Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer 219. Sitzung.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Aktuelle Situation in Mali
({1})
ZP 2 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11820 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 17/12174 Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDr. Eva HöglJoachim SpatzAndrej HunkoJerzy Montag
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Dr. Frithjof
Schmidt, Kerstin Müller ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksachen 17/11033, 17/11451 Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderJohannes PflugBijan Djir-SaraiJan van AkenDr. Frithjof Schmidt
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({5}) zu dem Gesetz zur Durchführung
der Internationalen Gesundheitsvorschriften
({6}) und zur Änderung weiterer Gesetze
- Drucksachen 17/7576, 17/8615, 17/8871,
17/12170 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten
Drohnen
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({7}), Ingrid Hönlinger, Kerstin Andreae,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes
- Drucksache 17/11686 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({8})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Erfolgsbezugs im Gerichtsvollzieherkostenrecht
- Drucksache 17/5313 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Josef Philip Winkler, Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kostenrechtsmodernisierung bei Vertretung in
Asylverfahren und Übersetzungsleistungen
nachbessern
- Drucksache 17/12173 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({9}), Dr. Edgar Franke,
Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Überlebenshilfe in der Drogenpolitik - Situation der Substitution von Opiatabhängigen
verbessern und Substitutionsbehandlung im
Strafvollzug gewährleisten
- Drucksache 17/12181 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({10})-
Rechtsausschuss
ZP 10 a)Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimit-
teln - Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/12183 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln - Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/12184 ({11}) Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Des Weiteren werden die Tagesordnungspunkte 8, 22,
33 und 40 g abgesetzt.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Hier geht es um die Reihenfolge der Behandlung der
vorgesehenen Tagesordnungspunkte.
Ich frage Sie, ob Sie mit den vorgeschlagenen Veränderungen einverstanden sind? - Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({12}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({13}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({14}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
2069 ({15}) vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/11685, 17/12096 Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Georg WellmannJohannes PflugDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeDr. Frithjof Schmidt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({16})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/12097 Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian Kindler
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({17})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschließen heute erneut über die Fortsetzung
eines der längsten und anspruchsvollsten Einsätze der
Bundeswehr. Ich möchte diese Gelegenheit nicht nur
dazu nutzen, den Soldatinnen und Soldaten zu danken,
die in einer hervorragenden Art und Weise diesen Einsatz gemeistert haben, sondern ich möchte an dieser
Stelle ausdrücklich auch der militärischen Führung der
Bundeswehr dafür danken, dass sie unsere Soldatinnen
und Soldaten in schwierigen Zeiten durch die Klippen
und Herausforderungen eines schwierigen Einsatzes manövriert hat. Wir sollten diesen Tag ebenfalls zum Anlass nehmen, derjenigen zu gedenken, die in diesem Einsatz gefallen sind. In diesem Einsatz hat die Bundeswehr
zum ersten Mal seit langem wieder tote Soldaten zu tragen. Es gibt viele verwundete Soldatinnen und Soldaten.
An dieser Stelle sollten wir alle in diesem Parlament der
Soldaten, die verwundet sind, insbesondere auch der Familienangehörigen, gedenken.
({0})
Wir werden mit diesem Mandat unsere Soldatinnen
und Soldaten in einen der schwierigsten Einsätze dieser
Jahre senden. Wir müssen zum einen die Rückverlegung
unserer eigenen Truppen vorbereiten, um diese heil und
gesund zurückzubringen, zum anderen sind wir als Führungsnation im Norden des Landes Anlehnungspartner
für andere Nationen. Unsere Soldatinnen und Soldaten
müssen in diesem schwierigen Jahr, in dem die Vorbereitungen für ein wichtiges politisches Ereignis in Afghanistan, nämlich die Präsidentschaftswahlen im Jahr
2014, anstehen, also einerseits ihren Auftrag im Rahmen
von ISAF erfüllen, aber andererseits auch dafür sorgen,
dass eine möglichst gefahrlose Rückverlegung stattfindet.
Es ist aber nicht alleine Aufgabe der Bundeswehr, in
Afghanistan dafür zu sorgen, dass eine stabile Nation
hinterlassen wird. Wir werden in den nächsten Monaten
gemeinsam mit unseren Partnern gefordert sein, eine
politische Lösung für dieses Land zu finden, die trägt,
die die unterschiedlichen Ethnien mit einbezieht und die
dieses Land vor allen Dingen in die Lage versetzt, endlich seine Souveränität zu erlangen. Es wird also in hohem Maße auch darauf ankommen, die Nachbarstaaten
Afghanistans, die bereits heute in Erwartung, aber auch
mit Besorgnis auf die Lage nach 2014 schauen, so weit
einzubinden, dass die afghanischen Menschen - das war
auch einer der wesentlichen Gründe, warum wir uns militärisch, außenpolitisch und mit den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit in diesem Land eingesetzt
haben - ihr Leben in Frieden und in Sicherheit leben
können. Das muss für uns alle weiterhin ein Ansporn
sein, das Richtige zu tun und den Männern und Frauen,
die dieser Aufgabe verpflichtet sind, die notwendige
politische Rückendeckung zu verschaffen.
Ich möchte an dieser Stelle einen letzten Satz sagen.
Für unser Land besteht an keiner Stelle auch nur der geringste Anlass, sich gegenüber anderen Nationen als ein
Land zu fühlen, das nicht genug tut. Wir haben in Afghanistan mit Tausenden von Soldaten - da gab es Opfer
und Verwundete -, mit viel Geld und viel Herzblut dafür
gesorgt, dass wir unserer Aufgabe in der Weltpolitik gerecht werden. Wann immer jemand der Meinung ist, dieses Land würde zu wenig tun: Treten Sie dem entgegen!
Denn das ist falsch.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Rebmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit wir vor über einem Jahrzehnt die schwierige Entscheidung getroffen haben, uns am ISAF-Einsatz
in Afghanistan zu beteiligen, tragen wir eine besondere
Verantwortung - eine besondere Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan
im Einsatz sind, gegenüber den internationalen Helferinnen und Helfern und besonders gegenüber den Menschen in Afghanistan.
Angesichts der Situation in Afghanistan müssen wir
unser Engagement vor Ort kritisch betrachten und bewerten. In den vergangenen zehn, elf Jahren gab es zahlreiche Rückschläge, es gab aber auch Fortschritte. Wir
haben Fortschritte bei der Energie- und Wasserversorgung und bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Und für
rund 3,5 Millionen Menschen wurde der Zugang zur
Gesundheitsversorgung verbessert. Ein afghanisches
Sprichwort sagt: Ein Mensch ohne Bildung ist wie ein
Baum ohne Frucht - ein kluges Sprichwort, wie ich
meine; denn Bildung und der Zugang zu Bildung sind
enorm wichtig für die Entwicklung einer Gesellschaft.
Deshalb ist es gut, dass heute mehr als 7 Millionen
Kinder zur Schule gehen, 2,7 Millionen davon sind
Mädchen. Seit 2009 sind mit deutscher Hilfe über
93 000 Lehrkräfte aus- und fortgebildet worden. Das
sind alles Fortschritte, die erzielt wurden, und die sollten
wir nicht kleinreden.
Aber wir dürfen auch nicht verkennen, dass es nach
wie vor gravierende Defizite gibt, dass sich die Gesundheitsversorgung und der Bildungsbereich insgesamt,
auch von der Qualität her, auf einem sehr niedrigen Niveau bewegen, dass nach wie vor viele Mädchen vom
Schulbesuch ausgeschlossen werden, dass es Kinder
gibt, die die Schule verlassen, ohne lesen und schreiben
zu können, und es in ganzen Regionen keine Schule und
keine Krankenstation gibt. Deshalb müssen wir die verbleibenden zwei Jahre gemeinsam mit den Afghanen
nutzen, um die Weichen für eine bessere Zukunft in
Afghanistan zu stellen.
({0})
Es gibt vieles, sehr vieles, was noch unerreicht ist:
Die Regierung und die Verwaltung müssen ihre Kapazi27072
täten ausbauen. Wir brauchen gute Regierungsführung.
Wir brauchen die Bekämpfung der Korruption. Wir
brauchen den Aufbau einer Rechtsstaatlichkeit, die diesen Namen auch verdient. Wir brauchen die Achtung der
Menschenrechte und den Aufbau funktionierender, legitimer staatlicher Institutionen. Die wirtschaftliche und
die soziale Infrastruktur, die medizinische Versorgung
und der Zugang zu Wasser und Energie müssen weiter
ausgebaut werden. Und: Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 und 2015, die nach demokratischen
Standards verlaufen sollen, sind eine Herausforderung,
die erst noch bewältigt werden muss.
Das alles sind Schlüsselbereiche, die für die weitere
Entwicklung des Landes und für das Vertrauen der Menschen in die eigene Regierung von enormer Bedeutung
sind. Dabei braucht Afghanistan unsere Unterstützung
und die klare Zusage und Botschaft: Wir ziehen uns
nicht aus der Verantwortung zurück. Wir lassen Afghanistan und die Menschen nicht allein. Menschenrechte,
Kinderrechte und vor allen Dingen auch Frauenrechte
sind für uns nicht verhandelbar.
({1})
Im vergangenen Jahr sind zwei Leiterinnen einer örtlichen Frauenbehörde bei gezielten Anschlägen ums Leben gekommen. Dieses und viele weitere Beispiele
zeigen: Frauen und deren Rechte, auch wenn sie mittlerweile in der Verfassung stehen, sind noch lange nicht
ausreichend geschützt. Tief in der Gesellschaft verankerte Wertvorstellungen, aber auch der pure Unwille in
so mancher Behörde begünstigen und lassen Gewalt gegen Frauen zu. Das können und werden wir niemals akzeptieren.
({2})
Die Sorge ist groß, dass mit dem Abzug der Truppen
auch viele soziale Errungenschaften zunichte gemacht
werden. Die wachsende Unsicherheit und Nervosität der
afghanischen Zivilgesellschaft, der internationalen Helfer und der afghanischen Partner machen deutlich: Ein
weiteres verlässliches Engagement von deutscher und
internationaler Seite über 2014 hinaus ist absolut notwendig. Uns Entwicklungspolitikern liegt sehr an einem
gemeinsam erarbeiteten Konzept für die Unterstützung
einer nachhaltigen, sozialen, wirtschaftlichen und friedlichen Entwicklung Afghanistans. Deshalb ist es absolut
notwendig, dass die Entwicklungspolitik, die Entwicklungszusammenarbeit in den Vordergrund rückt und die
verschiedenen Ressorts - Außen- und Verteidigungspolitik, Inneres, Entwicklungspolitik und Menschenrechtspolitik - zusammenarbeiten, um eine umfassende und
kohärente Strategie für Afghanistan zu entwickeln.
Herzlichen Dank.
({3})
Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Strategiewechsel vor bald drei Jahren können
wir nun den konkreten Abzug unserer ISAF-Soldaten ins
Auge fassen. Das Mandat sieht eine Absenkung der
Obergrenze um 500 Soldatinnen und Soldaten auf 4 400
vor. Ab Mitte 2013 sollen afghanische Kräfte die Hauptverantwortung für die Sicherheit im Land übernehmen.
Das müssen wir abwarten. Unter der Voraussetzung,
dass sich die Sicherheitslage weiter positiv entwickelt
und keine Gefahr für unsere Soldaten entsteht, werden
Anfang 2014 weitere 1 100 Soldatinnen und Soldaten
nach Hause kommen.
Für die CDU/CSU gebietet es der Respekt vor der
Leistung unserer Soldatinnen und Soldaten, dass ihr
Dienst in Afghanistan die Wertschätzung erfährt, die der
Einsatz von Leib und Leben für die Sicherheit Deutschlands verdient, auch und gerade über das Ende des
ISAF-Einsatzes hinaus. Ihre Anerkennung als Veteranen
ist deshalb so bedeutsam. Wir danken Verteidigungsminister de Maizière, dass er hier Klarheit geschaffen hat.
({0})
Selbstverständlich richtet sich unser Dank auch an die
zivilen Helferinnen und Helfer in Afghanistan. Wir können die weitere Reduzierung unseres ISAF-Kontingents
verantworten, weil selbsttragende afghanische Sicherheitsstrukturen Gestalt annehmen. Der Transformationsprozess verläuft planmäßig. Schon jetzt tragen in 76 Prozent der Fläche Afghanistans afghanische Kräfte die
Hauptverantwortung für die Sicherheitslage, in unserem
Einsatzgebiet in vier von fünf Distrikten.
Die von Deutschland mit Nachdruck betriebene Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte hat die schrittweise Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch
afghanische Kräfte entscheidend mit ermöglicht. Die afghanischen Kräfte werden aber auch über 2014 hinaus
Ausbildung, Beratung und Unterstützung brauchen. Wir
werden uns nach dem Aufwuchs der afghanischen
Kräfte insbesondere um ihr Fähigkeitsprofil kümmern
müssen. Zu diesem Zweck plant die NATO eine Folgemission auf Grundlage eines neuen UN-Mandates. Die
schwer erarbeitete Sicherheit des Landes und die Selbstständigkeit der afghanischen Kräfte müssen konsolidiert
werden. Die CDU/CSU unterstützt deshalb die Planungen für eine neue Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission nach 2014.
Die Reduzierung unseres Bundeswehrkontingents
birgt aber auch Herausforderungen. Der ISAF-Auftrag,
also Stabilisierung und Ausbildung, muss fortgeführt
werden. Gleichzeitig läuft die Rückverlegung von Material und Personal. Zudem muss die internationale Nachfolgemission zur kontinuierlichen Ausbildung und Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte vorbereitet
werden. Aufgrund dieses breiten Aufgabenspektrums bis
zum Ende der Mission muss die militärische Handlungsfähigkeit bis Ende 2014 gewährleistet bleiben, um den
Schutz unserer Soldaten nicht zu gefährden. Das ist für
die CDU/CSU zentral, und das ist im Mandat sichergestellt.
Auch nach dem Ende des ISAF-Einsatzes bleiben wir
den Menschen in Afghanistan verpflichtet. Die Transformation eines der ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder der Welt ist eine Generationenaufgabe. Unser
Engagement wird sich qualitativ verändern, aber es ist
und bleibt langfristig und wird sich in der Transformationsdekade von 2014 bis 2024 noch mehr auf die zivile
Hilfe konzentrieren. Ohne weitere Entwicklung wird es
keine dauerhafte selbsttragende Sicherheit in Afghanistan geben.
Verpflichtet fühlen wir uns auch den afghanischen
Ortskräften, die viele Jahre einen guten Dienst für unser
Engagement geleistet haben. Es ist richtig, dass die Bundesregierung gewissenhaft prüft, ob sie nach dem Ende
ihrer Arbeit für die internationale Gemeinschaft unvertretbar bedroht sind und deshalb zu ihrem Schutz nach
Deutschland kommen können.
({1})
Die Bundeswehr setzt seit einiger Zeit in Afghanistan
von Israel geleaste Drohnen zur Aufklärung ein. Der
Vertrag mit Israel läuft 2014 aus. Lieber Herr Kollege
Arnold, Sie haben völlig recht, wenn Sie wörtlich sagen:
Die Zukunft gehört der Drohnentechnologie. - Deshalb
halte ich die Anschaffung eines eigenen Systems von
Drohnen für die Bundeswehr, das beispielsweise mit
Frankreich und anderen europäischen Partnern entwickelt wird, für richtig und notwendig,
({2})
und zwar nicht nur Aufklärungs-, sondern auch bewaffnete Drohnen.
({3})
Aber ich sage auch: Die technologische Möglichkeit
des Einsatzes von Drohnen wird erhebliche Veränderungen für unsere Sicherheitspolitik bedeuten. Ich will nur
drei Beispiele nennen:
Erstens. Wenn wir in einer spezifischen Situation abschrecken wollen, allerdings keine Kampftruppen oder
Kampfflugzeuge einsetzen, aber dennoch auch aus eigenem Sicherheitsinteresse unsere Partner mit eigenen militärischen Beiträgen unterstützen wollen, wären bewaffnete Drogen,
({4})
wären bewaffnete Drohnen eine neue Option.
({5})
- Das Thema ist zu ernst, Herr Kollege Trittin, als dass
Sie es in der Ihnen bekannten Art hier abtun sollten.
({6})
Zweitens. Wenn der Kollege Arnold sagt, am liebsten
wäre es ihm, wenn es eine gemeinsam verfügbare europäische Fähigkeit bei Drohnen gäbe, dann stellt sich für
unsere Partner sehr schnell die Frage nach der Verfügbarkeit und der politischen Verlässlichkeit und damit
auch die Frage nach den Auswirkungen auf die Beteiligung des Deutschen Bundestages.
({7})
Drittens. Ich nehme die moralischen Bedenken, die
insbesondere von kirchlichen Vertretern geäußert werden, sehr ernst;
({8})
auch sie gehören in eine Sicherheitsdiskussion, die wir
führen müssen. Aber nicht akzeptabel ist, dass zu neuen
militärischen Optionen, die es im Übrigen künftig in allen großen Armeen geben wird, gleich grundsätzlich
Nein gesagt wird, ohne dass eine sicherheitspolitische
Diskussion geführt wird.
({9})
Denn das Argument von Verteidigungsminister de
Maizière wiegt schwer. Er sagt:
Unbemannte, bewaffnete Luftfahrzeuge unterscheiden sich in der Wirkung nicht von bemannten. Immer entscheidet ein Mensch …
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Beispiel in
der Diskussion über Drohnen zeigt erneut: Wir brauchen
eine regelmäßige Generaldebatte zur sicherheitspolitischen Lage Deutschlands.
({11})
Eine solche Debatte kann und soll unsere Debatten über
die jeweiligen Mandate nicht ersetzen.
({12})
Aber sie gäbe uns die Möglichkeit, über Mandatsfragen
hinausgehende sicherheitspolitische Aspekte grundsätzlich zu debattieren. Hier besteht großer Bedarf.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort erhält der Kollege Paul Schäfer, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke
lehnt die Fortsetzung des Militäreinsatzes in Afghanistan
ab.
({0})
Diese Regierung redet inzwischen gern vom Abzug,
handelt aber nicht konsequent in diesem Sinne. Sie zögert und zaudert; der vorliegende Antrag bestätigt das.
Gerade einmal 25 Prozent des jetzigen Kontingents sollen das Land am Hindukusch bis Anfang 2014 verlassen
haben, und das nur, wenn die Bedingungen es zulassen.
Zugleich werden mal eben neue Kampfhubschrauber
nach Afghanistan verlegt. Ein wirklicher Truppenabzug
sieht anders aus.
({1})
Nötig wäre es, die Bundeswehr vollständig, so rasch
wie möglich, ohne Vorbedingungen und ohne eine Hintertür zur Fortsetzung des Krieges zurückzuholen. Das
müsste gemacht werden.
({2})
Meine Damen und Herren, noch schlimmer als der
zögerliche Abzug ist, dass die Vorbereitungen und Planungen für das Folgemandat nach 2014 längst im Gange
sind. Man darf eigentlich nicht „Folgemandat“ sagen; es
soll ja etwas ganz Neues werden. Beschwichtigend heißt
es in diesem Zusammenhang: Keine Kampfoperationen
mehr. - Ist ernsthaft damit zu rechnen,
({3})
dass jegliche militärisch-operative, logistische Unterstützung zur sogenannten Aufstandsbekämpfung eingestellt werden wird?
Bestenfalls im Kleingedruckten findet sich der Hinweis, dass die Operationen der US-Spezialkräfte gegen
die Terroristen weitergehen werden, also genau die
Kampfeinsätze an der afghanisch-pakistanischen Grenze
- Drohneneinsatz inklusive -, die das Völkerrecht unterlaufen, die neuen Hass erzeugen und die für das bisherige militärische Versagen stehen. Dieser Ansatz ist gescheitert und damit auch die NATO, die diese Politik
getragen hat. Warum also soll man in dieser Weise weitermachen?
({4})
Meine Damen und Herren, es ist Zeit für eine klare
Zäsur, für einen zivil geprägten Aufbauplan, den die Afghaninnen und Afghanen verantworten und bei dem die
Vereinten Nationen endlich an die erste Stelle gerückt
werden. Ja, Selbstbestimmung der Afghaninnen und Afghanen statt Fremdbestimmung, das ist ein zentraler
Punkt.
Nun kann man einwenden, gerade die Linke kritisiere
doch besonders scharf die inneren Verhältnisse in Afghanistan. Wie passt das zusammen? Richtig: Der jüngste
UNAMA-Bericht zeichnet ein düsteres Bild von der
Lage der Gefangenen in Afghanistan. Viele werden
misshandelt, ja gefoltert. Vorsichtig verallgemeinert: Es
steht in Afghanistan nicht allzu gut um die Menschenrechte, auch nicht um die Frauenrechte.
Oder lesen Sie die jüngsten Berichte des UNO-Büros
für die Koordination humanitärer Angelegenheiten oder
auch des Feinstein International Center. Beiden Quellen
zufolge hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan in
den letzten Jahren verschlechtert. Nur eine Zahl: Die
Anzahl der Menschen, die unter akuter Unterernährung
leiden, ist zwischen 2008 und 2011 noch einmal gestiegen. In den am meisten leidenden Regionen betraf das
31 Prozent der Bevölkerung. Auch die Zahl der Binnenflüchtlinge ist in diesem Zeitraum noch einmal gestiegen.
Last, not least: Korruption und Günstlingswirtschaft
prägen nach wie vor die politischen Institutionen und das
öffentliche Leben. Es ist der bis heute wirkende Fluch
der bösen Tat, dass man vor allem mit denjenigen paktiert hat, denen es um Machterhalt geht. Genau damit hat
man die Ursachen von Not und Rückständigkeit perpetuiert.
Trotz alledem setzen wir unsere Hoffnungen auf die
Afghaninnen und Afghanen; denn nur von innen heraus
wird eine nachhaltig-demokratische Entwicklung möglich sein.
({5})
Man kann und muss von außen helfen - aber bitte mit
den richtigen Konzepten. Gerade deshalb ist es so wichtig, scharf zu analysieren und zu kritisieren, was alles
falsch gelaufen ist. Aber ich füge auch eines hinzu: Die
Ausgangslage heute - es gibt erste Verhandlungsansätze,
Wahlen stehen bevor, und der Truppenabzug ist zumindest eingeleitet worden - bietet durchaus Chancen, die
Dinge zum Besseren zu wenden.
Was die Bundesregierung jetzt tun könnte, tun
müsste, ist erstens energisch mithelfen, dass noch vor
den Wahlen 2014/2015 eine Verhandlungslösung erreicht wird. Ein konsequenter Truppenabzug der NATO
ist dabei ebenso eine Conditio sine qua non wie eine Beendigung der Militäraktionen unter Enduring Freedom.
Zweitens muss sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die Federführung der auswärtigen Hilfe beim
Friedens- und Aufbauprozess nicht nur formal, sondern
auch materiell unter das Dach der UNO gebracht wird.
({6})
Die Vergangenheit hat gezeigt: Zu viele Köche verderben den Brei.
Paul Schäfer ({7})
Drittens sollte die Bundesregierung ratgebend und
nicht bevormundend auf die Karzai-Regierung einwirken, damit diese versucht, alle gesellschaftlichen und
politischen Kräfte des Landes an einen Tisch zu bringen.
Ein alle einschließender Friedensplan wird nur gelingen,
wenn ein demokratischeres Wahlrecht und eine Verfassungsreform, die den Menschen auf lokaler Ebene mehr
Mitwirkungsrechte gibt, vereinbart werden. Das könnte
die Basis dafür sein, den bewaffneten Konflikt in einen
politischen zu transformieren. Und dieser politische Prozess ist entscheidend - nicht das Militär - bei der Frage,
ob Afghanistan wieder im Chaos versinkt oder ob es mit
dem Land vorwärtsgeht.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Frithjof Schmidt ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
internationale Gemeinschaft hat sich seit der Londoner
Konferenz Anfang 2010 mehrfach dazu bekannt, den
ISAF-Einsatz in Afghanistan bis Dezember 2014 zu beenden und die Kampftruppen abzuziehen.
Meine Fraktion hat diese Linie unterstützt. Es war
und ist richtig, den Abzug im Geleitzug mit unseren
Partnern schrittweise umzusetzen. Deshalb haben wir
uns deutlich gegen alle Forderungen nach einem schnelleren Abzug gewandt. Da gab es einen Konsens mit den
Regierungsfraktionen und der SPD, für den wir öffentlich gemeinsam geworben haben. Das war gut so, gerade
auch im Interesse der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, denen unser Dank gebührt.
({0})
Das Mandat, das Sie uns jetzt vorlegen, ist das erste
Mandat, das die Abzugsphase einleitet und - gegebenenfalls - auch den Übergang zu einer Nachfolgemission
vorbereitet. Das ist eine neue Qualität, eine neue Aufgabenstellung, und daran muss dieses Mandat gemessen
werden. Herr de Maizière, Sie haben vor über einem Jahr
hier im Plenum angekündigt, dass Sie 2012 eine Planung
für den Abzug der Bundeswehr vorlegen werden.
Sie haben gesagt - ich darf zitieren -:
Deswegen werden wir im Laufe des nächsten Jahres darüber diskutieren und die Pläne transparent
vorlegen.
Das, was Sie uns heute präsentieren, erfüllt dieses
Versprechen nicht einmal annähernd, im Gegenteil.
({1})
Sie möchten die Obergrenze der Stationierung bis zum
1. März 2014 lediglich auf 4 400 Soldatinnen und Soldaten reduzieren. Nur in der Begründung kündigen Sie den
Wunsch an, die Truppengröße möglichst auf 3 300 abzusenken, wenn die Umstände es erlauben. Das bedeutet,
dass am 1. März 2014 noch mindestens 3 300 Bundeswehrangehörige in Afghanistan stehen werden; es können auch noch mehr sein. Diese Zahlen sind doch viel zu
hoch. Dann verbleiben gerade noch neun Monate bis
zum Ende von ISAF.
Natürlich könnte man technisch in knapp neun Monaten dort auch über 3 000 Soldaten abziehen. Wenn man
viel Material einfach stehen lässt, eine überstürzte Optik
- um nicht zu sagen: eine fluchtartige Anmutung - nicht
scheut, dann geht das vielleicht. Der politische Effekt
wäre verheerend und destabilisierend, und deswegen haben Sie das offensichtlich auch nicht vor.
Die hohen Zahlen im Mandat sind objektiv darauf
ausgelegt, dass die Bundeswehr auch 2015 mit einer
deutlich vierstelligen Zahl in Afghanistan im Einsatz
bleiben soll. Das verfestigt den Eindruck, dass Sie sich
vom Ziel eines vollständigen Abzuges der Kampftruppen schon unausgesprochen verabschiedet haben. Wenn
Sie so etwas anstreben, dann sollten Sie das hier und
heute auch klar aussprechen. Das gehört nämlich zur
Mandatswahrheit und -klarheit.
({2})
Die Frage ist doch: In welcher Größenordnung strebt
die Bundesregierung eine Beteiligung an einer geplanten
Ausbildungsmission nach 2014 an? Dass Sie hohe Zahlen anstreben, zeigt Ihre Reaktion auf die Überlegungen
in der Obama-Administration hinsichtlich verschiedener
Optionen für einen substanziellen Abzug der amerikanischen Truppen 2014. Da gab es scharfe Kritik durch
Sprecher der Bundesregierung an den USA, das sei realitätsfern. Das war kein Versehen.
Sie präjudizieren mit diesem Mandat, dass auch 2015
eine deutlich vierstellige Zahl von Bundeswehrtruppen
in Afghanistan bleibt. Das Mandat schafft politische und
militärische Sachzwänge, und das heißt de facto auch
vollendete Tatsachen für die Zeit nach 2014. Aber Sie
tun gegenüber der Öffentlichkeit so, als wäre da gar
nichts.
Diese Verwirrspiele mit Zahlen und Absichten erschüttern das Vertrauen der Bevölkerung in die Wahrhaftigkeit der Mandate, die wir hier beschließen.
Aus all diesen Gründen wird die große Mehrheit meiner Fraktion diesem Mandat heute nicht zustimmen.
Danke.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Djir-Sarai
das Wort. Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns aus unserer Sicht am Anfang vom Ende eines
langen, schwierigen, aber erfolgreichen Weges in Afghanistan. Wir befinden uns im Abschlusskapitel eines langen Einsatzes in diesem Land. Viele unserer Maßnahmen und Initiativen waren erfolgreich, andere wiederum
bitter und lehrreich.
Herr Kollege Schmidt, ich schätze Sie sehr; das wissen Sie auch aus Gremienarbeit und Ausschusssitzungen. Aber es ist an der Stelle wichtig, zu sagen: Die deutsche Bundesregierung hat immer dafür plädiert, eine
verantwortungsvolle Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte zu entwickeln. Diese scheint nun bis Ende 2014 vollzogen werden zu können.
({0})
Unsere erfolgreiche Operation erlaubt nun eine weitere Reduzierung der Soldatinnen und Soldaten vor Ort.
Deswegen wird in dem Antrag die Personalobergrenze
von ursprünglich knapp 5 000 Mann auf 4 400 gesenkt.
Außerdem wird angestrebt - das haben die Vorredner
schon gesagt -, in den nächsten Monaten nochmals
1 100 Soldaten abzuziehen, sofern es die Umstände erlauben.
({1})
Die Zahl der Streitkräfte umfasst schon Personal für
Rückbau und Logistik. Wir sind daher auf dem richtigen
Weg.
Die zweite wichtige Änderung in diesem Antrag betrifft die Mandatsdauer. Die Laufzeit des Mandats soll
13 Monate betragen. Dieser zusätzliche Monat gibt den
Soldaten Planungssicherheit. Dadurch kann man nämlich nach der Bundestagswahl in Ruhe und mit Sorgfalt
ein neues Mandat erarbeiten, ohne dass sich dies mit der
Organisation eines neu gewählten Parlaments überschneidet.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen ist weder einem populistischen „Raus aus Afghanistan“ noch Desinteresse geschuldet, sondern sie ist das Ergebnis einer effektiven deutschen
Afghanistan-Politik. Wir machen in Afghanistan weiter,
aber das ist kein Weiter-so.
Die deutsche Afghanistan-Strategie basiert auf zwei
Säulen: zum einen auf der Garantie der Sicherheit der afghanischen Bevölkerung durch unsere Soldatinnen und
Soldaten, zum anderen auf der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die den Menschen das Leben erleichtert.
Wenn wir uns die erste Säule anschauen, so stellen wir
fest: Die Sicherheitslage verbessert sich allgemein von
Jahr zu Jahr. Die afghanischen Streitkräfte sind kontinuierlich besser geworden. Unsere Ausbildung fruchtet. Im
Norden des Landes agieren bereits heute afghanische Sicherheitskräfte selbstständig, und die ISAF-Kräfte müssen diese nur noch punktuell unterstützen. Ein sicheres
Afghanistan stärkt zusätzlich die Sicherheit in der ganzen
Region.
Leider muss man immer wieder Rückschläge ertragen, wie die jüngsten Vorwürfe von Folter in afghanischen Polizeidienststellen offenbaren. Jegliche Art von
Folter ist aufs Schärfste zu verurteilen.
({3})
Allerdings zeigt die Anordnung Präsident Karzais, diese
Schreckenstaten unverzüglich zu untersuchen, den Mentalitätswandel, der vor zehn Jahren in Afghanistan noch
undenkbar gewesen wäre. Folter ist unentschuldbar und
wird nicht geduldet, sondern bekämpft - auch in Afghanistan.
({4})
Liebe Freunde, die zweite Säule, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, gibt den Afghanen Hoffnung
und hilft ihnen in ihrem alltäglichen Leben. Durch das
Ineinandergreifen von Schutz und Fürsorge zeigen wir
den Einwohnern, dass sie uns vertrauen können, dass wir
für sie da sind. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den
rund 180 Millionen Euro wider, die wir im nächsten
Haushalt für Afghanistan bereitstellen. So sind Hilfsleistungen auch in der Zukunft gesichert.
Wir werden unsere Soldatinnen und Soldaten Ende
2014 aus dem Land abziehen, aber wir werden dieses
Land nicht fallen lassen. Deutschland ist einer der wichtigsten Partner in Afghanistan, und wir werden es auch
bleiben - auch nach 2014. Wir werden dieses Land nie
mehr alleine lassen.
({5})
Meine Damen und Herren, die deutschen Streitkräfte
haben zusammen mit unseren Verbündeten für ein demokratisches Afghanistan gekämpft, für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Afghanistan, für ein freies
und sicheres Land. Dafür möchte ich mich im Namen
der FDP-Bundestagsfraktion an dieser Stelle auch bei
den Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich bedanken.
({6})
Das war ein sehr guter Schlusssatz, Herr Kollege.
Ein letzter Satz, Herr Präsident. - Mit der hier zu beschließenden Mandatsverlängerung geben wir unseren
Soldaten und der afghanischen Bevölkerung Sicherheit,
Stabilität und Selbstbestimmung. Daher bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, für diesen Antrag zu stimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Ich habe festgestellt, dass der zuständige Minister heute hier offenbar nicht zu diesem Thema
reden wird. Es ist Krieg in Afghanistan; Deutschland
führt Krieg in Afghanistan. Gegen den Willen der deutschen Bevölkerung führt Deutschland Krieg in Afghanistan, und der zuständige Minister leistet keinen Beitrag
dazu, die Kriegslage in Afghanistan hier mit einem Bericht darzulegen.
Wie viele Tote gab es seit der letzten Befassung des
Deutschen Bundestages im deutschen Bereich in Afghanistan? Wie häufig wurden die Kampfdrohnen eingesetzt, die im deutschen Gebiet seither stationiert worden
sind? Wie geht es weiter? Welche Drohnen werden in
Zukunft eingesetzt?
Sie, Herr Minister, können es offenbar kaum erwarten, dass Deutschland über Kampfdrohnen verfügt und
Sie sie auch in Afghanistan einsetzen können. Ich erwarte, dass Sie dazu Stellung nehmen und auch dazu,
warum Sie noch vor einem Jahr erklärt haben, dass in
Afghanistan auf Verhandlungen gesetzt wird, aber jetzt
niemand mehr von Verhandlungen redet. Sie reden nicht
von Verhandlungen, niemand redet von Verhandlungen.
({0})
Ohne Verhandlungen werden wir alle Ende des Jahres
2014 da stehen, wo wir heute stehen, wo wir vor zwei
oder fünf Jahren gestanden haben.
({1})
Es gibt dann zwei Möglichkeiten, die beide schrecklich sind, die beide schlimmer sind als die jetzige Situation: Entweder es gibt wieder einen fürchterlichen Bürgerkrieg in Afghanistan, oder der Krieg wird verlängert,
der NATO-Krieg dauert an. Ich erwarte, Herr Minister,
dass Sie zu all diesen Fragen hier im Parlament Stellung
nehmen. Ich und die deutsche Bevölkerung erwarten das
von Ihnen.
({2})
Das Selbstbewusstsein ist in diesem Hause im Allgemeinen relativ breit entwickelt. - Nun hat zu einer weiteren Kurzintervention der Kollege Schockenhoff das
Wort.
Herr Kollege Ströbele, in der ersten Lesung zu dieser
Mandatsverlängerung haben sowohl der Außenminister
als auch der Verteidigungsminister ausführlich Stellung
genommen. In den Ausschüssen wird regelmäßig unterrichtet. Auch in unserer Fraktion wird regelmäßig über
dieses Thema gesprochen. Ich gehe davon aus, dass das
auch in Ihrer Fraktion der Fall ist.
Weil das Parlament unsere Soldaten entsendet, hat
sich die CDU/CSU-Fraktion entschlossen, bei der zweiten Lesung die Redezeit unter den Kolleginnen und Kollegen aus den betroffenen Fachausschüssen zu verteilen.
Wenn Sie von Ihrer Fraktion aus gegebenem Anlass
keine Redezeit bekommen, bitte ich Sie, das dort zu klären und uns damit nicht hier im Plenum zu belästigen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Lars Klingbeil für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und wie ich gerade gelernt habe: Liebe
Freunde! Große Teile der SPD-Fraktion werden diesem
Mandat zustimmen. Dieses Mandat ist ein Meilenstein.
Das Mandat steht für den Übergang von einer Kampfhandlung hin zu einem Mandat der Ausbildung. Es steht
für die Übergabe der Verantwortung. Dieses Mandat
markiert deutlich den beginnenden Abzug deutscher Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan.
Ich sage aber auch: Dieses Mandat muss uns alle ermahnen, dass wir unsere Verantwortung, die wir für und
in Afghanistan übernommen haben, nicht vergessen, und
uns daran erinnern, dass diese Verantwortung noch lange
nicht vorbei ist.
({0})
Es ist richtig, dass wir hier im Parlament einen breiten
Konsens suchen, wenn es um die Verlängerung von Bundeswehrmandaten geht. Herr Schockenhoff, als ich Ihre
Rede gehört habe und Sie von Drohnen gesprochen haben, da dachte ich erst, ich hätte mich auf das falsche
Mandat vorbereitet. Ich habe dann noch einmal nachgeschaut und habe gesehen: Sie haben sich auf die falsche
Debatte vorbereitet. Über die Drohnen wird an anderer
Stelle diskutiert.
({1})
Das war kein hilfreicher Beitrag, um hier im Parlament
eine breite Mehrheit für ein solches Mandat zu erzielen.
({2})
Wenn wir als Deutscher Bundestag Mehrheiten im
Parlament suchen, dann hat das etwas mit Tradition und
auch mit der Verantwortung zu tun, die wir gegenüber
Soldatinnen und Soldaten, die wir ins Ausland schicken,
wahrzunehmen haben. Ich will auch im Namen meiner
Fraktion an dieser Stelle all denen danken, die sich in
Afghanistan engagiert haben und dies bis 2014 und darüber hinaus noch tun werden. Ihr Einsatz verdient größten Respekt von uns allen.
({3})
Wenn wir heute ein Mandat auf den Weg bringen, das
für 13 Monate gilt, dann hat auch dies unsere Unterstützung. Der nächste Bundestag, der veränderte Mehrheiten
haben wird, hat dadurch Zeit, sich in eine schwierige
Problematik, in ein komplexes Thema einzuarbeiten und
dann weise Entscheidungen zu fällen.
Eine solche Mandatsentscheidung dokumentiert aber
auch hier im Parlament immer wieder unsere Verantwortung. Wir alle müssen uns heute, wenn wir abstimmen,
fragen, ob wir bis zu diesem Zeitpunkt alles unternommen haben, um die Soldatinnen und Soldaten und Zivilbeschäftigten, die wir ins Ausland schicken, im Hinblick
auf die Ausbildung, die Ausrüstung und das Umfeld
ausreichend vorzubereiten. Dann ist es auch egal, ob wir
4 400 Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan
schicken oder ob am Ende dieses Mandates nur noch
3 300 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan sein
werden. Ich sage Ihnen: Solange auch nur ein deutscher
Soldat in Afghanistan ist, haben wir als Parlament unsere Verantwortung umfassend wahrzunehmen.
Wenn wir nach Afghanistan blicken, müssen wir eingestehen, dass es bei weitem nicht nur Erfolgsmeldungen sind, die uns erreichen. Wir alle mussten, glaube ich,
in den letzten Jahren lernen, dass es viel schwieriger ist,
ein Land aufzubauen, als Terroristen zu vertreiben, dass
es schwieriger ist, ein Land aufzubauen, als ein Regime
zu stürzen, das Terroristen unterstützt. Diese Lektion
mussten wir als Parlament gemeinsam lernen. Wir wissen heute, wie langatmig, wie anstrengend, aber auch
wie schmerzlich eine solche Mission sein kann, wenn es
um den Wiederaufbau eines Landes geht. In Afghanistan
mussten wir diesen Schmerz viel zu häufig ertragen.
Die Übergabe in Verantwortung, die wir heute auf den
Weg bringen, ist ein Meilenstein. Die Präsidentschaftswahl 2014 wird ein markanter Punkt auf diesem Weg
sein. Dann wird sich zeigen, wie stabil Afghanistan ist
und wie die inneren Zustände sind. Wir alle hoffen, dass
diese Wahl fair verläuft und dass alle Menschen in
Afghanistan beteiligt werden. Aber wir müssen auch
wachsam sein, weil gerade die Präsidentschaftswahl ein
Zeitpunkt sein kann, an dem die Stimmung in Afghanistan kippt.
Es war richtig, dass wir einen Korridor für den Abzug
definiert haben. Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass
es die SPD-Bundestagsfraktion war, die mit großen Kongressen und einer Taskforce Afghanistan/Pakistan, die
über zweieinhalb Jahre getagt hat, genau diese Forderung früh erhoben hat. Unser damaliger Außenminister
Frank-Walter Steinmeier hat die Definition eines solchen
Korridors auf den Weg gebracht. Wir haben den Afghanen das Signal gegeben: Liebe Freunde, wir helfen euch,
aber strengt euch an, dass ihr bald die Verantwortung
selbst übernehmen könnt.
Die Konferenz in London - sie ist bereits genannt
worden - und der Gipfel in Chicago waren wichtig, weil
wir dort mit unseren Partnern einen gemeinsamen Weg
vereinbart haben. Jetzt sehen wir aber, dass der amerikanische Präsident von diesem Weg ein Stück weit abrückt.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Verteidigungsminister
und der Außenminister heute hier im Parlament erklärt
hätten, was es eigentlich bedeutet, wenn die Amerikaner
frühzeitig auf Ausbildung, Beratung und Unterstützung
der afghanischen Kräfte umsteigen wollen. Was bedeutet
das für das Mandat, das wir heute auf den Weg bringen,
und welche Folgen ergeben sich für das deutsche Engagement? Wir wissen, dass wir auch nach 2014 in Afghanistan aktiv sein werden. Die Soldatinnen und Soldaten
werden dann in einer völlig neuen Mission unterwegs
sein. Ich hätte mir auch hierzu einige Worte des Ministers gewünscht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleiben Fragen
offen, die wir hier im Parlament klären müssen. Ich wünsche mir, dass die Opposition dabei eingebunden wird,
({4})
damit ein parlamentarischer Konsens erhalten bleibt.
Wir alle wissen: In Afghanistan ist noch eine lange Strecke zu gehen. Wir haben als Deutscher Bundestag 2001
Verantwortung in Afghanistan übernommen, die weiterbesteht, auch wenn keine Soldatinnen und Soldaten
mehr im Land sind. Wenn weniger Militär da ist, rückt
das Zivile in den Vordergrund. Ich ermahne uns alle,
dass das nicht dazu führen darf, dass wir im Bereich der
zivilen Mittel kürzen.
Die letzten Wochen haben gezeigt, dass unsere Aufmerksamkeit hoch bleiben sollte, wenn es um Auslandseinsätze geht. Wir reden inzwischen auch über Mali. Das
hätten wir vor wenigen Monaten nicht gedacht. Deswegen finde ich den mehrfach in der Diskussion angesprochenen Punkt wichtig, dass wir als Parlament die sicherheitspolitische Diskussion befördern müssen, dass wir
dafür sorgen müssen, dass hier in der Kernzeit über
Mandate diskutiert wird. Ich wünsche mir, dass sich
mehr Kolleginnen und Kollegen an dieser sicherheitspolitischen Diskussion beteiligen. Das sind wir denen
schuldig, die wir ins Ausland schicken.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Roderich
Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion unterstützt in voller Überzeugung die Fortsetzung des ISAF-Mandats. Wir möchten
hier in aller Klarheit sagen: Dieses Mandat beinhaltet
eine ganze Reihe von Chancen.
Worin bestehen die Chancen? Zunächst einmal darin,
dass wir deutlich machen: Zum Ende des Jahres 2014
werden unsere Truppen dort keinen Kampfauftrag mehr
haben.
({0})
Die Übergabe in Verantwortung beinhaltet die Übergabe
von Vertrauen und auch, zuzulassen, dass die Afghanen
ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das heißt für
uns, uns schrittweise zurückzunehmen. Wir erleben seit
2011, dass die Afghanen schrittweise die Verantwortung
in einzelnen Regionen übernommen haben, mittlerweile
in 75 Prozent des Landes. Deshalb, lieber Herr Kollege
Schmidt von den Grünen, weise ich Ihren Vorwurf der
versteckten Überhöhung und der versteckten Fortsetzung des Kampfauftrags eindeutig zurück. Wir haben in
unserer Fraktion darum gerungen - zuletzt im November, als wir einen großen Fraktionskongress zu diesem
Thema durchgeführt haben -, ob wir zwei Mandate einholen, eines zum Rückbau und eines zur Fortsetzung des
jeweiligen Auftrags. Wir sind vollkommen überzeugt
davon, dass man die Verantwortung nicht teilen kann. Es
ist wichtig, dass wir mit einer großen Anzahl fähiger
Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan sind, weil wir
nämlich Leitnation im Norden sind. Das wird immer
wieder vergessen. Wir sind Leitnation und damit verantwortlich für den Rückzug und den Rückbau von 18 Partnerstaaten, die uns im Einsatz unterstützen. Auch das gehört zu unserer Verantwortung und zur deutschen
Sicherheitspolitik.
({1})
Ich möchte deshalb noch einmal dringend bei Ihnen darum werben: Geben Sie sich einen Ruck! Enthaltung ist
kein Bekenntnis.
Ich möchte in der verbleibenden Zeit noch ein Zwischenfazit ziehen: Was hat uns dieser Afghanistan-Einsatz nach über zehn Jahren zu sagen? Was bleibt zurück,
außer dass wir wissen, dass unser Engagement weitergeht, wenn es auch verstärkt zivilen Charakter haben
wird? Ich möchte vier Punkte ansprechen, die mir am
Herzen liegen.
Erstens. Wenn wir die Situation von vor zehn Jahren
mit der heutigen vergleichen, dann sehen wir, wie eng
die Entwicklungszusammenarbeit, die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen, die Arbeit der GIZ und der
Kreditanstalt für Wiederaufbau, mit der Rolle der Bundeswehr im Rahmen der vernetzten Sicherheit, der Absicherung durch das Militär verwoben ist. Der vernetzte
Ansatz ist das, was wir aus den vergangenen zehn Jahren
mitnehmen.
Zweitens. Wir haben gelernt, einen Einsatz vom Ende
her zu denken. Vom Ende her zu denken, heißt, politische Ziele zu setzen.
({2})
Einen Augenblick, Herr Kollege. - Darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich noch einen Augenblick zu setzen und den beiden letzten Rednern zu folgen. Es hat noch einen Augenblick Zeit, bis wir zur
namentlichen Abstimmung kommen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Der Punkt ist, dass wir
eine sicherheitspolitische Strategie brauchen, die vernetzt ist, die Entwicklungsaspekte genauso berücksichtigt wie die Konflikttransformation und die Absicherung
durch das Militär, wo es geboten ist. Wir denken also
Einsätze vom Ende her. Das zeigt auch die aktuelle Debatte über Mali, wo wir gemeinsam mit unseren französischen Partnern aus dem Einsatz eine europäische Mission machen sollten.
Drittens. Der regionale Bezug ist ganz entscheidend,
weil wir Afghanistan nicht isoliert betrachten können,
also ohne Pakistan, Iran oder die Staaten im Norden
Afghanistans. Regionaler Bezug bedeutet, dass wir in
der Lage sind, die Gesamtzusammenhänge zu analysieren. Wir müssen mithelfen, dass zum Beispiel Pakistan,
das zunehmend mit Instabilität zu kämpfen hat, ein Partner wird. Das heißt, dass wir immer die Nachbarstaaten
im Blick haben müssen. Das zeigt sich auch bei der aktuellen Debatte über Mali.
Viertens. Wir haben eine neue Tradition in den Streitkräften, die der Minister vor zwei Wochen in Bad Reichenhall angesprochen hat. Es waren bisher rund
300 000 Soldaten in Afghanistan. Einige von ihnen sind
mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach
Hause gekommen. Diese und die allermeisten sind in
dem Bewusstsein wiedergekommen, etwas für den Wiederaufbau Afghanistans geleistet zu haben. Es geht um
die Anerkennung derjenigen, die die Bundeswehr verlassen haben und im Auslandseinsatz für unser Land Verantwortung übernommen haben. Ich bin sehr dankbar,
dass wir Bundeswehrveteranen als Anerkennung für deren Leistung unterstützen und damit eine neue Tradition
etablieren. Ich bitte, dass wir uns auch im Parlament einmal darüber unterhalten.
({0})
Wichtig ist auch die Diskussion über die Beschaffung
von bewaffneten Drohnen. Ich kann Herrn Kollegen
Schockenhoff in dieser Hinsicht nur ausdrücklich unterstützen. Aber auch Diskussionen über Mali und die Sicherheitspolitik insgesamt müssen geführt werden. Wir
müssen davon wegkommen, ausschließlich über einzelne, isolierte Mandate zu diskutieren; vielmehr müssen
wir eine übergreifende Sicherheitspolitik, die sich auf
alle Einsatzgebiete erstreckt, entwickeln. Wir müssen
dieses Thema transparent und in der Öffentlichkeit debattieren; da gehört es hin. Wir dürfen dabei nicht die
Anerkennung für diejenigen vergessen, die die Einsätze
durchführen. Hier im Parlament brauchen wir diese sicherheitspolitische Gesamtdebatte.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Letzter Redner ist der Kollege Reinhard Brandl für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren im Moment fast an jedem Sitzungstag
über Einsätze der Bundeswehr - gestern Mali, heute
Afghanistan.
({0})
So unterschiedlich die Situationen in diesen beiden Ländern auch sein mögen, lässt sich doch an den beiden Debatten unsere Linie einer verlässlichen, berechenbaren
Sicherheitspolitik aufzeigen:
({1})
Erstens. Wir sind bereit, Verantwortung für die Sicherheit in der Welt zu übernehmen, und leisten dazu
auch unseren Beitrag. Zweitens. Wir schreien nicht sofort Hurra bei jedem möglichen Einsatz, sondern prüfen
sorgfältig, in welcher Form wir uns beteiligen und was
wir sinnvoll leisten können. Drittens. Wenn die Entscheidung einmal gefallen ist, dass wir uns beteiligen,
dann stehen wir auch dazu. Wir leisten unseren Beitrag
auch über einen längeren Zeitraum verlässlich gegenüber unseren Bündnispartnern und gegenüber dem Land
sowie den Menschen, für die wir Verantwortung übernehmen. Das ist im Kosovo so, und das gilt für das Mandat in Afghanistan, über das wir heute entscheiden.
Das bedeutet aber nicht, dass wir zum Beispiel in
Afghanistan auf ewig Hilfe auf dem aktuellen Niveau
leisten können; das will auch niemand. Wir haben deswegen schon in 2010 berechenbar und verlässlich mit
den Afghanen vereinbart, dass sie die Sicherheitsverantwortung bis 2014 schrittweise in ihrem Land übernehmen und wir den ISAF-Einsatz beenden. Dies war der
Wunsch der Afghanen. Auf dieser berechenbaren Linie
liegt dieses Mandat. Damit verbunden ist auch die
schrittweise Reduzierung der Kräfte, die wir heute beschließen.
Meine Damen und Herren, in der Diskussion über
Afghanistan werden oft Probleme, die in dem Land eintreten, mit einem Scheitern des Einsatzes in Verbindung
gebracht. Das ist nicht fair. Ausländisches Militär kann
die Probleme in Afghanistan nicht lösen. Es kann nur
Rahmenbedingungen schaffen. Es kann vielleicht auch
Zeit kaufen, damit die politischen, diplomatischen, ökonomischen und sozialen Maßnahmen greifen können.
Der Beitrag, den die Bundeswehr gemeinsam mit anderen ISAF-Nationen dazu leisten kann und auch leistet,
ist sehr erfolgreich: Der zahlenmäßige, quantitative Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte ist im Prinzip abgeschlossen. Immer mehr Gebiete werden an die Afghanen übergeben. ISAF-Kräfte können dort abgelöst
werden und sich im Rahmen ihres Auftrags auf die Verbesserung der Qualität, die Ausbildung und die Beratung
der afghanischen Kräfte konzentrieren. Diesen Erfolg
der Bundeswehr und des ISAF-Einsatzes sollten wir
nicht kleinreden.
({2})
Ob das internationale Engagement in und für Afghanistan insgesamt und nachhaltig erfolgreich sein wird,
wird erst in Jahren oder Jahrzehnten abschließend zu beurteilen sein. Die Afghanen bekommen aber durch uns
eine echte, eine realistische Chance, ihr Land in eine
bessere Zukunft zu führen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
zum Schluss meiner Ausführungen bei all denjenigen
bedanken, die das Mandat, das wir gleich beschließen
werden, für uns ausführen. Dies sind die Soldaten, zahlreiche Polizisten - der Bundesinnenminister ist gerade
anwesend - und auch sehr viele zivile Mitarbeiter, sei es
aus den Reihen des Auswärtigen Amts oder anderer Organisationen.
Selbst wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan
in den letzten Jahren wieder verbessert hat und wir 2012
keinen gefallenen Soldaten zu beklagen hatten, sind der
Weg in einen solchen Einsatz und der Einsatz selbst
nicht leicht. Es wird auch immer ein gefährlicher Einsatz
bleiben.
Ich selbst habe in meiner Heimatstadt Ingolstadt vor
wenigen Wochen, vor Weihachten, Soldaten in den Einsatz verabschiedet und zahlreiche Gespräche mit ihnen
und ihren Angehörigen geführt. Ich wünsche ihnen und
allen, die dort unten für uns ihren Dienst leisten, viel Erfolg, Gesundheit an Körper und Seele, das notwendige
Glück und vor allem Gottes Segen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der
Drucksache 17/12096 zum Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf der Drucksache 17/11685
anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich darf deshalb die Schriftführerinnen und
Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich höre gerade, dass noch Schriftführer an den
Präsident Dr. Norbert Lammert
Urnen fehlen. Wenn sich die Geschäftsführer darum
kümmern könnten! - Jetzt sind die Urnen ordentlich besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme gleichwohl nicht abgegeben hat? - Hat jemand
jemanden gesehen, der seine Stimme noch nicht abgegeben hat?
({0})
- Auch der Kollege Ulrich kennt niemanden, der seine
Stimme nicht abgegeben hat. - Dann schließe ich hier-
mit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich weise darauf hin, dass es eine Reihe von Erklärun-
gen nach § 31 unserer Geschäftsordnung gibt, die wir
wie immer dem Protokoll beifügen.1)
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ih-
nen später bekannt gegeben.2)
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/12186.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/12187.
Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt, wobei es eigentlich
ganz schön wäre, wenn diejenigen, die anwesend sind,
sich auch an den Abstimmungen beteiligen würden.
({1})
Es würde die Übersichtlichkeit über die Mehrheitsver-
hältnisse enorm befördern.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Rüstungsexporte als Instrument der
Außenpolitik - Exportverbot jetzt durchsetzen
- Drucksache 17/10842 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})Auswärtiger Ausschuss ({3})-
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Federführung strittig
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahr 2011({4})
- Drucksache 17/11785 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})-
Auswärtiger Ausschuss -
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Barthel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen - Parlamentsrechte über Rüstungsexporte einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul,
Volker Beck ({7}), Marieluise Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexporte kontrollieren - Frieden
sichern und Menschenrechte wahren
- Drucksachen 17/9188, 17/9412, 17/12098 Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. Fritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
dazu höre ich nicht. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({9})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage
des Waffenexports aus Deutschland ist in Anbetracht unserer Geschichte meines Erachtens eine herausragende
Frage. Wir hätten eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg den Schluss ziehen müssen, nie wieder an Kriegen
verdienen zu wollen.
({0})
Wenn wir diesen Schluss gezogen hätten, hätten wir
Waffenexporte aus Deutschland gänzlich und für alle
Zeiten verboten. Das hätten auch alle Nachbarn verstan-
den.
Interessant ist, was in Deutschland gar nicht diskutiert
wird: dass Japan - bekanntlich auch ein Aggressor im
1) Anlagen 3 bis 6
2) Ergebnis Seite 27085 C
Zweiten Weltkrieg - exakt diesen Schluss gezogen hat
und bis heute keine Waffenexporte durchführt.
({1})
Die Argumente, dass man dann politisch und ökonomisch kein Gewicht habe, sind doch durch Japan widerlegt. Japan hat großes Gewicht, ohne Waffenexporteur
zu sein.
In Art. 26 unseres Grundgesetzes ist festgehalten, wie
sehr wir Angriffskriege verurteilen. Jedes Jahr sterben
weltweit 500 000 Menschen durch Waffengewalt - das ist
jede Minute ein Mensch. Auch deutsche Waffen werden
dabei benutzt. 2011 hat die Bundesregierung - ich bitte
Sie, das weiß kaum jemand in der Öffentlichkeit - Waffenexporte in 125 Länder im Gesamtwert von 10,8 Milliarden Euro genehmigt. Seit 2006 gibt es Exportgenehmigungen von durchschnittlich 8 Milliarden Euro pro
Jahr.
Bei der Frage von Rüstungsexporten gibt es eine
Große Koalition; ich muss das so sagen. Ob Union, SPD,
FDP oder Grüne: Sie alle haben immer gemeinsam diese
Exporte genehmigt und fortgeführt. Deutschland nimmt
auf der Liste der größten Waffenexporteure der Erde den
dritten Platz ein. Das heißt, es gibt zwei Länder, die
mehr Waffen exportieren als Deutschland. Das sind die
USA und Russland. Alle anderen Länder - beispielsweise China, Großbritannien, Frankreich - verkaufen
weniger Waffen als Deutschland. Ich sage: Fast jede
deutsche Waffe darf in fast jedes Land der Welt verkauft
werden.
Jetzt nenne ich Ihnen eine Zahl, die die meisten in der
Öffentlichkeit überhaupt nicht kennen. Im Jahre 2011
gab es bei dem berühmten Bundessicherheitsrat, der ja
zu entscheiden hat, ob ein Rüstungsexport genehmigt
wird, 17 586 Anträge auf Genehmigung des Exports von
Waffen.
