wir müssen auch darauf achten,
dass soziale Mindeststandards wie die ILO-Kernarbeitsnorm eingehalten werden und die Menschenrechte gewahrt bleiben.
Hier unterscheidet sich unsere Strategie von der des
Bundesministers Niebel. Er sagt: Jede Investition in
Afrika oder einem anderen Entwicklungsland ist eine
gute Investition. - Nein, nicht jede ausländische Investition ist gut, sondern nur diejenige, die den Ärmsten vor
Ort zugutekommt. Wir haben in vielen Ländern oft genug gesehen, dass Kinder in Bergwerken schuften müssen, dass Landarbeiter auf agroindustriellen Plantagen
durch in die Luft versprühte Pestizide vergiftet werden.
Das zeigt: Nicht jede Investition ist eine gute Investition.
Deswegen brauchen wir in Afrika und in den anderen
Entwicklungsländern endlich eine Förderung, die den
Menschen zugutekommt und nicht nur der Industrie und
den deutschen Interessen.
({2})
Wir haben ein ganzes Bündel von Maßnahmen in unserem Antrag aufgeführt, die ich jetzt nicht alle anführen
kann: Bildung, Unterstützung von Kooperativen von
Kleinbauern, Erhöhung der Wertschöpfung, Stärkung
des Dienstleistungssektors, Verbesserung des Nachernteschutzes durch sachgemäße Lagerung. Wir brauchen
mehr Kapital für Kleinbauern und Landwirte, Mikrokredite und spezielle Finanzprodukte, die auf Erntezyklen
abgestimmt sind. Wir brauchen noch mehr Infrastruktur,
und zwar nicht nur Straßen und Transportwege, sondern
auch Mobilfunk und Internet; denn das Internet ist ein
entscheidender Faktor für den ländlichen Raum in den
Entwicklungsländern, damit die Menschen dort nicht nur
in die Stadt flüchten, sondern auch auf dem Land Vermarktungs- und Bildungschancen haben. Wir brauchen
Zugang zu erneuerbaren Energien auf dem Land. Wir
brauchen Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen des
Klimawandels: Schutz vor Überschwemmung und Vorsorge vor Dürre. Wir brauchen Zugang zu Wasser und
Saatgut - all das und noch viel mehr.
All das wird aber nicht reichen; denn es gibt Regionen, in denen wir jetzt schon beobachten können, dass
sich die Menschen durch Landwirtschaft allein nicht
mehr ernähren können. Deswegen brauchen wir soziale
Sicherungssysteme auch für Nomaden, für Völker, die
durch den Klimawandel nicht mehr wie gewohnt ihr Einkommen haben, weil ihnen ihr Land durch Land Grabbing weggenommen wurde. Wir brauchen eine Versicherung im Gesundheitsbereich, aber auch zum Schutz vor
Einkommensausfall bei Arbeitslosigkeit.
Soziale Sicherungssysteme kann man mit Budgethilfe
gut anfinanzieren. Auf lange Sicht rechnet sich das auch
für arme Länder, weil die Absicherung irgendwann einmal selbsttragend ist. Wir werden aber gemeinsam mit
anderen nicht umhinkommen, das Ganze durch Budgethilfe anzufinanzieren. Auch hier unterscheiden wir uns
von Minister Niebel, der lieber überall Krankenstationen
mit einem deutschen Fähnchen darauf baut und sich
dann fotografieren lässt. Aber eine Woche später, wenn
der Ministertross abgereist ist, gibt es dort keine Medikamente, keine Krankenschwestern und keine Ärzte
mehr.
({3})
Wir sagen: Es ist besser, Budgethilfe in das Gesundheitswesen des Partnerlandes zu stecken, damit die
Krankenschwestern ausgebildet werden können, damit
die Ärzte bezahlt werden können. Das ist nachhaltiger
und sinnvoller, als irgendwelche Werbemaßnahmen
durchzuführen.
({4})
In unserem Antrag fordern wir Sie zu einer modernen
Entwicklungspolitik auf.
Wir müssen weiterhin gegen Nahrungsmittelspekulationen vorgehen. Die neue Debatte, in der jetzt so getan
wird, als hätte das alles keinen Einfluss, halte ich für unsäglich. Wir haben uns im Ausschuss ernsthaft mit dem
Thema beschäftigt und sind zu der Erkenntnis gekommen: Die Marktteilnehmer brauchen eine Absicherung
an den Märkten, aber nur die echten Marktteilnehmer.
80 oder 90 Prozent der Beteiligten sind gar keine echten
Marktteilnehmer mehr. Für mich ist es nach wie vor eine
Schande, dass die Deutsche Bank und andere mit dem
Hunger und dem Tod von Menschen spekulieren.
({5})
Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um gegen das
Land Grabbing vorzugehen. Die Ursachen für Land
Grabbing sind Spekulationen auf Land, aber auch auf
Agrokraftstoffe. An dieser Stelle sage ich ganz klar: Es
kann nicht sein, dass wir Agrosprit aus Entwicklungsländern einführen, nur damit Menschen in Deutschland mit
gutem Umweltgewissen in einem Geländewagen herumfahren können. Durch den Anbau von Pflanzen für Agrosprit gehen den Menschen in den Entwicklungsländern
Flächen für den Anbau für Nahrungsmittel verloren.
Ebenso unterbunden werden muss, dass wir einen Großteil des Getreides und des Sojas, das auf der Welt angebaut wird, an Schweine und andere Tiere verfüttern, die
wir hier in Deutschland mästen, um sie dann in alle Welt
zu exportieren.
Ich schließe mit einem Zitat vom Bundespräsidenten
Gauck. In einer Rede hat er festgestellt:
Die Hälfte des weltweit produzierten Getreides
wird an Tiere verfüttert. Würde in den entwickelten
Ländern nur drei Prozent weniger Fleisch gegessen,
könnte man mit dem weniger benötigten Getreide
etwa eine Milliarde Menschen ernähren.
({6})
Er hat uns aufgefordert, dies zu tun. Wir können auch
„kleine Löwen“ sein, indem wir faire Handelsprodukte
einkaufen und indem wir weniger Fleisch essen.
Kollege Raabe, das Staatsoberhaupt hat hier keine zusätzliche Redezeit bekommen. Sie müssen zum Schluss
kommen.
Frau Präsidentin, Sie sehen, ich kämpfe wie ein Löwe
für die armen Menschen. Ich werde jetzt natürlich respektvoll meinen Platz räumen.
Ich hoffe, dass Sie unserem Antrag in zweiter Lesung
zustimmen und heute Abend einmal vegetarisch essen.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Helmut
Heiderich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Spät kommt er, doch er kommt.
Spät kommt er, der lange angekündigte Antrag der SPD
zu diesem Themenbereich. Er kommt gleich aus zwei
Gründen spät:
Erstens ist er erst gestern vorgelegt worden, sodass
wir uns sozusagen über Nacht damit beschäftigen mussten, das Niedergeschriebene zu lesen und dazu Position
zu beziehen.
({0})
Zum Zweiten kommt er spät, weil wir uns fast schon
in den letzten Sitzungswochen dieser Legislaturperiode
befinden.
({1})
Es wird dauern, bis er nach der Behandlung in den Ausschüssen zurück ins Plenum kommt. Deswegen können
Sie mit diesem Antrag nicht mehr das erreichen, was Sie
damit angeblich erreichen wollen, nämlich dieser Bundesregierung im Bereich der Entwicklungshilfe und im
Bereich von Ernährung und ländlicher Sicherung Handlungsoptionen zu geben.
({2})
Ich darf Ihnen sagen: Erst einmal hat es diese Bundesregierung überhaupt nicht nötig, von Ihnen Ratschläge
und Handlungsoptionen entgegenzunehmen.
({3})
Zweitens haben auch wir Koalitionsfraktionen das nicht
nötig; denn wir haben bereits in den Jahren 2011 und
2012 drei entsprechende Vorlagen hier eingebracht. Von
daher brauchen wir Ihre Nachhilfe nicht.
({4})
Das, was Sie eben hier vorgetragen haben, und das,
was Sie niedergeschrieben haben, kommt hinsichtlich einiger Formulierungen dem, was wir damals aufgeschrieben und verabschiedet haben, recht nahe. Der Unterschied ist, dass Sie das damals bekämpft und abgelehnt
haben. Jetzt haben Sie mit ähnlichen Formulierungen
das niedergeschrieben, was in unseren Anträgen steht.
Ich will nicht plagiator.de einschalten; aber ich will doch
ein paar Beispiele nennen. Zum Beispiel stammen einige
Ihrer Punkte fast wörtlich aus unserem Antrag zur ländlichen Entwicklung. Ihr Punkt 18 spiegelt sich ähnlich in
unserem Antrag „Wasser und Ernährung sichern“ wider.
Der Punkt 17 Ihrer Forderungen steht analog in unserem
Antrag „Illegale Landnahme verhindern“.
({5})
Generell fällt auf, Kollege Raabe, dass Ihr Antrag im
Gegensatz zu der zugespitzten Agitation, die Sie am
Schluss hier vorgetragen haben, äußerst moderat formuliert ist. Da scheinen die Agrarpolitiker Ihrer Fraktion
mehr Einfluss gehabt zu haben, als Sie eben gesagt
haben. Ich will Ihnen auch dafür das eine oder andere
Beispiel geben:
Sie haben eben vom Land Grabbing gesprochen. In
Ihrem Antrag steht wörtlich: Es kann „bei Direktinvestitionen in Land auch positive Effekte geben“.
({6})
Da gibt es also schon eine ganz andere Positionierung.
Sie haben eben von Spekulationen gesprochen. In Ihrem Antrag steht wörtlich: „Hauptproblem“ ist „nicht“
die „Verteuerung der Marktpreise an sich, die für den
Fall, dass die Bauern vor Ort von höheren Einkommen
profitieren, durchaus eine Chance für die ländliche Entwicklung darstellen könnte.“
({7})
Auch diesbezüglich gibt es also eine Position, die anders
ist als die, die Sie hier eben so kampfbetont vorgetragen
haben.
Letztlich steht in Ihrem Antrag:
Moderne ländliche Entwicklung denkt von der
kleinbäuerlichen Landwirtschaft bis zu wirtschaftlicheren Betriebsgrößen.
Das ist aus zwei Gründen interessant: Erstens besagt
das, dass aus Ihrer Sicht kleinbäuerliche Landwirtschaft
nicht wirtschaftlich ist. Zweitens nehmen Sie zum ersten
Mal wirtschaftliche Betriebsgrößen, das heißt größere
oder Großbetriebe, in die Förderungsbereiche Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung auf. Auch
das ist hochinteressant. Das ist etwas ganz anderes als
das, was Sie eben so kampfbetont hier vorgetragen
haben.
({8})
Sie haben auch vorgetragen - auch das will ich aus
Ihrem Antrag zitieren -:
Die ländliche Entwicklung fristete lange ein Schattendasein …
Das ist wohl wahr. Solange Ihre Ministerin
Wieczorek-Zeul im Amt war, war genau das zutreffend.
({9})
In Ihrer Fraktion hat es lange gedauert, bis Sie zu dieser
Einsicht kamen. Ich gebe Ihnen recht. Diesem Punkt
Ihres Antrags könnten wir zustimmen.
Seit unsere Koalition und unsere Regierung hier
verantwortlich sind, haben wir aber eine vollständige
Kehrtwende vorgenommen. Sie wissen doch auch, dass
wir in genau diesem Bereich sehr erfolgreich arbeiten.
({10})
Seit unserer Regierungsübernahme haben wir die Mittel
für diesen Bereich jährlich fast verdoppelt. Mit rund
700 Millionen Euro pro Haushaltsjahr - ich habe noch
einmal nachgesehen: nach Auskunft des Ministeriums
waren es 2011 sogar über 800 Millionen Euro - sind wir
inzwischen weltweit drittgrößter Geber in diesem Aufgabenbereich. Da können Sie den Unterschied sehen:
Bei Ihnen fristete das Ganze ein Schattendasein; heute
investieren wir massiv in diese Aufgabe.
({11})
Ich will Ihnen ein paar kleine Beispiele nennen. Bei
der von der G 8 in L’Aquila beschlossenen Agrarinitiative hat Deutschland nicht nur 2,1 Milliarden Euro für
einen Auftrag übernommen, sondern es hat diese
2,1 Milliarden Euro bis Ende 2012 in die Auftragserfüllung investiert.
({12})
Wir haben - auch das ist etwas Neues - zum ersten
Mal die Möglichkeiten der einzelnen Ressorts miteinander verknüpft. So ist zum Beispiel im September 2012
das Eckpunktepapier über die Zusammenarbeit bei der
Ernährungssicherung zwischen Bundesministerin Ilse
Aigner und Dirk Niebel unterzeichnet worden. Hinter
dieser Kooperation steht bei uns die Erkenntnis, dass wir
die fachliche Kompetenz des Agrarministeriums und die
Umsetzungskompetenz des Entwicklungshilfeministeriums vor Ort in den Entwicklungsländern bündeln sollten; das macht Sinn. Zusammen, gemeinsam sind wir
stärker. Das zeigt: Hier haben wir einen deutlichen
Schritt nach vorn gemacht.
Es ist nicht so, wie Sie behaupten, wenn Sie von Mängeln bei der Umsetzung sprechen. Gleiches gilt übrigens
auch - das wurde uns gestern von Minister Peter
Altmaier im Ausschuss höchstpersönlich vorgetragen für die Zusammenarbeit mit dem BMU. Insofern rennen
Sie mit vielem, was Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, offene Türen ein.
Wenn man diesen Antrag liest, stellt man auch fest,
dass Sie häufig mit breitester Unverbindlichkeit argumentieren. Deswegen ist mein Eindruck wohl nicht
falsch, dass Sie hierbei eigentlich gar nicht mehr die
Hoffnung haben, der Bundesregierung Material vorlegen
zu können, sondern dass Sie offensichtlich ein Hintergrundpapier brauchen, damit Sie sich im Wahlkampf
darauf berufen können. Auch deswegen haben Sie hinter
den Spiegelstrichen in Ihrem Antrag alles aufgenommen, was einem zu diesem Thema überhaupt nur einfallen kann, egal ob man es, realistisch gesehen, umsetzen
kann.
({13})
- Es ist wirklich ein Gemischtwarenladen, und ich habe
auch ein schönes Zitat dazu gefunden.
({14})
Der gute alte Gotthold Ephraim Lessing hat gesagt Herr Raabe, Sie haben durchaus Neues und Gutes vorgelegt -: „Das Neue daran ist nicht gut, und das Gute daran
ist nicht neu.“
({15})
Sie sehen: Auch schon vor über 200 Jahren hat man so
etwas durchschauen können.
Wenn Sie nun ländliche Entwicklung als Querschnittsaufgabe fordern, so sage ich Ihnen: Wir als Regierung sind dem längst gerecht geworden. Längst geht
es nicht mehr darum - Sie haben es eben angesprochen -,
die Subsistenzwirtschaft als solche zu erhalten, sondern,
wie es der Präsident des IFAD vor zwei Jahren in unserem Ausschuss gesagt hat - ich habe mir das herausgesucht -: Es geht besonders um die Ausarbeitung einer
Vision einer kleinbetrieblichen Agrarkultur. - Er hat
wörtlich bei uns gesagt: Man muss die Bekämpfung des
Hungers mit dem Privatsektor verbinden. Es geht um die
kleinen und mittelständischen Unternehmen in den ländlichen Gebieten; denn diese sind das Verbindungsglied
zwischen den Kleinbauern der Produktion und dem
Weiterverkauf. - Interessanterweise haben die Experten,
die in diesem Januar in Davos zusammengesessen haben, auch über den Bereich der Agrarpolitik gesprochen,
und sie sind genau zu diesem Ergebnis gekommen.
Damals haben sie formuliert: Make small farming to a
small business. - Es geht also darum, Kleinbauern zu einer wirtschaftlichen Einheit zu verbinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die
Vernetzung vieler Einzelthemen angeht - Sie haben eben
gesagt, wir bräuchten ein Querschnittsthema -, sind wir
längst auf dem Weg und brauchen uns von Ihnen dazu
nichts mehr vorhalten zu lassen.
({16})
Das BMZ hat inzwischen eine eigene Taskforce etabliert. Es hat ein Zehn-Punkte-Konzept aufgestellt. Insbesondere in diesen Bereichen sind wir auf dem richtigen Weg. Wir haben festgelegt, dass wir mit den
Ländern, in denen wir helfen und mit denen wir ein partnerschaftliches Miteinander pflegen, gemeinsam die
Maßnahmen auf Wirksamkeit prüfen. Wir sind nur dann
erfolgreich, wenn wir das so umsetzen.
Zudem haben wir jetzt über das BMZ eigene Vertreter
an den Botschaften. Das wird uns eine ganz neue Qualität der Zusammenarbeit ermöglichen, um in den einzelnen Ländern die Maßnahmen partnerschaftlich miteinander zu konzipieren und voranzubringen.
Eine letzte Bemerkung. Wenn Sie schon auf die
nächste Regierungsperiode hinausschauen, dann, meine
ich, sollten wir in unserer Entwicklungspolitik einige
Bereiche forcieren, bei denen wir bisher große Erfolge
haben. Ich denke zum Beispiel an das Thema Wasser,
das international immer mehr an Bedeutung gewinnt,
von der Wassererzeugung über die Verteilung bis hin zu
Bewässerungssystemen. Wir sollten uns bei der Ausbildung und der Verbesserung der Produktivität vor Ort
verstärkt einbringen, insbesondere auch bei den Kleinbauern. Denn auch da ist unsere Arbeit international sehr
anerkannt.
Wir sollten auch die stärkere Einbindung der privatwirtschaftlichen Seite fortsetzen, angefangen bei der
neugegründeten GFP, German Food Partnership, die wir
mit der Industrie in Gang gebracht haben, über die Billund-Melinda-Gates-Stiftung bis hin zur Etablierung von
Wertschöpfungsketten mit großen Unternehmen.
({17})
Wir sind auch international, verehrte Frau Hänsel, bestens etabliert. Ich will nur darauf verweisen, dass unser
Expräsident Horst Köhler inzwischen auf internationaler
Ebene daran arbeitet - das wird auch im Antrag der SPD
gefordert -, das Post-2015-Development voranzubringen, das heißt, aus den MDGs SDGs zu machen. Auch
da haben wir mit Horst Köhler eine hervorragende Vertretung und sind bestens vernetzt. Insofern brauchen wir
an dieser Stelle von Ihnen keine Nachhilfe.
Letzter Punkt, den ich anführen will. Wir haben über
G 20 ein neues Informationssystem angeschoben,
AMIS, das inzwischen in der Feinausarbeitung ist. Wir
sind auch im Committee on World Food Security. Sie sehen: Unsere Arbeit ist längst mehr als nur Querschnitt.
Wir haben schon heute einen umfassenden Ansatz in
diesem Bereich. Dabei wird es auch in Zukunft bleiben.
Wir werden weiter erfolgreich daran arbeiten.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Klimakatastrophen, Ausdehnung der Wüsten, ausgelaugte Böden, steigende Weltbevölkerung - all dies ist für Milliarden Menschen eine düstere Zukunftsperspektive. Heute
schon hungern 870 Millionen Menschen. Das Menschenrecht auf Nahrung wird so häufig verletzt wie kein
anderes. Fast im Sekundentakt stirbt ein Kind unter fünf
Jahren an Hunger. Es ist eine Schande, dass dieser tägliche Skandal kaum mehr Aufsehen erregt.
({0})
Im vorliegenden Antrag der SPD werden Vorschläge
zur Hungerbekämpfung gemacht. So soll Nahrungsmittelspekulation durch ein Verbot von Fonds, die mit
Lebensmitteln zocken, eingedämmt werden. Es soll verbindliche Regeln zur Verhinderung von Landraub geben.
Agrarexportsubventionen sollen abgeschafft werden. So
weit, so gut. Dies alles sind Punkte, die auch wir als
Linke schon in Anträgen gefordert haben.
Sie haben aber für Ihren Antrag den Titel „Ernährung
sichern …“ gewählt. Angesichts eines so umfassenden
Titels sind die Vorschläge insgesamt nicht ausreichend.
So kann ich nicht verstehen, wie Sie Ernährung sichern
wollen, wenn Sie keine Silbe zur neoliberalen Politik
Deutschlands und der EU verlieren, welche mittels Freihandelsabkommen mit den Ländern des Südens betrieben wird.
({1})
Durch diese Abkommen werden regionale Märkte in
armen Ländern für Billigwaren aus Europa geöffnet. Die
einheimischen Waren können dem Preisdruck nicht
standhalten. Sie werden zerstört. Menschen vor Ort verlieren ihr Einkommen und stürzen in Hunger. Wegen der
neoliberalen Programme von Weltbank und Internationalem Währungsfonds dürfen die Staaten im Süden ihre
Landwirte nicht unterstützen: keine gesicherten Abnahmepreise, keine Zuschüsse für Saatgut und Dünger. Wir
füttern unsere Landwirtschaft mit Subventionen, verbieten es aber Ländern wie Kenia und Ghana. Das ist absurd. Deshalb sagt die Linke „Nein“ zu solchen Freihandelsabkommen und „Nein“ zu neoliberalen Reformen.
({2})
Im Antrag steht auch nichts zu einer weiteren wichtigen Frage: Wer produziert was unter welchen Bedingungen? Tragen Fairtrade-Rosen in Kenia und Zuckerrohranbau in Brasilien zu mehr Ernährungssouveränität bei?
Wohl kaum, weil Kleinbauern erst von ihrem Land vertrieben und anschließend als billige Saisonarbeiter angestellt werden. Sie verlieren also ihr Land und ihre Unabhängigkeit. Das Interesse der Agrarkonzerne an der
Landwirtschaft ist groß wie nie. Nahrungsmittel sind für
sie das neue Öl, und Land ist das neue Gold. Die Politik
unterstützt sie dabei. So setzen die G-8-Staaten zur Ernährungssicherung zunehmend auf die Privatwirtschaft.
Mehrere Unternehmen, auch Agrarriesen wie Syngenta,
Unilever und Monsanto, haben die Kampagne „Neue Allianz für Ernährungssicherheit“ für Afrika gestartet.
({3})
Auch die Bundesregierung unterstützt diese Kampagne finanziell. Um daran teilzunehmen, müssen afrikanische Regierungen ihre Politik investitionsfreundlich im
Sinne des Agrobusiness gestalten. So musste sich Mosambik dazu verpflichten, den freien Austausch von
Saatgut zu verbieten und stattdessen nur mit dem kostenpflichtigen Saatgut der Agrarkonzerne zu handeln. Hier
geht es offensichtlich nicht um Ernährungssicherung,
sondern um Gewinne für Monsanto & Co. Wer Hunger
bekämpfen will, muss gegen so etwas vorgehen.
({4})
Die Bundesregierung setzt ebenfalls auf die Privatwirtschaft. So fließen öffentliche Gelder in einen Fonds
für afrikanische Landwirtschaftsbetriebe, der dann aber
von der Deutschen Bank gemanagt wird, von derselben
Bank, die Hunger schafft, indem sie mit Lebensmitteln
zockt. Auch die neue sogenannte German Food Partnership wird mit deutschen Steuergeldern und der GatesStiftung Agrarkonzernen wie BASF und Syngenta neue
Märkte eröffnen. Solche Kooperationen mit der Privatwirtschaft füllen keine Teller in Afrika, sondern die Taschen der Unternehmen. Deshalb sagen wir: Finger weg!
({5})
Die SPD sagt dazu in ihrem Antrag nichts. Sie von
der SPD scheuen sich, die Profiteure des weltweiten
Hungers zu benennen und ihnen das Handwerk zu legen.
Aber genau das muss passieren. Niemand darf am weltweiten Hunger von Menschen verdienen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit durch eine
Zwischenfrage bzw. jetzt eine Nachfrage verlängern?
Ja, das können wir machen.
Bitte schön.
Herr Kollege Movassat, ich habe unseren Antrag als
Berichterstatter selbst geschrieben. Jetzt höre ich, wozu
die SPD angeblich nichts sagt. Ich habe den Antrag hier
bei mir. Es ist völliger Quatsch, wenn Sie sagen, dass
sich die SPD nicht zum Thema Saatgut geäußert hat. In
Punkt 24 unseres Antrags fordern wir wörtlich, „Saatgut
zu fairen Preisen einzusetzen“. Außerdem heißt es dort,
dass Biopatente dem nicht entgegenstehen dürfen. Das
bezieht sich gerade auch auf die Kleinbauern.
Sie haben kritisiert, dass wir nichts zu den Freihandelsabkommen gesagt haben. Dieses Thema nimmt in
unserem Antrag einen ganz großen Teil ein. In Punkt 7
schreiben wir, dass wir den ärmsten Ländern einerseits
durch einen zoll- und quotenfreien Zugang zu unseren
Märkten Weltmarktchancen eröffnen und - jetzt kommt
es - sie andererseits durch ausreichende Schutzmechanismen vor einer Zerstörung ihrer heimischen Märkte
bewahren wollen und dass Freihandels- und Partnerschaftsabkommen nur dann abgeschlossen werden sollen, wenn menschenrechtliche, ökologische und soziale
Mindeststandards eingehalten werden.
Man kann zwar die gleiche Platte jedes Mal vortragen.
({0})
Aber man sollte den Kollegen zumindest den Respekt
entgegenbringen, ihren Antrag vorher zu lesen und dann
auf diesen Antrag Bezug zu nehmen, statt immer wieder
alle Vorurteile, die man gegenüber der SPD hat, auszubreiten, auch wenn der Antrag dies nicht hergibt.
Herr Kollege Raabe, ich habe Ihren Antrag natürlich
aufmerksam gelesen.
Ich fange mit dem Freihandel an. Es ist richtig, dass
Sie in Punkt 7 Ihres Antrags den EU-Freihandel ansprechen. Sie machen dort auch entsprechende Vorschläge.
Aber Sie gehen in Ihrem Antrag nicht auf die neoliberale
Politik ein, die dahintersteckt; das ist das Problem. Das
ist der Punkt, den ich in meiner Rede an Ihrem Antrag
kritisiert habe.
Was das Saatgut angeht, lautete meine Kritik, dass Sie
die Partnerschaft mit der Privatwirtschaft nicht kritisieren und dass die Auswüchse, zu denen es hier gekommen ist, die kleinbäuerliche Entwicklung in den Ländern
des Südens nicht unterstützen, sondern vor allem dazu
dienen, die Taschen der Unternehmen zu füllen.
({0})
Das Wort hat nun Christiane Ratjen-Damerau für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kollegen und Kolleginnen! „Der Hunger in der Welt ist
ein Skandal, besonders weil er überwindbar ist.“ Dies
sagte Ende Januar dieses Jahres der Vorsitzende der
Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, der Erzbischof Dr. Ludwig Schick. Ich sage:
Deutschland als wohlhabendes Land mit einer gewichtigen Stimme in der Welt hat die Verantwortung, sich für
Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und die
Bekämpfung der Armut einzusetzen.
({0})
Wir haben die Pflicht, uns für eine faire Gestaltung der
Globalisierung sowie für den Erhalt der Umwelt und der
natürlichen Ressourcen zu engagieren.
Um dieses Ziel zu erreichen - eine Welt in Frieden, in
Freiheit und ohne Hunger - hat die christlich-liberale
Koalition in dieser Legislaturperiode drei Anträge verabschiedet: erstens „Illegale Landnahme verhindern,
Eigentumsfreiheit schützen, Ernährungsgrundlage in
Entwicklungsländern sichern“, zweitens „Ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit weltweit verbessern“ und drittens „Wasser und Ernährung sichern“.
({1})
Liebe Kollegen von der SPD, ich sehe es als ein außerordentliches Kompliment an, dass Sie große Teile unserer Forderungen aus den eben genannten Anträgen
übernommen und jetzt in Ihren Antrag eingebaut haben.
Herr Raabe, herzlichen Dank dafür!
({2})
Einige Punkte, Herr Raabe, sehen wir jedoch anders
- und unsere Sichtweise wird auch von der Wissenschaft
bestätigt -: Spekulation und Spekulanten für den Hunger
in der Welt verantwortlich zu machen, ist zwar eine einfache und leicht vermittelbare Erklärung. Dies ist jedoch
eine völlig falsche Interpretation der Zusammenhänge.
({3})
Dies zeigt beispielsweise die Entwicklung des Weizenpreises: Zwischen 2006 und 2007 hat sich Weizen auf
dem Weltmarkt um 78 Prozent verteuert. Die Hauptursache dieser Preissteigerung ist der steigende Ölpreis, der
auf die energieintensive Landwirtschaft durchgeschlagen hat und gleichzeitig den Transport von Nahrungsmitteln verteuert. Gravierend kommt hinzu, dass es in
dieser Zeit Exportbeschränkungen in Ländern wie Russland oder der Ukraine gab, die das Angebot auf dem
Weltmarkt zusätzlich verknappt haben.
Termingeschäfte hingegen - die von Ihnen als große
Übeltäter ausgemacht wurden - sichern Landwirte auf
der ganzen Welt gegen Preisschwankungen ab. Die
Preisbildung ergibt sich ganz automatisch durch Angebot und Nachfrage.
Die Idee, dass Spekulanten tonnenweise Nahrungsmittel aufkaufen und diese zurückhalten, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder profitabel verkaufen zu
können, kann einer logischen Betrachtung nicht standhalten: Die Lagerkosten und das Risiko einer verdorbenen Ware wären viel zu hoch. Zudem befindet sich auf
dem Agrarsektor eine Vielzahl von Akteuren. Einzelne
haben gar keine Möglichkeit, den gesamten Markt zu beeinflussen.
Es bleibt ein frommer Wunsch Ihres Antrages, dass
sich durch gute Worte und - ich will es einmal so nennen eine SPD-nahe Erziehung die Essgewohnheiten der
Weltbevölkerung zum Vegetarismus hin verändern.
({4})
Es mag in der gutsituierten Bevölkerung in Deutschland
ein Trend sein, sich fleischlos zu ernähren; doch für den
größten Teil der Weltbevölkerung trifft dies nicht zu. Die
Nachfrage nach Fleisch wird mit dem weiteren Wachstum der Weltbevölkerung und dem zunehmenden Wohlstand in den Schwellen- und Entwicklungsländern weiter
ansteigen.
Neben den vielen richtigen, auch von Ihnen genannten Aspekten wie der gezielten Einbeziehung von
Frauen, der Stärkung der ländlichen Bevölkerung und einer fairen Verteilung von Land wird es vor allem darauf
ankommen, das Angebot an Nahrungsmitteln zu erhöhen
und gleichzeitig die Umwelt und die Biodiversität zu
schützen. Wir werden den weltweiten Hunger nur dann
bekämpfen können, wenn wir die Produktivität in der
Landwirtschaft, das heißt den Ertrag pro Fläche, weiter
steigern und weitere Anbauflächen erschließen.
Leider sind Sie dazu nicht bereit; anders ist Ihre neue
Landwirtschaftspolitik in Niedersachsen mit der durch
den sogenannten Bauernschreck-Minister großangekündigten Agrarwende nicht zu verstehen. Das erklärte Ziel,
Lebensmittel nur noch für das eigene Land zu produzieren und nicht mehr für den Export, schadet sowohl den
Unternehmen als auch der Weltbevölkerung. Ich sage
ganz ehrlich: Ich finde so eine Einstellung extrem egoistisch.
({5})
Europa muss vom Nettoimporteur wieder zum Nettoexporteur werden. Wir müssen mit unserem technischen
Wissen und unseren Umweltstandards für die Weltbevölkerung mitproduzieren und damit die Weltmarktpreise
senken. Gepaart mit Investitionen in der Forschung - sowohl bei uns als auch in den Entwicklungsländern - wird
das zu weniger Hunger in der Welt führen.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Thilo
Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst die gute Nachricht in Richtung SPD: Wir stimmen
eurem Antrag zu.
({0})
Er ist erstaunlich gut. Wir hätten nicht gedacht, dass ihr
ihn durch die Gesamtfraktion bekommt. Entweder hat
die Agrarlobby bei euch geschlafen, oder es gibt wirklich einen Bewusstseinswandel in der SPD - was wir
sehr begrüßen würden.
({1})
Darauf deutet zum Beispiel der Punkt 31 hin, in dem
gefordert wird - ich zitiere -, „der zunehmenden Konkurrenz von ‚Trog und Teller‘ entgegenzuwirken und die
({2})Tierhaltung so aufzustellen, dass sie weitgehend mit regionaler Futtermittelerzeugung bewerkstelligt werden kann“.
({3})
- Prima, super! Zum Glück eine deutliche Abkehr von
den Vorstellungen eines Udo Folgart, der noch 2009
Schattenagrarminister im Kabinett von Steinmeier war
und mit riesengroßen Schweinemastanlagen und Futtermittelimporten aus Entwicklungsländern keine Probleme
hatte.
({4})
- Jetzt hast du das Sagen, und wir hoffen, dass dieser
Kurswechsel Bestand haben wird.
({5})
Am Anfang des Antrages stehen die Hungerzahlen,
die allerdings mit Vorsicht zu genießen sind. Wir alle gebrauchen jetzt immer die Zahl 870 Millionen Hungernde. Vor einiger Zeit sprachen wir von 1 Milliarde.
Diese neue Zahl erweckt den Eindruck, als ob es wirklich Rückschritte gäbe, über die wir uns freuen können.
Schön wär’s! Die Kriterien und Methoden der Zählung
haben sich geändert. Die Statistiken und die Zahl
870 Millionen, die die FAO verbreitet hat, beziehen sich
auf das Jahr 2011 - vor der großen Hungersnot am Horn
von Afrika und in der Sahelzone. Die Zahl 1 Milliarde
wird wahrscheinlich der Realität sehr viel näher kommen.
Dann gibt es noch den sogenannten versteckten Hunger: weitere 1,5 Milliarden Menschen, die auf den ersten
Blick nicht wie abgemagerte Hungeropfer aussehen, die
jedoch nicht dauerhaft an wertvolle lebenswichtige Vitamine und Nährstoffe wie Zink, Eisen und Jod kommen
und daran schwer erkranken. Ich habe die Zahlen noch
einmal kontrolliert. Die Vereinten Nationen gehen davon
aus, dass jeden Tag auf dieser Welt rund 25 000 Menschen - darunter sehr viele Kinder - an den direkten und
indirekten Folgen der Unter- und Mangelernährung sterben. 25 000 - etwa die Einwohner einer mittleren Kleinstadt - jeden Tag!
Dies liegt keineswegs an der sogenannten Bevölkerungsexplosion; denn die landwirtschaftliche Produktion
ist schneller gestiegen als die Weltbevölkerung. Das
kann man daran ablesen, dass die Kalorienmenge, die
statistisch jedem Menschen zur Verfügung steht, in den
letzten 40 Jahren ebenfalls um 30 Prozent gestiegen ist.
Wie gesagt, dies sind statistische Angaben, die den Hungernden nicht helfen. Sie machen aber deutlich, dass genug für alle da ist, dass der Hunger in der Welt noch kein
Mengenproblem ist, sondern ein Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblem.
({6})
Der Hunger in der Welt ist eine Folge von Politikversagen - und so gesehen eine Anklage gegen uns alle.
Im Antrag werden fast alle Hungerursachen benannt:
vor allem die Vernachlässigung der Landwirtschaft und
der ländlichen Entwicklung - dort wäre vielleicht auch
ein wenig Selbstkritik angebracht gewesen, aber lassen
wir das -, der Klimawandel, die ausufernde Spekulation
mit Nahrungsmitteln - Frau Ratjen-Damerau, die Anhörung bei uns im Ausschuss bzw. die Ausführungen von
Herrn Müller haben etwas völlig anderes ergeben als
das, was Sie jetzt vorgetragen haben -, Land Grabbing,
kriegerische Auseinandersetzungen und ungerechte
Welthandelsstrukturen. Etwas zu kurz kommt in dem
Antrag der SPD die Überfischung der Meere. Da könnte
man Bezug nehmen auf die wirklich gute Entschließung
des Europäischen Parlaments.
Wirklich vermisst haben wir in dem Antrag einen Bezug auf den Weltagrarreport, die Empfehlungen des
IAASTD-Berichts; denn dieser warnt eindrücklich vor
einem Verlust der Bodenfruchtbarkeit durch Überdüngung und einen zu starken Einsatz chemischer Gifte.
Industrielle Landwirtschaft mit Gentech und der chemischen Keule ist Teil des Problems und nicht Teil der
Lösung. Wir brauchen eine weltweite Agrarwende - hin
zu wirklich nachhaltigen Anbaumethoden. Das kommt
in dem SPD-Antrag etwas zu kurz. Wir hätten uns auch
eine klare Absage an die verfehlte Strategie im Rahmen
der Neuen Allianz für Ernährungssicherheit gewünscht,
die die Bundesregierung befürwortet; denn diese will mit
BASF, Coca-Cola und Monsanto im Rahmen dieser
neuen G-8-Initiative den Hunger bekämpfen. Das ist
eine unheilige Allianz, die nicht der Ernährungssouveränität dient.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir haben bereits einige Anträge zur Bekämpfung
von Land Grabbing und der Spekulation mit Nahrungsmitteln sowie einen Antrag zur ländlichen Entwicklung
vorgelegt. Trotzdem werden wir noch einen Antrag vorlegen, der all diese Maßnahmen in einem Maßnahmenbündel zusammenfasst. Dann hoffen wir, dass die SPD
sich revanchiert und unserem Antrag zustimmt.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12379 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Heinz
Riesenhuber, Nadine Schön ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Martin Lindner ({2}), Claudia
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Innovationen stärken und Lust auf Technik
wecken
- Drucksachen 17/11859, 17/12099 Berichterstattung:Abgeordneter Werner Dreibus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Birgit
Homburger für die FDP-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben zu später Stunde noch die Gelegenheit, über das
Thema Forschung zu sprechen. Ich bin froh, dass wir
heute die Möglichkeit haben, den dazu vorliegenden Antrag hier im Plenum abschließend zu beraten. Es wäre
uns lieber gewesen, wenn er heute zu einem früheren
Zeitpunkt beraten worden wäre. Der Ablauf des heutigen
Tages war aber so, wie er eben war. Insofern haben wir
jetzt die Gelegenheit, darüber zu sprechen.
Ich glaube, dass das Thema von zentraler Bedeutung
für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist. Das wird
auch in diesem Antrag noch einmal deutlich herausgestellt. Einerseits bezieht sich das darauf, was wir geleistet haben, und andererseits auf das, was es noch zu tun
gilt.
Zunächst einmal will ich deutlich machen, dass unsere Koalition in dieser Legislaturperiode nicht ohne
Grund 13 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung investiert hat. Im letzten Jahr hatten wir mit FuEAusgaben in Höhe von 14 Milliarden Euro die höchsten
Ausgaben, die der Bund je getätigt hat. Wir haben damit,
glaube ich, eine gute Entwicklung eingeleitet.
({0})
Wenn wir in diesem Feld bestehen und vor allen Dingen noch besser werden wollen - und wir müssen besser
werden, wenn wir den Status quo erhalten wollen -,
müssen wir etwas tun. Die Koalition macht da auch einiges. Wir haben beispielsweise die Hightech-Strategie
2020 auf den Weg gebracht, welche die Position
Deutschlands als Technologie- und Innovationsmotor in
Europa in den verschiedensten Aufgabenfeldern, beispielsweise bei Klima und Energie, Gesundheit und Mobilität oder aber auch im Bereich Kommunikation und
Sicherheit, stärken soll.
Ich bin froh, dass es daneben eine neue Innovationsstrategie des Bundesministers für Wirtschaft gibt, mit
der vor allem versucht werden soll, die Gründung von
Technologieunternehmen zu erleichtern. Wenn wir in
diesem Bereich noch besser werden wollen und quantitativ noch mehr erreichen wollen, schaffen wir das vor allen Dingen dadurch, dass neue Unternehmen auf den
Markt kommen und neue Dinge in den Markt bringen.
Das ist von zentraler Bedeutung für die gesamte Strategie.
Wir wollen deshalb gerade für die jungen Gründer
einen verbesserten Zugang zu Wagniskapital schaffen.
Beispielsweise durch den Investitionszuschuss für Business Angels haben wir eine erhebliche Verbesserung in
diesem Bereich erreicht. Das ist auch gut so.
({1})
Darüber hinaus ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Forschungseinrichtungen und der
Praxis notwendig. Deshalb finde ich es gut, dass es die
EXIST-Initiative gibt, die universitätsweit Gründungsstrategien entwickelt. Wir wollen im Grunde erreichen,
dass junge Menschen von vornherein ihre Forschungserfolge auch in Markterfolge umsetzen. Das gilt sowohl
für Produktinnovationen, aber ganz besonders für Prozessinnovationen, die in dem gesamten Diskussionsprozess oft ein wenig übersehen werden, aber einen wesentlichen Beitrag für die Weiterentwicklung leisten können.
Insofern ist auch die EXIST-Initiative ein wichtiger
Punkt, mit dem junge Leute an dieses Thema herangeführt werden.
Ein weiterer Punkt - das ist, glaube ich, ein ganz zentrales Element der Förderung von Innovationen - ist das
ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand.
Wir haben es ausgebaut bzw. die Mittel dafür aufgestockt. Das ist auch gut so. Es ist extrem praxisorientiert
und extrem erfolgreich, weil es sich an den Bedürfnissen
des Mittelstandes orientiert. Gerade der Mittelstand hat
sehr viele Weltmarktführer, sogenannte Hidden Champions. Das sind diejenigen, die uns auch im Bereich
Innovation stark machen. Wir wollen sie mithilfe entsprechender Rahmenbedingungen stärken.
({2})
Schauen wir darüber hinaus, so gibt es einen weiteren
Komplex, der einer etwas intensiveren Betrachtung bedarf. Das ist das Thema öffentliche Beschaffung. Wenn
man sich die Innovationsindikatoren anschaut, dann
sieht man an den erfolgreichen Ländern, dass sie deshalb
Erfolg haben, weil sie mit einem Instrumentenmix arbeiten, also mit sehr verschiedenen Instrumenten in der Förderung von Forschung und Innovation. Dazu gehört
eben auch das Thema öffentliche Beschaffung.
Ich bin froh, dass der Bundeswirtschaftsminister ein
Kompetenzzentrum zur Förderung von Innovationen im
Beschaffungswesen eingerichtet hat. Hiermit wollen wir
erreichen, dass bei öffentlichen Beschaffungen innova27632
tive Produkte besser berücksichtigt werden. Damit wollen wir in diesem Bereich Starthilfe leisten.
Es gibt einen weiteren Themenkomplex, der mir persönlich sehr am Herzen liegt: Das ist das Thema steuerliche Forschungsförderung. Ich glaube, dass im Instrumentenkasten der Forschungsförderung in Deutschland
genau dieses Instrument nach wie vor fehlt.
({3})
Jetzt können Sie sagen: Das hättet ihr ja machen können.
- In der Tat haben wir es noch nicht umsetzen können.
({4})
- Aufgrund der finanziellen Situation. Dafür brauchen
wir Geld, Frau Kollegin. Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir den Haushalt konsolidiert
({5})
und sind der Meinung: Man muss auf Haushaltsdaten
achten. Deswegen ist das eben nicht so gegangen, wie
wir uns das gewünscht hätten.
({6})
Wäre die Euro-Krise nicht dazwischengekommen, wäre
in dieser Legislaturperiode manches sicherlich anders
gelaufen.
({7})
Allerdings geben wir diese Idee nicht auf, sondern tun
nach wie vor alles dafür, sie noch umzusetzen. Vielleicht
finden wir in den nächsten Monaten noch Ansätze, um
im Haushalt Geld zusammenzukratzen, um dieses Instrument vielleicht doch noch auf den Weg zu bringen.
Ich persönlich gebe es jedenfalls nicht auf.
Es gibt einen weiteren Punkt: Das ist das Thema
Fachkräfteinitiative. Das beginnt für mich mit der frühkindlichen Bildung. Ich sage das hier in aller Deutlichkeit, weil ich glaube, dass wir schon sehr frühzeitig das
Interesse an Naturwissenschaft und Technik wecken
müssen, wenn wir für die Zukunft gewappnet sein wollen.
Abschließend, Herr Präsident, möchte ich deutlich
machen, dass die ganze Förderung im Forschungsbereich nicht bei einer finanziellen Förderung stehen bleiben kann. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es vor
allen Dingen einer gesellschaftlichen Diskussion bedarf.
Wenn ich mir die Lage in Deutschland anschaue und
sehe, dass wir hier in Deutschland immer stärker die Risiken betonen und immer weniger die Chancen, dann
komme ich zu dem Ergebnis, dass wir ein Problem haben.
({8})
Wenn wir dieses Problem nicht überwinden, wenn wir
es nicht schaffen, dass wir der Forschung einen Freiraum
und entsprechende politische Rahmenbedingungen geben, dann werden wir für die Zukunft schlecht aufgestellt sein. Deshalb plädiere ich sehr dafür, dass wir uns
alle daran beteiligen, den Menschen in diesem Land
klarzumachen, wie wichtig dieses Feld ist, wie wichtig
beispielsweise Biotechnologie und andere Bereiche sind
und wie wichtig es ist, dass diese Forschung auch in
Deutschland stattfindet und nicht nur im Ausland.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, ich habe heute ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich habe
vor exakt zwei Jahren hier an dieser Stelle gestanden und
über einen anderen Antrag der Regierungskoalition gesprochen. Er hatte den Titel: „Gestärkt aus der Krise Der deutsche Mittelstand als Motor für Wachstum,
Wohlstand und Innovation“.
Schon damals haben Sie Ihre eigene Regierung zum
Handeln auffordern müssen.
({0})
Schon damals ging es um die gleichen Themen wie
heute: Innovationsförderung, Gründungen, Finanzierungsbedingungen. Zwei Jahre sind vergangen, und in
zentralen Themenfeldern hat sich nichts getan.
({1})
Um es gleich vorwegzusagen: In Ihrem Antrag „Innovationen stärken und Lust auf Technik wecken“ steht
vieles Richtige.
({2})
Das ist klar; darin sind wir uns einig. Sie fordern im Wesentlichen das, was der Bundesbericht Forschung und
Innovation 2012 als Ergebnis zutage gefördert hat. Das
ist nicht falsch, aber es ist schon hinlänglich bekannt.
Auch wir von der SPD wissen, dass wir es in erster
Linie den innovativen mittelständischen Unternehmen
zu verdanken haben, dass wir die zurückliegenden Krisen so gut bewältigen konnten. Auch meine Fraktion fordert schon seit Jahren eine steuerliche Forschungsförderung; darauf sind Sie gerade eingegangen, Frau Homburger.
({3})
Wir teilen Ihre Einschätzung beim Thema Wagniskapital
und Gründungen. Frau Homburger, Sie haben einiges
getan; aber das reicht nicht aus, wie Sie das in Ihrem eigenen Antrag selbst formuliert haben.