({2})
Wissen Sie, wie viele abgelehnt worden sind? Von
17 586 Anträgen wurden 105 abgelehnt. Das sind gut
0,5 Prozent. Und da wird immer behauptet, Sie behandelten das restriktiv. Sie genehmigen ja fast jeden Antrag.
({3})
Da muss man schon ein riesiges Glück haben, wenn man
mal einen Antrag nicht genehmigt bekommt.
Interessant ist auch: Was sind eigentlich die 20 Topländer, die die meisten Rüstungsgüter im Jahre 2011 bekommen haben? Ich sage Ihnen: Darunter sind die Vereinigten Arabischen Emirate, sie sind auf Platz drei - eine
tolle Demokratie. Irak: Platz sechs - eine tolle Demokratie. Algerien: Platz acht - ein Beispiel für Demokratie.
Saudi-Arabien: Platz zwölf. Ein Land der Menschenrechte? Top, kann ich nur sagen. Ägypten, wo wir jetzt
all das erleben: Platz 18. Sie liefern überall Waffen hin.
Damit macht man doch die eigene Politik völlig unglaubwürdig.
({4})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Wir unterstützen
doch die Kräfte des - so nennen wir es - arabischen
Frühlings, also die Rebellen in den arabischen Ländern.
Mit unseren Waffen marschiert Saudi-Arabien in Bahrain ein und schießt die Demonstranten zusammen. Dazu
hört man keinen Ton; auch in der Öffentlichkeit wird das
fast totgeschwiegen. Ich finde, das ist ein einzigartiger
Skandal.
({5})
Mal so und mal so: Damit wird die gesamte Militärpolitik unglaubwürdig.
Im Übrigen haben wir erlebt, dass im Konflikt in Libyen beide Seiten deutsche Waffen hatten. Dann hat die
Bundesregierung gesagt: Die libysche Regierung hätte
die Waffen gar nicht haben dürfen. Daran sieht man aber
Folgendes: Wenn man Waffen exportiert, weiß man nie,
wo sie letztlich landen.
({6})
Irgendwann wird damit getötet und geschossen, und darüber müssen wir nachdenken.
Viele Menschen bei uns glauben, dass es eine Vorschrift gäbe, dass keine Waffen in Krisengebiete und
Kriegsgebiete verkauft werden dürfen. Es gibt diesbezüglich gar kein Gesetz. Es gibt nur eine Verabredung,
die aber nicht eingehalten wird. Wenn Sie uns schon
nicht folgen und Waffenexporte nicht vollständig verbieten, könnte man nicht einmal erste Schritte gehen, wenigstens erste Schritte? Dazu würde zum Beispiel gehören, dass man die Waffenlieferungen in den Nahen Osten
komplett einstellt und sagt: Da gehen keine deutschen
Waffen mehr hin.
({7})
Das wäre doch mal ein Signal; das wäre ein Politikwechsel.
Es gibt noch etwas: Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Ich wusste es gar nicht, aber diese Waffen sind die
eigentlichen Massenvernichtungswaffen des 21. Jahrhunderts: Mit ihnen werden mehr Menschen getötet als
mit allen anderen Waffen zusammen. Wäre es nicht wenigstens ein erster Schritt, zu sagen: „Wir verbieten den
Verkauf von Sturmgewehren und Maschinenpistolen“?
({8})
Ich will nicht, dass mit deutschen Waffen weltweit getötet wird.
Ich habe schon vor kurzem etwas zur Bereitstellung
von Patriot-Raketen gesagt; ich halte das wirklich für
eine ganz groteske Fehlentscheidung. Sie müssen sich
überlegen: Wenn eine Rakete abgeschossen wird, sind
wir Konfliktpartei bzw. Kriegspartei im Nahen Osten.
Das können wir uns bei unserer Geschichte überhaupt
nicht leisten.
Ich sage Ihnen auch, was mich bei den Kampfdrohnen
stört. Wissen Sie, Kampfdrohnen, die Herr de Maizière
einführen, herstellen lassen und kaufen will, haben etwas
sehr Übles: Sie können keine Gefangenen nehmen.
Kampfdrohnen können nur töten. Aber derjenige, der tötet, ist ja nicht einmal vor Ort; er gefährdet sich gar
nicht.
({9})
Er sitzt irgendwo in Berlin oder Bonn, drückt auf einen
Knopf und tötet gezielt Menschen. Ich sage Ihnen: Wenn
Sie das völkerrechtlich ungeregelt zulassen, werden eines Tages auch Terroristen solche Kampfdrohnen haben.
Wir verschärfen alles nur,
({10})
wenn wir uns immer neue Wege der Rüstung überlegen,
statt den umgekehrten Weg zu gehen.
Ich gehe zum Schluss darauf ein, dass dieser komische Bundessicherheitsrat im Geheimen tagt; der Bundestag wird nicht einbezogen. Das alles verläuft ohne
Transparenz. In den USA verläuft es übrigens mit Transparenz. Damit ist bewiesen, dass es auch mit Transparenz geht.
Aber Transparenz allein reicht uns natürlich nicht aus;
wir wollen endlich eine Abkehr. Ich möchte gerne, dass
Deutschland diesbezüglich eines Tages ein Waffendienstverweigerer ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn
Deutschland bei den Exporten von Waffen den letzten
Platz auf der Erde einnähme, weg von Platz drei. Kehren
Sie die Politik um, und sorgen Sie dafür, dass Deutschland nicht länger an Kriegen in dieser Welt verdient.
Danke.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Pfeiffer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Rüstungsexport ist ja immer wieder ein Thema in diesem
Hause. Ich will zunächst ein paar Zahlen und Fakten
nennen. Denn nachdem man die Ausführungen des Kollegen Gysi gehört hat, könnte man in der Tat der Meinung sein, Deutschland würde zuvorderst in der ganzen
Welt mit Kriegswaffen hantieren und diese exportieren.
({0})
Das Gegenteil ist natürlich der Fall.
Wir hatten in dem Jahr, auf das sich der Rüstungsexportbericht bezieht, einen steigenden Gesamtwert aller
Ausfuhrgenehmigungen zu verzeichnen; es waren
660 Millionen Euro mehr. Wir hatten aber in dem Bereich, von dem Sie gesprochen haben, nämlich bei den
Kriegswaffen, keinen Anstieg, sondern einen deutlichen
Rückgang zu verzeichnen, nämlich um mehr als
834 Millionen Euro auf rund 1,2 Milliarden Euro in dem
entsprechenden Jahr.
Ich komme nun auf die Gesamtausfuhren der Rüstungsgüter zu sprechen. Was darunter zu verstehen ist,
darauf komme ich nachher zurück.
({1})
Sie reden immer von Kriegswaffen, von Panzern, von
Gewehren und werfen dabei Äpfel, Birnen, Eier und
Kartoffeln in einen Sack und rühren dies alles freudig
um.
({2})
Das Gegenteil ist natürlich richtig. 58 Prozent der Gesamtexporte, vor allem eben Kriegswaffen, gehen in EUStaaten und in NATO-Länder: 21 Prozent in die NATOLänder, 37 Prozent in EU-Staaten.
({3})
Nur 9 Prozent gehen in Entwicklungsländer, in 2011 insbesondere in zwei Länder: in den Irak, wohin Hubschrauber exportiert wurden, und nach Indien, wo es um
Sicherheitsausrüstungen ging.
2011 wurden Kriegswaffen in einem Wert von gerade
einmal 3,1 Millionen Euro in die ärmsten Länder exportiert. Das sind 0,06 Prozent des gesamten Genehmigungswertes. Im Übrigen sind das 6 448 Prozent weniger, als Rot-Grün im Jahr 2004 in diese Länder
exportiert hat. Sie werden sicherlich gleich darauf eingehen, was Sie da alles Tolles veranstalten wollen.
Das heißt also, wir sind bei weitem nicht vorne dabei,
ganz im Gegenteil. Der Platz drei, den Sie genannt haben, beruht auf den SIPRI-Zahlen, die mehr als fragwürdig sind, weil dort nicht mit den tatsächlichen Genehmigungswerten, sondern mit fiktiven Werten gerechnet
wird. Es gibt ganz andere Aufstellungen.
Sie haben es erwähnt: In den USA gibt es die wohl
transparenteste Aufstellung. Es handelt sich um die Aufstellung des US-amerikanischen Congressional Research
Service, CRS. Das neueste Material, das ich in diesem
Zusammenhang gefunden habe, stammt von August
2012. Dort wird klargemacht, dass die USA im Zeitraum
von 2008 bis 2011 - um nicht nur ein Jahr zu nennen mit 145 Milliarden US-Dollar an der Spitze lagen, gefolgt von Russland mit 33,5 Milliarden US-Dollar,
Frankreich mit 19,6 Milliarden US-Dollar und Deutschland mit 9 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2011 waren es
in Deutschland gar nur 1,6 Milliarden US-Dollar,
während die USA Rüstungsgüter für 16,1 Milliarden
US-Dollar exportiert haben, gefolgt von Russland, Großbritannien, Israel, Frankreich und Italien. Insofern sind
die Zahlen, die Sie vorgetragen haben, von vornherein
zu hinterfragen.
Ich sage aber auch in aller Deutlichkeit: Sie versuchen hier die Verteidigungs- und die Sicherheitspolitik,
zum Teil auch die Rüstungsproduktion, in ein schiefes
Licht zu rücken. Ich muss hierzu sagen: Ich halte dies alles überhaupt nicht für verwerflich. Ganz im Gegenteil:
Ich bin stolz auf das, was die 80 000 hochqualifizierten
Arbeitskräfte, die in der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie in Deutschland unmittelbar beschäftigt sind,
zustande bringen.
({4})
Hinzu kommen mehrere Hunderttausend Beschäftigte in
Zulieferbetrieben. Diese leisten zuvorderst einen Beitrag
zur Sicherheit in Deutschland. In diesem Zusammenhang kann ich nur den neuen Chef des SIPRI zitieren,
der unlängst sinngemäß gesagt hat: Wenn es mal ein Jahr
nicht brennt, dann schafft man auch nicht gleich die Feuerwehr ab.
Genau das ist der Hintergrund unserer Verteidigungsund Sicherheitsindustrie in Deutschland. Sie produziert
Sicherheit in und für Deutschland und für unsere Verbündeten,
({5})
und sie ermöglicht uns Unabhängigkeit bei Technologien, sodass wir diese nicht importieren müssen.
Ich sage ganz klar - denn auch hierzu gibt es Anträge
und Aussagen -: Selbstverständlich sind Rüstungsexporte auch ein Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik
({6})
- selbstverständlich sind sie dies -, und zwar nach
strengsten Regeln und äußerst restriktiv gehandhabt.
Diese Rüstungsexporte tragen nämlich auch zur Friedenssicherung und zum Schutz der Menschenrechte auf
dieser Welt bei.
({7})
Durch Rüstungsexporte kommen wir beispielsweise
unseren Bündnispflichten nach. Es gab 38 Ausfuhrgenehmigungen für die kanadischen Streitkräfte, die mit
uns in Afghanistan im Einsatz sind. Das Mandat dazu
haben wir gerade mit großer Mehrheit - das vermute ich
mal; die Auszählung ist noch nicht abgeschlossen - wieder verlängert. Es gab ebenfalls zahlreiche Ausfuhrgenehmigungen für die Vereinten Nationen im Zusammenhang mit UN-Einsätzen, egal ob im Sudan, Südsudan,
Kongo oder Angola. Es werden also Menschenrechte geschützt und der Frieden erhalten.
({8})
Über welche Rüstungsgüter reden wir eigentlich? Wir
reden nicht über Panzer und Kriegswaffen. Ich nenne einige Beispiele: Es geht um gepanzerte, geländegängige
Personenkraftwagen. Diese dienen dem Personenschutz
unseres diplomatischen Personals in der EU, bei Botschaften oder der UNO.
({9})
Selbstverständlich werden beispielsweise Minensuchgeräte nicht nach Luxemburg exportiert, sondern dorthin
geliefert, wo Minen verlegt sind und Menschen gefährden, verstümmeln und umbringen. Sie werden geliefert,
um diese Minen zu beseitigen.
({10})
Insofern dienen sie dort auch dem Schutz der Menschenrechte.
({11})
Ein großer Anteil der Rüstungsgüter sind auch Feldkrankenhäuser in geschützten Containern. Hier sind wir
führend. Darauf bin ich stolz. Auch das dient dem Menschenrechtsschutz.
Hierzu gehört auch die Dekontaminierungsausrüstung
für den Zivilschutz. Es gehören dazu auch Boote für den
Küstenschutz, die einerseits im Bereich der Piraterie im
Einsatz sind und andererseits Fischressourcen schützen.
Ich will hier nicht spekulieren, aber ich bin der Meinung, dass wir und unsere Verbündeten in den Ländern,
in denen Menschen aus der EU im Einsatz sind - ich
denke an Algerien -, den besten Objektschutz und die
beste Grenzsicherung haben, die wir uns vorstellen können. Ich weiß nicht, ob es vielleicht möglich gewesen
wäre, bei dem letzten Anschlag in Algerien noch mehr
Menschen zu schützen, wenn wir noch besseres Material
gehabt hätten.
({12})
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir diese Exporte
selbstverständlich als Instrument einsetzen sollten, wenn
es um Objektschutz und den Schutz von Grenzen geht.
({13})
Abschließend einige Sätze zur Diskussion über das
Thema Export, die Beteiligung des Parlaments und
Transparenz. Wir haben nun einmal die Trennung zwischen Legislative und Exekutive; ich glaube, damit sind
wir gut gefahren. Das möchte ich, ehrlich gesagt, auch
nicht ändern und verwischen. Wir haben unzweifelhaft
die strengsten Rüstungsexportrichtlinien dieser Welt.
Diese wurden 2000 von Rot-Grün verabschiedet. Die
Exekutive füllt sie aus. Nach besten Überlegungen und
strengsten Gewissensentscheidungen werden diese auch
entsprechend umgesetzt.
({14})
Nebenbei, weil mein Vorredner betont hat, wie gering
die Zahl der abgelehnten Rüstungsexportanträge ist:
Viele Anträge zur Erteilung von Exportgenehmigungen
werden erst gar nicht gestellt, weil klar ist, dass wir
Exporte in bestimmte Krisengebiete nicht genehmigen.
Insofern geht auch dieser Vorwurf ins Leere.
Man kann sich aber überlegen, wie man die Situation
bezüglich der Beteiligung des Parlaments verbessern
könnte. Ich halte nichts davon, dass wir als Parlament
das Geschäft der Regierung machen. Wir haben Richtlinien, und die Regierung füllt und führt sie aus.
({15})
Das halte ich für richtig.
Jetzt stellt sich die Frage: Wann werden wir informiert? Im Zeitalter der Social Media, in dem alles sofort
präsent ist, ist es vielleicht sinnvoll, die Berichtszeit zu
verkürzen. Man sollte nicht einmal im Jahr, sondern
vielleicht einmal im Quartal Bericht erstatten, damit man
die Situation besser nachvollziehen kann. Aber an der
grundsätzlichen Aufteilung würde ich nichts ändern.
Ein letzter Gedanke; ich komme zum Ende, Herr Präsident. Wir sind nicht allein auf der Welt. Das sehen wir
beispielsweise in Mali. Im Bereich der Rüstungsexporte
und der Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir uns
für eine vertiefendere europäische Integration entscheiden und uns dann überlegen, wie wir uns in Europa insgesamt aufstellen, und sollten nicht unsere nationale
Suppe kochen.
Deshalb kann ich sagen: Es ist unsere vornehmste
Aufgabe, neben den finanz-, haushalts- und wirtschaftspolitischen Fragen zu einer gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik, aber auch zu einheitlichen Rüstungsexportrichtlinien in der Europäischen Union zu kommen, so wie das bei Dual-Use-Gütern, anderen Rüstungsexportgütern und Kriegswaffen bereits der Fall ist.
Das halte ich für das richtige Ziel. Wir brauchen keinen
Populismus mit falschen Zahlen, womit versucht wird,
etwas ins falsche Licht zu rücken bzw. die Menschen
hinters Licht zu führen.
Vielen Dank.
({16})
Bevor ich dem Kollegen Klaus Barthel als nächstem
Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan bekannt: abgegebene Stimmen 585. Mit Ja haben
gestimmt 435, mit Nein haben gestimmt 111, und enthalten haben sich 39 Kolleginnen und Kollegen. Damit ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585;
davon
ja: 435
nein: 111
enthalten: 39
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({12})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({17})
Dr. Kristina Schröder
({18})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({19})
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Strobl ({20})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({21})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({22})
Peter Weiß ({23})
Sabine Weiss ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Sören Bartol
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({25})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({26})
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({27})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({28})
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({29})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({31})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({32})
Michael Roth ({33})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({34})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({35})
Ulla Schmidt ({36})
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Zypries
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({37})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Reiner Deutschmann
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({38})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({39})
Michael Link ({40})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({41})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({42})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({43})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({44})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({45})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({46})
Hans-Josef Fell
Priska Hinz ({47})
Tom Koenigs
Nicole Maisch
Omid Nouripour
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Markus Tressel
Daniela Wagner
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
fraktionsloserAbgeordneter
Wolfgang Nešković
CDU/CSU
Norbert Schindler
SPD
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Marco Bülow
Dr. Peter Danckert
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Petra Hinz ({48})
Daniela Kolbe ({49})
Hilde Mattheis
Dr. Wilhelm Priesmeier
Gerold Reichenbach
Werner Schieder ({50})
Kerstin Tack
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({51})
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({52})
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Susanne Kieckbusch
Memet Kilic
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({53})
Enthalten
SPD
Sönke Rix
Marlene Rupprecht
({54})
Swen Schulz ({55})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
FDP
Joachim Günther ({56})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Renate Künast
Undine Kurth ({57})
Dr. Tobias Lindner
Kerstin Müller ({58})
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({59})
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der Kollege Barthel hat nun das Wort für die SPDFraktion.
({60})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist nicht die erste Debatte zu diesem Thema. Es
gab zahllose Anfragen an die Bundesregierung, Ausschussberatungen, Anhörungen zum Rüstungsexportbericht usw. Lassen Sie uns das zum Anlass nehmen,
Bilanz zu ziehen.
Die Rüstungsexportpolitik dieser Bundesregierung ist
eines von vielen Symbolen für deren unaufrichtige, widersprüchliche und im Ergebnis schädliche Politik.
({0})
Es wird versucht, die Leute für dumm zu verkaufen.
({1})
Es wird von Lohnuntergrenzen geredet, aber es soll keinen gesetzlichen Mindestlohn geben. Im Ergebnis geht
das Ausufern des Niedriglohnsektors weiter.
({2})
Es soll gegen Altersarmut gekämpft werden, aber man
blockiert sich in der Rentenpolitik. Gleichzeitig wird die
Rentenkasse geplündert.
({3})
Gebetsmühlenartig - das haben wir eben wieder gehört - wird an der Formulierung einer sogenannten restriktiven Rüstungsexportpolitik festgehalten. In Wirklichkeit haben wir es mit einem galoppierenden Prozess
der Enttabuisierung von Exporten von Großwaffen in
Krisenregionen und mit einer ständigen volumenmäßigen Ausweitung von Waffenexportgenehmigungen zu
tun.
({4})
Die Bundesregierung versucht mühsam, das alles
sprachlich zu verschleiern. Aber schon im Koalitionsvertrag gelingt es nicht ganz, weil dort die Rüstungsexporte immer im Zusammenhang mit Außenwirtschaftspolitik und Beschaffungspolitik der Bundeswehr
genannt werden. Allerdings haben sie da gar nichts zu
suchen. Im Ergebnis stellen wir heute fest: Das ganze
Gerede kann man vergessen.
Schauen wir uns die Fakten an. Ja, Sie haben recht:
Auch bei früheren Regierungen gab es Rüstungsexporte,
die eine oder andere umstrittene Genehmigung, und es
gab auch Steigerungen. Aber Fakt ist, dass wir überall
neuen Rekorden entgegenstreben: bei den Einzel- und
Sammelausfuhrgenehmigungen, den tatsächlichen Rüstungsexporten, dem Anteil der Exporte in Drittstaaten
und dem Export in Entwicklungsländer und menschenrechtlich problematische Staaten. Sie müssen nur die
Zahlen Jahr für Jahr vergleichen, dann werden Sie eine
ganz klare Tendenz feststellen und erkennen, was tatsächlich passiert.
Weltweit wurden 2010 für 1,6 Billionen US-Dollar
Waffen gekauft, 50 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor.
Ein Zehntel davon floss an deutsche Firmen. Wir liegen
damit in der Tat auf dem dritten Platz. Es gab in den letzten zehn Jahren, vor allen Dingen in den letzten Jahren,
eine überdurchschnittliche Steigerung. Das ist eine der
Haupttriebfedern von Staatsverschuldung, eine Mitursache für die Krise und die Arbeitslosigkeit; denn das, was
für Rüstungsimporte ausgegeben wird, kann nicht mehr
für andere Ausgaben verwendet werden. Das ist eines
der Haupteinfallstore für Korruption. Es wird geschätzt,
dass jährlich rund 20 Milliarden Dollar an Korruptionsgeldern fließen.
Ja, es ist richtig: Andere Länder exportieren auch.
Diesen Hinweis, meine Herren und Damen von der Koalition, können Sie sich aber sparen; sonst hätte man ja
mal etwas von Anstrengungen oder Initiativen der Bundesregierung hören müssen, auf internationaler oder wenigstens europäischer Ebene Waffenexporte gemeinsam
zu regeln und einzuschränken. Aber nichts davon ist passiert. Stattdessen müssen die europäischen Regeln und
die Lücken darin herhalten, wenn es darum geht, die Erhöhung der deutschen Exporte zu rechtfertigen. In Sonntagsreden wird die europäische Gemeinsamkeit bei der
Rüstungsbeschaffung und -produktion beschworen.
Doch dann erklären Vertreter der Bundesregierung mit
Blick auf Europa, man wolle nicht abhängig werden von
ausländischen Firmen, auch nicht in Europa. So sagte es
Staatssekretär Wolf. In Wirklichkeit unterstützt die Bundesregierung also auf vielen Wegen die deutschen Unternehmen beim Wettlauf um maximale Verkäufe, und das
bei minimaler Bedeutung für den deutschen Gesamtexport - 0,2 Prozent - und maximalem Schaden für den
Rest der deutschen Exportwirtschaft und die deutschen
Außen- und Sicherheitsinteressen. SIPRI kommt zu dem
Schluss - ich zitiere -:
Wir beobachten in Deutschland eine immer intensivere Unterstützung der Politik, die wegbrechenden
Militärausgaben mit mehr Rüstungsexporten zu
kompensieren.
Die Listen sind lang. Panzer für Saudi-Arabien waren
der letzte Schlager. Das ist nur eines von vielen Ländern
in der Krisenregion Nahost und Nordafrika, wo ein großer Teil unserer Exporte hingeht. Das ist die Hauptabnehmerregion. Jetzt ist Nordafrika eine Zone gefährlicher Instabilität, permanenter Unruhe und bewaffneter
Auseinandersetzungen.
In der Tat haben auch frühere deutsche Regierungen
Waffen dorthin geliefert. Das muss man kritisch sehen.
Zu Saudi-Arabien muss man aber auch sagen: Die mischen in vielen Staaten in der Region mit, in Syrien, in
Libyen, in Bahrein oder im Libanon. Und dann faselt die
Bundesregierung, Saudi-Arabien sei - Zitat - ein „konKlaus Barthel
struktiver Spieler, den wir natürlich einbeziehen müssen“, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes.
({5})
Die Doppelbödigkeit dieser Politik der Bundesregierung
ist kaum noch zu überbieten.
({6})
Da wird die Kontinuität beschworen und die Behauptung
aufgestellt - Zitat; Herr Dr. Pfeiffer, hören Sie zu -:
Die deutsche Rüstungsexportpolitik war und ist im
Unterschied zu einer Reihe anderer Staaten kein Instrument außenpolitischer Einflussnahme.
So sagte es ein Vertreter der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss. Gleichzeitig sagt die Merkel-Doktrin - wir haben es gerade von Herrn Dr. Pfeiffer gehört -:
Es liegt in unserem Interesse …, wenn wir Partner
dazu befähigen, sich für die Bewahrung oder Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden in ihren
Regionen wirksam einzusetzen.
({7})
Gemeint war damit der Rüstungsexport. Also kein Instrument von Außenpolitik? Herr Pfeiffer hat das gerade
selbst zugegeben. Es gibt Widersprüche, wohin man
schaut.
Ein aktuelles Beispiel ist Mali. Hier kämpfen verbündete Soldaten, in diesem Fall die Franzosen, nicht nur
gegen die Fehler und Versäumnisse ihrer eigenen kolonialen Vergangenheit, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gegen Waffen aus europäischer Produktion.
Zitat Bundesregierung, Auswärtiger Ausschuss:
Entsprechend den Regelungen des Gemeinsamen
Standpunktes der EU werden Genehmigungen für
die Ausfuhr von Rüstungsgütern nur erteilt, wenn
zuvor der Endverbleib dieser Güter im Empfängerland sichergestellt ist.
Deswegen habe ich mir erlaubt, die Bundesregierung
zu fragen, woher die Waffen der malischen Aufständischen kommen und ob vielleicht welche aus europäischer und deutscher Produktion dabei sind. Antwort der
Bundesregierung: Dazu liegen keine Erkenntnisse vor.
Meine vorbeugende Nachfrage, ob man denn dieser
Frage im Sinne der eigenen Beteuerungen nachgehen
wolle und gegebenenfalls Untersuchungen einleiten
wolle, wurde mit dem Hinweis beantwortet, dass diese
Frage ausreichend beantwortet sei. Das heißt, es ist ausreichend, nichts zu wissen, und man will auch nichts
wissen. So viel zum Thema Endverbleibsklausel.
Über all dieses Durcheinander und die Widersprüche
in den Parlamentsdebatten der letzten Monate könnten
wir jetzt noch stundenlang reden. Man konnte aus den
Koalitionsfraktionen nahezu jede Position hören; das
wird auch heute so sein. Die einen argumentieren, dass
es gut ist, dass die Regierung unsere Rüstungsindustrie
unterstützt, zum Beispiel wegen der Technologie.
({8})
Die CSU ist besonders engagiert. Ich zitiere aus dem
Bayern-Kurier den Leiter der Bayerischen Staatskanzlei,
Thomas Kreuzer: „Die Bundesregierung müsse ‚die
Wirtschaft auf den Exportmärkten nach Kräften unterstützen‘“. Der Parlamentarische Staatssekretär Christian
Schmidt sagte dazu bei dem gleichen Treffen: „Die Industrie kann darauf rechnen, dass wir sie anderen Kunden empfehlen.“
({9})
Die Politik, besonders die bayerische, will wehrtechnische Exporte gerne unterstützen, versicherte
Florian Hahn, Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag.
Man solle am Wahltag noch einmal daran erinnern.
Eines der Highlights in dieser Debatte hat der schon
zitierte Staatssekretär Christian Schmidt geliefert. In der
Stuttgarter Zeitung vergleicht er den Deutschen Bundestag in seiner sicherheitspolitischen Verantwortung mit
dem Finanzamt:
Der Bundestag entscheidet auch nicht über Steuerbescheide - wieso soll er dann über Rüstungsexporte entscheiden?
({10})
Also, die einen verharmlosen und wollen ausweiten,
die anderen sagen das genaue Gegenteil: Es soll sich
nichts ändern, und es hat sich nichts geändert. Interessant an dem Ganzen war bisher eines - das ist auch heute
so -: Mitglieder der Bundesregierung werden zwar ständig in den Medien zitiert oder lassen sich zitieren, auch
die Kanzlerin, aber bei keiner der Debatten hier im Parlament zum Thema Rüstungsexporte gab es einen Auftritt eines Mitglieds der Bundesregierung. Ich würde hier
vom zuständigen Ressortminister gern etwas über den
Vergleich mit dem Steuerbescheid oder auch zu den Erkenntnissen über die Waffen in Mali hören. Aber dieser
Regierung fehlt der Mut, hier dazu Stellung zu nehmen.
Es gibt ein Riesendurcheinander. Niemand will sich
hier hinstellen und sagen, was Sache ist. Wir sagen: Das
ist nicht nur eine Missachtung des Parlaments, sondern
auch eine Missachtung der interessierten Öffentlichkeit.
Die Menschen sind bei dieser Frage zu Recht sensibel.
Sie haben recht, wenn sie sagen, dass Rüstungsexporte
keine Steuererklärung sind. Mit dieser Mischung aus
Geheimnistuerei, Widersprüchen und Nebelkerzenwerfen kommen Sie auf Dauer nicht mehr durch.
Wir haben sehr wohl mit Genugtuung wahrgenommen, dass es eine Reihe von Koalitionspolitikern gibt,
die unsere Vorschläge ernst nehmen und aufgreifen. Wir
haben dazu Herrn Polenz und Herrn Stinner sowie den
Kollegen Fritz gehört. Der Kollege Kiesewetter fordert
sogar ein Vetorecht des Parlaments.
({11})
Frau Hoff von der FDP plädiert für ein parlamentarisches Gremium zur Kontrolle von Waffenexporten. Das
alles sind erfreuliche Töne. Bestimmt habe ich jetzt viele
vergessen, die sich auch in diese Richtung geäußert haben; aber Sie können sich ja heute noch outen.
({12})
Das heißt, Grüne und SPD sind mit ihrer Überzeugungsarbeit gut vorangekommen. Unsere Forderungen
finden sich auch in unseren Anträgen, über die hier heute
abschließend beraten wird. Zurück zu einer restriktiven
Rüstungsexportpolitik, alle Kriterien einschließlich der
Menschenrechte ernst nehmen, laufende parlamentarische Kontrolle, zeitnahe Information der Öffentlichkeit
und Offenlegung von Firmenspenden aus diesem Bereich - das sind einige unserer Forderungen.
1971, 1982 und 2000 - in diesen Jahren wurden jeweils die Richtlinien für Rüstungsexporte überhaupt geschaffen bzw. weiterentwickelt, immer unter sozialdemokratisch geführten Regierungen. Also spätestens nach
einem Regierungswechsel 2013
({13})
werden wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen und
Debatten, die wir jetzt machen und erleben, die Rüstungsexportpolitik erneut reformieren. Wir danken allen,
die uns bis heute dabei unterstützt haben und uns Argumente geliefert haben.
({14})
Die Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträgen
von Grünen und SPD könnte ein gutes Signal für eine
neue Rüstungsexportpolitik sein, und zwar in dem Sinne,
wie wir es hier dargestellt haben.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort erhält der Kollege Martin Lindner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Bevor ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Rüstungsexportpolitik mache und zum Schluss auf die Anträge, das Parlament mehr zu beteiligen, zu sprechen
komme, möchte ich gerne ein paar Fakten klarstellen,
vor allen Dingen in Richtung des Fraktionsvorsitzenden
der Linken. Lieber Kollege Gysi, Sie haben alles miteinander vermischt, als Sie die 17 000 Genehmigungsanträge erwähnt haben. Sie vermischen zum Beispiel
Kriegswaffen mit allgemeinen Rüstungsgütern und
Dual-Use-Gütern. Das geht bei Ihnen alles durcheinander.
Sie schauen sich die Fakten und Zahlen an und weisen darauf hin, dass Deutschland bei Kriegswaffenexporten weltweit an Nummer drei steht.
({0})
Das ist natürlich eine Tatsache, genauso wie es eine Tatsache ist, dass Deutschland bei allgemeinen Exporten an
Nummer zwei steht. Davon kann man ableiten, dass der
Anteil unserer Exporte von Rüstungsgütern und Kriegswaffen im Vergleich zum Anteil der allgemeinen Exporte unterproportional ist.
({1})
Deutschland ist nun einmal ein starkes Exportland und
wird es auch bleiben, weil es keinen Regierungswechsel
geben wird und wir weiter dafür sorgen werden, dass wir
einen starken Export in Deutschland haben.
({2})
- Wissen Sie: Wenn der Maßstab der politischen Debatte
wäre, was Sie fassen können, dann bräuchten wir gar
nicht weiter zu diskutieren. Das ist jedenfalls nicht unser
Maßstab.
({3})
Wir konzentrieren uns auf die Zahlen und Fakten.
Wenn Sie - das gilt natürlich auch für den Kollegen
Barthel - immer wieder darauf hinweisen, dass die
Exporte von Kriegswaffen, die Kriegswaffenausfuhren,
unter Schwarz-Gelb angeblich dramatisch gestiegen
seien, dann möchte ich Sie, zumindest diejenigen, die
noch einigermaßen offenen Ohres sind, auch hier auf die
entsprechenden Zahlen hinweisen. 1998 lag der Anteil
der exportierten Kriegswaffen am Gesamtexport bei
0,14 Prozent. Nach dem letzten Exportbericht, dem für
2009, betrug dieser Anteil 0,17 Prozent. Der Anteil der
Kriegswaffenexporte am Gesamtexport hat sich also so
gut wie nicht verändert.
Es gab ein einziges Ausreißerjahr, in dem der Anteil
deutlich größer war; das war das Jahr 2005. Damals lag
der Anteil der Kriegswaffenexporte am Gesamtexport
bei 0,26 Prozent. Jetzt frage ich Sie, Kollege Barthel:
Als Sie gerade sagten, wir müssten zur restriktiven
Exportpolitik von Rot-Grün zurück, meinten Sie damit
das Jahr 2005, als ein signifikanter Anstieg zu verzeichnen war?
({4})
Dr. Martin Lindner ({5})
Das kann man nämlich eindeutig festmachen: Ausschlaggebend dafür waren nicht Entscheidungen, die
noch unter Schwarz-Gelb getroffen worden sind, sondern Entscheidungen, die im Bundessicherheitsrat unter
Mitwirkung Ihrer Parteimitglieder - von Frau
Wieczorek-Zeul und anderen - getroffen worden sind.
({6})
Das ist ein erhebliches Stück Heuchelei und Verlogenheit, das Sie uns in Ihren Reden zum Thema Rüstungsexporte immer wieder offenbaren.
({7})
Wir halten also fest: An der restriktiven Exportpolitik
der Bundesregierung hat sich nichts geändert, auch unter
Schwarz-Gelb nicht. Daran wird sich auch nichts ändern.
({8})
Der nächste Punkt, Kollege Gysi. Es war schon abenteuerlich, was Sie zu den Drohnen ausführten. Machen
Sie sich einmal kundig, was Drohnen ersetzen. Sie sind
doch kein Ersatz für Infanterie oder für Waffen, die am
Boden eingesetzt werden.
({9})
Sie sind ein Ersatz für die Fliegerei, in der fernen Zukunft eventuell auch für die Kampffliegerei. Sie schonen
und sichern unsere eigenen Soldaten.
({10})
Ich glaube, das Ziel von Rüstungspolitik muss sein, in
allererster Linie unsere eigenen Leute zu schützen.
({11})
Wenn Sie den Einsatz von Eurofightern mit dem Einsatz von Drohnen vergleichen, muss man sagen: Mit einer Drohne kommt man wesentlich näher an Ziele heran.
Dann kann man wesentlich besser entscheiden, ob beispielsweise Menschen gefährdet sind, die nicht im
Kriegseinsatz sind, als man es unter Verwendung von
Kampfflugzeugen tun könnte, mit denen man die Ziele
aus wesentlich größerer Distanz angreift. Auch hier vermischen Sie die Dinge. Sie machen den Leuten etwas
vor. Bei Ihnen gerät alles irgendwie durcheinander. Sie
verfolgen ein einziges Ziel: Sie wollen uns schaden,
wenn es darum geht, wie wir uns außen- und sicherheitspolitisch positionieren.
Ich sage Ihnen: An dieser Stelle wird sich nichts ändern. Diese Regierung wird weiterhin einen restriktiven
Kurs fahren. Priorität haben die außen- und sicherheitspolitischen Belange. Aber wir werden uns natürlich immer wieder auch dafür einsetzen, dass die Menschenrechtssituation betrachtet wird.
Herr Kollege Lindner, darf der Kollege Liebich Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Herr Kollege Lindner, meine Kollegen mögen es immer nicht, wenn ich Ihnen Zwischenfragen stelle, weil
Sie dann noch länger reden können; aber ich konnte jetzt
wirklich nicht an mich halten. Die These, die Sie hier
vertreten - dass der Einsatz von Drohnen deshalb gut
sei, weil unsere eigenen Soldaten geschützt werden; das
sei ja auch der Zweck von Drohnen -, fordert eine Nachfrage heraus.
Wir haben im Auswärtigen Ausschuss gestern über
die Volksrepublik China diskutiert. Mitglieder der
Koalitionsfraktionen haben mit Sorge davon gesprochen,
dass nun auch in China darüber nachgedacht wird, Drohnen anzuschaffen. Ich frage Sie, ob Sie nicht der Logik
folgen würden, dass man mit der Entwicklung einer
völlig neuen Waffengattung, die nicht nur von uns und
unseren Verbündeten genutzt wird, sondern auch von der
anderen Seite - wie es bei Cyberwar schon passiert ist -,
einen verhängnisvollen Weg einschlägt und es besser
wäre, solche neuen Waffengattungen einfach zu ächten.
({0})
Herr Kollege Liebich, wenn Sie die Entwicklung der
Drohnentechnologie weltweit betrachten, dann werden
Sie zu dem Ergebnis kommen, dass diese Technologie
vorhanden ist und weiter erforscht wird.
({0})
Diese Technologie wird in erheblichen Teilen die Zukunft nicht nur der militärischen Fliegerei, sondern auch
der Frachtfliegerei bestimmen. Das ist übrigens einer der
Gründe, warum auch das Bundeswirtschaftsministerium
die Entwicklung von Drohnentechnologie unterstützt.
Der Einsatz von Drohnen wird sich nicht auf Aufklärung
beschränken, sondern in der längeren Perspektive auch
Kampfbomber und andere Waffensysteme ersetzen.
Diese Technologie wird darüber hinaus auch in der zivilen Fliegerei eine große Rolle spielen.
Da können Sie - genau das ist das Problem, Herr
Liebich - doch nicht so tun, als könnten wir hier im
Deutschen Bundestag oder könnte die Bundesregierung
allein entscheiden, welchen Weg die Entwicklung weltweit nimmt. Die Frage ist lediglich, ob man die Entwicklung mitbestimmt und mitgestaltet. Das ist der große
Unterschied zwischen uns - ob es um Rohstoffe geht
oder ob es um Rüstungsexporte geht -: Sie tun so, als
könnten Sie hier die Welt richten.
({1})
Das Problem dabei ist, dass Sie sich selber vom Spielfeld nehmen. Aber wer nicht auf dem Spielfeld ist, der
bestimmt auch die Regeln nicht mit - dazu muss man
Dr. Martin Lindner ({2})
auf dem Spielfeld bleiben. Deswegen ist es richtig, dass
wir die Entwicklung dieser Technologie verantwortungsvoll unterstützen und mitgestalten, um dann auch die internationalen Regeln für den Einsatz dieser Waffen mitbestimmen zu können.
({3})
Das ist Verantwortung. Was Sie betreiben, ist Populismus oder - im besten Falle - eine sehr einseitige und
naive Betrachtung der Dinge.
({4})
Meine Damen und Herren, das führt mich direkt zur
Frage der Menschenrechte, zu der der Kollege Pfeiffer
wirklich Bemerkenswertes gesagt hat. Auch hier können
Sie sagen: Ohne mich! Wir stellen uns daneben und
machen uns nicht schmutzig. - Aber Sie werden dann
auch nicht mitgestalten. Der Kollege Gysi hat das
Beispiel Saudi-Arabien angesprochen. Das ist ein gutes
Beispiel: Dort wird, auch mithilfe deutscher Wehrtechnologie, eine Grenzsicherung aufgebaut.
({5})
Das bietet im Rahmen der Partnerschaft zusammen mit
dem Innenministerium die Gelegenheit, durch Schulungen Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung der inneren
Führung in einem Land wie Saudi-Arabien.
({6})
Das ist tausendmal besser, als sich an den Rand zu stellen und allen anderen Staaten das Spielfeld zu überlassen. Auch hier haben wir wieder den Unterschied
zwischen Ihnen und uns, zwischen Verantwortung und
Populismus,
({7})
zwischen konstruktiven Sicherheitspartnerschaften und
einer „Ohne mich!“-Position. Mit Ihrer Position können
Sie vielleicht in dem einen oder anderen Zirkel, in dem
Sie zu Hause sind, glänzen - mit Verantwortung hat das
aber nichts zu tun.
({8})
Ich sage Ihnen auch klar: Wir bekennen uns zur
Rüstungsindustrie in Deutschland. Was wäre denn die
Alternative? Dass wir darauf angewiesen wären, entsprechendes Gerät für die Bundeswehr ausschließlich
aus dem Ausland zu beschaffen. Dann bestimmen wir
gar nichts mehr, dann bestimmen die die Preise und die
Technologie, und wir sind draußen.
({9})
Mit Verantwortung hat das nichts zu tun. Deswegen werden wir die Fragen der Technologie und der Arbeitsplätze mit berücksichtigen. Auch hierzu bekennen wir
uns ganz klar.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Sätze zur
Frage der Parlamentsbeteiligung sagen. Auch hier besteht - da beziehe ich mich ebenfalls auf den Kollegen
Pfeiffer - ein Unterschied zwischen entscheiden und
kontrollieren. Die Frage der Parlamentsbeteiligung im
Sinne einer effektiveren Kontrolle werden wir uns vornehmen. Wir appellieren an die Bundesregierung, das
gemeinsam mit uns zu tun. Ich glaube, da können wir
etwas verbessern, wir könnten schneller und detaillierter
informiert werden - aber informiert werden im Sinne
einer Kontrolle, also nachdem das Geschäft getätigt ist.
Was ich aber ablehne, ist eine Vermischung von Befugnissen der Exekutive und Befugnissen der Legislative.
Eine solche Vermischung gibt es auch in keinem anderen
europäischen Land. Das sind sehr komplexe Verfahren,
wo sehr viele Interessen und sehr viele Auswertungen
mit zu berücksichtigen sind. Da werden wir versuchen,
die Kontrolle zu stärken. Damit werden wir auch bei diesem System einen Schritt weiterkommen im Sinne einer
vernünftigen, restriktiven, aber auch verantwortungsbewussten Exportpolitik.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Pfeiffer! Im Jahr
2011 hat Deutschland mehr als doppelt so viele Kriegswaffen an Drittstaaten ausgeliefert wie an EU- und
NATO-Staaten. Dabei sollte das Regel-AusnahmeVerhältnis genau umgekehrt sein. Zu den Hauptabnehmern gehören vor allem die zahlungskräftigen Monarchien der arabischen Halbinsel. Gleichzeitig debattieren
wir hier seit Wochen, wie wir Mali im Kampf gegen die
islamistischen Terroristen unterstützen sollen. Ich
möchte Ihnen hierzu einmal aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. Januar vorlesen:
Es gibt kaum einen Politologen, der nicht vermutete, dass alle mit der Kaida verbündeten Islamisten
der Sahelzone zu einem beträchtlichen, wenn nicht
entscheidenden Teil von Saudiarabien und den
Golfemiraten finanziert werden. Deutschland aber
hat Saudiarabien letztes Jahr Waffen im Wert von
30 Millionen Euro geliefert, Riad ist an Kampfpanzern der Typen Boxer und Leopard interessiert, VerKatja Keul
handlungen über die Lieferung von ABC-Spürpanzern des Typs Dingo sind im Gang. Ist das nicht
etwas seltsam?
({0})
Diese Frage ist meines Erachtens mehr als berechtigt.
({1})
Ob in Syrien oder in Mali: Nur wenn wir ganz fest die
Augen verschließen, können wir übersehen, dass islamistische Kämpfer in bewaffneten Konflikten von ihrer
Hausmacht auf der arabischen Halbinsel finanziert werden. Dennoch bezeichnet die Kanzlerin die Golfstaaten
als strategische Partner, die wir mit deutschen Waffen ertüchtigen wollen. Gleichzeitig schicken wir deutsche
Soldaten in die Wüste, um die Scherben der Politik dieser strategischen Partner wieder einzusammeln.
Bei dieser Gelegenheit gibt es dann noch ein Wiedersehen der Bundeswehr mit den Waffen, die in früheren
Jahren einem anderen strategischen Partner in Libyen
geliefert wurden. Was an diesem ganzen Schlamassel
strategisch sein soll, verstehen doch nicht einmal mehr
die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen.
({2})
Die Kanzlerin ist der Meinung, die Abgeordneten
müssten das auch gar nicht verstehen. Es sei besser,
wenn wir uns gar nicht mit diesen strategischen
Entscheidungen beschäftigen, denn das sei alles Kernbereich der Exekutive und damit streng geheim. So einfach lässt sich parlamentarische Kontrolle aber nicht
aushebeln, Frau Merkel.
({3})
Da haben Sie Art. 26 Grundgesetz gründlich falsch
verstanden. Dort steht zwar, dass Kriegswaffen nur mit
Genehmigung der Bundesregierung exportiert werden
dürfen. Die Grundlage für diese Genehmigung regelt
allerdings ein Gesetz, und der Gesetzgeber sind immer
noch wir.
Man kann zu Recht behaupten, dass der Deutsche
Bundestag der Exekutive bislang mit dem Außenwirtschaftsgesetz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz zu
viel Spielraum gelassen hat. Die freiwillige Selbstverpflichtung, die unter Rot-Grün in Form der Rüstungsexportrichtlinie verabschiedet wurde, hat sich als zu
schwach erwiesen, sonst wäre Deutschland nicht drittgrößter Waffenexporteur geworden. Deshalb wollen wir
Grüne mit dem vorliegenden Antrag die in der Richtlinie
genannten Kriterien, wie Menschenrechtslage, Gefahr
innerer Repression und bewaffnete Konflikte, endlich als
Gesetz verabschieden.
({4})
Wir wollen diese Kriterien verbindlich und am Ende
auch justiziabel machen. Denn die Exekutive ist an
Recht und Gesetz gebunden, und wenn sie dagegen verstößt, ist es Aufgabe der Gerichte, den jeweiligen Einzelfall zu prüfen.
Da ein einzelner Bürger nicht klagebefugt ist, wenn es
um die Menschenrechtslage in einem anderen Land geht,
brauchen wir dazu die Möglichkeit einer Verbandsklage.
Bislang funktioniert die Rüstungsexportkontrolle nach
dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Im
Umweltbereich hat sich gezeigt, wie die Wahrnehmung
berechtigter Interessen durch Klagerechte von Verbänden funktionieren kann. Warum soll das nicht auch im
Bereich der Rüstungsexportkontrolle funktionieren?
({5})
Solange wir keine gerichtliche Kontrolle haben, ist
die parlamentarische umso wichtiger. Wie in jedem anderen Politikbereich auch, hat die Bundesregierung dem
Bundestag Rede und Antwort zu stehen und ihre Entscheidungen zu begründen. Wir Parlamentarier können
aber nur dann die richtigen Fragen stellen, wenn wir
zunächst einmal informiert werden. Darauf haben wir
einen in Art. 38 Grundgesetz verankerten Anspruch.
Der Rüstungsexportbericht ist aufgrund seiner zeitlichen Verzögerung längst nicht mehr geeignet, die parlamentarische Kontrolle zu ermöglichen. Wir wollen daher
regelmäßige Unterrichtungen über sensible Exporte, insbesondere in Staaten außerhalb von NATO und EU. Und
wir wollen diese Unterrichtung auch vor der abschließenden Genehmigung, damit wir zumindest in die Lage
versetzt werden, eine Stellungnahme abzugeben.
({6})
Selbstverständlich muss dabei nicht jede Information
gegenüber dem Plenum erteilt werden. Das ständig
wiederholte Gegenargument, wir würden mit unseren
Vorschlägen das Parlament überfordern, ist geradezu
absurd. So, wie der Bundestag sonst auch arbeitsteilig
vorgeht, brauchen wir für die Rüstungsexportkontrolle
ein parlamentarisches Gremium ähnlich dem bereits
existierenden Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“.
({7})
Auch das Letztentscheidungsrecht der Exekutive
stellt deswegen noch keiner infrage. Es kann aber nicht
sein, dass die Exekutive alles, was mit Rüstungsexporten
zu tun hat, pauschal als streng geheimen Kernbereich
einstuft. Nur im begründeten Ausnahme- bzw. Einzelfall, wenn unternehmerische Interessen gegenüber dem
öffentlichen Interesse überwiegen, ist eine solche Einstufung gerechtfertigt. Dass Rüstungsexporte in der Bevölkerung unpopulär sind, reicht als Geheimhaltungsgrund
nicht aus.
({8})
Auch die Lage in den Empfängerländern ist in der
Regel öffentlich nachzulesen, am besten gleich im
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Die Möglichkeit diplomatischer Verwicklungen ist daher auch
kein Geheimhaltungsgrund. Das unternehmerische Interesse dürfte sich überwiegend auf die Geheimhaltung
von Kostenkalkulationen und technischen Daten beziehen. Die können dann gerne geheim bleiben.
Wir wollen die außen- und sicherheitspolitische Bedeutung solcher Entscheidungen diskutieren, und zwar
am liebsten mit den Kolleginnen und Kollegen, die dafür
zuständig sind. Das federführende Wirtschaftsministerium hat so gut wie nie Einwendungen gegen beantragte
Exportgenehmigungen. Warum auch? Für die Krisenherde dieser Welt sind schließlich andere federführend
zuständig.
Wir fordern daher mit unserem Antrag, die Zuständigkeit auf das Auswärtige Amt zu übertragen; denn
letztlich kann dieses am besten beurteilen, ob im
Empfängerland innere Repressionen drohen oder
Menschenrechte verletzt werden. Die Zuständigkeit ist
letztlich keine reine Formsache; sie offenbart die politische Gewichtung der unterschiedlichen Interessen und
Kriterien.
Im Antrag der Linken finde ich zu all diesen konkreten Vorschlägen leider nichts. Sie beschränken sich
darauf, sämtliche Exporte von Rüstungsgütern auszuschließen, also auch die an EU- und NATO-Staaten.
Das hieße in der Konsequenz, dass sich alle europäischen Länder eine autonome nationale Rüstungsindustrie für die Ausstattung ihrer Armeen mit den entsprechend hohen staatlichen Subventionen leisten müssten.
Das kann doch nicht ihr Ernst sein!
({9})
Oder wollen Sie doch die Bundeswehr abschaffen und
aus der NATO austreten? Das wäre dann wenigstens
konsequent.
({10})
Auch das Beispiel Japan ist leider überholt. Dort hat
sich die Regierung nämlich gerade zu einer Kehrtwende
entschlossen,
({11})
weil sich das Land schon lange keine autarke Rüstungsindustrie mehr leisten kann.
Ich glaube vielmehr, dass Abrüstung in Europa nur
durch mehr Zusammenarbeit erfolgen kann. Dazu gehört
zwingend auch eine Konsolidierung des europäischen
Rüstungsmarktes. Nicht jedes europäische Land braucht
sämtliche militärischen Fähigkeiten, und nicht jedes europäische Land braucht seinen eigenen Hersteller für
Jagdflugzeuge und Panzer.
({12})
Klar ist aber auch: Wenn wir den Export von
Rüstungsgütern und Kriegswaffen innerhalb von NATO
und EU zulassen, muss die Exportkontrolle an Europas
Außengrenzen umso besser funktionieren. Deswegen
wollen wir auch den Gemeinsamen Standpunkt der EU
zu Rüstungsexporten stärken und in nationales Recht
umsetzen. Noch heute Abend werden die Kollegen von
der Koalition die Chance dazu ungenutzt verstreichen
lassen und das Außenwirtschaftsgesetz ohne Umsetzung
dieses Vorschlages beschließen. Schade eigentlich!
Die SPD fordert in ihrem Antrag mehr Transparenz
und parlamentarische Beteiligung in der Rüstungsexportkontrolle. Das ist zweifelsfrei unerlässlich, sodass
wir diesem Antrag zustimmen werden.
Transparenz ist allerdings kein Selbstzweck, sondern
ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer restriktiveren
Genehmigungspraxis. Genauso wichtig ist es deswegen,
den Endverbleib der Waffen tatsächlich zu überprüfen
und sich nicht mit einer schriftlichen Endverbleibserklärung zu begnügen. Die Bundesrepublik hat hier gegenüber den staatlichen Empfängern durchaus diplomatische und gegebenenfalls auch rechtliche Möglichkeiten,
ihre Entscheidungen durchzusetzen, wenn sie es nur
will.
Sehr geehrte Damen und Herren, das Versteckspiel
der Bundesregierung bei der Waffenausfuhr ist einer
Demokratie unwürdig: unwürdig für die Regierung
selbst, da sie sich offensichtlich nicht in der Lage sieht,
ihre Entscheidung gegenüber einer kritischen Bevölkerung darzulegen und zu begründen, unwürdig vor allem
für uns Parlamentarier, die wir allesamt, egal auf welcher Seite des Parlamentes, von der Regierung in Unwissenheit gelassen werden.
Lassen Sie uns diesen unwürdigen Zustand beenden
und sowohl das Verfahren als auch die gesetzlichen
Vorgaben beschließen, nach denen die Regierung ihre
Entscheidungen auszurichten hat.
({13})
Stimmen Sie deswegen für ein Rüstungsexportkontrollgesetz! Stimmen Sie unserem grünen Antrag zu!
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im letzten Jahr, im Jahr 2012, haben wir hier in
diesem Hause alle acht Wochen über das Thema
„Rüstungskontrolle, Rüstungsexporte“ gesprochen.
({0})
Der Verlauf der heutigen Debatte ist im Prinzip genauso
wie bei den sechs Debatten im letzten Jahr. Es gibt nicht
ein einziges neues Argument in der Debatte. Die Opposition arbeitet mit unterschwelligen Behauptungen.
({1})
- Herr Barthel, zu Ihnen komme ich noch. - Sie täuschen uns über die Tatsachen in Ihrer eigenen Regierungszeit hinweg. Dabei haben Sie heute zumindest erwähnt, dass es auch in der Zeit der rot-grünen Regierung
durchaus Diskussionen und Probleme mit dem Thema
Rüstungsexport gegeben hat. Es werden hier immer unterschwellig Unterstellungen eingestreut. Nirgendwo haben Sie einen einzigen Beleg für das gebracht, was Sie
behauptet haben, Herr Barthel.
Aber den Vogel hat natürlich der Kollege Gysi abgeschossen; das muss man einmal klar sagen.
({2})
Mir stellen sich schon alle Nackenhaare auf, wenn ich
Ihnen zuhöre, Herr Kollege Gysi. Sie erinnern sich doch
noch an die drei Buchstaben SED. Die kennen Sie doch
noch. Da haben Sie doch schon damals Verantwortung
getragen, Sie waren Mitglied in dieser Partei.
({3})
- Nein, der Kollege Gysi. - Diese Partei hat die Kategorisierung der Welt vorangetrieben.
({4})
Es gab gerechte Kriege, und es gab ungerechte Kriege.
Wenn dann die SED einen Krieg als „gerechten Krieg“
gekennzeichnet hat,
({5})
dann hat die SED mit ihren Verbündeten Waffen in ungeahnter Zahl über die Welt verstreut, Herr Gysi: ohne
Transparenz, ohne Rüstungsexportbericht, ohne dass
überhaupt jemand wusste, wohin diese Waffen gingen,
wer diese Waffen hatte und wer diese Waffen weiterverkauft hat.
({6})
Der Gipfel von all dem war - daran können Sie sich
erinnern - im Dezember 1989: In der Nähe von Rostock
wurden von der Bürgerbewegung mehrere Lagerhallen
mit versandfertigen Waffen aufgefunden. Jetzt stellen
Sie sich mit Ihrer Vergangenheit hier hin und sagen keinen einzigen Ton dazu, was Sie damals als Mitglied der
SED getan haben, und sind jetzt sozusagen der Friedensengel des Deutschen Bundestages.
({7})
Wissen Sie, das ist schon ein starkes Stück.
Mit Blick auf den Rüstungsexportbericht muss ich natürlich sagen:
({8})
Auch mir gefällt es nicht, dass wir im Jahre 2013 über
den Rüstungsexportbericht des Jahres 2011 diskutieren.
({9})
Wie meine Vorredner bin ich der Auffassung: Hier brauchen wir dringend eine Änderung. Es muss dem Parlament und der Öffentlichkeit zügiger berichtet werden.
Darin sind wir uns einig. Daran werden wir weiter arbeiten. Da werden wir gemeinsam mit der Bundesregierung
zu Lösungen kommen.
Nun muss man sich einmal die Zahlen in dem Rüstungsexportbericht genauer ansehen. Da fällt erstens auf
- Herr Barthel, das haben Sie nicht erwähnt -: Die absoluten Summen, die ausgewiesen sind, sagen noch nichts
über die Quantität aus; denn die Preissteigerungsraten
der letzten Jahre bei den Rüstungssystemen sind sehr
hoch. Das spiegelt sich natürlich in der wertmäßigen
Summe im Rüstungsexportbericht wider. Hier muss man
die Inflationsrate bei Rüstungssystemen einrechnen.
Zweitens haben Sie ganz verschwiegen - der Kollege
Lindner hat allerdings darauf hingewiesen -, dass der
Höchststand bei den Rüstungsexporten 2005 war. Die
rot-grüne Bundesregierung hat damals hierfür die Genehmigungen erteilt. Nun will ich Ihnen diese Zahl gar
nicht an den Kopf werfen, aber da Sie uns immer unterstellen, die Bundesregierung würde ihre Grundsätze verlassen, die Bundesregierung hätte eine neue Doktrin aufgestellt,
({10})
sage ich Ihnen: Diese Vorwürfe sind nicht zu belegen.
Der Höchststand der Rüstungsexporte war 2005 unter
der rot-grünen Regierung. Das müssen Sie doch endlich
einmal zur Kenntnis nehmen!
Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Als Kronzeugen für Ihre Behauptungen führen Sie immer das SIPRI
an. Das SIPRI - der Kollege Lindner hat schon auf die
Problematik bei der Ermittlung der Zahlen des SIPRI
hingewiesen - weist aus, Herr Barthel, dass der deutsche
Marktanteil an den internationalen Rüstungsexporten
von 11 auf 9 Prozent rückläufig ist; das können Sie dort
nachlesen.
Zum Verständnis der Zahlen muss man noch Folgendes wissen - in der Anhörung im Wirtschaftsausschuss,
Herr Kollege Barthel, wurde das noch einmal deutlich
dargestellt -: Bei großen Waffensystemen wird die wertmäßige Summe dem Land zugerechnet, in dem die Endkontrolle stattfindet. Ich erkläre das: Ein großes System
besteht aus vielen Komponenten, die aus verschiedenen
Ländern geliefert werden. Letztendlich wird der Gesamtwert dem Land zugeschrieben, in dem das entsprechende System endmontiert wird. Da die deutsche Wehrindustrie für sehr viele Endmontagen zuständig ist, ist
aufgrund dessen der wertmäßige Umsatz in Deutschland
hoch.
Die IG Metall zum Beispiel bescheinigt der wehrtechnischen Industrie in Deutschland, dass sie ein wichtiger
Technologiemotor der deutschen Wirtschaft ist. Es gibt
also verschiedene Sichtweisen. Insofern sollte man nicht
wie Sie dieses Thema so polemisch behandeln und mit
Unterstellungen und Halbwahrheiten arbeiten. Man
muss sich die Lage genau anschauen. Dann stellt man
fest: Deutschland ist kein gewissenloser Waffenhändler,
wie vor allen Dingen Sie, Herr Kollege Gysi, das versuchen darzustellen. Sie verkünden Zahlen als Weltneuheiten, die in jedem Bericht nachzulesen sind. Sie sagen immer, dass das, was Sie sagen, eine Sensation sei; dabei
ist alles nachzulesen. Das ist eben Teil Ihrer PDS-Show.
({11})
Die Bundesregierung hält sich genau an die Grundsätze, die unter Rot-Grün aufgestellt wurden. Sie müssen
doch zur Kenntnis nehmen, dass wir, die christlich-liberale Koalition und die Bundesregierung, uns genau an
das halten, was Sie aufgestellt haben. Davon müssten Sie
doch eigentlich begeistert sein und müssten sagen: Es ist
sehr gut, dass sich Deutschland solche Regelungen gegeben hat. - Deutschland liefert nicht leichtfertig Waffen in
die ganze Welt. Hier gibt es ganz klare Regularien, an
die wir uns halten.
Schauen wir uns die vorliegenden Anträge an. Zu
dem Antrag der Linken hat die Kollegin von den Grünen
schon alles gesagt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Er ist
das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht. Das
hat bloß Ihren ökologischen Fußabdruck wieder etwas
verschlechtert, Herr Kollege Gysi. Sie haben wieder Papier verbraucht. Der Antrag der SPD enthält wieder einige Behauptungen, die so nicht haltbar sind. Das passt
aber genau zu dem Bild, das der Kollege Barthel hier gemalt hat.
({12})
Klar ist: Wir werden hier im Parlament immer wieder
über Rüstungskontrolle und Rüstungsausfuhren diskutieren. Sie können sicher sein, dass wir uns diesem Thema
mit großer Verantwortung stellen. Dafür brauchen wir
Ihre Belehrungen nicht.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Edelgard Bulmahn
von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung stellt sich gerne als entschiedene Kämpferin für die Menschenrechte dar, deren
Einhaltung sie ohne Rücksicht auf wirtschaftliche oder
sonstige Interessen anmahnt und einfordert. Eine Politik,
die auch meine Fraktion uneingeschränkt unterstützt. Ich
muss aber ein „Aber“ oder ein „Wenn“ einfügen. Wir
würden diese Politik uneingeschränkt unterstützen,
wenn nicht die Bundesregierung immer dann, wenn es
um die Interessen der deutschen Waffenlobby geht, offenkundig andere Prioritäten setzen würde.
({0})
Deutschland hat sich unter dieser Bundesregierung zur
führenden Exportnation bei Kriegswaffen entwickelt.
Nur die USA und Russland exportieren noch mehr
Kriegsgerät. Man mag das für einen Ausweis deutscher
Wettbewerbsfähigkeit halten, die wir - jedenfalls gilt das
für meine Fraktion - sicherlich für sehr wichtig halten.
Aber, Kollege Lindner, Waffen sind keine x-beliebigen
Wirtschaftsgüter.
Ganz heimlich hat sich die Bundesregierung von den
im Jahr 2000 unter Rot-Grün verankerten politischen
Grundsätzen für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern verabschiedet. Nach diesen Richtlinien sollten Ausfuhrgenehmigungen für den Export in
Staaten außerhalb der NATO und der EU restriktiv und
nur im Einzelfall erteilt werden. Das besagen die Richtlinien.
Es gibt drei wesentliche Kriterien für die Gewährung
bzw. die Versagung einer Exportgenehmigung.
Das erste Kriterium ist die strikte Beachtung der
Menschenrechte. Jetzt frage ich Sie, Kollegen von der
Koalition: Ist die strikte Beachtung von Menschenrechten vereinbar mit Waffenexporten nach Saudi-Arabien
oder nach Pakistan?
Das zweite Kriterium ist die Beurteilung, ob ein
Export im Empfängerland eine nachhaltige Entwicklung
be- oder verhindert. Wenn eine nachhaltige Entwicklung
be- oder verhindert wird, dann sollte keine Exportgenehmigung erteilt werden. Ist diesem Kriterium eigentlich
bei der Prüfung Genüge getan, wenn wir jetzt beispielsweise Waffen nach Ägypten liefern oder wenn wir sie
nach Algerien liefern werden?
Das dritte Kriterium lautet: Der Export sollte zum
Friedenserhalt und zur Konfliktvermeidung beitragen.
Das sind die Kriterien, die angelegt und geprüft werden müssen. Die Bundesregierung betont zwar immer
wieder, dass sie an diesen politischen Grundsätzen festhalten würde - das ist auch eben wieder geschehen -,
aber wenn es um den Export von möglicherweise mehreren Hundert Panzern nach Saudi-Arabien geht, wird
doch schon einmal ein Auge zugedrückt.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat inzwischen auch öffentlich
von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik Abstand genommen. In einer denkwürdigen Rede auf der Tagung
des zivilen und militärischen Spitzenpersonals der BunEdelgard Bulmahn
deswehr am 2. Oktober 2012 in Strausberg sprach sie
sich, wie die Nachrichtenagentur AFP zu melden wusste,
für Rüstungsexporte zur Friedenssicherung aus.
({2})
Man höre: Rüstungsexporte zur Friedenssicherung. Und
das in die Länder, die ich eben genannt habe. Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Ich finde, man muss schon
zwischen einer aufgeklärten Politik und einer kaum noch
hinnehmbaren Naivität unterscheiden.
({3})
Die sogenannten Schwellenländer, so die Bundeskanzlerin weiter, müssten vor dem Hintergrund ihrer gewachsenen wirtschaftspolitischen Bedeutung mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen, wozu
wir, NATO und EU, also auch Deutschland, sie durch
den Export von Rüstungsgütern und Ausbildungshilfe
ertüchtigen müssten. Ausbildungshilfe ja, wirtschaftliche Entwicklung ja, aber Rüstungsexporte nein. Das ist
jedenfalls unsere Position.
({4})
Das, so finde ich, ist das eigentlich Gravierende: Mit
dieser Position der Bundeskanzlerin kündigt diese Bundesregierung einen Grundkonsens der gesamten Nachkriegszeit auf, einen Grundkonsens, der von den 50erJahren bis heute gegolten hat. Dieser Grundkonsens bestand darin, dass Waffenexporte nur mit äußerster Zurückhaltung zugelassen werden sollten.
({5})
Das ist eine Weichenstellung, die meines Erachtens nicht
akzeptabel ist.
Die Bundeskanzlerin behauptet zwar, die Beachtung
der Menschenrechte bleibe das entscheidende Kriterium
und die Waffenexporte sollten nur an vertrauenswürdige
Partner gehen. Aber was waren und sind denn vertrauenswürdige Partner? War das Schahregime zum Beispiel
ein solcher Partner? Wurde nicht auch der Irak einst vom
Westen als Bollwerk gegen die iranischen Ajatollahs
hochgerüstet? Gegen welche Feinde sollen denn eigentlich die Panzer in Saudi-Arabien eingesetzt werden?
Doch wohl kaum gegen den Iran in den Fluten des Persischen Golfs.
({6})
Ein Blick in die Nachkriegsgeschichte zeigt in aller
Deutlichkeit: Die Lieferung von Waffen in Konfliktregionen, an autokratische Herrscher oder auch in instabile
Staaten hat sich sicherheitspolitisch nie ausgezahlt, weil
nur allzu oft die Freunde von gestern zu den Gegnern
von heute geworden sind und weil nur allzu oft die Waffen nicht zur eigenen Verteidigung, sondern zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung eingesetzt wurden.
Aber ungetrübt von all diesen Erfahrungen fördert die
Bundesregierung den Rüstungsexport - inzwischen sogar aktiv - in diese Länder. Sie fördert ihn nicht nur
durch die Vorführung der Möglichkeiten des Leopard 2
in Saudi-Arabien; als die Kanzlerin in Angola weilte,
vergaß sie nicht, darauf hinzuweisen, dass man angesichts der zahlreichen unzureichend geschützten Ölplattformen gerne bei der Ertüchtigung der Marine, etwa
durch die Lieferung von Patrouillenbooten, helfen wolle.
({7})
Das ist meines Erachtens eine falsche Politik. Wer
Waffen liefert, fördert regionales Wettrüsten und riskiert
letztendlich, dass sie, über einen längeren Zeitraum betrachtet, dem Falschen in die Hände fallen. Wir tun deshalb gut daran, Waffenexporte in Staaten, die nicht Mitglied der NATO oder der EU sind, äußerst restriktiv zu
behandeln. Der jetzt von der Bundesregierung eingeschlagene Weg hat mit Friedenssicherung nichts, aber
auch gar nichts zu tun. Im Gegenteil: Er ist risikoreich,
konfliktschürend und friedensgefährdend. Deshalb sollten wir dem Einhalt gebieten und mit der heutigen Beschlussfassung Sorge dafür tragen, dass die Bundesregierung zu einer restriktiven Genehmigungspraxis
zurückkehrt. Das gilt insbesondere für die Rüstungsexportpolitik gegenüber Drittstaaten.
Lassen Sie mich noch einen Hinweis geben. Sie haben vorhin das Jahr 2005 genannt. Wenn Sie sich das
einmal ein bisschen genauer angucken - ich gehe davon
aus, dass Sie das getan haben -, dann werden Sie feststellen, dass die Lieferungen in Drittstaaten im Jahre
2006 einen Anteil von 27,5 Prozent an den gesamten
Rüstungsexporten hatten, im Jahre 2011 von 42 Prozent.
Das ist genau das Problem. Rüstungsexporte in NATOMitgliedstaaten und in die EU sind jedenfalls unserer
Auffassung nach nicht das Problem. Das Problem sind
die Rüstungsexporte in Drittstaaten, die eben nicht politisch stabil sind, sondern in denen wir genau von den
Gefahren ausgehen müssen, die ich gerade beschrieben
habe.
({8})
Das können Sie nicht ignorieren und wegleugnen. Das
steht in Ihren eigenen Berichten. Lesen Sie es nach!
({9})
Umso wichtiger ist es, dass wir als Parlament uns der
Frage der Rüstungsexporte und der Kontrolle der Rüstungsexporte stärker annehmen, als dies bisher der Fall
gewesen ist, und zwar gerade deshalb, damit so etwas
nicht immer unter dem Tisch geschieht, nicht geheim
bleibt, sondern damit wir als Parlament unsere Verantwortung auch tatsächlich wahrnehmen können.
Im Augenblick erhält das Parlament die Rüstungsexportberichte immer erst mit monatelangen Verspätungen, manchmal sogar erst nach Jahren. Darüber haben
wir hier schon mehrfach diskutiert. Drei Monate nach
Jahresende - so unsere Auffassung - müssen die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung dem Parla27098
ment vorliegen. Das sollte ein Muss sein und keine
Frage von Güte oder Ähnlichem.
({10})
Wir haben noch einen zweiten Vorschlag gemacht,
der mir sehr wichtig ist und der sicherlich zu einer Verbesserung der Politik führen wird, nämlich dass wir ein
parlamentarisches Gremium damit beauftragen, die Verantwortung des Parlaments auch tatsächlich wahrzunehmen. Sicherlich - das haben einige meiner Vorredner gesagt; das zeigt schon ein Blick in das Grundgesetz - ist
eine Genehmigung oder Versagung eines Rüstungsexportvorhabens eine Sache der Exekutive. Das kann
aber nicht heißen, dass das Parlament in die Entscheidungsfindung nicht mit einbezogen wird oder werden
könnte und über den Vorgang noch nicht einmal informiert wird, sondern diese Informationen der Presse entnehmen muss. Waffenexporte sind von grundlegender
außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung. Deshalb
kann sich auch im Parlament niemand von seiner Verantwortung freisprechen.
Ich kann überhaupt keinen Grund für eine übertriebene Geheimhaltung sehen. Glaubt denn wirklich jemand allen Ernstes, dass Panzerlieferungen nach SaudiArabien in den Zeiten, in denen wir heute leben, im Verborgenen stattfinden können? Warum kann denn eine
Bundesregierung nicht Farbe bekennen und ihre Entscheidungen auch begründet darlegen? Ist es nicht Sache
des Parlaments, Entscheidungen der Regierung zu überprüfen und zu kontrollieren und gegebenenfalls auch infrage zu stellen?
({11})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Genau das fordern wir. Deshalb sage ich ganz offen:
Ich habe kein Verständnis für die Entscheidung der
Mehrheit im Wirtschaftsausschuss, sich genau vor dieser
Verantwortung zu drücken. Deshalb appelliere ich an die
Kolleginnen und Kollegen, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Rainer Stinner.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zum wiederholten Mal sprechen wir heute dieses Thema
an. Die Opposition macht eine saubere Oppositionsarbeit: Sie recycelt ihre alten Anträge und ihre alten Argumente. Die Opposition ist aber leider nicht lernfähig.
({0})
Deshalb werden Sie sich heute von unserer Seite ähnliche
Argumente anhören müssen wie beim letzten Mal.
Frau Keul, ich erinnere mich daran, dass Sie beim
letzten Mal bei einigen meiner Argumente richtig heftig
genickt haben. Deshalb möchte ich dies einführend noch
einmal sagen: Wenn wir über das Thema Rüstungsexporte sprechen, dann sprechen wir über die Frage: Ist
die deutsche wehrtechnische Industrie sinnvoll, und welche Bedeutung hat sie? Deswegen, sehr verehrte liebe
Frau Keul, wiederhole ich mein Argument, bei dem Sie
das letzte Mal so begeistert genickt haben: Ich stehe dafür, dass wir in Deutschland nach wie vor eine Bundeswehr haben. Nicht alle wollen das; aber wir stehen dafür.
Wenn das so ist, dann stehe ich dafür, dass wir die Bundeswehr nicht nur mit Waffen aus Tschechien, Schweden, Amerika und Großbritannien ausrüsten, sondern
dass wir sie auch mit deutschen Waffen ausrüsten wollen
und müssen.
({1})
Wenn das richtig ist, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass niemand von uns in der Lage und bereit ist,
den deutschen Wehretat so weit aufzublasen, dass wir
dadurch eine veritable leistungsfähige deutsche wehrtechnische Industrie erhalten können.
({2})
Wenn auch dieser Satz richtig ist, dann heißt das: Rüstungsexport, Export von wehrtechnischen Produkten
kommt natürlich in Betracht.
Auch jetzt wiederhole ich mich zum wiederholten
Male: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
wir erwarten nicht, dass bei Ihnen die Argumente verfangen.
({3})
Aber wir lassen Ihnen auch nicht durchgehen, dass Sie
hier dauernd alles durcheinanderbringen - das ist ja wie
Kraut und Rüben - und alles miteinander vermischen.
Der Kollege Pfeiffer hat völlig zu Recht gesagt, dass in
den Zahlen, über die wir sprechen, zum Beispiel die
Ausrüstung der Krankenhäuser und die Ausrüstung für
die Minensuche enthalten sind. Das sind humanitäre
Aspekte, die in die Kategorisierung fallen. Damit tun wir
doch etwas Gutes für die Welt. Von daher denken wir gar
nicht daran, das so undifferenziert stehen zu lassen.
({4})
Ich erwarte auch nicht, dass wir Sie überzeugen. Aber
wir sprechen hier im Deutschen Bundestag als Podium
für das Volk, für die vielen Journalisten, die hier oben
links sitzen, für die vielen Bürgerinnen und Bürger, auch
für jene aus Beilstein, die uns heute zuhören, und für die
vielen Millionen an den Rundfunkgeräten zu Hause.
Deshalb müssen Sie sich die Argumente hier noch einmal anhören.
Ich sage also zum wiederholten Male: Es gibt hier im
Raum eine Person, die als Ministerin Teil des Bundeskabinetts war,
({5})
das Kriegswaffen, das Waffen nach Saudi-Arabien geliefert hat,
({6})
und zwar solche Waffen, die in erster Linie zur Unterdrückung von Aufständischen eingesetzt werden, nämlich Handfeuerwaffen und Maschinenpistolen. Sehr verehrte Frau Bulmahn, da waren Sie im Bundeskabinett!
Sie tun jetzt so, als gäbe es eine neue Politik gegenüber
Saudi-Arabien. Sie tun so, als entdeckten Sie erst heute,
dass Saudi-Arabien kein Rechtsstaat wie Dänemark,
Deutschland und Belgien ist; dazu sage ich: Das ist traurig und spricht nicht für Ihre außenpolitische Kompetenz. Medizinisch könnte man sagen: Sie leiden unter retrograder Amnesie, das heißt, Sie haben vergessen, was
Sie damals selber gemacht haben. Das müssen wir sehr
deutlich sagen.
({7})
Meine Damen und Herren, zum Abschluss zu der ersten Frage, die uns jetzt bewegt: Wie gehen wir mit der
Situation um, was das Informatorische und den Entscheidungsrhythmus angeht? Es ist schon gesagt worden
- da sind wir einer Meinung; ich bin auch zitiert worden;
es ist ja richtig, was ich gesagt habe -, dass wir mit der
gegenwärtigen Situation natürlich nicht zufrieden sein
können. Den Informationsrhythmus haben aber nicht wir
eingeführt, den hat nicht diese böse Bundesregierung
eingeführt. Wir haben nur das fortgesetzt, was frühere
Bundesregierungen getan haben, vor allen Dingen diejenigen, unter denen viele Waffen nach Saudi-Arabien
geliefert worden sind.
({8})
Den Rhythmus haben wir beibehalten.
Wir sehen jetzt alle gemeinsam, dass es sinnvoll ist,
den Rhythmus zu ändern. Deshalb schlagen wir vor, dass
wir tatsächlich in einen anderen Rhythmus kommen; das
kann zum Beispiel quartalsmäßig sein.
Die weitere Frage ist: Wann kann der Bericht veröffentlicht werden? Ich persönlich nehme der Bundesregierung nicht ab - das Argument hat sie bisher immer
gebracht -, es sei so schwierig, die Daten zusammenzustellen. Nein, liebe Leute in der Regierung, da müsst ihr
euch ein bisschen anstrengen! Das klappt schon! Ich
halte die Bundesregierung für fähig, innerhalb von drei
Monaten die Zahlen zusammenzustellen. Dann hätten
wir einen neuen Rhythmus.
({9})
Ich gehe davon aus - ich gehöre der Regierung nicht an -,
dass wir Initiativen ergreifen werden mit dem Ziel, noch
in dieser Legislaturperiode eine Änderung hinzubekommen. Das ist jedenfalls mein Ziel. Ich hoffe, es zu erreichen. Wenn ich es nicht erreiche, bedaure ich es, und
dann können Sie mich auch gern kritisieren.
({10})
Herr Stinner, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe nur noch 40 Sekunden Redezeit.
Das wird nicht angerechnet.
Ich möchte das aber jetzt im Zusammenhang darlegen. - Ich möchte jetzt zu der nächsten Frage kommen,
nämlich zu der Frage: Ist es sinnvoll, ein Gremium zu
schaffen, das sich mit Rüstungsexporten beschäftigt?
Darüber kann man durchaus nachdenken. Es gibt Pros
und Cons. In einigen anderen Ländern - wir haben uns
das angeguckt - ist das Parlament tatsächlich beteiligt.
Darüber muss man nachdenken, und das werden wir
sicherlich auch gern tun. Die Frage, die wir uns selber
stellen müssen, Frau Bulmahn, ist nur: Hilft es dem einzelnen Abgeordneten, wenn es ein Gremium gibt, das
mit solchen Fragen befasst ist, aber im Geheimen tagt?
Wenn ich als Abgeordneter dem Gremium nicht angehöre, werde ich in der Öffentlichkeit trotzdem für solche
Themen in Anspruch genommen, kann mich aber nicht
wehren, kann auch nichts sagen. Von daher ist die Frage,
wie das Ganze gestaltet werden soll, noch offen. Es ist,
glaube ich, zu früh, darüber zu entscheiden. Ich persönlich gehe nicht davon aus - auch das mögen Sie kritisieren -, dass wir das noch in dieser Legislaturperiode
schaffen werden. Ich halte das nicht für realistisch. Aber
es wird dann ja weitergehen. Wir müssen uns genau
überlegen, was wir dort machen. Aber an der exekutiven
Aufgabe werden wir nicht rütteln wollen und können.
Letztendlich ist die Entscheidung eine Entscheidung der
Bundesregierung, der Exekutive. Das wird auch in Zukunft nach meinem Dafürhalten so sein und so sein müssen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Jan
van Aken das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht
hier heute darum, dass Deutschland Panzer, Gewehre
und tausend Arten von Waffen ziemlich hemmungslos in
alle Welt exportiert.
({0})
Es geht hier darum, dass Deutschland drittgrößter Waffenexporteur der Welt ist. Das schreibt die Bundesregierung selbst in ihrem Rüstungsexportbericht. Was heißt
das eigentlich? Ganz praktisch heißt das, dass da draußen Menschen sterben, weil Sie sich weigern, Waffenexporte zu verbieten. So einfach ist das, und so brutal ist
das.
({1})
Jetzt habe ich hier verschiedene Argumente gehört,
mit denen Sie Waffenexporte begründen wollen. Das
letzte Argument war „humanitär“, weil unter Rüstungsexporte auch Minenräumgeräte fallen. Das ist wirklich
das lächerlichste Argument, Herr Stinner, das ich je gehört habe. Im Jahre 2011 hat diese Bundesregierung
Rüstungsexporte im Wert von 10,8 Milliarden Euro
genehmigt. Wenn ich Minenräumgeräte und Krankenhäuser herausrechne, sind es mit Sicherheit immer noch
10,7 Milliarden Euro. Das sind 10,7 Milliarden Euro zu
viel, Herr Stinner; das wissen Sie auch.
({2})
Das zweite Argument - und da läuft es mir wirklich
kalt den Rücken herunter - ist, dass ein massiver Verkauf von Waffen für Sicherheit in der Welt sorgt. Wissen
Sie, woran mich das erinnert? An diese widerliche Waffenlobby in den USA. Jedes Mal, wenn es dort einen
Amoklauf gibt, wenn wieder tote Kinder im Klassenraum liegen, sagen ihre Vertreter: Wir müssen noch mehr
Waffen verkaufen, um damit noch mehr Sicherheit zu
schaffen. - Wir wissen doch alle, wie absurd das ist, dass
damit nur noch mehr Amokläufe befördert werden, dass
es noch mehr Tote gibt. Mit Waffenexporten fördern Sie
keine Sicherheit, sondern Unsicherheit und Destabilisierung; das wissen Sie.
({3})
Machen Sie sich keine Illusionen. Jede einzelne dieser Waffen, die Sie jetzt verkaufen wollen, wird irgendwann auch eingesetzt, ganz blutig und ganz brutal. Ich
finde, Sie ganz persönlich tragen daran eine Mitschuld.
({4})
Das dritte Argument, das ich heute von CDU und
FDP gehört habe, ist wirklich der Hammer: dass mit
Waffenexporten Menschenrechte geschützt werden.
Wissen Sie, in welches Land im Jahre 2012 die meisten
Rüstungsexporte - im Wert von über 1,3 Milliarden
Euro - genehmigt wurden? Nach Saudi-Arabien. Was
glauben Sie denn, wie Sie mit Leopard-Panzern in
Saudi-Arabien Menschenrechte schützen? Herr Lindner,
Sie wissen ganz genau, dass das Blödsinn ist.
({5})
Dann höre ich hier das Argument, dass die deutsche
Polizei in Saudi-Arabien einen Job im Dienst der Menschenrechte betreibt, weil sie dort die Grenzpolizisten
ausbildet und dafür sorgt, dass die Menschen dann menschenrechtskonform festgenommen werden. Glauben
Sie denn ganz im Ernst, Herr Lindner, dass der arme
Mensch, der heute in Riad im Folterkeller sitzt, der gemartert wird, dankbar dafür ist, mit deutscher Hilfe menschenrechtskonform festgenommen worden zu sein?
Dessen Blut klebt auch an Ihren Fingern, Herr Lindner.
Ich finde das widerlich, was Sie hier verbreiten.
({6})
Wenn das Ganze nicht so brutal wäre, dann hätte ich
mich eigentlich bei der heutigen Debatte das ein oder andere Mal auch amüsiert zurücklehnen und beobachten
können, wie Sie sich hier gegenseitig vorwerfen, dass
Sie doch alle hemmungslos Waffen in alle Welt verkauft
haben. Das stimmt ja auch. Sie alle - SPD, Grüne, CDU,
CSU, FDP - haben über viele Jahre und Jahrzehnte hemmungslos Waffen in alle Welt verkauft und werfen sich
jetzt gegenseitig Heuchelei vor. Auch das stimmt.
Frau Bulmahn, ich finde es wirklich verlogen, dass
Sie für die SPD hier Waffenexporte nach Saudi-Arabien
kritisieren, aber gleichzeitig keinen einzigen Ton dazu
sagen, dass Sie Ministerin waren und die SPD mitregiert
hat, als eine ganze Waffenfabrik für Saudi-Arabien genehmigt wurde. Heute sind die Saudis in der Lage, das
hochmoderne deutsche G36-Gewehr selbst zu bauen.
Die bewerben das schon international zum Verkauf. Ich
möchte mir gar nicht vorstellen, wie viel Blut in den
nächsten Jahrzehnten damit vergossen wird. Und wer hat
es gemacht? Sie von der SPD haben es gemacht. Das ist
leider so.
Sie sagen jetzt hier, Sie hätten gelernt; aber das
stimmt nicht. Ich habe mir die Anträge genau durchgelesen. Wenn man alles von dem, was die SPD hier im Moment fordert, umsetzen würde, dann würde sich gar
nichts ändern. Keine einzige Ihrer Forderungen würde
bei einer Umsetzung auch nur einen einzigen Waffenexport verhindern. Wenn man Ihren Antrag genau durchliest, dann erkennt man: Sie fordern explizit, dass weiterhin Waffen nach Saudi-Arabien, an Diktaturen verkauft
werden können.
({7})
Sie fordern, dass weiterhin Kleinwaffen in alle Welt verkauft werden können. Ich frage mich: Warum eigentlich?
Warum sind Sie von der SPD und von den Grünen eigentlich nicht bereit, zu sagen: „Wir müssen wenigstens
ein generelles Verbot von Kleinwaffenexporten endlich
durchsetzen“?
({8})
Sie wissen genau, dass das die Massenvernichtungswaffen unserer Zeit sind. Sie wissen genau, wie viele Menschenleben wir retten könnten, wenn wir die Kleinwaffenexporte endlich verböten; aber Sie trauen sich nicht.
Sie reden über Transparenz; das finde ich gut. Ich
möchte auch mehr wissen; ich möchte schneller wissen,
welche Waffenexporte die Regierung genehmigt. Aber
Sie wissen auch, dass Transparenz allein nicht einen einzigen Waffenverkauf verhindert. Sie haben Ihre eigenen
Erfahrungen gesammelt: Die rot-grüne Regierung hat
1999 für mehr Transparenz gesorgt und den Rüstungsexportbericht eingeführt. Aber Sie haben damit keinen
einzigen Waffenexport verhindert. Das Volumen der
Waffenexporte ist auch in Ihrer Regierungszeit gestiegen
und gestiegen und gestiegen,
({9})
und das tun sie bis heute.
Wenn man Waffenexporte einschränken will, dann
helfen nur klare Verbote ohne jede Ausnahme. Dafür
steht die Linke, und zwar nur die Linke.
Ich danke Ihnen.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Philipp Mißfelder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Herr van Aken, ich muss schon
ein paar Dinge richtigstellen, die Sie hier aus meiner
Sicht falsch dargestellt haben. Sie haben sich wieder auf
diese Zahlenspielerei eingelassen - es gibt große Differenzierungen bei der Zählweise: In manchen Statistiken
sind wir nicht auf Platz drei, sondern auf Platz sechs und dabei unter den Tisch fallen lassen, dass das, was die
Regierung im Rahmen des Rüstungsexportberichts präsentiert, ein Höchstmaß an Transparenz herstellt. Wir
schaffen Transparenz, weil wir in der Tat alles, was im
weitesten Sinne mit Rüstung zu tun hat - hier geht es
nicht zwangsläufig um Waffen -, in den Bericht aufnehmen.
({0})
Das machen nicht alle Länder auf der Welt; aber die
Bundesregierung hat es gemacht. Insofern zeugt die Statistik von einem Höchstmaß an Transparenz.
({1})
- Ich lobe gleich noch die SPD.
({2})
Beruhigen Sie sich doch! Ich lobe Sie doch gleich dafür,
dass Sie von der SPD zu Zeiten, in denen Sie regiert haben, wenig Probleme damit hatten, in genau dieselben
Länder, über die wir in den vergangenen Monaten diskutiert haben, Rüstungsgüter zu exportieren. Es war auch
außenpolitisch richtig, es so zu machen. Ich verstehe
dann allerdings nicht, dass Ihr Kanzlerkandidat vollmundig ankündigt, den Hebel umzulegen und bei der Rüstungsexportpolitik eine andere Richtung einzuschlagen.
Was soll denn das für eine Richtung sein? Soll es die
Richtung von Schröder und Fischer sein: noch mehr
Exporte? Oder will man das mit Augenmaß angehen, so
wie wir es machen, in der Kontinuität dessen, was wir in
der Großen Koalition gemeinsam getan haben? Viele
Rüstungsgeschäfte, die sich erst jetzt in der Statistik abbilden, haben wir in der Großen Koalition eingeleitet. Da
saßen Sie mit uns zusammen in der Regierung. Deshalb
ist das, was die SPD hier heute aufführt, einfach nur gespieltes Theater. Denn die Empörung, die Sie hier nach
außen tragen, können Sie nicht wirklich ernst meinen.
Helmut Schmidt hat zu Beginn der 80er-Jahre, zwischen 1978 und 1981, in groben Zügen genau die Geheimhaltungsregeln auf den Weg gebracht - er konnte
sich am Ende mit den Vorschlägen nicht durchsetzen -,
die wir heute haben. Sein damaliger Mitarbeiter im Bundeskanzleramt, Peer Steinbrück - er war zwar nicht unmittelbar daran beteiligt, aber er eifert Helmut Schmidt
Zug um Zug nach -, sollte wissen, was der große Mentor
und Übervater der SPD zur damaligen Zeit von sich gegeben hat.
({3})
Es wurde im Übrigen auch über Saudi-Arabien geredet.
Man hatte damals keine Bedenken, mit Saudi-Arabien
Gespräche zu führen ({4})
auch wenn es nachher nicht zu dem Geschäft gekommen
ist. Die Empörungskompetenz, die Sie hier heute beweisen, hatten Sie damals nicht; sie erlahmt erstaunlicherweise immer dann, wenn Sie regieren. Insofern ist das,
was Sie machen, absolut verantwortungslos. Wir sollten
nicht sensibelste Punkte der deutschen Außenpolitik
zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung
machen. Diesen Konsens lösen Sie zunehmend auf;
({5})
das gilt sowohl für die Grünen als auch für die SPD,
meine Damen und Herren. Ich werbe dafür, dass man
mit der außenpolitischen Rationalität, mit dem realpolitischen Ansatz, für den wir in der Rüstungsexportpolitik
stehen, auch in Zukunft verantwortungsbewusst umgeht.
Es macht sich wirklich niemand an dieser Stelle das
Leben leicht. Wir haben es gestern bei der Mali-Debatte
erlebt; wir haben es bei der Afghanistan-Debatte erlebt.
Hier redet doch niemand aus unserer Fraktion oder aus
der FDP-Fraktion in Schwarz-Weiß-Bildern.
({6})
Wir wissen, dass wir es oft mit sehr schwierigen Partnern
zu tun haben. Trotzdem hat Deutschland als Industrienation, als Exportnation auch Interessen. Zu den deutschen Interessen gehört zum Beispiel, dass wir im Mittleren Osten Stabilität brauchen.
({7})
Dazu gehört auch, dass wir in Afrika Partner, auf die wir
setzen, stark machen wollen, damit sie sich selbst helfen
können.
({8})
Dazu gehört die Ausbildung; dazu gehört aber auch die
Bereitstellung von militärischer Unterstützung. Das ist
bei Rüstungsgütern nun einmal der Fall. Wenn Sie sich
vorstellen, dass in Mali nicht die Franzosen eingreifen
müssten, sondern wir es in Mali mit starken ECOWASVerbänden zu tun hätten, die vernünftig ausgebildet und
auf die Herausforderung vorbereitet gewesen wären, wären die Möglichkeiten größer, dass sich die Europäer und
an dieser Stelle die Franzosen zurückhalten könnten. Die
Ertüchtigung unserer Partner und Verbündeten nach einem realpolitischen Abwägungsprozess - wir wägen
auch nach moralischen und ethischen Kriterien ab - wollen wir vorantreiben.
({9})
- Zu Libyen hat Ihnen doch gestern schon der Außenminister gesagt: Wer hat denn im Zelt von Gaddafi gesessen? Wer hat denn Herrn Gaddafi den Teppich ausgerollt und es ermöglicht, dass er sein Zelt im Tiergarten
aufschlägt? Das war doch nicht die CDU/CSU; das war
ein Bundeskanzler, den Sie getragen haben. Dagegen haben Sie nichts gesagt, überhaupt nichts.
({10})
Deshalb hören Sie doch mit solchen Zwischenrufen auf!
Ich sage Ihnen: Es gibt in diesem Zusammenhang
keine Entscheidung der Bundesregierung, die mit Jubel
oder mit großer Euphorie getragen wird. Vielmehr ist es
eine realpolitische nüchterne Abwägung, bei der unsere
Interessen und unsere Wertmaßstäbe immer miteinander
kollidieren. Das ist bei fast allen Auslandseinsätzen der
Bundeswehr so; das ist bei vielen bilateralen Abkommen
von der Rohstoffpolitik bis hin zu Verträgen bei anderen
wirtschaftlichen Themen, die wir mit schwierigen Partnern beraten, der Fall. Es ist eben nicht alles schwarz
und weiß. In der Außenpolitik gibt es vielmehr sehr viele
Graubereiche. Da muss man nüchtern und realpolitisch
antworten.
Ich komme zurück zu Helmut Schmidt. Ich finde, das,
was er in seinen Büchern dazu schreibt, was er als Bundeskanzler gesagt und getan hat, sollte Sie ermahnen.
Daran sollten Sie sich wirklich mehr orientieren. Demokratie lebt ja vom Wechsel. Nicht dieses Jahr, aber irgendwann wird auch wieder Verantwortung auf Sie zukommen. Ich hoffe, dass Sie dann auch so viel Vernunft
aufbringen, dass Sie eine solche außenpolitische Kompetenz zurückgewinnen.
Das, was Sie in den letzten Wochen und Monaten von
sich gegeben haben, reicht schon jetzt für eine Sammlung, die man an dem Tag einer SPD-Regierungsbeteiligung vortragen kann, an dem Sie sämtlichen Rüstungsexporten wieder zustimmen werden, so wie Sie es auch
in der Vergangenheit getan haben. Das ist es, was ich Ihnen vorwerfe: dass Sie überhaupt nicht konsequent sind
in Ihrem vergangenen Regierungshandeln und in dem
Oppositionsgerede, das Sie heute von sich geben.
Ein letzter Punkt zur Rüstungsindustrie in Deutschland insgesamt: Es hängen viele Arbeitsplätze daran.
Deshalb kann man diesen wichtigen Wirtschaftszweig
auch nicht leichtfertig aburteilen. Wir beteiligen uns zum
Beispiel an der Global-Zero-Initiative. Außenminister
Westerwelle ist dort seit Jahren aktiv. Wir sind bei vielen
Abrüstungsinitiativen weltweit engagiert. Aber wir glauben trotzdem, dass auch Waffen, verbunden mit dem
rechtsstaatlichen Gewaltmonopol, zur außenpolitischen
Konzeption gehören. Für eine waffenfreie Welt kann
man gern sein; man kann sich dafür gern einsetzen. Aber
es ist in erster Linie Träumerei. Deshalb sind wir nach
der klaren Maßgabe unserer Richtlinien, nach einer
strengen Rückkopplung auch hier und einer permanenten öffentlichen Überprüfung der Diskussion - nichts anderes machen wir hier seit anderthalb Jahren; wir diskutieren häufig über die Frage der Rüstungsexporte - der
Meinung, dass die Unterstützung des Gewaltmonopols
einzelner Staaten auch durch Rüstungsexporte stattfinden kann.
Eines noch zu den Arbeitsplätzen: Ich bin der festen
Überzeugung, dass die deutsche Rüstungsindustrie weiterhin eine gute Zukunft braucht, nicht nur für die Arbeitsplätze, sondern auch als Technologieträger für ganz
andere technologische Entwicklungen. Die Vergangenheit hat doch gezeigt, dass die Rüstungsfirmen in
Deutschland zum technologischen Fortschritt beigetragen haben. Hören Sie deshalb mit diesen Diffamierungskampagnen auf!
Herzlichen Dank.
({11})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Erich Fritz von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir führen diese Debatte heute zum x-ten
Male. Ich kann keine wesentlichen neuen Argumente erkennen.
({0})
Bei dem Beitrag von Herrn Gysi hat sich allerdings
zum ersten Mal meine Bewunderung für seine sprachlichen Fähigkeiten
({1})
in Mitleid gewandelt. Die Art und Weise, wie Sie sich
selbst politikunfähig machen,
({2})
ist schon erstaunlich. Eigentlich mag ich mir das nicht
mehr zumuten. Wir sind ungefähr gleich alt. Als Sie den
einzigen Überfall eines europäischen Landes in ein
Nachbarland noch politisch getragen haben, haben alle
Fraktionen, die hier sitzen, schon lange an einer europäischen Friedensordnung gearbeitet, die nie ihresgleichen
hatte und die einen Erfolg gezeitigt hat, von dem auch
Sie heute profitieren. Dass Sie auf diese Art und Weise
verantwortungslos mit den Themen umgehen und durch
Weglassen ganz wichtiger Aspekte
({3})
dazu beitragen, dass es keine verantwortbare Debatte
gibt, nehme ich Ihnen wirklich übel; denn Sie wissen es
ja besser.
({4})
- Nein, das war kein Argument. Das war ein Gefühl.
Aber das muss auch einmal gesagt werden.
Herr Barthel, den ich im Übrigen als freundlichen
Herrn Barthel anspreche, hat dann versucht, den kleinen
Gysi zu machen, und dadurch nachgewiesen, dass die
SPD Opposition am besten kann. Deshalb hat die Erwartung von Philipp Mißfelder, irgendwann könne die SPD
wieder in die Regierungsverantwortung kommen, eine
sehr lange Perspektive. Er ist aber noch ein sehr junger
Abgeordneter.
Lieber Herr Barthel, auch Ihnen war das Thema nicht
wichtig genug, weil Sie es zumindest teilweise für den
bayerischen Landtagswahlkampf genutzt haben.
({5})
Warum eigentlich? Warum führen Sie die Debatte im
Augenblick so, als wäre das eine Hauptauseinandersetzung zwischen Opposition und Regierung? Das ist doch
gar nicht wahr. Sie merken doch ganz genau an den Beiträgen, die sich - das gebe ich zu - in den letzten Jahren
gewandelt haben, dass es dem ganzen Haus darum geht,
auf einige entscheidende Fragen Antworten zu finden.
({6})
Diese Fragen müssen vor dem Hintergrund von sicherheits- und außenpolitischen Debatten beantwortet
werden.
({7})
Ich freue mich, dass Herr Schockenhoff und Herr
Kiesewetter heute Morgen in der Afghanistan-Debatte
erneut eingefordert haben, dass wir eine solche Debatte
brauchen. In diesem Zusammenhang müssen wir über
die Zukunft der Bundeswehr, die eine irrsinnige Veränderung vor sich hat, reden und darüber, was das für deren Ausstattung bedeutet. Wir müssen auch über die Veränderung der NATO reden, die ebenfalls Konsequenzen
zu erwarten hat.
({8})
Sie aber erfinden und polemisieren den Begriff „MerkelDoktrin“. Das ist einfach unfair.
({9})
- Nein, aber Sie benutzen ihn als politischen Kampfbegriff. - Was hat sie denn gesagt? Sie hat gesagt, dass Sicherheit nicht nur auf militärische Weise betrachtet werden muss, nicht nur als Konflikt zwischen Staaten,
sondern dass die Sicherheit heute bedroht ist durch Drogenwege, durch Menschenhandel,
({10})
durch Schwächen in der Grenzsicherung. Herr
Kiesewetter und ich waren vor Weihnachten in Libyen
und haben mitbekommen, welche Probleme es gibt, die
Grenze, die eigentlich nicht zu sichern ist, vor Drogen,
Menschenschmuggel, Waffenschmuggel und Einsickern
von Kräften, die man nicht gebrauchen kann, zu schützen.
({11})
Das sind riesige Probleme. Darüber zu diskutieren, hat
doch vordergründig nicht mit Waffenexporten zu tun,
sondern mit einer internationalen Gemeinschaft, in der
jeder in der Lage ist, am Frieden mitzubauen. Man muss
die Debatte so führen, dass die richtigen Wege gefunden
werden. Wir müssen sie auf europäischer Ebene finden;
aber Deutschland kann einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten.
({12})
Nicht immer liegt es an Deutschland, wenn etwas
nicht funktioniert. Wir reden seit vielen Jahren darüber,
dass wir uns um eine verstärkte europäische Kooperation
bemühen müssen. Warum konkurrieren auf der Welt unterschiedliche Jagdflugzeuge miteinander? Liegt das an
Deutschland?
({13})
- Nein, das ist nicht das Problem. Aber das behindert
den Fortschritt, wenn es um die Reduzierung und Konzentration auf die Ausstattung der Bündnisstreitkräfte
und der europäischen Streitkräfte geht.
({14})
Deshalb ist das ein wichtiger Aspekt, den man nicht
vergessen darf.
Ich kann nicht alle Aspekte ansprechen, weil die Zeit
so schnell vorbeigeht. Ich möchte mich aber noch an die
Kollegin Katja Keul wenden. Sie haben über die Notwendigkeit der europäischen Kooperation gesprochen
und haben das, was wir erreicht haben, ein wenig kleingeredet. Nun sind Sie noch nicht so lange im Deutschen
Bundestag. Ich dagegen bin schon sehr lange im Bundestag und kann mich deshalb an eine Zeit erinnern, in
der es in Europa keine Dual-Use-Verordnung gab, die in
Deutschland inzwischen unmittelbares Recht ist. Es gab
keinen Gemeinsamen Standpunkt; vielmehr war der
Weg zu einem unverbindlichen Kodex noch sehr weit.
Es gab keine Europäische Rüstungsagentur, über deren
Wirksamkeit und Sinn man im gegenwärtigen Zustand
durchaus diskutieren kann. All das zeigt: Wir waren
noch ganz am Anfang.
Der geltende Rechtsrahmen ist vielleicht nicht ideal.
Ich würde auch sagen, dass er wesentliche Anforderungen, zum Beispiel die Endverbleibskontrolle, nach wie
vor nicht regelt. Wir können aber nicht so tun, als könnten wir völlig unabhängig ein Konzept entwickeln; denn
wenn wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas wollen, dann muss die Entwicklung in dieser
Hinsicht parallel verlaufen. Der geltende Rechtsrahmen
verlangt von einigen Partnerstaaten, noch viel höhere
Hürden zu überspringen, als sie es bisher bereit waren.
Allein das Vorgehen der Franzosen, das letzte Woche
einmütig für positiv befunden wurde, macht deutlich,
dass es unterschiedliche Ansätze, unterschiedliche
Kulturen in der Sicherheitspolitik gibt. Dem folgt die
Ausstattungs- und die Rüstungswirtschaftspolitik, die
ein Zusammenkommen nicht so einfach macht. Die anderen werden nicht bereit sein, zu sagen: Nach dem
deutschen Wesen soll die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik genesen.
Ich schließe mich dem Kollegen Stinner voll an, auch
was die Erwartungen, die wir an die Bundesregierung
haben, angeht. Ich hoffe, dass wir einen Schritt weiterkommen und dass dieser Schritt dazu beiträgt, dass man
das, was man verwirklichen kann, sinnvollerweise gemeinsam tut. Ansonsten befürchte ich, dass aufgrund des
üblichen Spiels, das hier betrieben wird, aus grundsätzlichen Erwägungen, die nichts mit der Sache zu tun haben,
ein Scheitern in Kauf genommen wird.
Ich ermuntere Sie, die Debatte fortzuführen, und zwar
in einer Art und Weise, dass man einander zuhört, aufeinander zugeht und die grundsätzlichen Erfordernisse,
mit denen wir als großes Land in der Mitte Europas, als
wichtiger Bündnispartner und als eine führende Nation
in der Europäischen Union konfrontiert sind, nicht aus
den Augen verliert.
Danke schön.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10842 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Zustimmung der Linken und der Grünen.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP,
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs-
vorschlag ist mit umgekehrtem Stimmenverhältnis ange-
nommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage 17/11785
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 17/12098. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9188
mit dem Titel „Frühzeitige Veröffentlichung der Rüs-
tungsexportberichte sicherstellen - Parlamentsrechte über
Rüstungsexporte einführen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der SPD und der Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9412 mit dem Titel „Rüstungsexporte
kontrollieren - Frieden sichern und Menschenrechte wah-
ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 f und
40 h auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes
- Drucksache 17/10422 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})-
Rechtsausschuss -
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten
Dienstleistungsbereichen ({1})
- Drucksache 17/12014 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})-
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Dr. Anton Hofreiter, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neustart für ein europäisches Zugsicherungssystem
- Drucksache 17/10844 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Rawert, Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rezeptfreiheit von Notfallkontrazeptiva - Pille
danach - gewährleisten
- Drucksache 17/11039 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({4})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Birgitt Bender, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zeitnahes Krankengeld für unständig und
kurzfristig Beschäftigte sowie Selbstständige
- Drucksache 17/12067 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({5})-
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Dr. Martina Bunge, Cornelia Möhring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Pille danach rezeptfrei machen
- Drucksache 17/12102 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({6})-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Diana Golze, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für gleiche Rechte - Einbürgerungen erleichtern
- Drucksache 17/12185 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({7})Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 q sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 41 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Mai
2012 zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon
- Drucksache 17/11367 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({8})
- Drucksache 17/12169 Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDr. Eva HöglJoachim SpatzAndrej HunkoJerzy Montag
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12169, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11367 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist angenommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 41 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes
- Drucksache 17/11368 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
- Drucksache 17/12216 Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12216, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11368
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken
und Enthaltung der Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({10}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Beschränkung der Verwendung gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten ({11})
- Drucksachen 17/11836, 17/11907 Nr. 2, 17/12216 Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12216, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/11836 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen.
Tagesordnungspunkt 41 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Volker Beck ({13}), Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine glaubwürdige Außenpolitik gegenüber Usbekistan
- Drucksachen 17/6498, 17/7712 Berichterstattung:Abgeordnete Manfred GrundFranz ThönnesDr. Rainer StinnerStefan LiebichViola von Cramon-Taubadel
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7712, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6498 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Tagesordnungspunkte 41 e bis 41 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 41 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 513 zu Petitionen
- Drucksache 17/12073 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 513 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 514 zu Petitionen
- Drucksache 17/12074 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 514 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen.
Tagesordnungspunkt 41 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 515 zu Petitionen
- Drucksache 17/12075 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 515 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 41 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 516 zu Petitionen
- Drucksache 17/12076 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 516 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Enthaltung der
Linken.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 41 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 517 zu Petitionen
- Drucksache 17/12077 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 517 ist ebenfalls angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Enthaltung der Linken.
Tagesordnungspunkt 41 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 518 zu Petitionen
- Drucksache 17/12078 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 518 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der
Grünen.
Tagesordnungspunkt 41 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 519 zu Petitionen
- Drucksache 17/12079 Wer stimmt dafür? - Sammelübersicht 519 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 520 zu Petitionen
- Drucksache 17/12080 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 520 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 41 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 521 zu Petitionen
- Drucksache 17/12081 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 521 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstimmen der
SPD-Fraktion.
Tagesordnungspunkt 41 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 522 zu Petitionen
- Drucksache 17/12082 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 522 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.
Tagesordnungspunkt 41 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 523 zu Petitionen
- Drucksache 17/12083 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 523 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen.
Tagesordnungspunkt 41 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 524 zu Petitionen
- Drucksache 17/12084 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 524 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der
Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Linken.
Tagesordnungspunkt 41 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 525 zu Petitionen
- Drucksache 17/12085 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Die
Sammelübersicht 525 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 2:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/11820 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({27})
- Drucksache 17/12174 Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDr. Eva HöglJoachim SpatzAndrej HunkoJerzy Montag
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12174, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/11820 in der Ausschussfassung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({28}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute
Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller
({29}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksachen 17/11033, 17/11451 Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderJohannes PflugBijan Djir-SaraiJan van AkenDr. Frithjof Schmidt
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11451, den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11033 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD
und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
({30}) zu dem Gesetz zur
Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften ({31}) und zur Änderung
weiterer Gesetze
- Drucksachen 17/7576, 17/8615, 17/8871,
17/12170 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/12170? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten
Drohnen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die antragstellende Fraktion das Wort dem Kollegen Andrej Hunko.
({32})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letztes
Jahr habe ich in meinem Wahlkreis in Aachen die Familie von Samir H. besucht. Der deutsche Staatsangehörige
und Aachener Bürger war am 9. März 2012 von einer
US-Drohne in Pakistan getötet worden. Der Mutter versprach ich, mich um die Aufklärung zu bemühen. Ich
habe mehrere Anfragen an die Bundesregierung gestellt,
aber es gab keine akzeptable Aufklärung. Das ist völlig
inakzeptabel.
({0})
Der Fall zeigt dreierlei: Erstens. Die Schwellen zum
Einsatz von Kampfdrohnen sind derart gesunken, dass
oftmals andere Mittel gar nicht mehr ins Auge gefasst
werden. Zweitens. Parlamentarische Kontrolle ist hier
kaum möglich. Wie etwa deutsche Geheimdienste dem
Drohnenpiloten geholfen haben, den Aufenthaltsort von
Samir H. in Pakistan zu ermitteln, hält das Bundesinnenministerium unter Verschluss. Drittens. Die Beschaffung
und der Einsatz von Kampfdrohnen sind längst zur globalen Realität geworden. Zu den Grundpfeilern der deutschen Außenpolitik sollte allerdings die Abrüstung gehören.
({1})
Samir H. ist einer von inzwischen 3 000 bis 4 500
Menschen, die seit 2011 durch den Einsatz von Kampfdrohnen in Pakistan, im Jemen und in Somalia ums Leben gekommen sind, davon etwa 200 Kinder. Das sind
die Zahlen einer Studie der britischen Sektion der
IPPNW, der renommierten internationalen Ärzteorganisation. In dieser Studie wird auch intensiv auf die psychologischen Folgen des Drohneneinsatzes eingegangen: Das dauerhafte Gefühl, durch Drohnen überwacht
und gegebenenfalls auch beschossen werden zu können,
hält die überwachte Bevölkerung in einem dauerhaften
Zustand der Angst, einem Gefühl, zu keinem Zeitpunkt
mehr sicher sein zu können. - Auch das muss diskutiert
werden, wenn wir über eine Drohnenstrategie reden.
Ich möchte darauf hinweisen, dass in der durch unsere
Kleine Anfrage angestoßenen Debatte ein wichtiges Detail verloren gegangen ist: Die Bundesregierung sagt
nicht nur, dass sie Kampfdrohnen für die Bundeswehr
anschaffen will. Vielmehr sollen auch sogenannte militärische Aufklärungsdrohnen so bestückt werden, dass
später Kampfdrohnen daraus gemacht werden können. Das lehnen wir als Linke entschieden ab.
({2})
Ich halte allerdings auch eine Nutzung rein militärischer Spionagedrohnen für problematisch. Anfang der
Woche führte das Verteidigungsministerium der USA
eine Kamera mit einer Auflösung von 1,8 Gigapixeln
vor, die aus 6 000 Meter Höhe beeindruckend scharfe
Aufnahmen zum Beispiel eines Parkplatzes liefern kann.
Solche Systeme können im Rahmen von Amtshilfe jederzeit auch im Innern eingesetzt werden.
Die neuen, riesigen Euro-Hawk-Drohnen der Bundeswehr etwa auch zur Grenzsicherung oder bei Großeinsätzen zu nutzen, wird ausgerechnet vom Drohnenausrüster
EADS empfohlen. Ein anderer führender Drohnenhersteller hat mir kürzlich erklärt, dass seine Drohnen die
mexikanisch-amerikanische Grenze überwachen. - Wir
möchten nicht, dass künftig auch die europäischen Grenzen mit Drohnen überwacht werden, vielleicht zunächst
unbewaffnet und dann in einem zweiten Schritt bewaffnet. Wir möchten auch nicht, dass Großereignisse wie
der Gipfel in Heiligendamm künftig von Drohnen überwacht werden.
({3})
Die Drohnenstrategie der Bundesregierung ist für die
europäische Rüstungsindustrie ein Milliardengeschäft.
Dies wird von der EU-Kommission ausdrücklich betont,
wenn sie dafür wirbt, große Drohnen ab 2016 in den allgemeinen zivilen Luftraum zu integrieren. Im einem Dokument der EU-Kommission vom September 2012 ist
ausschließlich von der Notwendigkeit einer Konkurrenzfähigkeit der europäischen Drohnenindustrie die Rede,
die den Anschluss an Israel und an die USA halten
müsse. Am Ende der Einleitung heißt es: Es ist „imperativ“ für Europa, „jetzt zu handeln“, sprich: drohnenmäßig aufzurüsten. - Auch das lehnen wir deutlich ab.
({4})
Kampfdrohnen sind Killerwaffen. Darüber ethisch zu
diskutieren, wie man es jetzt aus der SPD hört, macht
keinen Sinn. Die Entwicklung und Beschaffung von
Kampfdrohnen wird selbst innerhalb des Militärs kritisiert. Ich fordere die Bundesregierung deshalb mit allem
Nachdruck auf, sich international für die Ächtung von
Kampfdrohnen einzusetzen.
Aber auch die Polizeien des Bundes und der Länder,
denen ihre gegenwärtigen fliegenden Kameras zu klein
sind, untersuchen auf mehreren Ebenen den Einsatz größerer Drohnen mit hochauflösenden Kameras. Auch das
ist hochproblematisch. Größte Zurückhaltung muss deshalb nicht nur bei der Beschaffung militärischer, sondern
auch polizeilicher Drohnen walten.
({5})
Ich komme zum Ende. Killerdrohnen sind international zu ächten. Sie senken die Hemmschwelle zur Entgrenzung des Krieges und zum Töten per Knopfdruck.
Ich fordere die Bundesregierung zudem auf, sich für eine
internationale Konvention zu einer streng zivilen Nutzung von Drohnen, etwa im Umweltschutz oder bei der
Katastrophenhilfe, einzusetzen. Maßstab hierfür muss
der mögliche gesellschaftliche Nutzen und nicht die Interessen der Drohnenindustrie sein.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin der Fraktion der Linken dankbar für die Aufsetzung
dieses Themas; das gibt uns Gelegenheit, im Deutschen
Bundestag über das Thema Drohnen zu diskutieren. Ich
habe die Diskussion ja letzten Sommer selber eröffnet.
Ich will versuchen, in der knappen Zeit in sieben
Punkten Gründe vorzutragen, die für die Anschaffung
von Drohnen sprechen, und mich mit den Gegenargumenten auseinandersetzen.
Zum ersten Punkt. Drohnen bieten technologisch in
einer Weise eine kontinuierliche Aufklärung mit einer
langen Stehzeit - viel länger, als jeder Pilot wach bleiben
kann - und Übertragungsergebnisse, die in Echtzeit, also
live, übertragen werden können, wie sie kein Flugzeug
leisten kann. Deswegen sind sie technologisch sinnvoll.
Sie sind auch nicht so teuer wie Flugzeuge; denn ganz
wesentliche Ausgaben für Flugzeuge haben damit zu
tun, den Piloten zu schützen, zu Recht; das entfällt bei
Drohnen.
Zweitens. Die Zukunft der Luftfahrt insgesamt wird
ganz wesentlich in den nächsten 20, 30, 40 Jahren von
dem Thema „unbemannte Luftfahrzeuge jeder Art“ geprägt sein. Das gilt jedenfalls unterhalb der Ebene der
Satelliten, das gilt für das Thema Klimabeobachtung,
das gilt für das Thema Verkehrsbeobachtung, das gilt für
das Thema Logistik, das gilt für das Thema Luftfracht.
Deswegen haben wir auch komplizierte Zulassungsthemen, die wir nur im europäischen Verbund erörtern dürfen. Bei dieser Zukunftstechnologie muss Deutschland
dabei sein. Wir können nicht sagen, wir bleiben bei der
Postkutsche, während alle anderen die Eisenbahn entwickeln. Das geht nicht.