Das beste Beispiel ist die steuerliche Forschungsförderung. Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren. Sie stellen wenig überraschend - fest:
Es müssen noch mehr Unternehmen an die Forschung herangeführt und eine größere Breitenwirkung der Forschungsförderung erzielt werden. Dafür sollten auch neue Wege beschritten werden,
zum Beispiel, indem die steuerliche Forschungsförderung als eine Art Forschungsbonus eingeführt
wird …
Das ist ein interessanter Vorschlag, aber die Realität
sieht anders aus. Ich habe erst gestern im Rahmen der
Fragestunde die enttäuschende Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Herrn Koschyk erhalten:
Im Bundeshaushalt 2013 und im geltenden Finanzplan ist eine steuerliche Förderung von Forschung
und Entwicklung nicht berücksichtigt.
({4})
Wir haben es schwarz auf weiß: Mit dieser Bundesregierung wird es keine steuerliche Forschungsförderung
mehr geben. Frau Homburger, es liegt nicht am Geld. Es
liegt an der falschen Prioritätensetzung Ihrer Politik. Für
andere Ausgaben war Geld da. Ich denke an das Betreuungsgeld oder an die Mövenpick-Steuer.
({5})
- Das kann man nicht oft genug sagen. - Das ist eine
Vergeudung von wertvollen Mitteln, die man im Bereich
der Forschung sinnvoller hätte einsetzen können.
Nächstes Beispiel: die Unternehmensgründungen.
Auch dazu stellen Sie zutreffend fest, dass die Anzahl
der Gründungen rückläufig ist. Das stimmt. Doch was
hat die Bundesregierung bisher getan? Sie hat faktisch
den Gründungszuschuss abgeschafft. Sie stellen zu
Recht fest, dass die Defizite bei Gründungen im Spitzentechnologiebereich besonders dramatisch sind, weil die
Finanzierungsquellen nicht ausreichen. Das steht alles in
Ihrem eigenen Antrag, auch wenn Sie es jetzt nicht hören wollen. - Auch das ist also richtig. Aber warum ist
bis jetzt so wenig geschehen, um den Wagniskapitalmarkt zu stärken? Warum hinken wir immer noch anderen Ländern hinterher?
Sie hätten ausreichend Zeit gehabt, die Bedingungen
wirksam zu verbessern. So bleiben große Potenziale ungenutzt, weil es an Finanzierungsinstrumenten fehlt.
({6})
Ein drittes Beispiel: Auch beim Technologietransfer
fehlt der Bundesregierung der Mut, alte Pfade zu verlassen. Die allseits beklagte Förderlücke beim Transfer von
neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in wirtschaftlich verwertbare Produkte und Dienstleistungen könnte
durch eine moderne Validierungsforschung überbrückt
werden. Die SPD-Bundestagsfraktion schlägt dazu die
Einrichtung eines Deutschen Innovationsfonds in Stiftungsform vor. Dieser hätte die Aufgabe, die Forscherinnen und Forscher im Rahmen von Validierungsprojekten
finanziell, inhaltlich und organisatorisch zu unterstützen.
Wir sind uns mit den Experten einig, dass ein Innovationsfonds ein geeignetes Instrument wäre, um die Lücken zu schließen, die derzeit durch die klassischen Förderinstrumente oder am Kapitalmarkt nicht geschlossen
werden können.
({7})
Das wäre innovativ. Das würde helfen. Aber auch hier
bleibt die schwarz-gelbe Bundesregierung tatenlos.
Innovation heißt wörtlich Neuerung oder auch Erneuerung. Davon ist in Ihrem Antrag leider nicht sehr viel
zu finden.
Meine Damen und Herren der Koalition, die SPDFraktion teilt viele Ihrer Forderungen an die schwarzgelbe Regierung. Aber mir fehlt der Glaube, dass Ihre
Forderungen bis zum Ende dieser Legislaturperiode
noch umgesetzt werden.
Ganz herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Heinz Riesenhuber für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Wicklein, es ist immer ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern. Sie bringen hier schon
Punkte, die wir austragen. Sie sagen, wir hätten die falschen Prioritäten beim Geld gesetzt. Jetzt reden wir erst
einmal über Geld.
Herr Schröder, der vor längerer Zeit einmal regiert
hat, hat 1998 gesagt, in fünf Jahren wolle er die Ausgaben der Bundesregierung für Forschung verdoppeln.
({0})
- Entschuldigung, das wurde hinterher nachgereicht,
nachdem die Wahl vorbei war. Ich habe es sehr bewundert, wie genau es auf seiner Karte stand.
In der Zeit, als er regiert hat, hat er die Ausgaben
nicht verdoppelt, sondern er hat sie in sieben Jahren um
11 Prozent erhöht. Auch dies trage ich immer in meinem
Herzen.
({1})
Er hat die Ausgaben in sieben Jahren um 11 Prozent erhöht.
Wir haben sie seit 2005, in acht Jahren, um über
50 Prozent erhöht. Und dies geht weiter. Ich räume Ihnen freimütig ein: Geld allein macht nicht glücklich. Es
gehört auch Intelligenz dazu.
({2})
Frau Homburger hat hier dargestellt, wo wir gefördert
haben. Es war richtig, den Forschungsinstituten einen
stetigen und hohen Zuwachs von 5 Prozent pro Jahr zu
garantieren. Es war richtig, die Hightech-Strategie aufzubauen und von den Zielen und Problemen her die
große Fülle an Techniken, die wir haben, sinnvoll und
prioritär zu ordnen. Es war sinnvoll, dem Mittelstand
mehr zu geben als je zuvor. Heute haben wir beim Mittelstand Forschungsaufwendungen in Höhe von 8,3 Milliarden Euro im Jahr - so viel gab es nie -, und bei der
Wirtschaft insgesamt sind es über 50 Milliarden Euro.
({3})
Wir haben in einem Tempo, in einer Stetigkeit, in einer geschlossenen Strategie, mit einer strategischen Vernunft, mit einer intellektuellen Überzeugungskraft, mit
einer strahlenden und tatendurstigen Regierung
({4})
die Sache in einer solchen Zügigkeit vorangebracht, dass
sich die Wirklichkeit in Deutschland geändert hat und
dass unsere Unternehmen auf den Weltmärkten Spitzenergebnisse erwirtschaften.
({5})
Das heißt, wir haben hier in der Tat die Prioritäten richtig gesetzt. Wir haben das Geld hergebracht, wir haben
die Prioritäten gesetzt, und wir haben hier offensichtlich
den Unternehmungsgeist der Menschen angeregt.
({6})
Nun sagen Sie, es sei nicht alles gelungen. Weil wir
das auch wissen, haben wir beschlossen, weiter zu regieren, und wir alle werden dazu beitragen, dass das so sein
wird.
({7})
Wir haben die steuerliche Forschungsförderung noch
vor uns.
({8})
Wir haben bei den Steuern überhaupt noch eine Menge
- zum Beispiel bei den Rahmenbedingungen für Wagniskapital - zu tun. Wir haben bis jetzt eine Quote von
2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht, die wir
für die Forschung ausgeben. Das Lissabon-Ziel betrug
3 Prozent. In dieser Zeit seit 2000 ist kaum ein Land
weiter gekommen. Die Deutschen haben es gezogen.
Dabei wissen wir, dass dies nicht das Ende ist. Wenn Europa im Schnitt 3 Prozent für Forschung ausgeben soll,
dann muss es in Deutschland sehr viel mehr sein. Deshalb wollen wir weiterarbeiten, damit dies zügig mehr
wird, damit dieser Trend bleibt und wir nicht wieder bei
11 Prozent in sieben Jahren landen. Dies wäre verhängnisvoll. Insofern können wir nur hoffen, dass wir das
auch in den nächsten Jahren hier gestalten.
Nun zu dem schönen Titel unseres Antrages. Einer
aus der Opposition hat im Ausschuss gelobt, wie schön
der Titel „Lust auf Technik“ sei.
({9})
- Das waren Sie? Herr Lindner, Sie? - Ich habe schon
immer Ihre Intelligenz bewundert.
({10})
Das, was wir hier haben, ist die Erkenntnis des heiligen
Origines: Nichts geschieht, es sei denn aus der Lust.
({11})
Wenn wir keine Lust haben, passiert nichts. Dazu gibt es
jetzt mögliche Ansätze auf verschiedenen Ebenen. Frau
Homburger sprach von dem „Haus der kleinen Forscher“
für Kinder im Vorschulalter, von den Schülerlaboren,
von den Partnerschaften zwischen Schule und Wirtschaft, also von den Unternehmen, die in die Schulen gehen, von der Initiative von BDI und BDA „MINT Zukunft schaffen“.
({12})
Viele arbeiten daran: die Regierung, die Wirtschaft, die
Unternehmen. Dies ist die eine Hälfte.
Dass wir da noch viel erreichen müssen, dass wir
mehr Frauen in die technischen Berufe kriegen müssen,
dass wir gern mehr Ingenieurinnen haben möchten, dass
sich dann auch die Einkommensschere zwischen Männern und Frauen schließen wird, wenn Frauen verstärkt
in diese Berufe hineingehen, das ist alles Teil einer geglückten Gesamtstrategie.
Dabei wissen wir, wenn die Leute keine Freude daran
haben, dann gelingt es eben nicht. Das Grundgesetz sagt
uns: Die Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit. - Was heißt das? Das heißt, das, was wir sagen,
hat Auswirkungen auf das Denken der Menschen. Wir
predigen keinen technokratischen Hurra-Patriotismus. Es
gibt kein anderes Land, das eine so sorgfältige Risikoforschung und Umweltforschung betreibt wie Deutschland über alle Regierungen hinweg bis in die 80er-Jahre zurück. Ich erinnere mich schon noch ein bisschen daran.
Damals hatten wir einen prima Forschungsminister.
({13})
- Ein ausgezeichnetes Beispiel, ich höre es mit Bewunderung.
({14})
Damals ist die Zuversicht entstanden, dass wir, weil
wir die Risiken beherrschen, Neues wagen können. Niemand von uns sollte so reden, als sei er grundsätzlich gegen das Neue. Dann entsteht der falsche Geist im Land.
Niemand soll so reden, als sei er grundsätzlich gegen
Grüne Gentechnik, gegen CCS oder gegen Fracking.
Wir müssen sagen, wo die Probleme neuer Techniken
bestehen und wie wir sie lösen wollen. Wenn wir die Risiken beherrschen, müssen wir alles tun, das Neue
durchzusetzen und damit Zukunft zu schaffen. Wir sollten diejenigen, die Unternehmensgeist und Tatkraft zeigen, ermutigen und nicht entmutigen.
({15})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, das tue ich nicht gerne, aber ich tue es.
Immerhin.
Wenn wir alle in diesem Geist gemeinsam arbeiten,
dann haben einige von uns, Herr Lindner, mit ihrer
Klientel vielleicht mehr Schwierigkeiten als andere.
({0})
Aber wir alle sollten gemeinsam das Neue wollen. Wir
sollten mit Lust auf Technik dem Land den Geist bringen, der uns stark macht, sodass wir nicht nur uns selber,
sondern auch anderen in schwierigen Zeiten helfen können, auf dass wir auf den offenen Weltmärkten bestehen
und das Neue mit Freude gestalten. Wir sollten mit
Freude an der Arbeit im Land einen Geist schaffen, der
Deutschlands Zukunft sichert.
({1})
Das Wort hat nun Petra Sitte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Ich habe es jetzt natürlich nicht einfach. Es ist immer
schwierig, nach Herrn Riesenhuber zu reden. Aber ich
mache einen ganz scharfen Cut und werde auf die Erde
zurückfinden.
({0})
Man muss klar sagen: Eigentlich ist der vorliegende
Antrag in gewissem Maße ein politisches Armutszeugnis
für die Selbstständigkeit der Koalitionsfraktionen.
({1})
Was haben Sie gemacht? Sie legen hier ein PR-Papier,
eine Hochglanzsammlung, die das Wirtschaftsministerium vor gut sechs Monaten veröffentlicht hat, auf den
Tisch und lassen es in Form eines Antrags noch einmal
durch das Parlament ventilieren. Der Text des Antrags
geht zum Teil wörtlich auf dieses Papier zurück; dazu
will ich mich nicht näher äußern. Dahinter steht die sogenannte Innovationsoffensive von Minister Rösler.
Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass diese
Initiative weder innovativ noch offensiv ist. Sowohl der
Antrag als auch das Hochglanzpapierchen enthalten
viele Maßnahmen, die längst laufen und überhaupt nicht
neu sind.
({2})
Nur sehr wenige Punkte sind tatsächlich neu. Angesichts
dessen sollten Sie hier nicht so tönen. Wie wollen Sie
Lust auf Innovation und Politik wecken, wenn Sie hier
nur Aufgewärmtes vorlegen?
Schauen wir uns einmal an, was da im Eintopf
schwimmt. An Schulen wird für technische Berufe geworben. Großartig, als hätten wir nicht gerade Rekordquoten an Studierenden und Auszubildenden! Den
jungen Menschen wäre weit mehr geholfen, wenn die
anstehenden Kürzungsrunden der Länder im Hochschulbereich verhindert werden könnten.
({3})
Sie sollten das dringend benötigte Geld in die Hand nehmen, um den Hochschulpakt über das Jahr 2014 hinaus
zu finanzieren. Wir stellen fest, dass die dafür geplante
Summe nicht ausreicht. Wenn Sie nicht nachlegen, wird
eine ganze Generation Studierwilliger vor verschlossenen Türen stehen.
Die Koalition bedient in ihrem Antrag zugleich das
müde Klischee einer technologiefeindlichen Gesellschaft, die irrationalen Befindlichkeiten folgt. Erstens
stelle ich das ohnehin infrage. Zweitens sind Ihre Beispiele nicht geeignet, das zu belegen. Ich bin hingegen
froh, dass über die Folgen von Fracking, also die Gasgewinnung mittels Einpressung chemischer Substanzen in
Gesteinsschichten, die Folgen unsicherer unterirdischer
Kohlendioxidspeicherung, über Nanostoffe im Körper,
über Grüne Gentechnik und ihre Folgen für die Umwelt,
aber auch über die Folgen digitaler Technologien öffentlich - Pro und Contra - diskutiert wird. Hätte man sich
vor 50 Jahren nicht einfach der Atomkrafteuphorie ergeben, wäre uns so manches Problem heute erspart geblieben.
({4})
Es ist nun einmal zutiefst demokratisch, dass mündige,
gut informierte Menschen mitentscheiden wollen, und
zwar natürlich auch darüber, welche Risikotechnologien
aus ihrer Sicht vertretbar sind. Es gibt Probleme, die
nicht beherrschbar sind; bei aller Hochachtung, Herr
Riesenhuber, das können Sie nicht garantieren.
Was wollen Sie dann weiter in dem Antrag? Sie unterstützen das Europäische Patent, und Sie setzen sich für
internationale Normen und Standards ein. Sie wollen
- was für eine Überraschung - die eigene Breitbandstrategie und den High-Tech-Gründerfonds II fortführen.
Das alles, meine Damen und Herren, läuft längst. Wir
brauchen nicht den Bundestag als Durchlauferhitzer für
Ihre Anträge.
({5})
Dann wird auch noch das „grüßende Murmeltier“ aus
dem Winterschlaf geholt: Die sogenannte steuerliche
Forschungs- und Entwicklungsförderung bekommen
Ihre liberalen Freunde für den Wahlkampf dann noch
einmal präsentiert. Damit dürfen diese ihre Klientel wieder anfüttern. Sie fordern diese Förderung, seit ich hier
im Bundestag sitze. Aber der Umsetzung sind Sie genau
genommen nicht einen einzigen Cent näher gekommen.
Warum? Weil der ganze Laden natürlich Milliarden kostet. Da muss man erklären, woher man das Geld nimmt.
Die Gefahr, die ich aufgrund der Diskussionen der
vergangenen Jahre sehe, besteht darin, dass bei anderen
Programmen des Bundeswirtschaftsministeriums, die
sich bewährt haben, beispielsweise dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand, dann wieder gekürzt
wird. Die Mittelständler haben sich eindeutig für das
ZIM entschieden. Das ist ein erfolgreiches Programm
und wird gut abgerufen. Solche Dinge sollte man nun
wahrlich nicht infrage stellen.
Kurzum: Innovationen werden in diesem Lande zuhauf entwickelt. Weder die Hochglanzbroschüre noch
dieser Antrag sowie das, was danach vonseiten der Koalition und der Bundesregierung kommt, gehört jedoch
dazu.
Danke.
({6})
Das Wort hat nun Tobias Lindner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letzten
Tagen wurde wieder viel und durchaus heiß und leidenschaftlich über die Energiewende in Deutschland diskutiert. Es wurden landauf, landab mehr oder weniger seriös Kosten geschätzt und anschließend vor allem die
Diskussion geführt, wer es denn bezahlen soll.
Eines ist klar - vielleicht sind wir uns an diesem
Punkt einig -: Der Umstieg auf erneuerbare Energien ist
die größte Herausforderung im Bereich der Infrastruktur- und der Wirtschaftspolitik, die wir seit der Wiedervereinigung in Deutschland vor uns haben. Diese Energiewende bietet aber auch immense Chancen für unseren
Wirtschaftsstandort und gerade für Innovationen durch
deutsche Unternehmen.
({0})
Macht man sich dann aber einmal die Mühe und sucht
in Ihrem Antrag das Wort „Energie“, findet man es an
genau zwei Stellen, nämlich in einer Aufzählung zusammen mit den Herausforderungen wie Kommunikation,
Sicherheitsforschung und anderen Dingen. Sucht man
nach der Vokabel „Energiewende“, wird man überhaupt
nicht fündig, ganz zu schweigen beispielsweise von dem
Thema E-Mobilität.
({1})
Angesichts dessen frage ich mich, ob diese Koalition
wirklich die Zeichen der Zeit erkannt und hiermit einen
Antrag für eine zukunftsweisende Innovationspolitik
vorgelegt hat. Auf diese Frage sage ich ganz klar Nein.
({2})
Vielmehr wirkt dieser Antrag auf mich als Antrag von
zwei Fraktionen, die mehr oder weniger mit der Bundesregierung zu tun haben. Was Sie uns hier präsentieren,
ist der Abgleich Ihres Koalitionsvertrages mit dem Regierungshandeln der letzten vier Jahre. Das, was Sie aufgeschrieben haben, ist eine Mängelliste mit unerfüllten
Vorhaben. Ich frage mich, ehrlich gesagt, wie Sie diese
in den letzten sechs Monaten Ihrer Regierungszeit noch
angehen wollen. Ich habe daran große Zweifel.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen, das hier bereits
angesprochen wurde, die steuerliche Forschungsförderung, ein Thema, das vermutlich älter ist als ich vom
Jahrgang 1982,
({3})
ein Thema, bei dem Sie durchaus unsere Unterstützung
hätten. Auch wir Grüne sind der Auffassung, dass wir neben der Projektförderung, die durchaus vielfach geschätzt
wird, als weitere Säule eine steuerliche Forschungsförderung benötigen, vor allem, weil sie unbürokratisch ist.
Von einer Koalition, der eine Fraktion angehört, die immer den Bürokratieabbau auf ihre Fahnen schreibt, hätte
ich durchaus erwartet, dass da in den letzten vier Jahren
mehr passiert wäre.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wenn dann das
Argument kommt, wir müssten den Haushalt konsolidieren und schauen, dass Mittel vorhanden sind, dann
würde ich Ihnen entgegnen, dass Haushaltspolitik auch
heißt, sich zu entscheiden. Wenn ich auf der einen Seite
eine Mövenpick-Steuererleichterung einführe und eine
Herdprämie verteilen will, auf der anderen Seite aber
kein Geld für steuerliche Forschungsförderung habe,
meine sehr geehrten Damen und Herren, dann ist dies
natürlich eine Entscheidung gegen Innovationspolitik.
Dies muss man auch einmal so deutlich sagen.
({4})
Ich will einen letzten Punkt ansprechen und dabei Ihren Antrag dem Publikum ein bisschen vorstellen. Sie
treffen ganz viele wünschenswerte Feststellungen, beispielsweise, dass Naturwissenschaft und Technik auch in
der frühkindlichen Bildung mehr Beachtung finden
müssten. Frühkindlich ist für mich die Zeit zwischen der
Geburt und dem dritten Lebensjahr. Mit dieser Forderung würden Sie von uns zwar keinen Widerspruch ernten; aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Antworten
bleiben Sie schuldig, und ich denke da eher an Familie
Hoppenstedt, in der das Kind zum Weihnachtsfest einen
Atomkraftwerksbausatz bekommt.
({5})
Ich persönlich habe Lust auf Technik. Uns macht dieser Antrag aber wenig Lust auf Ihre Innovationspolitik,
sondern vielmehr Lust auf eine neue Bundesregierung,
die wirklich mit Innovationen umgehen kann.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Lindner, ich hätte einmal Lust
auf einen Antrag von Ihnen zu diesem Thema. Das wäre
etwas ganz Neues, und dann würden wir auch einmal sehen, was Sie sich in puncto Innovationspolitik in unserem Land so vorstellen. Sie haben in dieser Legislaturperiode noch ein paar Monate Zeit. Vielleicht zeigen Sie
uns dann auch einmal Ihre Vorschläge.
({0})
Wir wollen Innovationen stärken, wir wollen Lust auf
Technik wecken. Das ist die Überschrift des Antrages,
den wir heute vorlegen, und sie bringt genau auf den
Punkt, worum es geht: Wir wollen Innovationen stärken,
wir wollen, dass in unserem Land neue Ideen entstehen,
aus denen neue Produkte werden, mit denen wir Weltmarktführer werden und die in Deutschland Arbeitsplätze schaffen und dazu beitragen, dass es uns in Zukunft noch so gut gehen wird, wie es uns heute geht.
({1})
„Made in Germany“ ist unser Erfolgslogo, unsere
Marke in der Welt. Man muss sich nur einmal vorstellen,
dass jeder fünfte Neuwagen weltweit ein deutsches Logo
trägt, in fast jedem Maschinenpark stehen deutsche Maschinen, überall finden Sie deutsche Produkte, und vor
allen Dingen sind Tausende deutscher Mittelständler mit
ihren Produkten Weltmarktführer in ihrer Nische. Das
fängt bei Rollen für Krankenhausbetten an und reicht bis
hin zu Pistenbullies. Es gibt ganz viele kleine Nischen,
in denen unsere KMU Weltmarktführer sind. Zusammen
mit China sind wir Exportweltmeister, wir sind erfolgreich mit unseren innovativen Ideen und Produkten. Dies
macht die Stärke unseres Landes aus.
({2})
Wir wissen so gut wie Sie, dass Erfolg keine Selbstverständlichkeit ist, sondern nur dann entsteht, wenn die
richtigen Rahmenbedingungen gesetzt wurden. Wir haben die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt. Wir investieren heute so viel wie noch nie in der Geschichte
unseres Landes in Forschung und Entwicklung. Allein in
dieser Legislaturperiode sind es 13,6 Milliarden Euro
zusätzlich, mehr als doppelt so viel wie 2005. Wir haben
die Hightech-Strategie, wir unterstützen Gründer, wir
unterstützen wachsende Unternehmer mit den HighTech-Gründerfonds, den ERP-Fonds und jetzt ganz neu
auch mit den Investitionszuschüssen für Business Angels. - So viel zum Thema, wir hätten nichts gemacht, in
den letzten zwei Jahren sei nichts Neues dazugekommen. Dies ist dazugekommen, genauso wie die Aufstockung beim Mittelstandsinnovationsprogramm ZIM, für
das wir mittlerweile 500 Millionen Euro ausgeben.
Daher hätte ich von Ihnen auch erwartet, dass Sie
dann, wenn es hier im Bundestag um innovative Themen
geht, etwa beim Thema Streubesitzdividende, auch einmal mutig mit uns gehen und sich nicht enthalten. Enthaltung stelle ich mir nicht unter einer Unterstützung innovativer Unternehmen vor; da hätte ich Sie gern auch
stärker an unserer Seite und an der Seite der jungen und
innovativen Unternehmen in unserem Land gewusst. Da
hätten Sie es wirklich beweisen können, statt immer nur
zu sagen, dass Sie Unternehmen unterstützen.
({3})
Wichtig ist uns aber auch, dass wir Lust auf Technik
wecken; denn wir dürfen nicht vergessen, dass Innovationen durch Menschen und nur in einem Klima entstehen, das auch Innovationen zulässt. Genau dies ist unser
Anliegen. Wir brauchen die Menschen, die Innovationen
schaffen, wir brauchen Fachkräfte.
Allein im vergangenen Jahr haben über 100 000 Menschen in den MINT-Berufen gefehlt. Der Mangel ist
nicht überall gleich, sondern nach Branchen und Regionen unterschiedlich. Doch der Fachkräftemangel wird
größer - das wissen wir -, wenn es uns nicht gelingt,
junge Menschen für die MINT-Berufe zu begeistern: begeistern, indem wir Neugierde wecken, indem wir junge
Menschen ermutigen, den Schritt in die MINT-Berufe
und vielleicht auch den Schritt in die Selbstständigkeit
zu gehen; denn nur durch Neugierde und Mut geht es.
Das ist mir noch einmal bewusst geworden, als ich
vergangene Woche meine Facebook-Community - fast
5 000 Menschen - gefragt habe: Was hat diejenigen von
euch, die in einem MINT-Beruf arbeiten, zu diesem
MINT-Beruf gebracht? Was fasziniert euch? Was treibt
euch an? In den Antworten ist dann die Rede von Neugierde, herauszufinden, warum Dinge so sind, wie sie
sind. Es ist die Rede von dem Wunsch, einen kleinen
Beitrag zu etwas Großem und Wichtigem zu leisten, es
ist die Rede von der Freude, eigene Ideen einzubringen,
vom Spaß, ein Rätsel zu lösen, neue Dinge zu versuchen,
neue Wege zu gehen und Spuren auf dieser Welt zu hinterlassen. Man kann darüber spöttisch grinsen, Frau
Sitte.
Nadine Schön ({4})
({5})
Ich finde, das sind junge Unternehmen, die unser Land
voranbringen. Es sind Menschen, die die Neugierde mitbringen, die wir brauchen und die wir fördern müssen.
({6})
- Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie nicht über die Leute
gelacht haben, die mit Neugierde und Spaß bei der Sache
sind. Das freut mich sehr. Ich glaube, da sind wir wieder
auf einer Linie.
Wir brauchen vor allem Programme und Projekte, die
diese Neugierde fördern und unterstützen. Von meinem
Kollegen Professor Riesenhuber ist das „Haus der kleinen Forscher“ genannt worden. Wir brauchen aber auch
Lehrer und Erzieher, die diese Lust an Technik vermitteln. Ich bin der Meinung, dass heute zu jedem Lehramtsstudium, egal ob Mathe, Biologie oder Deutsch, das
Thema IT gehört. IT-Methodenkompetenz und Medienkompetenz sind die Schlüsselkompetenzen der Zukunft.
Die müssen genauso selbstverständlich vermittelt werden wie Schreiben, Lesen und Rechnen.
Es muss Projekte geben, die MINT-Berufe auch für
Mädchen reizvoll machen. Gerade Mädchen fehlen in
den technischen Bereichen. So gibt es beispielsweise
Projekte wie den Girls’ Day. Im vergangenen Jahr haben
über 115 000 am Girls’ Day teilgenommen. Viele sind in
einem der Bereiche hängengeblieben. Das ist eine wirklich gute Sache.
({7})
Wir brauchen eine gesellschaftliche Offenheit und ein
Verständnis für diese Themen. Ganz interessant sind
Analysen, die zeigen, dass etwa in den Medien der USA
viel mehr Technikkompetenz vermittelt wird. Es gibt
eine Studie, die sagt, dass etwa die Simpsons eine
Menge über Physik, Biologie und Roboter vermitteln.
Das kann man teilen oder nicht. Wer die Simpsons
kennt, weiß das besser. Uns in Deutschland kann das ein
Vorbild sein. Auch wir brauchen mehr Technik und Naturwissenschaften in unseren Serien, vor allem auch in
den Sendungen, die es gibt, wie Quarks & Co, nano,
Galileo oder auch die Verleihung des Deutschen Innovationspreises. Das alles sind Sendungen, die Lust auf
Technik machen. Von diesen brauchen wir viel mehr in
unserem Land. Auch hier haben die Medien eine besondere Verantwortung.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Daran sieht man, liebe
Kolleginnen und Kollegen - das soll mein letzter Satz
sein -, dass wir, wenn wir unsere Kräfte bündeln, wenn
wir die Weichen richtig stellen - das haben wir in dieser
Legislaturperiode gemacht und wollen es weiter tun -,
Menschen dazu bewegen können, in die MINT-Berufe
zu gehen, dass sie zu Fachkräften, Erfindern und Gründern werden. Das trägt dazu bei, dass wir auch zukünftig
noch Exportweltmeister sein werden und dass die Produkte Made in Germany hier Arbeitsplätze schaffen und
unsere Zukunft sichern. Dafür wollen wir arbeiten. Darauf können wir stolz sein.
({0})
Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vorab, Herr Riesenhuber, das hätte ich mir nicht
vorstellen können: Zitierfehler und fehlende Quellenangaben. Ich trage Gerhard Schröder immer an meinem
Herzen, und auf der Karte, die Sie zitiert haben, steht ich zitiere -:
Deutschland als Ideenfabrik durch Verdoppelung
der Investitionen in Bildung, Forschung und Wissenschaft in 5 Jahren.
Investitionen sind etwas anderes als Ausgaben und
Haushalt. Das ist viel größer.
({0})
Wir haben es in diesen fünf Jahren nicht ganz geschafft,
dieses Versprechen einzulösen. Aber nach der Muff-Ära
von Kohl war es eine wirkliche Wohltat und ein
Aufbruch zu mehr Bildung und mehr Wissenschaft in
diesem Land.
({1})
Das Zweite: fehlende Quellenangaben. Wenn Sie
diese wirklich erfolgreichen Maßnahmen „Pakt für
Forschung und Innovation“ und „Exzellenzinitiative“
angeben - das ist ein Erfolg, auf den wir alle stolz sein
können -, so muss ich sagen, dass das eine Idee der SPD
war.
({2})
Wir haben sie durchgesetzt, und Sie führen das weiter.
Das ist gut; das loben wir an jeder Stelle.
Kommen wir zum Thema. Wenn Sie, Herr Kollege
Riesenhuber, sich bei Ihrer Rede am Pult nicht transversal zu Ihrer Rederichtung bewegt hätten, dann wäre vielleicht deutlicher geworden, welcher Eiertanz eigentlich
heute von den Koalitionsfraktionen aufgeführt wird.
Denn in diesem Antrag steht eigentlich nichts wesentliches Neues, außer dass Sie die Bundesregierung auffordern, das eine oder andere Projekt fortzuführen oder auszubauen bzw. das eine oder andere Neue zu machen. Das
ist eigentlich alles nicht der Rede wert.
Was mich wirklich ärgert, ist ein anderer Punkt - das
muss ich sagen -: Sie zeichnen ein Zerrbild mangelnder
Technikoffenheit in diesem Land.
({3})
Das hat mit Realität nichts zu tun. Ich erlebe es ganz anders: Ich sehe, mit welcher Selbstverständlichkeit und
Begeisterung gerade junge Menschen bis hin zu Kindern
mit Technik umgehen, etwa mit Smartphones. Sie können mit all dem viel besser umgehen als ich - und ich
gehöre sicher nicht zur ganz rückständigen Truppe. Dort
gibt es eine große Offenheit für Technik. Das passt wirklich überhaupt nicht zu dem, was Sie hier zu vermitteln
versuchen.
({4})
Ich weiß auch nicht, was Sie unter Technikfeindlichkeit verstehen. Ist es technikfeindlich, wenn man beim
Fracking die kritische Frage stellt, was denn da eigentlich passiert? Ist es technikfeindlich, wenn man sich bei
der Präimplantationsdiagnostik oder der Stammzellenforschung fragt, ob man die entsprechenden Technologien wirklich anwenden sollte oder ethische Fragestellungen zu beachten sind? - Ich finde, das hat mit
Technikfeindlichkeit nichts zu tun; das ist ein vernünftiges Nachdenken. Es ist Ausdruck von Zukunftsorientiertheit; denn man versucht, Probleme von vornherein
auszuräumen.
({5})
Das Beispiel für Technikfeindlichkeit, das Sie in Ihrem Antrag benennen, wird wirklich zum Bumerang. Sie
weisen darauf hin, dass der Bereich der Pflanzengenomforschung bei BASF den Standort Deutschland verlassen
hat, übrigens weil das Unternehmen in Deutschland
keine Verbraucherakzeptanz für gentechnisch veränderte
Lebens- und Futtermittel sieht. Dann frage ich mich:
Wer hat denn in dieser Zeit regiert? Warum haben Sie
denn keine Initiative für mehr gentechnisch veränderte
Lebensmittel oder Pflanzen auf den Weg gebracht?
Ich erinnere mich noch: Es gibt in diesem Bereich
niemanden, der populistischer ist als Sie. Als Herr
Seehofer noch hier im Bundestag Verantwortung trug
und Abgeordneter war, da hatte er den Spitznamen
„Horst Genhofer“, weil er viel mehr Gentechnik haben
wollte. Seitdem er aber Ministerpräsident in Bayern ist
und dort mitbekommt, dass die bayerischen Bauern vielleicht auch nicht so viel Gentechnik haben wollen, ist er
auf einmal der „Drehhofer“ und will von Gentechnik
nichts mehr wissen. Das ist Populismus; ich finde, das
muss auch einmal gesagt werden.
({6})
Es hat mit Glaubwürdigkeit nichts zu tun, dass Sie
viele Forderungen, etwa die Forderung nach einer steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung
- Frau Wicklein hat es angesprochen -, erst kurz vor
Toresschluss aufgestellt haben. Es ist aber ein schönes
Beispiel dafür - das werden wir mit in den Wahlkampf
nehmen -, wie Sie Politik verstehen. Leider geht es so
nicht voran.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel
„Innovation stärken und Lust auf Technik wecken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12099, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/11859 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak-
tionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({0}), Ulla Burchardt, Rüdiger Veit,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen verbessern
- Drucksache 17/10647 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lehrkräfte von Integrationskursen stärken
und den Kurszugang erweitern
- Drucksache 17/11577 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({2})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. Sie sind damit einverstanden? -
Dann verfahren wir so.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10647 und 17/11577 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
1) Anlage 9
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
beruflichen Aus- und Weiterbildung in der
Altenpflege
- Drucksache 17/12179 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Ausund Weiterbildung in der Altenpflege
- Drucksache 17/12327 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
- Drucksache 17/12421 Berichterstattung:Abgeordnete Erwin RüddelPetra CroneMiriam GrußHeidrun DittrichElisabeth Scharfenberg
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/12422 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Andreas Mattfeldt-
Rolf Schwanitz-
Dr. Florian Toncar-
Steffen Bockhahn-
Sven-Christian Kindler
Auch hier ist interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einver-
standen.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12421,
die genannten Gesetzentwürfe auf den Drucksachen
17/12179 sowie 17/12327 zusammenzuführen und als
Gesetz zur Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit ebenso einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein neues Verständnis der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe - Schulsozialarbeit an allen Schulen
- Drucksache 17/11870 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})-
Federführung strittig
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben.2) - Sie sind damit einverstanden.
Die Vorlage 17/11870 soll an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, aber die
Federführung ist strittig. Die Regierungsfraktionen wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Ausschuss für
Bildung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Entschließen Sie sich einmal, die Arme hochzunehmen.
({7})
- Das ist natürlich jetzt ein innerer Zwist, den wir heute
Abend nicht mehr lösen können. - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
den Stimmen der Regierungsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, also Familienausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Regierungsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen
von Linken und Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation
- Drucksache 17/10959 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({8})
- Drucksache 17/12420 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Jutta Krellmann
1) Anlage 4 2) Anlage 5
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Kollegen Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({9})
Herr Präsident, vielen herzlichen Dank. - Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin sehr froh, dass Sie zu dieser späten
Stunde noch so zahlreich an Bord sind; denn das Gesetzgebungsvorhaben ist von einiger Bedeutung.
In der deutschen Seeschifffahrt haben die Kauffahrteischiffe unter deutscher Flagge eine große wirtschaftliche Bedeutung, nicht nur für die Seehäfen - dort natürlich auf besondere Art und Weise -, sondern auch für
ganz Deutschland, Herr Präsident, für Schwaben genauso wie für Berlin. Deswegen ist es gut, dass dieses
Thema hier aufmerksam verfolgt wird.
Wir schaffen die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation. Wir setzen das deutsche Seemannsgesetz von 1957, das bislang die Lebensund Arbeitsbedingungen an Bord von Kauffahrteischiffen unter deutscher Flagge nur lückenhaft geregelt hat,
außer Kraft. Es war schlicht und ergreifend nicht mehr
zeitgemäß. Es ging von der Vorstellung aus, dass die unter deutscher Flagge fahrenden Schiffe regelmäßig in
deutsche Häfen zurückkehren. Das entspricht heute nicht
mehr der Wirklichkeit.
Wir schaffen Regelungen für insgesamt 1,2 Millionen
Seeleute auf 65 000 internationalen Handelsschiffen.
Deutschland schafft die Voraussetzungen dafür, dass
weltweit verbindliche Mindeststandards der Arbeits- und
Lebensbedingungen für die Seeleute an Bord von Kauffahrteischiffen eingehalten werden müssen, und trägt damit - das sollte allen am Herzen liegen - zu einem fairen
Welthandel bei, der insbesondere die Arbeitsbedingungen und die sozialen Bedingungen der Seeleute im Blick
hat; ein Thema, das Sie von der Backbordseite dieses
Hauses heute mehrfach insofern interessiert hat, als es
um die Landratten ging, also um diejenigen, die an Land
arbeiten.
Wir schaffen Arbeitsbedingungen und soziale Bedingungen, sozusagen Mindestarbeitsbedingungen, in einem Umfang, wie Sie sie sich heute für die gesamte arbeitende Bevölkerung gewünscht haben. Deswegen
kann ich Sie nur herzlich auffordern, diesem Gesetzgebungsvorhaben zuzustimmen und sich nicht nur zu enthalten.
({0})
Wie wird das umgesetzt? Die primäre Verantwortung
liegt bei den Flaggenstaaten, also bei Deutschland für
die unter deutscher Flagge fahrenden Schiffe. Daneben
kontrollieren die Hafenstaaten Schiffe unter fremder
Flagge, die ihre Häfen anlaufen. Das nennt man Hafenstaatkontrolle. Sie sorgt dafür, dass weltweit darauf geachtet wird, dass das internationale Seerechtsübereinkommen eingehalten wird und angemessene Lebensund Arbeitsbedingungen überall auf See gelten.
Umgesetzt wird dies insbesondere dadurch, dass ein
Seearbeitszeugnis als weltweit gültiges Dokument eingeführt wird. Dies ist gegenüber allen Hafenstaatsinspekteuren der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass
die grundlegenden Regelungen des ILO-Übereinkommens umgesetzt worden sind und auf diesem Schiff eingehalten werden. Das ist eine wichtige Sache. Deswegen
ist unser Gesetz so wichtig. Die deutschen Schiffe können jetzt entsprechend zertifiziert werden. Ansonsten
drohte ihnen nämlich sehr kurzfristig die Gefahr, dass sie
an den Haken gelegt werden, wenn sie in einen fremden
Hafen einlaufen und das entsprechende Zertifikat nicht
haben.
All das, was wir hier erarbeitet haben, gilt für den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der ich, Herr Staatssekretär, sehr herzlich für den Entwurf danke. Wir als Koalitionsfraktionen haben Änderungsanträge vorgesehen,
auf die ich gleich noch ganz kurz zu sprechen kommen
werde. Das ist in ausführlichen Gesprächen mit den Sozialpartnern vereinbart worden. An dieser Stelle muss
man dem Verband Deutscher Reeder ebenso danken wie
der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die sich mit ihrer
Sparte Seeschifffahrt intensiv an den Diskussionen beteiligt haben. Die Sozialpartner sind mit dem Gesetzentwurf und den Änderungsvorschlägen, die die Koalitionsfraktionen heute vorlegen, einverstanden. Ich glaube,
das ist ein Beispiel gelebter Sozialpartnerschaft, das sich
sehen lassen kann und auf das wir stolz sind. Wir zollen
den Tarifparteien dafür Dank und Anerkennung.
({1})
Die Änderungen, auf die ich kurz zu sprechen kommen möchte, betreffen zum einen die sogenannten Errichterschiffe im Offshorebereich. Dies ist ein weiterer
Ausdruck der Energiewende. Mittlerweile werden zahlreiche Windkraftanlagen auf hoher See errichtet. Dazu
braucht man einerseits natürlich seemännisches Personal, das mit Schiffen hinausfährt, andererseits aber auch
Baupersonal, das die Gründung und Errichtung dieser
Windkraftanlagen vornimmt. Wir haben abweichend
vom Gesetzentwurf vorgeschlagen, dieses Personal voneinander zu trennen. Wir wollen die Regelung nicht an
die Zeit des Einsatzes knüpfen, sondern an die Tätigkeit,
die verrichtet wird. Das heißt, das nautische Personal
fällt unter dieses Seearbeitsgesetz, und das Baupersonal
fällt unter die Regelungen, die wir schon haben, vom
Baurecht über das Tarifvertragsrecht bis hin zu rentengesetzlichen Regelungen.
Eine Frage, die auch die Oppositionsfraktionen beschäftigt hat, ist die Frage der Reederhaftung. Wir fassen
die Reederhaftung durch unseren Änderungsantrag
nochmals klarer. Der Reeder ist auch gegenüber solchen
Arbeitnehmern für die Einhaltung sämtlicher Verpflichtungen aus dem Seearbeitsgesetz verantwortlich, die mit
einem vom Reeder beauftragten anderen Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag geschlossen haben. Wir haben heute
an anderer Stelle über Werkverträge und die Problematiken, die daraus resultieren können, gesprochen. Für den
Seebereich ist das - das kann man hier einmal sagen komplett geregelt. Es gibt eine eindeutige Zuständigkeit
des Reeders für alle arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Verbindlichkeiten aus dem Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis. Dafür haftet der Reeder. Zu den
Diskussionen im Ausschuss möchte ich Folgendes sagen, Herr Kollege Juratovic: Das ist umfassend geregelt.
Wir haben das juristisch nachprüfen lassen. Das ist eine
selbstschuldnerische Bürgschaft. Hier kann sich kein
Reeder aus der Verantwortung stehlen. Er haftet. Dazu
kann man ganz kurz sagen: Das ist gut so.
Wir schlagen gegenüber dem Vorschlag der Bundesregierung Änderungen hinsichtlich der Arbeitszeitvorschriften vor. Der Grund dafür ist, dass wir aus der Praxis gehört haben, dass die bisherigen Regelungen - das
ist eine verschränkte Regelung von Höchstarbeitszeiten
und Mindestruhezeiten - nicht unbedingt praxisgerecht
sind.
Die Bundesregierung ist mit den Regelungen, die sie
hier vorgelegt hat, auch über die Notwendigkeiten des
internationalen Seerechtsübereinkommens hinausgegangen. Deswegen haben wir uns in der Lage gesehen, hierbei zu Liberalisierungen zu kommen.
Einerseits stellen wir in den §§ 43 und 44 des Gesetzes klar, dass der Acht-Stunden-Arbeitstag der Regelfall
ist. Das ist ernst gemeint.
({2})
Aber Ausnahmen davon sind möglich.
Zweitens. Die bisherige Höchstgrenze der Wochenarbeitszeit von 72 Stunden und die vorgesehenen Ausnahmeregelungen werden grundsätzlich beibehalten.
Zusätzlich haben wir genau definiert, unter welchen
Voraussetzungen diese Höchstgrenze ausnahmsweise
auf bis zu 91 Wochenstunden ausgedehnt werden kann.
Das soll erstens der Fall sein, wenn ein Schiff in enger
Hafenfolge fährt. Wir haben dabei jetzt klar definiert,
was eine Hafenfolge ist. Denn man könnte darüber diskutieren, was das genau ist. Das ist die Reisedauer zwischen zwei Lotsenversetzpunkten der jeweils angelaufenen Hafenreviere. Diese Zeit soll weniger als 36 Stunden
betragen. Dann liegt eine enge Hafenfolge vor.
Das Zweite ist, dass wir bei den Mindestruhezeiten
eine Tariföffnungsklausel vorgesehen haben, die umfangreich ist. Bisher galt sie nur für die Berger und
Schlepper. Jetzt gilt sie für alle Schiffe. Das hat den
schlichten Grund, dass es immer wieder die Notwendigkeit gibt, an einzelnen Schiffen länger zu arbeiten, um
die Ruhezeiten in Einzelfällen und unter ganz bestimmten Kautelen zu verkürzen. Dies sollen die Tarifvertragsparteien regeln, aber sie können es jetzt auch regeln.
Ich denke etwa an Problematiken, wie wir sie, Herr
Kollege Liebing, im schleswig-holsteinischen Wattenmeer und an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste
haben, wo insbesondere im Sommer ein umfangreicher
Fährverkehr zu den Inseln und Halligen stattfindet. Dort
wäre es auch von den Seeleuten überhaupt nicht gewünscht, so enge Vorschriften zu haben.
Vielmehr interessieren sie sich dafür, dass wirtschaftlich gefahren werden kann. Sie wollen selbst möglichst
viel arbeiten. Das ist eine überschaubare Zeit. Das gilt
nur für die Sommersaison. Nur so lange sind in diesem
Umfang Fahrten vorgesehen und nur so lange sind auch
Mitfahrerinnen und Mitfahrer, die dort in aller Regel Urlaub machen, da. Aber für solche Fährschiffe brauchen
wir entsprechende Möglichkeiten.
Es war der Wunsch der Reeder, dass wir hier noch
einmal darüber nachdenken. Das hat auch die ausdrückliche Zustimmung der Gewerkschaft Verdi gefunden.
Das möchte ich abschließend sagen: Wir haben Fragen
des sozialen Schutzes und des Gesundheitsschutzes bei
der Formulierung dieses Gesetzentwurfs und seiner Änderungsanträge sehr ernst genommen. Wir haben die Zustimmung der Sozialpartner zum Gesetz und zu allen
Änderungsanträgen.
Deswegen kann ich die Opposition an dieser Stelle
nur auffordern, sich auch einen Ruck zu geben und diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({3})
Er schafft für alle Seeleute klare Voraussetzungen und
eine gute soziale Absicherung. Gleichzeitig sichert er die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Seeschifffahrt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In vielen Seemannsliedern werden die Bedingungen auf See besungen. Im Shanty „Rolling home“
beschweren sich Matrosen, dass der Kapitän ihnen keine
freien Tage lässt.
({0})
Die Seemannslieder zeigen, dass es wichtig ist, mit
guten Gesetzen für faire Arbeitsbedingungen auf See zu
sorgen. Denn die Arbeit auf Schiffen ist etwas Besonderes - das sehe ich auch auf den Schiffen, die in meinem
Wahlkreis auf dem Neckar fahren -: die langen Fahrten,
das gesamte Leben auf den Schiffen und oft unvorhergesehene Ereignisse.
Daher hat die Internationale Arbeitsorganisation mit
dem Seearbeitsübereinkommen aus dem Jahr 2006 die
Grundlage dafür geschaffen, dass weltweit auf See gute
Arbeitsbedingungen herrschen. Leider hat die Bundesregierung sehr lange gebraucht, dieses ILO-Übereinkommen umzusetzen. Seit der schwarz-gelben Regierung
2009 wurde das hier immer wieder verzögert. In Antworten auf eine Kleine Anfrage der SPD sowie auf
schriftliche Fragen wurden immer wieder Termine für
den Gesetzentwurf genannt. Die Termine verstrichen,
ohne dass etwas geschah.
Im Oktober 2012 wurde dann endlich das Seearbeitsgesetz, mit dem das ILO-Übereinkommen umgesetzt
wird, in den Bundestag eingebracht. Besser spät als nie,
dachte ich damals.
({1})
Doch leider beinhaltet der Gesetzentwurf der Bundesregierung trotz der langen Bearbeitungszeit eine Reihe von
Fehlentscheidungen. Wir Sozialdemokraten hatten daher
im Ausschuss für Arbeit und Soziales einen Änderungsantrag eingebracht, durch den diese Fehlentscheidungen
korrigiert werden sollten.
({2})
Leider wurde dieser Änderungsantrag von Union und
FDP abgelehnt. Auch Union und FDP haben am Dienstag in letzter Minute um 19 Uhr einen zehnseitigen Änderungsantrag eingebracht, über den wir im Ausschuss
am Mittwoch um 10 Uhr abgestimmt haben. Es ist unmöglich, über Nacht zehn Seiten juristische Änderungen
im Detail nachzuvollziehen. Im Sinne einer sinnvollen
und kollegialen parlamentarischen Arbeit, an der alle
mitwirken können, bitte ich Sie: Arbeiten Sie nicht mehr
auf den letzten Drücker, und überlegen Sie sich früher,
was Sie machen möchten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versäumen Sie,
dass das deutsche Seearbeitsgesetz ein Gesetz wird, das
den Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens und
der ILO-Verfassung entspricht. Dem Seearbeitsübereinkommen widerspricht der Gesetzentwurf nach wie vor
bei der Reederhaftung, auch wenn Sie hier in letzter Minute vermeintlich korrigiert haben. Bisher ist es so, dass
der Reeder dafür haftet, wenn die Heuer nicht bezahlt
wird, auch wenn die Seeleute über eine Bemannungsagentur auf dem Schiff arbeiten. Das ist im Prinzip wie
eine sinnvolle Generalunternehmerhaftung. Die komplett unverständliche Idee aus dem Arbeits- und Sozialministerium war, dass der Reeder nicht mehr komplett
haftet, sondern nur noch als Bürge. Auch der Änderungsantrag von Union und FDP bleibt bei dieser abenteuerlichen Bürgenkonstruktion. Diese Regelung ist so
unverständlich, dass sie im Ausland kein Mensch versteht.
({4})
Zudem besagt die ILO-Verfassung, dass es durch die
Umsetzung von ILO-Übereinkommen nicht zu einer
Schlechterstellung im Vergleich zu der davor geltenden
nationalen Regelung kommen darf. Das ist jedoch bei
der Bürgenhaftung der Fall. Die ILO hatte vorab unter
der Hand verlauten lassen, dass sie in der Bürgenhaftung
einen Verstoß gegen das Seearbeitsübereinkommen sieht
und eine Normenüberprüfung aus Deutschland bei der
ILO Erfolg hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch
die jetzige Bürgenkonstruktion vor der ILO keinen Bestand haben wird, da sie dem Seearbeitsübereinkommen
widerspricht.
Ein weiterer kritischer Punkt des Gesetzentwurfs sind
die Höchstarbeitszeiten der Seeleute. Zwar ist zu begrüßen, dass die Regelungen in § 48 nun so bleiben, wie sie
bisher tariflich und gesetzlich vereinbart sind, aber im
neuen § 49 werden detaillierte Vorgaben gemacht, wie
eine tarifliche Regelung zu den Arbeitszeiten aussehen
soll. Heimlich will man durch diesen Paragrafen also
eine Verlängerung der Regelarbeitszeit auf mehr als
13 Stunden am Tag umsetzen. Nicht nur im Cockpit,
auch an Bord ist die Übermüdung von Seeleuten gefährlich.
({5})
Die Höchstarbeitszeiten dürfen daher nicht durch die
Hintertür heraufgesetzt werden.
Wir Sozialdemokraten fordern darüber hinaus, dass
die Seemannsmissionen, die im Gesetzentwurf erwähnt
werden und wichtige Aufgaben bei der Betreuung der
Seeleute durch Sozialeinrichtungen übernehmen, auch
finanziell vom Bund gefördert werden müssen.
({6})
Wenn die Seemannsmissionen eine im Gesetz festgeschriebene Aufgabe übernehmen, muss sich das auch so
niederschlagen. In der Anhörung zum Seearbeitsgesetz
im November 2012 hatte ein Vertreter der CDU gefragt,
an welcher Stelle denn die finanzielle Unterstützung der
Seemannsmissionen besser werden müsse. Der Vertreter
der Seemannsmissionen antwortete unmissverständlich,
dass sie überall besser werden müsse, denn bisher erhalten sie gar kein Geld. Das ist eine eindeutige Aussage:
Hier besteht Handlungsbedarf.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich es begrüße,
dass wir heute endlich das ILO-Seearbeitsübereinkommen in nationales Recht umsetzen, so sehr bedaure ich,
dass wir Sozialdemokraten dem Gesetzentwurf aus den
genannten Gründen, insbesondere was die Reederhaftung betrifft, nicht zustimmen können. Die Kritikpunkte,
die die Seeleute aus der Praxis bei der Anhörung im
Ausschuss für Arbeit und Soziales angeführt haben,
wurden viel zu wenig berücksichtigt.
Das Wichtigste bei einem Gesetz zu den Arbeitsbedingungen auf See ist, die Menschen, die praktisch damit
zu tun haben, und auch die zuständigen Gewerkschaften,
besonders Verdi, zu beteiligen und ihre Erfahrungen ins
Gesetz aufzunehmen. Denn nur wenn das Gesetz gut für
die Praxis ist, gehören Klagen über schlechte Arbeitsbedingungen auf See, wie ich sie eingangs aus einem Seemannslied zitiert habe, der Vergangenheit an.
({8})
Da wir Sozialdemokraten die Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens insgesamt begrüßen, wir den Gesetzentwurf an einigen Stellen jedoch kritisch sehen,
werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Heinrich Kolb hat seine Rede zur Proto-
koll gegeben.1) Damit hat jetzt Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Achtern rausgesegelt“ sagt man zu einem Seemann, der
zu spät zu seinem Schiff kommt. Bei der Ratifizierung
der Maritime Labour Convention, MLC, steht die Bundesregierung genauso da wie der Seemann, der sein
Schiff nur noch von hinten sieht.
({0})
Das 2006 von der Internationalen Arbeitsorganisation, IAO, beschlossene Übereinkommen war im August
letzten Jahres von 30 Staaten mit einem Anteil von einem Drittel der Welttonnage angenommen worden. Es
tritt damit genau ein Jahr später, nämlich am 20. August
2013, international in Kraft. Mit dabei sind viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es fehlt die Bundesrepublik Deutschland. Erst heute legt uns die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, mit dem die
Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Bundesrepublik das Übereinkommen ratifizieren kann. Es
tritt damit erst ein Jahr später, das heißt 2014, auf nationaler Ebene in Kraft. Das wiederum bedeutet, dass die
Bundesregierung bis dahin keine MLC-Zertifikate ausstellen darf. Die Schiffe unter deutscher Flagge müssen
während dieser Zeit mit verschärften Kontrollen rechnen; wir haben es eingangs schon gehört.
Sieben Jahre brauchte die Bundesrepublik, um die
MLC ratifizieren zu können. Die Gewerkschaft Verdi
wirft der Bundesregierung vor, Schiffe unter deutscher
Flagge in schwieriges Gewässer manövriert zu haben.
Die Bundesregierung versteht die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen einfach nicht, auch nicht die
der Menschen auf See.
({1})
Bis gestern hatten die Koalitionsfraktionen nicht einmal Antworten auf zentrale Fragen der Seeleute, die spätestens seit der Anhörung vor drei Monaten bekannt
sind, zum Beispiel auf die Fragen, an wen sich ein Seemann eigentlich wenden muss, wenn die Heuer nicht gezahlt wird, oder welche Rechte die Tarifvertragsparteien
in Sachen Arbeitszeiten haben. Schauen Sie sich beispielsweise an, was Sie in Ihrem Änderungsantrag dazu
geschrieben haben, was ein Reeder im Sinne des Gesetzes ist - ich kann das aufgrund meiner kurzen Redezeit
nicht zitieren -: Aus zwei Absätzen haben Sie fünf gemacht. Das ist gut für Juristen; aber das ist, glaube ich,
schlecht für diejenigen, die unter den Bedingungen dieses Gesetzes arbeiten sollen. Das ist eine echte Verschlimmbesserung.
Ein anderes Beispiel. Bestehende günstigere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte dürfen nicht verschlechtert
werden; so bestimmt es zumindest das Seearbeitsübereinkommen der IAO. Die Bundesregierung aber mischt
sich in die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien
munter ein. Bisher ist die Arbeitszeit auch für Seeleute
im Tarifvertrag geregelt. In besonderen Fällen ist es erlaubt, länger zu arbeiten. Es ist gut so, dass die Tarifvertragsparteien darüber verhandeln. Sie wissen Bescheid,
worüber sie reden, und können entsprechende Regelungen finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Oppositionsfraktionen sind da eindeutig besser. Wir haben die
Knackpunkte in diesem Gesetzentwurf erkannt.
({2})
Deshalb haben wir Änderungsanträge vorgelegt, mit denen man die gröbsten Fehler hätte korrigieren können.
Die Fragen der Arbeitszeiten und der Tarifautonomie sowie der sozialen Bedingungen auf See hätten klar, besser
und übersichtlicher geregelt werden können. Aber die
Koalitionsfraktionen lehnen diese Vereinfachungen und
Verbesserungen ab.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
Ihre Politik im Bereich der Seeschifffahrt steht im Gegensatz zu den großen Worten, mit denen Sie vorgeben,
den maritimen Standort Deutschland stärken zu wollen.
Noch immer sehen Sie tatenlos zu, wenn ein Schiff nach
dem anderen ausgeflaggt wird, wenn die Besatzungen
aus dem deutschen Tarifsystem herausgedrängt werden.
Heute fahren 17 Prozent weniger Frachtschiffe unter
deutscher Flagge als noch vor einem halben Jahr. Sie
spannen einen Schutzschirm über den Reedern auf: Sie
schenken ihnen die Lohnsteuer, Sie zahlen Subventionen
für Ausbildung und Sozialabgaben; gleichzeitig verzichten Sie auf eine ordentliche Besteuerung der Gewinne.
Eigentlich sollte es dadurch zu mehr Rückflaggungen
kommen. Was passiert? Das Gegenteil. Anstatt daraus zu
lernen, dass ein Gesetzgeber dort ordnen muss, wo ein
Arbeitsmarkt in Unordnung gerät, versuchen Sie, die
Rechte der Mannschaften mit dem Gesetz zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation noch einmal zu beschneiden und die wirtschaftlich Mächtigen zu begünstigen.
Ich finde, das ist stramme Klientelpolitik. Diese Politik
muss beendet werden.
({3})1) Anlage 6
Letzte Rednerin ist Beate Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne nicht mit einem Seemannslied,
({0})
dafür aber mit formaler Kritik. Wir verabschieden heute
einen Gesetzentwurf von 128 Seiten. Nach vielfältiger
Kritik in der öffentlichen Anhörung standen im Ausschuss gestern seitenweise Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen zur Abstimmung. Es ist natürlich gut,
wenn ein Gesetzentwurf verbessert wird - keine Frage -;
aber diese Änderungsanträge sind erst am Abend vor der
Ausschusssitzung bei uns eingegangen. In solch einem
Verfahren können wir schlichtweg keine gute Oppositionsarbeit leisten. Deswegen muss ich einmal sagen:
Das ist schlechter Stil, und das nervt mich.
Ich kritisiere dieses parlamentarische Verfahren vor
allem vor dem Hintergrund, dass die Umsetzung des
Seearbeitsübereinkommens extrem lange verschleppt
wurde, und zwar sieben Jahre. Im August tritt das Übereinkommen jetzt in Kraft. Für deutsche Schiffe gilt es
aber erst in einem Jahr. In der Folge werden Seeleute auf
deutschen Schiffen viele Monate lang Nachteile erfahren. Die Untätigkeit der Bundesregierung kann man also
nur kritisieren. Der Gesetzentwurf kommt zu spät, und
dafür trägt die Bundesregierung die Verantwortung.
Inhaltlich bringt der Gesetzentwurf Verbesserungen
für die Seeleute - keine Frage -; allerdings gibt es immer noch Passagen, die wir als problematisch ansehen.
Erstens: die Haftungsfrage. Nach dem ILO-Entwurf
ist der Reeder für alle Forderungen der Seeleute uneingeschränkt haftbar, auch wenn das Personal über Bemannungsagenturen eingestellt wird. Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf trat der Reeder nur noch als
Bürge auf. Damit wurde die Haftungsfrage sehr verändert und vor allem verkompliziert, zulasten der Seeleute.
Das fanden wir problematisch; deswegen haben wir im
Ausschuss einen Änderungsantrag eingebracht. Mittlerweile wurde die Haftungsregelung zwar verbessert; die
Regierungsfraktionen haben aber nicht die klare und eindeutige Regelung aus dem ILO-Übereinkommen übernommen. Im Gegenteil, jetzt gibt es in § 4 fünf Absätze,
mit denen die Haftungsfrage geklärt wird. Das ist unnötig und viel zu kompliziert. Ein Absatz hätte gereicht,
um die Pflichten der Reeder festzustellen.
({1})
Insbesondere ausländische Seeleute sind auf eine einfache und verständliche Regelung angewiesen, damit sie
durchsetzen können, was ihnen zusteht. Aus unserer
Sicht ist die Haftungsfrage also immer noch nicht optimal gelöst.
Zweitens: die Arbeitszeit. Auch zu diesem Punkt haben wir im Ausschuss einen Änderungsantrag eingebracht. Dieser Änderungsantrag ist abgelehnt worden.
Laut ILO-Übereinkommen kann die Arbeitszeit tariflich
erhöht werden. Was macht die Bundesregierung? Sie erhöht die ohnehin schon langen Arbeitszeiten gesetzlich.
Das verstößt gegen das Schlechterstellungsverbot der
ILO-Verfassung, vor allem aber ist es ein Eingriff in die
Tarifautonomie. In den Reden heißt es immer, die Tarifautonomie sei für die Koalitionsfraktionen ein hohes
Gut. Hier hätten sie es beweisen können. Für uns ist
diese Regelung nicht akzeptabel.
({2})
Wir üben also Kritik und sehen Verbesserungsbedarf in
der Umsetzung. Vor allem ergeben die deutschen Sonderregelungen meiner Meinung nach überhaupt keinen
Sinn; denn die ILO-Übereinkommen haben die Besonderheit, dass Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und
Regierungen an einem Strang ziehen. Warum also kann
das Übereinkommen in Deutschland nicht eins zu eins
umgesetzt werden?
Trotz unserer Kritik werden wir den Gesetzentwurf
nicht ablehnen - aber wir werden uns enthalten -; denn
das ILO-Übereinkommen ist insgesamt ein wichtiger
Schritt, damit die weltweit 1,2 Millionen Seeleute bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erhalten. Das
ILO-Übereinkommen bedeutet auch Wertschätzung für
die Seeleute. Deshalb hätten wir uns auch eine schnellere
und eine bessere Umsetzung unter Wahrung der Tarifautonomie gewünscht - und übrigens auch einen etwas
attraktiveren Debattenplatz.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
zung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Interna-
tionalen Arbeitsorganisation. Der Ausschuss für Arbeit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/12420, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10959 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der drei Opposi-
tionsfraktionen angenommen.1)
1) Erklärung nach § 31 GO Anlage 3
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 6:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequent vorangehen für eine atomwaffenfreie Welt
- Drucksache 17/9983 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({2}) -
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) - Sie
sind damit einverstanden.
Dann kommen wir zur Überweisung. Der Vorschlag
lautet, die Drucksache 17/9983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Sie sind
damit einverstanden. Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 19:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung und Regulierung einer Honorarberatung
über Finanzinstrumente ({3})
- Drucksache 17/12295 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({4}) -
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Auch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu
geben. - Sie sind damit einverstanden.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12295 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Statistik der Bevölkerungsbewegung
und die Fortschreibung des Bevölkerungsstandes ({5})
- Drucksache 17/9219 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({6})
- Drucksache 17/12396 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Michael Frieser-
Kirsten Lühmann-
Manuel Höferlin-
Jan Korte-
Auch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu
geben.3) - Sie sind einverstanden.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12396, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/9219 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer diesem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Burkhard Lischka, Sonja
Steffen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung
- Drucksache 17/12374 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({7}) -
Innenausschuss-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien ({8})
- Drucksache 17/1217 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({9}) -
Innenausschuss-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
1) Anlage 14
2) Anlage 7 3) Anlage 8
Wir beraten heute in erster Lesung mehrere Gesetzentwürfe zum Thema Genitalverstümmelung.
Aktuellen Angaben von UNICEF zufolge gibt es
weltweit über 140 Millionen beschnittene Frauen.
Schätzungsweise kommen jährlich 3 Millionen Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren hinzu. Die Bundesärztekammer schätzt die Zahl der in Deutschland
betroffenen Mädchen und Frauen auf 18 000, weitere
5 000 sind konkret gefährdet, hier Opfer von Genitalverstümmelungen zu werden.
Die psychischen und physischen Folgen sind gravierend. Sie reichen von Depressionen, Angstzuständen, Blutungen und Infektionen bis hin zu dauerhaften
Folgen wie zum Beispiel Komplikationen während der
Schwangerschaft oder Geburt. In den schlimmsten
Fällen führt die Genitalverstümmelung sogar zum Tod
der betroffenen Mädchen und Frauen.
Aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzung
- und das ist die Genitalverstümmelung zweifelsohne begrüßt die Unionsfraktion, dass sich bereits seit der
vergangenen Legislaturperiode alle Fraktionen immer
wieder und auch intensiv mit diesem Thema beschäftigen und zum Teil auch konkrete Vorschläge für eine gesetzliche Neuregelung unterbreiten. Dennoch besteht
nach wie vor Erörterungsbedarf.
Die derzeitige Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
Da die Genitalverstümmelung in der Regel mit einem Messer, Skalpell oder ähnlich scharfem Gegenstand durchgeführt wird, handelt es sich schon jetzt
nicht nur um eine einfache Körperverletzung nach
§ 223 StGB, sondern es wird auch der Straftatbestand
der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 StGB
erfüllt. Sofern der Eingriff den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit zur Folge hat, ist auch der Tatbestand
der schweren Körperverletzung gemäß § 226 StGB gegeben. Die Tathandlung stellt zudem gemäß § 225
StGB eine Misshandlung von Schutzbefohlenen dar,
wenn das betroffene Mädchen noch keine 18 Jahre alt
ist.
Den Gerichten steht somit bereits heute - sowohl
nach § 224 und § 226 als auch nach § 225 StGB - ein
Strafrahmen mit einer Höchststrafe von bis zu zehn
Jahren zur Verfügung. Bei einer Qualifikation nach
§ 225 Abs. 3 StGB - konkrete Gefahr einer schweren
Gesundheitsschädigung - beträgt der Strafrahmen sogar 15 Jahre.
Im Vergleich dazu reichen die Strafandrohungen in
den anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen eigene Straftatbestände für die Genitalverstümmelung existieren,
von bis zu 3 bis hin zu bis zu 14 Jahren. Teilweise sind
auch Mindeststrafandrohungen von 3 bis 6 Jahren vorgesehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2004
entschieden, dass das Sorgerecht von Eltern eingeschränkt werden kann, wenn der Tochter eine Genitalverstümmelung droht. So kann das Jugendamt zum
Beispiel Reisen ins Ausland verbieten.
Die Unionsfraktion hat sich in der Vergangenheit
ebenfalls umfassend mit der Thematik auseinandergesetzt und bereits Wege eingeschlagen, um der Genitalverstümmelung in Deutschland entgegenzuwirken. So
haben wir im Juni 2008 in der Großen Koalition den
Antrag „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen“ mit einem
20-Punkte-Plan verabschiedet. Darin werden eine
Reihe von Maßnahmen genannt, die aus unserer Sicht
erforderlich sind, um Mädchen und Frauen wirksamer
vor Genitalverstümmelungen zu schützen, wie zum
Beispiel die Sensibilisierung der Ärzte und Schulen
oder die Stärkung von Prävention, Beratung und Opferhilfe.
Im Rahmen des 2. Opferrechtsreformgesetzes wurde
auf Drängen der Union § 225 StGB, bei dem es um die
Misshandlung von Schutzbefohlenen geht, in die Ruhensregelung des § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB einbezogen.
Die Verjährung ruht damit bis zur Vollendung des
18. Lebensjahres des Opfers, wenn die Genitalverstümmelung zugleich den Straftatbestand der Misshandlung von Schutzbefohlenen erfüllt. Dadurch kann
auch eine generalpräventive Wirkung, das heißt, Abschreckung, erzielt werden, wenn den betroffenen Eltern bewusst wird, dass ihr Kind auch im Erwachsenenalter noch die Möglichkeit hat, sich gegen das
strafwürdige Unrecht zu wehren.
Darüber hinaus wird durch diese Regelung auch die
gefährliche und die schwere Körperverletzung einbezogen, soweit diese Tatbestände durch dieselbe Tat
verwirklicht werden, durch die § 225 StGB erfüllt wird,
das heißt, wenn zumindest ein an der Tat Beteiligter
bzw. eine Beteiligte zugleich den Tatbestand der Misshandlung von Schutzbefohlenen erfüllt. Dies dürfte so
gut wie immer der Fall sein; denn in der Praxis erfolgt
die Genitalverstümmelung meist mit Wissen und unter
Duldung eines Elternteils. Obwohl die Eltern nicht
selbst unmittelbar an der Körperverletzung mitwirken,
machen sie sich damit zumindest einer Misshandlung
von Schutzbefohlenen strafbar. Zusätzlich zu den Eltern werden davon aber auch die Personen, die die Genitalverstümmelung unmittelbar durchführen, wie zum
Beispiel die traditionelle Beschneiderin oder medizinische Kräfte, erfasst.
Aktuell stehen heute zur Diskussion: ein Gesetzentwurf des Bundesrates, der für die Genitalverstümmelung einen eigenen Straftatbestand - § 226 a StGB-E schaffen will, und ein Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD, der die Hochstufung der Genitalverstümmelung
zum Verbrechen vorsieht.
Beide Gesetzentwürfe sehen darüber hinaus die
Aufnahme der Genitalverstümmelung in den Katalog
des § 5 StGB vor. Dieser benennt Straftaten, die im
Ausland begangen werden und bei denen das deutsche
Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt. Dadurch könnten auch die sogenannten FerienbeschneiZu Protokoll gegebene Reden
dungen erfasst werden. Hierbei handelt es sich um
Fälle, in denen die Eltern ihre Tochter ins Ausland, in
der Regel in ihr Herkunftsland, verbringen, um dort
die Verstümmelung durchführen zu lassen. Diese Konstellationen werden aber bereits heute vom geltenden
Strafrecht erfasst, sofern den Eltern Vorbereitungshandlungen in Deutschland, wie zum Beispiel das Verbringen der Tochter ins Ausland, zur Last gelegt werden können.
Ebenso machen sich die Eltern, die in Deutschland
verbleiben und nichts gegen die Verstümmelung unternehmen, wegen Unterlassens strafbar. Handeln die Eltern nur als Anstifter oder Gehilfen, genügt deren entsprechende Tätigkeit in Deutschland ebenfalls, um
einen inländischen Tatort zu begründen, und zwar unabhängig davon, ob die Genitalverstümmelung selbst
im Ausland mit Strafe bedroht ist.
Selbst wenn eine reine Auslandstat vorliegt, das
heißt, wenn keinerlei Mitwirkungshandlung im Inland
vorgenommen wird, zum Beispiel wenn die Tochter alleine ins Ausland fährt und dort ohne Wissen der Eltern eine Genitalverstümmelung durchgeführt wird,
kann unter den Voraussetzungen des § 7 StGB deutsches Strafrecht zur Anwendung kommen. Allerdings
bestehen hier häufig Beweiserhebungs- und Rechtshilfeschwierigkeiten.
Die Bandbreite der zur Beratung anstehenden Vorschläge zeigt, dass die konkrete Ausgestaltung der
Strafbarkeit der Genitalverstümmelung eingehend erörtert werden muss. Dies gilt umso mehr, als sich einige Regelungspunkte der Entwürfe schon jetzt als
problematisch erweisen.
So ergab eine Anhörung im Familienausschuss im
Jahre 2007, dass sich eine Strafverschärfung auch
negativ auswirken kann. Die Ausgestaltung der Genitalverstümmelung als Unterfall der schweren Körperverletzung hätte zum Beispiel zur Folge, dass die Mindeststrafandrohung 3 Jahre betragen würde, da die
Genitalverstümmelung in der Regel absichtlich oder
wissentlich erfolgt. Dies würde dazu führen, dass die
Täter, bei denen es sich meist um nahe Familienangehörige handelt, regelmäßig abgeschoben würden;
denn nach den einschlägigen ausländerrechtlichen
Vorschriften hat die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren die zwingende Ausweisung gemäß
§ 53 Aufenthaltsgesetz zur Folge. Dies wiederum
könnte die Opfer von einer Anzeige abhalten, was auch
bei der gerade erwähnten Anhörung bestätigt wurde.
Eine Erhöhung des Strafrahmens würde dadurch
auch nicht erreicht werden, da die gefährliche ebenso
wie die schwere Körperverletzung eine Höchststrafe
von 10 Jahren vorsieht. Der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung ist, wie bereits ausgeführt, bei
einer Genitalverstümmelung in der Regel immer erfüllt.
Eine Alternative hierzu wäre die Einführung eines
eigenen Straftatbestandes, der eine Mindeststrafe von
weniger als 3 Jahren vorsieht, wie es im Gesetzentwurf
des Bundesrates vorgeschlagen wird. Hier ist jedoch
zu bedenken, dass es auch andere Fälle der gefährlichen Körperverletzung gibt, die einen spezifischen Unrechtsgehalt aufweisen, zum Beispiel politisch oder religiös motivierte Taten, für die es keine eigenständige
Regelung gibt. Konsequenterweise müsste dann auch
für diese Fälle ein eigener Straftatbestand geschaffen
werden. Diese Lösung wäre daher aus systematischen
Gründen problematisch.
Außerdem besteht auch bei der in diesem Entwurf
vorgesehenen Strafandrohung von 2 bis 15 Jahren die
Gefahr, dass die Gerichte dennoch auf eine Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren erkennen, was wiederum zu den bereits genannten ausländerrechtlichen
Problemen führen würde. Dies sollte mit diesem Entwurf aber gerade vermieden werden.
Hinzu kommt, dass gegen die im Entwurf des Bundesrates gewählte Formulierung der „äußeren Genitalien“ Bedenken bestehen, da davon nicht alle Formen
der Genitalverstümmelung erfasst werden. Hier ist
eine offene Formulierung, die alle Formen erfasst, erforderlich. Ebenso lässt der Begriff „Frau“ Zweifel
aufkommen, ob auch weibliche Kinder von dem
Straftatbestand geschützt sind. Die Betroffenen der
Genitalverstümmelung sind aber gerade Mädchen im
Alter zwischen 12 und 14 Jahren.
Wie Sie sehen, ist es aufgrund der Vielzahl der Ausgestaltungsmöglichkeiten erforderlich, dass wir alle
Ansätze noch einmal gemeinsam beraten. Schließlich
wollen wir eine Lösung finden, die den Opfern wirklich
hilft und nicht kontraproduktiv wirkt. Wir werden daher alle Vorschläge aufgreifen und in den weiteren Beratungen umfassend diskutieren. Ich bin mir sicher,
dass wir dann zu einem guten Ergebnis kommen werden.
Schon 1998 hat der Deutsche Bundestag in einem
Beschluss festgestellt, dass die Genitalverstümmelung
eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellt. Die irreversible Schädigung der körperlichen Unversehrtheit von Frauen und Mädchen sei nicht mit
kulturellen oder religiösen Traditionen zu rechtfertigen.
Die psychischen und körperlichen Schäden sind
meist erheblich. Die Lebensqualität der Frauen wird
drastisch eingeschränkt: von akuten körperlichen
Komplikationen bis hin zu langfristigen psychischen
Folgen und dauerhaften körperlichen Schäden, die sogar zum Tod führen können.
Wie viele in Deutschland lebende Frauen und Mädchen genau betroffen sind, weiß niemand so genau.
Die Zahlen schwanken zwischen 18 000 und 30 000.
Weitere 4 000 bis 5 000 Mädchen sind bei uns potenziell von der Durchführung einer Genitalverstümmelung bedroht.
Schon oft haben wir im Deutschen Bundestag darüber diskutiert, welche Maßnahmen notwendig sind,
um diese Frauen zu schützen und das Praktizieren von
Zu Protokoll gegebene Reden
Genitalverstümmelung weltweit einzudämmen. Neben
Aufklärungskampagnen, Beratungsstellen und entwicklungspolitischen Projekten geht es hier auch immer um
die Frage der Verschärfung des deutschen Strafrechts.
Im Moment liegen uns dazu bereits zwei Gesetzentwürfe vor: einer vom Bundesrat, der die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 2 Jahren vorsieht, und einer der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der die explizite
Aufnahme der Genitalverstümmelung in den Katalog
der schweren Körperverletzungen nach § 226 Abs. 1
StGB fordert.
Auf die Frage, wie sie diese beiden Möglichkeiten
bewertet, hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf
eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion geantwortet,
dass ihre Meinungsbildung hierzu noch nicht abgeschlossen sei. Wir haben immer noch die Hoffnung,
dass wir diesen Prozess der Meinungsbildung noch vor
Ende dieser Legislaturperiode abschließen und gemeinsam zu einer Lösung kommen können.
Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf hat die
SPD-Bundestagsfraktion eine weitere strafrechtliche
Alternative herausgearbeitet, die wir inhaltlich und
systematisch für einen guten Weg halten, um den
Kampf gegen die Genitalverstümmelung weiter voranzubringen.
Wir sind uns mit den Grünen darin einig, dass der
Schutz der Frauen und Mädchen vor im Ausland
durchgeführten Genitalverstümmelungen verstärkt werden muss. Gegen die Gefahr, dass der Besuch bei Verwandten in den Ferien zu einer traumatisierenden und
lebenseinschränkenden Erfahrung wird, müssen wir
unbedingt mit allen Mitteln angehen.
Bisher ist deutsches Strafrecht aber nur anwendbar,
wenn die Tat im Herkunftsland mit Strafe bedroht ist.
Und leider gibt es immer noch einige Länder, insbesondere afrikanische, in denen Genitalverstümmelung
praktiziert wird und nicht unter Strafe steht. Diese
Lücke wollen wir mit der Aufnahme in den in § 5 StGB
geregelten Katalog der Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter schließen.
Die explizite Aufnahme und Einordnung der Genitalverstümmelung in das Strafgesetzbuch ist, wie schon
die letzten Debatten gezeigt haben, nicht ganz unproblematisch. Hier spielen nicht nur rechtssystematische, sondern auch aufenthaltsrechtliche Erwägungen eine Rolle. Gemäß § 53 Aufenthaltsgesetz führt
eine Freiheitsstrafe von drei Jahren zur zwingenden
Ausweisung.
Der Bundesrat begründet hiermit die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes; denn bei einer Aufnahme in den Katalog des § 226 Abs. 1 StGB, wie die
Grünen es vorschlagen, ergäben sich aufgrund der
Tatsache, dass die Genitalverstümmelung eigentlich
immer absichtlich oder wissentlich herbeigeführt wird,
regelmäßig Mindestfreiheitsstrafen von 3 Jahren.
Nach geltendem Recht stellt die Genitalverstümmelung aufgrund des Gebrauchs eines gefährlichen
Werkzeugs eine gefährliche Körperverletzung nach
§ 224 StGB dar und gilt wegen des Strafrahmens von
6 Monaten bis zu 10 Jahren nur als Vergehen. Erst
wenn der Eingriff zum Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit führt, liegt auch eine schwere Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 StGB und damit ein Verbrechen vor.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schlagen wir
vor, die Strafbarkeit der Genitalverstümmelung grundsätzlich hochzustufen. In einen neuen Abs. 3 des § 224
StGB wird die Beschneidung oder Verstümmelung der
weiblichen Genitalien mit einer Freiheitsstrafe von
mindestens 1 Jahr belegt und damit vom Vergehen zum
Verbrechen.
Durch die explizite Benennung erreichen wir eine
Signalwirkung und stärken die präventive Arbeit gegen
Genitalverstümmelung. Das Verstümmeln der weiblichen Genitalien ist eine Menschenrechtsverletzung
und damit für uns ein Verbrechen.
Wir verhindern mit unserem Vorschlag aber, dass
grundsätzlich und in jedem Fall eine zwingende Ausweisung der Eltern droht. Im Sinne des Kindeswohls
muss es hier auch andere Möglichkeiten geben.
Ich freue mich, dass wir im Rechtsausschuss bereits
die Durchführung einer öffentlichen Anhörung zu dem
Thema beschlossen haben. Es wäre schön, wenn wir
im Sinne der betroffenen Frauen und Mädchen möglichst bald eine gesetzliche Lösung fänden.
Als Referendar war ich bei der Staatsanwaltschaft
in einem Dezernat für Sexualdelikte eingesetzt. Dort
gab es Akten, vor denen mich meine Ausbilderin geschützt hat. Sie war der Überzeugung, dass diese Akten Fotos enthalten, die so furchtbar sind, dass man sie
einem jungen Juristen in der Ausbildung nicht zumuten
konnte. Sie spiegelten entsetzliche Taten wider, die
Leib und Psyche der Opfer auf so furchtbare Weise
verletzten, dass sie sich nie wieder davon erholen werden. Und die Taten, über die wir heute sprechen, gehören ohne Zweifel auch in diese Kategorie.
Die weibliche Genitalverstümmelung ist daher zu
Recht bereits nach geltendem Recht gemäß §§ 223,
224 Abs. 1 bzw. § 226 StGB mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu zehn Jahren bedroht. Das materielle Strafrecht stellt bereits heute unmissverständlich klar, dass
es sich um schweres Unrecht handelt, das mit hohen
Strafen geahndet werden kann. Vor dem Hintergrund
dieser Rechtslage wollen die vorliegenden Anträge einige Veränderungen vornehmen, die insbesondere mit
der Auslandsstrafbarkeit in Verbindung stehen.
Abgestellt wird auf die Fälle sogenannter Ferienbeschneidungen im Ausland. Grundsätzlich sind auch
solche Taten bereits nach geltendem Recht mit Strafe
bedroht. Das gilt etwa immer dann, wenn auch in
Deutschland eine Mitwirkungshandlung erfolgte, wie
Zu Protokoll gegebene Reden
zum Beispiel das Verbringen eines Mädchens ins Ausland. Überdies steht eine solche Auslandstat auch bereits nach bestehendem Recht in Deutschland unter
Strafe, wenn die Tat auch im Ausland, wo sie begangen
wurde, unter Strafe steht. Das folgt aus § 7 StGB.
Diese Voraussetzungen dürften auch in vielen Fällen
erfüllt sein.
Jedoch bleiben die Ausnahmefälle, in denen es an
einer Mitwirkungshandlung in Deutschland mangelt
oder die Tat in einem Land erfolgte, in der die weibliche Genitalverstümmelung nicht mit Strafe bedroht ist.
Hier müssen wir sehr genau überlegen, wie die deutschen Strafermittlungsbehörden diese Fälle aufklären
sollen. Die Strafverfolgungsbehörden im Ausland werden vermutlich keine effektive Ermittlungshilfe leisten
mangels Strafbarkeit vor Ort. Deutsche Ermittlungsbeamte wiederum können nicht hoheitlich im Ausland
tätig werden und selbst vor Ort ermitteln. Die Frage ist
also, ob die Anträge nicht Hoffnungen bei den Opfern
wecken, dass das, was man ihnen angetan hat, gesühnt
wird, aber in Wahrheit jeder dieser Fälle mit der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft
enden wird.
Wir sollten uns sehr genau überlegen, ob das den
Opfern hilft. Ob es ihnen hilft, dass wir ihnen ein materielles Strafrecht anbieten, das die Hoffnung auf
Sühne weckt, aber bei der Anzeige wahrscheinlich
dazu führt, dass die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft diese Hoffnung sofort damit dämpfen müssen, da sie sich aller Voraussicht nach nie erfüllen
wird. Man wird fragen dürfen, was damit gegenüber
der geltenden Rechtslage gewonnen wäre.
Daher bleiben nach Lektüre der Entwürfe bei mir
Zweifel. Ich zweifele nicht an den guten und richtigen
Motiven der Antragsteller. Ich zweifele aber, ob die
Anträge wirklich etwas für die Opfer erreichen, wenn
wir sie beschließen würden.
Wir bemühen uns um den richtigen Weg, eine
schwerwiegende Menschenrechtsverletzung an Mädchen und jungen Frauen wirksam und nachhaltig zu
bekämpfen. Genitalverstümmlung ist eine verachtenswerte Praxis, an deren Folgen Frauen ihr Leben lang
leiden müssen - sie haben Schmerzen, sind seelisch beschädigt und ihres sexuellen Lustempfindens beraubt.
Keine Religion und keine Kultur schreibt Genitalverstümmlung vor, kein Argument zur Rechtfertigung dieser Praxis ist akzeptabel. Deshalb ist es richtig, Mädchen und Frauen davor zu schützen und Rechtsklarheit
zu schaffen, zuallererst für die Opfer, aber natürlich
auch für medizinisches Personal und Strafverfolgungsbehörden.
Wir sind auf der Suche nach einem Weg, die Täterinnen und Täter der Schwere der Tat angemessen
bestrafen zu können. Gleichzeitig wissen wir, dass es
nur sehr selten zur Anzeige und zu Verfahren kommt.
In Deutschland, wo Schätzungen zufolge rund
20 000 Frauen von Genitalverstümmlung betroffen
und rund 5 000 Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund davon bedroht sind, hat bisher kein einziges Verfahren stattgefunden. Das liegt nicht an den
Lücken im Gesetz, sondern daran, dass dieses Verbrechen nur sehr selten zur Anzeige gebracht wird. Das
zeigt aber, dass es notwendig ist, für das Thema zu sensibilisieren und zu ermutigen, dagegen vorzugehen. In
Frankreich beispielsweise, wo es seit langem einen
entsprechenden Tatbestand gibt, kam es in den letzten
30 Jahren nur zu 36 Gerichtsverfahren.
Wir müssen uns also bei der Abwägung, ob wir das
Strafgesetz ausweiten, um Genitalverstümmlung mit
härteren Strafen ahnden zu können, auch die Frage
stellen, ob diese Erweiterung des Strafrechts geradezu
nur symbolischen Charakter hätte, ob nicht, anstatt
auf diesen Weg zu vertrauen, mehr auf Prävention,
Aufklärung, Beratung, Hilfe gesetzt werden sollte, was
- darüber sind wir uns sicher einig - mehr Geld und
mehr Kraft und mehr Zeit kostet als eine Änderung des
Strafrechts.
Das eine zu tun, heißt aber nicht, das andere zu lassen, insofern müssen wir trotzdem zugleich die Frage
beantworten, ob die geltenden Regelungen im Strafgesetz ausreichend sind oder nicht.
Ob das eine - die Änderung des Strafgesetzes - getan werden muss und das andere - mehr Prävention
und Aufklärung - nicht unterlassen werden darf, kann
heute nicht abschließend beantwortet werden. Deshalb
ist es aus unserer Sicht richtig, diese Entscheidung
nicht übers Knie zu brechen und abzuwägen.
Abwägen heißt, sich zum Beispiel Folgendes zu vergegenwärtigen: Es ist auf der einen Seite tatsächlich
nicht nachvollziehbar, dass Genitalverstümmlung nur,
wenn sie zum Wegfall der Fortpflanzungsfähigkeit
führt - was selten der Fall ist -, als Verbrechenstatbestand ausgestaltet ist und ansonsten aber nicht als dem
Verlust eines Körperglieds gleichgestelltes Unrecht
nach § 226 StGB gilt. Andererseits bietet auch der bisherige Strafrahmen des § 224 StGB von 6 Monaten bis
zu 10 Jahren Freiheitsstrafe die Möglichkeit, eine der
Schuld angemessene Strafe zu verhängen. Der Strafrahmen würde ja immerhin eine Freiheitsstrafe von bis
zu 10 Jahren zulassen.
Nach geltender Rechtslage kann eine vorsätzliche
Genitalverstümmlung nur als gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs nach
§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB bestraft werden. Tritt in der
Folge kein Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit ein,
handelt es sich um keine schwere Körperverletzung
nach § 226 StGB. Dies sei, so die Verfasser des vorliegenden Entwurfes des Bundesrats, nicht angemessen;
Genitalverstümmlung sollte nach ihrer Ansicht als
Verbrechen und nicht als bloßes Vergehen geahndet
werden. Der Vorschlag der Grünen ({0}) führt wegen der regelmäßigen Mindestfreiheitsstrafe von 3 Jahren zu aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen, worauf die vorliegenden
Gesetzentwürfe ebenfalls hinweisen. Dies sieht der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesratsentwurf als nicht wünschenswert an, weil
es die Opfer unter Umständen davon abhält, Anzeige
gegen die Täter oder Täterinnen ({1}) zu
erstatten.
Wir sind der Meinung, dass die Folge einer Abschiebung nach einer Verurteilung wegen Genitalverstümmlung ausgeschlossen werden muss. Auch im
Hinblick auf das Opfer ist eine Ausweisung der Eltern
zu verhindern. Diese würde regelmäßig zu einer Verschlechterung der Situation des zum Opfer gewordenen Kindes führen und kontraproduktiv wirken, wie
auch die SPD in ihrem Gesetzentwurf zu Recht feststellt. Diese Gefahr besteht, wenn auch eingeschränkter, beim Vorschlag des Bundesrats ebenfalls.
Die im Rechtsausschuss geplante Anhörung ist abzuwarten; sie wird hoffentlich alle Vor- und Nachteile
der verschiedenen Vorschläge umfassend zutage bringen.
Wir sind aber vor allem der Überzeugung, dass die
Diskussion zu diesem Thema nicht nur auf strafrechtliche Aspekte reduziert werden darf. Unser Hauptaugenmerk sollte darauf liegen, alle Mittel und Möglichkeiten zu nutzen, um Genitalverstümmlungen zu
verhindern, und zwar nicht nur hierzulande, sondern
auch in jenen Ländern, wo bis zu 90 Prozent aller
Frauen davon betroffen sind. Mehr Aufklärung, mehr
Beratung, mehr Entwicklungshilfe!
Es wäre wirklich ein schwerer Fehler, die Existenz
von Genitalverstümmelungen auch bei uns in Deutschland zu negieren, auch wenn wir bisher keine Strafanzeigen und -verfahren trotz der jetzt schon vorhandenen Strafbarkeit feststellen können. Zum Glück tut dies
niemand ernsthaft, denn die von Terre des Femmes
vorgelegten Zahlen und Berichte von Frauenärzten
legen nahe, dass auch bei uns Tausende von Mädchen
von der Genitalverstümmelung bedroht oder ihr Opfer
geworden sind. Noch sind diese Opfer fast vollständig
im Dunkelfeld, aber weibliche Genitalverstümmelung
findet aufgrund von Migration und Flucht aus betroffenen Ländern heute auch in Deutschland statt. Dagegen
etwas zu unternehmen, bedeutet zuerst, Information,
Beratung und Unterstützung in den Blick zu nehmen.
Aus- und Fortbildung müssen dem über Leitlinien von
Ärztinnen- und Ärzte-, Hebammen- und Pflegeorganisationen Rechnung tragen. Die weibliche Genitalverstümmelung muss als Menschenrechtsverletzung
gebrandmarkt und ihr Charakter als Unterdrückung
weiblicher Sexualität und Unterordnung unter patriarchale Verhältnisse muss offengelegt werden.
Wir Grüne fordern schon seit langem, die als Körperverletzung strafbare Genitalverstümmelung ausdrücklich als einen Fall schwerer Körperverletzung
ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Wir haben dazu
schon vor zwei Jahren einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Die Debatte ist aber noch viel älter. Alle Versuche in
der letzten Legislaturperiode sind bisher gescheitert,
auch der Versuch eines überfraktionellen Gruppenantrags. Im klaren Widerspruch hierzu stehen die Äußerungen aus allen anderen Fraktionen bei der Aussprache über den Gesetzentwurf der Grünen am 9. Februar
2012 - also vor über einem Jahr, - dass Handlungsbedarf bestünde. Bisher sind diesen Ankündigungen
keine Taten gefolgt.
Jetzt zieht die SPD nach und legt einen eigenen Gesetzentwurf vor, der aber hinter unserem Entwurf zurückbleibt. Sie wollen die Genitalverstümmelung - ich
sage an dieser Stelle ganz bewusst - „nur“ als gefährliche Körperverletzung ausweisen, was sie aber schon
nach bisherigem Recht ist. Mit der ausdrücklichen
Benennung und Qualifizierung als Verbrechen durch
Erhöhung der Mindeststrafe gegenüber allen anderen
Beispielfällen der gefährlichen Körperverletzung greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
in die Systematik der Körperverletzungsdelikte ein,
ohne sich mit den Folgen auseinanderzusetzen. Der
Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung differenziert nicht nach der Art der Verletzung, sondern
lediglich nach den Modalitäten der Tatbegehung. Es
geht nicht um bestimmte Körperteile, sondern um den
Einsatz von Gift oder Waffen, um gemeinschaftliche
Tatausführung oder mittels eines hinterlistigen Überfalls. Grundsätzlich fallen aber alle denkbaren
Körperverletzungen unter die Norm der gefährlichen
Körperverletzung. Dazu passt nicht die Hervorhebung
des Körperteils der weiblichen Genitalien. Wenn wir
die Verstümmelung der weiblichen Genitalien besonders hervorheben wollen, kann dies nur im Rahmen
der schweren Körperverletzung passieren, wonach erhebliche Folgen der Körperverletzung wie Siechtum
oder Lähmung einzelner Körperteile wie Arme, Beine,
Augen oder Schädigung des Gehörs durch Androhung
hoher Mindeststrafen verhindert werden sollen.
An dieser Stelle müssen wir die Wertungsfrage beantworten, ob die weibliche Genitalverstümmelung,
die, wie die SPD schreibt, nach Angaben der Bundesärztekammer mit entsetzlichen und lebenslangen physischen und psychischen Folgen verbunden ist, wie
jede andere gefährliche Körperverletzung, aber mit einer lediglich um 6 Monate erhöhten Mindeststrafe einzuordnen ist oder ob sie in ihrer Schwere den bisherigen schweren Körperverletzungen entspricht. Wir
Grünen haben uns schon lange für eine Gleichstellung
mit den anderen schweren Körperverletzungen entschieden und lehnen deshalb den Vorschlag der SPD
ab. Nur am Rande will ich darauf hinweisen, dass die
Unterscheidung von „Beschneidungen“ der weiblichen Genitalien und ihrer „Verstümmelungen“ weder
gerechtfertigt noch sinnvoll ist, auch nicht unter
Hinweis auf international gebräuchliche englische
Bezeichnungen.