Drittens. Die Einführung von Drohnen ist auch taktisch und sicherheitspolitisch sinnvoll. Ich kann dazu
viele Beispiele nennen, ich nenne hier nur mal eines.
Nehmen wir an, wir schicken eine Patrouille in eine gefährliche Gefechtssituation, oder nehmen wir an, wir ha27110
ben einen KSK-Einsatz zur Verhaftung von Terroristen
oder zur Rettung von Geiseln. Kein anderes Mittel ist so
gut geeignet wie eine Drohne, diese Patrouille zu begleiten, aus der Luft zu beobachten, was passiert, und dann,
wenn unsere eigenen Soldaten in Gefahr geraten, auch
zu kämpfen und den Gegner zu bekämpfen und nicht erst
Close Air Support anzufordern, der 10, 15 Minuten später kommt, gar nicht die Präzision hat und das Leben unserer Soldaten gefährdet. Das wollen wir nicht.
({0})
Nun zu den kritischen Gegenargumenten:
Viertens. Es wird gesagt, Drohnen seien völkerrechtlich problematisch, und das Grundgesetz lasse solche
Waffen nicht zu. Ich will dazu sagen: Drohnen und der
Einsatz von Drohnen unterscheiden sich zunächst einmal
rechtlich in überhaupt keiner Weise von anderen fliegenden Plattformen oder vergleichbaren Waffensystemen.
({1})
- Ich komme auf diesen Punkt. - Ob Sie einen Torpedo
aus einem U-Boot abschießen, ob Sie eine Lenkrakete
vom Boden abfeuern, ob Sie eine Rakete von einem
Flugzeug auf den Boden abfeuern oder ob Sie eine
Drohne mit Bewaffnung einsetzen und auslösen, es sind
immer die gleichen Regeln, auch die gleichen rechtlichen Regeln.
Das heißt für Deutschland: Grundlage für jeden militärischen Einsatz einer Drohne, insbesondere wenn sie
bewaffnet ist, ist immer unser Grundgesetz, das heißt die
verfassungsrechtliche Grundlage zum Einsatz von militärischer Gewalt überhaupt, also Art. 87 a und Art. 24
mit Beschluss der Regierung und Parlamentszustimmung.
Ich weiß, dass andere Staaten anders handeln. Ich
sage Ihnen aber: Sie können nicht von der Einsatzart und
der Einsatzmethode anderer Staaten auf das Einsatzmittel selbst schließen. Für uns gilt unser Recht und unser
Grundgesetz, und das würde auch gelten bei dem Einsatz
von Drohnen.
({2})
Fünftens. Es wird gesagt, mit Drohnen entsteht eine
Art Computerkrieg, es entsteht eine emotionale Distanz
zum Kampfgeschehen. Das ist durchaus ein gewichtiges
Argument, weil es in der Debatte in der Tat schon den einen oder anderen gibt, der sagt: „Wir haben klinisch
reine Kriege. Das machen wir mit dem Skalpell, das ist
alles sauber.“ Ich teile diese Auffassung nicht. Es gibt
keinen sauberen Krieg; es ist immer bitterernst. Insbesondere der Einsatz von Waffen ist keine Operation medizinischer Art. Es ist das Schwerste, was es zu entscheiden gibt, egal welche Waffe eingesetzt wird.
Gemeint ist hier aber, dass dadurch, dass jemand an
einem Monitor sitzt, eine neue Qualität entsteht. Meine
Damen und Herren, das ist überhaupt nicht der Fall.
Auch heute schon wird nahezu bei jeder indirekten
Waffe auf einen Monitor geguckt. Der U-Boot-Schütze,
der einen Torpedo abschießt, guckt auf einen Monitor.
Wer eine Rakete abschießt, eine Cruise-Missile, eine Interkontinentalrakete, eine Patriot-Rakete, guckt natürlich
auf einen Monitor. Ich sage Ihnen, dass - ich habe das
natürlich auch selbst gesehen - der Blick eines Drohnenpiloten auf einen Monitor sogar viel konkreter ist als die
Zielerfassung durch einen Cockpitpiloten in einem Flugzeug. Von daher hat jede Distanzwaffe, jede indirekte
Waffe eine technische Überbrückungsmöglichkeit für denjenigen, der sie auslöst. In der Ausbildung muss man natürlich durch viele Dinge dafür sorgen, dass keine emotionale Distanz entsteht, aber mit Drohnen hat das nichts
zu tun.
Sechstens. Sie haben auch gesagt, die Hemmschwelle
von Gewalt würde bei Drohnen herabgesetzt. Das ist
auch ein gewichtiges Argument, das ich oft höre. Ich
habe das in einem Interview schon einmal gesagt: Egal
ob man ein Flugzeug oder eine Drohne hat: Immer entscheidet ein Mensch über den Einsatz dieser Waffen. Immer! - Das ist aber, glaube ich, nicht das Hauptgegenargument. Ihr Argument, hier würde die Hemmschwelle
von Gewalt gesenkt, zu Ende gedacht, hieße doch im
Umkehrschluss - ich bitte Sie wirklich einmal, das klug
zu überlegen -, dass nur der, der das Leben eigener Soldaten besonders intensiv aufs Spiel setzt, sorgsam mit
militärischer Gewalt umgeht. Ich sage Ihnen: Das ist zynisch und unerhört. Ich finde dieses Argument unerhört.
({3})
Es ist seit jeher die Aufgabe militärischer und politischer Führung, die eigenen Soldaten zu schützen und
nicht dadurch in Gefahr zu bringen, dass man sie sozusagen der Tötung durch andere aussetzt.
({4})
- Ich respektiere, dass Sie keinen Einsatz wollen, aber zu
sagen, dass dadurch, dass wir ein unbewaffnetes Flugzeug gegenüber einem bewaffneten Flugzeug haben, die
Hemmschwelle gesenkt würde, heißt umgekehrt, dass
Sie lieber das Leben eines Piloten gefährden und auf den
Einsatz dieser Waffe verzichten wollen. Das finde ich
auch ethisch nicht in Ordnung, und das entspricht auch
nicht meiner Fürsorgepflicht gegenüber meinen Soldaten.
({5})
Siebtens und letztens. Es wird gesagt - das ist auch
ein gewichtiges Argument -, mit Drohnen werde gezielt
getötet. Ich sage Ihnen jetzt einmal eines: Jeder Polizist
und jeder Soldat lernt in seiner Grundausbildung, gezielt
zu treffen. Der Sinn des Zielens ist, dass man das trifft,
was man treffen will, und nicht das, was man nicht treffen
will. Wir Deutschen wissen, was Flächenbombardements sind. Wer Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung vermeiden will, wer nicht will, dass wir Unbeteiligte gefährden, der muss Waffensysteme entwickeln
und einsetzen, die nicht flächig, sondern gezielt wirken.
Ich halte das ethisch eher für einen Fortschritt als für einen Nachteil.
({6})
Aus dem Punkt, hier werde gezielt getroffen, einen
ethischen oder rechtlichen Vorwurf zu machen, halte ich
angesichts der Kriege und der Folgen - auch für die Zivilbevölkerung -, die wir erlebt haben, geradezu für
ganz falsch.
({7})
Ja, wir verlangen von unseren Soldaten, dass sie unter
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gezielt wirken und nicht einfach durch die Gegend ballern,
und die Drohne wirkt gezielt.
Sie haben gesagt, es gebe Opfer von Drohneneinsätzen.
({8})
- Auch unschuldige Opfer von Drohneneinsätzen. - Das
ist wahr, aber auch das hat nichts mit dem Einsatz der
Drohne zu tun. Es gibt Millionen von unschuldigen Opfern von Kriegen. Dass man vorbeizielen und etwas anderes treffen kann, ist klar, aber das hat nichts damit zu
tun, dass wir uns bemühen, in modernen Kriegen gezielt
und nicht ungezielt Wirkung zu erzielen und zu treffen.
Aus der Vermeidung von Flächenwirkung einen ethischen Vorwurf zu machen, halte ich für absurd.
({9})
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen will ich
jetzt gar nicht auf eine Übergangslösung oder eine
deutsch-französische Lösung eingehen. Ich glaube, das
können wir an anderer Stelle und in den Ausschüssen
noch einmal diskutieren.
Ich will zusammenfassend sagen: Ich halte den Einsatz von Drohnen unter Einhaltung unserer bestehenden
rechtlichen Regelungen für ethisch in Ordnung, und ich
halte die Beschaffung von Drohnen auch für die Bundeswehr für sicherheitspolitisch, bündnispolitisch und technologisch sinnvoll.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Rolf Mützenich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist in der Tat ungewöhnlich, dass wir in einer Aktuellen
Stunde von Ihnen, Herr Minister, hören, dass Sie der
Fraktion Die Linke dankbar dafür sind, dass Sie endlich
einmal hier im Deutschen Bundestag über dieses Thema
reden können. Das fällt auf Sie zurück.
Wir hätten es begrüßt, Sie hätten in den letzten Monaten eine Regierungserklärung angekündigt und auch abgegeben,
({0})
anstatt als Antwort auf die Frage 25 in der Kleinen Anfrage die Öffentlichkeit und den Deutschen Bundestag
darüber zu informieren, dass Sie bereit sind, der Bundeswehr Kampfdrohnen zur Verfügung zu stellen und letztlich auch ihren Einsatz zu gewährleisten. Ich halte das
für eine grundsätzliche Debatte, die mehr als nur eine
Aktuelle Stunde im Bundestag erfordert hätte. Es fällt
auf Sie zurück, dass Sie im letzten Sommer gesagt haben: „Ich führe diese Debatte“, aber sich dieser Debatte
bisher entzogen haben.
({1})
Interessant war natürlich auch, dass Sie am Anfang
sieben Punkte aufgezählt haben, wovon sich aber vier
Punkte auf Drohnen zur Aufklärung bezogen haben. In
der Tat muss man natürlich über die Frage der Aufklärung diskutieren. Aber was zurzeit in Deutschland die
Öffentlichkeit beschäftigt, ist die Frage: Ist es völkerrechtlich, ist es ethisch, ist es rüstungskontrollpolitisch,
ist es sicherheitspolitisch verantwortbar, in dieser Situation und nach den wenigen Jahren der Erfahrung anderer
Bündnispartner Kampfdrohnen anzuschaffen, ohne eine
sicherheitspolitische und völkerrechtliche Diskussion zu
führen? Dieser Diskussion werden Sie sich auch in den
nächsten Wochen und Monaten nicht entziehen können.
Sie haben wissentlich, glaube ich, die kritischen Positionen hierzu in dieser Aktuellen Stunde hier im Deutschen Bundestag nicht aufgegriffen. Dabei geht es insbesondere darum, dass die Rüstungstechnologie der
Drohnen mittlerweile so weit entwickelt ist, dass wir leider von einer Verselbstständigung dieses Systems ausgehen müssen, weil die Informationen - das wissen Sie
doch sogar besser als wir hier im Deutschen Bundestag so vielfältig und so immens sind, dass Entwickler und
teilweise auch Militärs zu der Überzeugung kommen:
Das können einzelne Soldatinnen und Soldaten gar nicht
mehr verarbeiten. Bestimmte Bewegungsabläufe deuten
darauf hin, dass Maschinen den Soldaten die Empfehlung geben, einzugreifen.
Über diese wirklich grundsätzlichen Erwägungen
müssen wir diskutieren und uns fragen, ob dies ethisch
überhaupt angemessen ist. Das fragen Sie auch die Kirchen. Ich bin der festen Überzeugung: Die gesamte Bundesregierung muss sich an dieser Frage beteiligen.
Ein anderer Aspekt. Die völkerrechtlichen Fragen
sind nicht so einfach zu beantworten, wie Sie das hier
getan haben. Es gibt unterschiedliche Auffassungen zum
humanitären Völkerrecht, zur Genfer Konvention und
auch zu anderen Dingen. Sie müssen den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland sagen, vor welcher Konsequenz wir stehen. Die Völkerrechtler kommen zum Beispiel zu der Auffassung, dass die Kommandozentralen,
von denen aus möglicherweise Kampfdrohnen eingesetzt werden, in einem Konflikt legitime Ziele sein werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, das den
Bundesbürgern zu sagen und auf diese Frage eine ehrliche Antwort zu geben. Ich finde, darüber gehen Sie
leichtfertig hinweg.
Das, was Sie noch nicht angesprochen haben, ist die
Frage der Verhältnismäßigkeit. Die Drohnen können
eben nur, selbst wenn sie von einer Person gelenkt werden, Ja oder Nein sagen; sie können nicht abwägen. Insbesondere die Frage der Informationsbeschaffung, die
Sie eben ganz bewusst übergangen haben, ist eine
schwere ethische, aber letztlich auch sicherheitspolitische Herausforderung.
Ein weiterer Aspekt, von dem ich mir wünsche, dass
ihn die Bundesregierung im Zusammenhang mit der internationalen Debatte aufgreifen sollte: Deutschland hat
bei Rüstungskontrolle und Abrüstung immer ein Gesicht
gehabt und dies in die internationale Diskussion eingebracht. Warum wäre es von Deutschland so abwegig,
wenn es so viele Kritikpunkte und so viel Zurückhaltung
gibt, mit Partnern darüber zu diskutieren und zu sagen:
Wir wollen keine unbemannten Flugobjekte bewaffnen;
denn das ist möglicherweise eine Grauzone.
Das wäre doch eine wichtige rüstungskontrollpolitische Debatte, die hier im Deutschen Bundestag von der
Bundesregierung geführt werden könnte. Ich finde, diesen Dingen entziehen Sie sich ganz einfach dadurch,
dass Sie sagen: Das Ganze ist nur ein Instrument. - Es ist
eben nicht nur ein Instrument, sondern es wirft vielfältige Fragen auf, die unterschiedliche Themenbereiche in
dieser Bundesregierung betreffen.
Zum Schluss. Ich habe Ihnen am Anfang gesagt, Sie
hätten eine Regierungserklärung zu diesem Thema abgeben können. Wissen Sie, wen ich aus dem Bundeskabinett vermisse, der Verantwortung für Sicherheitspolitik,
Völkerrecht, Rüstungskontrolle und, wie er selbst behauptet, ethische Fragen hat? Den Außenminister. Er
könnte bei der Beantwortung der hier in Rede stehenden
Fragen auch fachverantwortlich eine entscheidende
Rolle spielen. Ich mache ihm nicht zum Vorwurf, dass er
heute nicht da ist, wohl aber, dass er sich in den letzten
Monaten dieser Diskussion entzogen hat. Das lassen wir
ihm nicht durchgehen.
Vielen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Elke Hoff.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Wortbeiträge, die wir bisher gehört haben - ich gehe davon
aus, dass wir nachher aus den Fraktionen durchaus unterschiedliche Wortbeiträge hören werden -, zeigen, wie
wichtig es ist, dass wir hier im Plenum darüber diskutieren, und dass wir erst am Anfang dieser Debatte stehen.
Ich möchte auf den Anlass verweisen, warum wir heute
überhaupt über dieses Thema diskutieren. Die Bundesregierung steht vor den Entscheidung, ob sie die Verträge
für die geleasten Systeme, die Aufklärungsdrohnen vom
Typ Heron, die in Afghanistan hervorragende, wichtige
Arbeit für den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten
geleistet haben, verlängern, diese Systeme ersetzen oder
kaufen soll und ob diese Drohnen bewaffnet werden sollen oder nicht.
Für mich war es im Vorfeld dieser Debatte wichtig
- wir haben uns in der Öffentlichkeit schon an der einen
oder anderen Stelle dazu geäußert -, eine klare sicherheitspolitische Begründung des Kaufes und des Einsatzes von bewaffneten unbemannten Flugkörpern zu
geben. Warum? Weil die Diskussion aufgrund des Einsatzes solcher Flugkörper durch verbündete Nationen
vorbelastet ist. Das sieht man an den teilweise abenteuerlichen Argumenten, die wir seitens der Linksfraktion gehört haben. Sie haben alles vollkommen vermischt. Sie
haben alles in einen Topf geworfen - unsere Einsätze
und die Einsätze der Amerikaner, insbesondere die der
CIA -, umgerührt und dann gefragt, warum die Bundesregierung keine Erklärung dafür abgibt, dass unsere Verbündeten schlimmerweise nicht nur denjenigen, den sie
treffen wollten, sondern auch dessen Familie gleich mit
umgebracht haben. Das alles ist ein Wust, der in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken muss, dass wir trotz
völlig unklarer Bedingungen und ohne befriedigende Erklärung auf dieses Waffensystem setzen.
({0})
- Einen Moment, langsam! Ich bin noch nicht fertig.
Vor diesem Hintergrund, Herr Minister, ist es wichtig,
zu sagen, was die Bundeswehr mit diesem Waffensystem
tun soll und was nicht.
({1})
Ich glaube, dass wir an dieser Stelle klare Äußerungen
treffen können. Herr Minister, Sie haben deutlich gemacht - ich fand Ihre Rede sehr klar strukturiert -, dass
eine Bewaffnung von unbemannten Flugkörpern in erster Linie dem Schutz der Soldatinnen und Soldaten
Rechnung tragen soll. Häufig wird in der Debatte verschwiegen, dass unsere amerikanischen Freunde bereits
heutzutage mit unbewaffneten Flugkörpern ihre Soldaten schützen. Es geht also nicht nur um gezieltes Töten
im Kampf gegen den Terrorismus. Es gibt sehr viele Situationen - das kann man nachvollziehen -, in denen
solche Systeme zum Schutz von Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden. Wenn wir das wollen, sollten
wir das auch sagen. Das haben Sie heute auch getan,
Herr Minister. Ich habe Ihrer Rede keine anderen Szenarien für die Bundeswehr entnehmen können. Sie hätten
sicherlich auch andere darlegen können, wenn Sie gewollt hätten.
Kollege Mützenich, natürlich ist es wichtig, die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen festzulegen. Ich habe
mich immer dafür ausgesprochen, dass auf internationaler Ebene ein Rahmenwerk für den Einsatz unbemannter
Flugkörper in kriegerischen Auseinandersetzungen erarbeitet wird. Warum? Weil es wichtig ist, klare Regeln
zur Unterscheidung zwischen Kombattanten und NichtElke Hoff
kombattanten zu finden. Nur so können wir verhindern,
dass wir nolens volens - ich hasse dieses Wort - „Kollateralschäden“ in Kauf nehmen. Wir müssen ganz klar definieren, welches die Rahmenbedingungen sind, unter
denen wir international operieren können. Wenn wir in
diese Technologie einsteigen, werden wir als Exportnation mit der Beantwortung entsprechender Fragen konfrontiert sein, spätestens dann, wenn es um den Export
von Drohnentechnologie zum Zwecke militärischer Einsätze geht. Wir alle sind gut beraten, sehr sorgsam, sehr
verantwortungsvoll und sehr klar mit diesem Thema umzugehen.
({2})
Sie, sehr geehrter Herr Minister, haben ein Stichwort
geliefert, zu dem die Bundesregierung eine klare Haltung entwickeln muss, die sie dann auch auf europäischer Ebene umsetzen muss. Wenn wir in die Entwicklung dieser Technologie einsteigen, müssen wir natürlich
die Regeln in Europa so gestalten, dass wir diese Technologie hier zur Anwendung bringen können. Noch ist
der europäische Luftraum in toto für den Einsatz von unbemannten Flugkörpern gesperrt. Europa ist, glaube ich,
gut beraten, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu
klären, bevor man in diese Technologie einsteigt; ansonsten sprechen wir uns zwar für eine Technologie aus,
können sie aber in Europa im Prinzip nicht zur Anwendung bringen. Ich denke auch an die zivile Nutzung, beispielsweise die Überwachung kritischer Infrastruktur
wie Pipelines, die Aufdeckung von Umweltschäden usw.
usf.
Wir haben in diesem Bereich also noch eine Menge
zu tun. Ich möchte deshalb an dieser Stelle festhalten:
Wir möchten gerne eine umfassende, klare, sicherheitspolitische Begründung haben. Dann kann man auch den
Weg für die Entwicklung einer notwendigen Technologie
freimachen, der sich - da sind wir alle einer Meinung Deutschland nicht verschließen kann.
Vielen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Agnes Brugger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist entschlossen: Sie will so bald wie möglich waffenfähige Drohnen für die Bundeswehr. Für den
Verteidigungsminister scheint es zwingend zu sein, bei
jeder militärtechnologischen Entwicklung mithalten zu
müssen, um bloß nicht den Anschluss zu verpassen.
({0})
Aber es ist keine Zwangsläufigkeit, dass Deutschland
bei der Entwicklung und beim Einsatz von jedem neuen
Waffensystem dabei sein muss.
Herr Minister, Sie wollten hier den Eindruck erwecken, Sie arbeiteten abgeklärt und präzise die ganzen Argumente derjenigen ab, die große Vorbehalte haben, was
Drohnen angeht. Ich finde, Sie haben ein ganz entscheidendes Argument offensichtlich nicht verstanden, nämlich dass der Einsatz bewaffneter Drohnen massive
Auswirkungen auf die Kriegsführung hat. Die Hemmschwelle zur Anwendung militärischer Gewalt kann
dadurch drastisch sinken, und die berechtigte Zurückhaltung bei den politischen Entscheidungen über Militäreinsätze wird beeinträchtigt. Davor können Sie nicht einfach die Augen verschließen, auch wenn Sie selbst
beteuern, dieser Dynamik der Gewalt widerstehen zu
wollen; denn politisches und militärisches Handeln wird
nicht nur von Absichten und Interessen, sondern auch
von den zur Verfügung stehenden Fähigkeiten bestimmt.
Daher ist immer größte Skepsis geboten, wenn es um
Aufrüstung geht, und - ja - auch und gerade Skepsis gegenüber sich selbst.
Wie schnell so ein Meinungsumschwung vonstatten
geht, sieht man sehr gut in den USA. Als Israel im Jahr
2000 während der zweiten Intifada zum ersten Mal
durch den Einsatz bewaffneter Drohnen Personen gezielt
tötete, hat das die damalige US-Regierung als illegitim
verurteilt. Heute dagegen sind gezielte Tötungen durch
Drohnenangriffe das Mittel der Wahl für den Friedensnobelpreisträger Obama - im Antiterrorkampf in Pakistan, im Jemen und in Somalia. Die Zahl dieser völkerrechtswidrigen Angriffe, die auch viele zivile Opfer
fordern, ist während seiner Präsidentschaft massiv nach
oben geschnellt.
({1})
Schnell ist so die kritische Haltung der amerikanischen
Politik und der amerikanischen Gesellschaft verraucht.
Sehr schnell ist man der Versuchung erlegen, seine Gegner lieber bequem, einfach und anonym auszuschalten Völkerrecht hin oder her.
Die entscheidende Frage lautet doch: Wofür braucht
denn die Bundeswehr, die bereits über Aufklärungsdrohnen verfügt, angeblich so dringend bewaffnete Systeme?
({2})
In ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage liefert
Schwarz-Gelb darauf eine haarsträubende Antwort. „Zur
Abschreckung“, heißt es da ganz allgemein und offiziell.
Diese Begründung aus der rhetorischen Mottenkiste des
Kalten Krieges ist doch wirklich abstrus.
({3})
- Das erkläre ich Ihnen gerne. - In Wirklichkeit schrecken Drohnenangriffe nicht ab, sondern tragen im Gegenteil massiv zur Eskalation und Radikalisierung in
Konflikten bei.
({4})
Es gibt Studien renommierter Universitäten, die zeigen,
dass durch die von den USA in Afghanistan und Pakistan durchgeführten Drohnenangriffe der Extremismus
befeuert und die Rekrutierung neuer Kämpfer stark befördert wird.
({5})
- Dann lesen Sie einmal die Studien!
Ein weiterer Grund, der für die Beschaffung bewaffneter Drohnen aufgeführt wird, ist der Schutz der Bundeswehrangehörigen durch Luft-Boden-Unterstützung.
Ich möchte, Herr Minister, an dieser Stelle eines klarstellen: Als Abgeordnete haben wir eine besondere Verantwortung für den größtmöglichen Schutz der Soldatinnen
und Soldaten, die wir als Parlament in den Einsatz schicken.
({6})
Ich finde es unredlich, dass Sie uns das in Abrede stellen.
({7})
Ich bin aber überhaupt nicht davon überzeugt, dass die
Beschaffung bewaffneter Drohnen diesem Zweck dient.
Auf unsere Frage, wie oft deutsche Truppen im Auslandseinsatz Unterstützung durch bewaffnete Drohnen
von Verbündeten erhielten, nannte die Bundesregierung
genau zwei Fälle in Afghanistan. In beiden Fällen wäre
auch der Einsatz der bemannten Luftunterstützung möglich gewesen. Da waren auch keine Leben von deutschen
Soldaten gefährdet. Bevor die Koalition Gelder für teure
militärische Fähigkeiten freigibt, sollten, nein, müssen
Sie zuerst die Frage beantworten, an welchen Einsätzen
sich die Bundeswehr in Zukunft beteiligen soll. Darauf
hat und gibt diese Bundesregierung keine Antwort.
Dabei ist es mit Blick auf die gravierenden und uns
allen bekannten Auswirkungen auf die Kriegsführung
umso wichtiger, eine grundlegende gesellschaftliche und
friedenspolitische Debatte über den Einsatz dieser automatischen Waffensysteme zu führen, und zwar vor und
nicht nach der Entscheidung über die Beschaffung bewaffneter Drohnen.
({8})
Genau diese Debatte haben wir Grüne in einem eigenen
Antrag eingefordert. Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, haben das abgelehnt, und das unter höchst
widersprüchlichen Aussagen und ohne eine wirkliche
Begründung.
({9})
Heute in der Afghanistan-Debatte habe ich aufgehorcht, als Abgeordnete der CDU/CSU, genauso wie
Frau Hoff gerade, dann doch wieder eine Diskussion in
Bezug auf die Drohnen gefordert haben. Meine Damen
und Herren der Koalition, ich nehme Sie jetzt einmal
beim Wort.
({10})
Wenn Sie das ernst meinen, dann dürfen Sie jetzt die Beschaffung eines zu Recht hochumstrittenen Waffensystems, das zahlreiche ethische, völkerrechtliche und
rüstungskontrollpolitische Fragen aufwirft, nicht einfach
abnicken. Dann müssen Sie auch vom Kurs dieser
schwarz-gelben Regierung Abstand nehmen, die sich offensichtlich schon entschieden hat; denn sie blendet die
Risiken und Gefahren dieses neuen Waffensystems aus
und hechelt dieser technologischen Entwicklung kopflos
hinterher.
({11})
Diese verantwortungslose Politik machen jedenfalls wir
Grüne nicht mit und erteilen daher Ihren Plänen, waffenfähige Drohnen zu beschaffen, eine klare Absage.
({12})
Jetzt hat das Wort der Kollege Bernd Siebert von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Einmal mehr wollen die Linken sinnvollen technologischen Fortschritt ausbremsen.
({0})
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass solche Versuche zum
Scheitern verurteilt sind. Es werden unnötig Ängste geschürt, und losgelöst von Fakten wird Stimmung gemacht. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Gegenteil von verantwortungsvoller Politik.
Ich plädiere für einen anderen Weg: Lassen Sie uns
die Rahmenbedingungen mitgestalten, die zum Einsatz
von bewaffneten Drohnen dazugehören! Lassen Sie uns
Deutungshoheit über dieses wichtige Thema gewinnen!
Denn nur wer sich konstruktiv beteiligt, nimmt Einfluss
auf die Entwicklung. Deswegen ist der Ansatz der Kritiker, laut „Nein!“ zu rufen und den Kopf in den Sand zu
stecken, nichts anderes als kontraproduktiv.
Es muss darüber diskutiert werden, welche Rahmenbedingungen wir uns selbst bei dieser Technologie auferlegen. Daher bin ich Verteidigungsminister de Maizière
auch außerordentlich dankbar, dass er heute hier das
Wort ergriffen und diese Position am Anfang dieser Diskussion deutlich gemacht hat.
({1})
Im Namen meiner Fraktion lade ich Sie alle dazu ein,
diese Diskussion gemeinsam zu führen. Ich bin mir sicher: Dann finden wir auch eine Lösung.
Am 30. Juli 2012 hat unser Kollege Rainer Arnold erklärt - ich darf zitieren -:
Das ist ein Waffensystem, dem die Zukunft gehört … Auf längere Sicht wird an der Anschaffung
von bewaffneten Drohnen kein Weg vorbeigehen.
({2})
Recht hat er.
Bevor wir allerdings über die Zukunft sprechen, lohnt
ein Blick auf die Gegenwart. Dabei offenbart sich Erstaunliches; denn weder das Thema Drohnen ist neu,
noch ist das Nachdenken über die Bewaffnungsoptionen
neu. Drohnen sind seit vielen Jahren in der Bundeswehr
eingeführt, kleine und inzwischen auch große; es gibt sie
übrigens auch bei der Polizei.
({3})
Auch eine mögliche Bewaffnung hat Verteidigungsminister de Maizière bereits vor Monaten angesprochen.
Schon zu Zeiten der Großen Koalition haben wir über
diese Fragen diskutiert. Die neuerliche Empörungswelle,
die Sie jetzt anstoßen wollen, ist daher arg konstruiert
und hängt sicherlich mit einem Datum im Laufe dieses
Jahres zusammen.
Derzeit wird die israelische Aufklärungsdrohne
Heron 1 durch die Bundeswehr eingesetzt.
({4})
Sie leistet in Afghanistan wertvolle Dienste und wird
dies auch bis zum Abschluss der ISAF-Mission Ende
2014 tun. Dennoch müssen wir über die Zeit nach 2014
nachdenken. Genau das wird getan, und zwar nicht erst
seit gestern. Aus beobachtbaren Trends werden Schlussfolgerungen gezogen. Eine davon ist, dass die unbemannte Luftfahrt eine immer größere Rolle spielt und
die Bundeswehr als moderne Armee diesen Trend nicht
verschlafen sollte.
Der technologische Fortschritt in diesem Sektor ist in
der Tat enorm. Es wäre also geradezu widersinnig und
auch unwirtschaftlich, bei der Entwicklung oder Beschaffung eines Nachfolgemodells für Heron 1 technische Möglichkeiten bewusst auszuklammern. Wenn wir
jetzt ein System entwickeln oder beschaffen, das nicht
bewaffnet ist, zu einem späteren Zeitpunkt diese Fähigkeit jedoch benötigt wird, dann wird dies - das ist heute
schon klar - deutlich teurer, als wenn wir frühzeitig über
diese Option nachdenken.
Die Bewaffnungsoption - das Wort drückt es bereits
aus - sagt auch nichts darüber aus, ob und, wenn ja, wie
diese Waffen eingesetzt werden. Hier unterscheiden sich
Drohnen im Übrigen nicht von anderen Waffensystemen. Ob und, wenn ja, wann eine Waffe eingesetzt wird,
diese Entscheidung trifft ausschließlich ein Mensch
- nicht irgendein Computer -, und dieser Mensch trägt
die Verantwortung für seine Entscheidung. So ist es in
allen Armeen der Welt üblich. Bewaffnete Drohnen ändern daran überhaupt nichts.
Das Argument, dass Drohnen militärische Gewalt erleichtern würden, ist ebenfalls falsch. Eine Entscheidung, die ohne eigene Gefährdung getroffen wird, ist objektiver und durchdachter als eine Entscheidung unter
persönlicher Bedrohung. Das ist gerade der Vorteil des
unbemannten Flugzeugs.
({5})
Der Pilot kann ohne diesen Stress eine objektive Entscheidung anhand von Aufklärungsergebnissen treffen.
Im Prinzip müssten also gerade die Kritiker die größten
Befürworter bewaffneter Drohnen sein; denn unter
Stress passieren die meisten Fehler. Wer bedroht wird,
schießt auch schneller. Und ist es nicht auch vernünftiger
und verantwortungsvoller, eine Maschine statt eines
Menschen in eine gefährliche Situation zu bringen? Die
Sicherheit unserer Piloten muss bei dieser Debatte jedenfalls für uns auch einen wichtigen Stellenwert haben.
Ich komme zum Ende; meine letzte Bemerkung. In
Abwägung aller Argumente unterstütze ich deshalb die
Überlegungen des Verteidigungsministeriums.
({6})
Langfristig ist die unbemannte Luftfahrt ein Zukunftsthema, an dem kein Weg vorbeiführt. Deutschland als
Hochtechnologieland ist deshalb gut beraten, an vorderster Stelle präsent zu sein.
({7})
Dies lässt sich nur über selbstentwickelte Kompetenzen
im europäischen Verbund erreichen. Deshalb ist mein
dringendes Petitum, dass eine wie auch immer geartete
Nachfolgelösung für Heron 1 eine europäische Eigenentwicklung weder verhindern noch verzögern darf.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Rainer Arnold.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist immer nett, wenn man zitiert wird, Kollege Siebert,
aber es gehört noch ein zweiter Teil zu dem Zitat. Ich
habe nämlich dazugesagt: Es sind eine Reihe wichtiger
Fragen zu diskutieren und zu klären. - Damit das noch
einmal festgehalten wird: Die Bundesregierung hat von
sich aus überhaupt nichts zur Klärung dieser Fragen bei27116
getragen, sondern das geschah aufgrund der Anträge des
Parlaments.
({0})
Meine Fraktion hat schon vor längerer Zeit eine Große
Anfrage gestellt. Sobald die Antwort vorliegt, wird es
eine breite Gelegenheit geben, zu diskutieren.
Heute Morgen hat Ihr Kollege Schockenhoff mit einem völlig falschen Argument die Beschaffung von
Kampfdrohnen gefordert, nämlich mit Bezug auf Afghanistan. Das ist falsch. In Afghanistan wird der Kampfauftrag nämlich auf Sicht enden. Um es klar zu sagen:
Die Bundeswehr hat keine aktuelle Fähigkeitslücke.
Deshalb fragen wir uns schon: Warum diese Eile? Warum sollen noch vor der Bundestagswahl Fakten geschaffen werden? Haben da irgendwelche Leute Sorgen,
dass eine neue Regierung vielleicht sorgfältiger an dieses Thema herangeht?
({1})
Da kann ich Ihnen nur sagen: Diese Befürchtung, falls
sie da ist, ist begründet. Je schneller Sie beschaffen wollen, desto genauer werden wir hinschauen müssen.
({2})
Lassen Sie mich nun zu den Fragen kommen, die offen sind, Herr Minister. Es war kein guter Aufschlag, zu
sagen: Waffen sind per se neutral.
({3})
Man kann über bewaffnete Drohnen nicht diskutieren,
ohne den Hintergrund der derzeitigen Einsatzrealität einzublenden. Es ist nicht wahr, dass Drohnen in Afghanistan zum Schutz der Soldaten eingesetzt werden. Es ist
einfach Fakt, dass bewaffnete Drohnen derzeit, ob von
Israel oder von den Vereinigten Staaten, zum gezielten
Töten eingesetzt werden.
({4})
Natürlich ist es auch richtig, dass das völkerrechtswidrig
ist. Das muss man auch sagen.
({5})
Genauso ist es richtig, dass ein deutscher Kommandeur,
sollte er so einen Befehl geben, strafrechtlich belangt
würde und dass jeder deutsche Soldat so einen Befehl
nicht nur verweigern dürfte, sondern verweigern müsste.
({6})
Dies muss geklärt und gesagt sein.
Das Zweite ist - da greife ich auf, dass von der Kollegin Hoff gesagt wurde, es müsse erst operativ Klarheit
geschaffen werden -: Sie tun so, als ob eine Drohne einfach ein Flieger ohne Pilot wäre. Aber natürlich verändert sich durch den Einsatz von Drohnen etwas. Es liegt
bis zum heutigen Tag keine Konzeption der Luftwaffe
vor, in welchen Szenarien Drohnen notwendig sind und
mit welchen operativen Fähigkeiten sie eingesetzt werden sollen.
({7})
Dabei ist zu bedenken. Es ist doch so, dass gerade in
asymmetrischen Szenarien die Verhaftung von Aufständischen und Terroristen Vorrang vor dem Töten hat. Besteht dann nicht ein Risiko, dass dieser Vorrang ein
Stück weit verschoben wird, wenn bewaffnete Drohnen
zur Verfügung stehen? Ist das nicht latent, auch so wie
Sie heute diese Frage diskutiert haben? Darüber müssen
wir doch reden. Wir wollen dies nicht, und deshalb muss
man diese Szenarien präzisieren.
({8})
Dritter Punkt. Warum reflektiert diese Koalition überhaupt nicht, dass Drohnen so billig sind? Das ist nicht
schön. Dass Drohnen so billig sind, ist ein Problem; das
kann, wenn wir uns nicht um Rüstungskontrolle in diesem Bereich kümmern, dazu führen, dass es zu einer
massenhaften Verbreitung von Drohnen in der ganzen
Welt kommt. Das macht unser Leben nicht sicherer, sondern gefährlicher. Darum müssen wir etwas tun, und das
muss man mit diskutieren.
({9})
Vierter Punkt: Thema Einsatzschwelle. Natürlich hat
es der Deutsche Bundestag in der Hand; aber dass es
eine ernste Diskussion ist, dass sich Einsatzschwellen
verändern, sehen wir ganz aktuell am Beispiel von Mali.
Die Vereinigten Staaten wollen keine Soldaten dorthin
schicken. Aber was schicken Sie in die Region? Kampfdrohnen. Da verändert sich also etwas. Amerika ist nicht
irgendjemand; das ist unser Bündnispartner. Insofern
sind hier doch Fragen zu klären.
Der letzte Punkt ist Ihr Versuch, Herr Minister, Drohnen zu verniedlichen, indem Sie sagten, sie seien wie
Flugzeuge.
({10})
- Sie tun es gerade auch, Herr Kollege; finde ich eigentlich schade. Man darf doch nicht außer Acht lassen, dass
diese Technik zunehmend eine Informationsfülle liefert,
die aufzunehmen und zu verarbeiten Menschen gar nicht
mehr in der Lage sind.
({11})
Dies heißt, dass zuvor Rechenoperationen durchgeführt
werden, bei denen Computer entscheiden und selektieren, und der Mensch am Ende dasitzt.
({12})
Ganz am Ende dieser technischen Entwicklung werden
völlig autonome Systeme stehen, die nur noch programmiert werden. Wollen wir das bei den Debatten ausblenden? Um es klar zu sagen: Zu dieser Debatte gehört eine
klare völkerrechtliche Ächtung von automatisierten Systemen. Aus diesem Grund müssen wir diese Diskussion
führen.
({13})
Wenn wir all diese Diskussionen geführt haben, dürfen
und müssen wir am Ende auch über Industriepolitik reden, ja.
({14})
Ich glaube schon, dass unbemannte Flugzeuge - zivil
und militärisch - in der Zukunft eine bestimmte Bedeutung haben werden und ihre Bedeutung steigen wird.
Deshalb haben wir ein industriepolitisches Interesse, und
deshalb, Herr Minister, wäre es richtig, auch wenn es
schwierig ist, geduldig und ohne Eile mit unseren europäischen Partnern zu verhandeln. Dabei muss man respektieren, dass in Frankreich erst ein Weißbuch, eine Reform der Streitkräfte diskutiert werden wird. Am Ende
dieser Diskussion wird es vielleicht dazu kommen, dass
Europa sich gemeinsam diesem Thema zuwendet, nicht
nur in der Entwicklung, sondern vielleicht auch im Sinne
der vertieften europäischen Zusammenarbeit, auch im
Betrieb.
({15})
Solange dies nicht geschehen ist, Herr Minister, wäre
es falsch, schnell einmal ein amerikanisches System zu
kaufen, das möglicherweise auch die Vision der europäischen Sicherheitspolitik ein Stück weit in die falsche
Richtung vorprägt. Nehmen Sie sich deshalb in diesem
Bereich die entsprechende Zeit!
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin gleich fertig. - Damit wollte ich sagen: Wenn
Sie die Einwände nicht wegwischen, sondern der Dialog,
der heute begonnen hat, weitergeht, dann kann am Ende
eine verantwortungsvolle Entscheidung stehen, die vielleicht eine breite parlamentarische Zustimmung findet.
Das geht aber nicht innerhalb weniger Wochen, sondern
diese Anstrengung verdient wirklich Sorgfalt vor Eile.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Christoph
Schnurr das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über eine doch recht neue militärische
Fähigkeit. Die Kollegin Brugger hat am Anfang ihrer
Rede einige offene Fragen angesprochen, die wir uns,
glaube ich, alle stellen. Dabei ging es um wichtige Aspekte. Aber dann sagte sie, sie habe das Gefühl, dass
CDU/CSU und FDP hier ausschließlich das abnicken
wollen, was die Regierung vorhat. Das weise ich mit
Entschiedenheit zurück. Denn wir stehen am Anfang der
Debatte, von mir aus auch in der Mitte, aber ganz sicher
nicht an ihrem Ende.
({0})
Herr Arnold, Sie haben gerade ausgeführt, dass die
Koalitionsfraktionen momentan keine sorgfältige Debatte führten. Wir treffen aber doch heute überhaupt
keine Entscheidung. Dass es heute diesen Tagesordnungspunkt gibt, ist den Linken zu verdanken. Wir befinden uns jedenfalls in der Debatte, und das ist doch
mehr als begrüßenswert.
({1})
Zunächst einmal müssen wir insgesamt festhalten,
dass die Bundeswehr bereits über Drohnen verfügt, die
auch in den Auslandseinsätzen zum Einsatz kommen. Es
ist bereits angesprochen worden: Heron 1 wird in Afghanistan eingesetzt und verfügt über keinerlei Bewaffnung,
sondern dient vielmehr als reines Aufklärungsmittel. Genauso werden KZO und LUNA in Afghanistan und auch
im Kosovo als reine Aufklärungsmittel eingesetzt.
({2})
Wie Sie alle wissen, ist Heron 1 geleast; der Vertrag
läuft demnächst aus. Es geht also um die Neubeschaffung einer Drohne und um die Frage, ob diese bewaffnet
sein wird. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz
unbewaffneter Drohnen haben gezeigt, dass die Nutzung
dieser militärischen Fähigkeit unter anderem in Afghanistan einen erheblichen Mehrwert für die Truppe darstellt,
({3})
angefangen bei den Echtzeitübertragungen, die damit
möglich sind. Ich glaube, dass wir in diesem Zusammen27118
hang alle einer Meinung sind und den Mehrwert der bisher vorhandenen Drohnen für die Truppe nicht wirklich
als streitig ansehen können.
({4})
Doch wie verhält es sich mit dem Einsatz derselben
Technologie, mit Drohnen, wenn sie bewaffnet sind? Es
gibt eine Reihe von offenen Fragen und Sorgen. Eine
dieser Sorgen ist - sie wurde angesprochen -, dass mit
dieser neuen Waffentechnologie die Hemmschwelle für
einen Einsatz gesenkt wird, sprich die Hemmschwelle
für einen Krieg gesenkt wird. Diese Sorge müssen wir
ernst nehmen; darüber müssen wir ganz offen debattieren und diskutieren. Ich jedenfalls bin davon überzeugt,
dass die Hemmschwelle für einen Einsatz durch bewaffnete Drohnen nicht gesenkt wird. Denn über die Teilnahme an militärischen Auseinandersetzungen, über die
Auslandseinsätze entscheiden immer noch wir hier im
Deutschen Bundestag.
({5})
Es liegt also an uns allen: Es liegt in unserer Verantwortung, dass die Hemmschwelle für einen Einsatz, für eine
militärische Auseinandersetzung, möglichst hoch bleibt,
auch wenn wir über die militärische Fähigkeit bewaffneter Drohnen verfügen sollten.
({6})
Eine weitere Sorge ist, dass bewaffnete Drohnen für
gezielte Tötungen eingesetzt werden könnten. Hier ist
eine Parallele zu den USA gezogen worden. Auch das
halte ich für abwegig. Gezielte Tötungen gehören nicht
zu unserer Rechtsordnung. Wir müssen diese Diskussion
zwar aufnehmen, aber eines steht doch fest: Wir haben
bereits militärische Fähigkeiten für gezielte Tötungen,
setzten diese aber nicht ein, weil wir gezielte Tötungen
für grundsätzlich falsch halten.
Herr Arnold, Sie haben davon gesprochen, dass die
USA die entsprechenden Systeme zum großen Teil für
gezielte Tötungen verwenden und sie nicht zwangsläufig
für den Schutz der eigenen Truppe eingesetzt werden,
beispielsweise in Afghanistan. Das ist nicht richtig; das
ist nicht korrekt.
({7})
Die unbemannten Drohnen, ob mit oder ohne Bewaffnung, dienen im Wesentlichen dem Schutz der eigenen
Soldatinnen und Soldaten, auch bei den amerikanischen
Verbündeten. Insofern stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob wir uns dieser Technologie wirklich
verwehren.
Ich glaube, dass eine Reihe von Fragen nach wie vor
offen ist. Natürlich müssen wir uns mit diesen Fragen
beschäftigen, bevor wir diese Technologie anschaffen.
Der Minister hat eine breite öffentliche Diskussion hierüber eingefordert. Ja, wir brauchen eine solche Diskussion über bewaffnete Drohnen, und diese sollte ergebnisoffen, sachlich und konstruktiv geführt werden.
Zu dieser Diskussion gehört es meiner Meinung nach
auch, dass die Bundesregierung uns Parlamentarier und
die Öffentlichkeit über ihre Vorstellungen von möglichen Einsatzszenarien informiert und dass sie uns eine
sicherheitspolitische Begründung für die Notwendigkeit
einer solchen Beschaffung klar darlegt, nicht zuletzt aus
dem Grund, dass die Systeme nicht besonders günstig
sind. Im Zusammenhang mit den Sparzwängen müssen
wir auch hier über die Finanzierbarkeit sprechen.
Meine Damen und Herren, es gibt offene Fragen. Die
Diskussion muss geführt werden. Die technologischen,
finanziellen, sicherheitspolitischen und ethischen, aber
natürlich auch die rechtlichen Aspekte müssen wir offen
diskutieren. Wir befinden uns mitten in dieser Diskussion und nicht am Ende. Ich glaube, dass die Diskussion
noch ein bisschen Zeit braucht. Nehmen wir uns diese!
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Inge
Höger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bewaffnete Drohnen werden gebaut, um Menschen zu töten. Da
beißt die Maus keinen Faden ab.
({0})
Diese schrecklichen Mordwaffen will nun auch die Bundesregierung anschaffen. Das lehnt die Linke entschieden ab.
({1})
Bei angeblichen Antiterroreinsätzen in Afghanistan
und Pakistan, im Jemen, in Somalia und in den Palästinensergebieten führen Israel und die USA immer wieder
„gezielte Tötungen“ gegen vermeintliche Terroristen
durch. Gezielte Tötungen sind völkerrechtswidrig. Das
wurde hier von verschiedenen Rednern bestätigt. Bei
diesen Aktionen kommen regelmäßig Zivilistinnen und
Zivilisten ums Leben. Ganze Hochzeitsgesellschaften
wurden schon durch diese unbemannten Flugzeuge angegriffen und viele Menschen getötet. Später heißt es
dann lakonisch, das seien Kollateralschäden.
Herr de Maizière, Sie haben sich gerade für gezielte
Tötungen ausgesprochen. Das finde ich zynisch.
({2})
- Er hat angesprochen, dass er das für sinnvoll hält.
({3})
Daran, dass nach Angaben der britischen Initiative
„Bureau of Investigative Journalism“ allein in Pakistan
zwischen 475 und 890 Zivilistinnen und Zivilisten durch
US-Drohnen getötet wurden,
({4})
sieht man genau, was das Ergebnis dieser Kriegsführung
ist in einem Land, das nicht am Krieg beteiligt ist. Nun
plant die Bundesregierung die Anschaffung solcher Killerwaffen. Das wird die Linke nicht akzeptieren.
({5})
Die Regierung behauptet, der Einsatz von Kampfdrohnen würde die Kriegsführung optimieren. Es würde
eine neue Dimension der militärischen Auseinandersetzung geschaffen. Davor kann jeder vernünftige Mensch
nur warnen.
({6})
Herr de Maizière, Sie behaupten, Kampfdrohnen
seien ethisch neutral oder sogar ethisch von Vorteil, weil
kein Soldat drin sitzt, der beim Einsatz umkommen
könnte.
({7})
Das ist skandalös.
({8})
Die Zeit titelte kürzlich:
Der Präsident hakt das Ziel ab, der Pilot am Bildschirm drückt auf den Knopf. Nun will auch die
Bundeswehr Kampfdrohnen einsetzen.
Hier wird die Illusion von einem sauberen Krieg geschaffen, bei dem die Soldatin oder der Soldat zu Hause
vom Home Office aus mal eben ein paar Ziele bombardiert.
({9})
Zwischendurch wird vielleicht ein Computerspiel gespielt oder das Baby gewickelt.
({10})
Zynischer geht es kaum, ganz genau. Krieg ist immer
schmutzig. Hinter den Angriffszielen befinden sich immer auch Menschen, die getötet werden können.
In einer Studie der Hessischen Stiftung Friedens- und
Konfliktforschung heißt es: Der Drohneneinsatz
provoziert … asymmetrische Reaktionen… Je stärker sich aber die Soldaten der überlegenen Seite
dem Schlachtfeld entziehen und Maschinen ihren
Platz einnehmen lassen, umso mehr wächst für die
unterlegene Seite der Anreiz, den Konflikt in das
Herkunftsland der Truppen zu tragen. Terrorexperten sehen deshalb die Gefahr, dass die Anzahl der
Angriffe auf zivile Ziele in westlichen Staaten steigen wird, je mehr die Automatisierung des Krieges
voranschreitet.
({11})
Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
hat das gesagt.
Die Drohnenpläne der Bundesregierung erhöhen also
die Terrorgefahr bei uns in Deutschland. Das ist unverantwortlich.
({12})
Die Linke und die Friedensbewegung fürchten, dass
die Hemmschwelle für den Einsatz militärischer Gewalt
sinken wird,
({13})
wenn dabei keine eigenen Soldatinnen und Soldaten getötet werden können. Ich sage: Das beste Mittel gegen
tote Soldatinnen und Soldaten ist, gar nicht erst Krieg zu
führen.
({14})
Aus den USA sind inzwischen die ersten Fälle von
Soldatinnen und Soldaten bekannt, die an ihrem Computerabschussplatz für scharfe Waffen an Posttraumatischer Belastungsstörung erkrankten. Offenbar ist das,
was sie per Mausklick am anderen Ende der Welt anrichten, doch nicht so ethisch unbedenklich, wie hier behauptet wird.
Die Linke fordert deshalb: Kein Einsatz und keine
Beschaffung von Drohnen! Wir wollen einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der Drohnen umfassend
ächtet, der die Produktion, den Erwerb und den Einsatz
von Drohnen wirksam verbietet.
({15})
Nein zu Kampfdrohnen! Kein Krieg, nirgendwo!
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Florian Hahn.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Manche
Wortmeldungen hier im Parlament machen einen fast
sprachlos. - So viel zu meiner Vorrednerin. Ich komme
noch einmal darauf zurück.
Unbemannte, autonome Hightechsysteme sind zivil
und militärisch Zukunftstechnologien.
({0})
Die Bundeswehr benutzt bereits diese Technologien, und
zwar sehr erfolgreich. Deshalb ist es richtig, uns zu überlegen, mit welcher Technik wir zukünftig die unbemannten Kampfmittel unserer Streitkräfte ausrüsten wollen.
Das löst auch eine Diskussion über die Frage aus, ob wir
diese bewaffnen wollen oder nicht. Für unsere Soldaten
ist die Antwort darauf klar; denn Kampfdrohnen reduzieren die Gefahr im Einsatz deutlich. Der Vorsitzende
des Deutschen BundeswehrVerbandes sagt dazu:
Jede Soldatin, jeder Soldat, der nicht unmittelbar im
Gefecht stehen muss, ist natürlich wünschenswert.
Lassen Sie mich auf einige Kritikpunkte eingehen, die
von der Opposition genannt wurden. Es geht beispielsweise darum, ob durch bewaffnete Drohnen die Hemmschwelle zum Töten sinkt. Indirekt bedeutet diese Kritik:
Man ist nicht einverstanden damit, dass es für unsere
Soldaten einen risikoarmen Einsatz gibt. Es ist sozusagen nicht fair, dass unsere Soldaten nicht der gleichen
Gefahr ausgesetzt sind wie ihre Gegner. Das ist zynisch,
meine Damen und Herren.
({1})
Die Einsätze belasten unsere Soldaten enorm. Es ist
doch nicht nachteilig, wenn sie weniger in direkte
Kampfhandlungen verwickelt werden.
Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass unsere
Gegner Terroristen sind, deren Hemmschwelle ohnehin
ungemein niedriger ist als die unserer Soldaten.
({2})
Diese Terroristen machen mit ihrer hinterhältigen, unberechenbaren Guerillataktik den Einsatz der Drohnen erst
sinnvoll.
Das zweite Argument, das immer wieder genannt
wird, ist: Beim Einsatz von unbemannten Drohnen sei
die Zurechenbarkeit zu einem verantwortlichen Akteur
nicht mehr möglich. - Auch was herkömmliche Flugzeuge angeht, ist es so: Es entscheidet nicht der Pilot,
sondern der Einsatzführer. Der Pilot liefert lediglich die
Waffenwirkung, die meist von den Bodentruppen angefordert wird. In Afghanistan muss sogar jeder Schießbefehl vom Hauptquartier freigegeben werden. So unterscheiden sich unbemannte, bewaffnete Luftfahrzeuge in
ihrer Wirkung nicht von bemannten. Am Schluss der Befehlskette entscheidet ein Mensch, eine Rakete abzuschießen. In beiden Fällen ist es nicht der Pilot.
Ein drittes Argument, das schon der Kollege Schnurr
dankenswerterweise richtiggestellt hat, bezieht sich auf
den Vorwurf: Durch die neue Fähigkeit wird es mehr
Auslandseinsätze geben. - Ob dies der Fall sein wird, ist
nicht allein von einer Fähigkeit abhängig, sondern davon, welche Gefahren uns in Zukunft drohen. Die Entscheidung wird außerdem weiterhin hier in diesem Parlament getroffen. Es kommt also auf uns an und nicht
auf eine Fähigkeit. Der Bundeswehr, Frau Höger, zu unterstellen, sie würde durch eine neue technische Fähigkeit Gefahr laufen, moralisch und ethisch zu verkommen, ist eine Unverschämtheit.
({3})
Die Bundeswehr hat gerade in den vergangenen und den
aktuellen Einsätzen immer wieder bewiesen, dass wir
uns besonders an Regeln halten.
({4})
Das ist im Übrigen auch der Grund, warum wir ein hohes Ansehen bei unseren Bündnispartnern und in den
Einsätzen genießen.
Manche Einlassungen - im Vorfeld der heutigen Debatte, aber auch jetzt während der Debatte - verwirren
mich ein bisschen,
({5})
vor allem die vonseiten der SPD. Heute im Morgenmagazin sagte der Kollege Arnold von der SPD: Keine
Beschaffung bewaffneter Drohnen vor der Wahl.
({6})
Man habe große ethische Bedenken. Man brauche noch
lange Diskussionen, aber nach der Wahl sei eine Beschaffung in Deutschland selbstverständlich denkbar. Was ist denn nun?
({7})
Ich fürchte, Sie wollen dieses Thema lediglich im Wahlkampf nutzen und ausschlachten. Das geht aber zulasten
unserer Soldatinnen und Soldaten. Das lassen wir Ihnen
so nicht durchgehen.
({8})
Meine Meinung zu diesem Thema ist: Ja, langfristig
sollte die Bundeswehr über bewaffnete unbemannte Systeme verfügen. Ja, die Bundeswehr wird auch mit dieser
Fähigkeit angemessen umgehen und sich an dieselben
Regeln halten wie bisher. Und ja, wir sollten in Deutschland und Europa die technische Fähigkeit zum Bau solcher Systeme schaffen, um nicht von anderen abhängig
zu sein. Damit sichern wir im Übrigen auch mehrere
Hundert Arbeitsplätze.
({9})
Ich habe heute in einem Blog, verlinkt mit Welt.de,
folgenden Kommentar gelesen:
Welche Alternativen gäbe es denn? … Mediatoren
einzusetzen gegen Al Kaida, wie es die Partei der
Linken fordert? Etwa der Verzicht auf die Panzerung bei Panzern, weil sie den Krieger schützt und
damit den Krieg „leichter“ machen könnte?
({10})
Darüber sollten Sie sich Gedanken machen.
Danke schön.
({11})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum
kommt plötzlich so eine Hektik in die Debatte über die
Anschaffung neuer Drohnen für die Bundeswehr? Warum soll vor der Bundestagswahl noch eine Kaufentscheidung über drei - drei! - bewaffnungsfähige UAVs
getroffen werden?
({0})
Glaubt die Koalition ernsthaft, dass das Thema „Kampfdrohnen - ja oder nein?“ ein gutes Mobilisierungsthema
ist,
({1})
nach dem Motto: „Hier die Hardlinerparteien, dort die
Wattebauschparteien“? Viel Vergnügen mit dieser Pappkameradeninszenierung, Kollege Hahn!
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie das Tempo raus, und
klären Sie erst einmal die Fragen, von denen Sie gestern
noch selbst der Meinung waren, dass sie geklärt werden
müssen, Herr Minister!
({2})
Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur amerikanischen Kampfdrohnenpraxis in Pakistan und anderswo?
({3})
Was sagen Sie den Amerikanern? Ist das Einzige, was
Sie ihnen sagen: „Wir wollen auch solche Maschinen haben, aber wir wollen sie natürlich ganz anders einsetzen
als ihr“? Klären Sie Ihre Position, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es geht nicht um Banalitäten. Selbst wenn
diese Automaten in erklärten, bewaffneten Konflikten,
vielleicht sogar unter UNO-Mandat, eingesetzt werden,
ist doch längst nicht alles business as usual.