Besonders problematisch und in der Sache auch
falsch ist der Hinweis auf mögliche aufenthaltsrechtliche Folgen der Tat und die damit begründete Kritik an
dem Gesetzentwurf von uns Grünen. Grundsätzlich
differenziert das Strafrecht bei von Deutschen oder von
Zu Protokoll gegebene Reden
Ausländern begangenen Straftaten nicht im Strafrahmen unter Hinweis auf mögliche aufenthaltsrechtliche
Folgen. Dies wäre unter Gleichheitsgesichtspunkten
verfassungswidrig. Auch die Tatsache, dass Täter und
Opfer in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen, die
Eltern gar die Täter und ihre Kinder die Opfer sind,
führt nicht zu unterschiedlichen Strafrahmen gegenüber Tätern und Opfern, bei denen kein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Versucht eine Mutter oder
ein Vater, die Tochter im Schlaf zu töten, also zu ermorden, ist die Mindeststrafe drei Jahre. Niemand fordert
bisher in solchen Fällen eine Mindeststrafe von nur einem Jahr, weil den Tätern - wenn sie Ausländer sind aufenthaltsrechtliche Folgen drohen und eine mögliche Ausweisung mit Blick auf die Familie oder das
Wohl des Kindes problematisch wäre. Deshalb ist es
systemwidrig und Angst vor der eigenen Courage,
wenn die SPD - aber auch aus anderen Fraktionen
kennen wir solche Argumente - wegen möglicher aufenthaltsrechtlicher Folgen unbedingt eine Mindeststrafe von nur einem Jahr erreichen will und deshalb
die Genitalverstümmelung lediglich als gefährliche
statt als schwere Körperverletzung qualifiziert.
Tatsächlich gestatten aber das geltende Recht und
die Rechtsprechung in Ausweisungsfällen innerhalb
von Familien durchaus, auf bestehende Familienbindungen und das Wohl des Kindes Rücksicht zu nehmen,
selbst wenn eine mehrjährige Freiheitsstrafe gegen die
Mutter oder den Vater verhängt wird.
Eine drohende Verstümmelung unter Mitwirkung
der Eltern kann zum Verlust des Sorgerechts führen;
dies hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden.
Eine drohende Verstümmelung im Heimatland stellt
ein Abschiebehindernis dar. In Fällen, bei denen sich
das Opfer erst nach Jahren und nach Loslösung von
der Familie zur Strafanzeige entschließt, wird meistens
der Familienverband bereits aufgelöst sein. Was
bleibt, sind die Fälle einer Aufdeckung der Gentialverstümmelung, zum Beispiel anlässlich einer ärztlichen
Untersuchung oder bei anderen Gelegenheiten bei
kleinen Mädchen, die noch bei ihren das Kind ansonsten gut versorgenden Eltern leben. In solchen Fällen
sind die aufenthaltsrechtlichen Folgen der Tat bei der
Strafzumessung zu berücksichtigen, auch ein minder
schwerer Fall mit der Folge einer niedrigeren
Mindeststrafe kann angenommen werden. Aufenthaltsrechtlich ist sowohl in Fällen der sogenannten Istausweisung als auch bei der Regelausweisung eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in der die familiäre
Situation und die familienrechtlichen Verhältnisse und
das Sorgerecht umfassend berücksichtigt werden müssen. Dies ist durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert. Darüber hinaus wird häufig ein
besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs.1 Aufenthaltsgesetz bestehen, wonach nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen wird. Sollten zum Schluss doch
Fälle vorkommen, bei denen es zu nicht hinnehmbaren
aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen kommt, muss
dies im Ausländerrecht und nicht im Strafrecht gelöst
werden.
Aus all diesen Gründen meinen wir, dass der SPDVorschlag undurchdacht ist. Er bringt die Schwere der
Tat nicht angemessen zur Geltung. Taten mit bestimmten schweren Folgen sind eben der schweren Körperverletzung zuzuordnen. Das gilt umso mehr, als neben
der körperlichen Unversehrtheit auch das Rechtsgut
der sexuellen Selbstbestimmung tangiert ist. Am 9. Februar 2012, vor über einem Jahr, haben die Kolleginnen Granold, Steffen, Schuster, Ploetz, Roth und der
Kollege Silberhorn, also Vertreter aller Fraktionen,
ihre Bereitschaft betont, bald zu einem Ergebnis zu
kommen. Leider sind den aufgeschlossenen Signalen
aus der Koalition bisher keine Taten gefolgt. Vielmehr
hat die Koalitionsmehrheit vorgestern im Rechtsausschuss die Terminierung einer Sachverständigenanhörung torpediert, angeblich weil die Koalition jetzt
endlich auch einen Gesetzentwurf vorlegen will. Bitte
lassen Sie sich dazu nicht mehr allzu viel Zeit und
hoffen Sie nicht auf das Ende der Legislaturperiode.
Wir nehmen Sie beim Wort.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/12374 und 17/1217 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze
- Drucksache 17/12036 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/12412 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben.1) - Sie sind damit einverstanden.
Damit kommen wir zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Arbeit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12412, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/12036
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Linken
mit den Stimmen des Hauses sonst angenommen.
1) Anlage 10
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Verbesserung des Wahlrechts von Menschen
mit Behinderungen und Analphabeten
- Drucksache 17/12380 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1}) RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir haben zwei wichtige Änderungen im Wahlrecht
auf den Weg gebracht, und zwar gemeinsam mit den
Oppositionsparteien, einen sogar mit allen fünf Fraktionen. Wir halten es für sinnvoll, den sensiblen Bereich des Wahlrechts auf möglichst breiter Mehrheit
einvernehmlich zu beschließen. Bis vor kurzem konnte
man denken, die SPD teile diese Meinung. So sagte
Frau Kollegin Fograscher in ihrer letzten Wahlrechtsrede am 31. Januar 2013, dass es zielführend sei,
Wahlrechtsänderungen unter Beteiligung aller Fraktionen zu verhandeln. Nun legt die SPD einen Antrag
zu einer Wahlrechtsänderung vor, ohne über dieses
Thema vorher mit irgendjemandem gesprochen zu haben. Sie folgen nun den Grünen, die bereits im Januar
die Absprache der Berichterstatter zum Wahlrecht gebrochen haben.
Sie hätten die Möglichkeit gehabt, in den Gesprächsrunden zum Wahlrecht auch diesen Vorschlag
anzubringen. Im Gegenteil hat die SPD gerade im Bereich des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen
zugestimmt, erst die Studie im Rahmen des Nationalen
Aktionsplans abwarten zu wollen. In dieser Studie geht
es darum, dass die Situation von Wählern mit Behinderungen genau untersucht wird, um daraus sinnvolle
Schlüsse im Hinblick auf mögliche Verbesserungen zu
ziehen. Sie erwähnen in Ihrem Antrag die Wichtigkeit
der Studie, und nun warten Sie die Ergebnisse nicht ab.
Stattdessen nun dieser Alleingang und dieser Schnellschuss. Das ist doch nichts anderes als Wahlkampf auf
Kosten der Menschen mit Behinderungen. Das ist im
Grunde unerträglich.
Dabei handelt sich um ein ernstes Thema. Die Menschen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, sehen sich vielfältigen Problemen im Alltag
ausgesetzt. Sie bedürfen einer guten Förderung und effektiven Unterstützung. Daher hat die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und
Partnern aus der Wohlfahrtspflege letztes Jahr eine
Vereinbarung über eine gemeinsame Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in
Deutschland beschlossen. Seit 2006 sind 70 Millionen
Euro durch die Bundesregierung in den Förderschwerpunkt Alphabetisierung investiert worden. Es wird also
viel getan für die Menschen mit Lese-RechtschreibSchwäche.
Im Bereich des Wahlrechts wird vollumfänglich sichergestellt, dass Menschen mit funktionalem Analphabetismus und Menschen mit Behinderungen am
Wahlakt teilnehmen können. Die Wahllokale sind, soweit möglich, barrierefrei und die Wähler über die Zugangsmöglichkeiten informiert. Alle Wähler können
die Unterstützung einer Hilfsperson in Anspruch nehmen. Diese assistiert bei dem praktischen Vorgang der
Wahl, wie beim Lesen und Kennzeichnen des Wahlzettels und beim Einwurf in die Urne.
Ein sehbehinderter Wähler kann eine spezielle
Schablone benutzen, um sein Kreuz zu machen. Dabei
stehen die Mitglieder des Wahlvorstandes als vertrauenswürdige Hilfspersonen zur Verfügung, sodass die
Anonymität des Wählers gewahrt bleiben kann.
Ebenso gelten solche Bestimmungen für die Briefwahl.
Das Bundesinnenministerium hat zugesichert, auf
diese Regelungen der Bundeswahlordnung dahin gehend einen aufmerksamen Blick zu werfen, ob sich
noch Verbesserungen hinzufügen lassen.
Auch im Vorfeld der Wahl, bei der politischen Willensbildung, wird an Menschen mit Behinderungen
und mit funktionalem Analphabetismus in besonderer
Weise gedacht. So sind Informationen über die Wahl
und über die Tätigkeiten des Bundestages und der
Bundesregierung in einfacher Sprache zugänglich,
was das Verstehen auch für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche erleichtert.
Wenn die SPD eine bessere Umsetzung der UN-Behindertenkonvention fordert, wäre es doch angebracht
gewesen, einmal in das Dokument hineinzuschauen.
Dort geht es in Art. 29 um die Teilhabe am politischen
und öffentlichen Leben. Es heißt, dass sichergestellt
sein soll, dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und
-materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind. Die Regelung erlaubt
ausdrücklich, dass sich der Wähler zum Zwecke der
Stimmabgabe im Bedarfsfall auf Wunsch bei der
Stimmabgabe durch eine Person seiner Wahl unterstützen lässt. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die
die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am demokratischen Prozess vorschreibt, wird also umfassend erfüllt.
Die SPD suggeriert in ihrem Antrag, dass Behinderungen ein Grund seien, vom Wahlrecht ausgeschlossen zu sein. Das ist falsch. Wir haben die Debatte kürzlich aus Anlass des Antrags der Grünen geführt. Daher
will ich die Argumente gar nicht lang und breit wiederholen.
Es entspricht der UN-Behindertenrechtskonvention,
dass ein Ausschluss vom Wahlrecht dann geboten ist,
wenn eine politische Willensbildung und -äußerung
durch Krankheit oder Behinderung unmöglich gemacht ist. Dies war auch bei der Verabschiedung der
Konvention unter den Vertragsstaaten allgemeiner
Konsens, und es war völkerrechtlich anerkannt. Daher
sind Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten auf Dauer auf richterlichen Beschluss hin
angeordnet wurde, nicht wahlberechtigt. Der Kreis der
Betroffenen ist denkbar klein.
Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, dass derjenige, der in keiner Weise
in der Lage ist, am politischen Kommunikationsprozess teilzunehmen, gerade nicht in einem demokratischen Rechtsstaat am Wahlrecht teilhaben darf.
Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht von
der „freien Willensäußerung“ der Menschen mit Behinderungen. Wo diese nicht gegeben sein kann, ist es
also legitim, das Wahlrecht zu beschränken. Der Staat
kann die Willensbildung nicht einfach voraussetzen.
Politische Willensbildung ist eine Grundvoraussetzung
für eine demokratische Wahl; das sollte doch Konsens
sein.
Bei Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche
liegt die Sachlage natürlich ganz anders. Zur Wahrnehmung des Wahlrechts gibt es neben der beschriebenen
Unterstützung beim Wahlakt direkt noch viele weitere
Hilfen, die die Teilnahme an einer Wahl unterstützten.
Hervorheben möchte ich die Aktion des Deutschen
Volkshochschul-Verbandes, der spezielle Übungen unter der vom Bildungsministerium geförderten Seite
„ich-will-lernen.de“ zur letzten Bundestagswahl angeboten hat. Die vertonte Internetseite erklärt den
Benutzern, wie man wählen kann, wie ein Wahlzettel
aussieht, wie der Urnengang abläuft, wie man Briefwahlunterlagen beantragen kann und auch, worum es
bei der Wahl geht und was der Bundestag eigentlich
macht.
In den Alphabetisierungskursen wurde im Vorfeld
das Thema Bundestagswahl gesondert behandelt. Zudem können sich Analphabeten, die nicht an einem
Kurs teilnehmen wollen oder können, vertraulich an
ihre Volkshochschule vor Ort wenden und erhalten
dort anonyme, schnelle und kostenfreie Unterstützung
auf persönlicher Ebene. Nach Angaben des Volkshochschul-Verbandes stieß auch dieses Angebot auf reges
Interesse.
Diese von der Bundesregierung geförderten Angebote sind niedrigschwellig und können auch von Menschen angenommen werden, die Sorge haben, dass ihr
verborgener Analphabetismus entdeckt werden könnte.
Die Menschen, über die wir hier reden, sind nicht
dumm. Sie wissen sich zu helfen und können sich
selbstbestimmt aus allen diesen Angeboten und Möglichkeiten das Richtige für sich herauszusuchen. Die
Bundesregierung wird weiterhin die Menschen mit
funktionalem Analphabetismus unterstützen und fördern.
Die vorgeschlagenen Änderungen des Antrags der
SPD-Fraktion halten wir für unnötig und nicht sachgerecht.
Die geltenden Regelungen zur Hilfestellung bei
Wahrnehmung des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Lese-RechtschreibSchwäche sind sehr gut und helfen wirklich den Menschen. Wir wollen diese Maßnahmen dabei fortdauernd überprüfen, um sie gegebenenfalls zu optimieren.
Daher ist die eingangs erwähnte Studie im Rahmen des
Nationalen Aktionsplans auch so entscheidend. Erst
wenn diese vorliegt, macht es wirklich Sinn, über Änderungen nachzudenken.
Die von der SPD vorgeschlagenen Änderungen, wie
die Verwendung von Fotos und Parteisymbolen, sehen
wir sehr kritisch. In Ländern mit einer Alphabetisierungsquote von unter 50 Prozent ist solch ein bunter
Stimmzettel üblich; hier in der Bundesrepublik sollte
davon doch Abstand genommen werden.
Kandidatenfotos und Parteilogos können die Wahlentscheidung aller Wähler beeinflussen. Wahlkampf
muss sich außerhalb der Wahllokale abspielen und
darf nicht noch in der Wahlkabine stattfinden. Gerade
neue Parteien nutzen aufwendig gestaltete Logos, die
nach marketingtechnischen Gesichtspunkten entwickelt werden. Auf Wahlplakaten ist dies natürlich legitim. Auf dem Stimmzettel hat dies nichts zu suchen. Die
Abgabe der Stimme darf nicht zu einem Wettbewerb
der schönsten Kandidatenfotos werden.
Den Menschen mit funktionalem Analphabetismus
bringt dies alles nichts. Wie konkrete Hilfe aussieht
und Sinn gibt, habe ich bereits beschrieben.
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.“
In Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention zur
politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung
verpflichten sich die Vertragsstaaten, „sicherzustellen,
dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt
mit anderen wirksam und umfassend am politischen
und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden.“ Nach
Art. 38 GG steht jedem deutschen Bürger und jeder
deutschen Bürgerin nach Vollendung des 18. Lebensjahres das aktive und passive Wahlrecht zu.
Nach dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz sind allerdings all jene Menschen vom aktiven
und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für die zur
Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer
oder eine Betreuerin bestellt ist. Ebenfalls ausgeschlossen sind Menschen, die eine Straftat im Zustand
Zu Protokoll gegebene Reden
der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund
dessen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind.
Diese Wahlausschlüsse bedürfen, nicht nur im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention, einer
politischen Neubewertung.
Derzeit stehen in Deutschland knapp 15 000 Menschen unter Vollbetreuung und haben deshalb nach
§ 13 Abs. 2 Bundeswahlgesetz das Wahlrecht verloren.
Wenn jemand unter Betreuung in allen Angelegenheiten steht, lässt das aber keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die tatsächliche Einsichts- und Wahlfähigkeit zu. Wird ein Betreuer oder eine Betreuerin für
alle Angelegenheiten bestellt, wird dabei nicht geprüft,
ob die oder der Betroffene das Wesen einer Wahl
versteht oder nicht. Diesen Automatismus, also Vollbetreuung ist gleich Verlust des Wahlrechts, gilt es,
aufzubrechen.
Auch führt die Vorschrift des § 13 Abs. 2 BWG zu
widersprüchlichen Ergebnissen. Liegen alle Voraussetzungen für eine Vollbetreuung vor, hat der oder die
Betroffene aber vorab eine Vorsorgevollmacht erstellt
und somit bestimmt, wer seine oder ihre Angelegenheiten regeln soll, so ist er bzw. sie ebenso wenig „einsichtsfähig“, wie jemand, dessen Betreuung angeordnet wurde. Der Person mit Vorsorgevollmacht wird
aber das Wahlrecht nicht aberkannt.
Gleiches gilt für Menschen, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Haben sie
eine Straftat begangen, bei der sie zur Tatzeit schuldunfähig waren, ist die Folge nach § 13 Abs. 3 Bundeswahlgesetz der Verlust des Wahlrechts. Patientinnen
und Patienten mit demselben Krankheitsbild, die keine
Straftat begangen haben, behalten das Wahlrecht.
Gegen diese Widersprüche richtet sich die Kritik
des Deutschen Instituts für Menschenrechte und vieler
Behindertenverbände. Deshalb schlage ich vor, dass
wir versuchen, interfraktionell, wie es beim Wahlrecht
üblich ist, eine Lösung zu finden.
Die Bundesregierung hat sich laut Aktionsplan zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom
September 2011 verpflichtet, eine „Studie zur tatsächlichen Situation behinderter Menschen bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts“ bis Ende
2012 vorzulegen. Diese Studie liegt bis heute nicht vor,
ja sie ist noch nicht einmal in Auftrag gegeben - ein
großes Versäumnis der Bundesregierung. Mit ersten
Ergebnissen ist wohl erst 2014 zu rechnen. Das hat die
Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine schriftliche Frage bestätigt.
Nicht nur wir als SPD-Bundestagsfraktion sehen
hier Handlungsbedarf. Auch der Bundesrat befasst
sich derzeit in den Ausschüssen mit einer Entschließung zur Verbesserung des Wahlrechts behinderter
Menschen.
Da auch alle Wahlgesetze der Bundesländer diese
Wahlrechtsausschlüsse für Menschen unter Vollbetreuung und die meisten auch für Straftäter, die in einem
psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind,
beinhalten, sollten wir als Bundesgesetzgeber hier
Vorreiter sein und das Wahlrecht für diese Menschen
verbessern. Ich bin mir sicher, dass die meisten Bundesländer unserem Beispiel folgen werden.
Mit solchen Änderungen wären wir nicht die Ersten
in Europa. Bereits Österreich, Finnland, die Niederlande, Spanien, Großbritannien, Italien und Schweden
haben ein inklusives Wahlrecht. Daran sollten wir uns
orientieren.
Was wir nicht wollen, ist eine Änderung im Betreuungsrecht. In Deutschland besitzt jeder das Wahlrecht,
der das 18. Lebensjahr vollendet hat und die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzt. Es findet keine Prüfung
der Einsichts- und Wahlfähigkeit statt. Eine Änderung
im Betreuungsrecht würde zur Prüfung der Wahlfähigkeit von Menschen, die unter Vollbetreuung stehen,
führen. Wer sollte das nach welchen Kriterien tun?
Das wäre ein Systembruch, der neue Fragen aufwirft.
Das wollen und werden wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Koalitionsfraktionen, nicht mitmachen.
Eine weitere Personengruppe, die uns sehr am Herzen liegt und weitaus größer ist, sind die Menschen mit
Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Die Studie „leo. - Level-One“ hat 2010 im Auftrag
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
als erste Studie in Deutschland die Größenordnung
des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht. Danach
leben in Deutschland etwa 7,5 Millionen Menschen,
die als funktionale Analphabeten gelten. Das sind gut
14 Prozent der Bevölkerung. Etwa zwei Drittel von ihnen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben,
jedoch keine zusammenhängenden Texte. 2,3 Millionen Menschen unter den funktionalen Analphabeten,
also etwa 4 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung,
können zwar einzelne Wörter lesend verstehen oder
schreiben, aber keine ganzen Sätze. 300 000 Menschen
können nicht einmal ihren Namen schreiben.
Für diese Menschen ist der Wahlvorgang eine besondere Herausforderung. Um eine selbstbestimmte
Teilnahme an Wahlen auch ohne den Weg der Briefwahl und Unterstützung durch Wahlhelferinnen und
Wahlhelfer zu ermöglichen, schlagen wir eine Neugestaltung der Stimmzettel vor: Bei der Erststimme sollte
neben dem Namen des Kandidaten oder der Kandidatin eine Bildmarke abgedruckt werden. Hier würde
sich zum Beispiel das Foto des Wahlplakates eignen,
damit der Wiedererkennungseffekt am größten ist. Bei
der Zweitstimme sollte neben dem ausgeschriebenen
Namen der Partei das Parteilogo abgebildet sein.
Auch wenn aufgrund dieser Bild- und Wortbildmarken der Wahlzettel etwas größer werden sollte, so ist
das in unseren Augen vertretbar; denn wir erleichtern
damit nicht nur den Menschen mit Lese-RechtschreibZu Protokoll gegebene Reden
Schwäche den Wahlgang, sondern auch vielen älteren
Menschen.
Um diese Änderung für die nächste Bundestagswahl
in Kraft setzen zu können, schlage ich vor, dass sich die
Berichterstatter aller Fraktionen kurzfristig zu einem
Berichterstattergespräch treffen.
Mehr als 7,5 Millionen Menschen sollten es uns
wert sein, zügig eine Verbesserung für sie im Wahlrecht zu diskutieren und zu beschließen.
Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist
Grundlage unserer Demokratie. Dieses Recht haben
selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung.
Die deutsche Verfassung schützt dieses Recht durch die
Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl
in Art. 38 des Grundgesetzes. Grundsätzlich hat danach jeder Bürger das Wahlrecht. Nur unter sehr engen Voraussetzungen sind Einschränkungen möglich.
Diese Einschränkungen werden zurzeit heftig diskutiert. Denn spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention sind wir aufgerufen, Ungleichbehandlungen abzubauen. Doch um was geht es bei
der Diskussion genau? Derzeit sind Menschen vom
Wahlrecht ausgeschlossen, denen infolge einer richterlichen Entscheidung ein Betreuer in allen Angelegenheiten zur Seite gestellt wurde, oder Menschen, die
schuldunfähig eine Straftat verübt haben und deshalb
in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht
sind. Nach herrschender juristischer Meinung beruhen
diese Regelungen auf der Überlegung: Wer wählt, soll
in vollem Umfang selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig sein.
Im vergangenen Jahr wurde in der öffentlichen
Debatte und aus den Reihen der Vereine und Verbände
behinderter Menschen verstärkt die Meinung laut, die
genannten Gründe für einen Wahlrechtsausschluss im
Bundeswahlgesetz seien als Diskriminierung von
Menschen mit Behinderung zu verstehen. Vor diesem
Hintergrund war es auch der FDP-Bundestagsfraktion
ein Anliegen, gemeinsam mit allen Fraktionen im
Deutschen Bundestag dieses wichtige und komplexe
Thema zu beraten. Anstatt aber gemeinsam an einer
Lösung zu arbeiten, bringen nun die Fraktionen der
Grünen und der SPD ihre Anträge ein. Dies ist bedauerlich, da so die Chance vertan wurde, ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen.
Ich wünsche mir, dass wir präzise sind, wenn wir
über das Wahlrecht diskutieren. Lassen Sie mich ein
Beispiel nennen: Ein Mensch, der im Wachkoma liegt,
kann seinen Willen nicht bekunden. Ich frage Sie, wie
soll es dann möglich sein, dass er selbstbestimmt
wählt? Allein dieses Beispiel zeigt die Komplexität dieser Frage.
Ich denke, von einer Diskriminierung von Menschen
mit Behinderung kann hier jedenfalls nicht die Rede
sein, auch wenn das Deutsche Institut für Menschenrechte das gerne behauptet. Denn auch heute dürfen
Menschen zum Beispiel mit einer geistigen Behinderung bereits wählen. In der Praxis führt diese Möglichkeit aber auch zu Problemen. So sagte mir ein für
Wahlen zuständiger Verwaltungsmitarbeiter, dass ihn
nach dem Versand von Wahlbenachrichtigungen oft
Anrufe von Eltern erreichten, die sich wunderten, dass
ihr geistig behinderter Sohn oder ihre geistig behinderte Tochter zur Wahl zugelassen sei. Diese Eltern bezweifeln, dass ihre Kinder zu einer freien und eigenständigen Willensbekundung in der Lage sind.
Die Fraktionen der Grünen und der SPD fordern
nun, alle Ausschlussgründe ersatzlos zu streichen.
Hier muss jedoch eine Abgrenzung erfolgen. So kann
bei schuldunfähigen und als allgemeingefährlich
eingestuften Tätern durchaus davon ausgegangen
werden, dass die nötige Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung der Wahl und in politische Zusammenhänge
fehlt. Bei Menschen, die aus Krankheitsgründen oder
aufgrund ihrer Behinderung in allen Lebensbereichen
Betreuung benötigen, liegt der Fall allerdings anders.
Diese Totalbetreuung wird äußerst selten angeordnet und in jedem Einzelfall vom Vormundschaftsrichter, auch im Hinblick auf den damit verbundenen
Verlust des Wahlrechts, abgewogen. Allerdings gibt es
hier Grauzonen. Nicht jeder Betroffene, der den
Charakter und die Bedeutung der Wahl nicht verstehen
kann, ist vom Wahlrecht ausgeschlossen. Andererseits
ist es möglich, dass in Einzelfällen Betroffene fähig
wären, zu wählen, die es aufgrund der Totalbetreuung
nicht dürfen. Der automatische Wahlrechtsausschluss
kann also zu Unausgewogenheit führen. Hier müssen
wir ansetzen und Lösungen erarbeiten.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dabei klar:
Voraussetzung für eine freie Wahlentscheidung muss
die klare Willensbekundung sein. Nur so kann auch einem Missbrauch des Wahlrechts vorgebeugt werden.
Der richtige Ansatzpunkt für eine Reform liegt für uns
deshalb im Betreuungsrecht.
Hier muss dann auch klar geregelt werden, dass
nicht Betreuer, Angehörige und Mitarbeiter im Pflegeheim die Wahlentscheidung treffen, sondern die wahlberechtigten Menschen. Dieses Einfallstor für Missbrauch muss geschlossen werden. Ausschlaggebend ist
beim Wahlrecht, seinen Willen frei zu bekunden. Den
Vorwurf, hier werde diskriminiert, halte ich für vollkommen unangebracht.
Mit der nötigen Sorgfalt sollten nun alle Fraktionen
im Deutschen Bundestag gemeinsam überlegen, wie
der Wahlrechtsausschluss bei Totalbetreuung besser
gestaltet werden kann. Die Ergebnisse der im Nationalen Aktionsplan angekündigten Studie zur aktiven und
passiven Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Wahlen sollten abgewartet und ihre Handlungsempfehlungen in die Diskussion mit einbezogen
werden.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist eine Politik der
Inklusion und politischen Teilhabe eine Selbstverständlichkeit. Unser Ziel ist es, die LebensbedingunZu Protokoll gegebene Reden
gen behinderter Menschen weiter dauerhaft zu verbessern. Menschen mit Behinderung in ihrer politischen
Teilhabe zu stärken und zu unterstützen, wie in Art. 29
der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ist ein
wichtiges Ziel, dem wir uns auch über die Wahlrechtsdiskussion hinaus widmen.
Das ist ein spannender Antrag von der SPD; denn
hier sagen Sie: Es gibt nicht nur einen Wahlrechtsausschluss de jure, sondern auch de facto. Nicht nur per
Gesetz, nicht nur am Wahltag, sondern im politischen
Alltag überhaupt werden Bürgerinnen und Bürger behindert. Sie können ihre Rechte nicht wirklich ausüben, weil sie nicht oder kaum lesen und schreiben
können. Das betrifft nicht nur den Wahlakt, sondern
alle politischen Prozesse.
Umso verwirrter war ich, als ich die Beschlussempfehlung zur Änderung des Bundeswahlgesetzes aus
dem Innenausschuss las. Im allseits beliebten Omnibusverfahren legte die Linke einen Änderungsantrag
zum fraktionsübergreifenden Antrag zur Änderung des
Wahlgesetzes vor. Wir forderten, die Abs. 2 und 3 des
§ 13 Bundeswahlgesetz zu streichen, wie die Grünen in
ihrem Gesetzentwurf vom Januar und die SPD in ihrem
heutigen Antrag.
Was aber geschah gestern im Innenausschuss? Unseren Änderungsantrag lehnten SPD und Grüne gemeinsam mit CDU/CSU und der FDP ab. Sieht so die
dringende „politische Neubewertung“ des Wahlrechtsausschlusses für Menschen unter sogenannter
Totalbetreuung aus, von der die SPD-Kollegin Frau
Fograscher in der Debatte am 31. Januar 2013
sprach? Geht es vielleicht nur um eine Bewertung und
nicht wirklich um eine gesetzliche Änderung - zumindest nicht für die Bundestagswahl 2013?
Liest man den SPD-Antrag genauer, kann man zu
diesem Schluss kommen: Sie wissen, dass die Bundesregierung die für 2012 versprochene Studie zur aktiven
und passiven Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderungen nicht mehr vor der Wahl vorlegen wird.
Entsprechend haben die SPD-Kollegen die Bundesregierung in der Debatte am 31. Januar 2013 selbst zitiert.
Sie wissen auch, dass die Bundesregierung keinen
Gesetzentwurf mehr vorlegen wird; auch das hat die
Regierung mehrfach deutlich ausgesprochen - und
das, obwohl die stellvertretende Fraktionsvorsitzende
von CDU/CSU, Ingrid Fischbach, am 26. Oktober
2012 während der Veranstaltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“ erklärte: Das
uneingeschränkte Wahlrecht „ist eine Stelle, wo Verbesserungen nötig sind, wenn wir Inklusion ernst meinen“.
Die SPD fordert nun einen Gesetzentwurf zur Erleichterung der Stimmabgabe und ein Konzept für
Kampagnen zur Information und Teilnahme an Wahlen
von eben dieser Regierung, und sie fordert, „bis Mitte
2013 über das Veranlasste zu berichten“. Aber Sie wissen schon heute: Kurz vor der Sommerpause bedeutet,
dass bis zur Wahl nichts mehr passiert.
Selbstverständlich: Die Linke unterstützt den Antrag der SPD ebenso wie den Gesetzentwurf der Grünen zum Wahlrecht für Menschen mit Behinderung.
Umso weniger akzeptiere ich, dass Sie von SPD und
Grünen gestern im Innenausschuss gegen Ihre eigenen
Forderungen stimmten, nur weil sie von den Linken
eingebracht wurden. Für mich ist das Heuchelei!
Lassen wir die Moral beiseite! Mit dem Wahlrecht
darf man nicht spielen. Es ist das vornehmste und allgemeinste Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Jede
Behinderung an der Wahl, ob gesetzlich oder praktisch, berührt das politische Selbstverständnis unseres
Staates. Es geht um die einfache Frage, ob alle einzeln
an der Wahl teilnehmen können oder nicht. Deshalb
beschädigt derjenige die Hoheit dieses Rechtes, der, je
nach Interessenlage, an einem Tage beantragt, das
Recht zu ändern, und am nächsten Tage diesen Antrag
verwirft.
Politische Halbheiten beschädigen die Demokratie
nicht weniger als Geheimbeschlüsse. Halbherzig ist
auch, wie der vorliegende Antrag Wahlerleichterungen für Menschen, die kaum lesen und schreiben können, einfordert. Das Problem beginnt doch schon mit
der Wahlbenachrichtigung, und die Möglichkeit, Hilfe
in der Wahlkabine anzunehmen, besteht auch für diese
Menschen schon jetzt.
In der Wahlausübung behindert sind auch andere
Menschen. Doch sagt der Antrag nichts über barrierefreie Wahllokale oder zur Checkliste des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit anlässlich der Landtagswahl in Niedersachsen. Dort sind konkrete
Kriterien für barrierefreie Wahlabläufe entwickelt
worden. Es wäre sicher schnell zu prüfen, ob und wie
diese Checkliste bundesweit zu verallgemeinern wäre.
Auch hinsichtlich des Wahlrechtes gilt für die Linke:
Wir brauchen den klaren politischen Willen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Selbstbestimmung und die volle politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung.
Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist ein
politisches Grundrecht. Wenn es um das Wahlrecht von
Menschen mit Unterstützungsbedarf geht, muss also
die Frage im Mittelpunkt stehen, wie die notwendige
Unterstützung realisiert werden und wie im Zuge dieser Unterstützung möglicher Missbrauch verhindert
werden kann.
In der Bundeswahlordnung und im Bundeswahlgesetz ist aus diesem Grund die Möglichkeit zur Unterstützung für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und für Menschen, die nicht lesen können,
bereits vorgesehen. Auch in der Europawahlordnung
ist dies der Fall. Das Bundeswahlgesetz und das Europawahlgesetz machen aber auch Vorgaben, die
Zu Protokoll gegebene Reden
bestimmte Personengruppen vom Wahlrecht ausschließen. Darüber wurde hier bereits hinlänglich gesprochen. Als Begründung für diesen Ausschluss wird fast
immer angeführt, diesen Personengruppen fehle die
Fähigkeit zur Wahl.
Es wurde bereits vor drei Wochen in der Debatte um
den Gesetzentwurf meiner Fraktion darauf hingewiesen, dass beim Wahlrechtsausschluss, so wie er gegenwärtig gesetzlich normiert ist, die individuelle Fähigkeit zur Wahl überhaupt nicht geprüft wird. Ich halte
eine Wahlfähigkeitsprüfung auch für eine denkbar
schlechte Lösung. Welche objektiven Kriterien sind geeignet, zu bestimmen, ob eine Person in der Lage ist,
eine Wahl zu treffen? Welche Personengruppen sollen
sich einer solchen Wahlfähigkeitsprüfung unterziehen? Wer kann diese Prüfungen durchführen? Abgesehen davon, dass wir auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten finden werden, sind das auch nicht
die Fragen, mit denen ich mich beschäftigen möchte.
Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Vorkehrungen,
die wir in Bundeswahlordnung, Bundeswahlgesetz und
Europawahlgesetz bereits getroffen haben, so ausbauen, dass auch Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf ihre Wahl treffen können, wenn sie dies
möchten. Und ich möchte darüber sprechen, wie wir
die Gefahr des Missbrauchs, die ja beispielsweise
auch im Zusammenhang mit der Briefwahl besteht,
eindämmen. Es stünde uns gut zu Gesicht, den Fokus
darauf zu legen, wie wir Bürgerinnen und Bürger besser unterstützen können, anstatt zu debattieren, welche
Begründungen und Mechanismen wir finden können,
um Menschen von der Wahl auszuschließen.
Ganz anders sieht das offenbar der Kollege Krings.
Wie ich heute in einigen Zeitungen lesen durfte, scheint
ihm nicht plausibel, dass „ein Mensch, der nicht mal
selbstständig eine Zeitung kaufen kann, eine Wahlentscheidung treffen soll“. Viel weniger plausibel scheint
mir, wie jemand sich guten Gewissens Volksvertreter
nennen kann, der einen derart lapidaren Umgang mit
den politischen Grundrechten der Bürgerinnen und
Bürger pflegt. Ist Dr. Günter Krings der Ansicht, dass
der ältere Herr, der nicht mehrmals am Tag die Treppen zu seiner Wohnung steigen kann und sich deswegen von seiner Nachbarin die Zeitung mitbringen
lässt, keine Wahlentscheidung treffen sollte? Vermutlich nicht. Dass er sich ernsthaft mit den bereits bestehenden Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Wahl
auseinandergesetzt hat, ist aber nicht zu vermuten.
Warum er sich trotzdem bemüßigt fühlt, die Welt mit
Aussagen zu beglücken, die einen Schritt hinter bestehende Regelungen zurückfallen, bleibt sein Geheimnis.
Bürgerinnen und Bürger, die wählen dürfen, geben
ihre Stimme einer oder mehreren politischen Parteien.
Einige machen ihren Stimmzettel bewusst ungültig, einige wählen gar nicht. Menschen, die wählen dürfen,
wählen nach eigenen Maßstäben vernünftig oder unvernünftig. Sich für eine dieser Möglichkeiten zu entscheiden, ist das gute Recht aller wahlberechtigter
Bürgerinnen und Bürger. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum Menschen mit Unterstützungsbedarf dieses Recht entzogen wird.
Ich freue mich, dass die SPD der Initiative meiner
Fraktion nun mit einem eigenen Antrag gefolgt ist und
offenbar auch unsere Problemeinschätzung teilt. Welcher Weg der beste ist, müssen wir nun im parlamentarischen Prozess klären. Meine Fraktion möchte zu dieser Frage eine öffentliche Anhörung durchführen, und
ich hoffe, Sie sehen dem Gespräch mit Sachverständigen mit ebenso großem Interesse entgegen wie ich.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12380 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren
- Drucksache 17/1224 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12418 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgSonja SteffenJörg van EssenJens PetermannJerzy Montag
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Fast zwei Jahre sind seit dem 17. März 2011 vergangen, dem Tag, an dem wir hier in erster Lesung
über den Gesetzentwurf zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und
staatsanwaltschaftlichen Verfahren debattierten, zwei
Jahre, in denen wir diesen Gesetzentwurf noch verbessern und mit vielen beteiligten Kreisen diskutieren
konnten. Die Zeit ist nun aber reif, diesen Prozess abzuschließen und damit endlich einen guten Beitrag zur
Entlastung unserer Gerichte leisten zu können.
Das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von
Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren schafft die Möglichkeit,
die moderne Technik der Videokonferenz in Gerichtsverfahren und bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen anzuwenden. Dies kann dann erfolgen, wenn die
persönliche Anwesenheit von Parteien, Rechtsanwälten, Zeugen oder Sachverständigen in bestimmten Fällen als nicht notwendig zu erachten ist. Der Grundsatz,
dass alle Beteiligten persönlich anwesend sein müsDr. Patrick Sensburg
sen, wird insofern durchbrochen, aber natürlich nicht
ausgeschlossen. Die persönliche Anwesenheit wird
durch die Zuschaltung mittels Videokonferenztechnik
ersetzt. Die Zuschaltung erfolgt in der Weise, dass der
Verfahrensbeteiligte an einem anderen Ort ist, aber
per Bild- und Tonübertragung im Gerichtssaal simultan zu hören und zu sehen ist.
Mit den neuen Regelungen des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in
gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren
können insbesondere Anwälten, Sachverständigen und
Zeugen, die ihren Wohnsitz außerhalb des betreffenden
Gerichtsortes haben, Anreise, Zeit und Geld erspart
werden. An die Stelle der persönlichen Anwesenheit
tritt nun die Vernehmung oder Befragung „an einem
geeigneten Ort“.
Durch das Gesetz wird die Zuschaltung von Teilnehmern in der Zivilgerichtsbarkeit, in der Sozialgerichtsbarkeit, in der Verwaltungs- und Arbeitsgerichtsbarkeit, in der Insolvenzgerichtsbarkeit sowie in der
freiwilligen Gerichtsbarkeit möglich. Gleiches gilt
auch für an Gerichtsverfahren teilnehmende Sachverständige sowie hinzugezogene Dolmetscher.
Die von mancher Seite geäußerte Sorge, dass in
Verfahren, in denen es auf die Einvernahme von Zeugen, Sachverständigen oder sonstigen Beteiligten ankommt, in Zukunft nur noch Videoeinspielungen erfolgen werden, ist vollkommen unbegründet. Natürlich
wird die Vernehmung oder Befragung mittels Videokonferenz nur dann erfolgen, wenn dies nach einer angemessenen Abwägung der widerstreitenden Interessen möglich ist. Die Anordnung oder Ablehnung der
Anwendung der Videokonferenztechnik steht im Ermessen des Gerichts. Das Gericht wird hierbei pflichtgemäß abwägen und die Anwendung der Videokonferenztechnik nur da anordnen, wo ein persönlicher
Eindruck abdingbar ist.
Nach der ersten Lesung im März 2011 waren insbesondere noch zwei Punkte zu klären.
Erstens war klarzustellen, dass eine Verordnungsermächtigung für die Länder geschaffen wird. An der
Ausgestaltung musste aber noch gearbeitet werden. In
Art. 9 des ersten Änderungsvorschlages wurde eine
Länderöffnungsklausel geschaffen, die aber den Zusatz enthielt: „Die Ermächtigung kann nur einheitlich
erfolgen.“ Dies hätte, so hat die Sachverständigenanhörung am 14. Januar 2013 ergeben, zu Missverständnissen führen können. Die Einheitlichkeit hätte so verstanden werden können, dass eine Anwendung der
Videokonferenztechnik nur dann als möglich erachtet
worden wäre, wenn alle Gerichtszweige an allen Gerichten bereits entsprechend technisch ausgerüstet
sind. Dieses Verständnis hätte natürlich zu einer deutlichen Verzögerung der Nutzbarmachung der Videokonferenztechnik geführt.
Die Formulierung der Länderöffnungsklausel war
daher zu überarbeiten, zudem war die Begründung zu
erweitern. Dies geschah in dem nun vorliegenden Änderungsantrag. Der entsprechende Satz wurde aus
Art. 9 gestrichen. Es ist nun klargestellt, dass die Länder bei Gerichtsbarkeiten, in denen Videokonferenztechnik noch nicht ausreichend zur Verfügung steht,
die gerichtliche Anordnung einer Videokonferenz ausschließen können. Wenn in einem Land eine Gerichtsbarkeit vollständig ausgestattet ist, so kann diese Gerichtsbarkeit die Videokonferenz nutzen.
Dies hat aber keine Auswirkung auf die anderen Gerichtsbarkeiten des jeweiligen Landes. Ein Land muss
somit nicht als Ganzes in allen Gerichtsbarkeiten die
Videokonferenz einführen. Die Gerichtsbarkeit im
Land, die technisch ausgestattet ist, kann für sich alleine Videokonferenztechnik nutzen. Dies führt dazu,
dass der Einsatz der Videokonferenz in der Gerichtsbarkeit eines Landes sofort möglich wird, wenn die
technische Ausstattung vorhanden ist, ohne dass zugewartet werden muss, bis alle Gerichtszweige des Landes ausgestattet sind. Der insofern gleichlautende Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
ist mithin obsolet geworden.
Zweitens wollten wir regeln, dass bezüglich der
Zeugenvernehmung im Zivilprozess gewährleistet ist,
dass diese auch außerhalb eines Gerichtsgebäudes
stattfinden kann. Auch hier steht natürlich fest, dass
die grundsätzliche Entscheidung zur Anordnung der
Vernehmung mittels Videokonferenztechnik im Ermessen des Gerichts steht. Die Formulierung des ersten
Änderungsvorschlages enthielt in § 128 a ZPO-E eine
entsprechende Regelung, nach der das Gericht den
Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf
Antrag oder von Amts wegen gestatten kann, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen
Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen.
Allerdings galt diese Regelung der Gestattung von
Amts wegen nur für die Zivilgerichtsbarkeit. Wie sich in
der Sachverständigenanhörung vom 14. Januar 2013
zeigte, war dies nicht ausreichend. Die Möglichkeit
der Gestattung von Amts wegen sollte auch in allen anderen Gerichtsbarkeiten bestehen.
Im nun vorliegenden Änderungsantrag wurde die in
§ 128 a ZPO-E normierte Möglichkeit der Gestattung
von Amts wegen deshalb jetzt auf alle Gerichtsbarkeiten übertragen.
Es bleibt somit festzuhalten: Durch den Einsatz der
Videokonferenztechnik, insbesondere durch die Möglichkeit der Vernehmung von Zeugen außerhalb der
Hauptverhandlung mittels Videokonferenz, wird das
gerichtliche und das staatsanwaltschaftliche Verfahren verbessert und beschleunigt.
Zeugen und sonstige Beteiligte müssen nicht mehr
weite Wege zum Ort der Hauptverhandlung in Kauf
nehmen. So wird eine erhebliche Beschleunigung der
Verfahren erreicht. Gleichzeitig wird aber der hohe
Qualitätsstandard beibehalten, da alle Beteiligten originär zuständig für das Verfahren sind - es bedarf
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht mehr der Beauftragung oder Ersuchung von anderen Gerichten.
In den vielen Verfahren, in denen vornehmlich Polizisten als Zeugen vernommen werden - insbesondere
in Ordnungswidrigkeitenverfahren -, wird noch eine
zusätzliche Entlastung erreicht. Konnten die Polizisten
bisher während ihrer Anwesenheit in den Verhandlungen ihren Dienst nicht ausüben, wird dies nun nur noch
in einem sehr engen zeitlichen Rahmen der Fall sein.
Die Vernehmung kann zum Beispiel auf der Polizeidienststelle erfolgen. Dies spart Zeit und Kosten und
führt bei pflichtgemäßen Ermessensentscheidungen
der Gerichte nicht zu einem Qualitätsverlust.
Dagegen werden Dolmetscher sicher immer nur
dann mittels Videokonferenz zugeschaltet werden,
wenn dies unerlässlich ist. Insofern werden die Gerichte ihr Ermessen fehlerfrei ausüben.
Schließlich werden Gerichte hinsichtlich gestellter
Beweisanträge in Zukunft häufiger stattgebende Beschlüsse fällen. Sollte nämlich sonst bei der Abwägung
der Erforderlichkeit eines Beweismittels auf den Aufwand der Beibringung des Beweismittels rekurriert
worden sein, so kann hier nun immer auf das mildere
Mittel - die Zuschaltung per Videokonferenztechnik zurückgegriffen werden.
Der technologische Fortschritt, den wir uns zunutze
machen, führt mithin nur zu einer Beschleunigung gerichtlicher und staatsanwaltschaftlicher Verfahren;
nicht aber zu einem Qualitätsverlust.
Durch die erfolgte Feinjustierung des Gesetzentwurfes liegt nun ein vollständig ausgewogener Gesetzentwurf vor, der hoffentlich bald Rechtswirklichkeit
wird.
Die Erweiterung der Nutzung von Videokonferenztechnik in gerichtlichen Verfahren ist grundsätzlich
eine gute Sache. Ein Beispiel: Wenn ein Zeuge eines
Verkehrsunfalls für eine kurze Aussage von wenigen
Minuten aus Bayern nach Schleswig-Holstein anreisen
muss, kann hier der Einsatz von Videokonferenztechnik
durchaus zu einer Einsparung von Reisekosten und
auch zur Beschleunigung von Gerichtsverfahren führen. Außerdem stellt er für die Betroffenen eine erhebliche Entlastung dar.
Darüber hinaus ist der Einsatz sinnvoll, wenn ohne
die Videokonferenztechnik die Gefahr eines Beweismittelverlustes besteht. Für Beschuldigte kann es eine
Erweiterung des persönlichen Gehörs bedeuten, beispielsweise durch die Anwendung beim Haftprüfungstermin, der aktuell ohne die Anwesenheit des Beschuldigten stattfinden würde.
Schon bislang ist in vielen Bereichen die Nutzung
von Videokonferenztechnik möglich, jedoch ist hierzu
das Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten nötig.
Dies soll nun geändert werden; künftig soll in allen
Bereichen allein das Gericht entscheiden können.
Nach dem im Ausschuss gestellten Änderungsantrag
der Regierungskoalition soll dies nicht nur auf Antrag,
sondern auch von Amts wegen möglich sein.
Problematisch ist aus meiner Sicht der Einsatz von
Videokonferenztechnik bei Dolmetschern und Sachverständigen. Hier wäre das Einverständnis aller Beteiligten als Voraussetzung sinnvoll gewesen. Die persönliche Anwesenheit ist beispielsweise bei der Begutachtung eines Angeklagten oder, im Falle des Dolmetschers, für die Übersetzung bei vertraulichen Gesprächen mit dem Rechtsbeistand besonders wichtig. Die
Herbeiholung eines Dolmetschers an den Ort der Prozesshandlung ist in der Regel nicht problematisch. Ich
hoffe daher, dass die Gerichte sehr sorgfältig mit dieser neuen Möglichkeit umgehen werden, sodass die
Anwendung der Videokonferenztechnik in diesen Fällen in der Praxis letztlich keine große Rolle spielen
wird.
Nach dem Gesetzentwurf des Bundesrates sollte die
Aufzeichnung der Videokonferenz möglich sein. Der
Änderungsantrag der Regierungskoalition lehnt dies
komplett ab, während die Grünen die obligatorische
Aufzeichnung fordern. Begründet wird die Aufzeichnungsmöglichkeit damit, dass die nicht anwesende
Person keinen ausreichenden Einfluss auf die Niederschrift und den Inhalt der Ausführungen habe. Auch
wenn sicherlich die Aufzeichnung die genauste Überprüfung zulässt, so gilt dies doch auch bei allen anderen Gerichtsverhandlungen. Hier hat sich jedoch aufgrund der ausführlichen Protokollierung noch kein
Bedarf an Aufzeichnungen ergeben. Ich gehe daher
davon aus, dass dies auch bei der Videokonferenz der
Fall sein wird und daher auch dort keine Aufzeichnung
nötig ist.
Die Nutzung der Videokonferenztechnik soll nach
den Vorgaben des Bundesrates von der Zulassung
durch Rechtsverordnungen der Länder abhängig gemacht werden. Die Regierungskoalition lehnt dies meiner Ansicht nach zu Recht ab, da dieses Nutzungsverbot mit Zulassungsvorbehalt zu der heutigen Rechtslage, in der die Anwendung bereits generell zulässig
ist, einen Rückschritt darstellen kann.
Nach dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen haben aber die Länder in den einzelnen Gerichtsbarkeiten bis Ende 2017 Zeit, die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Diese Änderung halten wir für
praktikabel, um die zügige Umsetzung des Gesetzes zu
ermöglichen. Denn nur dann, wenn bundesweit die
Technik eingerichtet ist, kann sie effektiv angewendet
werden.
Wir von der SPD-Fraktion halten den Gesetzentwurf in der von der Regierungskoalition geänderten
Version für tragbar und werden ihm daher zustimmen.
Der Einsatz von Videokonferenztechnik hat sich in
der gerichtlichen und staatsanwaltlichen Praxis bisher
noch nicht entscheidend durchgesetzt. Dabei liegen die
Zu Protokoll gegebene Reden
Vorteile der Nutzung dieser Technik klar auf der Hand:
Videokonferenztechnik führt in vielen Verfahren zu einem geringeren zeitlichen und finanziellen Aufwand
für alle Beteiligten und das Gericht. Rechtsanwälte und
andere Beteiligte haben weniger Reisetätigkeit und
weniger Aufwand, um an gerichtlichen Terminen teilzunehmen. Dies erleichtert die Terminierung von mündlichen Verhandlungen und Erörterungsterminen und
trägt zu einer Verfahrensbeschleunigung und zu einer
Erhöhung der Wirtschaftlichkeit bei.
Hinderungsgründe für den Einsatz von Videokonferenztechnik sind die nicht vorhandene technische
Ausstattung der Gerichte, Justizbehörden und Rechtsanwaltskanzleien sowie die Anknüpfung der Verfahrensordnungen an das Einverständnis der Beteiligten zum
Einsatz der Technik.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die
vorhandenen Hürden für den Einsatz von Videokonferenztechnik abbauen und die Anwendung der Technik in
der Praxis befördern. Nicht nur die Finanzgerichtsbarkeit, sondern auch die Zivilgerichte, Arbeitsgerichte, die Sozialgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichte,
Insolvenzgerichte und die FGG sollen auf Antrag oder
von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen den
Einsatz von Videokonferenztechnik gestatten können.
Die Entscheidungen darüber sind grundsätzlich unanfechtbar.
In strafgerichtlichen Verfahren und Ermittlungsverfahren ist der Einsatz von Videokonferenztechnik
jedoch nicht in jedem Fall angezeigt. Wenn es für die
Wahrheitsfindung auch auf den unmittelbaren persönlichen Eindruck des Vernehmenden von der Person des
Vernommenen ankommt - und dies ist zum Beispiel regelmäßig im strafgerichtlichen Erkenntnisverfahren
der Fall -, darf Videokonferenztechnik grundsätzlich
nicht zum Einsatz kommen. Auch im Bereich der Strafvollstreckung, zum Beispiel im Rahmen der Anhörung
des Verurteilten bei Widerruf einer Aussetzung der
Strafvollstreckung zur Bewährung oder bei Verhängung einer vorbehaltenen Geldstrafe, kommt es auf
den höchstpersönlichen Eindruck des Verurteilten an.
Dieser kann schwerlich durch eine Videokonferenz ersetzt werden.
Das vom Bundesrat vorgesehene gesetzliche Verbot
der gerichtlichen Videokonferenz mit Zulassungsvorbehalt haben wir gestrichen; denn dieses fördert den
Einsatz der modernen Technik nicht ausreichend und
ist mit bestehendem Europarecht nicht vereinbar. Die
Small-Claims-Verordnung und die Europäische Beweisaufnahmeverordnung sehen den Einsatz der Videokonferenztechnik nämlich bereits vor.
Um den Ländern größtmögliche Flexibilität zu ermöglichen, können diese das Inkrafttreten einzelner
Regelungen bis zum 31. Dezember 2017 zurückstellen,
um die technischen Voraussetzungen für die einzelnen
Gerichtszweige schaffen zu können.
Der Gesetzentwurf ist ein weiterer Meilenstein in
Richtung einer modernen und wirtschaftlichen Justiz.
Zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zum intensiven Einsatz von Videokonferenztechnik haben wir im
Rechtsausschuss ein erweitertes Berichterstattergespräch und kürzlich eine öffentliche Anhörung durchgeführt. Außerdem lagen dazu in der Ausschussberatung ein Änderungsantrag der Regierungsfraktionen
und einer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Die in der ersten Lesung geäußerte Kritik an dem
Gesetzentwurf halte ich weiter aufrecht, da der Änderungsantrag der Koalition allenfalls die beiden
verheerendsten Auswirkungen des Gesetzentwurfes
zurücknimmt. Leider hat die intensive Beratung der
Gesetzesinitiative in der öffentlichen Anhörung - insbesondere die zum Teil erhebliche Kritik der sachverständigen Koryphäen stieß bei der Koalition auf taube
Ohren - nicht zu einem Umdenken bei der Koalition
geführt.
Die Verfasser des Entwurfs preisen die Vorteile des
vermehrten Einsatzes von Videokonferenztechnik an.
Die Videokonferenztechnik kann in geeigneten Fällen
eine sinnvolle Option zur zügigeren Durchführung von
Gerichts- und Ermittlungsverfahren sein. Durch den
Einsatz von Videokonferenztechnik sollen die Vernehmung von Zeugen im Ermittlungsverfahren, die
Vernehmung von Sachverständigen im Hauptsacheverfahren, die Anwesenheit eines Dolmetschers im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung und die
obligatorische Anhörung von Verurteilten bei Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung
ersetzt werden. Es muss gewährleistet sein, dass der
Gebrauch der neuen Technik vor allem Verfahren vorbehalten ist, die ohne deren Einsatz nicht oder nur mit
ganz erheblicher Verzögerung durchgeführt werden
können. Die Videokonferenztechnik ist - verglichen mit
der persönlichen Anwesenheit im Gericht - mit
Nachteilen verbunden. Diese möchte in nun noch einmal beleuchten:
Durch den Einsatz von Videokonferenztechnik kann
der in allen Prozessrechten geltende Unmittelbarkeitsgrundsatz der Verhandlung unterlaufen werden. Deshalb darf die Videokonferenztechnik nur eingesetzt
werden, wenn ein hohes Maß an unmittelbarer Kommunikation verzichtbar oder wegen unüberwindbarer
Hindernisse ({0}) erforderlich ist. Für die Wahrheitsfindung ist ein
umfassender und persönlicher Eindruck des Richters
erforderlich. Bei Bild-Ton-Übertragungen gehen Feinheiten in der Betonung, Mimik und Gestik verloren.
Darüber hinaus sind äußere Einflüsse auf die per
Konferenztechnik zugeschaltete Person nicht ohne
Weiteres für den Richter erkennbar. Auch das Aussageverhalten ändert sich durch eine vom Gerichtssaal und
von der Gerichtsöffentlichkeit räumlich abgetrennte
Aussagesituation. All das ist dem persönlichen
Eindruck der Richter und auch der Wahrheitsfindung
abträglich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch die persönliche Abwesenheit eines Dolmetschers - die persönliche Anwesenheit soll durch
Zuschaltung ersetzt werde - ist für die Rechtsverteidigung eines der deutschen Sprache nicht mächtigen Beschuldigten abträglich. Hier ist zum einen kein Raum
für vertrauliche Gespräche mit dem Verteidiger, zum
anderen ist eine simultane Übersetzung durch einen
nicht persönlich anwesenden Dolmetscher schwierig.
Häufig kommt es in einer solchen Verhandlung auf jedes gesprochene Wort an. Die möglichen Fehler gehen
alle zulasten des Beschuldigten. Das ist nicht hinnehmbar. Vor diesem Hintergrund muss der Gesetzentwurf zwingend festschreiben, wann der Einsatz von Videokonferenztechnik regelmäßig ausscheidet, und
erhebliche Anforderungsschwellen einführen, die ein
faires und auf Wahrheitsfindung ausgerichtetes Verfahren garantieren. Eine solche Regelung sucht man
hier allerdings vergeblich.
Daneben hängt das Maß der Beeinträchtigung auch
sehr von der Qualität der Bild-Ton-Übertragung ab.
Hier fehlen einheitliche Qualitätsstandards.
Der Gesetzentwurf vermag es nicht, beim Einsatz
von Videokonferenztechnik die Prinzipien eines fairen
Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK, das rechtliche Gehör
gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und den Justizgewährleistungsanspruch nach Art. 19 Abs. 4 GG willkürfrei
nach Art. 3 Abs. 1 GG zu gewährleisten.
Auch die Bundesregierung kritisiert in ihrer Stellungnahme die Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes mit Verweis auf die Bedeutung des persönlichen Eindrucks von Beschuldigten und Zeugen. Sie
gibt sich jedoch damit zufrieden, dass die Anwendung
der Videokonferenztechnik nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern in das Ermessen des Gerichts
gestellt werden soll. Das reicht aber nicht aus. Der
Gesetzgeber selbst muss die Grundrechte und Verfahrensgrundsätze absichern und darf diese Aufgabe
gerade nicht auf die dritte Gewalt abwälzen.
Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
streicht glücklicherweise die beiden für den Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz verheerendsten
Änderungen. Bei Entscheidungen über einen Bewährungswiderruf und eine Reststrafenaussetzung ist nun
kein Einsatz von Videokonferenztechnik mehr vorgesehen.
Auch die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen haben dazu einen Änderungsantrag eingebracht. Dieser sieht zwar erfreulicherweise vor, dass
der Einsatz von Videokonferenztechnik die persönliche
Anwesenheit eines Dolmetschers nur mit ausdrücklicher Zustimmung aller Beteiligten ersetzen darf, und
schreibt eine Aufzeichnung der Übertragung fest, geht
aber im Hinblick auf die Verordnungsermächtigung
der Länder nicht weit genug. Beide Änderungsanträge
sehen vor, dass die Länder per Verordnung den Beginn
der Anwendung von Videokonferenztechnik im vorgesehenen Umfang bis 2017 hinauszögern können. Damit ist die Entstehung eines regionalen Flickenteppichs vorprogrammiert.
Wir können einem verstärkten Einsatz von Videokonferenztechnik nur zustimmen, wenn die Rechte der
Prozessbeteiligten nicht abgewertet werden. Da dieser
Gesetzentwurf diesem Anspruch nicht gerecht wird,
müssen wir ihn ablehnen.
Die Ton- und Bildübertragung ist in den letzten
Jahren technisch einfacher und qualitativ besser geworden. Sie hat sich zu einer realen und praktischen
Möglichkeit entwickelt, Personen, die sich an einem
anderen Ort befinden, zu einem Verfahren hinzuzuschalten.
Zweifelsohne birgt die Videokonferenztechnik auch
für die Justiz große Chancen, denen wir uns als Gesetzgeber nicht verschließen dürfen, wenn wir die
rechtlichen Voraussetzungen für eine gut ausgestattete, moderne Justiz verbessern. Wir stehen hier auch
nicht völlig am Anfang. Zum Schutz vorrangiger
Opferinteressen können Bild- und Tontechniken in
Hauptverhandlungen bereits seit Jahren verwendet,
seit 2002 darf mit Zustimmung aller Beteiligten die
Videokonferenztechnik auch im Zivilprozess eingesetzt
werden.
Gerichtsverfahren können durch den Einsatz von
Videokonferenztechnik insgesamt kostengünstiger und
zügiger durchgeführt werden, und zugeschalteten
Verfahrensbeteiligten können beschwerliche und zeitintensive Anreisen erspart werden. Dort, wo bisher
eine Anhörung - beispielsweise des Inhaftierten nicht zwingend vorgesehen war, kann dem Anspruch
auf rechtliches Gehör Geltung verliehen werden. All
dies sind Vorteile der Videokonferenztechnik - und in
diesen Zielen unterstützen wir den Gesetzentwurf des
Bundesrates.
Jedoch kann der Einsatz der modernen Technik kein
Selbstzweck sein; und ökonomische Erwägungen
dürfen nicht allein bestimmend werden. Die Prinzipien
der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit, der Unmittelbarkeit und des rechtlichen Gehörs sind verfassungsrechtlich verankerte, wichtige Bausteine unserer
Prozessordnungen. Sie sind Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips und dürfen einem zweifelhaften
Effektivitätsstreben nicht zum Opfer fallen. Es muss
sichergestellt werden, dass der Einsatz der Videokonferenztechnik der Entfaltung der Rechte der am
Verfahren beteiligten Personen dient und nicht ihrer
Einschränkung. Und genau hier weist der Gesetzentwurf des Bundesrates auch nach der Einbringung eines Änderungsantrages durch die Koalitionsfraktionen erhebliche Mängel auf.
Die vorgesehene Zuschaltung von Dolmetschern
auch ohne Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten ist
ein solcher Mangel. Mehrere Sachverständige haben
dies in der Anhörung des Rechtsausschusses bestätigt.
Die Übertragung einer Fremdsprache in die GerichtsZu Protokoll gegebene Reden
sprache ist vor dem Hintergrund des Wahrheitsermittlungsgrundsatzes des Strafverfahrens, aber auch in
anderen gerichtlichen Verfahren bereits im normalen
Verfahrensgang immer fehlerbehaftet. Nicht selten
kommt es in der mündlichen Verhandlung selbst bei
physischer Anwesenheit des Dolmetschers zu Missverständnissen, die erst durch weitere Nachfragen geklärt
werden können. Wird die Dolmetscherin oder der Dolmetscher nunmehr mittels Videokonferenztechnik in
den Sitzungssaal zugeschaltet, wird die Gefahr solcher
Fehlerquellen noch erhöht und die Möglichkeit der
Aufklärung solcher Fehler vermindert.
Auch die Reaktionen der Verfahrensbeteiligten auf
die Sprachübertragung können nur noch eingeschränkt wahrgenommen werden. Eine vertrauliche
Kommunikation zwischen dem Angeklagten und
seinem Verteidiger mithilfe des Dolmetschers in der
Hauptverhandlung wird unmöglich. Deshalb ist der
Einsatz von Videokonferenztechnik im Bereich des
Dolmetschens ohne allseitige Zustimmung abzulehnen.
Auch die Vernehmung von Sachverständigen via
Videokonferenztechnik unterscheidet sich erheblich
von einer direkten und unmittelbaren Kommunikation.
Gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung des Sachverständigenbeweises im Strafverfahren
wäre es für die Wahrheitsfindung kontraproduktiv,
wenn der Einsatz von Videokonferenztechnik auch
gegen den Willen eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter angeordnet werden könnte. Sachverständige zum
Beispiel im technischen Bereich können aber mit
Zustimmung aller Beteiligten sehr wohl mittels Videokonferenztechnik zugeschaltet werden.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussage von
Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Stadler
anlässlich der ersten Lesung des Gesetzentwurfes bedenklich, die Bundesregierung begrüße den Gesetzentwurf, da er die rechtlichen Hürden für den Einsatz der
Videokonferenztechnik abbaue, indem das Erfordernis
der Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten gestrichen
werde. Es handelt sich nicht nur um einen Abbau der
rechtlichen Hürden, sondern auch des rechtlichen
Schutzes der Beteiligten.
Auf der anderen Seite hat es die Koalition für nötig
befunden, eine Aufzeichnung der beim Einsatz der
Videokonferenztechnik anfallenden Aussagen strikt zu
untersagen. Damit wird ohne stichhaltige Begründung
auf Möglichkeiten der neuen Techniken verzichtet, die
zweifelsohne für die Wahrheitsfindung von Bedeutung
wären. Festgehaltene Aussagen können zu einem
späteren Zeitpunkt dazu verwendet werden, sich der
Erklärungsinhalte zu versichern. Davon können sowohl Gerichte wie auch Verfahrensbeteiligte nur profitieren. Es ist ein großer Fehler, dass die Koalition
diese Möglichkeit nicht nur nicht nutzt, sondern sie sogar strikt untersagt.
Auch die Nutzung der Videokonferenztechnik bei
Verhaftungen ist ein Vorteil der modernen Technik,
welchem sich die Koalition verweigert, obwohl in der
Sachverständigenanhörung darauf ausdrücklich hingewiesen worden ist. Ist eine physische Vorführung vor
das zuständige Gericht nicht möglich, so könnte diese
wie auch die Vernehmung mittels der Videokonferenztechnik erfolgen. In Fällen, in denen der unmittelbaren
Vorführung des Verhafteten vor das zuständige Gericht
ein Hindernis entgegensteht, ist die Videokonferenztechnik ein sinnvolles Mittel, diesem diejenige Rechtsposition zu verschaffen, die § 115 Strafprozessordnung
gewährt.
Wir Grünen haben mit unserem Änderungsantrag
genau dies vorgeschlagen und damit sogar für eine
sinnvolle Ausweitung des Einsatzes der Videokonferenztechnik plädiert. Es ist schade, dass die Koalition
hierauf nicht eingegangen ist.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass wir den Gesetzentwurf gern unterstützt hätten, soweit er dem
Recht auf rechtliches Gehör Geltung verleiht, indem er
den Einsatz der Videokonferenztechnik dort ermöglicht, wo bisher nach Aktenlage entschieden wurde. Einem Gesetzentwurf, der diesen Weg leider nicht konsequent geht, weil er die Möglichkeiten der Technik nicht
ausschöpft und auf der anderen Seite wichtige Prozessgrundsätze infrage stellt, lediglich um damit Zeit
und Geld zu sparen, können wir aber nicht zustimmen.
Wir werden uns aus diesem Grund enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12418, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1224 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Regierungsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungskosten aus der Umwidmung von Frequenzen
den Realitäten anpassen
- Drucksachen 17/7655, 17/10183 Berichterstattung:Abgeordneter Martin Dörmann
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Den heute zur Beratung vorliegenden Antrag sollte
man lieber mit dem Titel überschreiben „Die billigen
Forderungen der Linken den Realitäten anpassen“. Es
ehrt Sie ja, dass Sie auch einmal etwas zugunsten der
Kirchen fordern - das aber nur, weil es Ihnen gerade in
den Kram passt. In der Tat sind auch die Kirchen, etwa
bei Fronleichnamsprozessionen, aber auch viele kleine
Veranstalter von Musikveranstaltungen, genauso aber
auch Vereine und kommerzielle Kleinunternehmen von
der Umwidmung der Funkfrequenzen im Bereich
790 bis 814 Megahertz bzw. 838 bis 862 Megahertz infolge der Digitalen Dividende betroffen, aber offenbar
längst nicht so dramatisch, wie Sie das in Ihrem
Antrag hinstellen.
Schauen Sie doch einmal auf die Zahl der bislang
beim zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, gestellten Anträge und auf die
bisherigen Mittelabflüsse: Insgesamt wurden
bislang - also seit dem 15. November 2011 - 1 054
Anträge eingereicht, davon 446 für stationäre Geräteeinheiten - also für die Zusammensetzung von Mikrofon, Sender und Empfänger - und 608 für mobile Geräte. Mobile Geräte werden, wie Sie hoffentlich
wissen, im Gegensatz zu stationären an mehreren
Standorten eingesetzt, zum Beispiel auf einer Tournee.
In nur 536 Fällen wurden auch die für die Antragstellung notwendigen Unterlagen eingereicht; 183-mal für
stationäre und 353-mal für mobile Funkmikrofone.
Das BAFA hat, Stand 19. Februar 2013, 459 Bewilligungsbescheide ausgestellt. 35 Anträge mussten abgelehnt werden, und die anderen sind noch in Bearbeitung, vor allem, weil noch entsprechende Unterlagen
nachzureichen sind. Von den von Bund und Ländern
für Billigkeitsleistungen zur Verfügung gestellten rund
125 Millionen Euro sind bis heute gerade einmal
1 021 021,73 Euro ausgezahlt worden, wenn Sie es genau wissen wollen - von 125 Millionen Euro! Das liegt
nicht etwa an der bösen Behörde, die wie ein Cerberus
über die zur Verfügung stehenden Mittel wacht.
Warum aber dieser bescheidene Mittelabfluss? Das
kann ich Ihnen gerne erklären, werte Genossen. Hätten Sie einmal weitergedacht, statt wieder einmal bloß
Wohltaten zu fordern, wäre Ihnen das vielleicht auch in
den Sinn gekommen: Im Rahmen unserer Breitbandstrategie haben wir die Digitale Dividende vor allem
mit der Absicht umgesetzt, auch die ländlichen Räume
kurz- bis mittelfristig an höhere Bandbreiten anzubinden. Diese funkbasierte Technik der Long Term Evolution, kurz: LTE, hat den Effekt, dass wir auch ländlich
geprägten Regionen, die beim Breitbandausbau
gegenüber den Städten und Ballungszentren aus
wirtschaftlichen Gründen benachteiligt waren und es
leider immer noch sind, höhere Internetgeschwindigkeiten ermöglichen. Sicherlich ist LTE - und auch
das noch im Entwicklungsstadium befindliche LTE
Advanced - nicht der Weisheit letzter Schluss. Vor allem wenn man bedenkt, dass es sich dabei um ein sogenanntes Shared Medium handelt, also dass Teilnehmer,
die gleichzeitig über ein LTE-Funknetz Internet empfangen, sich diese Leistung teilen müssen, ist klar, dass
LTE für die kleineren Städte und Gemeinden nur eine
Übergangslösung sein kann. Aber darum geht es heute
nicht.
Im Rahmen der Digitalen Dividende haben wir mit
dem Ziel der Erschließung der ländlichen Räume die
Auflage erteilt, dass Telekommunikationsunternehmen, die LTE anbieten, erst dann in dichter besiedelte
und damit lukrativere Regionen gehen dürfen, wenn
sie 90 Prozent der weniger gewinnträchtigen Gegenden mit einer Mindestleistung versorgt haben. Die für
LTE genutzten Frequenzen im 800-Megahertz-Bereich
mussten die Mobilfunknetzbetreiber bislang also
hauptsächlich in den ländlichen Regionen in Betrieb
nehmen, und da gibt es nun einmal weniger Großveranstaltungen, Opernhäuser, Musicaltheater, OpenAir-Konzerte und Jahreskongresse in Stadthallen und
Event-Arenen. Insofern gibt es hier nur wenige
Antragsberechtigte. Antragsteller sind hier Kirchengemeinden, Vereine oder Kleinkunstbühnen, die nur
weniger hohe Beträge geltend machen können.
In den für die Mobilfunkbetreiber lukrativen Städten
und Ballungszentren setzen die Unternehmen vor allem höhere Frequenzbereiche, und zwar im Bereich
1,8 bis 2,6 Gigahertz, ein. In diesem Frequenzbereich
werden drahtlose Mikrofone nicht gestört, sodass es
hier keinen Grund gibt, Billigkeitsleistungen zu beantragen. Es würde mich ja sehr wundern, wenn die
Linke jetzt plötzlich Großunternehmen, die ihren Profit
vor allem in gewinnträchtigen Ballungszentren machen, mit Entschädigungen des Bundes und der Länder
beglücken will. Genau das fordern Sie, wenn Sie sich
für eine Ausweitung der Richtlinien zur Beantragung
der Billigkeitsleistungen wie in Ihrem Antrag aussprechen. „Linke fordert höhere Entschädigungen für
Großveranstalter“ - diese Schlagzeile möchte ich einmal lesen.
Erst wenn die 800-Megahertz-Frequenzen auch in
den Städten zum Einsatz kommen, nachdem also die
Versorgungsauflagen im Rahmen der Digitalen
Dividende erfüllt sind, kann es zu einem höheren
Mittelabfluss kommen. Der wird sich aber auch dergestalt in Grenzen halten, dass die 125 Millionen Euro
mehr als genug sind; das will ich an der Stelle einmal
prophezeien.
Weil wir wissen, dass sich hier noch etwas in den
Städten tut und es noch zu einem Anstieg der Anträge
kommen wird, wenn das 800-Megahertz-LTE dann in
den Städten ausgerollt wird, haben wir in den Nachverhandlungen mit den Ländern 2011 im Rahmen der
TKG-Novelle eine Verlängerung der Antragsfristen bis
zum 31. Dezember 2017 beschlossen. Vorher war das
nur bis Ende 2015 möglich. Außerdem haben wir in
diesen Verhandlungen festgelegt, dass für Einrichtungen der Kirche, der Länder, der Städte, Landkreise und
Zu Protokoll gegebene Reden
Kommunen, die nach § 51 ff. der Abgabenordnung
steuerbegünstigte Zwecke verfolgen, die Wertminderungszeit der Geräte auf acht Jahre angehoben wird;
das möchte ich hier auch einmal betonen. Mehr Entgegenkommen geht nicht und wäre auch völlig unangemessen. Vor allem kümmern wir uns um die Richtigen.
Bei der Debatte sollten wir auch einmal beleuchten,
dass es - nicht nur in Deutschland - auf demokratischem Wege zustande gekommene, allgemeinwohlorientierte politische Entscheidungen gibt, die eine gewisse Berufs- oder Personengruppe zu Umstellungen
oder Umrüstungen zwingen, für die es überhaupt keine
Entschädigung gibt. Wer entschädigt beispielsweise
einen kleinen Handwerksbetrieb mit vier Mitarbeitern,
der seinen in die Jahre gekommenen Transporter mit
Rußpartikelfiltern nachrüsten muss, weil die Stadt
Berlin Umweltzonen eingeführt hat, die dem Handwerksmeister vorschreiben, nur noch bei dieser oder
jener Abgasnorm in die Innenstadt hineinzukommen,
wo die Kunden auf ihn warten? Niemand - kein Bund,
kein Land und erst recht nicht die völlig verschuldete,
von Rot-Rot heruntergewirtschaftete Stadt Berlin. Der
Kleinunternehmer wird also in den sauren Apfel beißen und den Transporter für 1 000 Euro aufrüsten. Insofern kommen wir mit der Billigkeitsrichtlinie den
Nutzern von Funkmikrofonen im 800-MegahertzBereich doch schon ziemlich entgegen, meine ich. Da
möchte ich unseren Linkskollegen zurufen: Besser eine
Billigkeitsleistung gewähren als billige Forderungen
leisten.
Das Petitum, dass die durch die erste Digitale
Dividende betroffenen Frequenzen bei einer Digitalen
Dividende II nicht noch einmal betroffen sind, sodass
die nun schon auf andere Frequenzen ausgewichenen
Nutzer nicht noch einmal ausweichen müssen, kann
man grundsätzlich unterstützen. Ich bin sicher, die
Bundesregierung sieht das genauso und wird sich auf
der Weltfunkkonferenz im Jahr 2015 dafür einsetzen.
Statt unsere Kraft und Energie auf solche Anträge
wie den hier vorliegenden zu verschwenden, sollten
wir lieber an dem Ziel arbeiten, schnelles Internet in
Deutschland flächendeckend auszubauen. Damit
meine ich nicht nur den Ausbau in den Städten und
Ballungsgebieten, sondern genauso in den ländlich geprägten Gebieten. Die Digitale Dividende ist ein
Schritt dahin. Mit der TKG-Novelle 2012 haben wir
darüber hinaus eine ganze Reihe von wichtigen
Maßnahmen beschlossen, die den Breitbandausbau
kostengünstiger machen und Investitionen auf dem
Land ankurbeln.
Wir haben bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss neben dem Randaspekt Billigkeitsleistungen
vor allem auch über die Frage gesprochen, was wir
darüber hinaus noch in die Wege leiten könnten. Dazu
gehört der Auftrag an die Bundesregierung und an die
Länder, gemeinsam mit der KfW zu prüfen, wie diese
ihre vorhandenen Förderprogramme besser auf den
Breitbandausbau ausrichten kann, um sowohl Kommunen als auch Unternehmen die Hemmnisse bei Anfangsinvestitionen zu nehmen. Bayern macht es als
Bundesland vor: Bis 2017 stehen Unternehmen
500 Millionen Euro für den Ausbau der Datenautobahnen im Freistaat zur Verfügung. Wie sieht es da in
NRW oder in Mecklenburg-Vorpommern aus? Da muss
Bayern über den Länderfinanzausgleich den Breitbandausbau auch noch mitfinanzieren. Aber dazu ein
anderes Mal. Diskutieren sollten wir auch, ob und in
welchem Rahmen wir künftige Einnahmen aus einer
Digitalen Dividende II zweckgebunden für den
flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland
verwenden sollten. Das wird sicherlich vor allem mit
dem Bundesfinanzministerium zu klären sein, aber
überlegenswert ist das.
Das sind die Herausforderungen, von denen kleine
Unternehmer im Musik-, Veranstaltungs- oder Kulturbereich Lösungen und Fortschritte von der Politik
erwarten - und zwar zu Recht. Solche Nebenkriegsschauplätze wie die von den Linken hochgekochten
spielen für die Bürger in unserem Land, für unsere
Unternehmen und Gemeinden kaum eine Rolle und
verschleißen nur unnötig politische Energie. Bleiben
wir dran, die wirkliche Herausforderung zu meistern:
den Breitbandausbau, auch in der Fläche. Dafür bitte
ich Sie um Ihre Unterstützung.
Von der Fraktion der Linken liegt uns heute ein Antrag zur Abschlussberatung vor, den wir uns schenken
können. Die im Antrag herbeigeschriebenen Probleme
sind längst nicht so dramatisch und von der Realität
längst überholt.
Aber worum geht es? Die Versteigerung des bislang
größten Frequenzpaketes in Deutschland durch die
Bundesnetzagentur im Jahr 2010 bietet große Chancen für den notwendigen Netzausbau und eine bessere
Breitbandversorgung auch in ländlichen Regionen sowie zur Erweiterung der Netze im Mobilfunk. Gerade
im Mobilfunk steigen die Kapazitätsbedarfe stetig. Die
Mobilfunkunternehmen, die entsprechende Frequenzen ersteigert haben, können nun die Einführung der
Long-Term-Evolution Technologie - LTE - vorantreiben, die hohe Bandbreiten ermöglicht. Zudem bieten
die Frequenzen der Digitalen Dividende in den Bereichen
von 790 bis 862 Megahertz die Möglichkeit, Lücken in
der Breitbandversorgung zu schließen.
Die in dem Antrag beschriebenen Risiken sind
schon sehr lange bekannt. Daher wurde die Frage der
Kostenerstattung bereits im Jahr 2009 im Bundesrat
im Rahmen der Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung beraten. Diese Verordnung enthält die
Voraussetzungen für die Versteigerung der Frequenzen. Darüber hinaus gibt es die Absprachen zwischen
dem Bund und den Bundesländern zur Thematik der
Umstellungskosten. Zwischen Bund und Ländern
wurde zunächst vereinbart, die Kosten aus notwendigen Umstellungen, die sich bis Ende 2015 bei denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis 862 Megahertz nutzen, in angemessener Form zu tragen. Im
Zu Protokoll gegebene Reden
Rahmen des Vermittlungsverfahrens zur Novelle des
Telekommunikationsgesetzes, TKG, wurde die Richtlinie für die Umstellungskosten im März 2012 noch
nachgebessert. So wurde der Zeitraum für eine Antragstellung von 2015 auf 2017 verlängert. Öffentliche
Einrichtungen können einen Nutzungszeitraum von
acht Jahren geltend machen. Für Nutzer eines
Mikrofons, welches älter als sechs Jahre ist, gibt es
nun eine Sockelregelung nach Beginn der Wertminderungszeit.
Wir halten fest: Es bestehen bereits - nachträglich
verbesserte - Regelungen zur Entschädigung, sofern
konkrete Störungen auftreten. Und das ist der entscheidende Punkt!
Wenn konkrete Störungen auftreten, dann sollen die
entsprechenden Einrichtungen eine Entschädigung für
notwendige Ersatzaufwendungen erhalten. Festzuhalten bleibt jedoch; Es besteht kein Rechtsanspruch auf
Entschädigungsleistungen. Darüber hinaus ist auch
einzuschätzen, wie hoch der Grad der Störung ist und
ob es denn technische Möglichkeiten gibt, diese Störungen zu unterbinden oder zu beheben. Manche
Dinge kann man auch ohne viel Geld reparieren. Die
Bundesnetzagentur bereitet beispielsweise seit Anfang
2010 eine Verlagerung der entsprechenden Nutzung in
alternative Frequenzbereiche vor. Sollte diese Frequenzverlagerung notwendig werden und sollten dadurch Kosten entstehen, so gibt es die Zusage der Bundesregierung, eine angemessene Entschädigung zu
zahlen. Dies ist im Vergleich zu Neuanschaffungen sicher der günstigere Weg.
Was ist zu tun, bevor der Bund zahlt? Wenn die eben
erwähnten Voraussetzungen für Entschädigungsleistungen eintreten, dann muss vorab sichergestellt werden,
dass die ausgezahlten Mittel entsprechend eingesetzt
werden und bei den Kultureinrichtungen ankommen.
Klar umrissen werden muss auch der Kreis der möglichen Entschädigungsempfänger. Schließlich muss der
Einsatz der Mittel nachvollziehbar und kontrollierbar
sein. Missbrauch von Steuermitteln darf es nicht geben.
Schließlich noch ein Wort zu den finanziellen Dimensionen. Der Bund hat 124 Millionen Euro an Unterstützung zugesagt. Bisher wurden entsprechend dem
obigen Verfahren circa 1 000 Anträge gestellt und ungefähr 450 bewilligt. Von den bereitgestellten 124 Millionen Euro sind also bisher 1 Million Euro abgerufen
worden; das sind weniger als 1 Prozent. Also, die Horrorszenarien der letzten Jahre sind somit nicht eingetreten.
Bevor ich zum Schluss komme, noch eine grundsätzliche Bemerkung. Jeder Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr muss sich auf Veränderungen des Rechtsrahmens einstellen. Handwerker und Spediteure müssen
ihre Fahrzeuge gemäß den Schadstoffnormen nachrüsten, Bauunternehmen haben sich an Arbeitsschutzvorschriften zu halten, die chemische Industrie muss die
Chemikalienverordnung befolgen. Nun sind kulturelle
Einrichtungen nicht mit Unternehmen gleichzusetzen,
aber eine Vollkaskoregelung darf es trotzdem nicht geben.
In der konkreten Angelegenheit sind Übergangsund Entschädigungsregelungen für Kulturschaffende
eingerichtet. Die Nutzer drahtloser Funkmikrofone
konnten die betroffenen Frequenzbereiche bisher kostenfrei nutzen. Der Bund als Eigentümer hat sich entschieden, diese Frequenzen einer anderen Nutzung zur
Verfügung zu stellen. Künftig werden mobile Breitbanddienste, LTE, über die versteigerten Frequenzen
laufen. Drei Mobilfunkunternehmen haben viel Geld
investiert und sind Versorgungsauflagen für die Versorgung ländlicher Regionen eingegangen. Eine leistungsfähige und wirtschaftliche Breitbandversorgung,
gerade der ländlichen Regionen, ist von übergeordnetem Interesse für unser Land. Das bisherige Vorgehen
der Bundesregierung hat daher meine Unterstützung.
Der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu folgen ist richtig und der
Antrag ist abzulehnen.
Erneut beschäftigen wir uns mit den aus der
Umwidmung von Funkfrequenzen resultierenden Problemen für Nutzer von drahtlosen Mikrofonen, die
durch eine vom Bundeswirtschaftsministerium erlassene Billigkeitsrichtlinie entschädigt werden sollten.
Diese sperrigen Begrifflichkeiten dürfen nicht verschleiern, um wen es auf der Betroffenenseite eigentlich geht: Kulturschaffende, Amateurtheater, Freilichtbühnen, für die drahtlose Mikrofone unerlässliches
Instrument ihrer Arbeit sind.
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte zu dieser Problematik bereits im Oktober 2010 einen eigenen Antrag
im Bundestag eingebracht. Darin hatten wir gefordert,
betroffene Kultureinrichtungen nach der Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone angemessen zu entschädigen. Wir haben stets darauf gedrängt, dass der
Bund seine gegenüber dem Bundesrat erklärte Bereitschaft konsequent umsetzt, die Kosten, die sich nachweislich aus notwendigen Umstellungen bei denjenigen ergeben, die bislang die Frequenzen 790 bis
862 Megahertz genutzt haben, in angemessener Form
zu tragen. Hierzu hat der Haushaltsausschuss des
Bundestages in eine Billigkeitsrichtlinie eingewilligt.
Immerhin ist es im Zusammenhang mit dem Vermittlungsverfahren zur Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, TKG, Anfang 2012 gelungen, einige
Verbesserungen an der Billigkeitsrichtlinie durchzusetzen. Dies betraf insbesondere die Festlegung einer
längeren Nutzungsdauer von Anlagen gemeinnütziger,
mildtätiger oder kirchlicher Institutionen. Zudem hatte
der Bundeswirtschaftsminister signalisiert, bei bestimmten öffentlichen Einrichtungen von Städten,
Kommunen und Kirchen, auf eine Gemeinnützigkeitsbescheinigung im Rahmen des Entschädigungsverfahrens zu verzichten und auch hier eine Nutzungsdauer
Zu Protokoll gegebene Reden
entsprechender Anlagen von acht Jahren anzurechnen.
Nicht zuletzt wegen dieser Zugeständnisse des Bundes
hatten die Länder schließlich den Weg für das neue
TKG freigemacht.
Allerdings hatten sowohl die Länder als auch die
SPD-Bundestagsfraktion von vornherein darauf hingewiesen, dass der vom Bund vorgegebene Finanzrahmen von 124 Millionen Euro im Zeitraum 2011 bis
2015 für die zugesagte angemessene Kostenerstattung
kaum ausreichen werde. Die Länder hatten ursprünglich rund 750 Million Euro und eine erheblich großzügigere Ausgestaltung der Erstattungskriterien gefordert.
Es sind nun gerade Freilichtbühnen und Amateurtheater, die darüber klagen, dass sie aufgrund der
nachzuweisenden Abschreibungsfristen faktisch von
der Kostenausstattung weitgehend ausgeschlossen
sind. Für viele kleine Kultureinrichtungen ist die Anschaffung drahtloser Geräte eine größere Investition,
die weitaus länger genutzt wird als nach den üblichen
Abschreibungsfristen vorgesehen.
Nach aktueller Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums ist erst ein geringer Teil - gut 1 Million
Euro - vom BAFA an Auszahlungen veranlasst worden. Wegen der zunächst zu erfüllenden Versorgungsauflagen hätten die Mobilfunknetzbetreiber die betroffenen Frequenzen bisher hauptsächlich in ländlichen
Regionen in Betrieb genommen. In diesen Regionen
seien jedoch die Nutzer drahtloser Mikrofone, insbesondere größerer kultureller Einrichtungen, kaum vertreten, sodass bisher keine größeren Beträge abgerufen werden konnten. In den lukrativen Ballungszentren
würden die Mobilfunkbetreiber vor allem höhere
Frequenzbereiche einsetzen, die keine Störungen
drahtloser Mikrofone erzeugen. Wenn auch hier die
umgewidmeten Frequenzbereiche zum Einsatz kämen,
könne eine Signifikanzzunahme der direkten Störung
von Funkmikrofonen eintreten, die dann auch zu weiteren Mittelabflüssen führen sollte.
Das Wirtschaftsministerium betont, dass der mit
den Ländern erzielte Kompromiss abschließend sei
und eine weitere Anpassung der Richtlinie über Billigkeitsleistungen nicht vorgesehen sei.
Bei der Konferenz der Chefinnen und Chefs der
Staats- und Senatskanzleien der Länder wurde Mitte
November 2012 der entsprechende Bericht des Bundes
über die Erfahrungen mit der Billigkeitsrichtlinie und
den Umfang der Inanspruchnahme zur Kenntnis
genommen. Im Hinblick auf die Kompromissvereinbarung haben die Länder trotz nach wie vor vorhandener Kritik von konkreten Nachforderungen abgesehen
und den Bund gebeten, Ende 2013 erneut über die Erfahrungen mit der Billigkeitsrichtlinie zu berichten.
Aus meiner Sicht gibt es hier ein politisches
Dilemma: Einerseits halten wir nach wie vor die
Billigkeitsrichtlinie für unzureichend, sowohl was die
Gesamtausstattung als auch die einzelnen Anspruchskriterien betrifft. Auf der anderen Seite wollen sich
auch die Länder nicht von dem erzielten Kompromiss
distanzieren. Vor diesem Hintergrund wird sich meine
Fraktion bei dem vorliegenden Antrag der Stimme enthalten.
Allerdings muss man berücksichtigen, dass durch
die Verzögerung des LTE-Ausbaus die Sekundärnutzer
erst deutlich später als bei Erarbeitung der Richtlinie
prognostiziert von Störungen betroffen sind. Dieser
Umstand darf aber nicht dazu führen, dass Betroffene
durch Zeitablauf ihre Anspruchsberechtigung auf eine
Entschädigung verlieren. Daher sollten Ende des
Jahres die Kriterien der Billigkeitsrichtlinie vor dem
Hintergrund der bis dahin vorliegenden Erfahrungen
kritisch auf den Prüfstand gestellt werden. Sollte sich,
wie von uns befürchtet, herausstellen, dass die Regelungen unzureichend sind und insbesondere Freilichtbühnen und Amateurtheater in der Praxis keine angemessene Entschädigung mehr erlangen können, darf
eine Nachbesserung kein Tabu sein!
Auch für die zukünftige Frequenzpolitik - ich
möchte hier nur die bereits im Raum stehende Forderung nach einer Digitalen Dividende II nennen - wird
entscheidend sein, ob der Bund seine Zusage, eine angemessene Entschädigung der Sekundärnutzer zu gewährleisten, tatsächlich einhält oder ob das Vertrauen
durch den Wortbruch dauerhaft beschädigt ist.
Zu Recht hat das Verhalten des Bundes bei der ganzen Diskussion um die Billigkeitsrichtlinie zu großer
Enttäuschung bei den Betroffenen geführt. Es sei noch
einmal in Erinnerung gerufen, dass der Bund alleine
durch die Versteigerung der Frequenzen im Bereich
der Digitalen Dividende Einnahmen von rund 3,6 Milliarden Euro erzielt hat. Vernünftige Entschädigungsregelungen, für die der Bund im Wort steht, wären
daher mehr als recht und billig. Hier hat sich die Bundesregierung wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Von
daher ist zu hoffen, dass nach der Bundestagswahl
eine neue Regierungskonstellation die Belange insbesondere Kulturschaffender besser berücksichtigt und
Zusagen verlässlich umsetzt.
Ein schnelles und leistungsfähiges Internet ist eine
der Grundvoraussetzungen für wirtschaftliches
Wachstum. Zudem sind moderne Kommunikationsnetze ein zentraler Faktor im internationalen und
regionalen Standortwettbewerb.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat in dieser
Legislaturperiode dafür gesorgt, dass Deutschland
gegenwärtig über eine im internationalen Vergleich
sehr gute Internetinfrastruktur verfügt. Wir Liberalen
setzen dabei vor allem auf investitions- und wachstumsorientierte Regulierung, gezielte finanzielle
Fördermaßnahmen und die Verwendung der Digitalen
Dividende, um den Breitbandausbau in Deutschland
noch weiter voranzutreiben.
Die Städte und Ballungsgebiete sind inzwischen
sehr gut versorgt. Das ist aber vor allem in den ländliZu Protokoll gegebene Reden
chen Räumen noch nicht überall der Fall. Denn auch
wenn es dort vielerorts inzwischen möglich ist, einen
adäquaten Zugang zum Internet zu erhalten, sind wir
uns bewusst, dass in vielen Regionen nach wie vor
Versorgungslücken bestehen.
Es ist daher das Hauptziel gemäß unserer liberalen
wettbewerbsorientierten Telekommunikationspolitik,
eine flächendeckende Versorgung mit hochleistungsfähigem Internet sicherzustellen. Ein wichtiger
Baustein dafür war und ist für uns der Ausbau der
Breitbandinfrastruktur.
Gerade in ländlichen Regionen, wo die Zahlungsbereitschaft und Nachfrage geringer als in urbanen
Gebieten sind und sich die Frage nach der Wirtschaftlichkeit für Investoren stellt, bietet vor allem LTE eine
kostengünstige Alternative mit ausreichender Versorgungsqualität zur Festnetzversorgung. LTE ist durch
seine technischen Weiterentwicklungschancen und die
damit verbundene Vervielfachung der Übertragungsraten ein adäquater DSL-Ersatz.