Uns liegt ein Bericht des Bundestagsbüros für Technikfolgenabschätzung vor. Dort heißt es:
Mit den Trends zur Depersonalisierung und Automatisierung des Schlachtfelds sind auch dringliche
ethische Fragen bezüglich technischer Systeme als
„moralisch Handelnde“ aufgeworfen.
Es geht um die Frage - ich zitiere weiter -,
ob und inwiefern menschliche Entscheidungsträger
im Zusammenspiel mit technischen, zunehmend
auch autonomen Systemen ihrer Verantwortung gerecht werden können …
Ihre Aussage, die Drohnentechnik sei ethisch neutral,
wollen Sie bitte nicht ernst gemeint haben, Herr Minister. Das amerikanische Beispiel der gezielten Tötungen
von Verdächtigen aus der Luft ist kein Vorbild für uns.
Aber auch das Szenario, das dem deutschen Verteidigungsminister vorschwebt, gewissermaßen Close Air
Support im Gefecht einzelner Heerespatrouillen, ist
nicht banal. Feuern wir zum Beispiel - nehmen wir das
Szenario Afghanistan; es wird nicht so kommen, weil
die Drohnen gar nicht vorhanden sind; aber wenn es so
wäre - auf erkannte Kämpfer, wenn sie sich aus dem Gefecht lösen und fliehen? Sollen sie dann aus der Luft vernichtet werden? Auf wessen Befehl: des Zugführers vor
Ort oder des Drohnenführers, der irgendwo in einem
Container sitzt?
Die NATO verfolgt in Afghanistan spätestens seit
2009 nicht das Ziel, möglichst viele gegnerische Kämpfer zur Strecke zu bringen. Erinnern wir uns an den Kunduz-Vorfall und an den Untersuchungsausschuss. Ich zitiere aus einem Tagesbefehl des damaligen COMISAF
General McChrystal: In der üblichen Wahrnehmung
bleiben, wenn aus einer Gruppe von zehn Aufständischen zwei getötet werden, acht übrig; zehn minus zwei
gleich acht. Vom Standpunkt der Aufständischen sind
die beiden Getöteten aber wahrscheinlich verwandt mit
vielen anderen, die Rache üben werden. Wenn es zivile
Opfer gibt, wird diese Zahl noch größer sein. Der Tod
von Zweien bringt deshalb etliche zusätzliche Rekruten
hervor: 10 minus 2 gleich 20. - Das ist ein Teil der Begründung dafür, dass, so McChrystal damals, acht Jahre
im Einzelfall erfolgreicher Waffeneinsätze am Ende zu
mehr Gewalt geführt haben.
({4})
Das sagt der NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan
nach dem von uns gewollten Strategiewechsel in Afghanistan. Diese Einschätzung teilen wir.
({5})
Kampfdrohnen sind nicht die Lösung. Sie sind nicht
die richtige, angepasste Militärtechnik für Counter-Insurgency, falls man das im Kopf haben sollte. Zu den
drei bewaffnungsfähigen Drohnen, die ab 2016 in Jagel
stationiert werden könnten: Was ist deren militärischer
Beitrag zur Lösung welcher Konflikte? Was kann die
Bundeswehr dann besser als heute? Was kann sie dann,
was sie jetzt nicht kann? Ich empfehle uns: Lassen Sie
uns die Zeit nehmen, um eine vernünftige, abgewogene
Diskussion zu führen! Dabei kann die Option der Bewaffnungsfähigkeit eine Rolle spielen. Wir brauchen
aber keine ideologische und keine auf den Wahlkampf
ausgerichtete Diskussion.
({6})
Ich glaube übrigens nicht, dass die Zeit der bewaffneten Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber vorbei ist.
Wir sind uns einig, was die Anschaffung von großen
UAVs zur Aufklärung angeht. Aber dann machen Sie
mal Druck, Herr Minister, damit die Probleme des EuroHawk in Manching gelöst werden. Davon brauchen wir
insgesamt fünf für die SIGINT-Aufklärung - die alten
Bréguet Atlantique sind längst außer Dienst gestellt -,
plus fünf Euro-Hawk in der IMINT-Version: Optik,
Infrarot, Radar. Oder haben Sie das Projekt schon aufgegeben?
({7})
Unsere künftige mittlere Drohne, von der Sie langfristig weniger als 20 Stück einplanen, sollte ein deutschfranzösisches Projekt sein, vielleicht unter Beteiligung
anderer Nationen. Ob sie auch bewaffnungsfähig sein
soll, müssen wir dann klären. Es sollte jetzt aber keine
Vorfestlegungen geben.
Wenn Sie ein Projekt suchen, bei dem Sie jetzt schnell
entscheiden sollten, am besten noch vor der Bundeswahl: Das ist die Beschaffung eines neuen Marinehubschraubers. Diese Entscheidung ist seit sieben Jahren
überfällig.
Schönen Dank.
({8})
Die Kollegin Karin Strenz hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man zu den letzten Rednern in einer Debatte gehört, fragt man sich im Verlauf natürlich, ob nicht schon
alles gesagt worden ist. Da ich heute die Chance habe, zu
reden, möchte ich darüber sprechen, was mir am Herzen
liegt.
Es ist völlig richtig, dass wir intensiv debattieren und
nach der besten Lösung suchen. Es ist grundsätzlich in
Ordnung, wenn man Bedenken äußert, Nachfragen und
Zweifel hat. Wenn am Ende die richtigen Antworten gefunden werden - nur dann stehen Entscheidungen auf einem stabilen parlamentarischen Fundament. Seit ich
dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages angehöre, beeindruckt mich genau das sehr: Niemand hat sich eine Entscheidung je leicht gemacht. Das
ist genau das, was die Truppe an uns schätzt, die breite
Basis bei sachlichen Entscheidungen; denn sie hat als
Parlamentsarmee am Ende die Entscheidungen umzusetzen.
Wir befassen uns heute mit einer Fähigkeitserweiterung, die ich persönlich für sinnvoll halte. Ich bin der
Meinung, im Gegensatz zum Kollegen Arnold, dass es
eine Fähigkeitslücke gibt, die es zu schließen gilt. Auseinandersetzungen wie in Afghanistan, asymmetrische
Kriegsführung, Hinterhalte, Heckenschützen, Terroristen, organisierte Schwerstkriminelle, die nicht nach Regeln kämpfen und möglicherweise künftige Einsätze all das erfordert doch förmlich ein Instrument, welches
per se abschreckt, exzellent aufklärt und gegebenenfalls
präzise wirken kann oder gar muss, gerade um Kollateralschäden zu minimieren und bestenfalls auszuschließen.
Die Kollegen der Sozialdemokraten waren zur Zeit
der Großen Koalition hinsichtlich ihrer Meinungsbildung offener und fortschrittlicher. Deshalb ist es nicht
fair, Herr Kollege Arnold, heute einfach so zu tun, als
müsse man das Thema neu erfinden und leidenschaftlich
in eine andere Richtung diskutieren. Sie fordern - das
finde ich beachtlich -: Wenn überhaupt, dann soll es eine
europäische Lösung sein. An dieser Stelle haben Sie alle
gemeinsam meine Sympathie; denn wenn wir mehr Verantwortung übernehmen wollen und auch müssen, kann
es natürlich nicht schaden, aus den Kinderschuhen der
europäischen Verteidigungspolitik herauszuwachsen, gerade im internationalen Kontext, und sich zu emanzipieren.
Die Grünen warnen - das haben wir heute wieder erlebt - mantraartig vor dem drastischen Sinken der
Hemmschwelle.
({0})
Wie kann man nur? Da sinkt sie glatt bei mir: Welche
Charaktere und Reflexe unterstellen Sie eigentlich unseren Soldatinnen und Soldaten,
({1})
die aus tiefster Überzeugung, mit Idealen und nach hervorragender Ausbildung Deutschland dienen?
({2})
Sie erwecken hier ja indirekt und stellenweise sogar
direkt den Eindruck, als säßen 13-jährige Kids in Flecktarn vor einem Computerspiel, an der Steuerungstechnik
einer Drohne, aus Spaß am Spiel, aus spontaner Eigeninitiative reagierend und operierend und bei gescheiterter Mission beliebig oft auf den Wiederholen-Button
drückend.
({3})
Mein Gott, wo sind wir hier?
({4})
Da Truppe nicht klagt, weil Truppe nämlich nicht klagt,
klage ich stellvertretend: Ich verwehre mich dagegen,
dass Sie so etwas unterstellen.
({5})
Wie muss sich die Truppe fühlen? Wir reden über
Mütter, Familienväter, Töchter, Söhne, Schwestern und
Brüder, Bürger in Uniform, die verantwortungsvoll ihren
Dienst tun.
({6})
Es sind im Übrigen genau dieselben, denen Sie hier immer vollmundig - in der Hoffnung auf Applaus - für ihren Dienst danken. Diesen Soldaten unterstellt man hin
und wieder - ganz besonders von links - unkontrolliertes
und nervenschwaches Verhalten bei der Ausübung der
Arbeit.
({7})
Allein das Abschreckungspotenzial einer bewaffneten
Drohne überzeugt mich. Denken wir doch einmal an die
quälende Debatte, als die Panzerhaubitze 2000 nach
Afghanistan sollte: zu schwer, zu groß, zu sperrig, alles
sinnlos. Als sie da war, hat sie gewirkt. Heute beklagt
sich niemand mehr über Angriffe oder Beschuss in
Kunduz. Ich denke, das sollte man erwähnen.
Ich sehe dieses zu entwickelnde moderne System als
zusätzliche Schutzkomponente für unsere Soldaten im
Einsatz. Die Fachleute zur Bedienung der Systeme sind
schon da. Wichtiger noch ist, dass sie natürlich von den
Werten der Inneren Führung geleitet sind. Sie halten sich
an Einsatzregeln, können die Lage einschätzen, beherrschen Befehlsketten und sind mit militärischen Vorgängen vertraut. Wer das ignoriert oder ihnen gar abspricht,
verhält sich zynisch, nur der.
({8})
Nun zu den Linken. Wenn mir bei Ihren Ansichten
zur internationalen Sicherheitspolitik auch das Blut in
den Adern stockt: Sie bleiben sich doch wenigstens treu.
Sie wollen keine Bundeswehr und demzufolge auch keinen Schutz für die Soldaten. Aber wie fatal! Welche Verantwortungslosigkeit und welche Schuld laden Sie da
auf sich?
({9})
Ich möchte mit Ihnen nicht tauschen. Ein bisschen tun
Sie mir auch leid. Denn am Ende des Tages bleibt Ihnen
nicht einmal das Beten.
Ganz besonders leid tut mir - das kann ich an dieser
Stelle sagen - ein Kollege von Ihnen. Sie werden sich
wundern: Es gibt einen Kollegen in Ihrer Fraktion, den
ich sehr schätze. Das ist der Kollege Schäfer. Ich glaube,
dass er es besser weiß und nur aus Parteizwängen
schweigt.
({10})
Herr Kollege, wie stark muss Ihr körperlicher Schmerz
gewesen sein, als Genosse Gysi bei anderer Gelegenheit
mit Blick auf die Anfrage des NATO-Partners Türkei
zwecks Hilfe durch Patriot-Raketen vom Einmarsch der
Bundeswehr in den Nahen Osten sprach?
({11})
Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, es nährt sich der Verdacht, dass diese Sprüche
das Licht der Welt in illegitimen Cannabis-Klubs erblicken.
({12})
Reden Sie nicht nur darüber, sondern lassen Sie zu,
dass unsere Parlamentsarmee in Zukunft über die bestmögliche Ausstattung verfügen wird, über ein System,
das wirkungsvoll, innovativ und unabhängig ist. Lassen
Sie uns selbstverständlich an anderer Stelle auch über
Ethik, sittliche Normen und Verantwortung debattieren,
aber, bitte schön, glaubwürdig und tiefschürfend und
nicht nur für eine Schlagzeile mit einem Haltbarkeitswert von 24 Stunden.
Ich danke dem Minister für seine klaren Worte, und
ich danke auch - das tun Sie sonst immer; heute haben
Sie das ausgelassen - dem Wehrbeauftragten, der im Übrigen für den Schutz der Soldaten bewaffnete Drohnen
gefordert hat.
({13})
Ich komme zum Ende. - Herr Mützenich, Sie haben
gefragt, was die deutsche Bevölkerung wirklich interessiert. Ich glaube, es zu wissen: Sie will eine Antwort haben auf eine Frage. Diese Frage stelle ich nun Ihnen.
Frau Kollegin.
Was sind Ihnen die Gesundheit und das Leben unserer
Soldaten wert?
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte mich dem, was meine Kollegin Strenz gesagt hat, vollkommen anschließen. Frau
Kollegin Strenz hatte ja vor allem die Linkspartei und
die SPD kritisiert. Frau Brugger, ich möchte jetzt Sie direkt ansprechen, weil Sie ja grundsätzlich etwas über die
modernen Waffensysteme gesagt haben. Ich bin der Meinung, dass die Bundeswehr und die Soldatinnen und Soldaten die bestmöglichen technischen Möglichkeiten zur
Verfügung haben sollten. Hier geht es auch um den
Schutz. Es geht ferner darum, wie ernst zu nehmend und
wie attraktiv der Einsatz bei der Bundeswehr überhaupt
sein soll.
({0})
Der Minister hat davon gesprochen, dass Sie den Eindruck erwecken, als wollten Sie weiter mit der Postkutsche fahren, statt einen technologischen Sprung zu vollziehen und die Eisenbahn zu nutzen.
Es ist ja die Frage gestellt worden: Warum zum jetzigen Zeitpunkt? Die Antwort ist offensichtlich: weil die
technologische Entwicklung schneller ist als unsere
Wahlzyklen. Deshalb gibt es auch keinen Grund, bis zur
Bundestagswahl zu warten. Wenn es die technischen
Möglichkeiten gibt, wenn die Regierung in Deutschland
sich veranlasst fühlt, Maßnahmen in dieser Richtung zu
prüfen und diese politisch von uns gedeckt werden, dann
gibt es sehr wohl einen guten Grund, diese Diskussion
offensiv zu führen.
Hier im Hause wird diese Diskussion übrigens sehr,
sehr unehrlich geführt. Das Einzige, was man der Linkspartei im Zweifel zugutehalten kann, ist, dass sie wirklich alles, was mit der Bundeswehr, mit der Sicherheit,
mit der Verteidigung unseres Landes zu tun hat, ablehnt.
Wie konsequent das am Ende ist, möchte ich dahingestellt sein lassen. Aber Sie sind sich Ihrer Linie zumindest treu geblieben.
({1})
Von Herrn Arnold kann man das nicht sagen. Herr
Arnold, in der Frankfurter Rundschau - sie ist ja ein der
SPD nahestehendes Blatt ({2})
werden Sie wie folgt zitiert: „Das ist ein Waffensystem,
dem die Zukunft gehört.“
({3})
Ich frage Sie: Was haben Sie denn gerade für eine Rede
gehalten? Hat man Sie in Ihrer Fraktion dazu verdonnert,
hier den Sprechzettel der Fraktion vorzulesen, oder war
das Ihre Meinung?
({4})
Denn das, was Sie der Zeitung gesagt haben, entspricht
überhaupt nicht dem, was Sie gerade in Ihrer Rede gesagt haben.
({5})
Wenn die Fraktionsdisziplin bei Ihnen so weit geht, dass
Sie hier nicht Ihre eigene Meinung sagen, dann hätten
Sie Ihre Redezeit besser an jemand anderen abgetreten.
({6})
- Was haben Sie gesagt? Haben Sie „Kaderpartei“ gesagt? Das ist relativ weitreichend. Ich würde die SPD
nicht als Kaderpartei bezeichnen.
({7})
Vielleicht habe ich den Zwischenruf auch falsch verstanden. Auf jeden Fall fiel dieses Wort.
({8})
Meine Damen und Herren, Kriege und Kriegsführung
insgesamt verändern sich. Mittlerweile gibt es nicht
mehr nur Konflikte zwischen Staaten, sondern auch zwischen Staaten und organisierten kriminellen Gruppierungen, die armeegleich agieren. Zwei Dinge sind wichtig,
um ihnen entgegenzutreten: Aufklärung und moderne
Waffensysteme.
Im Bereich der Aufklärung leisten unsere Dienste
wirklich hervorragende Arbeit, gerade in Zusammenarbeit mit den Diensten befreundeter Länder. Vor diesem
Hintergrund ist es aber auch wichtig, dass wir uns an der
technologischen Entwicklung neuer Waffensysteme beteiligen. Wenn neue Technologien aufkommen, dürfen
wir in Deutschland nicht sagen: „Wir warten erst einmal
ab, bis alle anderen diese Technologien entwickelt und
angeschafft haben; wenn sie sinnvoll sind, beteiligen wir
uns vielleicht später daran“, sondern wir müssen an
solch wichtigen Projekten teilhaben. Wir müssen uns
engagieren.
Ich finde, dass diese Debatte zum genau richtigen
Zeitpunkt geführt wird. Ich glaube, dass wir mit diesem
Waffensystem letztendlich dafür sorgen können, dass die
Soldatinnen und Soldaten besser ausgerüstet und auf die
neuen Konfliktszenarien in den Einsätzen besser vorbereitet sein werden, sodass sie - besser geschützt und gut
ausgebildet - verantwortungsbewusst mit den Herausforderungen, die sich ihnen stellen, werden umgehen
können. Insofern unterstützt meine Fraktion diese Diskussion, und wir werden sie öffentlich und transparent
führen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache. Die Aktuelle Stunde ist
beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
steuerlichen Förderung der privaten Altersvorsorge ({0})
- Drucksache 17/10818 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 17/12219 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergPetra Hinz ({2})Frank SchäfflerDr. Barbara Höll Dr. Gerhard Schick
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/12220 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthlePetra Merkel ({4})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({5})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln
- Drucksachen 17/9194, 17/12219 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergPetra Hinz ({7})Frank SchäfflerDr. Barbara Höll Dr. Gerhard Schick
Verabredet ist, hierzu eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Der Kollege Dr. Mathias Middelberg hat jetzt das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({8})
Ganz herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Viele Menschen haben Sorge, ob sie im Alter ausreichend versorgt sind.
Deswegen ist das Thema, das wir heute debattieren, das
Thema Altersvorsorge, ein wichtiges und ernstes Thema.
Ich möchte vorweg, weil er mit debattiert wird, auf
den Antrag der Linken eingehen. Die Linken treten hier
mit der sehr naiven Vorstellung an, man könne die Altersvorsorge bzw. die Rentenversicherung so organisieren, dass sie von den Märkten entkoppelt wäre. Mit solchen Vorstellungen anzutreten, ist ziemlich dümmlich;
denn man kann keine Altersvorsorge organisieren, die
vom wirtschaftlichen Geschehen völlig abgekoppelt
wäre.
({0})
- Auch nicht von den Finanzmärkten;
({1})
denn die Finanzmärkte bilden letzten Endes auch das reale wirtschaftliche Geschehen ab. Da gibt es immer die
eine oder andere Fehlentwicklung; aber zum Schluss ist
jede Altersvorsorge nur so stark wie die Volkswirtschaft,
die hinter ihr steht.
Entscheidend ist - ich zitiere einen erfahrenen Politiker -: Wenn man sich die Rentenversicherungssystematik insgesamt ansieht, weiß man: Das Wichtigste, was
man tun kann, ist, für Arbeit zu sorgen. Die spätere Entwicklung hängt vor allem davon ab, wie die Arbeitslosigkeit sich entwickelt. - Das ist eine Aussage Ihres früheren Arbeits- und Sozialministers Franz Müntefering,
und diese Aussage ist absolut richtig.
({2})
Franz Müntefering hat diese Aussage im Jahr 2006 getroffen, als in Deutschland noch 5 Millionen Menschen
arbeitslos waren. Heute sind es 2,7 Millionen. Wir sind
genau der Vorgabe von Franz Müntefering gefolgt und
haben das Wichtigste getan, was man tun kann, um die
Altersvorsorge zu stabilisieren, nämlich mehr Menschen
in Arbeit gebracht. Das ist die Leistung dieser Bundesregierung.
({3})
2006 waren in Deutschland 26 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Heute sind es
29 Millionen. 3 Millionen Menschen mehr, die in das
Rentenversicherungssystem und in die übrigen Sozialversicherungssysteme einzahlen, das ist der beste und
vernünftigste Beitrag, den man leisten kann für eine stabile Altersvorsorge.
({4})
Gleichwohl - davor dürfen wir die Augen nicht verschließen - wird die Problematik der Altersvorsorge natürlich schwieriger. Das liegt einfach an der demografischen Entwicklung: Es wird in der Zukunft mehr
Rentner geben und weniger Einzahler, ihr Verhältnis zueinander wird sich dramatisch verändern.
Deswegen werden die zusätzlichen Säulen der Altersvorsorge - die betriebliche Altersvorsorge und die private Zusatzvorsorge - wichtiger werden. Die private
Zusatzvorsorge ist das, worüber wir heute sprechen.
Riester-Rente und Rürup-Rente - von SPD und Grünen
installiert - sind grundsätzlich die richtigen Konzepte.
Ich will an dieser Stelle ganz besonders betonen: Trotz
aller Studien, die dieses und jenes - zum Teil zu Recht 27126
kritisieren, ist das Riester-Sparen immer noch eine hervorragende Möglichkeit - gerade für Geringverdiener -,
fürs Alter vorzusorgen. Eine Familie - Mann, Frau, zwei
Kinder -, die ein relativ geringes Jahreseinkommen von
etwa 25 000 Euro hat, bekommt, wenn sie im Jahr
267 Euro in eine Riester-Rente einzahlt, staatliche Zulagen von insgesamt 793 Euro. Das ist eine Förderquote
von 75 Prozent - besser kann es eigentlich nicht gehen.
({5})
Das zeigt auch, dass die Riester-Rente ein ganz besonders sozial gerechtes und sozial stabilisierendes System
der Altersvorsorge ist, von dem gerade Geringverdiener
profitieren.
({6})
- Vielen Dank für den Applaus auch vonseiten der Sozialdemokratie.
({7})
Allerdings - das ist auch zu Recht festgestellt worden könnten die Renditen vernünftiger ausfallen, und es versickert viel zu viel Geld im System der Vermittler und
bei Provisionen. Deswegen sind wir darangegangen, die
Dinge jetzt effizienter und transparenter zu gestalten, die
Preise vergleichbarer zu machen und die Verbraucherrechte zu stärken. Ganz konkret erhöhen wir den förderfähigen Sparbeitrag bei der Rürup-Rente, und, was ganz
wichtig ist, wir installieren ein Produktinformationsblatt.
Diese Produktinformationsblätter - ich zeige Ihnen hier
einmal eines - sind, wie ich finde, absolut überschaubar,
übersichtlich,
({8})
sodass sich die Kunden sehr schön orientieren können.
Das Wichtigste ist oben das Feld mit den drei Kennwerten „Effektivkosten“, „Risikoklasse“ und „Mittlere
Rendite-Erwartung“. Da ist für jeden Kunden über alle
Produktgruppen und über alle Produkttypen hinweg klar
erkennbar, wie effizient die Produkte sind. Er kann sich
auf dieser Grundlage ein klares Bild machen und klar
entscheiden, welches für ihn das günstigste und effizienteste Produkt ist. Ich glaube, das ist in diesem Gesetzentwurf der wichtigste Beitrag zu mehr Verbraucherschutz,
mehr Transparenz und geringeren Kosten.
({9})
Dazu haben wir das Ganze mit einem zweijährigen
Rücktrittsrecht ausgestattet. Das heißt, wenn ein Anbieter, eine Versicherung, ein Fondsanbieter oder wer auch
immer, in diesem Produktinformationsblatt fehlerhafte
Angaben macht, hat der Kunde demnächst die Möglichkeit, innerhalb von zwei Jahren vom Vertrag zurückzutreten. Das ist ein ganz scharfes Schwert für den Verbraucher. Wenn irgendetwas falsch gelaufen ist, hat er in
diesem Zeitraum die Möglichkeit, den gesamten Vertrag
rückabzuwickeln, ohne dass er dabei irgendeinen Schaden nimmt.
Wir haben die Kosten bei einem Anbieterwechsel
- auch das ist vielfach angesprochen worden - reduziert.
Der bisherige Anbieter kann bei einem Wechsel höchstens noch 150 Euro berechnen, der neue Anbieter kann
für seine Provision maximal 50 Prozent des Kapitals zugrunde legen.
Wir verbessern den Erwerbsminderungs- und Berufsunfähigkeitsschutz, und wir machen vor allem den
„Wohn-Riester“ flexibler. Dazu werden nachher die
Kollegen noch präzisere Ausführungen machen.
Wir sehen schon jetzt, dass auch die unabhängigen
Organisationen diesen Gesetzentwurf ausdrücklich
loben. Die Verbraucherzentrale lobt vor allen Dingen das
Produktinformationsblatt. Dadurch wird die Sache künftig einfacher, klarer und besser. Die Zeitschrift Finanztest, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzt,
lobt ebenfalls vor allem das Produktinformationsblatt.
Sie lobt auch die Flexibilisierung beim „Wohn-Riester“,
und sie nennt beispielsweise die Möglichkeit, in Zukunft
Riester-Kapital für einen altersgerechten Umbau der
eigenen Wohnung zu entnehmen, was den Wünschen
vieler Menschen entspricht. Das nennt sie ausdrücklich
eine sehr vernünftige Idee.
Mit solchen Urteilen über diesen Gesetzentwurf können wir sehr gut leben. Angesichts dessen bin ich - das
sage ich ganz deutlich - ziemlich enttäuscht über die
Ablehnung durch die Opposition, die wir gestern im
Finanzausschuss erleben durften. Ich kann das nicht verstehen. Man kann bei dem einen oder anderen Punkt sagen, man wolle zusätzlich diese oder jene Regelung.
Auch wir arbeiten ja an dem Thema einer generellen
Kostengrenze. Aber wie man angesichts dieser Regelungen, die eine glasklare Verbesserung in Bezug auf mehr
Markttransparenz, mehr Verbraucherrechte und Kostensenkungen darstellen, noch Nein sagen kann, ist für mich
unverständlich.
({10})
Ich will Ihnen abschließend sagen: Wenn wir Ihre
steuerpolitischen Vorstellungen umsetzen - Sie verkaufen sie immer mit dem Argument, Sie wollten mehr
Gerechtigkeit schaffen -, dann wird das letzten Endes so
laufen: Der Spitzensteuersatz wird erhöht; die Abgeltungsteuer trifft jeden Sparer; mit der Vermögensteuer
werden Sie die mittelständischen Betriebe treffen. Sie
machen letztendlich die Konjunktur kaputt, Sie machen
die Wirtschaft kaputt, Sie gefährden dadurch Arbeitsplätze. Vor allem aber nehmen Sie den Leuten das Geld,
das sie benötigen, um Eigenvorsorge zu leisten. Dieses
Geld brauchen sie, um in Riester und Rürup einzuzahlen.
Das halte ich für absolut inkorrekt. So funktioniert es
nicht: erst den Leuten über Steuern das Geld aus der
Tasche ziehen, um es nachher großzügig als RiesterZuschuss oder als Zuschuss zur betrieblichen Altersvorsorge zurückzugeben. Dann sollten Sie den Menschen
konsequenterweise gleich das Geld lassen, damit sie
selbst Eigenvorsorge leisten können.
({11})
Vor diesem Hintergrund halte ich es vor allem für
kritikwürdig, dass Sie die Anpassungen bei der SteuerDr. Mathias Middelberg
progression im Bundesrat blockiert haben und weiterhin
blockieren werden; denn damit schädigen Sie gerade die
Gering- und Kleinverdiener, denen dann die Mittel fehlen werden, diese private Eigenvorsorge für das Alter zu
leisten. Das ist eine Sache, die man nur aufs Schärfste
kritisieren kann.
({12})
Wir möchten den Menschen die Chance und auch die
Mittel geben, selbst für ihr Alter vorzusorgen, und damit
einen anderen Weg beschreiten, als Sie das tun. Wir
haben hierzu - ich habe es eben gesagt - konkrete
Vorschläge vorgelegt: für mehr Markttransparenz, für
wesentlich bessere Verbraucherrechte und für eine konsequente Senkung zum Beispiel der Kosten und Vermittlerprovisionen bei Riester, damit wir Riester wirklich
effizienter und renditestärker für die einzelnen Kunden
machen.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur schärfstens an
Sie appellieren, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen und
den Kunden nicht weiter die Verbesserungen vorzuenthalten, die wir bei Riester und Rürup dringend installieren müssen.
Vielen Dank.
({13})
Petra Hinz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es war sehr gut, lieber Kollege,
({0})
dass Sie Ihre Rede mit einem Zitat des ehemaligen Arbeitsministers Franz Müntefering begonnen haben.
Franz Müntefering hat recht mit dem, was er gesagt hat.
Da wir heute anscheinend in der Phase der Aufarbeitung sind - einige Geschichten werden wir heute sicherlich auch noch von anderen Kollegen hören -, möchte
ich gerne einmal darstellen, wo wir 1998 standen. 3 Millionen Arbeitslose und 2 Millionen Sozialhilfeempfänger sind zusammengeführt worden. Das sind additiv
unter dem Strich - hier gebe ich Ihnen recht - 5 Millionen. Ich frage Sie jetzt: Wer war denn vor 1998 16 Jahre
lang an der Regierung? Rot? Nein! Schwarz-Gelb!
({1})
Wir haben in unserer Regierungszeit eine ganze
Menge aufgearbeitet. Wenn Sie meinen, Sie könnten
heute durch die Lande gehen und sagen, es gebe jetzt nur
noch 3 Millionen Arbeitslose und das sei Ihr Verdienst,
dann kann ich nur sagen: Nichts haben Sie in dieser Zeit
getan. Sie haben nicht dazu beigetragen, dass die Menschen faire Löhne bekommen. Schauen Sie sich doch an,
mit welchen Tarifverträgen und Löhnen diejenigen, die
in Arbeit gekommen sind, letzten Endes auskommen
müssen. Nicht umsonst verweigern Sie gemeinsam mit
Ihrem Koalitionspartner permanent das Thema Mindestlöhne.
Da nützt es auch nichts, wenn Sie auf Ihren Parteitagen nur mit Überschriften wie „Mindesteinkünfte“ arbeiten. Verdummen Sie die Menschen doch nicht! Die wissen doch ganz genau, dass Sie das Thema Mindestlöhne
in Ihrer Regierungszeit nicht angehen werden.
Ich gebe Ihnen insofern völlig recht: Nur wer einen
fairen, gerechten und auskömmlichen Lohn erhält, kann
auch für sein Alter vorsorgen.
({2})
Sie haben auch recht, mein lieber Kollege, wenn Sie
darüber reden, dass die private Altersvorsorge wichtig
ist.
Wir haben uns 1989, 2000 und 2001 mit dem Thema
Alterseinkünftegesetz beschäftigt, weil Sie sich seit
1980 nicht um dieses Thema gekümmert haben.
Herr Grund würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage
stellen. Möchten Sie das?
Nein, vielen Dank, ich möchte ganz gerne in meiner
Rede fortfahren.
({0})
- Ihr Bedauern trifft mich sehr.
({1})
- Ich hoffe, Sie wissen, was die Wahrheit ist.
({2})
Weiter zum Alterseinkünftegesetz: 1980 hat uns das
Bundesverfassungsgericht aufgegeben, die Besteuerung
der Beamtenpensionen und der Renten auf den Weg zu
bringen. Sie haben in Ihrer Regierungsphase nichts
gemacht. Wir sind das Thema angegangen, und dies
mündete unter anderem in die Riester- und die RürupRente.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bleiben Sie
also bei der tatsächlichen Chronologie und bei dem, was
Sie in 16 Jahren schwarz-gelber Regierung einfach
ausgesessen und versäumt haben. Andere Regierungen,
unsere rot-grüne und nachher auch - ich gestehe - die
Große Koalition, haben hier einiges auf den Weg gebracht.
Allein der Titel „Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz“ verspricht viel. Was hält er? Ich sage: Sehr wenig.
Schauen wir einmal ins Kleingedruckte. In der Öffentlichkeit behaupten Sie gerade, Riester werde einfacher. Sie haben eben auch gesagt, Riester sei eigentlich
ein sehr gutes Produkt. Darauf kommen wir gleich noch.
Petra Hinz ({3})
Sie sagen, das Produktinformationsblatt für Verbraucher führe zu mehr Transparenz. Da gebe ich Ihnen allerdings recht. Das Produktinformationsblatt ist ein wichtiger und richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Allerdings haben Sie - auch im Zuge der Änderungsanträge - den richtigen Weg wieder verlassen. Auch
darauf komme ich gleich noch.
Zur FDP. Ich denke, wir werden hier gleich die stereotype FDP-Rhetorik hören, nämlich: mehr Flexibilität,
mehr Wahlfreiheit.
({4})
Was für den Einzelnen dahintersteckt, ist eine ganz andere Frage. Dazu kommen wir gleich aber auch noch.
Ich komme zum Thema „Mehr Transparenz in Produktinformationsblättern“. Ja, ich gebe Ihnen recht: Da
gab es ein großes Defizit; mehr Klarheit und mehr
Transparenz müssen unbedingt eingeführt werden. Wir
haben es in der Finanz- und Wirtschaftskrise gesehen.
Viele Menschen haben gerade in dieser Zeit versucht,
das, was sie für ihr Alter angespart haben, besonders
günstig, spekulativ anzulegen, und haben gar nicht verstanden, welche Produkte sie letztendlich gekauft haben.
Aber bei Riester und Rürup ist ganz klar: Es geht hier
nicht um Spekulation, sondern es geht um eine konservative Anlage. Insofern ist die Einführung dieses Produktinformationsblattes sehr wichtig. Es ist ein richtiger
Schritt, aber er geht nicht weit genug.
Hier wurde vorhin die Zeitschrift Finanztest zitiert.
Auch ich war in der Anhörung und habe mitbekommen,
was der Vertreter von Finanztest dort gesagt hat. Sie
haben nicht vollständig zitiert. Ich will hier jetzt auch
andere zitieren. Der Sachverständige Niels Nauhauser
von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg sagt:
Ja, das Produktinformationsblatt hilft und ist ein richtiger Schritt; aber es hilft nur denjenigen Verbrauchern,
die dieses Informationsblatt tatsächlich verstehen. Alle
anderen, die es nicht verstehen, laufen Gefahr, eine
falsche Entscheidung zu treffen.
Dr. Christian Pfarr von der Universität Bayreuth hat
ganz deutlich gesagt: Dieses Informationsblatt ist ein
erster und richtiger Schritt; aber dieser Schritt ist noch
nicht ausreichend, da ein Produktinformationsblatt nur
die Produktdarstellung betrifft, nicht aber an der Fähigkeit der Menschen ansetzt, diese Information tatsächlich
zu verstehen.
Ich komme zu einem anderen Punkt. Sie und auch wir
haben in der letzten Zeit mit Vertretern der Versicherungswirtschaft gesprochen. Sie haben aber nicht mit
den Verbraucherschützern gesprochen. Das kreiden wir
Ihnen an und sagen: All das, was Sie, auch gestern im
Finanzausschuss, an Änderungsanträgen eingebracht haben, hat nur zu einer Verbesserung für die Finanzwirtschaft geführt, aber nicht für die Kunden, nicht für die
Versicherungsnehmer. Insofern: Ja, es ist ein richtiger
Schritt, aber er geht nicht weit genug.
Ich denke, auf die Frage der Kostentransparenz werden der Kollege von den Grünen und meine Kollegin
von der SPD eingehen.
Auch zu den Vergleichszahlen konnten Sie sich gestern nicht abschließend äußern. Das Gutachten, das dazu
auf den Weg gebracht werden soll, wird uns irgendwann,
möglicherweise nach dem Oktober 2013, vorliegen. Das
ist viel zu spät.
Kommen wir zu einem anderen Punkt, dem Thema
„Wohn-Riester“. Von Ihnen wird es immer so dargestellt: Alle Menschen, die Eigentum kaufen, sorgen damit für ihr Alter vor. - Diejenigen, die es sich leisten
können - da gebe ich Ihnen recht -, haben damit tatsächlich Vorsorge für ihr Alter getroffen. Sie suggerieren
aber auch den vielen anderen, mit einem Eigenheim
würden sie eine Altersvorsorge schaffen. Das schaffen
sie eben nicht;
({5})
denn die nachgelagerten Kosten, die dafür entstehen, die
Rücklagen, die gebildet werden müssen, die Instandhaltungskosten, die zu zahlenden Steuern und anderes, all
das sind Dinge, die die Menschen, die Eigentum erworben haben, ebenfalls finanzieren müssen. Insofern sage
ich Ihnen: In Bezug auf diejenigen, auf die dieses Produkt passt, ist das, was Sie gesagt haben, richtig. Allen
anderen streuen Sie Sand in die Augen und führen sie in
die Irre.
Nun kommen wir zum Thema Basisrente im Alter. In
diesem Bereich fördern Sie einseitig diejenigen, die
Rürup-Verträge abschließen. Ich sage Ihnen: Es ist gut
- hier soll kein falscher Eindruck entstehen - für die
Selbstständigen und für diejenigen, die ihr Geld in
Rürup anlegen wollen, dass Sie das Abzugsvolumen von
20 000 auf 24 000 Euro erhöhen wollen. Das geschieht
zwar ohne Not, aber gut. Ich weiß, dass es hier um Beitragsbemessungsgrundlagen geht. Herr Schäffler, bevor
Sie mir nachher eine kleine Belehrung hierzu geben,
sage ich Ihnen, dass ich diese Grundlagen kenne und
weiß, wie sie sich zusammensetzen.
Aber wenn die Riester-Rente so gut und so toll ist,
dann frage ich Sie: Warum haben Sie nicht auch hier die
Fördergrenze hochgesetzt? Reden wir doch einmal
darüber, wie viele die einzelnen Produkte nutzen. Wir
reden über 10 000 Menschen, die von dieser Anhebung
bei Rürup profitieren können, und wir reden über
16 Millionen Menschen, die Riester in Anspruch nehmen. Bei Riester belassen Sie den Höchstbetrag zur Förderung bei 2 100 Euro, obwohl die Gutachter im Rahmen der Anhörung deutlich gemacht haben, dass gerade
diese Grenze angehoben werden muss.
Ich frage Sie: Für wen machen Sie dieses Gesetz?
Machen Sie es für die 16 Millionen Menschen mit
Riester-Verträgen, oder machen Sie es für einen kleinen
Teil, für die Versicherungswirtschaft und für die wenigen, die davon profitieren können?
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen, was
ich gesagt habe. Es ist festzuhalten, dass das Gesetz
keine Lenkungswirkung entfaltet. Das Gesetz bietet
keine zielgerichteten Instrumente für Geringverdiener.
Das aber war der Ursprung von Riester.
({6})
Petra Hinz ({7})
Das Gesetz führt nicht zu mehr Akzeptanz, im Gegenteil. Die Bundesregierung zeigt keinerlei Ansätze, den
hier bestehenden Reformbedarf anzugehen. Wir von der
SPD sehen natürlich ebenfalls Handlungsbedarf. Aber
die Lösung besteht nicht in dem, was Sie uns hier vorgelegt haben. Sie sind gar nicht daran interessiert, den einzelnen Riester-Vertragsnehmer in den Genuss bestimmter Vergünstigungen kommen zu lassen. Ich habe im
Dezember danach gefragt, wie hoch die Steuermindereinnahmen wären, wenn die Grenze für die in einen
Riester-Vertrag maximal einzuzahlenden Beträge von
2 100 auf 2 500 bzw. 2 600 Euro angehoben würde, wie
es die Sachverständigen vorschlagen.
Frau Kollegin.
Ich habe einmal gefragt. Ich habe zweimal gefragt.
Ich habe noch gestern im Ausschuss nachgefragt. Sie haben noch nicht einmal entsprechende Berechnungen vorgenommen. Verkaufen Sie also die Menschen nicht für
dumm! Ihr Geschenk enthält nur heiße Luft, auch wenn
es von außen schön aussieht. Ich kann allen nur raten,
gut zuzuhören, wenn Sie von Wahlfreiheit reden.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Manfred Grund.
Vielen Dank. - Frau Kollegin Hinz hat zu Beginn ihrer Rede in Richtung FDP und CDU/CSU gesagt: Sie
haben in all Ihren Regierungsjahren nichts für die Einführung von Mindestlöhnen getan. - Zurzeit gelten bundesweit in zwölf Tarifbranchen Mindestlöhne, die durch
den Gesetzgeber als allgemeinverbindlich erklärt wurden. Diese Mindestlöhne schützen mehr als 4 Millionen
Arbeitnehmer. Alle diese zwölf gesetzlichen Mindestlöhne sind nicht gegen FDP und CDU/CSU, sondern
durch FDP und CDU/CSU in Kraft gesetzt worden. In
den sieben Jahren, in denen Sie von Rot-Grün regiert haben, ist nicht ein Mindestlohn für allgemeinverbindlich
erklärt worden.
({0})
Das Zweite ist: 1998, bei der Regierungsübernahme,
konnten Sie eine ziemlich gut geordnete Rentenkasse
und ein Gesetz über einen demografischen Faktor in der
Rentenversicherung übernehmen. Sie haben gegen diesen demografischen Faktor Wahlkampf geführt und ihn
dann nach der Wahl als Erstes außer Kraft gesetzt, ohne
mit Blick auf die demografische Entwicklung für einen
entsprechenden Ausgleich zu sorgen. Dann ist die Rentensituation derart aus dem Ruder gelaufen, dass ganz
schnell Notmaßnahmen getroffen werden mussten.
({1})
Der einzige Ausweg, den Sie gefunden haben, bestand in
der Absenkung des Rentenniveaus auf weit unter 50 Prozent und in Riester-Verträgen. Das alles nutzte der privaten Versicherungswirtschaft durchaus mehr als den Versicherten.
({2})
- Sie können ja Ihren Teil zur Wahrheit beitragen.
Sie haben also den demografischen Faktor außer
Kraft gesetzt und das Rentenniveau auf weit unter
50 Prozent gesenkt. Diejenigen, die dann Verantwortung
übernommen haben, haben mit dem Reparaturkoffer hinterherlaufen müssen, um das wieder in Ordnung zu bringen, was Sie hinterlassen haben.
({3})
Frau Hinz, bitte, zur Erwiderung.
Vielen Dank, dass Sie mir zusätzliche Redezeit geben, Herr Grund. Gerne greife ich das auf, was Sie zu
den Mindestlöhnen ausgeführt haben. - Hier geht es um
die Umsetzung von Tarifverträgen. Das hat nichts mit
gesetzlichen Mindestlöhnen zu tun.
({0})
Alles, was in diesem Zusammenhang eingeführt wurde,
ist in unserer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden. Ich kann Ihnen sagen, was wir 1998 vorgefunden
haben: Die Kassen waren leer, und es gab 3 Millionen
Arbeitslose und 2 Millionen Sozialhilfeempfänger. Das
können Sie nicht bestreiten; denn es können nicht über
Nacht 5 Millionen Menschen vom Himmel gefallen sein.
Das mögen Sie nicht hören, aber die Politik, die Sie
16 Jahre betrieben haben, hat dazu geführt, dass die Kassen, die über Jahrzehnte gut gefüllt waren, geleert wurden und dass das System nicht mehr gut funktionierte.
Die Tatsache, dass wir Mindestlöhne in zwölf Branchen haben, wirft für mich die Frage auf: Warum können
wir nicht generell einen Mindestlohn einführen? Warum
sträuben Sie sich dagegen?
({1})
Darum geht es. Wenn das so gut ist, was Sie auf den
Weg gebracht haben, dann machen Sie es doch noch besser. Führen Sie doch generell einen Mindestlohn ein. Sie
können mir doch nicht erklären, dass Mindestlöhne keinen Sinn machen, wenn wir auf der anderen Seite bereit
sind, 12 Milliarden Euro für Aufstocker auszugeben. Ich
würde lieber mehr Geld in den Bereich Mindestlöhne investieren, damit wir weniger in die Aufstocker investieren müssen. Was könnten wir mit 4 Milliarden Euro
mehr alles auf den Weg bringen!
Petra Hinz ({2})
Ihre Vorschläge waren konzeptionslos. Sie haben in
die Irre geführt. Sie haben alles ausgesessen während Ihrer Regierungszeit. Sie haben nichts auf den Weg gebracht, und darum sind Sie 1998 auch abgewählt worden.
({3})
Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Hinz, das, was Sie gerade für Ihre Fraktion
darzustellen versucht haben,
({0})
hätten Sie aus meiner Sicht etwas positiver machen sollen. Sie sollten eigentlich stolz auf das sein, was Sie in
der Vergangenheit mit der Riester-Rente und der RürupRente geschaffen haben.
({1})
16 Millionen Riester-Verträge, 1,6 Millionen Rürup-Verträge - das ist doch eine stolze Bilanz, zu der auch Sie
beigetragen haben.
({2})
Wir verbessern dieses Gesetz jetzt, weil es Schwächen
hat; im Verlauf der Jahre hat sich gezeigt, dass es an der
einen oder anderen Stelle sinnvoll nachjustiert werden
muss. Insofern: Zeigen Sie ein bisschen mehr Selbstbewusstsein!
Ich würde mir wünschen, Sie würden sich einen Ruck
geben und dazu beitragen, dass Ihre Vorstellungen in
dieses Gesetzgebungsverfahren einfließen. Aber die Änderungsanträge, die Sie im Finanzausschuss gestellt haben, waren ehrlich gesagt relativ substanzlos. Zu sagen,
dass das Wohnförderkonto auf dem Niveau von 2 Prozent weiter verzinst werden muss, ist schon ziemlich mager. Wenn das der einzige Vorschlag der Sozialdemokratie ist, der ihr in diesem Gesetzgebungsverfahren
einfällt, dann ist das wirklich lächerlich; schließlich haben Sie das ganze Gesetzespaket ursprünglich auf den
Weg gebracht.
Eines müssen wir sehen: Der Immobilienmarkt boomt
natürlich in einigen Regionen, in Düsseldorf, Berlin,
München, Frankfurt und Stuttgart. Es gibt aber weite Regionen in Deutschland, in denen die Wohnimmobilienpreise sinken. Deshalb ist es nicht richtig, die Wohnimmobilien mit 2 Prozent hoch zu verzinsen; denn damit
steigt die Steuerlast für den Anleger später entsprechend.
Vielmehr ist es sinnvoll, den Zinssatz auf 1 Prozent zu
reduzieren und nicht das hohe Niveau beizubehalten.
Das ist ein vernünftiger und auch pragmatischer Vorschlag, den wir gemacht haben.
({3})
Es ist auch sinnvoll, dass wir innerhalb der RiesterRente und der Basisrente, also der Rürup-Rente, die Elemente der Berufsunfähigkeitsversicherung stärken. Es
waren ja Sie, die 2001 die Berufsunfähigkeitsversicherung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung abgeschafft haben. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen in diesem Land keinen Berufsunfähigkeitsschutz
mehr haben bzw. sich diesen nicht leisten können.
({4})
Deshalb ist es doch schlau, Anreize dafür zu schaffen,
dass Menschen selbst vorsorgen und dieses existenzielle
Risiko für sich absichern. Das ist doch notwendig, wenn
Sie den Berufsunfähigkeitsschutz in der gesetzlichen
Rentenversicherung abschaffen. Es muss Anreize geben,
damit private Vorsorge stattfindet.
Was in der gesetzlichen Rentenversicherung übrig geblieben ist, ist der Erwerbsminderungsschutz. Dieser beträgt bei denjenigen, die Erwerbsminderungsrenten bekommen, im Durchschnitt für Frauen 570 Euro und für
Männer 620 Euro. Das ist nicht allzu viel. Wer das privat
aufstocken kann, der sorgt rechtzeitig vor und schützt
damit auch die Solidargemeinschaft und die Sozialkassen. Es ist also durchaus sinnvoll, wenn es uns gelingt,
mehr Menschen dazu zu bringen, vorzusorgen und das
existenzielle Risiko der Berufsunfähigkeit durch Krankheit und durch Unfall abzusichern.
({5})
Es hilft vor allem den Berufsgruppen, die besonders
durch Berufsunfähigkeit gefährdet sind.
({6})
Das sind im Wesentlichen die Handwerks- und die Arbeiterberufe.
({7})
Inzwischen bestehen die Rentenzahlungen beispielsweise der Gerüstbauer zu 52 Prozent aus Erwerbsunfähigkeitsrenten. Daran sieht man das erhöhte Risiko. Bei
den Dachdeckern sind es 51 Prozent und bei den Bergleuten 50 Prozent.
({8})
Bei den Pflasterern sind es 41 Prozent. Und so weiter.
Das ist ein existenzielles Risiko.
Wenn man in der geförderten Altersvorsorge bei der
Basisrente den Berufsunfähigkeitsschutz tatsächlich absichern kann - wir machen dies so -, dann ist das doch
eine hervorragende Sache.
({9})
Dann sollten Sie das mit Blick auf die beruflichen Hintergründe Ihres Klientels in Ihrem eigenen Interesse entsprechend berücksichtigen. Sie tun das ja auch. Sie tun
das auch in den Papieren, die Sie veröffentlichen. Die
SPD hat ein Rentenkonzept mit dem Titel „Die SPDRentenpolitik: Arbeit muss sich lohnen!“ veröffentlicht.
Darin stehen viele tolle Sachen:
({10})
Vor allem schwere körperliche Arbeit und Schichtarbeit zwingen schon heute Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer dazu, vor dem 65. Lebensjahr auszuscheiden und entsprechende Abschläge bei der
Rente hinzunehmen.
Ja, das ist so. Das ist Faktum. Das ist die demografische
Entwicklung.
({11})
Das ist die arbeitsteilige Wirtschaft, die wir in der Industrie zurzeit erleben. Aber die Folge ist dann doch, dass
man die Menschen in die Lage versetzt, vorzusorgen,
und zwar, wie sie persönlich es wollen, und nicht, wie
Sie es vorschreiben wollen. Das ist das Entscheidende.
({12})
Sie haben auch hineingeschrieben, dass die Erwerbsminderungsrente für Sie ein wichtiges Thema ist. Das
können Sie jetzt in diesem Gesetzgebungsverfahren umsetzen.
Aber die Maßnahmen, die Sie in der Vergangenheit
ergriffen haben, haben teilweise das Gegenteil erreicht.
Das, was Sie bei der betrieblichen Altersvorsorge in der
Vergangenheit, beispielsweise 2004, gemacht haben, hat
nämlich dazu geführt, dass die Menschen heutzutage
weniger in der Tasche haben. Sie haben die betriebliche
Altersvorsorge im Alter zusätzlich krankenversicherungspflichtig gemacht. Wir Abgeordnete bekommen
noch heute Briefe von vielen Anlegern, die sagen: Es ist
letztendlich eine Vergackeierung unserer Lebensleistung, dass das Erwerbseinkommen und die Rentenleistung faktisch zweimal verbeitragt werden. Sie müssten
eigentlich das größte Interesse daran haben, dass wir an
der Stelle jetzt mehr Spielraum schaffen.
({13})
Sie müssten vor allem ein großes Interesse daran haben, dass Sie am Ende auch gegenüber Ihren Wählern so
auftreten können, dass Sie gut dastehen. Sie haben jetzt
Verantwortung im Bundesrat. Das hat der Wähler so entschieden.
({14})
Aber mit dieser Verantwortung dürfen Sie nicht wie Ihr
ehemaliger Parteivorsitzender Oskar Lafontaine umgehen, sondern Sie müssen verantwortungsvoll damit umgehen. Hier geht es nämlich um Einkünfte und um das,
was Menschen tatsächlich bewegt.
({15})
Deshalb fordere ich Sie auf, Ihre Blockadehaltung auch
im Bundesrat aufzugeben und dafür zu sorgen, dass wir
noch in dieser Legislaturperiode ein Gesetz bekommen,
das den Menschen tatsächlich hilft und nicht am Ende
Ihrer kleinkarierten parteipolitischen Art dient.
Vielen Dank.
({16})
Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede des Kollegen Schäffler hat deutlich
gemacht, dass die FDP das Problem gar nicht erkannt
hat. Aber immerhin: Teile der Bundesregierung haben
ein großes Problem erkannt. Unsere Bundesministerin
für Arbeit und Soziales hat nämlich gesagt, dass eine gigantische Welle neuer Altersarmut lauttosend auf uns
zurase. Leider hat sie da recht. Aber was tun CDU/CSU
und die FDP dagegen? Sie spielen Dick und Doof in
wechselnder Besetzung: Stan piekst Olli. Olli haut Stan.
Aber beide zusammen bekommen bei der Rente und bei
der Bekämpfung der Altersarmut nichts, aber auch gar
nichts auf die Reihe. Ich sage: Das ist nicht unterhaltsam, das ist auch nicht langweilig, das ist einfach nur
bitter.
({0})
Heute tagt Ihr Koalitionsausschuss. Hören Sie endlich
auf mit Ihrer missratenen rentenpolitischen Comedy!
Dazu ist das Thema viel zu ernst!
({1})
Ihre verhuschten Renten-Slapsticks gehen nämlich auf
Kosten der Armen in dieser Gesellschaft. Wie wir wissen, gibt es schon heute über 1 Million arme Menschen
im Rentenalter, und das ist überhaupt nicht lustig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als die Bundesregierung aus SPD und Grünen die Riester-Rente vor mehr
als zehn Jahren einführte, sollte diese eine Vorsorgelücke
schließen. Heute wissen wir längst: Das wird nicht funk27132
tionieren. Allerorten finden sich Belege dafür. Doch im
Rentenversicherungsbericht 2012 behauptet die Bundesregierung abermals, dass das Gesamtversorgungsniveau
langfristig aufrechterhalten bzw. sogar leicht gesteigert
werde. Ich sage hier klar und deutlich: Herr Staatssekretär Brauksiepe, Sie wissen es besser. Sie sagen es nicht.
Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich damit auf,
die Leute hinter die Riester-Fichte zu führen!
({2})
Die private Riester-Vorsorge ist top für die Versicherungsunternehmen, aber sie ist ein Flop für die Versicherten. Den Versicherungsunternehmen bringt sie einen
wahren Geldsegen - Milliarden! - und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nur mickrige Erträge. Davon, was hinten herauskommt, Herr Schäffler und Herr
Dr. Middelberg, haben Sie eben überhaupt nicht gesprochen. Gegen Altersarmut hilft Riester nicht!
({3})
Heute ist klar: Ob mit oder ohne Riester, die Rentenlücke lässt sich so nicht schließen; denn viele Menschen
mit geringem Haushaltseinkommen können sich die private Vorsorge einfach nicht leisten, auch wenn Sie sich
das nicht vorstellen können. Vielen anderen, die einen
Riester-Vertrag abgeschlossen haben, nützt Riester
nichts; denn die Erträge sind viel zu gering, um die Vorsorgelücke schließen zu können.
Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Dr. Middelberg
und Herr Schäffler: Sagen Sie bitte einmal, was hinten
herauskommt! Der Kollege Jens Spahn behauptet ja
auch immer wieder: Mit 5 Euro sind Sie dabei, und dann
kommen die ganzen tollen Zulagen. - Ja, super! Und
was kommt hinten heraus? Die Leute können doch rechnen! Wenn man 5 Euro einzahlt und die Zulagen bekommt, dann hat man im Jahr Beiträge von etwas über
200 Euro. Das sind keine 20 Euro im Monat. Gucken Sie
doch einmal, was hinterher dabei herauskommt! Das ist
in jedem Fall weniger als das, was es braucht, um die
Lücke zu schließen, die durch die Absenkung des Rentenniveaus - das wurde ja vorher gekürzt - entstanden
ist, und das ist unerträglich.
({4})
Riester funktioniert nicht. Das liegt an der Unsicherheit der Finanzmärkte, und das liegt übrigens auch an
dem Geschäftsgebaren der Versicherungswirtschaft. Deswegen sagen wir: Die Risiken der privaten Vorsorge
müssen endlich klar und deutlich offengelegt werden.
Denn Riester floppt, und die Vorsorgelücke bleibt, und
daran ändert auch das von CDU/CSU und FDP vorgelegte Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz mit den nun
beschlossenen etlichen Änderungen leider nichts.
Riester ein bisschen aufhübschen reicht nicht. Es kann
und muss wirklich etwas getan werden. Deswegen sagt
die Linke: Riester muss abgebaut werden.
({5})
Meine Damen und Herren, wer heute schon einen
Riester-Vertrag hat, soll die bisher angesparten Gelder
auf sein persönliches Rentenkonto bei der Deutschen
Rentenversicherung einzahlen können, aber nur freiwillig und zu geringen Kosten. Das ist unser Vorschlag. Die
dafür notwendigen Änderungen im Renten- und Steuerrecht sind überschaubar. Also ist das auch machbar.
Die Milliarden an Steuermitteln, mit denen die
Riester-Verträge bisher subventioniert worden sind,
müssen ebenfalls in die Rentenkasse fließen. Damit
könnten dann dringend notwendige Verbesserungen für
Erwerbsgeminderte, Herr Schäffler, für Langzeiterwerbslose oder für Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren worden sind, zumindest zum Teil finanziert werden.
Um es klar zu sagen: Die Linke will echte Vorsorge statt
Roulettespiel. Wir wollen Erwartungssicherheit statt Zitterpartien. Kurzum: Wir wollen Sicherheit statt Riester.
({6})
Aber, meine Damen und Herren, ohne ein deutlich
höheres Rentenniveau wird das kaum gehen, und deswegen sagen wir Linken: Die Vorsorgelücke soll genau dort
geschlossen werden, wo sie gerissen worden war, nämlich in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die gesetzliche Rente soll wieder den einmal erreichten Lebensstandard sichern. Wer dann immer noch privat vorsorgen
will und kann, möge das tun; aber niemand soll weiterhin darauf angewiesen sein, um seinen Lebensstandard
sichern zu können und vor Altersarmut geschützt zu
sein. Private und betriebliche Vorsorge wären dann wirklich zusätzlich, aber sie wären nicht mehr zwingend notwendig, und darum geht es.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Das Kind mit dem Bade ausschütten“ ist genau die Redewendung, die zur Position der Linkspartei passt.
({0})
Es ist ja richtig, dass es im Bereich der privaten Altersvorsorge Probleme und Fehler gibt. Wir können sie auch
genau diagnostizieren. Wir können genau sehen, wo die
Rendite bleibt, nämlich bei Kostenkategorien, die man
auch absenken kann. Aber die Tatsache, dass sich Menschen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit für ihre
Altersvorsorge beteiligen, ist im Grunde nicht falsch.
Deswegen wäre es falsch, wegen der Fehler, die wir bei
Riester sehen, gleich das ganze Konzept der privaten, ergänzenden Altersvorsorge abzuschaffen.
({1})
Es gibt hier in der Debatte sachliche Beiträge; Herr
Middelberg ist ja eigentlich ein sehr sachlicher Redner.
Aber irgendwann, Herr Middelberg, hat dann doch die
Abteilung Agitation durchgeschlagen, als Sie meinten,
sagen zu müssen, dass Sie ja eigentlich wollten, dass die
Geringverdiener hier in Deutschland entlastet werden
und wir das blockieren würden. Das ist doch genau
falsch herum.
({2})
Bei der Anhebung des Grundfreibetrags, der wichtig für
die geringverdienenden Menschen ist, sind wir dabei.
Bei einer Entlastung der Menschen mit höherem Einkommen sind wir nicht dabei, weil wir diese Schieflage
nicht wollen. Das sollten Sie bitte auch ehrlich sagen.
({3})
Sagen Sie bitte auch einmal ehrlich, was Ihr Gesetz
vorsieht: Für 1 Prozent der Menschen, nämlich für die
Höchstverdienenden, soll die Förderung angehoben werden und für 99 Prozent nicht.
({4})
Ich finde, auch dazu sollten Sie stehen und die soziale
Schieflage auch in diesem Gesetz deutlich ansprechen.
({5})
Ich will aber im Kern begründen, wie wir zu unserem
Votum kommen. Es ist ja so: Bei der privaten Altersvorsorge versuchen Menschen, etwas für ihr Alter zur Seite
zu legen. Das ist sinnvoll, und wir legen als Staat noch
einmal etwas drauf. Was wir aber beobachten können,
ist, dass es mit dem Versuch, etwas zur Seite zu legen, so
ähnlich ist wie mit dem Versuch, mit einem löcherigen
Eimer Wasser zu transportieren: Es rinnt unten raus. Und
wo kommt es an? Im Vertrieb von Finanzprodukten.
Deswegen ist das Entscheidende, das Loch im Eimer zu
stopfen.
Wir haben uns jetzt die Frage gestellt: Gelingt Ihnen
das, oder gelingt es Ihnen nicht? Dazu muss man sagen:
Es gibt ein paar einzelne Verbesserungen. Die will ich
auch gerne nennen. Man soll das, was richtig ist, auch
als richtig bezeichnen. Aber im Kern gelingt es Ihnen
nicht, den Fehler zu korrigieren, dass ein Großteil der
Rendite dadurch verloren geht, dass Kosten des Finanzvertriebs, den wir mit Geldern der Steuerzahler nicht
pampern sollten, zulasten der Kunden abgerechnet werden.
({6})
Konkret: Die Einführung des Produktinformationsblattes ist sinnvoll. Es ist auch sinnvoll, dass in der Studie, die Sie in diesem Zusammenhang in Auftrag gegeben haben, aufgegriffen wurde, dass in anderen Ländern
konkrete Vorgaben gemacht werden, damit die Anbieter
dieses Produktinformationsblatt nicht nach ihrem Gusto
gestalten können, sodass das Angebot leichter vergleichbar ist.
Das Problem ist aber, dass eine Kostenangabe nun
wieder nicht vorgeschrieben ist: die der Abschluss-, Vertriebs- und Verwaltungskosten. Damit wird keine volle
Kostentransparenz erreicht, und wir müssen befürchten,
dass für die Kunden nur eine Pseudotransparenz besteht
und sie eine bestimmte Kostenkategorie wieder nicht erkennen können. Wir müssen befürchten, dass genau da
wieder die größten Punkte abgezogen werden.
Wir haben im Ausschuss auch klar angesprochen,
dass die Gefahr besteht, dass der Versuch des Vergleichs
schiefgeht und die Kunden in eine falsche Richtung gelenkt werden. Ich habe es im Ausschuss schon gesagt
und will es auch hier noch einmal deutlich machen: Es
besteht die Gefahr, dass der Kunde beim Vergleich
zweier Angebote, die von der Laufzeit ein bisschen unterschiedlich sind, bei einem Produkt eine günstigere
Kennziffer - „Reduction in Yield“ in der Fachsprache sieht, obwohl das Produkt Mehrkosten beinhaltet. Das
darf nicht sein. Sie wollten unseren Änderungsvorschlag
nicht aufgreifen. Wir wollen aber, dass eine wirkliche
Vergleichbarkeit sichergestellt ist.
({7})
Des Weiteren muss man sehen, dass es beim Vertragswechsel immer noch nicht gelingt, die Wechselkosten
wirklich zu dämpfen. Man sollte nicht nur die Kosten
begrenzen, die bei dem Unternehmen anfallen, das man
verlässt; beim Abschluss eines neuen Vertrags kann immer noch die Hälfte des gesamten angesparten Kapitals
für die Abschlusskostenberechnung herangezogen werden. Da geht viel zu viel Geld verloren. Unsere Vorstellung ist, dass die Abschluss- und Vertriebskosten inklusive der Provisionen über die gesamte Laufzeit verteilt
werden, damit die Problematik, dass anfangs zu viel
Geld im Vertrieb hängen bleibt, ein für alle mal überwunden wird.
({8})
Zudem stellt sich die Frage: Warum führen wir eigentlich keinen Kostendeckel ein? Wir haben im Ausschuss darüber diskutiert, und es wäre wirklich richtig,
ihn einzuführen. Nun stelle ich fest, dass es da eine gewisse Bewegung gab: Sie haben jetzt gesagt, dass Sie ein
entsprechendes Gutachten in Auftrag geben wollen.
Dazu muss man aber sagen: Wenn man fast vier Jahre an
der Regierung ist, dann kommt jetzt ein Gutachten vielleicht ein wenig spät. Man muss sich dann fragen, ob Sie
das nur in die nächste Legislaturperiode verschieben
wollen.
Vor allem aber hätte man einen solchen Kostendeckel
zügig erarbeiten können. Wir haben gesagt: Wir sind dabei, wenn er noch in dieser Legislaturperiode eingeführt
wird. Was aber nicht geht, ist, jetzt so zu tun, als gäbe es
einen Kostendeckel, obwohl es nichts anderes als eine
vage Ankündigung gibt. Wir meinen, man hätte schon in
dieser Legislaturperiode eine klare Kostendeckelung
vornehmen können, damit von dem, was die Menschen
zur Seite legen, im Alter wirklich viel ankommt und
nicht so viel im Vertrieb hängen bleibt.
({9})
Schließlich ist die Frage: Wie reagieren wir denn darauf, dass zehn Jahre nach Einführung der Riester-Rente
zwar 15,4 Millionen Verträge geschlossen wurden, aber
die Menschen bei weitem nicht in der Breite erreicht
wurden? Das konnte man am Anfang nicht wissen; man
muss sich nach ein paar Jahren anschauen, wie es sich
entwickelt. Unsere Reaktion ist, zu sagen: Es wäre eigentlich richtig, den Menschen von staatlicher Seite ein
einfaches, kostengünstiges, transparentes Produkt bereitzustellen; in Schweden wird das erfolgreich gemacht.
Denn sie finden es einfach schwierig, sich mit diesem
Thema zu beschäftigen, und haben Bedenken, sich damit
auseinanderzusetzen - das zeigen viele Umfragen und
die Gespräche, die wir mit Bürgerinnen und Bürgern
oder mit Freunden und Nachbarn führen -, weil sie das
Gefühl haben, sie könnten über den Tisch gezogen werden. Warum machen wir so ein einfaches Produkt nicht
in Deutschland, damit wir die Menschen in der Breite erreichen und sie nicht in einen Vertrieb jagen, der hohe
Kosten verursacht? Dann kann sich immer noch jeder in
voller Wahlfreiheit für andere Varianten entscheiden; so
ist das auch in Schweden. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, die Altersvorsorge für die Menschen von staatlicher Seite so einfach wie möglich zu machen, damit sie
im Alter wirklich versorgt sind. Wir sollten sie nicht
weiter mit sehr komplexen Produkten und intransparenten Kostenstrukturen alleinlassen.
Insofern ist unsere Bewertung: Ja, es gibt einzelne
Punkte, bei denen Sie auf dem richtigen Weg sind; aber
insgesamt werden die Fehler, die erkennbar sind, im
Kern nicht überwunden. Deswegen lehnen wir dieses
Gesetz ab.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus-Peter Flosbach
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man ist ja nie vor Überraschungen geschützt; aber was
hier gerade Herr Schick und Kollegin Hinz vorgelegt haben, war Folgendes: Sie haben ihr eigenes Riester-Gesetz zerlegt.
({0})
Sie haben dargelegt, welch einen Mist sie vor zehn Jahren gemacht haben, als sie die Riester-Rente eingeführt
haben. Wer die Entwicklung in diesen Jahren einigermaßen aufmerksam begleitet hat, der erinnert sich noch,
dass dieses Produkt in den Jahren 2001, 2002 und 2003,
als es auf den Markt kam, überhaupt nicht funktioniert
hat, dass es vom Markt überhaupt nicht angenommen
wurde, weil es so kompliziert war.
({1})
Wir haben hier immer gesagt: Warum machen Sie ein
Produkt, das so kompliziert ist?
Herr Schick sprach gerade von Vertriebskosten. Das
Produkt hat am Markt erst funktioniert, nachdem die
Vertriebskosten unter Rot-Grün erhöht wurden, als der
Zeitraum, in dem diese Kosten erhoben werden können,
von zehn Jahren auf fünf Jahre verkürzt wurde. Und
heute werfen Sie uns vor, dass wir dieses Gesetz verbessern, weil wir glauben: Private Altersvorsorge ist zwingend notwendig.
({2})
Herr Schick, Sie haben hier so schön von einem löcherigen Eimer gesprochen. Meine Damen und Herren,
Sie können ja Kritik an Ihrem eigenen Gesetz äußern
- das ist in Ordnung -, aber Sie müssen aufpassen, dass
Sie nicht Angst vor der betrieblichen oder privaten Altersvorsorge schüren. Sie entmutigen die Menschen, etwas für die Altersvorsorge zu tun. Das hat eine fatale
Auswirkung auf die Bereitschaft, für das Alter zu sparen.
Wenn man nichts tut, dann schließt man die Rentenlücke
nicht. Wir haben heute 20,5 Millionen Rentner und wissen ganz genau, dass in der nächsten Zeit jedes Jahr im
Durchschnitt 500 000 Rentner hinzukommen werden,
dass wir im Jahre 2030 wahrscheinlich die 30-MillionenGrenze überschreiten. Das wird nicht allein mit der gesetzlichen Rentenversicherung gehen. Wir brauchen die
bewährten drei Säulen: die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge und die private
Vorsorge. Nur so können wir die Probleme bei der Altersversorgung bewältigen.
({3})
Wir sind doch froh, dass insgesamt 17 Millionen
Bürger auch eine betriebliche Altersvorsorge haben. Wir
haben die Riester-Rente immer kritisiert. Aber wir halten es für richtig, an dem Produkt festzuhalten, und sind
froh, dass es fast 16 Millionen Bürger sind, die inzwischen eine Riester-Rente abgeschlossen haben.
Der Kollege Middelberg hat eben ein schönes
Beispiel gebracht; es geht ja auch um die geringeren
Einkünfte. Auch die Verbraucherzentralen werben, wenn
sie für Riester werben, mit dem Beispiel eines Alleinstehenden oder einer Alleinstehenden mit zwei kleinen
Kindern. Sie oder er zahlt beispielsweise 5 Euro monatlich ein und bekommt im Jahr 754 Euro Zulagen; das
sind 62 Euro im Monat.
Hier zu sagen, es gäbe keine systematische Förderung
von Beziehern kleiner Einkommen, ist doch falsch. Wir
haben gerade über die Tarifentlastung gesprochen. Wir
hätten noch viel mehr für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen tun können, wenn nicht das diesbezügliche Gesetz von Ihnen im Bundesrat blockiert worden
wäre.
({4})
Wir haben die Riester-Gesetzgebung in der Großen
Koalition verbessert. Wir in der Union halten sehr viel
davon, und wir wissen, dass Entsprechendes in der Bevölkerung zu 80 Prozent gewünscht wird. Da gibt es den
Wunsch nach einer eigenen Wohnung, nach einem eigenen Haus. In meiner Heimatregion im Oberbergischen
Kreis gibt es eine Wohneigentumsquote von weit über
50 Prozent. Die Menschen wohnen in kleinen Häusern,
nicht in riesigen Palästen. Das stabilisiert die Altersvorsorge. Im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Rente
und einer betrieblichen Altersversorgung ist das genau
der richtige Weg, der den Menschen ein sorgenfreies
Alter beschert, meine Damen und Herren.
({5})
Die Förderung gerade bei geringen Einkommen ist in
der Großen Koalition von uns vorgeschlagen worden, indem wir für Kinder, die nach 2008 geboren wurden, einen höheren Fördersatz, eine Förderung von 300 Euro,
gewähren. Das ist genau der richtige Weg.
Die Zeitschrift Finanztest wurde angesprochen. Die
Stiftung Warentest hat gerade eine Sonderausgabe
herausgegeben und erläutert auf sage und schreibe
114 Seiten, was man alles tun kann. Das zeigt, wie kompliziert die Materie ist. In der Tat gibt es vier verschiedene Wege und Hunderte von Anbietern.
Aber Altersvorsorge ist kein Gegenstand einer kurzfristigen Betrachtung. Altersvorsorge ist immer eine
langfristige Sache. Man kann natürlich kritisieren, dass
die Renditen, die in diesem Bereich derzeit erzielt werden, schlecht sind. Aber auch der Zinssatz bei langfristigen Anleihen liegt heutzutage teilweise bei 1,5 Prozent.
Vor 10 Jahren lag er bei 4 Prozent, vor 20 Jahren waren
es 6 Prozent. Einige wissen vielleicht, dass es vor
30 Jahren sogar einen Anlagezins von durchschnittlich
8 Prozent gab. Das waren ganz andere Zeiten.
Wenn Sie die Erhöhung der Lebenserwartung allein in
den letzten 20 Jahren betrachten, wenn Sie die Garantien
berücksichtigen, die in einem Produkt angelegt sein
müssen - es muss immer das Kapital erhalten bleiben;
das kostet ja Geld -, und natürlich die Kosten, dann darf
man sich nicht wundern, dass die Renditen in diesen Tagen nicht so hoch sind, wenn wir den heutigen Zinssatz
unterstellen. Aber genau da setzen wir an.
Ich glaube, es hat keinen Sinn, ein Verbot für solche
Produkte auszusprechen; vielmehr müssen wir die
Fehler angehen, die in diesen Produkten stecken. Das
machen wir mit dem Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz. Auch bei denen, die das Gesetz zunächst ein Stück
weit kritisieren, ist das, was wir vorgeschlagen haben,
nur auf positive Resonanz gestoßen. Alle haben gesagt:
Das ist genau der richtige Weg, nämlich den Rahmen zu
verbessern, den Schutz der Verbraucher zu erhöhen und
vor allem die Kosten zu begrenzen.
Ein Punkt ist - Herr Middelberg hat das vorgestellt das Produktinformationsblatt. Das ist sicherlich kein
Beipackzettel, wie wir ihn von Medikamenten kennen.
Es ist aber ein überschaubarer Beipackzettel, der wesentliche Daten enthält, weil wir wissen, dass kaum jemand
diese 114 Seiten in der Zeitschrift Finanztest lesen wird,
geschweige denn die ganzen Unterlagen, die zu einem
Vertrag gehören. Ich denke nur an das Versicherungsvermittlergesetz. Danach muss man heute aus rechtlichen Gründen 100 Seiten oder eine CD zur Verfügung
stellen, damit ein Produkt rechtlich einwandfrei ist.
Nein, ich glaube, das ist der richtige Weg. Die wichtigsten Daten müssen in einem Produktinformationsblatt
enthalten sein. Es muss standardisiert sein. Es müssen
gewisse Vergleichszahlen enthalten sein. Uns geht es darum, dass damit Vergleichbarkeit hergestellt wird, damit
der Einzelne auch ohne tiefsten Sachverstand an dieses
Thema herangehen kann und auf der Basis dieses Produktinformationsblattes verschiedene Angebote einholen kann. Nur dadurch sieht er, welche unterschiedlichen
Produkte es gibt.
Unser Ziel ist: Wir wollen den Wettbewerb erhöhen.
Nur über Wettbewerb schaffen wir es, dass die Spreu
vom Weizen getrennt wird, dass die schlechten Anbieter
herausfallen; denn es gibt schlechte Anbieter. Es gibt
aber auch Untersuchungen, wie viele gute Anbieter es
auch in der heutigen Zeit der schlechten Renditen gibt.
Ich meine, es ist der richtige Weg, den Wettbewerb hier
zu verbessern.
({6})
Kosten spielen eine große Rolle. Das wird in der derzeitigen Situation niedriger Zinsen besonders bemerkbar. Ich glaube, es ist der richtige Weg, einen Kostendeckel einzuziehen. Heute gibt es eine ganze Reihe
unzufriedener Riester-Sparer. Es muss die Chance gegeben sein, zu einem anderen Produkt zu wechseln und
nicht abgeworben zu werden. Es dürfen auch keine
Stornokosten in besonderer Höhe entstehen. Wir haben
vorgesehen, dass eine Höhe von maximal 150 Euro angesetzt werden kann. Das ist der richtige Weg.
Die Wohnförderung spielt heute eine sehr große
Rolle. Wir haben festgestellt, dass es nicht richtig ist,
dass man Kapital aus einem Wohnförderkonto nur zu
Beginn der Altersrente entnehmen darf. Wir halten es für
richtig, dass man, wenn man Geld angespart hat, jederzeit in der Lage ist, die Zinszahlungen für sein Haus zu
senken, indem man auf das Konto zugreifen kann. Es
gibt viele, die im Alter, dann, wenn sie in Rente gehen,
wenig angespart haben und möglicherweise nur dieses
Wohnförderkonto haben. Es kann doch nicht sein, dass
ich dieses Geld nicht für einen Umbau zur Herstellung
von Barrierefreiheit verwenden kann. Deshalb haben wir
gesagt: Wenn das Geld für die selbstgenutzte Immobilie
verwendet wird, muss dies nach wie vor möglich sein.
({7})
Ich muss leider zum Ende kommen; die Redezeit ist
für mich abgelaufen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten,
die Altersvorsorge und vor allen Dingen auch die Berufsunfähigkeitsabsicherung zu verstärken. Nachdem die
Berufsunfähigkeitsrente in der klassischen Form verändert wurde - es gab nur noch die Erwerbsminderungsrente, die zu einem ganz geringen Einkommen führte -,
gibt es über diese Neuerungen jetzt die Möglichkeit, die
persönliche Berufsunfähigkeit abzusichern. Das ist der
richtige Weg.
Herr Kollege.
Wir in der Koalition stehen für stabile Einkommen.
Wir wollen den zukünftigen Rentnern vor allen Dingen
ein stabiles Einkommen gewährleisten. Dazu brauchen
wir die gesetzliche, die betriebliche und die private
Rentenversicherung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass ich so lange reden durfte.
({0})
Ich wollte Sie nur an Ihre eigenen Worte erinnern.
Annette Sawade hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ein richtiger
Ansatz macht noch lange kein gutes Gesetz; denn leider
hat sich trotz Beratung und einer Anhörung Ende vergangenen Jahres nichts Entscheidendes an dem Entwurf
eines Altersvorsorge-Verbesserungsgesetzes verbessert.
({0})
Die Hoffnung, dass aus der richtigen Richtung auch
ein konsequentes, substanziell verbessertes Gesetz wird,
ist verflogen. Wir sind enttäuscht und wieder einmal ernüchtert. Aber wir haben ja gerade gehört: Die Zeit ist
bald abgelaufen. Dann können wir alle Chancen der Welt
nutzen, um das Gesetz richtig zu machen.
({1})
Ich zitiere aus den Reihen der Koalitionsfraktionen,
wohlgemerkt aus der ersten Lesung zu diesem Gesetz:
Es ist vielleicht kein ganz großer Wurf; aber es sind
technisch ganz wichtige Punkte, an denen wir ansetzen …
Ist das ein engagierter, verantwortungsvoller Umgang
mit gesetzgeberischer Kompetenz? Es geht nicht darum,
ein Konzeptpapier an einem Runden Tisch zu diskutieren. Nein, es geht um verbindliches Recht, um ein verbindliches Recht, das, soweit man der Überschrift glauben schenken mag, eine Verbesserung für die
Bürgerinnen und Bürger des Landes bringen soll. Ich bezweifle, werte Kolleginnen und Kollegen, dass sich die
Betroffenen wirklich ernst genommen fühlen, wenn ihnen im Klartext vermittelt wird: Okay, zugegeben, es ist
kein großer Wurf; aber immerhin haben wir etwas auf
den Weg gebracht.
({2})
Altersvorsorge ist eines der Themen, das uns allen unter den Nägeln brennt, begründet zum einen durch die
demografische Entwicklung und zum anderen durch die
enorme Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse. Diese
Fakten erfordern, das Thema Alter und Rente wahrlich
anders anzupacken als nur mit gesetzestechnischen
Verbesserungen. Denn es gibt keine flächendeckende
Verbreitung der staatlich geförderten Altersversorgung.
Knapp 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigen im Alter zwischen 25 und 65 Jahren haben einen Anspruch darauf. Gerade Geringverdiener haben oft
nicht die Möglichkeit, die Absenkung des Rentenniveaus entsprechend auszugleichen.
In Zahlen ausgedrückt heißt das: Von den Beschäftigten mit Bruttolöhnen unter 1 500 Euro im Monat sind
42 Prozent ohne zusätzliche Altersvorsorge. Von den
derzeit 15,6 Millionen Riester-Verträgen sind 20 Prozent
- das sind circa 3 Millionen - ruhend, werden also nicht
bespart. Die Gründe sind uns bekannt. Sie liegen an den
zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Diese Leute haben überhaupt kein Geld mehr, in die private Vorsorge einzuzahlen.
Deshalb begrüßen wir es, wenn der Verbraucherschutz in Form eines verbindlichen Produktinformationsblattes gestärkt wird. So wird es hoffentlich mehr
Transparenz und mehr Vertrauen in die Riester-Rente
geben, sodass mehr Beschäftigte zusätzlich vorsorgen,
wenn sie es denn können.
Aber wie aus den Beratungen hervorgeht, ist noch
vieles zu klären, was Inhalt und Bewertung der in den
Informationsblättern enthaltenen Kennzahlen betrifft.
Vor allen Dingen - es wurde bereits gesagt - ist das alles
immer noch viel zu kompliziert.
Machen wir uns nichts vor: Wir wissen alle, dass die
strukturellen Probleme durch diese Vorlage nicht gelöst
werden, und wir haben ein strukturelles Problem bei der
Altersvorsorge in Deutschland. Das Drei-Säulen-Modell
der Altersvorsorge wackelt nämlich, und jeder einigermaßen technisch Begabte weiß, dass ein Bau wackelt,
wenn die Säulen nicht gleichmäßig stark sind.
({3})
Im Klartext heißt das, dass es nicht allein um die Förderung der privaten Vorsorge gehen darf. Die tragende
Säule bleibt die der gesetzlichen Rente, und die folgt einer ganz simplen Regel: Nur aus guten Löhnen werden
gute Renten.
({4})
- Das ist die Frage. - Wir als Politikerinnen und Politiker in diesem Land können es nicht verantworten, über
das Alter zu reden, zu beraten und zu entscheiden, ohne
gesamtheitlich zu denken und vor allem zu handeln.
Wenn wir hier über die Altersvorsorge debattieren, dann
auch, weil wir die Gefahr der zunehmenden Altersarmut
sehen. Altersarmut kommt aber nicht einfach so. Erwerbsarmut, das heißt schlecht bezahlte Arbeit, führt zu
Altersarmut. Hier müssen wir ansetzen.
({5})
Wir als SPD fordern immer wieder - ich wiederhole
es erneut; meine Kollegin hat es vorhin schon gesagt -:
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von
8,50 Euro. Wir brauchen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit, das gilt ganz besonders für unsere Frauen. Wir
wollen, dass jeder Mensch, der in Vollzeit arbeitet, von
dieser Arbeit leben und sein Alter in Würde verbringen
kann.
({6})
Einige Zahlen zur sozialen Kluft in Deutschland habe
ich bereits genannt. Verschiedene Sachverständige haben es in ihren Stellungnahmen zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf unterstrichen: Verlierer dieser Debatte
sind leider wie so oft die Geringqualifizierten und die
Geringverdiener. In einem Gutachten des Sozialbeirates
zum Alterssicherungsbericht 2012 heißt es: Armutsbekämpfung ist eine Aufgabe der Allgemeinheit. - Damit sind die Arbeitgeber - das sage ich sehr deutlich aber nicht aus der Verantwortung, gerecht zu entlohnen.
In einer Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung aus dem September 2012 heißt es - ich
zitiere -:
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit große Bedeutung für den Aufbau von privatem Vorsorgekapital hat. Daher ist zu
konstatieren, dass die kapitalgedeckte private Altersvorsorge derzeit insgesamt nur sehr begrenztes
Potenzial bietet, die Risiken künftiger Altersarmut
zu verringern - trotz Riester-Förderung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, vor diesen Tatsachen sollten Sie Ihre Augen nicht
verschließen. Sie können jetzt nicht verkünden, Sie würden mit diesem Gesetz die Altersvorsorge substanziell
verbessern, wenn wiederum nur ein Teil der Betroffenen
tangiert wird. Dies gilt umso mehr, wenn man auch noch
die steuerliche Förderung von Immobilieneigentum mit
einbezieht; denn Eigentum haben laut IAB-Angaben nur
9 Prozent der ALG-II-Empfänger, 43 Prozent der Niedrigeinkommensbezieher außerhalb der Grundsicherung,
aber 82 Prozent der Personen, deren Einkommen im
oberen Einkommensfünftel liegt.
({7})
Wir als SPD wollen uns nicht aus der Solidargemeinschaft verabschieden. Eines müssen wir um jeden Preis
verhindern: dass Altern in Würde und Wohlstand künftig
zum Privileg bestimmter gesellschaftlicher Gruppen
wird.
({8})
Ja, einer trage des anderen Last; aber die Last dieses Gesetzentwurfes tragen wir nicht mit.
Vielen Dank.
({9})
Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Gesetz trägt zu Recht den Namen Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz; denn es enthält entscheidende Verbesserungen in der dritten Säule der Altersvorsorge, der privaten Altersvorsorge. Es ist richtig und
wichtig, dass diese Verbesserungen durchgeführt werden, weil die dritte und auch die zweite Säule zunehmend wichtiger werden.
Frau Kollegin Sawade, es ist völlig richtig, dass die
erste Säule eine sehr starke Säule ist. Es ist auch völlig
richtig, dass aus guten Löhnen gute Beiträge erwachsen;
aufgrund der guten konjunkturellen Lage erleben wir das
gerade. Allerdings muss es auch eine ausreichende Zahl
von Köpfen geben, die in das System entsprechend einzahlen. Wenn ich mir die demografische Entwicklung
anschaue, dann kann ich nur sagen: Die Arbeitnehmer,
die heute noch nicht geboren sind, können in dieses System schlichtweg nicht einzahlen. Insofern ist es geradezu
geboten, die private Vorsorge zu stärken.
Daher ist es richtig, mehr Flexibilität zu schaffen.
Diesbezüglich hat die Kollegin Hinz völlig recht. Sie haben vorausgesehen, dass ich hier heute über die Flexibilität sprechen werde.
({0})
Die Menschen sind unterschiedlich. Weil wir erkannt haben, dass die Menschen unterschiedlich sind - das steckt
uns sozusagen im Blut -, wissen wir auch, dass wir individuelle Regelungen brauchen. Wir möchten, dass die
Menschen entscheiden, was für sie gut ist. Wir wollen
nicht für die Menschen entscheiden, was für sie gut ist.
Diese Kompetenz möchte ich mir gar nicht anmaßen. Ich
halte sie für menschenverachtend.
({1})
Die Riester-Produkte stehen in der Diskussion. Es ist
richtig, dass auch wir in der Vergangenheit nicht immer
die größten Freunde davon waren.
({2})
Aber, wie der Kollege Flosbach schon sagte, jetzt ist das
System nun einmal da. Jetzt müssen wir damit leben und
schauen, wie wir damit hinsichtlich Rendite, Kosten und
Provisionen am besten umgehen.
Wir haben die einheitlichen Produktinformationsblätter geschaffen, die es den Verbrauchern ermöglichen, die
Produkte zu vergleichen. Wir haben einheitliche Kostenregelungen für den Fall geschaffen, dass man den Anbieter wechseln möchte.
Aus unserer Sicht ganz entscheidend sind die Flexibilisierungen beim Wohn-Riester.
({3})
Es ist in der Tat so - sofern Sie nicht mit der Vermögensteuer dazwischenkommen -, dass derjenige, der im eigenen Heim wohnt, schlichtweg keine Miete zahlt.
({4})
Er muss sich nicht mit steigenden Mieten herumschlagen. Diesbezüglich sind - das muss ich sagen - gute Anreize gesetzt worden:
Ein Anreiz ist die Möglichkeit, jederzeit das Vermögen zu entnehmen - das hat der Kollege Flosbach schon
gesagt -, um zum Beispiel die Entschuldung voranzutreiben. Wir haben die Flexibilisierung des Entnahmebetrags - zwischen 75 und 100 Prozent - herbeigeführt.
Der Geförderte kann jetzt frei entscheiden, wann er
die Einmalbesteuerung des Wohnförderkontos vornehmen möchte.
Wir haben den altersgerechten Umbau einbezogen.
Auch das ist etwas, was mit den individuellen Lebenssituationen von Menschen zu tun hat, die man bei Abschluss des Vertrages möglicherweise noch gar nicht absehen kann. Daher haben wir den behindertengerechten
bzw. altersgerechten Umbau einbezogen. Wir haben in
diesem Zusammenhang eine weitere Flexibilisierung
vorgenommen: Der Handwerker kann beratend tätig
werden, und es muss nicht ein entsprechender Gutachter
herangezogen werden.
Wir haben eine Flexibilisierung beim Reinvestitionszeitraum vorgenommen: von zwei auf fünf Jahre. Wenn
man eine einmal geförderte Immobilie verkaufen
möchte, weil man sich vielleicht verkleinern möchte,
weil man sich zum Beispiel in eine andere Wohnform
einkaufen möchte, dann kann man sich dafür Zeit nehmen.
Was unglaublich wichtig ist - das sage ich als Vertreter des ländlichen Raums -, ist die Absenkung der jährlichen Erhöhung der in das Wohnförderkonto eingestellten Beträge von 2 auf 1 Prozent; denn die Masse der
Menschen, die sich Eigentum gekauft hat, lebt eben
nicht in Frankfurt, München oder Berlin-Mitte, wo möglicherweise mit steigenden Immobilienpreisen zu rechnen ist
({5})
- aber auch -, sondern auch und gerade auf dem flachen
Land, wo man möglicherweise mit einer negativen Verzinsung rechnen muss.
({6})
Unterm Strich haben wir eine Fülle von Maßnahmen,
die das Angebot verbessern.
({7})
Ich finde es unglaublich beschämend, dass Sie diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen. Er ist schlichtweg sinnvoll und gut.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt hat Dr. Barbara Höll das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Sänger, manchmal kommt es einem wirklich so vor,
als ob Sie in einem Paralleluniversum leben.
({0})
Zunächst möchte ich klipp und klar sagen: Alle Menschen, die Monat für Monat ihren Beitrag in die gesetzliche Rentenversicherung zahlen, sind zwar dazu verpflichtet, aber sie sorgen dadurch privat vor. Schon Ihre
Wortwahl ist irreführend. Sie tun so, als ob die private
Vorsorge etwas ganz anderes wäre, als ob die, die nur in
die gesetzliche Rentenversicherung zahlen, nicht privat
vorsorgen würden. Das ist einfach Blödsinn.
({1})
Der Unterschied ist,
({2})
dass die gesetzliche Rentenversicherung ein umlagefinanziertes System ist, dass also de facto das, was heute
eingezahlt wird, morgen ausgezahlt wird. Das andere
System ist kapitalgedeckt. Das heißt, das Geld, das heute
eingezahlt wird, wird irgendwo in den Kapitalmärkten
angelegt. Was in 10, 15, 20 oder 30 Jahren dabei herauskommt, das wissen wir nicht. Das ist das große Risiko
dabei.
({3})
Die Fragen, vor denen wir stehen, sind: Wie ist der
demografische Wandel tatsächlich zu bewältigen? Welches System ist besser geeignet, die Risiken im Alter abzudecken? Um diese Fragen zu beantworten, muss man
das kapitalgedeckte und das umlagefinanzierte System
vergleichen. Wenn man diese Systeme einmal sachlich
vergleicht, zeigt sich, dass das umlagefinanzierte System
wesentlich besser ist.
({4})
- Doch, das stimmt. - In beiden Systemen muss es natürlich einen Produktivitätszuwachs geben. In beide Systeme muss erst einmal etwas eingezahlt werden. Das ist
die Voraussetzung. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist,
wenn eingezahlt wurde, ist die Frage: In welchem System kann man ein stabiles Rentenniveau gewährleisten?
Dies kann ich nur in der gesetzlichen Rentenversicherung gewährleisten.
({5})
Sie sagen: Private Vorsorge - ich meine das in Anführungszeichen -, also das kapitalgedeckte System, würde
höhere Renditen erwirtschaften.
({6})
Hallo? Wo sind denn die höheren Renditen? Sie gehen
bei Ihrer Vorhersage von 4 Prozent aus. Das wird doch
real schon jetzt nicht mehr erreicht. Wir haben schon
jetzt einen Rückgang der Rendite bei der Riester-Rente
auf ein Drittel, von 3,75 auf 1,75 Prozent. 4 Prozent waren nie erreicht. Also stimmt auch dieses Argument
nicht. Das ist unrealistisch.
({7})
Schauen wir uns einmal an, was geschehen ist. Das
Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung ist um etwa
4 Prozent gesenkt worden. Dazu kommt die Deckelung
des Rentenversicherungsbeitrags: bis 2020 maximal
20 Prozent, bis 2030 maximal 22 Prozent. Sie sagen:
Wenn da eine Lücke entsteht - sie ist da -, dann solle jeder für sich vorsorgen, indem er mit seiner privaten Altersvorsorge an die Kapitalmärkte geht.
Wer bleibt bei Ihrem System auf der Strecke? Sie
pumpen Milliarden in das System. Die konkreten Angaben dazu haben Sie uns noch nicht geliefert; auch das
muss man sagen. Deswegen haben wir dazu einen Antrag eingebracht. Zwischen 36 und 45 Milliarden Euro
sind bisher schon in das System der kapitalgedeckten Altersvorsorge gepumpt worden. Aber wer hat denn etwas
davon? Die, die jetzt einzahlen, die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner, bleiben auf der Strecke; denn der
Großteil dieses Geldes ist bei den Versicherungsunternehmen gelandet.
({8})
Das muss man sich einmal überlegen. Diese Versicherungsunternehmen haben Bürokratie- bzw. Verwaltungskosten von bis zu 20 Prozent. In der gesetzlichen Rentenversicherung sind es 1,4 Prozent. Auch das ist ein
gravierender Unterschied. Die ganze Richtung ist also
grundverkehrt.
({9})
Wenn Sie jetzt versuchen, ein bisschen nachzubessern
und das System verbraucherfreundlicher zu machen,
klingt das zwar wunderbar, aber in Wirklichkeit bringt es
nichts. Vorhin wurde das Produktinformationsblatt hochgehalten. Na klasse! Wer von Ihnen kann überhaupt noch
all die Finanzprodukte, die es auf der Welt gibt, bewerten? Das können Sie auch nicht auf einem Produktinformationsblatt darstellen.
Zudem soll die geplante Produktinformationsstelle
eine private Stelle sein. Wie soll diese transparent arbeiten? Auch da gibt es keine Transparenz. Es wird wieder
so sein, dass damit letztendlich die Versicherungswirtschaft noch mehr Einfluss gewinnt. Da wird doch das
Leben ganz irdisch. Es gibt relativ wenige Versicherungsmathematiker. Sie werden bestimmt versuchen,
viele von diesen für die Arbeit in der Produktinformationsstelle zu gewinnen. Sie sollen dann auf einmal gegen
die Versicherungsunternehmen, bei denen sie vorher waren, arbeiten? Sie öffnen also dem Einfluss der Versicherungsunternehmen hier weiter Tür und Tor. Diese können dann auch auf die Methodik, wie etwas erfasst wird,
Einfluss nehmen. Das lässt sich nachweisen, unter anderem an der Verarbeitung der Sterbetafeln bzw. daran, wie
die Biometriekosten berechnet werden. Das kann man
hier und jetzt allerdings nicht erklären; das würde dann
nämlich wirklich keiner mehr verstehen. Aber prinzipiell
wird der Entwicklung, dass die Versicherungsunternehmen weiteren Einfluss bekommen, Tür und Tor geöffnet.
Sie sagen, Sie würden mit Ihrem Gesetz die Höhe der
Wechselkosten, die anfallen, wenn man von einem Anbieter zu einem anderen wechselt, wirksam begrenzen.
Das ist doch pure Augenwischerei. Sie haben die Neuabschlusskosten auf maximal die Hälfte des bis dahin angesparten Kapitals begrenzt. Das heißt, im Prinzip gibt
es keine Deckelung.
({10})
Jetzt zum Wohn-Riester. Der Wohn-Riester ist wirklich völlig absurd. Erstens ist er so ausgestaltet, dass
kaum jemand diese Möglichkeit nutzen wird; das ist
auch in den Beratungen im Ausschuss ganz klar herausgekommen. Zweitens ist es doch eine Mär, dass der Erwerb von Wohneigentum eine sichere Form der Altersvorsorge ist. Eine Form der Vorsorge ist dies natürlich.
Wenn man tatsächlich zu einem Pflegefall wird und in
ein gutes Altenpflegeheim möchte, hat man zur Not die
Möglichkeit, sein Wohneigentum zu verkaufen und von
diesem Geld zu leben. Um keine Miete zahlen zu müssen bzw. kostenfrei wohnen zu können, muss man das
Wohneigentum aber erst einmal abbezahlt haben. Außerdem hat derjenige, der Wohneigentum besitzt, meistens
wesentlich höhere Nebenkosten und muss da und dort
Reparaturen durchführen. Es ist doch nicht per se so,
dass man, wenn man über Wohneigentum verfügt, im
Alter kostenfrei wohnt. Das ist eine Mär. Über dieses
Thema muss man anders nachdenken und auch anders
reden.
Wenn Sie in diesem Bereich etwas hätten machen
wollen, dann hätten Sie die verschiedenen Formen des
Wohneigentums - ich denke auch an genossenschaftliches Eigentum - zielgerichtet fördern können. Es gab ja
einmal eine Eigenheimzulage, die zumindest relativ vernünftig ausgestaltet war. Etwas Ähnliches könnte man
wieder auf den Weg bringen. Ein Wohn-Riester in dieser
Form löst die Probleme aber nicht.
({11})
Zu der jetzt eröffneten Möglichkeit, sich gegen Risiken der Erwerbsminderung abzusichern, sage ich Ihnen
klipp und klar: Das ist eine Aufgabe, die die gesetzliche
Rentenversicherung erfüllen muss.
Frau Höll?
Das ist - mein letzter Satz - gesetzlich zugegebenermaßen schlecht geregelt. Diejenigen, die es sich leisten
können, können sich besser absichern.
Frau Höll!
Diejenigen, die es sich nicht leisten können, haben
Pech gehabt. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab.
Danke.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir finden den Risikomix aus Umlageverfahren als
grundlegender Basisversorgung plus Kapitaldeckung
richtig.
({0})
Der Schritt, den wir vor zehn Jahren gemacht haben, war
ein richtiger Schritt. Aber jetzt, zehn Jahre später, wissen
wir, dass es viele Riester-Produkte gibt, die sich nur deswegen rechnen, weil wir sie staatlich subventionieren.
An dieser Stelle müssen wir ansetzen.
({1})
Die Abschaffung der Riester-Rente ist keine Lösung.
Vielmehr brauchen wir eine grundlegende Reform, damit das Drei-Säulen-Modell tatsächlich trägt. Das fängt
bei der gesetzlichen Rente an. Die kapitalgedeckte Säule
darf nicht auf Sand gebaut werden, sondern sie braucht
ein stabiles Fundament. Wenn wir auf eine Rente unterhalb des Grundsicherungsniveaus noch eine kapitalgedeckte Säule bauen, dann nützt das nichts. Wir brauchen
eine Garantierente, die ein Mindestniveau absichert. Da
kann dann die kapitalgedeckte Säule obendrauf, damit
sich die Eigenvorsorge tatsächlich lohnt und sie nicht
komplett bei der Grundsicherung angerechnet wird.
({2})
Ein weiterer Punkt, an dem wir nach zehn Jahren feststellen, dass es da eine Lücke gibt, betrifft insbesondere
die Menschen mit geringem Einkommen, die nicht in
dem Ausmaß riestern, wie es eigentlich sinnvoll wäre.
Auch an dieser Stelle müssen wir ansetzen. Das heißt
nicht unbedingt, mehr Geld in das System zu pumpen;
da haben Sie völlig recht. Es ist ja relativ großzügig ausgestaltet, auch was den unteren Einkommensbereich betrifft. Es ist wichtig, die Strukturen zu verändern und
Barrieren abzubauen, damit Menschen leichter an ein
Riester-Produkt herankommen. Wir brauchen ein einfaches, kostengünstiges und transparentes Produkt. Über
die Idee, als Standard ein Basisprodukt zu entwickeln,
sollten wir unbedingt diskutieren und diese Idee gründlich prüfen.
({3})
Wir müssen schauen, dass die Fördermittel insbesondere im unteren Einkommensbereich zielgenau ankommen. An dieser Stelle ist der vorliegende Gesetzentwurf
kontraproduktiv und geht in die völlig falsche Richtung.
Das fängt an mit der Anhebung der Förderhöchstgrenze
von 20 000 Euro auf 24 000 Euro. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von FDP und CDU/CSU, es gibt viele Menschen in diesem Land, die verdienen im Jahr nicht einmal
so viel. Wenn Sie die Förderhöchstgrenze anheben, ist
das wieder eine Subventionierung Ihrer Klientel; denn
davon profitiert insbesondere die Klientel der FDP: die
Besserverdienenden und Bestverdienenden. Besonders
fördern müsste man eigentlich die Geringverdienenden.
({4})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäffler zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben uns gerade vorgeworfen, wir
würden jetzt die Förderhöchstgrenzen für die Basisrente
anheben. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Sie diese
Grenze von 20 000 Euro eingeführt haben. Wenn Sie
jetzt behaupten, wir würden diese Grenze im Verhältnis
zur Riester-Rente überproportional anheben, dann müssen Sie aber auch eingestehen, dass Rot-Grün diese Förderhöchstgrenze von 20 000 Euro - bzw. 40 000 für Verheiratete - eingeführt hat.
({0})
Das geht völlig am Thema vorbei.
({0})
Die Förderhöchstgrenze von 24 000 Euro gilt insgesamt
für die Riester-Förderung.
({1})
Wenn man die Förderhöchstgrenze anhebt, profitieren
davon die Besserverdienenden und nicht die Geringverdienenden. Das ist der zentrale Punkt.
({2})
Das Gleiche gilt für den Wohn-Riester: Auch davon
profitieren die Besserverdienenden, auch das ist eine
Subventionierung Ihrer Klientel.
({3})
Das Gleiche passiert bei der Erwerbsminderungsrente,
die so ausgestaltet ist, dass auch sie sich für die Geringverdienenden gar nicht lohnt, weil die Prämien viel zu
hoch sind und gerade Menschen mit hohem Risiko die
entsprechenden Prämien überhaupt nicht bezahlen können.
({4})
All das sind Maßnahmen, die nur Ihrer Klientel dienen damit versuchen Sie sich über die 5-Prozent-Hürde zu
retten.
({5})
Wir haben ganz andere Vorstellungen davon, wie das gestaltet werden sollte.
({6})
Der dritte Punkt, an dem man ansetzen muss - der
Kollege Schick hat es ausführlich dargestellt -: Wir müssen dafür sorgen, dass die Renditen und das Geld, das
wir in die Riester-Rente stecken, tatsächlich bei den
Bürgerinnen und Bürgern ankommt und nicht aus einem
löchrigen Eimer herausläuft und zu den Anbietern fließt.
Unser Fazit ist: Schwarz-Gelb hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der, auch wenn er in Teilen durchaus in
die richtige Richtung geht, in großen Teilen Klientelpolitik ist und am Kernproblem definitiv vorbeigeht.
Deswegen gilt auch an dieser Stelle: Die Alternative ist
grün.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Über 15 Millionen Riester-Verträge und davon fast
1 Million Wohn-Riester-Verträge - oder, besser gesagt,
Eigenheimrentenverträge -, ich glaube, die bisherige
Bilanz der staatlichen Vorsorgeförderung kann sich sehen lassen.
Als Baupolitiker und Vertreter des ländlichen Raums
freut es mich vor allem, dass sich die Eigenheimrente so
positiv entwickelt hat. Auch wenn manche das ein bisschen anders sehen, hat Wohneigentum für viele Menschen einen hohen Stellenwert: in ökonomischer, in gesellschaftlicher, vor allem aber in familienpolitischer
Hinsicht. Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist
Wohneigentum für viele eine sichere Geldanlage. Wer
ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung hat, ist außerdem unabhängig vom Mietwohnungsmarkt. Damit ist
er auch vor steigenden Zinsen geschützt.
({0})
Der Verband der Privaten Bausparkassen hat in diesem Zusammenhang erst jüngst darauf hingewiesen,
dass die eigenen vier Wände der beste Schutz vor Mieterhöhungen sind.
({1})
Zudem wird durch jedes neue Eigenheim eine Mietwohnung frei - was zur Entlastung der angespannten Lage
auf dem Mietwohnungsmarkt beiträgt.
Wohneigentum, meine sehr verehrten Damen und
Herren, hat aber auch eine hohe familienpolitische Bedeutung. Wo wachsen denn Kinder glücklicher und behüteter auf als in einem Einfamilienhaus mit eigenem
Garten?
({2})
Letztlich ist die Schaffung von Wohneigentum von hoher Bedeutung für die private Altersvorsorge.
({3})
Die christlich-liberale Koalition hat daher im Koalitionsvertrag vereinbart, die staatliche Förderung in diesem
Bereich zu verbessern und das Modell der Eigenheimrente, das noch unter Rot-Grün eingeführt wurde, zu vereinfachen. Genau das tun wir mit dem heute zur Debatte
stehenden Gesetzentwurf.
Der Name ist übrigens Programm: AltersvorsorgeVerbesserungsgesetz.
({4})
Die Schwachpunkte des Eigenheimrentengesetzes von
2008 werden korrigiert, und das Modell wird dadurch
noch attraktiver, auch wenn Sie es nicht glauben wollen.
({5})
Dass wir in der Koalition mit dieser Meinung nicht alleine dastehen, hat die Anhörung im November letzten
Jahres eindrucksvoll bestätigt.
({6})
Den einen oder anderen Kritikpunkt haben wir im parlamentarischen Verfahren noch aufgegriffen und können
nun zu Recht behaupten, heute ein Gesetz zu beschließen, das seinen Namen auch verdient.
Mit diesem Gesetzentwurf ist es uns gelungen, die
Möglichkeiten der privaten Altersvorsorge so flexibel
auszugestalten, dass für jeden Sparer etwas dabei ist.
({7})
Für junge Leute und Familien bietet ein Eigenheimrentenvertrag die attraktive Möglichkeit, mithilfe staatlicher
Förderung ein Darlehen für den Bau oder für den Kauf
des eigenen Hauses oder der eigenen Wohnung aufzunehmen und dieses Darlehen dann sehr flexibel zu bedienen. Nachdem es kein Baukindergeld und auch keine
Eigenheimzulage mehr gibt, kann die Eigenheimrente
die entstandene Lücke im staatlichen Fördersystem
wieder etwas schließen.
Davon profitieren aber nicht nur junge Leute, sondern
wir kommen auch noch dem Wunsch nach, die Eigenheimrente - auch dies wurde bereits angesprochen - für
den barrierefreien Umbau im Alter und natürlich auch
für den behindertengerechten Umbau verwenden zu können.
Die Baupolitiker der Koalition haben dafür gesorgt,
dass diese Förderung auch eine sehr attraktive Ergänzung zu den bereits bestehenden Programmen darstellen
wird. Es ist gelungen, das Mindestinvestitionsvolumen
von ursprünglich vorgesehenen 30 000 Euro auf jetzt
20 000 Euro zu reduzieren. Außerdem haben wir dafür
gesorgt, dass die Kontrolle darüber, ob die Voraussetzungen für die Förderung vorliegen, nicht zu bürokratisch
ist. Es war geplant, dass nur ein Architekt die Verwendungskontrolle durchführen darf. Wir haben erreicht,
dass dies künftig auch ein Handwerker machen kann.
Abschließend, meine sehr verehrten Damen und
Herren, möchte ich noch auf ein immer wieder vorgetragenes Vorurteil hinweisen. Auch das wurde bereits von
unseren Kollegen angesprochen. Angeblich ist RiesterSparen nichts für Menschen mit einem geringen
Einkommen. Das ist, mit Verlaub, meine Damen und
Herren, Blödsinn.
({8})
Alle, die das behaupten, sollten einfach mal bei der Stiftung Warentest nachschauen und sich dort informieren.
Die Stiftung Warentest, bekanntlich eine Art Bibel für
den deutschen Verbraucher, lobt unseren Gesetzentwurf
- hören Sie: lobt unseren Gesetzentwurf - in den höchsten Tönen.
({9})
Sie hat auch Berechnungen darüber angestellt, wie attraktiv die Riester-Rente, die Riester-Produkte gerade
für Menschen mit geringerem Einkommen sind.
({10})
Es wurde „12 mal 5 Euro“ angesprochen. Ich sage: einmal 60 Euro im Jahr. Eine Familie mit zwei Kindern und
einem Jahreseinkommen von 20 000 Euro zahlt lediglich
60 Euro im Jahr, um die volle Riester-Förderung und
damit Zulagen in Höhe von 754 Euro zu erhalten.
({11})
- Kapieren Sie das endlich einmal!
({12})
Das zeigt: Auch für Geringverdiener lohnt sich die
private Altersvorsorge. Es lohnt sich mit dem heute zu
beschließenden Gesetz noch viel mehr, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({13})
Das beweisen die zahlreichen positiven Stellungnahmen
zu diesem Gesetzentwurf. Nicht nur die Stiftung Warentest ist voll des Lobes, sondern auch viele andere Verbände sind es.
({14})
Besonders begrüßt wird die Einbeziehung des altersgerechten und des behindertengerechten Umbaus.
Die gute Bilanz wird sich also in Zukunft weiter verbessern. Der Name ist eben Programm. Ich wiederhole
es: Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz.
({15})
Ich bitte daher auch Sie, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir halten an Riester fest. Aufseiten der Opposition, die damals Riester eingeführt hat, sehe ich so
manchen Zweifel.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 90 Minuten Debatte über den Entwurf eines AltersvorsorgeVerbesserungsgesetzes! Informierte Bürger, die heute irgendwann einmal Nachrichten gehört haben, könnten
jetzt denken: Warum brauchen die heute Nachmittag
eine Sitzung des Koalitionsausschusses unter anderem
zum Thema Rente, wenn sie das jetzt abhandeln? Genau
umgekehrt wird aber ein Schuh daraus: Weil wir heute
die Probleme in der Rentenversicherung nicht lösen,
brauchen wir nicht nur den Koalitionsausschuss, sondern
werden wir auch eine andere Regierung brauchen. Deswegen wird uns das alles wieder auf die Füße fallen.
({0})
Ich habe mir einmal den Koalitionsvertrag zum
Thema Rente angeguckt, weil ich wissen wollte, ob wir
hier heute Nachmittag irgendein Problem lösen.
Im Koalitionsvertrag steht als Ziel eine Verbesserung
bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Das
hat Schäuble beerdigt. Das ist tot; das kommt nicht.
Der nächste Punkt, der im Koalitionsvertrag steht, ist
der Kampf gegen Altersarmut. Die sogenannte von der
Leyen’sche Zuschussrente kommt auch nicht. Sie ist
ebenfalls tot und beerdigt.
Der nächste Punkt ist die Rentenangleichung Ost/
West. Sie wurde vor der Geburt beerdigt und kommt
auch nicht.
Damit bleibt noch eine Sache, nämlich die Stärkung
der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Das liegt heute auf
unserem Tisch und wird nach unserer Debatte und der
Verabschiedung ins Koma geraten. Ich werde noch erklären, warum.
({1})
Die erste Lesung hierzu hatten wir vor einigen
Wochen. Damals habe ich den Gesetzentwurf, eineinhalb Seiten mit fünf Zielen, einmal hochgehalten. Ich
habe gehofft und meiner Hoffnung auch Ausdruck verliehen, dass nach dem Struck’schen Gesetz, dass nichts
so aus dem Parlament herauskommt, wie es hineingegangen ist, Verbesserungen erzielt werden.
Zwischendurch war ich guter Hoffnung. Es gab elf
Änderungsanträge, und ich habe gedacht: Die machen
noch etwas daraus. Die elf Änderungsanträge waren aber
wirklich Makulatur, und es ist nicht besser geworden.
Das Oberziel, die Förderung zu verbessern, ist nicht erreicht worden.
Ich gehe noch einmal zurück auf Anfang:
Wir haben ein Drei-Säulen-Modell, aber nicht deshalb, weil wir nichts anderes erschaffen wollten, sondern
weil die gesetzliche Rente nicht mehr ausreicht. Deswegen brauchen wir zusätzliche Säulen.
({2})
- Warum sie nicht ausreicht, haben wir Ihnen schon hundertmal erklärt. Es reicht halt nicht mehr.
Es gibt die betriebliche Säule, aber leider nicht für
alle. Einige Vorredner, auch der Koalition, haben es
schon gesagt: 17 Millionen Menschen habe eine
Betriebsrente, 12 Millionen leider nicht. Auch um sie
müssen wir uns kümmern. Deswegen brauchen wir zusätzlich auch eine private Vorsorge; das ist völlig unstrittig.
Wir haben allerdings das Problem, dass 4,2 Millionen
Beschäftigte weniger als 1 500 Euro Einkommen haben.
Diese haben leider keine private Vorsorge. Für sie
brauchen wir eine Lösung; die haben Sie heute nicht
geliefert. Diese Beschäftigten werden von Altersarmut
bedroht, die mit diesem Gesetzentwurf nicht beseitigt
wird; das habe ich vorhin schon erzählt.
Wir haben damals bei der Einführung der RiesterRente einen Fehler gemacht, indem wir sie nicht verbindlich gemacht haben. Das müssen wir uns vorwerfen.
Deswegen gibt es nur 16 Millionen Verträge. Wir
bräuchten aber eine viel größere Anzahl. Das war ein
Fehler. Wir hätten es verbindlich machen und bei der
BfA ansiedeln sollen.
({3})
80 000 Selbstständige konnten sich nur mit einer Petition an Frau von der Leyen helfen und haben gesagt: Die
Rürup-Rente muss eine Pflichtversicherung sein. Leider
haben Sie die Stimmen nicht erhört, sondern Sie sagen:
Wir erhöhen die Förderhöchstgrenze bei der RürupRente von 20 000 auf 24 000 Euro, dann ist das Problem
erledigt. - Das Problem ist damit überhaupt nicht erledigt; das wissen Sie selber.
({4})
Ich komme jetzt noch einmal zu den fünf mickrigen
Zielen des Gesetzentwurfes:
Das erste Ziel, die Stärkung der kapitalgedeckten
Altersvorsorge, ist nicht erreicht worden; das habe ich
schon gesagt.
Das zweite Ziel ist die Vereinfachung der Eigenheimrente. Wohn-Riester ist ja eben hochgejubelt worden,
aber Sie dürfen doch nicht den Eindruck erwecken, dass
jemand, der in einem Haus wohnt, keine Kosten hat. Das
ist doch Blödsinn. Nicht alle können sich Häuser leisten,
und nicht alle wohnen in ihrem Haus völlig entgeltfrei.
Von daher ist das nicht für alle eine Lösung.
({5})
Für die paar, für die das eine Lösung ist, ist das okay,
aber das ist nicht die Revolution, als die das hier dargestellt worden ist.
Das dritte Ziel ist die Verbesserung des Erwerbsminderungsschutzes. Hier versprechen Sie mehr, als der
Inhalt hält.
Das vierte Ziel ist die Stärkung der Verbraucher im
Markt, also der Verbraucherschutz. Ein Produktinformationsblatt ist hier nicht das Allheilmittel. Wollen Sie bei
100 Anbietern 100 Produktinformationsblätter nebeneinander legen? Das kann es auch nicht sein.
({6})
Das fünfte Ziel ist die Verbesserung des Anlegerschutzes. Diese angebliche Verbesserung ist gar keine,
wenn Sie, wie vorgesehen, die Fristen für den Einspruch
von drei Jahren auf zwei Jahre senken. Auch das ist nicht
sinnvoll.
Nach der ersten Lesung war ich für Enthaltung bei der
Abstimmung. Jetzt hat mich meine Fraktion überzeugt,
dass wir solche Luftnummern nicht noch durch eine Enthaltung aufwerten können. Deswegen sage ich jetzt: Solche Luftnummern können wir leider nicht mitmachen.