Mit der Ersteigerung der Frequenzen des 800-Megahertz-Bandes im Jahr 2010 haben sich die Mobilfunkanbieter verpflichtet, stufenweise diejenigen Gebiete mit mobilem Breitband zu versorgen, die bisher
von einer schnellen Netzanbindung abgeschnitten
waren. Dieser Aus- und Aufbauverpflichtung sind die
Mobilfunkanbieter im November letzten Jahres nachgekommen und haben den LTE-Ausbau in den ländlichen Gebieten abgeschlossen. Damit sind nun alle bisher unterversorgten Gebiete ans schnelle Netz
angeschlossen. Das ist nicht zuletzt auch ein Erfolg
unserer wettbewerbsorientierten liberalen Telekommunikationspolitik.
Selbstverständlich verschließen wir dabei die
Augen nicht davor, dass es durch den Ausbau des
drahtlosen Internets bzw. die Nutzung des 800-Megahertz-Bandes durch die Mobilfunkanbieter zu Störungen
oder gar Ausfällen von anderen, parallel genutzten
Drahtlossystemen - vor allem von Funkmikrofonen kommen kann. Und wir wissen auch, dass viele der bisherigen Nutzer des versteigerten Frequenzbereichs
- insbesondere Kultur- und Bildungseinrichtungen aufgrund dessen mit finanziellem Aufwand ihre Technik umrüsten oder sogar komplett erneuern müssen,
weil ihre Technik in einem anderen Frequenzbereich
nicht funktioniert.
Aus diesem Grund hatte der Bund bereits vor der
Versteigerung der Frequenzen zugesagt, die Kosten,
die sich nachweislich aus notwendigen Umstellungen
der Frequenznutzungen für drahtlose Geräte ergeben,
in angemessener Form zu tragen. Zum Ausgleich der
wirtschaftlichen Nachteile hat das Wirtschaftsministerium im Einvernehmen mit dem Finanzministerium
konsequenterweise eine Billigkeitsrichtlinie erlassen.
Und dies war lediglich ein Teil eines wesentlich komplexeren Maßnahmenbündels, um die Belastungen, die
sich für Anwender von Funkmikrofonen durch den
notwendigen Frequenzwechsel in Sinne des Breitbandausbaus ergeben, abzufedern.
Mit der Bereitstellung von Ersatzfrequenzen im
Bereich vom 1 785 Megahertz bis 1 800 Megahertz
wurde beispielsweise bereits Mitte des Jahres 2010 ein
weiterer, wichtiger Teil dieser Zusage erfüllt. Darüber
hinaus hat die Bundesnetzagentur für den Zeitraum ab
2015 alternative Frequenzen zur Nutzung durch Funkmikrofontechnik zugeteilt und veröffentlicht. Damit
wurde für die Nutzer drahtloser Geräte auch für den
Zeitraum nach 2015 Planungssicherheit mit Blick auf
die Frage, auf welchen Frequenzen drahtlose Mikrofone und andere Bühnentechnik dann funken dürfen,
geschaffen. Zudem existiert die Option, bei der
Bundesnetzagentur Einzelzuteilungen in anderen
Frequenzbereichen zu beantragen, wenn eine störungsfreie Nutzung der drahtlosen Geräte unbedingt
gewährleistet sein muss.
Lassen Sie mich noch einmal auf den Hauptvorwurf
des Antrags der Linken zurückkommen, nämlich dass
die Billigkeitsrichtlinie mit Blick auf die Kosten der
Umstellung der Frequenzen der Realität nicht ausreichend Rechnung trage. Das kann ich entschieden
zurückweisen.
Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel an den durch den Haushaltsausschuss vorgegebenen Empfehlungen für eine Billigkeitsrichtlinie orientiert. Die FDP-Bundestagsfraktion
findet, dass der zur Verfügung gestellte Betrag vor allem im Hinblick auf die nach wie vor angespannte
Haushaltslage durchaus angemessen ist.
Dass die Linksfraktion die in der Richtlinie angewendete Interpretation des Wortes „angemessen“ infrage stellt, war zu erwarten. Dies ist der Fall, weil die
Linksfraktion in aller Regel zuerst daran denkt, wie
das Geld ausgegeben werden kann, und sich erst in
zweiter Linie darum kümmert, wie das Geld in Sinne
einer vernünftigen Haushaltspolitik zusammengehalten werden kann.
Natürlich wissen wir auch um die Interessen der Betroffenen, vor allem der kulturellen Einrichtungen.
Aber in finanziell schwierigen Zeiten müssen wir an
bestimmten Stellen Grenzen setzen.
Sämtliche Ressorts bemühen sich, kontinuierlich
Einsparungsmöglichkeiten zu identifizieren, damit wir
unserem Ziel der Haushaltskonsolidierung Jahr für
Jahr ein Stück näher kommen. Deswegen halten wir
Liberalen es nach wie vor für angebracht, weder - wie
mein Kollege Müller-Sönksen kürzlich treffend festhielt - das „Füllhorn noch die Gießkanne“ auszuschütten. Die vom Bundeswirtschaftsministerium veranschlagte Kompensationssumme ist daher ein guter
Mittelweg. Und ich bin zuversichtlich, dass die Ziele
der Billigkeitsrichtlinie damit auch erreicht werden
können, denn es gibt viele Einrichtungen, die auf
Umrüstungen eingestellt sind und vorausschauend
auch entsprechende Rücklagen gebildet haben. Deren
Nachteile durch die nötigen vorzeitigen NeuinvestitioZu Protokoll gegebene Reden
nen sollen mit den geplanten Zuwendungen ausgeglichen werden, aber ohne sie gleichzeitig aus ihrer
betriebswirtschaftlichen Verantwortung für die
Instandhaltungskosten zu entlassen. Denn eine Überkompensation wäre nicht im Sinne des Erfinders und
ist daher tunlichst zu vermeiden.
Wir beschäftigen uns heute zum wiederholten Mal
mit dem Thema der Frequenzversteigerungen und deren Auswirkungen auf die Kulturlandschaft. Die Linke
hatte bereits Mitte 2010, also kurz nach der Versteigerung der Frequenzen in den Bereichen 800 Megahertz,
1,8 Gigahertz, 2 Gigahertz und 2,6 Gigahertz, mit einem Antrag gefordert, den Einrichtungen der Kulturund Medienlandschaft die Folgekosten, die durch die
Verlagerung der Frequenzen des Produktions- und
Veranstaltungsfunks entstehen, vollumfänglich zu ersetzen.
Nur zur Erinnerung: Der Bund hatte bei der Versteigerung der Frequenzen an Mobilfunkunternehmen
über 4,3 Milliarden Euro eingenommen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat seinerseits die Billigkeitsrichtlinie zur Gewährung von
Leistungen an Sekundärnutzer wegen frequenzwechselbedingter Umstellkosten erlassen, die im November
2011 in Kraft getreten ist.
Auch wenn es zunächst positiv zu bewerten ist, dass
das zuständige Ministerium das Thema aufgreift und
sich um eine Verbesserung der Situation bemüht, kommen wir als Linke zu dem Schluss, dass die Billigkeitsrichtlinie weitestgehend an den Bedürfnissen der
vielen Theater, der Produzenten der Film- und Fernsehbranche, der Kleinunternehmer der Veranstaltungsbranche und anderen vorbeigeht. Die Voraussetzungen, die kulturelle Einrichtungen, die Leistungen
nach der Billigkeitsrichtlinie erhalten wollen, erfüllen
müssen, sind zu eng formuliert. Die im Bundeshaushalt
bereitgestellten Mittel werden gar nicht abgerufen.
Der Deutsche Bühnenverein geht davon aus, dass bis
zu 90 Prozent der privaten und kommunalen Theater
nicht die Voraussetzung der Billigkeitsrichtlinie in der
derzeitigen Fassung erfüllen. Laut aktuellem Bundeshaushalt beträgt das Soll der Billigkeitsleistungen für
2012 knapp 29 Millionen Euro. Gleichzeitig wird ein
Restbetrag über 73 Millionen Euro ausgewiesen. Für
2013 sind gerade mal noch gut 9,5 Millionen Euro für
Billigkeitsleistungen eingestellt.
In der Antwort auf meine schriftliche Frage vom
30. Januar 2013 hat die Bunderegierung erklärt, dass
im Zeitraum zwischen Februar 2012 und Januar 2013
Billigkeitsleistungen in Höhe von etwas über 1 Million
Euro bewilligt wurden. Der tatsächliche Bedarf dürfte
um ein Vielfaches höher liegen. Gerade bei Theatern
ist häufig ein Komplettumbau erforderlich. So rechnet
beispielsweise das Opernhaus Hannover mit über
150 000 Euro für notwendige Neuinvestitionen. Für
das Theater in Erfurt ist mit notwendigen Neuinvestitionen in Höhe von etwa 100 000 Euro zu rechnen.
Bei dem Umgang mit den Folgekosten der Neuordnung von Frequenzen, auch als Digitale Dividende 1
bezeichnet, geht es nicht nur um die Frage, wer die
Kosten für notwendige Umrüstmaßnahmen der betroffenen kulturellen Einrichtungen trägt. Es geht auch um
die Frage, wie wir mit den unterschiedlichen Interessen umgehen wollen, die daraus resultieren, dass immer mehr Frequenzen für den Mobilfunk geöffnet werden, während gleichzeitig freie Frequenzen benötigt
werden, die von kulturellen Einrichtungen für Drahtlosmikrofone genutzt werden.
Die Digitale Dividende 1 stellt dabei keineswegs
das Ende der technischen Entwicklung dar. Die Internationale Fernmeldeunion will ab 2015 weitere Frequenzen für den Mobilfunk freigeben. Diese Digitale
Dividende II würde zunächst das digitale terrestrische
Fernsehen, das DVB-T, betreffen. Der Bereich der
DVB-T-Kanäle müsste auf dem UHF-Band derart reduziert und komprimiert werden, dass daneben - vereinfacht gesagt - nicht mehr genug Raum für drahtlose
Mikrofone und Ähnliches verbleiben würde. Diese Situation könnte für die vielen kabellosen Produktionen
bei kulturellen Veranstaltungen das Ende sein. Dieses
Problem ließe sich auch nicht durch eine Rückkehr zu
kabelgebundenen Geräten lösen. Eine Vielzahl von
kulturellen Veranstaltungen ist nicht zuletzt aus Kostengründen nur mit Einsatz von Funktechnik durchführbar. Sollte diese nicht mehr zur Verfügung stehen,
würde dies also letztendlich zu einer Schwächung des
kulturellen Angebots in der Breite führen.
Die Linke fordert, dass kulturelle Einrichtungen, die
entweder wegen der letzten Frequenzversteigerung infolge der Digitalen Dividende I oder wegen künftiger
Frequenzneuzuweisungen zur Neuanschaffung bzw.
Umrüstung ihrer Drahtlostechnik gezwungen sind,
durch den Bund eine angemessene Entschädigung erhalten. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass
auch im Falle einer Digitalen Dividende ein ausreichend hochwertiges Spektrum an Funkfrequenzen für
die kulturellen Einrichtungen weiter nutzbar bleibt.
Ich möchte Sie darum bitten, unserem Antrag zuzustimmen.
2010 hat die Bundesnetzagentur Frequenzen versteigert, die bis dahin unter anderem von Funkmikrofonen genutzt wurden. Die Frequenzen sollen nun für
den Aufbau des Internetzugangs über Funk verwendet
werden.
Ich begrüße ausdrücklich, dass mit der Versteigerung der Frequenzen ein Schritt unternommen wurde,
um den schnellen Zugang zum Internet im ländlichen
Raum zu ermöglichen. Mit den versteigerten Frequenzen sollen die weißen Flecken der Breitbandversorgung beseitigt werden. Bis heute sind immer noch
Tausende Haushalte vom schnellen Internet ausgeschlossen. Gerade in ländlichen Regionen ist das ein
gravierender Standortnachteil für die Bevölkerung
und vor allem auch für die regionale Wirtschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Klar muss aber sein: Die Leidtragenden der Auktion dürfen nicht die sein, die den Platz dafür geräumt
haben: der Hörfunk, aber auch Theater und Musikveranstalter. Wer kabellose Mikrofone nutzt, bekommt nun
einen neuen Platz im Äther zugewiesen, was mit erheblichen Kosten verbunden ist. Auf den neu zugewiesenen Frequenzen können die vorhandenen kabellosen
Mikrofonanlagen meist nicht weiter verwendet werden. Daher müssen Theater und Bühnen in Neuanschaffungen investieren.
Für die bisherigen Nutzer der Frequenzen, also Institutionen oder andere Nutzer von Funkmikrofonen
({0}), entstanden Störungen bei ihren
drahtlosen Mikrofonanlagen. In der Folge ist die Anschaffung neuer Geräte bzw. Anlagen erforderlich.
Der Bund, der die Umwidmung der Frequenzen beschloss und dem die Versteigerung einen Erlös von
4,38 Milliarden Euro einbrachte, hatte den Ländern
ursprünglich zugesagt, sich in angemessener Weise an
den Kosten zur Umrüstung der drahtlosen Mikrofonanlagen zu beteiligen. Das Wirtschaftsministerium hat
dazu eine Verwaltungsvorschrift ({1})
vorgelegt, worauf der Haushaltsausschuss die Mittel
von 120 Millionen Euro freigegeben hat. Allerdings
wurden die Forderungen der Verbände bei der Festlegung der Kriterien in der Richtlinie in entscheidenden
Punkten missachtet. Zum Beispiel darf das störungsbetroffene Gerät nicht älter als fünf Jahre alt sein. Üblicherweise werden derartige Geräteeinheiten aber für
einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren angeschafft.
In anderen Ländern ist das besser geregelt. So erhalten zum Beispiel in Großbritannien die betroffenen
Einrichtungen bei der Versteigerung von Funkfrequenzen bereits im Vorfeld eine Zusicherung, wonach sie
60 Prozent der ursprünglichen Anschaffungskosten
von Geräten ersetzt bekommen, die sie aufgrund der
Umwidmung der Frequenzen nicht mehr nutzen können.
Die Fraktion Die Linke fordert nun, die Kriterien
zur Erstattung der Kosten auszudehnen.
Ich möchte an einigen Punkten kritische Anmerkungen machen: Die Billigkeitsleistungen sollen nach den
Vorstellungen der Fraktion Die Linke bereits vor einer
tatsächlichen Störung erfolgen. In der Praxis ist es
aber schwierig darzustellen, wer dann wirklich leistungsberechtigt ist. Stattdessen sollte entschädigt werden, wer auch tatsächlich eine Störung hat.
Auch die Forderung, dass Nutzerinnen und Nutzer
drahtloser Mikrofonanlagen generell von künftigen
Umwidmungen ausgeschlossen sein sollen, halten wir
für nicht umsetzbar. Wir wissen heute noch nicht, wer
wann in welchem Maße geschädigt werden könnte. Es
muss aus unserer Sicht lediglich sichergestellt werden,
dass auch künftig Geschädigte Schadensersatz erhalten.
Wir stimmen dem Antrag aber dennoch zu; denn
auch wir haben im Rahmen der parlamentarischen Beratungen über die Frequenzversteigerung den Bundestag dazu aufgefordert, mehr Gelder für die Erstattung
an die von der Umwidmung des Frequenzbereiches Betroffenen zur Verfügung zu stellen.
Im Rahmen der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zum Telekommunikationsgesetz haben sich
Bund und Länder auf eine Lockerung der Kriterien geeinigt. Die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses
sind ein Minimalkonsens und keine Garantie dafür,
dass alle Geschädigten auch entschädigt werden. Der
vorliegende Antrag stellt weiter gehende Forderungen, die wir begrüßen. Außerdem setzt der vorliegende
Antrag den Impuls, diese Regelung auch für zukünftige
Versteigerungen anzuwenden, anstatt die Zusage von
Geldern in irgendwelchen Vermittlungsausschüssen
mühsam immer wieder aufs Neue zu verhandeln.
Damit kommen wir zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Wirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10183, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7655 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen
bei Enthaltung der SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Holzhandels-Sicherungs-Gesetzes
- Drucksache 17/12033 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/12400 Berichterstattung:Abgeordnete Cajus CaesarPetra CroneDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannCornelia Behm
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Über 2 Millionen private Waldbesitzer gibt es in
Deutschland. Diese über 2 Millionen privaten Waldbesitzer bewirtschaften fast die Hälfte der deutschen
Waldfläche nachhaltig - immerhin 4,9 Millionen Hektar.
Diese über 2 Millionen privaten Waldbesitzer tragen dazu bei, dass 1,2 Millionen Menschen in der
Zu Protokoll gegebene Reden
Branche einen Arbeitsplatz haben. Diese über 2 Millionen privaten Waldbesitzer organisieren sich zum
Teil in über 4 500 forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen und beweisen damit viel Wirtschaftskompetenz und Verantwortungsbewusstsein. Und diese über
2 Millionen privaten Waldbesitzer generieren einen
Umsatz von etwa 168 Milliarden Euro - ein gewaltiges
Wirtschaftspotenzial.
Neben diesen harten Fakten dürfen auch weitere
Aspekte nicht unerwähnt bleiben:
Unsere Waldbesitzer tragen durch ihre Arbeit zur
Wertschöpfung vor Ort bei. Sie erhalten einen qualitativ hochwertigen Lebensraum für Mensch, Tier und
Natur. Durch die Pflege unserer Waldbesitzer und
Förster genießt unser Wald weltweite Vorbildfunktion.
Ich bin sicher, Sie sind mit mir einer Meinung, dass
man nicht oft genug Danke sagen kann für die Arbeitsleistung unserer Waldbesitzer. Gerade dies möchte ich
an dieser Stelle natürlich nicht versäumen.
Welche Aufgaben ergeben sich daraus aber noch für
uns in der Politik? Wir müssen sinnvolle und notwendige Rahmenbedingungen setzen, um unsere Waldbesitzer bei ihrer vorbildlichen Arbeit zu unterstützen.
Keinesfalls dürfen wir ihnen unnötig Steine in den Weg
legen und bürokratische Hürden unverhältnismäßig
hoch bauen.
Mit der am 20. Oktober 2010 erlassenen EU-Holzhandelsverordnung geht die EU gegen den Handel mit
illegal geschlagenem Holz vor, um ihn auf Dauer zu
bekämpfen. In einem ersten Schritt war 2011 zunächst
nur der Handel von Holzprodukten aus Ländern betroffen, mit denen ein freiwilliges Partnerschaftsabkommen bestand. In einem zweiten Schritt wird nun die
EU-Holzhandelsverordnung in nationales Recht umgesetzt. Die Verordnung wird bei uns in Deutschland
durch Änderungen des Holzhandelssicherungsgesetz
umgesetzt.
Ab diesem Zeitpunkt drohen bei Verstößen staatliche Sanktionen. Und dies ist auch richtig und sinnvoll;
denn der zentrale Punkt dieses Gesetzes ist die Verhinderung illegal eingeschlagenen Holzes!
Ich bin mir sicher, wir sind uns alle einig, dass es
von großer Bedeutung ist, das Inverkehrbringen und
den Handel mit illegalem Holz zu verhindern; denn illegal eingeschlagenes Holz bedeutet Profit Einzelner
zulasten der Gesellschaft. Bewährte Gefüge von Regularien und Markt werden zerstört. Damit geht auch
eine Beeinträchtigung der heimischen Marktstrukturen
einher. Ebenso nicht zu vergessen sind die Schädigungen an Klima und Umwelt. Das illegale Schlagen von
Holz und dessen Inverkehrbringen und Handel bedeuten eine erhöhte und vor allem unkontrollierte Freisetzung von CO2.
In diesem klimapolitischen Zusammenhang ist es an
dieser Stelle auch wichtig, über den für unser Klima so
wichtigen Urwald zu sprechen, der gleichzeitig Lebensraum für viele Menschen, Tiere und Pflanzen ist.
Sie wissen: Jedes Jahr werden etwa 11 Millionen
Hektar Urwald zerstört, also etwa die Waldfläche
Deutschlands. 50 Prozent davon sind auf Dauer verloren, nur die Hälfte wird wieder aufgeforstet. Das Ziel
muss daher klar sein: Kein Holz und auch kein einziges Holzprodukt auf unserem deutschen Markt darf
aus illegalem Einschlag kommen.
Für den Schutz unserer Natur, den Schutz der Regenwälder und den Schutz unserer deutschen Waldbesitzer, die so vorbildliche Arbeit leisten, setzen wir nun
die EU-Holzhandelsverordnung eins zu eins in nationales Recht um.
Nach der EU-Holzhandelsverordnung ist das Inverkehrbringen von illegal eingeschlagenem Holz im EUBinnenmarkt verboten. Zudem sind alle Marktteilnehmer, die innerhalb der EU Holz oder Holzprodukte
erstmalig in Verkehr bringen, verpflichtet, bestimmte
Sorgfaltspflichten einzuhalten. Dazu gehören unter anderem Informationspflichten zur Art und Herkunft des
Holzes sowie Verfahren zur Einschätzung und Reduzierung des Risikos, dass das Holz aus illegalem Einschlag stammt.
Das Erste Gesetz zur Änderung des Holzhandelssicherungsgesetzes dient der Durchführung der EUHolzhandelsverordnung. Die Kontrollmechanismen
sind so einfach wie eindeutig: Die zuständige Behörde
ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Die Länder sind zuständig für die Überwachung
der Einhaltung der forst- und naturschutzrechtlichen
Vorschriften. Zudem wird am Thünen-Institut ein Kompetenzzentrum Holzherkünfte eingerichtet, das die
BLE wissenschaftlich unterstützt. Aber auch Unternehmen, Verbänden und Verbrauchern wird das Kompetenzzentrum bei Fragen zur Verfügung stehen. Solche Fragen können insbesondere Artzugehörigkeit,
geografische Herkunft, Legalität, Nachhaltigkeit und
Handelswege von Holz und Holzprodukten umfassen.
Für uns als CDU war es wichtig, die Verordnung
der EU umzusetzen, um den illegalen Einschlag von
Holz zu verhindern. Zentral ist aber auch, die bürokratischen Hürden und organisatorischen Belastungen für
unsere heimischen Waldbesitzer, die eine hervorragende Arbeit leisten, nicht übermäßig groß werden zu
lassen. Dies ist uns in vorbildlicher Weise gelungen.
Einige zentrale Beispiele bezüglich dieser vorbildlichen Umsetzung möchte ich an dieser Stelle herausstellen:
Die EU-Verordnung verlangt, dass Unterlagen zum
Kauf und Handel von Holz aufbewahrt und den Behörden kostenlos zur Verfügung gestellt werden müssen.
Dies ist auch richtig und wichtig. Unser Gesetzentwurf
verlangt hier ein Mindesterfordernis, wie im Verwaltungsrecht üblich.
Die Behörde muss Originale zur Beweiserhebung
verlangen können, die der Betrieb postalisch übermitteln muss. Dies ist keine politische, sondern eine rechtliche Frage; denn wird in diesem Gesetz explizit forZu Protokoll gegebene Reden
muliert, dass die elektronische Übermittlung Vorrang
hat, dann schließt das diese Möglichkeit in allen anderen Gesetzen, in denen das nicht ausdrücklich formuliert ist, ausdrücklich aus.
Wir haben für unsere Waldbesitzer hierzu Folgendes erkämpft:
Die Änderung des Holzhandelssicherungsgesetzes
soll ausdrücklich formulieren, dass eine elektronische
Übermittlung der Unterlagen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich möglich ist. Auch hinsichtlich der Strafbarkeit und der Bußgelder konnte
viel erreicht werden:
Laut EU-Recht ist das Inverkehrbringen von illegal
eingeschlagenem Holz verboten und muss bestraft
werden. Die Art und die Höhe der Bestrafung sind hier
nicht geregelt.
Wir müssen uns im deutschen Recht nun also mit
Fragen der Sanktion und der behördlichen Durchführung beschäftigen. Das Problem hier liegt auf der
Hand: Unsere Waldbesitzer, deren hervorragende Arbeit wir nicht oft genug betonen können, verwalten und
bewirtschaften zum Teil sehr kleine Flächen. Damit
Holzeinschlag illegal wird, müssen nicht immer übermäßig große Teile des Waldes geschlagen werden. Oft
reicht es bereits aus, einen einzelnen Baum zu schlagen, in dem beispielsweise eine geschützte Vogelart
nistet - unbemerkbar von menschlichen Blicken.
Das heißt für uns: Wir machen die Motive, nicht die
handelnden Personen, zum zentralen Gegenstand. Nur
wer vorsätzlich und mit grobem Eigennutz handelt
oder seine Taten beharrlich wiederholt, begeht eine
Straftat. Kleinere Verstöße, die in der täglichen Waldarbeit auch fahrlässig passieren können, werden als
Ordnungswidrigkeiten geahndet.
Wichtig war uns bei der Umsetzung der EU-Verordnung auch, dass die wichtigen Kontrollen ohne unnötige bürokratische Hürden stattfinden können.
Das EU-Recht schreibt uns vor: Belege über Holzeinschlag und Holzhandel müssen aufbewahrt werden.
Hier besteht lediglich eine Dokumentationspflicht,
keine Genehmigungspflicht.
Laut EU-Verordnung 995/2010 müssen Behörden
regelmäßig Kontrollen in Wald und Betrieb durchführen. Hierzu gibt es einen Kontrollplan. Der Bund
erlässt hierzu - in Abstimmung mit den Ländern - allgemeine Verwaltungsvorschriften, wie die entsprechenden Artikel anzuwenden sind.
Deutschland wird durch die Kontrolle der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung dafür sorgen, dass kein Holz oder Holzprodukt aus illegalem
Einschlag auf unseren Markt kommt. Damit werden
keine Gelder aus Deutschland als Anreiz für weitere illegale Waldzerstörungen wirken können.
Der Gesetzentwurf ermöglicht eine effiziente Kontrolle und bürdet gleichzeitig der Wirtschaft und den
Waldbesitzern keine unnötigen bürokratischen Hürden
auf. Um den berechtigten Bedenken der Länder und
Waldbesitzer entgegenzukommen, sollen Verstöße nur
dann strafbar sein, wenn der Täter hierdurch Vermögensvorteile großen Ausmaßes erlangt oder eine solche Handlung beharrlich wiederholt.
Andere Verstöße werden aber weiterhin als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeldern sowie gegebenenfalls
mit Beschlagnahmung des Holzes geahndet. Damit ist
eine angemessene und abschreckende Sanktionierung
weiterhin gegeben.
Gerade im Jahr 2013, in dem wir das 300. Jubiläum
der forstlichen Nachhaltigkeit feiern, ist dieser Gesetzentwurf ein positiver Ausdruck der Wertschätzung für
die Arbeit unserer Waldbesitzer. Gleichzeitig schützen
wir unseren schönen Wald vor dem Zugriff Habgieriger, die es nicht gut mit dem Wald und den dort lebenden Menschen meinen.
Nirgends wird Nachhaltigkeit so gut begreifbar wie
in unserem Wald - durch die Leistung und das Engagement der Waldbauern und Forstleute. Vor dreihundert
Jahren waren sie es, die den Begriff der Nachhaltigkeit
zu einem entwickelten, der gerade heute wieder in aller Munde ist.
„Illegal geschlagenes Holz wird auf dem EU-Markt
verboten“: Mit diesen Worten verkündete das Europäische Parlament am 7. Juli 2010 die Einigung zur EUGesetzgebung, die den Verkauf von illegal gefälltem
Holz verbietet - mit 644 von 685 Stimmen. Das Echo
auf die europäische Entscheidung war gewaltig; gewaltig positiv. Das Gesetz sei ein Meilenstein und ein
internationaler Durchbruch bei der Bekämpfung von
illegaler Abholzung, hieß es unisono. Und in der Tat
bilden die strengen Vorschriften der Verordnung eine
wirksame Grundlage gegen das Inverkehrbringen von
illegal geschlagenem Holz oder Produkten aus Holz
auf den EU-Markt.
Nach zehn Jahren intensiver Debatte und zähem
Ringen standen die 27 Mitgliedstaaten hinter der Verordnung ({0}) Nr. 995/2010, die sich sowohl auf die
Wälder weltweit als auch auf den EU-Markt bezieht.
Angestoßen wurden die Debatte und das konkrete Handeln im Jahr 2003 mit dem EU-Aktionsplan „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor“, kurz FLEGT. Diese Gesetzgebung, für die sich
vor allem das Europäische Parlament verdient gemacht hat, galt als Signal an alle Händler, dass diese
zukünftig ihr illegales Holz nicht mehr auf dem europäischen Markt loswerden.
Noch immer stammen schätzungsweise 20 Prozent
des auf dem EU-Markt gehandelten Holzes von illegal
geschlagenen Bäumen. Die Einfuhr illegalen Holzes
nach Deutschland liegt schätzungsweise bei 3 bis
6 Prozent. Würden wir uns nur die Tropenholzimporte
anschauen, läge der Anteil wohl um einiges höher. Es
ist fast unmöglich, belastbare Zahlen über den Raubholzhandel zu bekommen. Der Anteil an illegalem oder
Zu Protokoll gegebene Reden
verdächtigem Holz wird bei Lieferungen aus Afrika
oder Südostasien von Experten auf fast 50 Prozent geschätzt.
Illegaler Holzeinschlag ist ein Problem, das in seinen Ausmaßen nicht verheerend genug beschrieben
werden kann: vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zu
den nachteiligen sozialen Folgen für die dortige Bevölkerung. Waldrodung ist zudem für rund 20 Prozent
der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Was nach
dem globalen Raub an der Natur zurückbleibt, ist ein
zerstörter Wald. Er ist kein Lebensraum mehr - weder
für Menschen noch für Tiere und Pflanzen.
Nach der Entscheidung im Juli 2010 war Deutschland gefordert, die Verordnung in nationales Recht
umzusetzen. In einem ersten Schritt wurde dann die
Holzeinfuhr aus Ländern geregelt, mit denen die EUMitgliedstaaten freiwillige Partnerschaftsabkommen
geschlossen haben. Sie bezwecken eine aktive Einbeziehung waldreicher Länder, in denen sich der illegale
Holzeinschlag jeden Tag vollzieht. Im Herkunftsland
selbst wird ein Rückverfolgungssystem für Holz eingerichtet; in Deutschland die Einfuhr mittels FLEGT-Genehmigungsschein kontrolliert. Bei der Debatte im
April 2011 zum Gesetz gegen den Handel mit illegal
eingeschlagenem Holz, HolzSiG, waren sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag einig, dass es in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten gelingen muss, die
illegale Abholzung als gängige Praxis in vielen waldreichen Ländern zu unterbinden.
Viele an der Debatte beteiligten Kolleginnen und
Kollegen machten deutlich, dass die Umsetzung der
EU-Holzhandelsverordnung in einem zweiten Schritt
das weitaus wichtigere Gesetzesinstrument sein wird,
um die Vermischung von illegal geschlagenem unter
das zugelassene Holz, sobald es auf dem EU-Markt zur
Verfügung steht, zu unterbinden.
Die Bundesregierung hat am 31. Oktober 2012 in
ihrer Kabinettssitzung den „Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Holzhandels-Sicherungs-Gesetzes“ verabschiedet und in den Bundestag mit der
Drucksachennummer 17/12033 eingebracht. Er war
alles in allem ein akzeptabler Entwurf. Zentraler Baustein: der neue Straftatbestand des § 7 Abs. 2, der für
einen vorsätzlichen Verstoß gegen die zentrale Vorschrift des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung ({1}) Nr. 995/
2010 gelten sollte. Die Verankerung des Straftatbestands im Gesetz sollte der wirksamen und abschreckenden Sanktionierung dienen, wie sie in Art. 19
Abs. 2 der Verordnung ({2}) Nr. 995/2010 vorgeschrieben ist. Die Bundesregierung hielt diese auch für verhältnismäßig, da sie nur für einen vorsätzlichen Verstoß gegen die zentrale Vorschrift des Art. 4 Abs. 1 der
Verordnung ({3}) Nr. 995/2010 gelten sollte.
Der Versuch der damaligen niedersächsischen Landesregierung aus CDU und FDP, über den Bundesrat
diesen Straftatbestand für die deutschen Waldbesitzer
abzuschaffen, wurde von der Bundesregierung abgelehnt.
„Der Straftatbestand ist aus Sicht der Bundesregierung erforderlich und wird auch in den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten mit einem hohen Anteil am
Holzhandel eingeführt ({4}). Es ist wichtig, dass die EU-Mitgliedstaaten die
Verordnung ({5}) Nr. 995/2010 in möglichst gleichwertiger Weise durchführen“, so die Bundesregierung
in ihrer Gegenäußerung auf der Bundestagsdrucksache 17/12033.
Und nun hat uns alle am 18. Februar 2013, zwei
Tage vor der abschließenden Lesung im Agrarausschuss dieses Hauses, ein Änderungsantrag von CDU/
CSU und FDP erreicht, der diesen zentralen Baustein
des Gesetzes in deutlicher Weise aufweicht. Ich frage
mich ernsthaft, wie viele Blüten die Lobbyhörigkeit
dieser Regierung eigentlich noch treiben wird!
Mit der Einführung zusätzlicher Tatbestandsmerkmale zur Erfüllung des Straftatbestandes wird die
Schwelle erhöht, was in Zukunft als Straftat gilt. Da es
sich bei den im neuen § 8 HolzSiG geschaffenen Tatbestandsmerkmalen um subjektive handelt, kann Strafbarkeit gegeben sein, muss aber nicht - „grober Eigennutz“, „Vermögensvorteile großen Ausmaßes“,
„beharrliche Wiederholung“. Im ursprünglichen Gesetzentwurf war der Straftatbestand bei vorsätzlichen
Verstößen gegen Art. 4 Abs. 1 der Verordnung ({6})
Nr. 995/2010 von Beginn an gegeben, das heißt, es hat
keiner weiteren Tatbestandsmerkmale - „direkter
Straftatbeststand“ - bedurft.
Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurde nun eine Änderung eingeführt, die Spielraum für Interpretationen bzw. Entscheidungen zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat zulässt. Die
Verankerung von subjektiven Straftatbeständen wird
einer wirksamen und abschreckenden Sanktionierung,
wie sie in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung ({7}) Nr. 995/
2010 vorgeschrieben ist, nicht gerecht.
Schon im ursprünglichen Entwurf hat kein Automatismus bestanden, wonach deutsche Waldbesitzer wegen geringfügigen Verstößen mit strafrechtlichen Verfahren zu rechnen hatten. Die Behörden waren mit
genügend Spielraum ausgestattet. Die Bundesregierung nimmt es nun aber in Kauf, das weiter ineffektiv
mit Geldbußen im Rahmen von Ordnungswidrigkeitstatbeständen gegen die Einfuhr illegal geschlagenen
Holzes vorgegangen wird. Die Händler von illegalem
Holz und die internationalen Banden wird es freuen.
Wer wie die Koalitionsfraktionen das vorsätzliche
Inverkehrbringen illegal eingeschlagenen Holzes erst
dann strafbar machen will, wenn die in § 8 Abs. 1 vorgesehenen Qualifizierungen hinzutreten, erhöht die
Schwelle für strafbare Handlungen und nimmt in Kauf,
dass sich Einschlag und Handel von illegalem Holz
auch weiterhin lohnen werden. Diese deutsche Regelung öffnet auf europäischer Ebene ein Einfallstor für
weitere schwache und schwächere Umsetzungen der
Verordnung in anderen EU-Ländern. Das UmschwenZu Protokoll gegebene Reden
ken der Bundesregierung in letzter Minute ist ein unanständiges Vorgehen.
Im Lichte dieser Regelung erscheinen der SPDBundestagsfraktion auch die Regelungen zum Rücktransport der Waren an den Ursprungsort oder die
Höhe der Geldbußen in einem fahleren Licht.
Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs ist
für den Schutz unserer Wälder auf der ganzen Welt entgegen der Verordnung und den Ankündigungen wenig
erreicht. Ich bin bekümmert, dass eine erste, alles in
allem passable Fassung des neuen HolzSiG auf Betreiben der Lobby verändert wurde. Ich bin auch überzeugt, dass dies nicht allen im BMELV gefallen wird,
stecken doch in einem zehn Jahre währenden FLEGTProzess viel persönliches Engagement, Arbeit und
auch Geld.
Die Fraktion der SPD unterstützt den FLEGT-Prozess auf europäischer Ebene. Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung hätte ihre Zustimmung erhalten, welche die Fraktion der SPD durch die
Änderungen nun bedauerlicherweise verweigern muss.
Die Änderung ist aber zu gravierend und berührt den
Kern der europäischen Verordnung. Deutschland riskiert ohne Not seinen Ruf als Vorreiter bei der effektiven Bekämpfung von illegalem Holzeinschlag und
Handel, was mehr als schade ist.
Wir wollen die intakten Primärwälder erhalten und
schützen. Sie sind die bedeutendsten Schatzkammern
der Artenvielfalt der Erde. Für die Menschen vor Ort
stellen intakte Urwälder die Lebensgrundlage dar, liefern Nahrung und wertvolle nachwachsende Rohstoffe.
Raubbau am Wald ist Frevel an der Natur.
Wir feiern in diesem Jahr 300 Jahre Nachhaltigkeit.
Der sächsische Forstmann Hans von Carlowitz hat vor
1713 in seinem Werk über die Forstwirtschaft den Begriff der Nachhaltigkeit geprägt. Mit dem Holzhandelssicherungsgesetz wollen wir einen Beitrag für die
Umsetzung der Prinzipien der Nachhaltigkeit in den
Wäldern anderer Länder leisten.
Trotz aller Schutzanstrengungen sind viele Wälder
immer noch akut von illegalem Holzeinschlag bedroht.
So gingen laut Angaben der FAO in den letzten zehn
Jahren jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wälder verloren. Das ist mehr als die gesamte Waldfläche
Deutschlands. An diesen Verlusten hat der illegale
Holzeinschlag einen erheblichen Anteil. So machen
weitere Zahlen der FAO deutlich, dass außerhalb Europas nur ein Bruchteil der Wälder nach den Kriterien
der Nachhaltigkeit bewirtschaftet wird. Die Bekämpfung des illegalen Holzeinschlages ist eine schwierige
Aufgabe, weil in vielen betroffenen Staaten die staatlichen Kontrollstrukturen wenig effektiv und die Regierungsführungen mangelhaft sind.
Die EU ebenso wie China, die USA und Japan sind
die größten Importeure von Holz und Holzprodukten.
Wir haben daher eine besondere Verantwortung, dass
in der EU genutztes Holz nur aus legal und nachhaltig
bewirtschafteten Wäldern stammt. Die EU hat zum
Erreichen dieses Ziels die FLEGT-Verordnung ({0})
Nr. 2173/2005 - Forest Law Enforcement, Government and Trade - eingeführt. Ziel dieses Regelungswerkes ist es, mithilfe freiwilliger Partnerschaftsabkommen, Voluntary Partnership Agreements - VPA,
die wichtigen Herkunftsländer von Tropenholz zu einer
besseren Überwachung und nachhaltigen Waldwirtschaft zu führen.
Darauf aufbauend hat die EU mit der Holzhandelsverordnung ({1}) Nr. 995/2010 diejenigen europäischen Marktteilnehmer verpflichtet, die innerhalb der
EU Holz oder Holzprodukte erstmalig in Verkehr bringen, bestimmte Sorgfaltspflichten einzuhalten. Diese
Vorschrift gilt für Holz und Holzprodukte im Sinne ihres Anhangs unabhängig von ihrer Herkunft und verbietet die Vermarktung von illegal eingeschlagenem
Holz. Dazu gehören unter anderem Informationspflichten zur Art und Herkunft des Holzes sowie Verfahren zur Einschätzung und Reduzierung des Risikos,
dass das Holz aus illegalem Einschlag stammen
könnte.
Deshalb begrüßen wir den Aufbau des Kompetenzzentrums Holzherkünfte am Thünen-Institut für Holzforschung, das bessere Methoden zur Holzartenbestimmung und Identifikation von Holzherkünften
entwickelt. Mit solch modernen und flexiblen Methoden können Falschdeklarationen im Holzhandel
schneller aufgedeckt und geahndet werden als bisher.
Die Umsetzung der europäischen Vorgaben erfolgt
in Deutschland über das Holzhandelssicherungsgesetz. Die jetzt in Kraft tretenden Durchführungsbestimmungen machen eine Ergänzung des Gesetzes notwendig. Dabei müssen insbesondere die Aufgaben und
Eingriffsbefugnisse der zuständigen Behörden wie
Kontrollmaßnahmen und die Beschlagnahmung von
Holz, bei dem der begründete Verdacht auf einen Verstoß gegen geltendes EU-Recht besteht, geregelt werden.
Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, BLE, soll für die nationale Durchführung der
Maßnahmen zuständig sein, soweit der Import von
Holz oder Holzprodukten aus einem Drittstaat, das
erstmalige Inverkehrbringen im EU-Binnenmarkt sowie die Einfuhr aus einem anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union betroffen sind. Für die Kontrolle
der inländischen Waldbesitzer nach Art. 10 der Verordnung sind die jeweiligen nach Landesrecht zuständigen Behörden verantwortlich.
Die FDP hat sich bei den parlamentarischen Beratungen vor allem dafür eingesetzt, die notwendige Bürokratie, die zwangsläufig entstehen wird, auf das absolut notwendige Maß zu beschränken. Es war uns
ebenso wie unserem Koalitionspartner besonders
wichtig, die Leistungen der nachhaltig wirtschaftenden deutschen Waldbesitzer anzuerkennen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass die heimische Waldwirtschaft fast vollständig
mit den Nachhaltigkeitssiegeln PEFC oder FSC zertifiziert und teilweise sogar mit beiden Siegeln ausgezeichnet ist, macht dies deutlich. Darüber hinaus unterliegen unsere Waldbesitzer dem Bundeswaldgesetz
und den Landeswaldgesetzen sowie den Naturschutzbestimmungen. Ein illegaler Holzeinschlag kommt damit in Deutschland praktisch nicht vor. Dennoch lässt
das unmittelbar geltende EU-Recht keine pauschale
Befreiung der Waldbesitzer zu, auch wenn die Länder
dies gefordert hatten.
Wir haben daher die Grenzen der Strafwürdigkeit
im Gesetz so angepasst, dass nur Fälle von besonderer
Schwere darunterfallen. Dies dient dem Schutz unserer
Waldbesitzer ebenso wie der Vermeidung von unnötigen Strafverfahren und der Entlastung von Justiz und
Kontrollbehörden.
Dem Zweck der Bürokratievermeidung dienen auch
die beiden Forderungen aus unserem Entschließungsantrag. Erstens wollen wir klarstellen, dass die für die
Kontrolle wichtigen Nachweisdokumente auch in elektronischer Form vorgehalten und an die Behörde übersendet werden können. Zum Zweiten stellt die EU-Verordnung neue und weitergehende Ansprüche an die
Kontrollbehörden der Länder hinsichtlich der heimischen Waldbesitzer. Um einerseits die Anforderungen
der EU zu erfüllen und andererseits den Umfang von
Kontrollen dem Risiko anzupassen sowie bundesweit
einheitliche Kontrollen sicherzustellen, haben wir die
Bundesregierung aufgefordert, zusammen mit den
Ländern schnellstmöglich eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift hierfür zu erarbeiten.
Der Handel mit Holz und Holzprodukten ist ein internationaler Markt. Leider tummeln sich auf ihm viel
zu viele schwarze Schafe. Sie lassen Holz in Schutzgebieten einschlagen und bringen dieses illegale Holz
gewinnbringend an die Kundschaft, zum Beispiel in
der EU. Illegaler Holzeinschlag ist ein weltweit verbreitetes Problem von großer Bedeutung. Um den illegalen Holzeinschlag aktiv zu bekämpfen, beschloss die
EU im Jahr 2003 den FLEGT-Aktionsplan. FLEGT
steht für: Forest Law Enforcement, Governance and
Trade. Diesem unterstützenswerten Vorhaben der EU
folgten zwei Verordnungen, die jeweils in nationales
Recht umzusetzen sind. Der aktuell vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist die zweite Umsetzung in deutsches Recht und wird ab März 2013 gelten.
Wer dann Holz oder Holzprodukte auf den EU-Markt
bringt, muss deren legale Quelle nachweisen.
Die Linke tritt für eine nachhaltige, also soziale,
ökologische und wirtschaftliche Forstwirtschaft ein.
Dazu gehört, dass sie selbstverständlich nur in Gebieten erfolgen darf, die für Holznutzung ausgewiesen
sind. Nationalparke und andere Juwelen der Artenvielfalt müssen tabu sein. Wir haben uns damals vehement
für die FLEGT-Verordnung eingesetzt. Die teilweise
von der Forstwirtschaft vorgebrachte Kritik an der
Verordnung konnten wir nicht nachvollziehen. Schließlich muss es im Interesse der Forstleute sein, Holz aus
illegalen - nicht zu verwechseln mit „nicht nachhaltigen“ - Quellen vom Markt zu verbannen. Wichtig ist
nun, dass alle EU-Mitgliedstaaten die Verordnung
konsequent umsetzen.
Bis Dienstagnachmittag dieser Woche hätte frau
meinen können, dass dieses Gesetzesvorhaben zwischen allen Beteiligten völlig unstrittig ist. Doch leider
zerstörte ein Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen diesen Kompromiss. Union und FDP verwässern
damit erneut einen vernünftigen Gesetzentwurf aus
dem Hause Aigner. Die Bundesregierung betonte in ihrer Reaktion auf Forderungen des Bundesrates die
hohe Bedeutung der Straftatbestände, welche im ursprünglichen Gesetzentwurf aufgeführt waren. Diese
seien erforderlich und würden auch von den meisten
anderen Mitgliedstaaten mit einem hohen Waldanteil
eingeführt. Durch den Änderungsantrag der Koalition
sollen nun viel weniger Tatbestände strafbar sein und
viel mehr Vergehen nur als Ordnungswidrigkeit bewertet werden. Das widerspricht dem Geist der FLEGTVerordnung. Anstatt dass die Bundesrepublik Deutschland nun mit gutem Beispiel vorangeht, bleibt eine verwässerte nationale Umsetzung übrig. Das ist nicht zufriedenstellend. Ordnungswidrigkeiten sind nicht
wirklich abschreckend, finde ich. Die Wirksamkeit des
Gesetzes sollte möglichst schnell überprüft und dann
gegebenenfalls nachgebessert werden.
Was mich sehr verwundert, ist der Umstand, dass
die grüne Fraktion dem Gesetzentwurf trotz dieser
Verwässerung ihre Zustimmung gibt. Obwohl sie - wie
auch die SPD und die Linke - den Änderungsantrag
abgelehnt hat, der aber mit Koalitionsmehrheit angenommen wurde. Will man sich „Jamaika-KoalitionsGedankenspiele“ mit einer Allianz aus CDU/CSUFDP-Grüne offenhalten und nimmt es dafür mit dem
Waldschutz dann doch nicht ganz so genau?
Das novellierte Holzhandelssicherungsgesetz wird
insbesondere die Aufgaben und Eingriffsbefugnisse
der zuständigen Behörden regeln, beispielsweise über
Kontrollmaßnahmen und Beschlagnahmung von Holz,
bei dem der begründete Verdacht auf einen Verstoß
gegen geltendes EU-Recht besteht. Darüber hinaus
werden der Datenaustausch der beteiligten Behörden
sowie Straf- und Bußgeldvorschriften geregelt, Letztere eben nun leider in einer „Light-Version“, obwohl
die Bundesregierung betont hat, dass der Straftatbestand erforderlich ist und nicht durch zu viele Ordnungswidrigkeitsbestände aufgeweicht werden sollte.