Wir stimmen deswegen gegen diesen Gesetzentwurf.
({7})
Es ist schade, dass wir nach der Wahl im September
auch dieses Problem lösen müssen. Ich weiß gar nicht,
womit wir anfangen sollen. Aber ich bin guter Dinge,
dass wir es besser können als Sie.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit im Alter: Das ist etwas, was sich jeder
und jede wünscht. Selbstverständlich ist die gesetzliche
Rentenversicherung heute, aber auch in Zukunft die wesentliche Säule einer verlässlichen Alterssicherung in
Deutschland. Aber schon immer haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gewusst,
dass es sinnvoll ist, zusätzlich zur gesetzlichen Rente für
eine private Altersvorsorge zu sparen. Viele haben das
auch gemacht.
Im Jahr 2001 hat die damalige rot-grüne Koalition beschlossen: Wir wollen diese zusätzliche Altersvorsorge
staatlich unterstützen, indem wir jedem, der einen sogenannten Riester-Vertrag abschließt, einen Zuschuss von
154 Euro geben. Wenn er Kinder hat, bekommt er für jedes Kind eine Kinderzulage. In der Großen Koalition haben CDU/CSU und SPD gemeinsam beschlossen, pro
Kind pro Jahr 300 Euro dazuzugeben. Mittlerweile sparen knapp 16 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger
einen solchen Vertrag an.
({0})
Sie haben inzwischen rund 37 Milliarden Euro auf ihren
Altersvorsorgekonten liegen.
Ich hätte erwartet, dass sich in dieser Debatte die Rednerinnen und Redner von der SPD und den Grünen, die
dieses Gesetz damals initiiert haben, wenigstens einmal
bei diesen Sparerinnen und Sparern in Deutschland bedanken und sagen: Jawohl, ihr habt es richtig gemacht!
Zusätzliche Altersvorsorge ist vernünftig!
({1})
In den letzten Jahren ist uns immer mehr bewusst geworden, dass diese Riester-Regelung einige Macken, einige Fehler hat. Nachdem über elf Jahre lang Sozialdemokraten das Bundesfinanzministerium geleitet haben
und über elf Jahre lang Sozialdemokraten das Bundesarbeitsministerium geleitet haben, also für das Thema Altersvorsorge zuständig waren, macht sich jetzt die Koalition aus CDU/CSU und FDP daran, einige dieser Fehler
zu korrigieren.
({2})
In dieser Situation finde ich es äußerst schäbig, dass
sich diejenigen, die das Gesetz mit seinen Fehlern einst
initiiert haben, aus dem Staub machen und hier nicht zustimmen wollen.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wer sich so aus der
Verantwortung stiehlt, der taugt nicht zum Regieren!
({4})
Wir schaffen Wesentliches. Das Erste ist: Viele Bürgerinnen und Bürger sagen: Ich blicke nicht durch. Was
soll ich machen? - Deshalb wäre es übrigens schon 2001
richtig gewesen, ein allgemeines Informationsblatt einzuführen, in dem mit einem Blick die wesentlichen Daten der angebotenen Verträge überblickt werden können.
Wir schaffen jetzt dieses Produktinformationsblatt. Deswegen könnte man ein Ja zu diesem Produktinformationsblatt auch von SPD und Grünen erwarten.
({5})
Das Zweite ist: Kostenbegrenzung. Wir sind die Ersten, die Elemente der Kostenbegrenzung ins Gesetz aufnehmen. Auch dazu hätte man ein Ja von SPD und Grünen erwarten können.
Drittens. Wir sorgen für mehr Flexibilität.
Peter Weiß ({6})
Ich habe vor allen Dingen die hier vorgetragene Polemik gegen Wohn-Riester nicht verstanden. Über 80 Prozent der Mitbürgerinnen und Mitbürger erklären in Umfragen, dass für sie Wohneigentum - ein eigenes Haus
oder eine Eigentumswohnung - ein wichtiges Element
im Hinblick auf die Alterssicherung ist.
({7})
Wir sollten diese Bereitschaft und Einsicht unserer Bürgerinnen und Bürger politisch unterstützen und nicht
Politik gegen die Bürgerinnen und Bürger machen.
({8})
Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass eine
Gruppe von Altersarmut besonders bedroht ist. Das sind
die Bezieher von Erwerbsminderungsrenten, also Menschen, die leider wegen Krankheit oder eines Unfalls
vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten
und Erwerbsminderungsrente beantragt haben. Knapp
10 Prozent dieser Personengruppe sind schon heute auf
staatliche Unterstützung in Form der Grundsicherung
angewiesen. Wir von der Koalition sind entschlossen, zu
handeln, und wollen
({9})
die Leistungen für Erwerbsminderungsrentner in der gesetzlichen Rentenversicherung verbessern, und zwar
ohne Wenn und Aber. Wenn aber die damalige Begründung von Rot-Grün zum Gesetz zur Einführung der
Riester-Rente stimmt, dass neben die gesetzliche Rente
ergänzend die betriebliche Altersvorsorge und die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge treten müssen,
dann frage ich mich: Warum soll im Erwerbsminderungsfall, also dann, wenn die Betreffenden es besonders
nötig haben, finanziell unterstützt zu werden, nur die gesetzliche Rentenversicherung etwas leisten, nicht aber
die betriebliche und die private, kapitalgedeckte?
({10})
Es ist vor diesem Hintergrund richtig, dass wir auch in
der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge, also in
der Riester-Rente, die Bedingungen verbessern und den
Erwerbsminderungsschutz mit absichern.
({11})
Zu den Geringverdienern. Es ist richtig, dass Geringverdiener es besonders schwer haben, zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben. Allerdings werden die Statistiken
ständig verfälscht dargestellt. Den höchsten Anteil an
Riester-Sparerinnen und -Sparern weisen die Einkommensgruppen unter 1 500 Euro pro Monat auf.
({12})
Dass in anderen Einkommensgruppen die zusätzliche
Altersvorsorge höher ist, liegt daran, dass Gutverdiener
oft eine sehr gute zusätzliche Betriebsrente haben; das
liegt aber nicht an Riester.
({13})
Gerade weil Niedrigverdiener oft in Bereichen arbeiten,
in denen es gar keine Betriebsrente gibt, ist für sie eine
zusätzliche Altersvorsorge umso wichtiger, um im Alter
nicht von Armut betroffen zu sein.
({14})
Zusammenfassend kann man sagen: Heute ist ein guter Tag für die Altersvorsorge in Deutschland.
({15})
Wir machen mit dem Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz einen wesentlichen Schritt und sorgen dafür, dass
die private Altersvorsorge transparenter und kalkulierbarer wird. Wir sorgen so dafür, dass die Bürgerinnen und
Bürger Vertrauen haben, das Richtige zu tun, wenn sie
neben der gesetzlichen Rente zusätzlich privat vorsorgen. Dazu sollten wir sie nachdrücklich ermuntern.
Vielen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen
Förderung der privaten Altersvorsorge. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12219, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10818 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 b. Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Risiken der Riester-Rente offen legen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12219, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9194 ab27146
Vizepräsidentin Petra Pau
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Karin Roth ({1}),
Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter
und Fraktion der SPD
Transparenz für soziale und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen - Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von
Arbeits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene einführen
- Drucksachen 17/11319, 17/12110 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Ingrid Hönlinger, Kerstin Andreae,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes
- Drucksache 17/11686 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({3})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johann Wadephul für die Unionsfraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Schon aus stimmlichen Gründen kann ich an die
Rede des Kollegen Weiß nicht ganz anknüpfen.
({0})
Wer jetzt enttäuscht ist, den muss ich bitten, sich in Geduld zu üben; denn die Unionsfraktion hat den Kollegen
Weiß erneut als Redner in dieser Debatte aufzubieten.
Insofern werden Sie sein rhetorisches Feuerwerk hier
gleich noch einmal erleben.
({1})
Wir haben schon im Ausschuss über diesen Punkt
miteinander diskutiert. Es geht um ökologische und soziale Verantwortung von Unternehmen. Die sozialdemokratische Fraktion fordert insbesondere umfängliche Initiativen der Bundesregierung auf europäischer und
internationaler Ebene und, wie wir das oftmals von Ihrer
Fraktion erleben, hier und da auch wieder gesetzliche
Normierungen. Sie knüpfen an die Leitprinzipien für
Menschenrechte und Wirtschaft der Vereinten Nationen
an, die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen
und die ILO-Kernarbeitsnormen, also die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf.
Das sind international anerkannte Instrumente der
Corporate Social Responsibility, wie man das international nennt und wie das in den Anträgen aufgeführt
wird, also kurz CSR. Sie werden in Ihrem Antrag, Frau
Hiller-Ohm, lediglich aufgezählt - das muss ich bemängeln - und zum Teil auch unsystematisch und falsch eingeordnet; denn die UN-Leitprinzipien - dies nur am
Rande bemerkt - fordern, anders als Sie es in Ihrem Antrag darlegen, beispielsweise gar keine obligatorische
gesetzliche Nachhaltigkeitsberichterstattung. Auch in
den OECD-Leitsätzen steht lediglich - ich zitiere wörtlich - „gegebenenfalls einschließlich Umwelt- und Sozialinformationen“.
Nun wollen wir die Fragestellung an sich, die dahinter
steht, nämlich die der ökologischen und insbesondere
der sozialen Verantwortung von Unternehmern und Unternehmen, überhaupt nicht geringschätzen; vielmehr
können wir dabei in Deutschland schon auf eine lange
Tradition zurückblicken. Es hat über die Jahrhunderte
hinweg, seit dem Mittelalter, seit dem Zeitalter des Humanismus, immer Unternehmerinnen und Unternehmer
gegeben, die sich engagiert haben, auch in ihrer Heimatstadt. Frau Hiller-Ohm, denken Sie nur an heute tätige
Stiftungen international tätiger Unternehmen wie die
Possehl-Stiftung oder die Dräger-Stiftung, die sich ohne
irgendeine gesetzliche Regelung dem Sozialen, aber
auch der Nachhaltigkeit und dem Umweltschutz verpflichtet fühlen.
Damit hier nicht der Eindruck entsteht, Deutschland
stünde in dieser Frage schlecht da, möchte ich an dieser
Stelle einfach einmal allen Unternehmern und Unternehmen sehr herzlich danken, die sich diesen Grundsätzen
verpflichtet fühlen, ohne dass es derartige gesetzliche
Regelungen gibt, wie die Sozialdemokraten sie hier fordern.
({2})
Ich nenne beispielhaft nur die Volkswagen AG, die
uns erst in den letzten Tagen wieder informiert hat und
die zahlreiche Projekte und Initiativen, beispielsweise in
Südafrika - dies ist auch einer größeren Öffentlichkeit in
Deutschland bekannt -, in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Sport befördert. Hier geht
es insbesondere um das Ziel, die Chancengleichheit zu
fördern und sozial schwache Kommunen einzubinden.
Ich denke an die Deutsche Post AG, die 2005 nicht
ganz zu Unrecht als das sozialste Unternehmen Deutschlands eingruppiert wurde, bei der die Integration von Behinderten und die Weiterbildung für Ältere eine vorbildlich große Rolle spielen, die sich aber auch international,
beispielsweise über ihre Tochter, nämlich die DHL, in
Shanghai sogar mit einer eigenen Firmenuniversität engagiert, an der auch sozial Schwache eine Chance haben.
Ich nenne die BASF AG, die ihre sechs Grundwerte
Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz, gegenseitiger
Respekt, offener Dialog und Integrität jeden Tag in ihrem Unternehmen vorlebt, die insbesondere ausländische Führungskräfte und Frauen durch die Schaffung
besserer Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf in das Unternehmen integriert, die hohe Umweltziele verfolgt und ein großes humanitäres Engagement, beispielsweise in Südostasien, aber auch in Afrika,
zur Malariabekämpfung und zu vielem anderen zeigt.
All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, findet tagtäglich in Deutschland unter Nutzung der Gewinne statt, die die Unternehmen erwirtschaftet haben
und die ihnen durch gesetzliche Vorschriften oder die
Abschöpfung, die der Staat vornimmt, indem er etwa
Steuern erhebt, nicht genommen werden.
Nachdem ich mich mit Ihrem Antrag auseinandergesetzt habe, muss ich sagen: Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion, bemängeln
selbst, dass es eine handelsgesetzliche Vorschrift gibt,
die nach Ihrer Meinung bislang ohne Bedeutung geblieben ist. Ich frage Sie: Warum soll dann eine gesetzliche
Offenlegungspflicht, die Sie jetzt für alle Unternehmen
schaffen wollen, also nicht nur für diejenigen, die schon
bisher davon betroffen sind, eigentlich eine Verbesserung des Status quo bringen? Das müssten Sie einmal erläutern. Weder in den Ausschussberatungen noch in dem
Antrag selbst gab bzw. gibt es hierzu irgendeinen Satz
der Begründung.
Die gesetzliche Verpflichtung zur Offenlegung und
Einhaltung sozialer und ökologischer Standards wäre im
Übrigen - das wissen wir alle - nur auf der Grundlage
von internationalen Übereinkommen möglich. Sie müssen wissen: Das bedeutet langwierige Verfahren, und zusätzlich ist die Umsetzung internationaler Abkommen in
jeweils nationales Recht erforderlich. All das würde viel
Zeit in Anspruch nehmen, die wir gar nicht haben - dies
würde auch niemandem helfen -, und wichtige Kräfte
insgesamt binden.
Insgesamt muss man sagen: Wir haben wieder einmal
ein Beispiel dafür, dass Sie den Menschen nicht trauen,
dass Sie den Unternehmern nicht trauen, die Verantwortung tragen, dass Sie den Gewerkschaften nicht trauen,
die durch die Mitbestimmung sowohl tarifvertraglich als
auch im Rahmen der Betriebsverfassung beteiligt sind,
dass sie von sich aus allein die richtigen sozialen, ökologischen und nachhaltigen Entscheidungen für ihr Unternehmen, aber auch darüber hinaus treffen. Nein, Sie
meinen wieder einmal: Es bedarf der staatlichen Aufsicht. Es bedarf einer staatlichen Regulierung.
({3})
Für jede staatliche Regulierung wollen Sie noch einen
extra Aufpasser einsetzen. Das ist ein hoher bürokratischer Aufwand und verursacht unnötige Kosten.
Ein gutes Ziel, eine gute Intention und wichtige Unternehmensziele, die hier in Deutschland schon glaubwürdig von den Unternehmen vorgelebt werden, machen
Sie mit der Intention Ihres Antrags eher kaputt. Deswegen lehnen wir ihn ab. Wir vertrauen den Unternehmern
und darauf, dass sie von allein richtig entscheiden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kommen Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung nach? Kümmern sie sich ausreichend um Arbeitsbedingungen, Arbeitsschutz und soziale Standards
auch in ihren Zulieferbetrieben? Wir sagen im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Wadephul, und Ihrer Union:
Nein. Würden sie es nämlich tun, dann gäbe es nicht immer wieder diese schrecklichen Nachrichten von Katastrophen, Arbeitsunfällen sowie Ausbeutung von Kindern und Arbeitern. Das wollen wir ändern, und deshalb
haben wir unseren Antrag vorgelegt.
({0})
Als wir Anfang November den Antrag eingebracht
haben, beklagten wir die 250 Opfer der verheerenden
Brandkatastrophe in einer Textilfabrik in Pakistan:
250 vor allem junge Näherinnen, die auch für den deutschen Textildiscounter KiK gearbeitet haben. Sie mussten ihr Leben lassen, weil es keine Arbeitsschutzmaßnahmen, keine Notausgänge, sondern nur vergitterte
Fenster und versperrte Fluchtwege gab. Eine unglaubliche Tragödie! Kurz danach folgte die nächste Katastrophe, dieses Mal in einer Fabrik in Bangladesch, in der
auch Pullover für C&A produziert wurden. Über
100 junge Arbeiterinnen kamen ums Leben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen auf erschütternde Weise: Die Bedingungen, unter denen auch
deutsche Firmen weltweit produzieren lassen, sind oft
katastrophal. Solche Missstände müssen verhindert werden.
({1})
Die Bundesregierung könnte dies ändern und Unternehmen gesetzlich verpflichten, offenzulegen, ob ihre Produkte unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und
ökologisch vertretbar hergestellt werden. Dies muss natürlich auch die Lieferketten mit einbeziehen.
Lieber Herr Kollege Wadephul, die Bundesregierung
hätte jetzt eine gute Gelegenheit, sich auf europäischer
Ebene in diesem Sinne zu engagieren. EU-Kommissar
Michel Barnier will in Kürze einen Vorschlag zur
Reform der Modernisierungsrichtlinie vorlegen. Der
- übrigens konservative - Binnenmarktkommissar will
verbindliche Transparenzregeln bei der Unternehmensverantwortung. Wir begrüßen das. Damit gäbe es gleiche
Regeln für alle europäischen Unternehmen.
({2})
Und was macht die Bundesregierung? Schwarz-Gelb
gibt in Brüssel den größten Bremsklotz für diese fortschrittliche Initiative!
({3})
Kein Wunder! In Sachen Transparenz ist Deutschland im
EU-Vergleich eher ein Entwicklungsland.
({4})
Deutsche Konzerne müssen ihren Aktionären zwar umfassend über ihre Finanzlage Bericht erstatten, wie sich
die Geschäftstätigkeit auf Arbeitsbedingungen und Umwelt auswirkt, fällt dagegen - aufgrund lascher Berichtspflichten - weitgehend unter den Tisch.
({5})
Pakistan, Bangladesch - was muss noch passieren, damit
die Bundesregierung endlich handelt?
Wir wollen die Bundesregierung antreiben, den
Schleier zu lüften, unter dem schlimme Arbeitsbedingungen weltweit unentdeckt bleiben. Der Schleier muss
endlich verschwinden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die
Wirtschaft in die Pflicht nehmen, ihrer Verantwortung
für humane Arbeitsbedingungen und den Schutz der
Umwelt nachzukommen. Die Basis dafür ist, Transparenz darüber zu schaffen, unter welchen Bedingungen
Firmen weltweit ihre Waren produzieren. Die SPD will
Unternehmen deshalb verpflichten, auch nichtfinanzielle
Informationen offenzulegen, und zwar nach einheitlichen Standards, wahrheitsgemäß und vollständig. Es
muss öffentlich werden, ob Hungerlöhne gezahlt werden, Arbeitsunfälle an der Tagesordnung sind, Betriebsräte behindert oder sogar verhindert werden, Kinderarbeit stattfindet oder die Umwelt ruiniert wird. Der Druck
von Gewerkschaften, Hilfsorganisationen, Verbraucherinnen und Verbrauchern, Medien, aber auch Wettbewerbern und Investoren wird dann Wirkung zeigen. Klar ist:
Verantwortungsvolle Unternehmen profitieren davon,
wenn die Konkurrenz sie nicht durch Lohndumping und
schlechte Arbeitsbedingungen vom Markt drängen kann.
Wir sorgen also mit mehr Transparenz für fairen Wettbewerb. Den brauchen wir dringend.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich lese in der Beschlussempfehlung zu unserem SPDAntrag, dass Sie „mit den Zielen des Antrags“ übereinstimmen und Ihnen das Thema wichtig ist. Meine Damen und Herren von der Union, daher frage ich mich,
warum Sie unseren Antrag ablehnen wollen. Beweisen
Sie doch einmal Rückgrat, und schließen Sie sich unserer Initiative an. Sie würden damit etwas wirklich Gutes
tun.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal
Kober das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage, unter welchen Bedingungen die Waren, die
wir täglich kaufen, hergestellt werden, gewinnt immer
mehr an Bedeutung und spielt glücklicherweise auch bei
den Kaufentscheidungen der Menschen eine immer größere Rolle, weshalb Unternehmen zunehmend auf die
Produktionsbedingungen achten.
({0})
So, wie viele Menschen bereits darauf achten, ob die
Nahrungsmittel, die sie kaufen, bio sind, also gewissen
ökologischen Standards entsprechen, steigt auch die
Zahl der Menschen, die beispielsweise ganz bewusst fair
gehandelte Kleidung kaufen und auch darauf achten,
dass die Arbeitsbedingungen in den Fertigungsstätten in
Ordnung sind. Die Öffentlichkeit achtet vermehrt darauf,
wie die Arbeitsbedingungen bei der Produktion im Ausland sind, Medien berichten zunehmend, und die Nichtregierungsorganisationen sind aktiver denn je. So wurde
von deutschen Medien auch - Frau Hiller-Ohm hat es
angesprochen - über die schreckliche Brandkatastrophe
in einer Textilwerkstatt in Bangladesch im Dezember
letzten Jahres berichtet. Es wurde auch berichtet, welche
deutschen Unternehmen dort produzieren lassen. Dies ist
für die jeweiligen Unternehmen mit einem erheblichen
Imageschaden verbunden, sodass es schon aus diesem
Grund zu Veränderungen kommt und auch zunehmend
kommen wird.
Wir dürfen aber bei dieser ganzen Debatte nicht vergessen und übersehen, dass Auslandsinvestitionen deutscher und multinationaler Unternehmen einen wichtigen
Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Fortschritt in den entsprechenden Zielländern leisten.
Diese positiven Effekte wollen wir, und diese positiven
Effekte sollten wir fördern und zu stärken versuchen.
Ich fürchte aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, dass die in Ihrem Antrag geforderte Einführung einer gesetzlichen Berichterstattungspflicht über
nichtfinanzielle Unternehmensdaten und die Überprüfung der Informationen durch unabhängige PrüfgesellPascal Kober
schaften der falsche Weg ist. Denn bevor wir als Gesetzgeber solche Forderungen erheben, müssen wir prüfen,
ob die Forderungen, die wir den Unternehmen stellen,
überhaupt von diesen erfüllbar sind.
In der vergangenen Sitzungswoche hatte ich zu diesem Thema ein Gespräch mit Vertretern eines großen,
namhaften deutschen Unternehmens. Das Unternehmen
hat weltweit eine fünfstellige Zahl an Zulieferern. In
dieser Zahl sind die Zulieferer der Zulieferer noch nicht
mit eingerechnet. Eine hundertprozentige Kontrolle der
kompletten Zulieferkette ist für das Unternehmen
schlicht unmöglich.
({1})
Ein weiterer Punkt, den es zu berücksichtigen gilt, ist
die Beinahemonopolstellung mancher Zulieferer. So gibt
es Bereiche, in denen es nur sehr wenige Zulieferer gibt.
Hier sind selbst Großunternehmen in einer schwierigen
Lage, menschenrechtliche Forderungen durchzusetzen,
da die Zulieferer eine überaus machtvolle Stellung am
Markt haben.
({2})
Darüber hinaus gibt es auch noch den umgekehrten
Fall. Vor allem mittelständische Unternehmer benötigen
in großen Wertschöpfungsketten regelmäßig nur sehr geringe Mengen von einem Produkt. Als Abnehmer geringer Liefermengen sind diese Unternehmen häufig auch
nicht in der Position, Forderungen an Zulieferbetriebe zu
stellen. Wir müssen uns fragen, ob die Forderungen, die
Sie in Ihrem Antrag erheben, wirklich von den Unternehmen erfüllt werden können.
({3})
Vor allem aber müssen wir uns auch fragen, ob der
bessere Weg nicht die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit
in der Welt ist. Denn in Ihrem Antrag fordern Sie etwas,
was Sie sich in Deutschland verbitten würden: dass Arbeitnehmerrechte nicht auf einem staatlich garantierten
Rechtsanspruch gründen, sondern quasi privatisiert werden. In der Frage der Verbreitung und Durchsetzung der
Rechtsstaatlichkeit, auch der Arbeitnehmerrechte weltweit, agiert die Bundesregierung, insbesondere Bundesminister Dirk Niebel, vorbildlich und so engagiert wie
nie zuvor.
({4})
In Zusammenarbeit mit der GIZ und den politischen Stiftungen - übrigens auch der Friedrich-Ebert-Stiftung engagiert sich Deutschland weltweit für den Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zum Recht. Insbesondere die
benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen werden dabei berücksichtigt. Ein Schwerpunkt ist
dabei das jeweilige Arbeitsrecht in den verschiedenen
Ländern.
({5})
Erstmalig, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,
unterliegt die eigene Entwicklungszusammenarbeit einem ganzheitlichen Menschenrechtskonzept.
({6})
Das war unter der SPD-Ministerin Wieczorek-Zeul elf
Jahre lang noch nicht so.
({7})
Zudem hat die Bundesregierung den Aktionsplan CSR
beschlossen. Hierin sind Ziele benannt und Wege aufgezeigt, die zu mehr Corporate Social Responsibility
führen. So gibt es unter anderem ein CSR-Coachingprogramm für kleinere und mittlere Unternehmen. Wir müssen unsere Unternehmen begleiten, stärken und beraten;
wir dürfen sie nicht gängeln und hindern.
Auch ist diese Bundesregierung derzeit durchaus an
der Entwicklung einer europäischen CSR-Strategie beteiligt. Insofern kommen wir unserer Verantwortung
auch auf europäischer Ebene nach.
Der richtige Weg ist es, an mehreren Stellschrauben
zu drehen und Verbesserungen zu erreichen. Wir müssen
die Unternehmen mit einbeziehen, dürfen sie aber auch
nicht überfordern, indem wir etwas verlangen, was sie
gar nicht erfüllen können.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Jutta
Krellmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir reden heute über CSR. Das ist keine
technische Bezeichnung aus der Elektroindustrie. Es
geht um Leitlinien von Unternehmen zur sozialen und
ökologischen Verantwortung. In Deutschland ist die Veröffentlichung solcher Leitlinien für Unternehmen freiwillig. Viele Unternehmen haben sich schon für solche
Leitlinien entschieden. Dafür gibt es verschiedene
Gründe: Oft geht es um Imagepflege, damit sich die Produkte besser verkaufen lassen. Manchmal geht es darum,
Mitarbeiter für das eigene Unternehmen zu akquirieren.
Häufig geht es auch darum, öffentliche Kritik vom Unternehmen fernzuhalten. Große Unternehmen nutzen
solche freiwilligen Selbstverpflichtungen auch und vor
allem als ein Mittel, um auf politische Diskussionen Einfluss zu nehmen. Damit wird der Forderung nach gesetzlichen Regulierungen der Wind aus den Segeln genommen, nach dem Motto: Neue Gesetze zum Arbeits- oder
Umweltschutz sind überflüssig; denn wir kümmern uns
schon darum.
Die Bundesregierung fördert die Praxis der freiwilligen Selbstverpflichtung von Unternehmen. Sie verleiht
Preise an Unternehmen, von denen sie glaubt, dass sie
sozial und ökologisch verantwortungsvoll handeln. Sie
betreibt unter dem Stichwort CSR vor allem eine Werbeund Wohlfühlkampagne für deutsche Unternehmen. Irgendwelche bindenden Verpflichtungen für Unternehmen ergeben sich daraus nicht. Alles soll auf freiwilliger
Basis bleiben. Es geht hier vor allem um schöne Worte
und nicht um Taten.
({0})
Ich nenne ein aktuelles Beispiel, das Herr Wadephul
schon angeführt hat; aber ich betrachte es aus einem
anderen Blickwinkel. Es geht um die soziale Verantwortung der Deutschen Telekom. In der Broschüre
„CSR - Made in Germany“ der Bundesregierung wird
die Deutsche Telekom für faire Arbeitsstandards gelobt.
Die Telekom will nach eigenen Angaben „weltweit Vorreiter“ im Bereich der sozialen Unternehmensführung
werden. Sie nennt „Integrität und Wertschätzung“ der
Beschäftigten als eines der obersten Leitprinzipien. Aber
bei der Telekom folgen den Worten nicht die entsprechenden Taten.
({1})
Die Telekom-Tochter T-Mobile betreibt in den USA
ein Callcenter. Hier herrschen entwürdigende Bedingungen für die Beschäftigten. Mitarbeiter mussten bei ihrer
Arbeit Eselskappen aufsetzen, wenn sie die geforderten
Leistungen nicht erbracht haben - wie im Kindergarten.
({2})
Sie mussten Aufsätze zum Thema „Warum mich T-Mobile weiter beschäftigen soll“ schreiben. Beschäftigte
wurden entlassen, weil sie sich für Tarifverträge eingesetzt hatten. Gewerkschafter werden unter Druck gesetzt
und benachteiligt. T-Mobile verletzt in den USA systematisch die Menschenwürde der Beschäftigten. Hier
zeigt sich, wie ernst es der Telekom tatsächlich mit der
sozialen Verantwortung ist, die landauf und landab, auch
von der Bundesregierung, gelobt wird. - Die Leitlinien
der Telekom zur Unternehmensverantwortung sind das
Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Aber die Bundesregierung fährt fort, gerade für dieses Unternehmen Werbung zu machen.
Dieser Form des Etikettenschwindels, wie er bei der
Telekom betrieben wird, will die SPD nun einen Riegel
vorschieben. Sie will Unternehmen verpflichten, genauer Auskunft über ihre internationalen Geschäftstätigkeiten und deren soziale und ökologische Auswirkungen
zu geben.
Wir unterstützen die Forderung des SPD-Antrags
nach mehr Transparenz. Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, von solchen Vorgängen bei T-Mobile
USA zu erfahren; denn der Bund ist Anteilseigner der
Telekom, im Grunde ist es unser Unternehmen. Ich muss
gestehen: Ich möchte nicht, dass in einem Unternehmen,
das uns gemeinsam gehört, solche Dinge passieren.
({3})
Wir glauben aber, dass die SPD mit ihrem Antrag zu
kurz greift. Mehr Transparenz allein wird Unternehmen
nicht zu verantwortungsvollem Handeln bringen. Ethische Richtlinien zur verantwortungsvollen Unternehmensführung bleiben wirkungslos, und Informationspflichten für sich allein genommen bleiben unwirksam.
Informationspflichten bedeuten nämlich nicht, dass die
kritisierten Praktiken nicht mehr erlaubt wären.
Der Grundgedanke der SPD ist, dass verantwortungslose Unternehmensführung durch Transparenz am Markt
zurückgedrängt wird und dass dadurch der Handel und
Investitionen auf soziale und ökologische Ziele ausgerichtet werden. Dieser Gedanke ist naiv, solange Handel
und Investitionen durch die privaten Interessen von Kapitaleignern bestimmt werden. Sozial verantwortungsloses Handeln von einzelnen Unternehmen ist heute vor allem die Folge des gnadenlosen Marktwettbewerbs.
Dieser Wettbewerb zwingt jedes einzelne Unternehmen
ständig, Kosten zu senken. Wenn soziale und ökologische Verantwortung Geld kostet, dann gibt es immer betriebswirtschaftliche Gründe, darauf zu verzichten: Dann
werden in Bangladesch - um dieses Beispiel der SPD
aufzugreifen - Brandschutzmaßnahmen unterlassen,
weil es billiger ist. Dann werden in den USA Gewerkschaftsrechte behindert, weil es hilft, an den Löhnen zu
sparen. Dann werden ökologische Auflagen umgangen,
weil es Geld spart.
Diese Probleme kann man nur lösen, wenn man dem
Profitstreben der einzelnen Unternehmen durch Gesetze
Schranken setzt.
({4})
Wenn die Geschäftspraxis einzelner Unternehmen grundlegende gesellschaftliche Bedürfnisse verletzt, muss sie
gesetzlich verboten werden. Das gilt in Deutschland
genauso wie international. Dazu will die Linke den Betroffenen auch in anderen Ländern in erster Linie einklagbare Rechte geben gegen verantwortungslose Unternehmen und gesetzliche Mindeststandards verstärken.
Damit wäre mehr gewonnen als mit Dutzenden von Papieren über soziale Unternehmensführung, die oftmals
das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Volker Beck das Wort.
({0})
Bei uns muss man sich den Applaus verdienen, Herr
Kolb.
Volker Beck ({0})
Meine Damen und Herren! Wie wir wirtschaften, wie
wir handeln und wie wir konsumieren, beeinflusst die
Menschenrechtslage in vielen Ländern auf dieser Welt
stärker als das, was wir in der Außenpolitik versuchen
können zu unternehmen, um Menschenrechte durchzusetzen. Deshalb ist das Thema dieser Debatte für die
Durchsetzung von Menschenrechten von ganz zentraler
Bedeutung. Wir reden hier nicht über Kinkerlitzchen,
wie ich den Eindruck bei Ihren Reden hatte, nach dem
Motto „Schöner arbeiten“. Wir reden über Themen wie
Sklavenarbeit und mangelnden Arbeitsschutz, der in
Kauf nimmt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
durch Brände oder durch Gifte, die freigesetzt werden,
ums Leben kommen. Wir reden auch über die Zerstörung
der Lebensgrundlagen ganzer Völker, wie es gestern in
den Niederlanden bei dem Thema „Shell und Nigerdelta“ zur Sprache kam.
Wir müssen uns diesen Fragen intensiver annehmen.
Das, was Sie gesagt haben, geht an der Realität der Unternehmen vorbei. Wir müssen doch faire Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen schaffen, die sich die
Mühe machen, nicht billiger einzukaufen,
({1})
weil die Hersteller und Lieferanten Menschenrechte und
ökologische Standards mit Füßen treten. Wir verzerren
den Wettbewerb, wenn wir nicht genau hinschauen. Es
ist richtig: Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wären durchaus bereit, ein bisschen mehr zu zahlen - obwohl das für manche aufgrund ihres niedrigen Einkommens schwierig ist -, wenn sie wüssten, dass keine
Kinderarbeit, keine Sklavenarbeit, keine Vernichtung
von Lebensgrundlagen mit den Produkten verbunden
sind. Sie können es aber nicht wissen, weil die Freiwilligkeit eben nicht zu Transparenz führt.
Das möchte ich Ihnen vorführen. Sie haben hier gesagt, deutsche Unternehmen seien mustergültig, da gebe
es überhaupt keine Probleme, und den fürchterlichen
Brand in Dhaka, Bangladesch, angesprochen, bei dem
Arbeiterinnen und Arbeiter umgekommen sind, weil sie
ihren Arbeitsplatz bei Ausbruch des Brandes nicht verlassen konnten. Nach Angaben von medico international
wurde dort für C&A und KiK für den deutschen und
österreichischen Markt produziert. Es gibt also ein Problem. Was ist Ihre Antwort darauf? Einfach Nichtstun.
({2})
Ein anderes Thema. Es gab im Jahr 2012 im ZDF Berichte über die Herstellung von Textilien in Südindien
nach dem Sumangali-Prinzip. Sumangali ist indisch und
heißt Braut. Dieses Sumangali-Prinzip verpflichtet junge
Frauen, Mädchen, drei Jahre in einer Textilfirma zu arbeiten. Sie bekommen ein kleines Taschengeld und dürfen das Gelände des Unternehmens nicht verlassen. Den
Lohn ihrer dreijährigen Arbeit bekommen sie nur dann,
wenn sie bis zum letzten Tag dableiben. Die Zahl der Todesfälle und Suizide aufgrund der Arbeitsbedingungen
ist dramatisch. Trotzdem lassen wir dort produzieren. Das ZDF hat uns die Lieferlisten gegeben. Darauf stehen
viele deutsche Firmen, Handelsketten, deren Filialen Sie
an der Friedrichstraße besuchen können. Ich habe die
Bundesregierung gefragt, ob sie aufgrund der vielen
schönen freiwilligen Regelungen weiß, welche deutschen Firmen diese Textilien importieren oder dort produzieren lassen. Sie antwortet: „Es besteht keine rechtliche Verpflichtung der deutschen Unternehmen, ihre
Bezugsquellen anzugeben.
({3})
Der Bundesregierung liegen daher keine diesbezüglichen Informationen vor.“ Da liegt der Hund begraben.
Daran muss man etwas ändern,
({4})
notfalls auch durch eine nationale und nicht durch eine
europäische Gesetzgebung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Ich finde, wir tragen hier als wirtschaftlich größtes und stärkstes Land in Europa eine besondere Verantwortung. Wir wollen diese Regelungen in
deutsches Recht umsetzen. Von daher unterstützen wir
natürlich Ihren Antrag, die Bundesregierung zu einer europäischen Initiative aufzufordern.
Man kann also zusammenfassen: Die Bundesregierung sieht nichts, hört nichts und weiß nichts. Sie weiß
noch nicht einmal das, was den Journalistinnen und
Journalisten in Deutschland bekannt ist, was sie recherchiert und publiziert haben. Das ist ein Offenbarungseid
ihrer Freiwilligkeitsstrategie.
Das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ umfasst noch weitere Aspekte. Deshalb haben wir heute
einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengesetzes vorgelegt. Wir wollen die Unternehmensverantwortung neu definieren. Heute ist die Rechtssituation im
Prinzip so: Handelt ein Unternehmensvorstand menschenrechtskonform und schmälert damit den Gewinn
des Unternehmens, kann er theoretisch für diesen Schaden am Vermögen und Einkommen seiner Aktionäre von
den Aktionären in Anspruch genommen werden. Wir
wollen klarstellen, dass die Einhaltung von menschenrechtlichen und ökologischen Kriterien einem Unternehmensvorstand nicht vorgeworfen werden kann. Wir halten es für seine Pflicht, sich beim Wirtschaften auch
dann an diese Standards zu halten, wenn der Konkurrent
sie ignoriert und der Unternehmer damit seine Position
am Markt womöglich vorübergehend schädigt. Mit diesem Gesetz wollen wir den Unternehmern signalisieren:
Es wird niemand pönalisiert. Wir stellen lediglich klar:
Wenn ihr euch an die Menschenrechte haltet, dann habt
ihr das Recht in Deutschland auf eurer Seite, und dazu
wollen wir euch ermutigen.
({5})
Das ist für uns nur ein erster Schritt. Die Entscheidung in Bezug auf Shell und die Ogoni zeigt, dass das
ein grundsätzliches Problem ist, das wir mit unserem
Vorhaben allein nicht lösen werden. Ich kündige daher
an, dass wir noch in dieser Legislaturperiode weitere Initiativen ergreifen wollen. Wir wollen dafür sorgen, dass
Volker Beck ({6})
sich Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Afrika,
Asien oder Südamerika durch Tochtergesellschaften
deutscher oder europäischer Unternehmen mit Aussicht
auf Erfolg an deutsche bzw. europäische Gerichte wenden und gegebenenfalls ihren Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld durchzusetzen können. In der
Regel scheitert das schon an der Verjährungsfrist; denn
die betroffenen Menschen haben einfach keinen Zugang
zu unseren Gerichten, und sie wären gelackmeiert, wenn
sie das in ihren Heimatländern versuchen würden.
Wir müssen dafür sorgen - nach dem Gerichtsurteil
gestern haftet die Muttergesellschaft nicht -, dass Unternehmensmütter für ihre Tochtergesellschaften haften
müssen. Ein beliebtes Prinzip ist nämlich, die lokale
Tochter pleitegehen zu lassen oder sie ganz schnell zu
verkaufen, wenn etwas schiefgegangen ist bei der Erdölförderung oder dergleichen; denn dann ist man als Mutterkonzern fein raus, und die Opfer dieser Menschenrechtsverletzungen gucken in die Röhre. Die örtlichen
Gesellschaften und die Lokalherren, die das zugelassen
haben, haben aber daran verdient. Davor können wir die
Augen nicht verschließen. Wenn wir wirklich verantwortlich wirtschaften, handeln und konsumieren wollen,
dann brauchen wir eine stärkere Kodifizierung im Bereich „Wirtschaft und Menschenrechte“.
Kollege Beck.
Das ist kein Vorwurf an die Mehrheit der verantwortlich handelnden deutschen Unternehmen. Wir wollen
jene stärken, die sich fair und ordentlich am Markt verhalten, und das ist die Mehrheit in Deutschland.
({0})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Ulrich Lange
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Hause sehr wohl einig, dass
es hier um ein wichtiges und wesentliches Thema geht.
Herr Kollege Beck, es geht definitiv nicht um Kinkerlitzchen. Unser Aktionsplan 2010 zeigt, dass wir etwas
unternommen und in die Wege geleitet haben und dies
nicht als Kinkerlitzchen, sondern als ernste Herausforderung ansehen.
({0})
Eigentlich halte ich Sie juristisch für durchaus versiert. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie Ihre
Ausführungen ernst gemeint haben. Ich habe gerade eine
Sachbeschädigung begangen, indem ich aus dem Grundgesetz die erste Seite herausgerissen habe,
({1})
weil ich dem Kollegen Beck etwas vorlesen muss. Ich
bin nämlich überrascht, dass er das Aktienrecht und die
Menschenrechte in einen Topf wirft. - Lieber Kollege
Beck, Ihnen dürfte Art. 1 unseres Grundgesetzes - darauf sind unsere Gesetzgebung und unsere Rechtsprechung aufgebaut - bekannt sein: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und die Grundrechte sind
unverletzlich und unveräußerbar ({2})
auch im Zusammenhang mit dem Aktienrecht. Für den
Fall, dass Sie hier judikable Probleme sehen, verweise
ich auf den Ordre public; denn hier spiegeln sich die Gedanken wider, wenn es zu einer Rechtskollision zwischen unserem Recht und dem Recht anderer kommt. Herr Kollege Beck, das war ganz schwach.
({3})
- Doch.
Der von uns vorgelegte Aktionsplan und seine Ziele
zeigen schon heute erste Wirkung. Es wird anerkannt,
dass wir inzwischen deutlich mehr Transparenz haben.
Dies zahlt sich auch in der Wertschöpfungskette dauerhaft aus. Ja, die Firmen, die sich an CSR halten, sind im
Vorteil; denn CSR ist ein Markenzeichen. Das wird gerade jetzt deutlich. In dem Moment, in dem von diesen
Bränden und Arbeitsbedingungen berichtet wird, sehen
wir ganz genau, wie die Bevölkerung reagiert. Ich
glaube, die Reaktion der Bevölkerung ist die stärkste aller möglichen Reaktionen. Das ist sicherlich besser und
sinnvoller, als schon wieder neue Gesetze auf den Weg
zu bringen.
Damit sind wir an dem Punkt, an dem deutlich wird,
dass wir uns von der SPD wesentlich unterscheiden: Wir
glauben nicht, dass neuerlicher gesetzlicher Zwang, neuerliche Bürokratie, neuerliche Überprüfungsstellen zur
Bewusstseinsbildung beitragen. Ich glaube, dass wir mit
Kampagnen und über das Verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher am meisten erreichen können. Wir
setzen weiterhin bei der Freiwilligkeit an. Wir glauben,
das ist der richtige Ansatz.
({4})
Voraussetzung für einen guten und profitablen Umsatz ist in Deutschland immer noch ein guter Ruf, ein hohes Prestige. Jedes Unternehmen weiß, was auf dem
Spiel steht, wenn es durch einen Skandal mitgerissen
wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Skandal in
Deutschland oder im Ausland festgestellt wird. Ich gebe
zu, dass die Presse in den letzten Monaten und Jahren
diesbezüglich eine durchaus positive Rolle gespielt hat.
Sie hat das eine oder andere aufgedeckt, was Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit nationalen Gesetzen mit Sicherheit nicht in den Griff bekommen hätten. Deutsche Unternehmen wissen also, dass sie verantwortlich sind, und sie wissen, dass die Verbraucherinnen
und Verbraucher sehr allergisch auf Verstöße reagieren.
Das ist in unseren Augen das Beste, was passieren kann.
Grundsätzlich begrüßen wir die Initiative der Europäischen Kommission für eine neue europäische CSRStrategie aus dem Oktober 2011. Wir setzen auf das Primat der Freiwilligkeit. Wir unterstreichen die Bemühungen des BMAS bei den Gesprächen mit der Europäischen Kommission über die Umsetzung der CSRStrategie. Wir sind guter Dinge, dass wir, nachdem im
Dezember des vergangenen Jahres eine viel beachtete
Veranstaltung in Brüssel stattgefunden hat - es gab gute
und informative Beispiele -, einen konkreten Regelungsentwurf der EU-Kommission bekommen werden.
Auf der Basis dieses Entwurfs für ganz Europa, den wir
gemeinsam abwarten sollten, sollten wir weiterarbeiten
und gemeinsam die richtigen Schlüsse ziehen, im Sinne
aller Beschäftigten weltweit.
Danke schön.
({5})
Kollege Lange - das gilt natürlich für alle Kolleginnen und Kollegen -, vorsorglich weise ich darauf hin,
dass, sollten in den nächsten Reden weitere Zitate aus
dem Grundgesetz vorgetragen werden, das Präsidium
mit einem Exemplar des Grundgesetzes aushelfen
könnte. Sie müssen also keine weiteren Sachbeschädigungen vornehmen und keine Seiten aus dem Grundgesetz herausreißen.
({0})
- Gut.
Nun hat der Kollege Wolfgang Tiefensee für die SPDFraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Lange, ich darf mich am Anfang meiner
Rede direkt an Sie wenden, ohne die erste Seite des
Grundgesetzes herauszureißen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
({0})
Die Kernfrage, die wir im Zusammenhang mit diesem
Thema diskutieren, ist die folgende, Herr Lange: Nehmen wir in Deutschland, nehmen wir in Europa die Verantwortung auch für diejenigen wahr, die außerhalb Europas, in anderen Erdteilen, produzieren und unseren
Wohlstand ermöglichen? Fühlen wir uns verantwortlich
für eine Welt oder nur für Deutschland und Europa?
Die Sozialdemokratie wird im Mai dieses Jahres
150 Jahre alt sein. Sie ist wesentlich verwurzelt mit dem
Thema, Menschen zu bilden und dafür zu sorgen, dass
faire und soziale Arbeitsbedingungen in Deutschland
Einzug halten. So ist die SPD groß geworden. Wir stellten uns im 20. Jahrhundert die Aufgabe, das in Deutschland durchzusetzen und in Europa auf den Weg zu bringen. Im 21. Jahrhundert ist die Frage, ob es uns gelingt,
diese Standards über Deutschland und Europa hinaus international durchzusetzen. Dafür müssen wir arbeiten,
und zwar vehement.
({1})
Sie sagen, Sie seien bei der Formulierung der Ziele
mit uns einig. Das ist gut. Aber Sie tun nichts dafür,
diese Ziele durchzusetzen, sondern Sie erweisen sich als
Bremser. Darf ich Ihnen als Beispiel die Arbeits- und
Sozialstandards für Deutschland nennen? Wenn diese
nicht gesetzlich verankert wären, dann wären wir nicht
so weit, auch nicht bei der Mitbestimmung.
({2})
Darf ich Ihnen als Beispiel die Standards in der Ökologie
nennen? Was war denn mit den freiwilligen Standards in
der Fahrzeugindustrie bezüglich des CO2-Ausstoßes?
Erst die gesetzlichen Festlegungen haben dazu geführt,
dass einheitliche ökologische Standards auf europäischer
Ebene eingeführt worden sind. Genau diesen Weg wollen wir jetzt bei der Transparenz unternehmerischen
Handelns in Bezug auf ökologische und soziale Standards einschlagen.
Der Hauptunterschied zwischen Ihnen und uns ist: Sie
wollen keine gesetzlichen Regelungen. Wir hingegen
glauben, dass wir Standards, dass wir Zertifikate auf europäischer und internationaler Ebene brauchen - dafür
setzen wir uns ein -, um auf der einen Seite die Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Zulieferländern zu verbessern und auf der anderen Seite den Verbraucherinnen
und Verbrauchern die Möglichkeit zu geben, sich verantwortungsbewusst zu verhalten.
Meine Aufgabe als Wirtschaftspolitiker ist es, die Balance zwischen einerseits diesem Anspruch und andererseits dem, was auf die Unternehmen zukommt, herzustellen. Herr Wadephul, Herr Kober, Herr Lange, Sie
haben den Antrag nicht gründlich genug gelesen. Wir
wollen diese Balance herstellen, und zwar wie folgt:
Erstens. Wir wollen dafür sorgen, dass es einen fairen
Wettbewerb in Deutschland gibt. Das hat gar nichts mit
den Arbeitsbedingungen vor Ort zu tun.
({3})
Wir wollen, dass die Unternehmen belohnt werden, die
sich richtig verhalten, und diejenigen unter Druck geraten, die sich beispielsweise durch billige Zulieferer,
durch Kinderarbeit oder durch unmögliche Arbeitsbedingungen einen Vorteil verschaffen. Das ist gut für die
Unternehmen.
Zweitens. Wir wollen, dass die Prüfergebnisse durch
eine neutrale Prüfinstanz evaluiert werden. Sie werden
so veröffentlicht, dass das Ergebnis und die relevanten
Informationen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt
werden. Das heißt, wir haben uns auch über den Datenschutz Gedanken gemacht. Nicht jeder soll die Wertschöpfungskette eines jeden Wettbewerbers kennen.
Drittens. Wir wollen zunächst die großen Unternehmen, die weltweit verflochten sind, in den Blick nehmen
und erst in einer zweiten Phase die kleinen und mittelständischen Unternehmen einbeziehen.
Viertens. Es geht darum, dass wir Regelungen, Standards und Zertifikate einführen, die auf der internationalen Ebene vergleichbar sind. Auch im europäischen
Maßstab können wir so bessere Wettbewerbsbedingungen herstellen. Das machen wir vor folgendem Hintergrund: In Deutschland gibt es einige wenige schwarze
Schafe; viele verhalten sich vorbildlich. Damit wir die
schwarzen Schafe finden, damit wir die Wettbewerbsbedingungen für diejenigen verbessern, die sich ordentlich
verhalten, damit wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit geben, sich vernünftig zu informieren und zu entscheiden, und vor allen Dingen um dafür zu sorgen, dass sich weltweit Schritt für Schritt
Standards durchsetzen, brauchen wir diese fest vereinbarten Regelungen. Die Leitsätze der OECD für multinationale Unternehmen sind für uns Richtschnur; sie
sind das Geländer, an dem entlang wir uns bewegen.
Insbesondere mit Blick auf die weltweite Verantwortung der Christlich Demokratischen Union und die Ansprüche einer Fraktion, die sich angeblich um den fairen
Wettbewerb in Deutschland kümmert, fordere ich Sie
auf, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz
Golombeck das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir wesentliche Forderungen, die
dem vorliegenden Antrag zugrunde liegen, umsetzen
würden, könnte man wohl nicht mehr von einer freiwilligen gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung
sprechen; denn eines der Kernelemente von CSR stellt
die Freiwilligkeit dar. CSR ist per Definition, so das gemeinsame Verständnis dieser Regierungskoalition und
des Nationalen CSR-Forums, freiwillig und geht über
gesetzliche Vorgaben hinaus.
({0})
Unternehmen, die CSR praktizieren, gehen freiwillig
über ihre gesetzlichen Verpflichtungen hinaus, weil sie
der Auffassung sind, dass dies in ihrem langfristigen Interesse liegt. Die hier geforderten Gesetzesinitiativen für
eine verpflichtende nichtwirtschaftliche Berichterstattung von Unternehmen sehen wir skeptisch. Das vielfältige gesellschaftliche Engagement der Unternehmen darf
nicht durch eine Verpflichtung zur Berichterstattung
durchkreuzt werden. Freiwillig Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt zu übernehmen, das sind die
Grundpfeiler von CSR.
Grundsätzlich stimmen wir allerdings mit den Zielen
des Antrags überein. Gesellschaftliche Verantwortung
von Unternehmen gewinnt national wie international zunehmend an Bedeutung. Diese Regierungskoalition ist
dabei, einen breiten Dialog auf diesem Gebiet fortzuführen und die Bedeutung der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen in Wirtschaft und Gesellschaft zu
verbreiten.
({1})
Es ist wichtig, dass wir Rahmenbestimmungen vorgeben. Die Standards dann auch durchzusetzen, gelingt nur
durch das verantwortliche Handeln von Unternehmen.
Schon zu Beginn dieser Legislaturperiode, im Oktober 2010, haben wir eine „Nationale Strategie zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen“ - als Aktionsplan CSR - beschlossen. Damit ist ein Meilenstein
unserer CSR-Politik erreicht.
Das ist aber nur ein Beispiel. Die Forderungen des
hier diskutierten Antrags lauten, einen breiten Dialog
durch die Stärkung des Nationalen CSR-Forums und die
Beteiligung der Zivilgesellschaft zu führen. Dies hat
längst stattgefunden. Laufende bundesweite CSR-Preisausschreiben, -Studien und -Förderprogramme steigern
die öffentliche Anerkennung von CSR-Aktivitäten. So
wird die Kommunikation zwischen Menschen und Institutionen gefördert, Ideen werden weiterentwickelt. Vor
wenigen Wochen erst fand ein Expertendialog zur europäischen CSR-Debatte gemeinsam mit dem Nationalen
CSR-Forum in Brüssel statt.
Viele Ziele und Maßnahmen unseres Aktionsplans
CSR spiegeln sich in den Aktionsplänen anderer Mitgliedstaaten und auch in der Mitteilung der Europäischen Kommission wider. Wir begrüßen die Bemühungen der Europäischen Kommission, ihre eigene CSRStrategie fortzuentwickeln.
({2})
Abzuwarten bleibt, wie die EU-Kommission den angekündigten Entwurf zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen konkret regeln wird. Die Bekanntmachung und weitere Verbreitung internationaler
Standards sind wichtig, um freiwillige Selbstorganisationsprozesse von Unternehmen und Branchen zu fördern. Von besonderer Bedeutung sind für uns die OECDLeitsätze für multinationale Unternehmen und der UN
Global Compact. Diese können Unternehmen maßgebliche Orientierung geben, wo es an weltweit verbindlichen
Regelungen mangelt.
({3})
Diese Regierungskoalition ist auf einem guten Weg,
die Weiterentwicklung und Modernisierung von CSR in
Europa und den Mitgliedstaaten zu einer Zukunftsaufgabe zu machen. Nur im Zusammenspiel von Politik und
den Kräften der Gesellschaft kann diese Aufgabe bewältigt werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema „ökologische und soziale Unternehmensverantwortung“ geht es um Unternehmen. Aber es
geht auch um Menschen, nicht nur um Menschen bei
uns, sondern in der ganzen Welt. Da wir die Eigenschaft
haben, weltweit einzukaufen - nicht wir, sondern die
Unternehmen -, haben wir auch die Verantwortung, darauf zu achten, ob das, was in anderen Ländern mit Arbeitskräften passiert, den Menschenrechten entspricht.
Herr Kober erzählt so wunderbar, dass sein Minister
Niebel eine menschenrechtsbasierte Entwicklungspolitik
betreibt. Abgesehen davon - aber das ist erst einmal
nicht so wichtig -, dass weder bei der CDU/CSU noch
bei der FDP Entwicklungspolitiker anwesend sind, muss
daran erinnert werden, dass die menschenrechtsbasierte
Politik nicht von Ihnen erfunden worden ist. Eingeführt
hat sie Rot-Grün.
({0})
Das Schlimmste ist, dass Sie einfach nur ein Papier
machen und sich nicht fragen: Wirkt das? - Die Wirksamkeit ist doch entscheidend. Sie erklären uns, dass es
natürlich in Bangladesch und in anderen Ländern Arbeitsunfälle und andere Vorkommnisse gab. Aber was
schließen Sie daraus? Gar nichts. Sie schauen zu und sagen: Wir warten auf die Europäische Union.
({1})
Das kann so nicht weitergehen. Deshalb bin ich sehr
froh, dass die SPD-Fraktion hier deutlich sagt, was wir
wollen; denn Freiwilligkeit ist kein Rezept, weder national noch international.
({2})
Wie sähe es in Deutschland aus, wenn es in den Unternehmen keine gesetzliche Mitbestimmung gäbe? Wie
sähe es in Deutschland aus, wenn es keine Tarifverträge
gäbe? Wie sähe es in Deutschland aus, wenn es keine sozialen Sicherungssysteme wie die Rentenversicherung
gäbe? Düster sähe es aus. Eine Freiwilligkeit kann also
nicht das zentrale Thema sein. Das Primat der Politik ist
heute gefragt, national wie international. Dazu gehört die
Verantwortung der Unternehmen.
({3})
Auf der Welt - nicht in Deutschland, aber in den Ländern, über die wir heute reden: Usbekistan, Indien, Bangladesch und vielen anderen Ländern, auch China - arbeiten 215 Millionen Kinder in sklavenähnlichen
Verhältnissen. Das heißt doch, dass wir uns im Rahmen
unserer Verantwortung darum kümmern müssen, wie in
diesen Ländern produziert wird. Wir können nicht einfach sagen: Wir wissen nichts; also haben wir damit
auch nichts zu tun. - Nein, die Verantwortung ist nicht
teilbar, sie ist wahrzunehmen von uns allen: von den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, aber auch von den
Unternehmen.
({4})
Die Textilindustrie ist doch nur die Spitze des Eisbergs. Es geht nicht nur um Billigprodukte, es geht auch
um Luxusprodukte. Eigentlich wissen wir das auch. Das
Schlimmste ist: Jetzt, wo die Europäische Kommission
bereit ist, verpflichtende Regelungen einzuführen, blockiert und bremst die Bundesregierung, obwohl bei diesem Thema in Europa schon ein Konsens hergestellt
war. Wie kommen Sie eigentlich dazu, das europäische
Sozialmodell nicht zu akzeptieren?
({5})
Wie kommen Sie eigentlich dazu, die Initiativen der Europäischen Union nicht zu unterstützen? Bundesarbeitsministerin von der Leyen versteckt sich hinter Herrn
Rösler. Von Herrn Rösler erwarten wir nichts; das ist
klar.
({6})
Aber von Frau von der Leyen würden wir erwarten, dass
sie ihre Aufgabe wahrnimmt und im Rahmen der Verhandlungen des Ministerrats der Europäischen Union die
Position zumindest so formuliert, dass wir in die Lage
versetzt werden, unseren Aufgaben gerecht zu werden.
Ich sage Ihnen: Bei den OECD-Leitsätzen haben Sie
gebremst; sie kamen trotzdem. ILO-Kernarbeitsnormen
gibt es schon seit dreißig Jahren. Sie jetzt umzusetzen,
das ist unsere Verantwortung, und dafür kämpfen wir.