Die Linksfraktion hat den Änderungsantrag abgelehnt
und wird sich beim nun aufgeweichten Gesetzentwurf
enthalten.
Spannend wird sein, ob die einkalkulierten 50 000
Euro für verdachtsunabhängige Untersuchungen ausreichen werden. Da der Gesetzentwurf im Ausschuss
nicht debattiert wurde, konnten wir uns nicht dazu austauschen, ob dieses Budget ausreicht und wie viele
Kontrollen damit finanziert werden können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bündnis 90/Die Grünen begrüßen, dass die Bundes-
regierung diesen Gesetzentwurf pflichtgemäß vorge-
legt hat. Denn er setzt die Holzhandelsverordnung der
EU um, die endlich das EU-Verbot für den Import von
und den Handel mit illegal geschlagenem Holz bringt.
Ein großer Erfolg für unseren beharrlichen grünen
Einsatz für dieses Verbot! Denn sowohl die schwarz-
rote als auch die schwarz-gelbe Bundesregierung ha-
ben sich bei diesem Thema in keiner Weise mit Ruhm
bekleckert. Schwarz-Rot und Umweltminister Gabriel
mussten zum Jagen getragen werden - Schwarz-Gelb
und Agrarministerin Aigner wollten das Importverbot
gemeinsam mit dem Agrarministerrat eigentlich gar
nicht haben. Aber da das EU-Parlament mitentschei-
den durfte, konnte das Importverbot für illegales Holz
endlich durchgesetzt werden. Wie gesagt, ein Riesener-
folg für grüne Politik.
Kritisch ist, dass die Koalition per Änderungsan-
trag die Strafbarkeit auf Fälle eingeschränkt hat, in
denen große Vermögensvorteile erzielt wurden oder
beharrliche Wiederholungen erfolgten. Das finden wir
falsch; denn wenn Vorsatz vorliegt, dann sollte der Im-
port von illegalem Holz auch dann strafbewehrt sein,
wenn damit nur geringe Gewinne erzielt wurden oder
es sich nicht um beharrliche Wiederholungstäter han-
delt. Die Befürchtung, kleine Fische müssten dann
gleich ins Gefängnis, ist unbegründet. Es ist abwegig,
anzunehmen, Gerichte würden in minderschweren
Fällen gleich zur Höchststrafe von einem Jahr greifen.
In diesen Fällen werden sie die ebenfalls vorgesehenen
Geldstrafen verhängen.
Wir haben uns aber entschlossen, dem Gesetz trotz
dieser Abschwächung zuzustimmen, denn die Umset-
zung der EU-Holzhandelsverordnung bleibt trotzdem
richtig und notwendig und ein Fortschritt für den in-
ternationalen Waldschutz.
Bei diesem Erfolg wollen wir Grüne aber keines-
wegs stehen bleiben, denn das war erst ein Etappen-
sieg für den internationalen Waldschutz. Wir setzen
uns vielmehr dafür ein, die EU-Holzhandelsverord-
nung dahin gehend zu erweitern, dass nur Holz und
Holzerzeugnisse, die aus nachhaltig bewirtschafteten
Wäldern stammen, in der EU in Verkehr gebracht wer-
den dürfen. Dazu muss die EU-Kommission einen ent-
sprechenden Vorschlag zur Ergänzung der EU-Holz-
handelsverordnung vorlegen. Damit schließen wir uns
übrigens einer Forderung des Europäischen Parla-
ments an, das diese Forderung am 11. Mai 2011 in sei-
ner Entschließung zum Grünbuch der Kommission
über Waldschutz und Waldinformation erhoben hat.
Auch offiziell legales Holz kann aus Raubbau stam-
men. So vergeben einzelne Urwaldländer entspre-
chend ihren nationalen Forstgesetzen Lizenzen zur
Rodung großer Urwaldflächen, ohne die geringsten
Sozial- und Umweltstandards anzulegen. Hierdurch
werden nicht nur Ökosysteme, sondern auch Lebens-
räume von Menschen zerstört. Es kann mit Fug und
Recht von Raubbau gesprochen werden. Um das zu
verhindern, müssten importierte Hölzer und Holzpro-
dukte zukünftig nur noch aus nachweislich nachhaltig
bewirtschafteten Wäldern stammen. Die Nachhaltig-
keit muss kontrolliert und glaubwürdig zertifiziert wer-
den. Das Holz aus den fragwürdigen „legalen“ Kahl-
schlägen dürfte dann nicht mehr importiert werden.
Das wäre ein wichtiger zusätzlicher Beitrag, um den
nach wie vor erschreckend großen Waldverlust von
jährlich 13 Millionen Hektar eindämmen zu können.
Keines der heutigen Zertifizierungssysteme ist per-
fekt. Einige sind besser, andere schlechter. Darüber, ob
die Zertifizierungsstandards hinreichend streng sind
oder eventuell gar zu anspruchsvoll, lässt sich immer
streiten und diskutieren. Naturgemäß entwickeln sich
im Wettbewerb stehende Systeme immer weiter. So
werden auch diese Standards regelmäßig fortentwi-
ckelt. Wichtig ist, dass seitens der Politik die richtigen
Ziele formuliert und zielgerichtete Maßnahmen ergrif-
fen werden.
Den Zertifizierungsansatz insgesamt aufgrund von
Missbrauchsfällen infrage zu stellen, hilft nicht weiter.
Denn Standards müssen kontrolliert und glaubwürdig
bescheinigt werden. Das bietet die Zertifizierung. Wer
keinerlei Anforderungen an die Art und Weise der
Holzproduktion über die Legalität hinaus stellt, wird
weiterhin Holz aus Raubbau erwerben. Das wäre dann
die völlig kontraproduktive Folge der scheinbar radi-
kalökologischen Haltung, die Zertifizierungssysteme
ablehnt und grundsätzlich infrage stellt.
Wir kommen damit zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12400, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/12033 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Grünen gegen die Stimmen
der SPD bei Enthaltung der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12400 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der Grünen
angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkte 28 a und b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen
- Drucksache 17/12296 Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss ({0}) -
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Finanzausschuss-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Sabine Leidig, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Eine ausreichende Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs gewährleisten
- Drucksache 17/12376 Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) -
Innenausschuss-
Finanzausschuss-
Federführung strittig
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Punkt zu Protokoll zu geben.1) - Sie sind damit
einverstanden.
Tagesordnungspunkt 28 a: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12296 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28 b: Die Vorlage auf Drucksache 17/12376 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Jedoch ist
wieder einmal die Federführung strittig. Die Fraktionen
von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Haushaltsausschuss, die Linke wünscht Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst über den Vorschlag der Linken abstimmen, also Federführung beim Verkehrsausschuss.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Regierungskoalition
und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für
diesen Vorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 29:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuorganisation der bundesunmittelbaren
Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze
({3})
- Drucksache 17/12297 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) RechtsausschussAusschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir diskutieren heute über ein Gesetzespaket aus
dem Bereich des Sozialgesetzbuchs mit ganz unter-
schiedlichen Zielsetzungen. Der erste Teil behandelt
Umstrukturierungen auf dem Gebiet der Unfallversi-
cherungsträger. Im zweiten Teil sollen Änderungen im
Sozialgerichtsgesetz erfolgen, die der Entlastung der
Sozialgerichtsbarkeit dienen. Und schließlich als
dritte Komponente enthält das Gesetz Änderungen für
das Dritte und Vierte Sozialgesetzbuch zur bedarfsge-
rechten Ausstellung von Arbeitsbescheinigungen.
Ich möchte zunächst auf die Regelungen hinsicht-
lich der Unfallversicherungsträger zu sprechen kom-
men. Dazu müssen wir den Blick noch einmal auf ein
bereits verabschiedetes Gesetz werfen, das als Vorgän-
gerregelung wichtige Elemente für das aktuelle Ge-
setzgebungsvorhaben enthält.
Im Oktober 2008 haben wir das Unfallversiche-
rungsmodernisierungsgesetz verabschiedet, dessen
Ziel es war, die Anzahl der Träger bei den Berufsge-
nossenschaften und bei den Unfallkassen zu reduzie-
ren. Im Zuge dessen verblieben von den ursprünglich
23 Trägern bei den Berufsgenossenschaften noch
neun. Erreicht wurde dieses Ziel bereits zum 1. Januar
2011 durch entsprechende Beschlussfassungen der
Selbstverwaltung. Der Organisationsumbau ist damit
also im gewerblichem Bereich abgeschlossen.
Zugleich enthielt das Unfallversicherungsmoderni-
sierungsgesetz die Vorgabe, auch die Zahl der bun-
desunmittelbaren Unfallversicherungsträger von ur-
sprünglich drei auf einen Träger zu verringern. Die
Selbstverwaltungen der Unfallkassen sollten hierzu ein
Konzept zur Neuorganisation erarbeiten. Diesen Auf-
trag nahmen die Selbstverwaltungen selbstverständ-
lich gewissenhaft wahr und legten einen soliden und
durchdachten Vorschlag hierfür vor. Danach fusioniert
die Unfallkasse des Bundes mit der Eisenbahn-Unfall-
kasse. Der dritte bundesunmittelbare Träger, die Un-
fallkasse Post und Telekom, fusioniert mit der Berufs-
genossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft. 1) Anlage 11
Diese Neuorganisation soll nun in dem Gesetz zur
Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur
Änderung anderer Gesetze - dem sogenannten BUKNeuorganisationsgesetz oder kurz BUK-NOG - geregelt werden. Die bereits durch das Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz begonnene Straffung und
Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung
soll mit dem BUK-NOG nun weitergeführt und abgeschlossen werden. Eine gesetzliche Grundlage ist hierbei erforderlich - im Gegensatz zu den gewerblichen
Berufsgenossenschaften -, da die Unfallkassen per
Gesetz errichtet wurden. Änderungen sind somit ebenfalls nur auf gesetzlicher Grundlage möglich.
Der künftige neue und einzige bundesunmittelbare
Unfallversicherungsträger, die Unfallversicherung
Bund und Bahn, soll zum 1. Januar 2015 errichtet werden. Die Eisenbahn-Unfallkasse und die Unfallkasse
des Bundes gehen vollständig in dem neuen Träger
auf.
Die neue Berufsgenossenschaft für Transportwirtschaft, Post-Logistik und Telekommunikation geht aus
einem gewerblichen Träger - der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft - und einem öffentlichen Träger - der Unfallkasse Post und
Telekom - hervor. Der neue gewerbliche Träger soll
seine Tätigkeit offiziell zum 1. Januar 2016 aufnehmen. Aufgrund der besonderen Situation der unterschiedlichen Vorgänger-Trägerformen wird die neue
Berufsgenossenschaft stufenweise am Lastenausgleich
der gewerblichen Berufsgenossenschaften teilnehmen
und nicht gleich zu Beginn zu 100 Prozent. Ebenfalls
dieser besonderen Konstellation geschuldet sind einige Sonderregelungen, da der neue Träger übertragene staatliche Aufgaben der Unfallkasse Post und Telekom wahrnehmen wird.
Um nun zum zweiten Abschnitt des Gesetzespakets
zu kommen, möchte ich die geplanten Änderungen im
Dritten und Vierten Buch Sozialgesetzbuch kurz erläutern.
Zum einen geht es darum, die gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Ausstellung einer Arbeitsbescheinigung zu beschränken. Bisher muss ein
Arbeitgeber stets bei Beendigung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses dem
scheidenden Arbeitnehmer eine solche Arbeitsbescheinigung ausstellen. Dies ist jedoch in solchen Fällen
nicht von Bedeutung, in denen der Arbeitnehmer unmittelbar im Anschluss an das alte Beschäftigungsverhältnis ein neues beginnt. Es ist auch dann entbehrlich, wenn der Arbeitnehmer, aus welchen Gründen
auch immer, kein Arbeitslosengeld beantragt. In der
Tat belegen Zahlen, dass im Jahr 2011 circa 7,8 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse beendet wurden, aber lediglich 2,5 Millionen Anträge auf Arbeitslosengeld gestellt wurden. Das
heißt also, dass inzwischen nur ein Drittel der Personen nach Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen müssen beziehungsweise wollen.
Es wäre folglich eine enorme bürokratische und finanzielle Entlastung für Arbeitgeber, die Pflicht zur
Ausstellung der Arbeitsbescheinigungen auf solche
Fälle zu begrenzen, in denen dies von den Arbeitnehmern oder von der Bundesagentur für Arbeit gefordert
wird.
Im gleichen Schritt soll auch eine elektronische
Übermittlung der Arbeitsbescheinigung sowie der Nebeneinkommensbescheinigung mit ins Gesetz aufgenommen werden. Die Arbeitgeber sollen darüber hinaus ermächtigt werden, die Bescheinigungen direkt
an die Bundesagentur für Arbeit zu übermitteln. Ein
explizit hierfür ausgestaltetes Widerspruchsrecht zugunsten der Arbeitnehmer schützt deren datenschutzrechtliche Interessen.
Eine weitere Erwähnung verdient die geplante
Regelung im Vierten Buch Sozialgesetzbuch, wonach
künftig klargestellt werden soll, dass die Rentenversicherungsträger die Meldepflichten der Arbeitgeber
nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz im VierJahres-Rhythmus zu überprüfen haben. Damit soll einerseits eine größere Abgabeehrlichkeit und -gerechtigkeit unter den Arbeitgebern bewirkt werden. Andererseits soll auf diese Weise verhindert werden, dass
die Einnahmen der Künstlersozialversicherung weiter
rückläufig sind und der Abgabesatz dadurch steigt.
Wir wollen vielmehr einen Beitrag zur Stabilisierung
der Künstlersozialversicherung leisten.
Schließlich sollen die neuen Regelungen im Sozialgerichtsgesetz nicht unerwähnt bleiben. Auf Vorschlag
der Justizministerkonferenz ({0}) wurden
folgende Punkte aufgegriffen: So sollen die Listen der
ehrenamtlichen Richter harmonisiert werden, und die
Statthaftigkeit von Beschwerden soll übersichtlicher
und klarer geregelt werden. Darüber hinaus soll künftig eine Beschwerde gegen Beschlüsse des Sozialgerichts über die Ablehnung von Sachverständigen ausgeschlossen werden. Und zu guter Letzt ist geplant,
den Personenkreis für das Amt der ehrenamtlichen
Richter um den Bereich der privaten Wirtschaft zu erweitern.
Insgesamt halte ich diesen Gesetzentwurf, der heute
in erster Lesung in den Bundestag eingebracht wird,
für ausgewogen und auf eine moderne, effiziente und
entbürokratisierte Verwaltung ausgerichtet.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Organisationsstruktur der gesetzlichen Unfallversicherung
weiter gestrafft und modernisiert. Die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften wurde bereits
durch das Gesetz zur Modernisierung der Unfallversicherung aus dem Jahr 2008 von 23 Trägern auf 9 reduziert. Nunmehr werden die Unfallkasse des Bundes
und die Eisenbahn-Unfallkasse zum 1. Januar 2015 in
die neu errichtete, bundesunmittelbare Unfallkasse
Zu Protokoll gegebene Reden
Unfallversicherung Bund und Bahn eingegliedert. Außerdem wird die Unfallkasse Post und Telekom zum
1. Januar 2016 mit der Berufsgenossenschaft für
Transport und Verkehrswirtschaft zusammengeschlossen. Durch diese Fusion entsteht die gewerbliche Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik
Telekommunikation. Als bundesunmittelbarer Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand verbleibt also
nur die Unfallversicherung Bund und Bahn.
Wie bei vorherigen Organisationsreformen wurde
den Selbstverwaltungsorganen der beteiligten Unfallversicherungsträger Gelegenheit gegeben, Vorschläge
zu den für die Organisationsreform notwendigen gesetzlichen Regelungen zu machen. Im Gesetzentwurf
sind die Vorschläge der Selbstverwaltungen weitgehend berücksichtigt worden.
Es besteht die berechtigte Erwartungshaltung, den
Prozess der Straffung und Modernisierung, der bei den
gewerblichen Berufsgenossenschaften erfolgreich umgesetzt wurde, jetzt auch zügig im Bereich der bundesunmittelbaren Unfallkassen nachzuvollziehen. Das
Organisationsgesetz soll deshalb noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Mit der heutigen
Einbringung schaffen wir die Voraussetzungen für eine
zügige parlamentarische Verabschiedung des Gesetzentwurfs.
Daneben enthält der Entwurf weitere Änderungen:
So werden zur Entlastung und zur Effizienzsteigerung
in der Sozialgerichtsbarkeit Vorschläge zum Sozialprozessrecht aus dem im Juni 2012 beschlossenen Bericht der 83. Konferenz der Justizministerinnen und
Justizminister und aus der Praxis, die zu höherer
Rechtssicherheit und zur Verfahrensvereinfachung beitragen, aufgegriffen.
Durch Änderungen im Arbeitsschutzgesetz wird
klargestellt, dass sich die Gefährdungsbeurteilung
auch auf psychische Belastungen bei der Arbeit bezieht und der Gesundheitsbegriff neben der physischen
auch die psychische Gesundheit der Beschäftigten umfasst. Damit soll das Bewusstsein der Arbeitgeber für
psychische Belastungen bei der Arbeit geschärft werden.
Zur Entbürokratisierung und zur Verwaltungsvereinfachung enthält der Gesetzentwurf zudem Änderungen im SGB III und SGB IV. So wird die Arbeitsbescheinigung bei Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses künftig nur noch dann ausgestellt werden,
wenn der betroffene Arbeitnehmer oder die Bundesagentur für Arbeit es verlangt. Darüber hinaus soll Arbeitgebern die Möglichkeit eröffnet werden, die von
ihnen zu erstellenden Bescheinigungen auf elektronischem Wege an die Bundesagentur für Arbeit zu übermitteln.
Der Bundesrat hat am 1. Februar 2013 Stellung
zum Gesetzentwurf genommen. Der Kernbereich des
Entwurfs, die Neuorganisation der Unfallkassen, ist
hiervon nicht betroffen. Die Bundesregierung hat in
ihrer Gegenäußerung die Vorschläge der Länder überwiegend abgelehnt. Diese Fragen werden damit im
Zentrum der parlamentarischen Debatte stehen.
Ich möchte hier und heute eine Forderung der Länder herausgreifen, und zwar die Berücksichtigung der
demografischen Entwicklung bei der Festsetzung der
Aufwendungen für Rehabilitationsleistungen, die Anpassung des sogenannten Reha-Budgets. Ich habe
große Sympathie für diese Forderung, über die in der
Sache auch kein Dissens besteht. Allerdings ist dieser
Regelungsgegenstand Teil des Rentenpakets, über das
die Koalition derzeit intensiv berät. Der Koalitionsausschuss hat hierzu am 31. Januar 2013 eine Arbeitsgruppe auf der Ebene der Fraktionsspitzen eingesetzt.
Das zeigt: Die christlich-liberale Koalition strebt an,
noch in dieser Legislaturperiode ein großes Rentenpaket zu verabschieden. Vor diesem Hintergrund schließe
ich die Herauslösung einer Teilregelung aus heutiger
Sicht aus.
Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein zentrales
Instrument des Sozialstaates, um Unfälle und Krankheiten im betrieblichen Umfeld zu verhindern und zu
entschädigen. Damit ist sie Ausdruck des präventiven
und inklusiven Gedankens im sozialen Recht und als
Zweig der Sozialversicherung zentraler Pfeiler einer
solidarischen Gesellschaft.
Der vorliegende Gesetzentwurf will die Neuorganisation und Vereinheitlichung der bundesunmittelbaren
Kassen erreichen, kommt dabei aber bei zahlreichen
Einzelregelungen an die Grenzen des Sinnvollen.
Der Bundesrat hat der Bundesregierung hier ein
entsprechendes Zeugnis ausgestellt und Änderungsvorschläge zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung aufgeführt, die wir in vollem Umfang teilen. Es
wird vom Bundesrat unter anderem richtig festgestellt,
dass die beabsichtigte Regelung in § 28 p Abs. 1 SGB
IV zur Überprüfung der Arbeitgeber durch die Träger
der gesetzlichen Rentenversicherung im Hinblick auf
die Künstlersozialabgabe unverhältnismäßig sein
könnte.
Der Aufwand wird von der gesetzlichen Rentenversicherung gänzlich anders beurteilt als von der
Bundesregierung. Während die Experten der Rentenversicherung hier circa 50 Millionen Euro an zusätzlichem finanziellen Aufwand beziffern, geht die Bundesregierung von „nur“ 500 000 Euro Mehrkosten aus.
Dies ist schon verwunderlich, da nach allgemeiner
Auffassung die Einbeziehung der Bundesbehörden in
sie betreffende fachliche Fragen doch zu der gründlichen Vorbereitung eines Gesetzentwurfes gehört. Die
Bundesregierung sollte also dem Votum des Bundesrates folgen und nachträglich auf eine entsprechende
Änderung im parlamentarischen Verfahren hinwirken.
Auch hat der Bundesrat wichtige Hinweise und
konkrete Änderungsvorschläge im Bereich der Mitversicherung von Kindern in vorschulischen Sprachkursen, der Pflicht zur betrieblichen Dokumentation der
Zu Protokoll gegebene Reden
Silvia Schmidt ({0})
Gefährdungsbeurteilung oder zur Durchsetzung von
Anordnungen des Arbeitsschutzes gegenüber Bauherren unterbreitet.
Ich empfehle der Bundesregierung, diese Änderungen ernsthaft zu prüfen und gegebenenfalls Änderungen herbeizuführen.
Einen wichtigen Punkt des Bundesrates möchte ich
hier noch einmal aufgreifen. Es handelt sich um die
Forderung, zwei Regelungen aus dem Recht der
gesetzlichen Rentenversicherung in das Gesetz aufzunehmen, die sonst in dieser Legislaturperiode möglicherweise nicht mehr verabschiedet werden.
Zum einen geht es um die neutrale Beratung der
Rentenversicherungsträger über die Altersvorsorgemöglichkeiten der Versicherten. Wir sollten hier weg
von der Auseinandersetzung über Begrifflichkeiten hin
zu einer sachorientierten Lösung kommen.
Es nützt niemandem, wenn die Bundesregierung
einen Beschluss des Bundesrates zurückweist, weil
man mit dem Begriff der „Beratung“ Haftungsrisiken
verbindet, um danach postwendend durch das zuständige Bundesministerium eine Formulierung zu wählen,
deren Inhalt vergleichbar ist. Das lässt den Schluss zu,
dass es hier nicht um die Sache geht, sondern auf dem
Rücken der Versicherten taktische Spielchen getrieben
werden sollen.
Gleiches gilt für die demografiegerechte Regelung
des § 220 SGB VI, in dem die verfügbaren Mittel der
Rentenversicherung für die Teilhabe am Arbeitsleben
behinderter Menschen in den kommenden Jahren
festgeschrieben sind. Es liegen dazu bereits seit über
einem Jahr die Vorschläge auf dem Tisch, aber diese
Regierung schafft es nicht, in dieser für unsere Zukunft
so wichtigen Frage aktiv zu werden.
Ich meine, diese Regierung tut gut daran, dies zu
unterlassen und eine Rentenreform auf den Weg zu
bringen oder die hier vorgeschlagenen Regelungen
- wie vom Bundesrat richtigerweise dargestellt - in
den Gesetzentwurf zu übernehmen. Zeit wurde lang
genug vertan, die Legislaturperiode ist nahezu vorbei,
es muss jetzt endlich gehandelt werden.
Die gesetzliche Neuordnung der bundesunmittelbaren Unfallkassen erfolgt in Umsetzung des Unfallversicherungsmodernisierungsgesetzes, UVMG, aus dem
Jahr 2008. Das UVMG gibt vor, die Anzahl der bundesunmittelbaren Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand auf eine Unfallkasse zu reduzieren.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der eingeleitete Prozess der Straffung und Modernisierung der
gesetzlichen Unfallversicherung fortgesetzt.
Ein wesentlicher Baustein der Neuorganisation ist
die Reduzierung der Trägerzahl. Die Zielvorgabe des
UVMG, die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften durch Fusionen von 23 Trägern auf 9 zu reduzieren, wurde zum 1. Januar 2011 umgesetzt.
Im Bereich der bundesunmittelbaren Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand - Unfallkasse
des Bundes, Eisenbahn-Unfallkasse, Unfallkasse Post
und Telekom - setzt das UVMG die Zielvorgabe, die
Trägerzahl von drei auf eine Unfallkasse zu reduzieren. Dies geschieht nun durch das vorliegende Gesetz:
Mit der Errichtung der Unfallversicherung Bund und
Bahn durch eine Fusion der Unfallkasse des Bundes
mit der Eisenbahn-Unfallkasse zum 1. Januar 2015 besteht nun künftig nur noch eine bundesunmittelbare
Unfallkasse der öffentlichen Hand.
Darüber hinaus hat sich die FDP immer für eine
saubere Zuordnung der Unternehmen zu den jeweiligen Trägern ausgesprochen. Die FDP hat die Intention des vorliegenden Gesetzes seit jeher unterstützt
und bereits 2007 gefordert. Im FDP-Antrag auf Bundestagsdrucksache 16/6645 - „Mehr Wettbewerb und
Kapitaldeckung in der Unfallversicherung“ - vom
10. Oktober 2007 heißt es: „Unternehmen mit Beteiligung der öffentlichen Hand, die im Wettbewerb mit
privaten Unternehmen stehen, wie beispielsweise die
Post oder Telekom, sollen nicht weiter bei den öffentlichen Unfallkassen versichert sein und dadurch gegenüber privaten Konkurrenten wirtschaftliche Vorteile
erhalten. Sie sind daher künftig bei den Berufsgenossenschaften für Berufskrankheiten und privaten Anbietern für Arbeitsunfälle zu versichern.“
Die FDP-Fraktion begrüßt deshalb auch die jetzt
erreichte Lösung bei den gewerblichen Trägern. So
wird auch die Unfallkasse Post und Telekom mit der
BG für Transport und Verkehrswirtschaft zum 1. Januar 2016 zur BG Verkehrswirtschaft Post-LogistikTelekommunikation verschmolzen. Sie geht also in einer gewerblichen BG auf.
Diese Lösung geht weitgehend auf einen gemeinsamen Vorschlag der Selbstverwaltungen der Unfallkasse Post und Telekom und der Berufsgenossenschaft
für Transport und Verkehrswirtschaft zurück. Man
sieht, dass der Koalition die Einbeziehung der Selbstverwaltungen sehr wichtig war. Dort, wo den gewerblichen Berufsgenossenschaften Gestaltungsmöglichkeiten bei Fusionen eröffnet werden, werden die Vorschläge der Selbstverwaltungen übernommen - zum
Beispiel die Bezeichnungen der fusionierten Träger
und die Fusionszeitpunkte.
Standortfragen werden künftig der Eigenverantwortung der neuen Träger überlassen. Übergangsregelungen insbesondere in den Bereichen Haushalt, Selbstverwaltung, Geschäftsführung und Personal berücksichtigen einerseits die besonderen Interessen der Beteiligten, gewährleisten andererseits aber auch die sofortige Arbeitsfähigkeit der neuen Unfallversicherungsträger. Im Übrigen werden die im Vierten und
Siebten Buch Sozialgesetzbuch festgelegten Grundstrukturen für Vereinigungen von Unfallversicherungsträgern zugrunde gelegt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die FDP begrüßt, dass die Modernisierung und
Straffung der gesetzlichen Unfallversicherung mit diesem Gesetz ein großes Stück vorangekommen sind.
Der Gesetzentwurf enthält außerdem eine Reihe von
weiteren sozialrechtlichen Regelungen, die nicht die
Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen betreffen und die aufgrund ihrer Vielzahl an dieser
Stelle nicht alle Erwähnung finden können. Eine Regelung möchte ich jedoch ansprechen, weil wir uns als
Liberale ganz besonders darüber freuen - haben wir
doch in dieser Koalition dafür gesorgt, dass das Bürokratie- und Datenmonster ELENA eingestellt wurde.
Mit diesem Gesetzentwurf haben wir für den Bereich der Übermittlung von Arbeitsbescheinigungen
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses an die Bundesagentur für Arbeit, BA, eine Nachfolgeregelung geschaffen, die die elektronische Übermittlung von Daten erlaubt und allen von der FDP geforderten Kriterien genügt:
Erstens ist die elektronische Datenmeldung für den
Arbeitgeber freiwillig. Damit können gerade kleine
Unternehmen auch weiterhin den herkömmlichen Weg
der Papierform wählen. Außerdem kann der Arbeitnehmer widersprechen, wenn er dies nicht wünscht.
Zweitens erfolgt die Meldung dezentral und medienbruchfrei an die BA und nicht an eine zentrale Sammelstelle, wie dies bei ELENA vorgesehen war.
Schließlich erfolgt die Datenübermittlung anlassbezogen, das heißt nur, wenn die BA oder der Arbeitnehmer die Arbeitsbescheinigung verlangen. Dies gilt übrigens nicht nur für die Übermittlung auf elektronischem Wege, sondern auch auf dem herkömmlichen
Weg, also in Papierform. Bislang muss die Arbeitsbescheinigung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses
stets ausgestellt werden, auch wenn diese anschließend gar nicht benötigt wird, zum Beispiel weil der Arbeitnehmer keinen Antrag auf Arbeitslosengeld stellt,
weil er schon eine neue Arbeitsstelle hat. So werden
aktuell noch rund zwei Drittel der Bescheinigungen
ohne weitere Verwendung ausgestellt.
Diese Neuregelung ist der beste Beweis, dass sich
hartnäckiger Einsatz für die Sache lohnt und vieles,
was angeblich rechtlich oder faktisch nicht möglich
sein sollte, machbar ist - wenn der Wille da ist!
Schließlich möchte ich zwei Regelungen im Gesetzentwurf ansprechen, die aus meiner Sicht noch einer
Klärung bedürfen. Es geht zum einen um die vorgesehenen Betriebsprüfungen zur Künstlersozialabgabe
durch die Rentenversicherung. Hier sieht der Gesetzentwurf vor, dass die Prüfungen in Zukunft mindestens
alle vier Jahre erfolgen sollen. Der Punkt ist stark umstritten, insbesondere wegen des zusätzlichen Kostenaufwands, und auch der Bundesrat hat Einwände gegen die Regelung erhoben. Wir wollen nun gemeinsam
mit dem Koalitionspartner darüber beraten, ob an diesem Punkt Abhilfe geboten ist.
Ein weiterer Punkt, der noch zu klären ist, betrifft
die vorgesehene Neuregelung zur Betriebsprüfung der
Unfallversicherungen. Hier hatte es in der Ressortabstimmung im Vergleich zur Formulierung im Referentenentwurf eine Veränderung gegeben, welche die Prüfungstätigkeit der Unfallversicherung in Bezug auf
Schwarzarbeit oder illegale Beschäftigung betrifft.
Auch hierüber wollen wir das Gespräch mit dem Koalitionspartner aufnehmen, um den Bedarf für eine Änderung des Gesetzentwurfs zu erörtern.
Die Organisation der Unfallversicherung ist seit
2008 deutlich gestrafft worden. Mit dem „Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz“ wurde eine deutliche
Reduzierung der gewerblichen Berufsgenossenschaften von 23 auf 9 festgeschrieben. Zudem sollten die
bundesunmittelbaren Unfallversicherungsträger der
öffentlichen Hand auf einen Träger beschränkt werden. Die Selbstverwaltungen der Unfallkassen sind beauftragt worden, ein entsprechendes Konzept zu erarbeiten.
Nach den Vorschlägen der Selbstverwaltungen fusioniert nun die Unfallkasse des Bundes mit der Eisenbahn-Unfallkasse. Die Unfallkasse Post und Telekom
fusioniert mit der Berufsgenossenschaft für Transport
und Verkehrswirtschaft. Der vorliegende Gesetzentwurf schafft nunmehr für diese Vereinigungen die notwendige rechtliche Grundlage.
So werden im Bereich des Sozialgerichtsgesetzes
Teile der Anregungen der 83. Justizministerkonferenz
zur Entlastung der Sozialgerichte umgesetzt.
Im Bereich des Arbeitsschutzes stellt die Bundesregierung klar, dass der Gesundheitsbegriff sowohl die
physische als auch die psychische Gesundheit umfasst.
Die Linke begrüßt diese Änderungen ausdrücklich.
Schließlich werden Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber insofern entlastet, als zukünftig nicht mehr bei jeder
Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses eine
Arbeitsbescheinigung auszustellen ist. Das soll künftig
nur noch auf Wunsch der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers oder der Agentur für Arbeit geschehen.
Im Verhältnis zur Agentur wird den Arbeitgeberinnen
und Arbeitgebern ermöglicht, direkt Bescheinigungen
auf elektronischem Wege an die Bundesagentur für Arbeit zu schicken.
In dem Gesetz findet sich eine Regelung zur Prüfung
der Künstlersozialabgabe. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass die Deutsche Rentenversicherung die Verpflichtung im Rahmen der herkömmlichen Arbeitgeberprüfung turnusmäßig ({0}) mit prüft.
Während die Bundesregierung hier Verwaltungskosten
von rund 500 000 Euro unterstellt, sieht die Deutsche
Rentenversicherung Bund ein Missverhältnis von Prüfungsaufwand und Ertrag. Denn sie unterstellt Kosten
in Höhe von 50 Millionen Euro. Diesen Bedenken der
Deutschen Rentenversicherung hat sich der Bundesrat
angeschlossen. Wir LINKEN wollen auch, dass die AbZu Protokoll gegebene Reden
gabe korrekt erfasst, abgeführt und regelmäßig geprüft
wird.
Die Organisationsreform in der Unfallversicherung
ist durch das einschlägige Gesetz von 2008 beschlossen worden. Die nunmehr rechtlich abzusichernden
Vorschläge der Selbstverwaltungen werden von unserer Seite nicht kritisiert.
Die Linke begrüßt die Klarstellung, dass im Arbeitsund Gesundheitsschutz sowohl physische als auch psychische Belastungen abgedeckt sind. Damit sollte der
Weg zu einer Anti-Stress-Verordnung geebnet sein.
Über das begrenzte Prüfrecht der Berufsgenossenschaften müssen wir noch diskutieren. Diese dürfen
nunmehr lediglich in Ausnahmefällen noch selbst prüfen, ob die Betriebe den zutreffenden Beitrag zahlen.
Dies macht die Rentenversicherung zwar im Prinzip,
wendet dabei aber nicht immer ausreichende Maßstäbe an. Hier bietet sich eine flexiblere Regelung an,
die den Berufsgenossenschaften bei Vorliegen von Verdachtsmomenten ein eigenständiges Prüfrecht zugesteht.
Mit dem Gesetzentwurf sollen die Unfallkassen des
Bundes auf einen Träger reduziert werden. Entsprechend den Vorschlägen der Selbstverwaltungen fusioniert die Unfallkasse des Bundes mit der EisenbahnUnfallkasse zum 1. Januar 2015. Die Unfallkasse Post
und Telekom fusioniert mit der gewerblichen Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft
zum 1. Januar 2016. Diese Vereinigungen bedürfen
einer gesetzlichen Grundlage, die mit dem Gesetzentwurf geschaffen werden soll. Die Umsetzung der Zielvorgaben des Unfallversicherungsmodernisierungsgesetzes wird damit auf Bundesebene abgeschlossen.
Für die Übergangszeit bis zu den nächsten Sozialwahlen werden mit dem Gesetzentwurf die notwendigen Übergangsregelungen, insbesondere zu den Bereichen Selbstverwaltung, Geschäftsführung, Personal
und Haushalt, getroffen.
Die Straffung der Organisation in der Unfallversicherung wurde von unserer Fraktion in der Vergangenheit immer unterstützt.
Darüber hinaus hält der vorliegende Gesetzentwurf
weitere Regelungen vor. So wird etwa in Art. 11 neu
geregelt, dass der Arbeitgeber Arbeitsbescheinigungen nur auf Verlangen des Arbeitnehmers ausstellen
muss ({0}). Das scheint uns eine
sinnvolle Maßnahme zur Entbürokratisierung. Zudem
wird ermöglicht, Arbeitsbescheinigungen elektronisch
an die Bundesagentur für Arbeit, BA, weiterzuleiten.
Hier liegt vielleicht der einzige Haken: Der Arbeitnehmer muss der elektronischen Übermittlung nicht zuvor
zustimmen. Er hat lediglich ein Widerspruchsrecht, auf
das der Arbeitgeber in allgemeiner Form hinweisen
muss ({1}). Es
könnte also zur Regel werden, dass die Arbeitgeber Arbeitsbescheinigungen routinemäßig elektronisch an
die BA übermitteln, ohne dass der Arbeitnehmer darauf faktisch Einfluss hat, weil er nicht zustimmen
muss ({2}). Diesen Punkt werden wir in der parlamentarischen Auseinandersetzung aufgreifen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf sind ferner zwei Änderungen im Arbeitsschutzgesetz geplant. So wird
durch zwei Änderungen klargestellt, dass sich die Gefährdungsbeurteilung auch auf psychische Belastungen bei der Arbeit bezieht und der Gesundheitsbegriff
neben der physischen auch die psychische Gesundheit
der Beschäftigten umfasst. Diese Klarstellung wird
von unserer Fraktion begrüßt.
In Art. 7 Nr. 11 lit. b BUK-NOG werden des Weiteren die Rechtsmittel gegen ablehnende Prozesskostenhilfe-Beschlüsse neu gefasst. Bisher ist die Beschwerde
ausgeschlossen, wenn die Ablehnung ausschließlich
auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
gestützt wird ({3}). Zukünftig soll
kein Rechtsmittel gegeben sein, wenn die Ablehnung
auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
gestützt wird ({4}), das
Hauptsacheverfahren der Berufungszulassung bedarf
({5}) oder die Rechtssache
endgültig durch Beschluss zu entscheiden ist ({6}).
Hierdurch werden im Ergebnis unserer Einschätzung nach die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die
Ablehnung von Prozesskostenhilfe, PKH, beschnitten.
Soweit das Beschwerdeverfahren ausgeschlossen oder
eingeschränkt wird, fehlt es an validem Zahlenmaterial, welche weiteren Verfahrenszahlen vermieden
werden sollen. Es fehlt bisher an einem Nachweis, dass
diese Einschränkung tatsächlich zur Beschleunigung
von Verfahren geführt hat.
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es
hierzu:
„In Buchstabe b wird geregelt, dass Beschwerden
gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe ausgeschlossen sind, wenn in der Hauptsache der in § 144
Abs. 1 SGG geregelte Berufungsstreitwert nicht erreicht wird. Derzeit ist in der Rechtsprechung umstritten, ob in diesen Fällen die Beschwerde gegen
Prozesskostenhilfe-Entscheidungen zulässig ist. Die
Landessozialgerichte entscheiden hier nicht einheitlich. Der Ausschluss der Beschwerde in diesen Fällen
ist sachgerecht. Der Rechtsschutz gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe reicht zukünftig nicht weiter als der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren. Eine
unangemessene Beeinträchtigung der Interessen der
Rechtsuchenden ist damit nicht verbunden. Im Rahmen
der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache
wird das Gericht auch berücksichtigen, ob gegebenenfalls die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat
oder beabsichtigt ist, von obergerichtlicher Rechtsprechung abzuweichen, und in diesen Fällen ProzesskosZu Protokoll gegebene Reden
tenhilfe gewähren, sofern die übrigen Voraussetzungen
gegeben sind.“
Dass der Ausschluss der Beschwerde wirklich sachgerecht ist, ist eine Einschätzung der Bundesregierung, die wir kritisch sehen. Auch diesen Punkt werden
wir in der parlamentarischen Auseinandersetzung in
den Ausschüssen kritisch hinterfragen.
Interfraktionell wird Überweisung dieses Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12297 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie
sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften
({0})
- Drucksache 17/12375 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({1}) -
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Gesundheit-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union-
Ausschuss für Kultur und Medien-
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben.1) - Sie sind einverstanden.
Dann kommen wir zur Überweisung. Der Vorschlag
lautet, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12375 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Es gibt keine anderweitigen Vorschläge.
Dann haben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 31:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur
Änderung weiterer Vorschriften
- Drucksache 17/11473 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({2}) RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll genommen.
Wir alle leben in einer digital vernetzten Gesell-
schaft. Diese durchdringt fast alle unsere Lebensbe-
reiche. Die uns umgebende Informationstechnologie
entwickelt sich rasant weiter. Dabei eröffnen sich
großartige Chancen, aber auch reale Herausforderun-
gen, die wir beantworten müssen. Um die digitalen
Umbildungen nachhaltig erfolgreich zu gestalten, hat
die Bundesregierung eine Hightech-Strategie entwi-
ckelt. Diese bildet einen bedeutenden Baustein, um
Deutschland an die Spitzenposition der wichtigsten
Zukunftsmärkte zu führen. Einen wichtigen Teil dieser
Strategie stellt das E-Government-Gesetz dar.
An die Verwaltung der Behörden werden im Zuge
dieser modernen Veränderungen und Entwicklungen
natürlich entsprechende neue und moderne Erwartun-
gen, wie etwa die Erhöhung der Servicequalität und
Wertschöpfung, gestellt. Diese gilt es von der Politik zu
beantworten. Deutschland besitzt eine gut struktu-
rierte und funktionierende Verwaltung. Der Alltag der
Bürgerinnen und Bürger verlagert sich allerdings zu-
nehmend in den virtuellen Raum des Internets. Ange-
sichts dessen wird es für sie zunehmend schwer ver-
ständlich, wenn sie bei Kontakt mit den Behörden
meist auf die herkömmliche Papierform hingewiesen
werden. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich
bei den öffentlichen Verwaltungen nutzerfreundliche,
effizientere, einfachere, schnellere und rechtsverbind-
liche Angebote und Zugänge. Die Verwaltung kann
dem nur gerecht werden, wenn sie sich an diese Erwar-
tungshaltungen anpasst.
Den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger sowie
den Forderungen der Verwaltung werden wir mit dem
E-Government-Gesetz nun gerecht. Wir ermöglichen
damit die elektronische Abwicklung von Geschäftspro-
zessen der öffentlichen Verwaltung und Regierung und
leisten einen wichtigen Beitrag für eine moderne Ver-
waltung.
Wir schaffen durch das Gesetz Voraussetzungen
für orts- und zeitunabhängige Verwaltungsdienste in
Bund, Ländern und Kommunen. Denn der Zugang zum
Internet ist heute zu einem wirtschaftlichen Standort-
faktor sowie zentral für die Lebensqualität für viele
Menschen geworden. Das Gesetz trägt dieser neuen
Lebenswirklichkeit in hohem Maße Rechnung.
Vor allem schaffen wir Rechtssicherheit bei der
elektronischen Kommunikation. Denn ohne diese
Rechtssicherheit kann eine Verwaltungsmodernisie-
rung nicht gelingen. Offene Fragen bei der Rechtssi-
cherheit führen zu Verunsicherungen von Bürgern und
Verwaltungsmitarbeitern. Diese Risikofaktoren besei-
tigen wir mit diesem Gesetz.
Das zentrale Element des E-Government-Gesetzes
ist der Schriftformersatz. Er stellt die Onlineausweis-
funktion des neuen elektronischen Personalausweises
und De-Mail zur Identifizierung der Unterschrift
gleich. De-Mail fungiert dabei als gesetzlicher Stan-
dard für sichere, vertrauliche und vor allem nachweis-1) Anlage 12
bare Kommunikationseinrichtung im Internet. Eine
absenderbestätigte De-Mail würde also als unterschrieben gelten, ebenso ein Webformular, wenn sich
Nutzer mit elektronischem Ausweis identifizieren.
Bei der Gestaltung des Gesetzes haben wir darauf
geachtet, dass infolge des sogenannten Konnexitätsprinzips die Haushalte der Kommunen nicht allein belastet werden. Bei einer anfallenden Aufgabenübertragung durch die Länder, die zu einer Mehrbelastung
führen würde, muss das Land entsprechend gleichzeitig für finanziellen Ausgleich der Kommunen sorgen.
Kostenträchtige Regelungen des E-Government-Gesetzes gelten nur für den Bund.
Zudem ist der Gesetzgeber den Forderungen nachgekommen, das E-Government-Gesetz technikoffen zu
gestalten. Jede Art des elektronischen Zugangs ist erlaubt. Sollten in Zukunft weitere ({0}) Verfahren existieren, können diese dann in das
Gesetz mit aufgenommen werden. Auch dieser Schritt
beweist, wie zukunftsträchtig das Gesetz wirklich ist.
Durch eine konsequente Nutzung, vom Anfang bis
zum Schluss, vom Antrag bis zum Bescheid wird das
E-Government Ressourcen schonen, Arbeitsschritte
erleichtern, mehr Transparenz und mehr Bürgernähe
erzeugen. E-Government wird die Komplexität der
Verwaltungsvorgänge spürbar reduzieren. Durch stärkere Beteiligungsmöglichkeiten erreichen wir auch
eine gesteigerte Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für Verwaltungsentscheidungen.
Das Einsparpotenzial von E-Government übersteigt
die anfallenden Investitionskosten um ein Vielfaches.
Dabei profitieren vor allem auch kleine und mittlere
Unternehmen vom Webangebot der Verwaltungen. Für
Unternehmen wird es einfacher werden, Genehmigungen oder Berichte mit Behörden auszutauschen.
Das E-Government-Gesetz verhilft zu mehr Effektivität und spürbarem Bürokratieabbau. Dieses Gesetz
könnte international als Vorbild dienen.
Die elektronische Datenverarbeitung und die elektronische Kommunikation nehmen weltweit zu. Sie
umfassen immer weitere Lebensbereiche und vollziehen sich rasant. Immer mehr Daten werden elektronisch verarbeitet, also gespeichert, analysiert, genutzt,
weitergegeben etc.
Dieser Herausforderung muss sich auch die öffentliche Verwaltung stellen; denn in ihr liegen immense
Chancen: Chancen für mehr Effektivität, mehr Bürgerfreundlichkeit und mehr Transparenz. Aber in ihr
liegen auch Risiken, die bedacht und die angegangen
werden müssen: Risiken etwa für den Datenschutz,
Risiken aber auch im Hinblick auf eine digitale
Spaltung der Gesellschaft; denn auch in Deutschland
haben zwar - schon - 75 Prozent einen Internetzugang, die weiteren 25 Prozent aber eben bisher nicht.
Und genau deshalb muss die öffentlich-rechtliche
Verwaltungstätigkeit auch auf dem - ich nenne das mal alten Weg noch funktionieren. Darum wird der elektronische Weg für lange Zeit nicht nur der einzige Weg
sein, den insbesondere Behörden bzw. Kommunen vorhalten müssen. Oft ist auch eine manuelle Datenverarbeitung erforderlich.
Wir begrüßen ausdrücklich das Anliegen, die Möglichkeiten der elektronischen Verwaltung und des elektronischen Behördenverkehrs voranzutreiben und für
die Aufgabenverwaltung des Bundes eine Vereinheitlichung anzustreben und die elektronische Kommunikation für den Bürger mit der Verwaltung zu erleichtern frei von Medienbrüchen. Aber Sie stellen gerade die
Kommunen - dort, wo sie in Ausführung von Bundesgesetzen tätig werden und das Gesetz unmittelbar umsetzen müssen - vor gewaltige Herausforderungen und das, ohne sich über die Kostenbelastung, die Sie
ihnen damit aufbürden, das geben Sie in der Gesetzesbegründung offen zu, nur im Entferntesten im Klaren
zu sein - von der Frage, wer dies finanzieren soll, ganz
zu schweigen.
Das halten wir für unverantwortlich, insbesondere
wenn man bedenkt, dass der Bereich der Aufgabenverwaltung durch die Kommunen immer umfangreicher
wird. Gleichzeitig erwartet der Bürger zu Recht, dass
sie transparenter, serviceorientierter, schneller und
kostengünstiger arbeiten. Neben E-Government treten
die Herausforderungen von Open Data bzw. Open
Government.
Die Anpassung an die digitale Welt belastet die gleichen kommunalen Haushalte, die ohnehin schon
erheblich durch die Umsetzung der Kinderbetreuung
beschwert sind und denen Sie die mögliche finanzielle
Unterstützung für den notwendigen Ausbau der Betreuungsinfrastruktur durch Ihr unsinniges Betreuungsgeld entziehen.
Auch wenn durch die digitale Verwaltung Effizienzgewinne zu erwarten sind, so müssen aber erst einmal
Gelder dafür bereitgestellt werden. Gleiches gilt für
die technische Infrastruktur und die Schulung von
Mitarbeitern. Angesichts der Haushaltskonsolidierungszwänge der Kommunen, die jeden Cent dreimal
umdrehen müssen, ist das keine einfache Aufgabe.
Umso zynischer erweist es sich dann, dass Sie in der
Gesetzesbegründung formulieren: „Grundsätzlich ist
eine Abschätzung der Umsetzung des Gesetzes und der
damit verbundenen Kosten- und Entlastungswirkungen mit Unsicherheiten belastet.“ Ich frage mich, was
Sie einem Gemeindekämmerer sagen würden, der
Ihnen seinen Haushalt mit diesem lapidaren Satz
vorlegen würde! Hier bedarf es erheblicher Nachbesserungen.
Wir und die Gemeinden bzw. Kommunen brauchen
konkrete Zahlen hinsichtlich der Kosten für die
Zugangseröffnung bzw. Umstellung. Die ungenauen
Angaben im Gesetzentwurf bemängelt auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu Recht. Pauschale
Zu Protokoll gegebene Reden
Verweise, dass dies nicht so einfach möglich sei, helfen
da wenig.
Aber das ist nicht der einzige Punkt bei dem vorgelegten Gesetzentwurf, der schon beim ersten Blick erhebliche Mängel und Veränderungsbedarfe offenkundig werden lässt. Genauso unverfroren wie bei der
Frage der finanziellen Folgekosten für die Gemeinden
geht der Gesetzentwurf mit dem sensiblen Bereich des
Schutzes personenbezogener Daten um. Da wird einfach das, was nicht mehr passt, per Gesetzesdefinition
passend gemacht.
Wir und eine beachtliche Zahl von Sachverständigen, die Verbraucherschutzorganisationen sowie kritische Stimmen aus der Netzgemeinde haben bei der
Beratung zum De-Mail-Gesetz aus Datenschutzgründen immer wieder die End-zu-End-Verschlüsselung
gefordert. Sie haben diese Forderungen in den Wind
geschlagen und sind den Wünschen der Anbieterlobby
gefolgt, die sich die Kosten dafür sparen wollten, und
nun stellen Sie fest, dass die von Ihnen im De-MailGesetz im Interesse der Diensteanbieter heruntergeschraubten Sicherheitsstandards nicht die Voraussetzungen nach dem Bundesdatenschutzgesetz und
dem Sozialgesetzbuch nach einer verschlüsselten
Übermittlung von sensiblen Daten erfüllen.
Statt das De-Mail-Gesetz entsprechend den dort geforderten Sicherheitsstandards nachzubessern, definieren Sie die bei den Anbietern stattfindende Entschlüsselung und Wiederverschlüsselung und die
damit entstehende potenzielle Sicherheitslücke einfach
per Gesetz weg. Mit anderen Worten: Die vom Bundesdatenschutzgesetz geforderte Zugriffs- und Weitergabekontrolle wird schlicht und einfach ausgehebelt,
weil sie der Wirtschaft nicht in den Kram passt. Die sogenannte Bürgerrechtspartei FDP lässt grüßen!
Damit erweisen Sie den Anbietern und der Wirtschaft, etwa der Versicherungswirtschaft, aber auch
dem Voranbringen des elektronischen Behördenverkehrs einen Bärendienst!
Warum hat denn De-Mail nicht das Echo gefunden,
das vor drei Jahren prognostiziert wurde? Das liegt
eben nicht nur am mangelnden Angebot, sondern gerade auch an der fehlenden Sicherheitsgarantie.
Das ist ja auch für niemanden nachvollziehbar! Die
Regierung wird nicht müde, die wachsenden Gefahren
der Cyberkriminalität zu thematisieren. Fast täglich
erfahren die Bürger weltweit von neuen Hackerangriffen auf Datenbanken und Datenmissbrauch, und
gleichzeitig schraubt die gleiche Regierung Sicherheitsstandards für den elektronischen Daten- und
Dokumentenverkehr herunter, dem der Bürger jetzt
seine sensiblen persönlichen Daten, von Behördenschreiben bis zu Steuer- und Gesundheitsdaten, anvertrauen soll.
Sie machen bei diesem Gesetzentwurf wieder den
Fehler, aus Gründen der Kostenersparnis und Erleichterung für die Wirtschaft Datenschutz und Datensicherheit hintanzustellen. Die Dienste müssen aber
nicht nur Akzeptanz bei der Wirtschaft finden, die
damit Kosten einsparen und Gewinn machen will,
sondern auch bei den Bürgern und Verbrauchern, die
sie nutzen sollen. Weder Signaturgesetz noch De-MailGesetz haben da bisher wirklich Akzeptanz gefunden,
und auch die Nutzung des elektronischen Personalausweises hält sich bisher in sehr überschaubaren Grenzen.
Aber auch an anderer Stelle nehmen Sie es mit dem
Datenschutz nicht so genau. So fehlt es zum Beispiel
an einer Löschpflicht von elektronisch veröffentlichten
Amtsblättern, die auch personenbezogene Daten enthalten können. Der Bundesrat hat darauf ausdrücklich
hingewiesen.
Die Frage, wie die grenzüberschreitende Kommunikation mit deutschen Behörden zu regeln ist, bleibt
weitgehend unbearbeitet - und das angesichts der
Tatsache, dass in Europa der Gedanke des Single
Point of Contact, also der einheitlichen Ansprechstelle, immer mehr Eingang in die europäische Gesetzgebung findet.
Damit ein erfolgreiches E-Government stattfinden
kann, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie
wir die bereits vorhandenen elektronischen Möglichkeiten integrieren, gemeinsame Sicherheitsstandards
setzen und - auch europaweit - gebräuchlich machen.
Es stellt sich letztlich also auch die Frage, ob De-Mail
und E-Perso als Möglichkeiten für eine rechtssichere
behördliche Kommunikation - insbesondere im Hinblick auf E-Government in Europa - ausreichen.
Alleine die Liste der bisher genannten erheblichen
Mängel, denen sich im Detail noch weitere anfügen
ließen, machen deutlich, dass es noch eine Menge an
Fragen und Nachbesserungsbedarf an diesem von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf gibt.
Damit dieser Gesetzentwurf nicht in die Liste erfolgloser E-Government-Lösungen Aufnahme findet,
bedarf es noch grundlegender Überarbeitung.
Trotz der relativ langen Vorlaufzeit macht der Gesetzentwurf eher den Eindruck eines Schnellschusses.
Wir sollten durch gründliche Beratung und umfangreiche Veränderung dafür sorgen, dass er nicht ein
Schnellschuss in den Ofen wird. Damit wäre weder
dem Bürger noch der Wirtschaft noch den Behörden
und ihren Mitarbeitern gedient.
Die Modernisierung unserer Verwaltung ist eine
Herausforderung. Der demografische Wandel macht
den Einsatz von Zukunftstechnologien erforderlich,
damit sich die Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft effektiv am politischen und gesellschaftlichen Leben beteiligen können.
Vor diesem Hintergrund steht der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf zum E-Government-Gesetz. Die christlich-liberale Koalition möchte
mit diesem Gesetzentwurf eine Motornorm für die
Zu Protokoll gegebene Reden
Stärkung der elektronischen Verwaltung in Deutschland einführen, das heißt, wir möchten mit diesem Gesetz die Grundlage für die Anwendung elektronischer
Verwaltungsakte schaffen.
Aus liberaler Sicht ist es dabei zentral, dass die
Kommunikation, wie auch schon beim De-Mail-Gesetz, rechtsverbindlich und einfach nutzbar für möglichst viele Bürgerinnen und Bürger ist. Nur so schaffen wir eine effektive und transparente elektronische
Verwaltung für Deutschland. Dabei müssen wir insbesondere die Lehren aus dem Signaturgesetz ziehen und
beim E-Government-Gesetz darauf achten, dass die
angebotenen Technologien nicht nur sicher und rechtsverbindlich, sondern auch nutzbar für die Bürgerinnen
und Bürger sind und vor allem von diesen akzeptiert
werden.
Wir werden darauf achten, dass wir nicht nur Verwaltungsleistungen elektronisch anbieten. Wir werden
auch sicherstellen, dass sie elektronisch bezahlbar
sind. Denn ein E-Government-Gesetz würde nur wenig
helfen, wenn hinterher doch noch ein Gang zum Amt
erforderlich wäre, um zu bezahlen.
Damit hört es noch nicht auf. Mit dem E-Government-Gesetz möchte die christlich-liberale Koalition
auch die Möglichkeiten schaffen, Verwaltungsakte zukünftig komplett elektronisch abzuwickeln. Die Einführung einer elektronischen Akte für die Bundesverwaltung ist dafür ebenso erforderlich. Sie spart der
Verwaltung Papier und Aufbewahrungsraum für Akten. Am wichtigsten ist: Die elektronische Akte ermöglicht digitale Kommunikation auch über Grenzen verschiedener Endgeräte hinweg.
Der IT-Planungsrat wurde mit diesem Gesetz von
der christlich-liberalen Koalition beauftragt, gemeinsame Standards für digitale Kommunikation und elektronische Verwaltung zu definieren. Das E-Government-Gesetz bietet viel Einsparpotenzial - nicht nur
für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die
Verwaltung.
Wie Sie sehen, verbessert E-Government nicht nur
die Effizienz der Verwaltung und ist bürgerfreundlich,
sondern es spart auch wichtige Steuergelder und erleichtert allen Menschen das Leben.
Mehr noch: E-Government ist ein Muss! Denn auch
wenn wir mit dem E-Government-Gesetz jetzt die
Motornorm für die Bundesbehörden geben, so wird es
noch eine Weile dauern, bis Länder und vor allem
Kommunen nachziehen. Darum müssen wir dieses Gesetz auch möglichst schnell einführen.
Schon jetzt erleben wir, dass Verwaltungseinheiten
zusammengelegt werden, dass Verwaltungsniederlassungen geschlossen werden, dass Verwaltungsdienstleistungen in der Fläche nicht mehr so verfügbar sind,
wie sie es noch vor einigen Jahrzehnten waren. Vor
dem Hintergrund des demografischen Wandels stellt
dies ein Problem dar; denn immer mehr, vor allem ältere Menschen bekommen so Schwierigkeiten, mit der
Verwaltung in direktem Kontakt zu bleiben. Hier ist
E-Government ein sinnvoller Weg zu zukunftsfähiger
Verwaltung.
Ich sehe den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf
mit großer Spannung entgegen.
Wir reden hier heute über das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung, dessen Ziel es sein soll, durch den
Abbau bundesrechtlicher Hindernisse die elektronische Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger mit
der Verwaltung zu erleichtern. Mit dem Gesetzentwurf
soll die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, wonach die Koalition
„E-Government weiter fördern und dazu, wo und soweit notwendig, rechtliche Regelungen anpassen
({0})“ wollte, eingelöst werden. Besonderes Augenmerk wollte Schwarz-Gelb dabei „auf
die Schaffung der Voraussetzungen für sichere Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern sowie
Unternehmen setzen“. So weit, so vielversprechend, so
spät in der Legislatur.
Richtig ist, dass E-Government großes Potenzial für
gemeinwohlorientierte öffentliche Dienste birgt. Es
kann neue Möglichkeiten der Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern befördern. E-Government kann
aber auch, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, das Gegenteil bewirken: soziale Ausgrenzung,
Entdemokratisierung, Datenschutzprobleme, Bürokratisierung und enorme Kosten. Und man muss an dieser
Stelle auch noch einmal in Erinnerung rufen, dass viele
E-Government-Großprojekte der letzten Jahre krachend an der eigenen Gigantomanie und der sozialen
Schieflage gescheitert sind: Der elektronische Entgeltnachweis ELENA hat Millionen verschlungen, bevor
das Projekt eingestampft wurde. Die neue Gesundheitskarte ist datenschutzrechtlich bedenklich, hat in
der Nutzung bislang keinerlei Vorteile, birgt jede
Menge Konfliktstoff zwischen Kassen, Ärzten und Patienten. Der neue elektronische Personalausweis ist
teuer, bringt ebenfalls Datenschutzprobleme mit sich,
und seine Notwendigkeit ist bis heute nicht erwiesen.
Es gibt also jede Menge gute Gründe, sich Ihren
Gesetzentwurf genauer anzusehen und nicht jede Verheißung sofort als bare Münze anzunehmen. Und wenn
man sich diese Mühe macht, dann kommt man zu dem
Ergebnis, dass es Ihnen hier offenbar darum geht, einige gescheiterte E-Government-Großprojekte der
letzten Jahre mit einem noch größenwahnsinnigeren
Gesetz nachträglich zu legitimieren, ja zu toppen.
Eine ganze Reihe toter Projekte soll so wiederbelebt
werden: Der neue Personalausweis hat beispielsweise
bislang keinerlei Zusatznutzen, weil für die Nutzung
der eID-Funktion extra Lesegeräte benötigt werden,
die zu Recht niemand kauft, weil sie unsicher oder
teuer sind und es kaum Anwendungsmöglichkeiten dafür gibt. Damit das Projekt nicht für gescheitert erklärt
zu werden braucht, soll nun offensichtlich wenigstens
Zu Protokoll gegebene Reden
in der Kommunikation mit der Verwaltung ein Anwendungsfall dafür geschaffen werden. Gleiches gilt für
die elektronische Gesundheitskarte. Auch die bringt
Patientinnen und Patienten bislang keinen Zusatznutzen, soll jetzt aber in der Kommunikation mit der
Krankenkasse zum Identitätsnachweis genutzt werden.
Dito bei De-Mail: Kaum jemand nutzt De-Mail, warum auch? Und jetzt soll über die Verwaltung ein
künstlicher Markt dafür geschaffen werden. Bei der
Entwicklung all dieser Projekte ist extrem viel Geld
zum Fenster hinausgeworfen worden. Das soll jetzt
verschleiert werden, indem man noch mal ordentlich
Geld hinterherschmeißt.
Wir haben es hier also mit einer Art von Zombiepolitik zu tun, bei der die Linke jedenfalls nicht mitmachen wird.
Sie wollen mit dem Gesetzentwurf die elektronische
Kommunikation mit der Verwaltung erleichtern. Das
klingt ebenfalls erst einmal gut. Das Problem dabei: In
zahlreichen Fällen gilt zur rechtlichen Absicherung
von Verwaltungsentscheidungen ein Schriftformerfordernis, also ein Schreiben mit Unterschrift, das man
auf elektronischem Wege nur erfüllen kann, indem man
die sogenannte qualifizierte elektronische Signatur,
qes benutzt. Die Bundesregierung begründete allerdings vor gar nicht allzu langer Zeit das Scheitern von
ELENA mit der „fehlenden Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur“ und vertrat die Meinung, dass der hohe Sicherheitsstandard, der „datenschutzrechtlich zwingend geboten war“, sich „auch in
absehbarer Zeit nicht flächendeckend verbreiten“
würde.
Jetzt wollen Sie in den entsprechenden Einzelgesetzen einführen, dass ersatzweise auch De-Mail oder die
eID des neuen Personalausweises reichen soll. Das
klingt elegant, ist nur eben nicht gerade sicherer. Denn
gerade deshalb war das De-Mail-Gesetz von Anfang
an umstritten. Die vermeintlich „sichere“ Mail, so
stellte sich heraus, ist gar nicht sicher, weil sie auf dem
Weg vom Absender zum Empfänger „umgeschlüsselt“
wird. Der Internetprovider macht die verschlüsselte
Mail also kurz auf und klebt sie wieder zu, bevor er sie
weitersendet. Das ist keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und entspricht daher nicht dem Signaturgesetz.
Bis heute ist es also nicht möglich, rechtssicher über
De-Mail-Adressen zu kommunizieren - jedenfalls
nicht, wenn das Rechtsgeschäft die Schriftform
voraussetzt.
Darauf mit einer faktischen Absenkung der Sicherheitsanforderungen zu reagieren, indem Sie bestimmen, dass in zahlreichen Fällen, in denen bislang ein
Schriftformerfordernis gilt, zukünftig auch die beiden
erwähnten alternativen Verfahren zugelassen sein sollen, ist ein Taschenspielertrick.
Mag sein, dass das Schriftformerfordernis nicht
mehr überall zeitgemäß ist, wo es vorgeschrieben ist.
Dann soll man das überprüfen und gegebenenfalls abschaffen. Stattdessen aber einfach andere, weniger sichere Verfahren zuzulassen, ist keine Lösung, sondern
schlechte Politik.
Und so werden aus Mindestkriterien für eine vertrauliche Kommunikation, für die qualifizierte elektronische Signatur also, jetzt nur noch „rechtliche
Hindernisse für den Einsatz elektronischer Kommunikation zwischen Behörden sowie Bürgerinnen und
Bürgern und der Wirtschaft“.
Und jetzt sollen in einer Vielzahl von Einzelgesetzen
die zu Hindernissen gewordenen Sicherheitsprobleme
weggeräumt werden: „Ein wesentliches Hindernis für
E-Government-Angebote der öffentlichen Verwaltung
besteht darin, dass als elektronisches Äquivalent der
Schriftform allein die qeS zugelassen ist. Im Gegensatz
zum Zivilrecht gibt es in öffentlich-rechtlichen Normen
eine große Anzahl ({1}) von gesetzlichen
Schriftformerfordernissen.“ Und so geht es rund: Verwaltungsverfahrensgesetz, Sozialgesetzbuch, Abgabenordnung, Passgesetz, Personalausweisgesetz, Gesetz
über Umweltverträglichkeitsprüfung, Umweltschutzprotokoll-Ausführungsgesetz, Aufenthaltsgesetz, Bundesstatistikgesetz, Rechtsdienstleistungsgesetz, Satellitendatensicherheitsgesetz, Gesetz zur vorläufigen
Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern, Gewerbeordnung, Handwerksordnung, Sprengstoffgesetz, Berufsbildungsgesetz, Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz, Straßenverkehrsgesetz etc.
pp. Überall gibt es irgendwo ein lästiges Schriftformerfordernis, das man kippen und durch De-Mail ersetzen möchte.
Fakt ist: Die qeS kann man in der Kommunikation
mit Verwaltungen und Behörden oft gar nicht nutzen,
weil diese in der Lage sein müssten, Dokumente zu entschlüsseln, die ihnen verschlüsselt zugestellt werden.
Das ist in aller Regel derzeit nicht der Fall. Insofern
gibt es überhaupt keinen Anreiz, die qeS zu benutzen.
Auch dafür, die eID-Funktion zu benutzen, gibt es keinerlei Anreiz, weil es keine Anwendungen dafür gibt.
Das Fazit der Stiftung Warentest aus einem Test vom
April 2011 fiel jedenfalls eindeutig aus: „Viel zu testen
gibt’s gar nicht. Nur 18 Stellen im Internet finden Sie,
an denen der neue Personalausweis gefragt ist, ohne
dabei gleich weitgehende Verpflichtungen eingehen zu
müssen. Ein Teil davon ist nur für registrierte Kunden
oder einen sonst geschlossenen Kreis von Benutzern
gedacht.“
Wenn man darüber nachdenkt, die Anforderungen
zu senken, stellt sich auch die Frage nach der Beweislast. Wenn man zukünftig neben der Schriftform bzw.
qeS andere, weniger sichere Verfahren zulässt, darf
dies nicht zulasten der Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger gehen. Es müsste entsprechend in allen Fällen, in denen dies droht, eine Beweislastumkehr
zugunsten der schwächeren Partei eingeführt werden.
Aber darüber verlieren Sie keine Silbe.
Nun noch ein Wort zu Ihren Kosten-Nutzen-Kalkulationen: Acht Minuten Zeitersparnis jährlich pro Person bei der Behördenkommunikation stehen Kosten
Zu Protokoll gegebene Reden
von jährlich circa 50 Millionen in den nächsten drei
Jahren und insgesamt mehr als 500 Millionen ab 2017
für die nächsten 30 Jahre gegenüber. Man kommt also
auf insgesamt 650 Millionen in 30 Jahren. Das sind
21,6 Millionen im Jahr bzw. 2,7 Millionen pro Minute
bzw. bei 81,726 Millionen Bundesbürgern etwa
265,11 Euro pro Bürger im Jahr. Die Kosten für die
Länder und Kommunen sind darin allerdings noch
nicht enthalten. Wäre es nicht sinnvoller, man würde
jedem Bürger für die nächsten 30 Jahre jährlich
265 Euro schenken, statt dieses Geld für acht Minuten
Zeitersparnis auszugeben?
Nicht erst seit Stuttgart 21 oder dem Berliner Flughafen wissen wir, dass Berechnungen von Großprojekten total unsicher sind. Die Regierung weiß nicht, wie
viel es kosten wird, wedelt aber mit hohen Einsparungen. In immer neuen Formulierungen im Gesetz wird
betont, dass das überhaupt nicht voraussehbar ist.
Hier ein paar Zitate:
Es entstehen „Kosten, die aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung der jeweiligen Verfahren derzeit noch nicht konkret beziffert werden können.“ …
„Die Kosten lassen sich derzeit noch nicht konkret
beziffern, denn hierfür wäre es erforderlich, dass jede
betroffene Behörde zunächst den bereits erreichten
Umsetzungsstand erhebt.“ … „Zudem ist wegen des
langen Umsetzungszeitraums zu berücksichtigen, dass
aufgrund der Fortentwicklung der Informations- und
Kommunikationstechnologie teilweise andere Produkte zum Einsatz kommen werden als die heute auf
dem Markt verfügbaren. Über deren Leistungsvermögen und Preis kann heute noch nichts bekannt sein.“
Das heißt: Die Kosten können beliebig in die Höhe
steigen, die Einsparungen ins Nichts fallen. „Grundsätzlich ist eine Abschätzung der Umsetzung des Gesetzes und der damit verbundenen Kosten- und Entlastungswirkungen mit Unsicherheiten behaftet.“
Fazit: Man kann Kosten einfach nicht realistisch
über 30 Jahre kalkulieren, und erst recht nicht im Bereich der elektronischen Kommunikation. Was heute
eingeführt wird, ist in 30 Jahren mit Sicherheit schon
wieder veraltet.
Nutzen bringen diese ganzen Großprojekte in erster
Linie der Industrie. Mich würde in diesem Zusammenhang einmal interessieren, welche Unternehmen und
Beraterfirmen bei der Erstellung dieses Gesetzentwurfes beteiligt waren. Sagen Sie dazu doch einmal etwas.
Wenn man sich die Großprojekte der letzten Jahre anschaut, stolpert man nämlich auffallend oft über dieselben Namen der daran Beteiligten. Oder finden Sie
es nicht bemerkenswert, dass das ELENA-Nachfolgeprojekt OMS über ein Projektbüro gesteuert wird, das
bei der Informationstechnischen Servicestelle der Gesetzlichen Krankenversicherung GmbH, ITSG GmbH,
angesiedelt ist? Der Geschäftsführer der ITSG GmbH
war auch Gründungsgeschäftsführer der Gematik
GmbH, einer Gesellschaft der Krankenkassen und
Ärzteverbände, die für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zuständig ist.
Die Linke befürwortet E-Government-Projekte, die
nicht auf die Profitinteressen der IT-Industrie, sondern
auf die Belange der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet sind. Deshalb müssen realistische Wirtschaftlichkeitsberechnungen vorgenommen werden. Alle betroffenen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen,
müssen in die Gestaltung der neuen technischen Abläufe eng einbezogen werden. Die Vorteile technischer
Neuerungen sind in Relation zum Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger zu setzen, aber auch zu den Folgekosten für Hardware, Software und vermehrten Personalaufwand. Und eines muss jedem klar sein: Eine
technisch hochgerüstete Verwaltung ist nicht zwangsläufig eine bürgernähere Verwaltung.
Die Linke begrüßt Projekte, die zu einer größeren
Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an politischen Prozessen beitragen. Der Schlüssel zu mehr direkter Demokratie liegt in einer größeren Transparenz
der politischen Prozesse und Verfahrensweisen sowie
des Verwaltungshandelns.
Schauen wir uns deshalb einmal an, wie Sie in § 12
Open Data regeln wollen:
Anstatt den Informationszugang zu erleichtern, indem die auf verschiedene Gesetze aufgeteilten Regelungen zum Informationszugang einheitlich gestaltet
und erweitert werden, verharren Sie im Unverbindlichen. Eine Verknüpfung von Open Data mit einem
Rechtsanspruch der Bürgerinnen und Bürger auf Informationszugang wird von Ihnen peinlich vermieden.
Eine Veröffentlichungspflicht ist offensichtlich in Ihren
Augen das Schlimmste, was einer deutschen Behörde
passieren könnte. Dass Verwaltungsdaten nicht so heißen, weil sie der Verwaltung gehören, sondern weil
diese sie verwaltet, hat sich noch nicht bis zu Ihnen
rumgesprochen. Allen Sonntagsreden von Transparenz
und Offenheit zum Trotz befinden Sie sich mental eher
in einem Rollback, bei dem einer neugierigen Öffentlichkeit die Rechte beschnitten und nicht erweitert
werden sollen. Erst gestern musste Ihnen das Bundesverwaltungsgericht erklären, dass die Verfassung auch
Bundesbehörden nicht von Auskunftsersuchen der
Presse ausnimmt. Dass Sie sich aber überhaupt auf
den Standpunkt stellen, Bundesbehörden seien gegenüber der Öffentlichkeit nicht zur Transparenz verpflichtet, zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, bis
bei Bund und Behörden endlich der Geist der Freiheit
das obrigkeitsstaatliche Denken aus den Amtsstuben
vertreibt!
Auch GovData, dem Open-Data-Vorzeigeprojekt
der Bundesregierung, das schon 2010 auf dem IT-Gipfel in Dresden angekündigt wurde, strich man konsequenterweise das „Open“ aus dem Namen. Eine Veröffentlichungspflicht besteht, wie gesagt, nirgends.
Behörden und Verwaltungen bleibt es überlassen, ob
und welches Datenmaterial sie öffentlich zur Verfügung stellen. Und wenn sie Daten zur Verfügung stelZu Protokoll gegebene Reden
len, dann dürfen die Bürgerinnen und Bürger diese nur
eingeschränkt weiterverwenden. Das hat mit Open
Data nichts zu tun, mit Transparenz auch nicht. Und es
schafft vor allem Rechtsunsicherheit.
Und statt jetzt einmal mehr par Ordre du Mufti zahlreiche Behörden und Verwaltungen zur Einführung
von Verfahren zu zwingen, deren Kosten nicht bezifferbar und deren Nutzen unbelegt ist, sollte man lieber
gezielte Pilotprojekte in einzelnen Bereichen durchführen. Wenn sie sich dort bewähren, könnte man sie in
anderen Bereichen einführen. Falls nicht, könnte man
zur Abwechslung einmal aus den Fehlern lernen. Das
erscheint mir jedenfalls sinnvoller, als jetzt Vorschriften zu machen, die noch in 30 Jahren gültig sein sollen,
was angesichts der technischen Entwicklung vollkommen illusorisch ist.
Um zum Schluss zu kommen: Viel deutet auf Ihre
nächste Investitionsruine hin. Dem können wir auch
kurz vor dem Ende der Legislatur nicht einfach zustimmen.
Eine Bundesregierung, die in diesen IT-revolutionären Zeiten so storchbeinig und langsam wie bei GovData voranschreitet, hat ein Problem. Zu Recht sind
die Freundinnen und Freunde von Open Data sauer,
dass die vormals als „opendata“ geplante Plattform
nur „GovData“ heißt. Und verständlicherweise ärgern sie sich, dass die eingestellten Daten nicht beliebig verwendbar sein werden, weil kein allgemeines
Lizenzierungssystem geschaffen wurde. Meine These
lautet, der Namenswechsel bei diesem wichtigen OpenGovernment-Projekt ist nicht zufällig, sondern klares
Zeichen für die problematische Gesamthaltung der
Bundesregierung in diesem Politikfeld. Sie markiert
damit, insoweit durchaus offen, ihre Prioritäten. Ihr
geht es eben um die schlichte Effektivierung von Abläufen, wo es uns um eine neue Verwaltungskultur und
die Geltung der Grundrechte geht. Und deshalb liegt
uns heute auch kein Entwurf für ein Open-Government-Gesetz vor, sondern eben nur ein E-GovernmentGesetz.
Doch nirgendwo scheinen Anspruch, durchaus auch
legitime Erwartungen der Akteure und die Wirklichkeit
weiter auseinanderzulaufen als beim E-Government
des Bundes. Viel Zeit ist verstrichen, doch die Bundesverwaltung scheint elektronisch weiter der Zeit hinterherzuhinken. Das ergibt selbst ein nur flüchtiger Vergleich mit anderen europäischen Staaten. Doch wollen
wir es uns mit einer solch kritischen Einschätzung
nicht zu leicht machen. Die Umstellung der Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen stellt ein
Riesenprojekt dar. Akzeptanzprobleme bei der Verwaltung, hierarchiegeprägte Selbstwahrnehmungen, wenig
ressortübergreifendes Verständnis, mangelnde Übung
und Bereitschaft zur Kooperation und viele andere
Faktoren wirken zusammen.
Und natürlich hängt die zögerliche Entwicklung
auch mit den Abstimmungserfordernissen der föderalen Struktur zusammen. Der Bundesrat hat deutlich
kritisch Stellung bezogen. Schon die Anforderung einer Harmonisierung der E-Justice-Initiative des Bundesrates mit dem heute vorgelegten Entwurf dürfte erhebliche Probleme bereiten. Die Zukunft des uns heute
vorgelegten Gesetzentwurfs kann deshalb als durchaus
unsicher bezeichnet werden, sollte die Bundesregierung sich nicht noch ganz erheblich bewegen.
Um deshalb eines vorneweg klarzustellen: Über die
Notwendigkeit der Transformation unserer Verwaltungen in das 21. Jahrhundert der Informations- und Kommunikationstechnologien kann es keinen Streit geben.
Nur eine entsprechend modernisierte Bürokratie wird
zukünftig genauso effektiv in der Lage sein, ihren gemeinwohlbezogenen Aufgaben nachzukommen. Doch
sollte ebenfalls die Suggestion vermieden werden, die
Technologie ziehe alles Weitere schon von selbst nach
sich. Eine entsprechende digitale Verwaltungskultur
benötigt weitere, oft zeitaufwendige Schritte. Die betroffenen Beschäftigten müssen mitgenommen werden.
Ein Beispiel hierfür stellen die Informationsfreiheitsgesetze dar, die weiterhin auf zum Teil erhebliche Widerstände aus den Verwaltungen selbst stoßen.
Aus grüner Sicht bedeutet E-Government nicht
mehr und nicht weniger als eine mit technischen Mitteln unterstützte Weiterentwicklung des Staates und
der Verwaltung hin zu mehr Offenheit und Transparenz, aber auch und zugleich hin zu mehr Datenschutz
und Datensicherheit. Wir wollen Open Government,
und zwar ohne die Schaffung neuer Hindernisse oder
gar Nachteile.
Barrierefreiheit und das Multikanalprinzip zugunsten derjenigen, die nicht online gehen wollen oder können, sind deshalb für uns selbstverständlich. Doch es
geht nicht nur um den Umgang mit Daten und Informationen. Die Informationstechnologie zeigt Möglichkeiten der Partizipation, der Beteiligung von Bürgerinnen
und Bürgern auf, mit denen nicht nur die Akzeptanz,
sondern auch die inhaltliche Richtigkeit von Entscheidungsprozessen verbessert und tragfähig gemacht werden kann.
Und schließlich: Die Anforderungen an die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit der Verwaltung durch die
Bürgerinnen und Bürger haben sich grundlegend verändert. Hier besteht eine Chance für die Verwaltung,
ihr staubiges Image abzulegen und Bürgerfreundlichkeit lebendig werden zu lassen. Zugleich geht es um
ernstzunehmende Verbesserungen, Einsparung von öffentlichen Geldern, aber auch von Lebenszeit - statt
des Wartens auf Godot in grauen, verrauchten Amtsstuben die Hoffnung auf rasche Abwicklung über das
Internet. Wer in der Wirtschaft wesentliche Abläufe,
Vertragsabschlüsse und laufende Kommunikationen
nahezu vollständig und abschließend online bewältigen kann, erwartet zu Recht vergleichbare Standards
von seiner Verwaltung. Doch kostet das nicht nur viel
Geld, sondern es müssen komplexe RahmenbedingunZu Protokoll gegebene Reden
gen der bestehenden Verwaltung, nicht zuletzt der
wichtige rechtsstaatliche Rahmen, entsprechend angepasst und umgestellt werden, und zwar so, dass die
Modernisierung nicht auf Kosten und zulasten der
Rechte der Bürgerinnen und Bürger geht.
Erlauben Sie mir, konkret zum vorgelegten Gesetzentwurf und aus der langen Reihe der damit aufgeworfenen Probleme einige für uns Grüne zentrale Probleme herauszugreifen. Im Kern geht es um gesetzliche
Vorgaben zur Ermöglichung eines Zugangs zur öffentlichen Verwaltung. Ganz konkret sind nach dem Multikanalprinzip mehrere Zugänge gleichzeitig zu eröffnen, aber auch die Übermittlung von Dokumenten
muss ermöglicht werden, De-Mail-Dienste sind anzubieten, und die Nutzung des neuen Personalausweises
und seiner Funktionalitäten ist zu akzeptieren. Die Behörden haben über sich im Web zu informieren, die in
Verwaltungsverfahren zu erbringenden Nachweise
müssen auch elektronisch erbracht werden können,
und für die Bundesverwaltung wird die elektronische
Aktenführung dem Grundsatz nach zum Standard. All
das ist zu begrüßen, bringt für die Bürgerinnen und
Bürger Erleichterungen und bedeutet einen wichtigen
ersten Schritt.
In seinem Anwendungsbereich eher weit gehalten,
wird nicht nur die Bundesverwaltung erfasst, sondern
werden auch Behörden der Länder erfasst, soweit diese
Bundesrecht als eigene Angelegenheit oder im Auftrag
des Bundes ausführen. Hier wird es schwierig: Es erscheint durchaus offen, in welchem Verhältnis kollidierende Länderbestimmungen, etwa das in SchleswigHolstein bestehende E-Government-Gesetz, zum heute
vorgelegten Entwurf stehen.
Wie bereits betont, teilen wir das Grundanliegen des
Entwurfs. Wir respektieren und anerkennen die außerordentlich aufwendigen Vorarbeiten für dieses Großvorhaben. Im Gegensatz zur Bundesregierung bezweifeln wir allerdings, dass der Entwurf sich durch einen
ganzheitlichen Ansatz auszeichnet. Vielmehr kommen
zentrale Ziele des legislativen Umgangs mit E-Government, darunter der Datenschutz, aber auch Open Data,
Open Source und Informationsfreiheit, im Gesetz selbst
zu kurz. Hier wurde die Chance vertan, die engen
Verbindungen und Überschneidungen der Themen im
E-Government aufzuzeigen und mit einem integrativen
Ansatz ein bürgerfreundliches Gesetz zu schreiben.
Stattdessen scheint die Bundesregierung peinlich
genau den Eindruck vermeiden zu wollen, diese Themen hätten im engeren Sinne etwas miteinander zu tun.
Das zeigt sich schon an den Überschriften. Da heißt es
„Akteneinsicht“ statt „Informationsfreiheit“ oder
„Bereitstellen von Daten“ statt „Open Data“. Und
auch was sich dahinter jeweils verbirgt, ist nicht
akzeptabel. In der betreffenden Vorschrift zur Akteneinsicht werden ausschließlich die Wege der Einsichtsgewährung aufgezählt. Da aber im Informationsfreiheitsgesetz ein durchaus voraussetzungsloser Anspruch der
Bürger statuiert wird, bei dem auch die Wahl der Art
des Zugangs freigestellt wird, entsteht hier unnötige
Unklarheit.
Noch misslicher erscheint die Fassung zum Bereitstellen von Daten in § 12 des Entwurfs: Einerseits wird
die Maschinenlesbarkeit bei der Bereitstellung von
Daten zum Grundsatz erhoben. Andererseits wird
gleich eingeschränkt, dass es sich dabei nur um kommerziell interessante Daten handeln dürfe. Nicht geregelt wird, ob überhaupt und in welchem Umfang Daten
in öffentlich zugänglichen Netzen zur Verfügung zu
stellen sind. Überhaupt wird jede Konkretisierung auf
den Verordnungsweg verwiesen - mit der Folge, dass
hier die Chance zur Schaffung von einheitlichen Standards auch bei der wichtigen Frage der Lizenzierung
verpasst wird.
Aus der Sicht des Datenschutzes ist die fehlende Integration von konkretisierenden Bestimmungen nicht
nur misslich, sondern ein fachlicher Mangel des Gesetzes. Denn ohne einen hinreichend konkreten bereichsspezifisch ansetzenden Regelungsansatz entsteht
allenfalls neue Rechtsunsicherheit, es werden aber
nicht die aufgeworfenen Probleme gelöst. Eine der
drängendsten Fragen dabei lautet etwa, wie es mit der
Speicherung und dem elektronischen Austausch von
datenschutzrechtlich besonders sensitiven Daten - zum
Beispiel Steuer- und Gesundheitsdaten - steht. In keiner Weise wurde die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere das Urteil zur
Vorratsdatenspeicherung und zum Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer
Systeme, reflektiert. Die dort gemachten Vorgaben besonders zur Datensicherheit betreffen eine in die rückkanalfähige Kommunikation voll einsteigende Verwaltung in hohem Maße. Der bislang vorliegende Entwurf
trifft jedoch keine differenzierenden Regelungen und
ist insoweit unzureichend.
Schließlich erlauben Sie mir noch wenige Worte zu
De-Mail und zum neuen Personalausweis. Wie Sie wissen, bin ich bei diesen IT-Großprojekten nach wie vor
skeptisch, ob sie überhaupt jemals die in sie gesetzten
Hoffnungen erfüllen werden. Und die bislang vorgelegten Zahlen und Entwicklungen stützen meine Bedenken. Viel zu wenige Bürgerinnen und Bürger nutzen die
mit dem Personalausweis unnötigerweise verbundenen
Funktionalitäten, weil es die Angebote schlicht nicht
gibt. Ob die öffentliche Verwaltung es rausreißen
kann - man wird sehen.
Bei der De-Mail aber ist die Zukunft noch unsicherer. Denn noch ist das Projekt immer noch nicht richtig
losgegangen. Und trotzdem wird De-Mail in diesem
Entwurf zum wichtigen Kanal des Zugangs zu Behörden gemacht. Sie steht damit gleichberechtigt neben
der qualifizierten digitalen Signatur, obwohl sie keine
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bieten kann. Es kann
aber keinen Zweifel geben, dass für bestimmte Verwaltungsverfahren genau dieser Sicherheitsstandard und
kein anderer zu fordern ist - Stichwort wieder: sensitive Daten. Bedauerlicherweise kann ich dem Gesetz
Zu Protokoll gegebene Reden
keine hinreichende Aufmerksamkeit für diese Problematik entnehmen.
Lassen Sie es mich vorsichtig so zusammenfassen:
Die IT-Strategie der Bundesregierung, insbesondere
die Trias aus De-Mail, neuem Personalausweis und
nun dem E-Government-Gesetz, soll aus Sicht der
Bundesregierung mehr Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger bringen. Doch kein einziges dieser Projekte ist je abgehoben; das ist schon ein wenig potemkinsch. Gleichzeitig verweigert sie weiterhin konsequent diese Sicherheit in Bezug auf den Datenschutz,
aber auch im Hinblick auf Vertrauen durch Transparenz. Hier fehlt es ganz offenkundig an einem ganzheitlichen Ansatz, wie es aus der Sache heraus erforderlich wäre. Deshalb kann uns der heute vorgelegte
Entwurf nicht überzeugen.
Eine Bestandsaufnahme bei Bund, Ländern und
Gemeinden zeigt, dass derzeit ein Flickenteppich an
E-Government-Angeboten entstanden ist, der hier und
da exzellente Lösungen enthält, insgesamt aber zu wenig die Bedürfnisse der Bürger und Unternehmen nach
verlässlichen Standards und auch das Bedürfnis der
Verwaltung nach Interoperabilität berücksichtigt.
In einer Zeit und einer Gesellschaft, in der die Informationstechnologien zunehmend alle Lebensbereiche durchdringen, kann und darf die Verwaltung nicht
länger außerhalb dieser Entwicklung stehen. Eine leistungsfähige Verwaltung ist auch eine Voraussetzung
für die Sicherung des Wirtschaftstandorts Deutschland. Wir vergeben uns enorme Chancen, wenn wir
jetzt nicht die Möglichkeiten der IT für die Verwaltung
nutzen.
E-Government bedeutet dabei nicht nur die Abwesenheit von Papier, sondern bietet die Möglichkeit,
Verwaltungsprozesse neu zu konzipieren und zu optimieren. Damit können erhebliche Ressourceneinsparungen verbunden sein.
E-Government ist ein Instrument, um die Verwaltung bürgerfreundlicher und gleichzeitig kostengünstiger zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger erhalten
durch das E-Government-Gesetz einen besseren
Service. Damit werden durchgängig medienbruchfreie
elektronische Verwaltungsverfahren orts- und zeitunabhängig angeboten. Auch die Wirtschaft und die
Verwaltung selbst werden von diesen Verfahren profitieren. Diesen Zielen ist das E-Government-Gesetz
verpflichtet.
Mit dem E-Government-Gesetz stellen wir zusätzliche sichere technische Verfahren bereit, um die handschriftliche Unterschrift zu ersetzen. Dadurch wird es
möglich, fast alle Verwaltungsverfahren auch online
abwickeln zu können. Die qualifizierte Signatur hat
sich als zu kompliziert herausgestellt. Es wird durch
das E-Government-Gesetz beispielsweise möglich, auf
der Internetseite einer Verwaltung mit dem elektronischen Personalausweis Anträge zu stellen, und dies
auch in den Fällen, in denen ein Gesetz Schriftform,
das heißt eigentlich eine eigenhändige Unterschrift
vorsieht.
Weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist die
Implementierung von sogenannten Motornormen, die
ebenenübergreifend den Ausbau von E-GovernmentLösungen fördern. Als Mindestanforderungen werden
der elektronische Zugang zur Verwaltung, elektronisch
abrufbare Behördeninformationen, elektronische Bezahlsysteme, elektronische Nachweise, die Nutzung
elektronischer Formulare und elektronische Publikationen auf den Weg gebracht. Für die Bundesbehörden
schreiben wir die elektronische Aktenführung und die
Nutzung von elektronischer Identifikation und De-Mail
fest.
Dem Gesetzentwurf ist eine intensive Abstimmung
und Beratung mit Vertretern der Verbände, der Wirtschaft und der Länder vorangegangen, und das jetzt
vorliegende Ergebnis wird nicht nur von allen Seiten
mitgetragen, nein, es wird gefordert, dass das Gesetz
jetzt zügig kommt.
Wir befinden uns auf der Zielgeraden dieser Legislaturperiode und haben jetzt die Chance, diesem für
die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Wirtschaft
unseres Landes so wichtigen Vorhaben zur Geltung zu
verhelfen.
Die bereits jetzt aufgewendeten IT-Ausgaben von
Bund und Ländern können gebündelt, kanalisiert und
Synergieeffekte besser genutzt werden.
Das E-Government-Gesetz stellt auch einen wichtigen Beitrag zur Demografiestrategie der Bundesregierung dar. Wir wissen, wenn wir mit einer schrumpfenden Bevölkerungsanzahl und älteren Bevölkerung
unsere Wirtschaftskraft und unseren Wohlstand halten
wollen, benötigen wir Innovationen. Das schließt auch
Innovationen in der Verwaltung ein.
Vom Fachkräftemangel wird zunehmend auch die
Verwaltung betroffen sein. In ländlichen Regionen wird
es immer schwieriger werden, die Präsenz der Verwaltung in der Fläche aufrechtzuerhalten. Zur Erbringung
von Verwaltungsdienstleistungen in hoher Qualität benötigen wir deshalb E-Government-Anwendungen, zum
Beispiel, um mobile Bürgerbüros möglich zu machen.
Nutzen wir die breite gesellschaftliche Unterstützung für das Thema E-Government und nehmen wir
die Forderungen aus der Wirtschaft ernst; zeigen wir,
dass wir verstanden haben, dass Verwaltung sich an
den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientieren und die Bedarfslagen der Wirtschaft berücksichtigen muss. Bekennen wir uns jetzt gemeinsam zu dieser
Verantwortung und legen wir mit dem E-GovernmentGesetz den Grundstein für einen Transformationsprozess.
Der Gesetzentwurf zeigt einen Weg auf, wie sich die
Verwaltung von morgen oder übermorgen vor dem
Hintergrund des demografischen Wandels und des
Zu Protokoll gegebene Reden
anhaltenden Strukturwandels zur digitalen Welt entwickeln soll. Das E-Government-Gesetz schafft auf allen
Ebenen die Möglichkeit, Verwaltung neu zu denken
und zu organisieren. Investitionen in E-Government
sind dabei Investitionen in die Zukunft - je früher,
desto besser.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11473 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 32:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi
von 2007 über die Beseitigung von Wracks
- Drucksache 17/12343 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) -
Rechtsausschuss
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben.1) - Sie sind damit einverstanden.
Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/12343 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Es gibt dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann haben wir so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({1}), Marco Wanderwitz, Johannes
Selle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia
Winterstein, Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner
Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Originäre Kinderfilme aus Deutschland stärker fördern
- Drucksache 17/12381 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
Vorgeschlagen ist, die Reden zu Protokoll zu ge-
ben.2) - Sie sind einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12381 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir so beschlossen.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({3})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Februar 2013,
9 Uhr, ein.
({4})
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen heiteren Abend und eine gute Nachtruhe.
({5})