({7})
Unser Vorschlag lautet deshalb: Verbindlichkeit, Transparenz und Vergleichbarkeit. Wenn Sie das alles nicht
wollen, ist es, glaube ich, an der Zeit, dass wir Sie ablösen. Sonst wird es mit der Welt und dem, was wir brauchen, nichts.
({8})
Wenn Europa sich auf den Weg macht, die Arbeitsbedingungen -
Kollegin Roth, Sie haben im Eifer der Rede offensichtlich das Signal übersehen; aber Sie müssten bitte
zum Schluss kommen.
({0})
- Ich kann mir vorstellen, dass Sie das nicht hören
mögen.
Das müssen Sie jetzt wirklich an einem anderen Ort
weiter klären.
Ich sage Ihnen: Das, was notwendig ist, wird kommen, auch ohne Sie.
({0})
Der Kollege Peter Weiß hat jetzt für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass bis zum heutigen Tag in manchen Regionen
dieser Welt katastrophale Arbeitsverhältnisse herrschen,
grundlegende Arbeitnehmerrechte nicht geachtet werden, Menschen in Schuldknechtschaft ausgebeutet werden, Kinder nicht in die Schule können, sondern unter
unwürdigen Produktionsverhältnissen in Fabriken geschickt werden, das ist ein Skandal, den wir als Deutscher Bundestag zu Recht anprangern.
({0})
Wer aber nach der Lösung fragt, der sollte die Verantwortungen klar und eindeutig benennen. Es gibt sicher
eine Verantwortung der Unternehmen. Nehmen wir zum
Beispiel die sogenannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation. Durch die Ratifizierung
dieser Konventionen werden diese unmittelbar geltendes
nationales Recht. Das gilt auch für Deutschland, das gilt
aber auch für jedes andere Land dieser Welt.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist
zuallererst die Pflicht von Unternehmen in den jeweiligen Ländern, sich an Recht und Gesetz zu halten, und es
ist zuallererst die Zuständigkeit der dortigen nationalen
Regierungen, dafür zu sorgen, dass Recht und Gesetz in
ihren Ländern auch durchgesetzt werden. Da liegt die
erste Verantwortung.
({1})
Aus dieser ersten Verantwortung können wir die Regierenden der Staaten dieser Welt nicht entlassen.
({2})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind
gerade wir Deutsche mit unseren Instrumenten der internationalen Zusammenarbeit dabei, Regierungen, die
schwach sind, die diese Rechte und Gesetze nicht durchsetzen können, zu unterstützen. Das geschieht durch
mehrere Programme der Regierungsberatung, zum Beispiel durch den Aufbau funktionierender Umweltministerien und Umweltverwaltungen. Das ist ein großes Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
Wir sind auch unterwegs zum Beispiel mit unseren
politischen Stiftungen. Hier darf ich namentlich die
Friedrich-Ebert-Stiftung nennen, die dabei ist, mit ihrem
Gewerkschaftsprogramm Gewerkschaftsbildung überall
in den Ländern dieser Welt zu unterstützen, weil funktionierende Gewerkschaften ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung sozialer Arbeitsbedingungen sind.
({3})
Also: Zuallererst - ich glaube, da kann man der deutschen internationalen Zusammenarbeit nichts vorwerfen;
da sind wir vorbildlich - kommt es darauf an, dass die
Länder dieser Welt selber dafür sorgen, dass soziale und
ökologische Standards, dass das geltende Recht in diesen Ländern - Indien hat eine moderne Arbeitsgesetzgebung; sie wird nur nicht eingehalten -, dass eine solche
moderne Gesetzgebung eingehalten, kontrolliert und
durchgesetzt wird. Das ist das Allererste, da liegt die
erste Verantwortung.
({4})
Das Zweite ist: Zu Recht appellieren wir an die Verantwortung auch der Unternehmen, übrigens auch der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich glaube, auch dafür können wir gute Beispiele nennen. Denken Sie an
das Thema Kinderarbeit beim Knüpfen von Teppichen.
({5})
- Langsam. - Wir waren es, die zum Beispiel mit deutscher Hilfe finanziell geholfen haben, ein Siegel wie
Rugmark einzuführen, damit Verbraucherinnen und Verbraucher sehen: Dieses ist okay und jenes ist nicht okay. So sind wir auch in vielen anderen Bereichen bereit und
in der Lage, mit deutscher Hilfe solche Siegel mit zu begründen und mit zu unterstützen, die eine Unterscheidung möglich machen.
Sie sollten nicht verschweigen, dass wir in der letzten
Legislaturperiode des Deutschen Bundestages das Vergaberecht verändert haben. Heute können bei öffentlichen Ausschreibungen ökologische und soziale Standards hineingeschrieben werden. Das ist eine große
Veränderung und eine wichtige Reform, die wir in der
letzten Legislaturperiode miteinander beschlossen haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Strategie, verantwortungsbewusste Unternehmensführung
unter dem Kürzel CSR überall zu etablieren, geht es bei
uns in Deutschland und in Europa darum, dass Unternehmen zusätzliches Engagement erbringen für die Gesellschaft, für soziale Standards, für Ökologie. Dass sich
Unternehmen bei uns an Gesetze halten, ist für uns eine
Selbstverständlichkeit.
Peter Weiß ({6})
({7})
Sie sollen mehr leisten. Deswegen ist die CSR-Strategie
sowohl national als auch europäisch darauf ausgerichtet,
dass Unternehmen freiwillig mehr tun und selbstverständlich auch für sich und ihre Produkte werben können.
({8})
Die Bundesregierung hat den CSR-Preis, der demnächst in vier unterschiedlichen Kategorien verliehen
wird, ausgeschrieben, damit sich Unternehmen bewerben und zeigen können: Jawohl, wir machen freiwillig
mehr. - Mit diesem Preis werden gute Beispiele herausgestellt; denn nichts wirkt besser als gute Beispiele.
({9})
Hier ist zu Recht die Verantwortung der großen international tätigen Unternehmen angesprochen worden. Es
geht aber natürlich genauso um die Unternehmen kleinerer Struktur. Deswegen ist es ein wichtiger Bestandteil
der CSR-Strategie in Deutschland, dass wir gerade mittlere und kleinere Unternehmen durch Qualifizierungsmaßnahmen unterstützen, damit auch sie Konzepte für
verantwortliche Unternehmensführung in ihren Betrieben einführen können.
Es wird nun gefordert, wir sollten Berichtspflichten
im Hinblick auf soziale und ökologische Standards
durch europäische Gesetzgebung verbindlich vorschreiben. Hier muss man sich allerdings die Frage stellen,
was unsere bisherige Erfahrung ist. Wenn wir ehrlich
sind, dann ist unsere bisherige Erfahrung mit internationalen und europäischen Vorschriften dieser Art, dass
letztlich Mindeststandards definiert werden. Ich sehe die
große Gefahr, dass das zusätzliche freiwillige Engagement, dass wir jetzt schon ausgelöst haben, kaputtgemacht wird, wenn sich alle nur noch an Mindeststandards à la Europa oder internationalen Mindeststandards
ausrichten.
({10})
Deswegen muss man sich ehrlich die Frage stellen, ob
das nicht ein Schuss in den Ofen wäre, wodurch das, was
wir durch die CSR-Strategie national in Gang gesetzt haben, zu einem guten Teil wieder ad acta gelegt werden
würde, weil man sich nur noch an die Berichtspflichten
hält, die in einer europäischen Richtlinie stehen, während der Rest vergessen wird.
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin deshalb
der Überzeugung, dass wir mit unserem Weg der nationalen CSR-Strategie, auf dem wir verantwortungsbewusste Unternehmensführung in Unternehmen bei uns in
Deutschland und international befördern, auf dem wir
kleinen und mittleren Unternehmen Qualifizierungsangebote machen, damit sie ebenfalls an dieser Strategie
teilhaben und sie bei sich umsetzen können, und auf dem
wir gute Beispiele öffentlich belobigen und herausstellen, international wie national mehr Erfolg haben werden als durch kleinkarierte Vorschriften, weil durch verantwortungsbewusste Unternehmensführung mehr für
Ökologie, mehr für die Gesellschaft, mehr für die sozialen Verhältnisse und mehr für die soziale Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer getan wird.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Transparenz für soziale
und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen -
Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Ar-
beits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene
einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12110, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11319 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird die Überweisung
des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/11686 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e sowie
die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Modernisierung des Kostenrechts ({0})
- Drucksache 17/11471 -
Überweisungsvorschlag:-
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts
- Drucksache 17/11472 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsidentin Petra Pau
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Kostenhilfe für Drittbetroffene in
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte ({2})
- Drucksache 17/11211 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({3})-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe
({4})
- Drucksache 17/1216 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({5})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beratungshilferechts
- Drucksache 17/2164 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Erfolgsbezugs im Gerichtsvollzieherkostenrecht
- Drucksache 17/5313 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Josef Philip Winkler, Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kostenrechtsmodernisierung bei Vertretung in
Asylverfahren und Übersetzungsleistungen
nachbessern
- Drucksache 17/12173 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein bezahlbarer Zugang zum Recht
für die Bürgerinnen und Bürger und eine gut funktionierende Justiz sind wesentliche Standortvorteile für
Deutschland. Diese müssen wir auch in Zukunft erhalten.
({0})
Mit dem Ihnen heute zur Beratung vorliegenden Gesetzentwurf soll die in ihren Grundzügen noch aus dem
Jahr 1936 stammende Kostenordnung endlich durch ein
modernes Gerichts- und Notarkostengesetz ersetzt werden. Ebenso werden die Vorschriften der Justizverwaltungskosten zeitgemäß neu geregelt und die alten Normierungen von 1940 abgelöst.
Das neue Gerichts- und Notarkostengesetz - es regelt
zum Beispiel die Gebühren in Grundbuch- und Nachlasssachen - wird moderner, einfacher, transparenter.
Die Regelungen werden an die veränderten europäischen
Anforderungen und die Entwicklung im Bereich der
elektronischen Datenverarbeitung angepasst. Also: Wir
schaffen auch mehr Rechtssicherheit.
({1})
Im Bereich der Gerichtskosten werden die derzeit
über die gesamte Kostenordnung verteilten Wertregelungen zusammengeführt und systematisiert. Wir wollen
damit Schwierigkeiten bei der Streitwertbestimmung minimieren, und wir hoffen, dass sie entfallen. In gerichtlichen Streitsachen sollen die Gerichtsgebühren um
durchschnittlich 12 Prozent steigen, gleichmäßig über
die Instanzen. Berufungen werden nicht zusätzlich verteuert.
Auch das neue Notarkostenrecht wird transparenter.
Zum Beispiel entsteht bei jedem Beurkundungsvorgang
künftig nur eine Verfahrensgebühr. Zur Modernisierung
des Kostenrechts gehört auch die Anpassung der Gebühren, Honorare und Entschädigungen in allen Justizkostengesetzen. Dazu gehören auch die Anwaltsgebühren.
Seit über acht Jahren sind die Vergütungen für Anwälte
unverändert geblieben. Linear wurden sie zuletzt 1994
angehoben. Bei den Notaren liegt das inzwischen
25 Jahre zurück. Die Vergütungen werden nun der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst.
Die Honorare der Sachverständigen und Dolmetscher
richten sich zukünftig nach den Marktpreisen. Auf der
Grundlage einer umfassenden Marktanalyse sollen in
diesen Bereichen die Honorare, orientiert an der aktuellen Marktsituation, neu festgesetzt werden. Das gilt auch
für die Übersetzer, für die sich Bündnis 90/Die Grünen
in ihrem Antrag verwenden und die wir nicht anders als
die übrigen Gruppen behandeln.
Die Erwartungshaltung ist, dass sich damit jährliche
Mehreinnahmen der Länder von geschätzten 177 Millionen Euro netto ergeben werden.
Insgesamt geht es bei diesem nüchternen Thema, bei
dem wir uns mit vielen Zahlen befassen, darum, mehrere
berechtigte Anliegen zu einem vernünftigen Kompromiss zusammenzuführen, nämlich dem berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, dass für sie Justiz
bezahlbar bleibt und sie den Zugang zum Recht haben.
({2})
Aber genauso - wir haben darüber intensiv Gespräche
geführt - werden auch die Anliegen der Landesjustizverwaltungen, der Länderjustizministerinnen und -minister
berücksichtigt, die immer auch die Kosten der Justiz im
Blick haben müssen, die zwar natürlich nicht ganz, aber
in einem gewissen Umfang durch die Gebühren gedeckt
werden. Wir müssen sehen, dass die, die wichtige Beratungsaufgaben wahrnehmen, auch als Organ der Rechtspflege, in diesem Paket entsprechend berücksichtigt
werden.
Ich glaube, wir haben einen guten Vorschlag gemacht,
der hoffentlich mit Ihrer Unterstützung den Bundestag
passiert und dann natürlich in Abstimmung mit den Vertretern der Länder auch im Bundesrat auf Zustimmung
stößt.
({3})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
beraten heute in erster Lesung noch über einen zweiten
Gesetzentwurf, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts. Damit soll sichergestellt werden, dass die - hierauf haben die Länder seit vielen Jahren immer wieder
hingewiesen - eher begrenzten staatlichen Mittel denjenigen zukommen, die sie wirklich benötigen. Um eine
Größenordnung zu nennen: Aktuell beläuft sich die Prozesskostenhilfe auf ungefähr 500 Millionen Euro jährlich. Die Prozesskostenhilfe ist eine wichtige soziale Errungenschaft. Natürlich muss sie erhalten bleiben. Vor
diesem Hintergrund hat die Bundesregierung einen etwas anderen Ansatz gewählt, als wir ihn im Bundesratsentwurf finden. Ich verstehe die Länder, dass sie ihren
Blick auf die Länderjustizhaushalte richten. Wir haben
einen etwas anderen Zugang gewählt. Wir sagen im Regierungsentwurf ausdrücklich - eine missverständliche
und falsche Berichterstattung ist hier klar zu korrigieren -:
Für sozial Schwächere, also für Menschen, die Hartz IV
oder Sozialhilfe beziehen, wird es keine Änderungen geben.
({4})
Sie werden auch künftig ratenfreie Prozesskostenhilfe
erhalten, wenn dafür die Voraussetzungen vorliegen. Der
Entwurf lässt den Freibetrag für den Antragsteller, der
10 Prozent über dem höchsten Sozialhilferegelsatz liegt,
völlig unangetastet.
Wer dagegen wirtschaftlich in der Lage ist, einen Beitrag zur Rückzahlung der gewährten Prozesskostenhilfe
zu leisten, soll dies künftig in einem etwas größeren Umfang tun als nach geltendem Recht; denn durch die Prozesskostenhilfe soll derjenige, der es nötig hat, dem
Durchschnittsverdiener gleichgestellt, aber nicht bessergestellt werden. Das ist übrigens ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wer zur Finanzierung eines Prozesses beitragen kann, der soll das
Prozessrisiko im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit tragen und nicht vollständig auf den Staat abwälzen können. Unter diesem Gesichtspunkt enthält der Gesetzentwurf eine Reihe von Änderungen, die die Gerichte
besser als bisher in die Lage versetzen sollen, die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Antragstellers zu überprüfen.
Außerdem soll der zusätzliche Freibetrag für Erwerbstätige - darauf beziehen sich die Änderungen,
nicht auf die Antragsteller, die Hartz IV oder Sozialhilfe
beziehen - von 50 auf 25 Prozent des höchsten Regelsatzes nach SGB XII gesenkt werden. Die Absenkung des
Freibetrags - daran entzündet sich die Diskussion - führt
dazu, dass es ab einem bestimmten Einkommensniveau
häufiger dazu kommen kann, dass die gewährte Prozesskostenhilfe in Raten zurückzuzahlen ist, vielleicht auch
nur teilweise. Wir begrenzen - anders als im Bundesratsentwurf - die Ratenzahlungshöchstdauer auf insgesamt
72 Monate. Wir wollen nicht, dass ein Empfänger von
Prozesskostenhilfe lebenslang rückzahlungspflichtig
bleibt. Das ginge uns in diesem Zusammenhang zu weit.
({5})
Wir haben auch nicht die Regelung übernommen, wonach ein Empfänger von Prozesskostenhilfe erstrittenen
Unterhalt, wenn er also Ansprüche durchgesetzt hat,
nicht zur Sicherung seines Existenzminimums, sondern
vorrangig zur Rückzahlung der Prozesskostenhilfe aufwenden müsste. Das sehen wir nicht vor, weil wir gerade
wollen, dass jemand, der eine Leistung zu Recht erstritten hat, diese für die Verbesserung seines Existenzminimums verwenden kann.
Es gibt also einige Unterschiede im Vergleich zum
Bundesratsentwurf, aber auch viele Übereinstimmungen.
Es ist eben ein etwas anderes Herangehen, das wir vonseiten der Bundesregierung gewählt haben. Ich halte das
für vertretbar und angemessen und freue mich auf eine
engagierte Debatte dieser beiden komplexen Gesetzgebungsvorhaben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Ministerin für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Angela Kolb.
({0})
Dr. Angela Kolb, Ministerin ({1}):
Frau Präsidentin! Frau Bundesministerin der Justiz!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Wir sind uns alle einig: Was wäre unsere Demokratie
ohne einen funktionierenden Rechtsstaat? - Was brauchen wir dafür? Eine gut ausgestattete, eine funktionsfähige Justiz. Rechtsgewährleistungsanspruch heißt für die
Bürger natürlich Zugang zum Recht, bedeutet aber auch
kurze Verfahrensdauern. Was brauchen wir, um im Sinne
der Bürger möglichst kurze Verfahrensdauern zu gewährleisten? Wir brauchen eine angemessene Personalausstattung. Wenn man sich den Personalkörper der Jus27160
Ministerin Dr. Angela Kolb ({2})
tiz in den einzelnen Bundesländern anschaut, stellt man
fest, dass eine angemessene Personalausstattung schon
heute nicht überall vorhanden ist.
Die Länder sind nicht untätig. Wir haben in den letzten Jahren viel investiert, um den Bürgerinnen und Bürgern moderne Dienstleistungen auch im Bereich der Justiz anbieten zu können. Das Handelsregister funktioniert
nur noch elektronisch, wir haben ein elektronisches
Mahnverfahren, elektronische Postfächer, und wir haben
den Beschluss gefasst, bis zum Jahr 2020 einen umfassenden elektronischen Rechtsverkehr umzusetzen. Wie
wir das hinbekommen, wissen wir heute noch nicht;
denn woher das Geld dafür kommen soll, steht in den
Sternen. Angesichts der Situation der Länderhaushalte,
auch vor dem Hintergrund der beschlossenen Schuldenbremse, steht Geld nun einmal nur beschränkt zur Verfügung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bedarf
also keiner großen Debatte darüber, ob eine Kostenrechtsmodernisierung notwendig ist. Sie ist dringend
notwendig. Leider bleibt der Entwurf der Bundesregierung in einigen Punkten hinter den Erwartungen der
Länder zurück. Wir haben ernsthaft Sorge, ob uns auch
zukünftig die notwendigen Ressourcen zur Verfügung
stehen, um auch dann den Justizgewährleistungsanspruch in hoher Qualität erfüllen zu können.
({3})
Das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz soll ja einen langen Prozess abschließen, der 2001 begonnen hat.
Ziel war die Vereinfachung und mehr Transparenz. Ich
glaube, dieses Ziel ist in großen Teilen auch erreicht
worden. In diesem letzten großen Komplex geht es jetzt
um sehr schwierige Fragen. Das hat die Bundesministerin völlig zu Recht angeführt. Es geht im Wesentlichen
um die Erhöhung der Anwaltsgebühren und der Gerichtsgebühren. Es geht richtigerweise zunächst einmal
um die Frage, inwieweit ein Inflationsausgleich notwendig ist.
Die Anwaltsgebühren sind seit 1994 nicht linear erhöht worden. Wenn man sich demgegenüber die Kostensteigerungen bei Personal, Energie und Mieten anschaut,
ist aus unserer Sicht eine Erhöhung notwendig. Anwälte
sind ein essenzieller Bestandteil des Rechtsstaates. Sie
gewährleisten den Zugang des Bürgers zum Recht. Daher haben sich die Länder für eine Gebührenerhöhung
ausgesprochen.
({4})
Im Hinblick auf den zweiten Teil, die Erhöhung der
Gerichtsgebühren, sehen wir die Entwicklung etwas anders als die Bundesministerin der Justiz. Wir haben versucht, nachzuvollziehen, wie man auf die geschätzte Erhöhung um 177 Millionen Euro auf der Einnahmeseite
kommt. Wir sehen das anders. Wir haben die Befürchtung, dass nach Inkrafttreten des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes, sofern es in dieser Form in Kraft treten sollte, die Ausgaben für die Justiz steigen. Das heißt,
dass sich der Kostendeckungsgrad der Justiz weiter verschlechtern wird. Der Kostendeckungsgrad der Justiz hat
sich in den letzten Jahren von ursprünglich 48 Prozent
auf ungefähr 44 Prozent verschlechtert. Länder wie
Sachsen-Anhalt liegen schon bei 33 Prozent. Das zeigt,
dass uns immer weniger Geld für die Justiz zur Verfügung steht.
Wir sind der Meinung, dass die Gebührenerhöhung,
die für die Anwälte zu Recht mit diesem Gesetzentwurf
umgesetzt werden soll, auch für die Gerichte gelten
muss. Wir sind nicht der Meinung, dass das dazu führt,
dass die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft keinen Zugang mehr zum Recht haben. Wenn man unterstellen
würde, dass das der Fall wäre, müsste man annehmen,
dass bereits vor 1994, also vor der letzten Änderung der
Wertgebühren, ein verfassungswidriger Zustand bestanden hätte, weil wir nur den Ausgleich im Hinblick auf
die Inflation, auf die tatsächlich erhöhten Kosten fordern. Insoweit appelliere ich an dieser Stelle nochmals,
dafür Sorge zu tragen, dass das, was zu Recht für die Anwälte gelten soll, auch für die Justiz gilt.
Die Länder fordern eine Steigerung der Gerichtsgebühren im GKG und im FamGKG um 20 Prozent. Das
entspricht gerade einmal einem angemessenen Inflationsausgleich, versetzt uns in die Lage, auch in Zukunft
qualitativ hochwertige Justizdienstleistungen anzubieten, und bietet die Gewähr, dass sich die Personalausstattung in den einzelnen Ländern in Zukunft nicht weiter
verschlechtert.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass sich die Justizministerinnen und Justizminister der Länder schon einige Jahre mit dem Thema „Kostendeckungsgrad der
Justiz“ beschäftigen. Wir haben im Rahmen der Justizministerkonferenz im Jahre 2010 einen Beschluss gefasst, der die Sorge zum Ausdruck bringt, dass sich der
Kostendeckungsgrad immer weiter verschlechtert. Unsere Erwartungen, die aus unserer Sicht auch berechtigt
sind, werden mit diesem Gesetzentwurf deutlich verfehlt.
Lassen Sie mich abschließend noch auf eine Besonderheit hinweisen, die zu einer zusätzlichen Verschlechterung der Situation in den strukturschwachen Ländern
führt. Die Gebührenerhöhungen, beispielsweise in wertträchtigen Grundbuch- und Nachlasssachen, schlagen
hier kaum zu Buche, weil die Gegenstandswerte weit unter dem Bundesdurchschnitt liegen und auch die Anzahl
der entsprechenden Verfahren insgesamt tendenziell
rückläufig ist, sodass wir in diesem Bereich kaum wertträchtige Verfahren haben.
Mit Blick auf die Schuldenbremse in den Länderhaushalten dürfen die berechtigten Forderungen der Länder
nach einer deutlichen Verbesserung des Kostendeckungsgrades nicht ignoriert werden. Ich möchte deshalb heute auch hier im Bundestag die Gelegenheit nutzen, diesen Appell zu erneuern. Dieses Thema hat nicht
an Aktualität verloren. Ich möchte Sie an dieser Stelle
ermutigen, im Sinne der Stellungnahme des Bundesrates
über Nachbesserungen zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nachzudenken.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: erstens Vereinfachung und Verbesserung des Kostenrechts; zweitens Anpassung der
Vorschriften, die sich mit Entschädigungen und Vergütungen beschäftigen, insbesondere bei Rechtsanwälten,
Notaren, Sachverständigen, Dolmetschern und Übersetzern; und drittens die Sicherstellung eines ausreichenden
Kostendeckungsgrades.
Im Einzelnen: Die neue Regelung soll die Gerichte
entlasten und eine einheitliche Rechtsanwendung sicherstellen. Dabei bilden die Modernisierung des Gerichtskostenrechts für die freiwillige Gerichtsbarkeit und die
Modernisierung des Notarkostenrechts den Schwerpunkt. Die bisherige Kostenordnung - die Ministerin hat
es erwähnt - ist wirklich in die Jahre gekommen und
muss neu gestaltet werden. Die Gesetzesnovelle berücksichtigt die Anforderungen des zusammenwachsenden
Europas und der elektronischen Datenverarbeitung.
Die Kostenordnung wird durch das Gerichts- und
Notarkostengesetz abgelöst. Die Regelungen für Gerichte und Notare werden jetzt deutlich voneinander getrennt; sie waren vorher total ineinander verwoben. Gleiches gilt für Gebühren- und Auslagentatbestände. Die
Gebührenstruktur hinsichtlich der Notarkosten wird vereinfacht. Zahlreiche neue Geschäftswertvorschriften, die
zum Teil aus der Kostenrechtsprechung resultieren, die
sehr umfangreich war und die Gerichte teilweise extrem
belastet hat, werden in dem Gesetz aufgeführt. Zugleich
werden Auffangtatbestände beseitigt und die Gebührenregelungen leistungsorientierter ausgestaltet.
Auch das Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz wird angepasst. Insbesondere wird die Sachgebietsliste zur Eingruppierung der Sachverständigen eindeutiger gefasst. In der gerichtlichen Praxis traten auch hier
bislang erhebliche Abgrenzungsprobleme auf.
Meine Damen und Herren, wer gute Arbeit leistet,
sollte zumindest im Regelfall auch eine angemessene
Vergütung dafür erhalten.
({0})
- Bitte, Sie können gern applaudieren. - Deshalb ist natürlich nachvollziehbar, dass sich auch die betroffenen
Berufsgruppen sehr intensiv an unserem Gesetzgebungsprozess beteiligen.
Die vorgesehenen Änderungen im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz wurden kritisch begleitet von der Anwaltschaft, insbesondere von der Bundesrechtsanwaltskammer und dem Deutschen Anwaltverein, die ihre
Kritikpunkte in einer gemeinsamen Stellungnahme sehr
ausführlich dargelegt haben. Beispielsweise führt die
Einführung weiterer Streitwertstufen zu niedrigeren Gebühren als bisher, auch wenn wir eigentlich eine Erhöhung anstreben. Die zusätzliche Gebühr für umfangreiche Beweisaufnahmen dagegen spielt in der Praxis kaum
eine Rolle, weil sie erst ab dem dritten Termin gegeben
werden soll, Prozesse normalerweise allerdings kaum
mehr als zwei Termine haben.
Auch von Sachverständigen kommt Kritik. Dadurch,
dass die Sachgebietsliste klarer und enger gefasst wird,
kann es im Einzelfall dazu kommen, dass Sachverständige weniger Honorar einnehmen als vorher. Das liegt
aber nicht daran, dass der Gesetzentwurf falsch ist, sondern daran, dass bisher eine Eingruppierung in eine Honorarstufe erfolgte, die nach den Marktpreisen eigentlich
nicht berechtigt war.
Fast alle Beteiligten sehen im Ergebnis das vorliegende Gesamtpaket positiv und drängen auf eine
schnelle Verabschiedung. Die letzte echte Gebührenerhöhung - das haben wir schon gehört - war im Jahr
1994. Es folgte im Jahr 2004 eine strukturelle Veränderung des Gesetzes. Sie hat in den meisten Fällen, aber
nicht in allen Fällen zu höheren Gebühren geführt.
Der durchschnittliche Überschuss eines Einzelanwalts pro Monat liegt zurzeit bei 3 300 Euro. Zieht man
die Beiträge für das Versorgungswerk, die Krankenversicherungsbeiträge und die Steuern ab, landet man bei einem monatlichen Nettobetrag von ungefähr 1 700 Euro.
Die Zahl spricht für sich selbst. Nach neun Jahren ist es
an der Zeit, eine Erhöhung auf den Weg zu bringen, die
letztlich mehr als einen reinen Inflationsausgleich darstellt.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle noch etwas zum Stichwort „kalte Progression“. Der durchschnittliche Rechtsanwalt rutscht aufgrund des progressiven Steuertarifs in eine höhere Stufe, sodass ihm noch
nicht einmal der volle Inflationsausgleich verbleibt,
wenn wir den Gesetzentwurf so verabschieden wie jetzt
angedacht. Die Koalitionsfraktionen haben auch an der
Stelle kein Verständnis dafür, dass der Bundesrat das Gesetz zum Abbau dieser nachteiligen Folge, also der kalten Progression, verhindert hat.
({1})
- Es kommt noch etwas anderes. - Betroffen sind nicht
nur Arbeiter und Angestellte, sondern auch, wie Sie hier
sehen, Selbstständige mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Meine Damen und Herren, auch wenn der vorliegende
Gesetzentwurf im Wesentlichen in Ordnung ist und eine
gute Kompromisslösung darstellt, so ist mir doch eines
aufgefallen: Beim Honorar für die Übersetzer ist noch ein
deutliches Missverhältnis gegeben. Das erkennt man,
wenn man vergleicht, was am Markt erzielbar ist und was
wir vorsehen. Ich denke, bis zur zweiten Lesung sollten
wir hier noch an einer Stellschraube drehen.
({2})
Das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz wird zu
einer Erhöhung des Kostendeckungsgrades führen. Dieser ist in den vergangenen Jahren - das haben wir gehört;
das stimmt - unter 50 Prozent gerutscht. Jetzt hat die
Bundesregierung auf der Grundlage von Datenmaterial
gerechnet, das die Länder zur Verfügung gestellt haben,
und ist im Ergebnis zu einem Deckungsgrad von über
51 Prozent gekommen. Deshalb kann ich die Argumentation Ihrer Rede, Frau Dr. Kolb, nicht nachvollziehen.
Höhere Gerichtskosten, wie vom Bundesrat gefordert,
in einem zusätzlichen Volumen von 230 Millionen Euro
erschweren nicht nur den Zugang zur Justiz und zum
Recht; sie würden auch die Belastung für Bürger und
Wirtschaft gegenüber dem, was der Regierungsentwurf
vorsieht, fast verdoppeln.
Man muss sich eines verdeutlichen: Wir leben in einem föderalen Staat. Es gibt Finanzierungsaufgaben und
Querfinanzierung. Es ist selbstverständlich, dass die
Länder, die für die Justiz zuständig sind, auch für die Finanzierung aufzukommen haben.
({3})
Der volle Betrag ist nur durch einen Teilbetrag abgedeckt, um den Zugang zum Recht nicht zu erschweren.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn ich das Feilschen
einiger Bundesländer - ich habe die Signale ja schon
wieder verstanden - um eine weitere Anhebung der
Gerichtskosten sehe, kann ich mir am Schluss meiner
Rede nicht verkneifen, auch auf das vom Bundesrat verhinderte Besteuerungsabkommen mit der Schweiz zu
verweisen. Das habe ich jetzt auch noch eingebunden.
({5})
Zum Jahreswechsel, am 31. Dezember 2012, sind
Steuerforderungen des Staates in einer Größenordnung
von 1 Milliarde Euro verjährt.
({6})
Wir hätten durch das Besteuerungsabkommen 10 Milliarden Euro generiert, die wir den Ländern zur Verfügung gestellt hätten.
({7})
Das hätte ausgereicht, um den Mehrbetrag von 230 Millionen Euro, den sie jetzt fordern, ohne Zins und Zinseszins für 43 Jahre - ich betone: 43 Jahre - abzudecken.
({8})
Mein dringender Appell an Sie, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, und an die Mitglieder
des Bundesrates: Wir haben in diesem Jahr zwar
Bundestagswahl, aber die Kostenrechtsmodernisierung
ist zu wichtig. Sie darf keinem wahltaktischen Kalkül
zum Opfer fallen
({9})
wie bereits das Gesetz zur kalten Progression, die steuerliche Entlastung bei der energetischen Sanierung und das
Besteuerungsabkommen mit der Schweiz.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Jens Petermann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Mit den heute zu beratenden Gesetzentwürfen wird der justizpolitische Endspurt der Legislatur
eingeläutet. Neben einigen Verbesserungen planen Sie
aber auch Regelungen, die wieder einmal zu erheblichen
Nachteilen für Bürgerinnen und Bürger führen können.
Die Zeit ist knapp bemessen. Deswegen will ich mich
auf ein paar kritische Punkte beschränken.
Mit den geplanten Änderungen im Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferecht wollen Sie eine angeblich
weitverbreitete, missbräuchliche Inanspruchnahme von
Prozesskostenhilfe verhindern.
({0})
Denken Sie bitte daran, dass Prozesskostenhilfe von
Menschen benötigt wird, die mit ihrem kärglichen
Einkommen kaum über die Runden kommen und sich
deshalb die Kosten eines Gerichtsverfahrens nur allzu
häufig nicht leisten können. Betroffen sind Menschen,
die gezwungen sind, für Hungerlöhne zu arbeiten, und
vor allem Bezieher von Leistungen nach dem SGB II.
Das sind Menschen, die unter der mangelhaften Hartz-IVGesetzgebung schon genug zu leiden haben.
Frau Ministerin, Sie sagten, dass diese Menschen gerade nicht betroffen sein sollen.
({1})
Daran habe ich erhebliche Zweifel. Wir haben aus den
Entwürfen etwas anderes herausgelesen. Ich denke, dass
wir an der Stelle noch einmal diskutieren müssen. Sie
verfolgen aus unserer Sicht eine andere Zielrichtung: Je
weniger Prozesskostenhilfe, umso weniger Klagen und
Verfahren, vor allem vor den überlasteten Sozialgerichten, und desto weniger Personalbedarf bei den Gerichten. Sie machen hier letzten Endes den Job der Landesfinanzminister.
Kostenersparnis für die Landeshaushalte ist das Ziel.
So steht es jedenfalls schwarz auf weiß in Ihrem Gesetzentwurf. Sie begründen Ihren Entwurf mit den Initiativen aus dem Bundesrat und gestiegenen Aufwendungen
für Prozesskostenhilfe in den Jahren 2003 bis 2005. Eine
Einschränkung der Leistungen, die sich schon am verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß bewegen,
stößt jedenfalls auf unseren entschiedenen Widerspruch.
({2})
Die Linke tritt vielmehr dafür ein, den Sparkurs bei der
Justiz zu beenden. Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe müssen deshalb ausgebaut und dürfen nicht weiter
eingeschränkt werden.
({3})
Wenn Sie sich endlich einmal um einen existenzsichernden Mindestlohn kümmern würden,
({4})
könnten viel mehr Menschen die Kosten eines Verfahrens aufbringen, und die Staatskasse wäre deutlich
entlastet.
({5})
Es kann also nicht nur um ein Mindestgebühreneinkommen für Rechtsanwälte gehen. Es muss letzten Endes
auch um einen existenzsichernden Mindestlohn gehen.
Das muss man immer mitdenken.
Im Einzelnen sollen die Freibeträge abgesenkt, die
Ratenzahlungshöchstdauer verlängert und die Prozesskostenhilferaten neu berechnet werden, um die Hilfesuchenden stärker an der Finanzierung der Prozesskosten zu beteiligen. Ich sehe hier die Gefahr, dass
Geringverdienern oder speziell auf Transferleistungen
angewiesenen Menschen der Weg zu einem gerichtlichen Rechtsschutz deutlich erschwert wird. Der Zugang zum Recht und zu den Gerichten ist grundgesetzlich garantiert und darf nicht an der Größe des
Geldbeutels scheitern.
({6})
Das wäre der Weg in eine verfassungswidrige Zweiklassenjustiz.
Leider ist der Entwurf nicht nur unsozial, sondern
auch handwerklich mangelhaft. So fehlt es bei der Definition der Mutwilligkeit an klaren Kriterien, wann die
Inanspruchnahme als mutwillig anzusehen ist. Es bleibt
damit der durchaus schale Beigeschmack eines neoliberalen Murksentwurfes, der übrigens selbst in Ihren eigenen Reihen umstritten ist. Das Beste für diesen Entwurf
wäre also eine stillschweigende Beerdigung.
({7})
Zum 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz. Hier
planen Sie unter anderem die schon lange überfällige Erhöhung der Vergütung von Rechtsanwälten. Dazu ist
bereits einiges gesagt worden; das ist so weit in Ordnung. Gleichzeitig wollen Sie den rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürgern, auch denen, die auf Prozesskostenhilfe angewiesen sind, aber auch in die Tasche
greifen. Der erhöhte Bearbeitungsaufwand bei der Prüfung von Anträgen auf Prozesskostenhilfe und die steigenden Anwaltsvergütungen machen die im Rahmen der
Prozesskostenhilfereform geplanten Einsparungen in
den Landesjustizhaushalten offensichtlich wieder zunichte. Da passt einiges nicht zusammen. Ein schlüssiges
Gesamtkonzept sieht anders aus, verehrte Kolleginnen
und Kollegen.
({8})
Auf der Grundlage eines 588 Seiten umfassenden Gesetzentwurfs sollen die Kostenregelungen einfacher gestaltet und an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst
werden. Dabei handelt es sich um einen Rundumschlag,
der nahezu alle Bereiche der Rechtspflege, gerichtlich
wie außergerichtlich, erfasst.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns alle erreichten in unseren Büros seit der Veröffentlichung der Entwürfe viele Briefe betroffener Bürgerinnen und Bürger
sowie ablehnende Stellungnahmen von Sozialverbänden,
den Verbänden der Anwälte, der Vermessungsingenieure, der Dolmetscher und aus der Richterschaft. Dort
wird viel Kritik geäußert, und nicht jeder sieht dieses
Gesetz als goldenen Wurf. So kritisieren zum Beispiel
die Dolmetscher und Übersetzer, dass ihr Honorar für
die Übersetzung schwerer Texte reduziert werden soll.
Das Honorar beträgt zum Teil nur noch ein Drittel der
Sätze von 1994, als es die letzte Änderung in diesem
Bereich gab; Sie haben es bereits angesprochen, Herr
Kollege. Rechtsanwälte sollen mehr bekommen, Übersetzer indes weniger und sich am freien Markt orientieren? Wo ist da die innere Logik? Auch hier passt einiges
nicht zusammen.
Selbst die Rechtsanwaltschaft sieht trotz finanzieller
Verbesserungen für ihren Stand noch Änderungsbedarf.
So kommt es durch eine Änderung bei der Staffelung der
Streitwerttabelle bei niedrigen Streitwerten in Einzelfällen zu geringeren Gebühren für den Anwalt. Die
neuen Regelungen vermögen es auch nicht, in den Bereichen Sozialrecht und Strafrecht eine ausreichende Kostendeckelung zu erzielen, sodass auch hier Gebührenoder Vergütungsvereinbarungen notwendig sind.
Verbesserungen im Kostenhilferecht gibt es hinsichtlich Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Dass das eine positive Regelung ist,
möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, an dieser Stelle ausdrücklich attestieren.
({9})
Ich begrüße, dass es zukünftig eine Kostenhilfe für drittbetroffene Personen in Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte geben soll. Wenn sich
eine betroffene Person an dem Prozess beteiligen will
und sich die Kosten der Rechtsvertretung nicht leisten
kann, muss sie einen Antrag beim Gerichtshof stellen.
Aufgrund der komplexen Anforderungen benötigt sie
aber bereits für die Antragstellung anwaltliche Unterstützung. Wozu dieses komplizierte Verfahren? Hier
muss noch deutlich nachgebessert werden.
({10})
Die Bundesregierung geht lediglich von einigen
Anträgen pro Jahr aus. Zwar haben Sie eine abstraktgenerelle Regelung aufgeschrieben, sodass man hier
nicht von Einzelfallgesetzgebung sprechen kann. Aber
es ist schon etwas merkwürdig: Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte will die Bundesregierung
glänzen und für eine Handvoll Anträge ein neues Gesetz
einführen; aber 126 000 Geringverdienern will sie die
Beihilfe zu den Kosten des Rechtsstreits vor deutschen
Gerichten kürzen und damit den Zugang zum Recht einschränken. Das ist weder schlüssig noch gerecht. Soziale
Gerechtigkeit darf jedenfalls nicht an der Gerichtspforte
enden.
({11})
Darüber werden wir in den nachfolgenden Anhörungen
reden.
Gestatten Sie mir einen Satz zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Der Vorschlag, die Vergütungen für
Anwälte in Asylverfahren mit den Vergütungen in ausländerrechtlichen Verwaltungsstreitverfahren in Einklang zu bringen, ist ebenso zu begrüßen wie der Vorschlag zu den Honorarsätzen der Übersetzerinnen und
Übersetzer; das unterstützen wir, und hier können Sie
auf uns zählen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, Kolleginnen
und Kollegen.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Hönlinger für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In diesem Hohen Hause besteht mit Sicherheit großer
Konsens darüber, dass der Zugang zum Recht zur demokratischen Grundversorgung jeder Bürgerin und jedes
Bürgers gehört. Um den Zugang zum Recht zu gewährleisten, muss es eine funktionsfähige Justiz geben. Diese
bereitzustellen, und zwar für alle Mitbürgerinnen und
Mitbürger, das ist Aufgabe des Staates.
({0})
Wir debattieren heute über sechs Gesetzentwürfe, bei
denen es, kurz gesagt, um Kosten und um Finanzierung
geht. Ihre Umsetzung soll dazu führen, dass die Länder
aufgrund der Neugestaltung der Gerichtskosten 177 Millionen Euro und aufgrund der Erhöhung der Gerichtsvollziehergebühren weitere 53 Millionen Euro Mehreinnahmen erzielen. Diese Erhöhungen orientieren sich an
der Steigerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten.
Das ist vernünftig. Deshalb kann ich hier mit meiner
Fraktion gern zustimmen.
({1})
Nun kommt aus dem Bundesrat zusätzlich der Vorschlag, dass eine neue Gebühr für Gerichtsvollzieher
eingeführt wird, eine sogenannte Erfolgsgebühr. Meine
Damen und Herren, Gerichtsvollzieherinnen und
Gerichtsvollzieher führen die staatliche Aufgabe der
Zwangsvollstreckung aus. Sie dürfen Wohnungen betreten und unter Umständen sogar körperliche Gewalt anwenden. Zu dieser hoheitlichen Aufgabe passen Erfolgsgebühren nicht. Sie könnten den Eindruck vermitteln,
dass die Gerichtsvollziehergebühren im Vordergrund stehen und nicht die Durchsetzung einer gerichtlich festgestellten Forderung. Mit diesem Vorschlag können wir
Grüne uns deshalb nicht einverstanden erklären.
({2})
Mit einem weiteren Gesetz, über das wir heute auch
debattieren, sollen die Gebühren der Rechtsanwältinnen
und -anwälte, der Notare und Notarinnen sowie die Honorare der Sachverständigen und der Dolmetscher und
Übersetzerinnen an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst werden. Die Notargebühren wurden im Jahr
1986 zuletzt erhöht. Die Anwaltsgebühren wurden zuletzt im Jahr 2004 verändert. Es ist deshalb angemessen,
auch diese Gebühren neu zu regeln.
Einige Berufsgruppen werden aber in Ihrem Gesetz
nicht ausreichend berücksichtigt. Die Vergütung der
Übersetzerinnen und der Sachverständigen sollte noch
einmal überdacht werden. Auch sollten die Gebührenstreitwerte im Asylverfahren den Werten im Ausländerrecht angepasst werden. Bei beiden Verfahrensarten ist
der Arbeitsaufwand der gleiche. Es geht um den Aufenthalt von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland und damit um schwierige menschliche Schicksale. Es gibt keinen sachlichen oder
juristischen Grund, hier mit zweierlei Maß zu messen,
meine Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Jetzt komme ich zu den Gesetzentwürfen, die die
Änderungen im Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferecht betreffen. Frau Kollegin Voßhoff, das ist bestimmt
auch interessant für Ihre Fraktion. Denn eines ist klar:
Ein Gerichtsverfahren kostet Geld. Wer sich einen Anwalt oder ein Gerichtsverfahren finanziell nicht leisten
kann, muss staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können.
Wir gewährleisten das mit der Beratungshilfe und mit
der Prozesskostenhilfe. Doch während die Lebenshaltungskosten im Bundesgebiet steigen, wollen die
Bundesregierung und der Bundesrat die Prozesskostenhilfe und die Beratungshilfe einschränken. Durch Ihre
Vorschläge, meine Damen und Herren, wird der Zugang
zum Recht erheblich erschwert.
Ich nenne Ihnen hierfür drei ganz einfache, aber zentrale Gründe.
Erstens. Rechtsuchende, deren Einkommen über den
Sozialleistungen liegt, sollen mehr Geld für rechtlichen
Beistand bezahlen. Wen trifft diese Neuregelung? - Sie
betrifft vor allem alleinerziehende Frauen, prekär
Beschäftigte oder Erwerbslose. Das thematisieren die
Gewerkschaft Verdi und eine Petition an den Bundestag
zu Recht. Wer wenig Einkommen hat, wird sich dann
dreimal überlegen, ob er oder sie unter diesen Bedingungen einen Prozess riskiert. Das, meine Damen und
Herren, schreckt Rechtsuchende davon ab, ihr Recht in
Anspruch zu nehmen.
({4})
Zweitens. Das Gericht soll eine einmal bewilligte
Prozesskostenhilfe aufheben können, soweit ein Antrag
auf Beweiserhebung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Das verstößt gegen den Grundsatz der nicht
vorwegzunehmenden Beweiswürdigung im Zivilprozess. Genau das ist nicht vorgesehen im Zivilprozess.
Auch dieser Vorschlag von Ihnen verschlechtert die Prozesschancen der finanziell schlechtergestellten Partei.
Drittens. Prozesskostenhilfe wird vor allem in den
Bereichen Familienrecht, Arbeitsrecht und Sozialrecht
beantragt. Hier geht es um Unterhalt, die Arbeitsstelle
oder Sozialleistungen. Gerade für Menschen mit geringem Einkommen ist es wichtig, sich auch in diesen elementaren Bereichen verteidigen zu können. Die geplante
Einschränkung der Prozesskostenhilfe verschiebt aber
die Chancen der Rechtsverfolgung zugunsten des finanziell Bessergestellten.
Mit diesem Gesetzesvorhaben erschweren Sie, meine
Damen und Herren von Bundesregierung und von Bundesrat, finanziell schwächeren Bürgerinnen und Bürgern
das Recht auf rechtliche Vertretung. Wir Grünen lehnen
das ab. Mit uns Grünen gibt es nur eine Rechts- und Justizpolitik mit sozialem Augenmaß.
({5})
Um die Justizhaushalte wirklich zu entlasten, ist es
sinnvoller, die außergerichtliche Streitbeilegung zu stärken. Mit den Stimmen aller Fraktionen hier im Bundestag haben wir in dieser Legislaturperiode das Mediationsgesetz verabschiedet. Darin haben wir vorgesehen,
dass Bund und Länder erforschen können, wie die Länder mit Mediation die Gerichte auch finanziell entlasten
können. Deshalb sollten sich möglichst schnell möglichst viele Bundesländer an den Forschungsvorhaben
beteiligen. Das wäre wirklich innovativ.
({6})
Rechte, meine Damen und Herren, sind nur dann wirkungsvoll, wenn die Bürgerinnen und Bürger sie auch
durchsetzen können. Dazu brauchen sie im Einzelfall anwaltliche oder gerichtliche Hilfe. Mit dem Gesetz zur
Prozesskosten- und Beratungshilfe schaffen Sie eine
Zweiklassenjustiz. Wir Grünen können das nicht akzeptieren. Nach unserer Überzeugung muss der Zugang zum
Recht allen Menschen offenstehen, unabhängig von ihrem Einkommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Hönlinger, der Zugang zum Recht wird
auch mit diesem Gesetz jedem Bürger möglich sein, unabhängig von seinem Einkommen. Wir hätten uns sehr
gewünscht, dass die Debatte, die erforderlich und dringend notwendig ist, etwas sachlicher geführt wird. Das
geht an Ihre Adresse, aber auch an die des Kollegen
Petermann. Ängste bei Menschen zu schüren, die auf
Prozesskosten- bzw. Beratungshilfe angewiesen sind, indem Sie sagen, dass das nicht mehr bezahlt werden kann,
ist einfach ein Stück weit unseriös.
({0})
Ich beschränke mich auf die Prozesskostenhilfe, die
Verfahrenskostenhilfe und Beratungshilfe. Die anderen
Themen hat der Kollege Seif für die Union schon ausgeführt. Wir haben in der ZPO eine Regelung für die Prozesskostenhilfe, im FamFG eine Regelung für die Verfahrenskostenhilfe. Ganz wesentlich belasten die Länder
Verfahren im Rahmen der familiengerichtlichen Auseinandersetzung. Im Beratungshilfegesetz wird eine
staatliche Sozialleistung für eine außergerichtliche Beratung und eine Vertretung gewährt.
Verfassungsrechtlich geschützt ist der Zugang zum
Recht durch den Gleichheitsgrundsatz, das Rechtsstaatsprinzip und den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz,
die im Grundgesetz niedergelegt sind. Dieser Maßstab
ist für uns unabdingbar und steht nicht zur Disposition.
Das wird auch nach wie vor gewährleistet. Alles andere
ist einfach nur Ängsteschüren.
Warum ist die Reform auf den Weg gebracht worden?
Warum debattieren wir das Thema heute? Der Bundesrat
hat sich bereits in der letzten Wahlperiode mit dem
Thema befasst - Sie haben das ausgeführt -, und auch in
dieser Wahlperiode befasst er sich damit. Wir haben die
Vorgaben des Bundesrates bewusst nicht aufgegriffen,
sondern die Regierung hat einen eigenen Gesetzentwurf
gemacht, von dem wir meinen, dass er besser ist und
weitaus weniger Einschnitte für die Menschen gerade im
Bereich der Verfahrenskosten- und Prozesskostenhilfe
bringt. Darauf werde ich gleich noch einmal eingehen.
Sie haben völlig zu Recht die Kostenlast der Länder
angesprochen. Ich darf die Kosten für die Prozesskostenhilfe nennen: bundesweit 2005 495 Millionen Euro; im
Jahr 2010 waren es bereits 509 Millionen Euro. Davon
sind die Rückflüsse an den Staat abzuziehen. Das sind
etwa 20 Prozent der Kosten, die verausgabt werden. Bei
der Beratungshilfe ist es weitaus mehr: Um die Jahrstausendwende hatten wir Kosten unterhalb von 20 Millionen Euro. Seit 2002 sind die Kosten kontinuierlich angestiegen. Heute haben wir einen Betrag von 80 Millionen
Euro. Das belastet die Länderhaushalte. Weil diese Last
nicht mehr getragen werden kann, müssen wir über eine
Reform nachdenken. Deshalb debattieren wir heute dieses Thema. Das sollten wir mit Augenmaß und auch seriös machen.
Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass
wir eine Reform auf den Weg bringen wollen. Dabei sollen die sozial Schwächeren bewusst außen vor gelassen
werden. Das heißt, für all die, die Hilfe nach dem SGB II
oder dem SGB XII erhalten, wird sich nichts am Freibetrag ändern. Sie erhalten, genauso wie früher, Verfahrenskosten-, Beratungs- und Prozesskostenhilfe ohne eine finanzielle Beteiligung. Wer anderes sagt, sagt bewusst
die Unwahrheit. Das ist das Unseriöse, das ich hier anspreche.
({1})
Die Freibeträge - die Ministerin hat es angesprochen liegen sogar um 10 Prozent über dem in der BRD höchsten Satz des SGB XII. Unsere Aufgabe ist es nun auf der
einen Seite, einen Mittelweg zwischen einem Missbrauch der Prozesskosten-, Beratungs- und Verfahrenskostenhilfe zu finden - das wurde übrigens von den Ländern vorgetragen, um es klar und deutlich zu sagen, Herr
Kollege Petermann -, und auf der anderen Seite müssen
wir dafür Sorge tragen, dass jeder, der sein Recht vor
Gericht erstreiten möchte, auch die Möglichkeit dazu erhält.
Lassen Sie mich einige konkrete Beispiele anführen.
Herr Kollege Petermann, ich gebe Ihnen recht: Über den
Begriff der Mutwilligkeit sollten wir noch einmal nachdenken. Das betrifft sowohl die Prozesskostenhilfe als
auch die Beratungshilfe. Was die Verschärfung des Begriffs der Mutwilligkeit und die Frage angeht, ob das
noch verfassungskonform ist, was jetzt in den Gesetzentwurf hineingeschrieben wurde, darüber besteht Beratungsbedarf. Wir werden das in den anschließenden Beratungen und auch in der Anhörung klären.
Man sollte darüber nachdenken, ob über die Frage, ob
die Voraussetzungen für die Gewährung von Verfahrensbzw. Prozesskostenhilfe vorliegen, in einer mündlichen
Verhandlung entschieden werden sollte; denn es geht
nicht darum, Bürokratie aufzubauen, weil das Mehrkosten verursacht; vielmehr geht es darum, Bürokratie abzubauen. Wir meinen: Wenn die Gerichte eine Erledigungsfrist setzen, innerhalb derer Auskunft erteilt
werden soll, ob die Voraussetzungen für die Gewährung
von Verfahrens- oder Prozesskostenhilfe vorliegen,
sollte nach Ablauf dieser Frist eine Entscheidung herbeigeführt werden. Das ist heute schon der Fall. Es besteht
also kein Grund, das zu ändern. Auch darüber wird zu
reden sein.
Es geht in diesem Zusammenhang auch darum, dass
Auskünfte bei Dritten eingeholt werden. Dem Antragsteller sollte die Möglichkeit gegeben werden, innerhalb
einer Frist zu belegen, dass er die Voraussetzung für die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfüllt. Wenn aber
diese Frist abgelaufen ist, soll das Gericht entscheiden.
Wir haben Bedenken, dass bei Sozialversicherungsträgern, bei Banken und Finanzämtern ohne Einwilligung
des Betroffenen Auskünfte eingeholt werden. Und um
zur Verfahrensoptimierung beizutragen: Wer einen Bescheid nach SGB II oder SGB XII vorlegt, hat per se einen Anspruch auf Verfahrens- und Prozesskostenhilfe.
In diesem Fall bedarf es keiner weiteren Prüfung.
Eine stärkere finanzielle Beteiligung derjenigen - die
Frau Ministerin hat es angesprochen -, die im Berufsleben stehen, ist für uns selbstverständlich. Hier hat der
Bundesrat im Übrigen eine Entfristung in Bezug auf unbeschränkte Rückforderungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Wir haben uns für eine Deckelung auf 72 Monate
ausgesprochen. Das halten wir für ausgewogen. Deshalb
sind wir auch in diesem Punkt mit der Bundesratsinitiative nicht einverstanden.
Mit der Absenkung der Freibeträge und der Neuberechnung der PK-Raten sind wir einverstanden. Ganz
wichtig ist uns das bei Familiensachen, einem Bereich,
in dem Verfahrenskostenhilfe in großem Umfang beantragt und bewilligt wird. Zum staatlichen Rückgriff auf
erlangtes Vermögen: Unterhaltsnachzahlungen dürfen
nicht angetastet werden, weil sie zur Gewährleistung des
Lebensstandards und zur Finanzierung des Lebensunterhalts beitragen. Teilweise wird das über Dritte finanziert.
Anders verhält es sich mit dem Vermögensausgleich
- darüber können wir uns unterhalten -, aber der Unterhalt sollte unangetastet bleiben.
Auch die Anwaltsbeiordnung in Scheidungsverfahren
sollten wir noch einmal überdenken. Ich mache das seit
30 Jahren: Nach meinem Dafürhalten gibt es kein einfaches Scheidungsverfahren. Wenn der Antragsteller die
Scheidung beantragt, besteht Anwaltszwang. Die andere
Partei sollte schon aus Gründen der Waffengleichheit
ebenfalls einen Anwalt haben können; denn es könnte
sein, dass der Antragsteller sagt: Ich ziehe den Scheidungsantrag zurück. - Damit erledigt sich die Scheidung, wenn kein eigener Scheidungsantrag gestellt
wurde, und der muss nun einmal über einen Anwalt gestellt werden. Wir wissen, welche Folgen daran geknüpft
sind: Stichtage für den Versorgungsausgleich, die Berechnung für das eheliche Güterrecht und vieles andere
mehr. Gerade was den Versorgungsausgleich angeht, der
sich nach der Reform in der letzten Wahlperiode in der
Praxis als sehr gut erwiesen hat, braucht man anwaltliche Hilfe. Die Anwaltsbeiordnung - hier geht es um das
Prinzip der Waffengleichheit - sollten wir auch im Hinblick auf die arbeitsgerichtlichen Verfahren noch einmal
überdenken.
({2})
Im Bereich der Beratungshilfe soll ein Erinnerungsrecht für die Staatskasse eingeführt werden; das ist eine
gute Entscheidung. Aber auch hier sollten wir über den
Begriff der Mutwilligkeit - liegt Mutwilligkeit vor, ist
keine Voraussetzung für die Beratungshilfe gegeben nachdenken. Einen nachträglichen Antrag auf Beratungshilfe auszuschließen - ein Wunsch des Bundesrates -, halten wir für nicht akzeptabel. Eine Prüfung im Vorfeld,
also vor der Antragstellung, halten wir auch nicht für akzeptabel, weil Fristen oft laufen und sich erst durch eine
Beratung beim Anwalt herausstellt, dass hier eine
schwierige Materie zu bearbeiten ist. Deshalb meinen
wir, dass es möglich sein muss, jederzeit einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Wir weiten sogar die Beratungshilfen entsprechend
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf
steuerliche Angelegenheiten aus. Das soll an dieser
Stelle auch einmal gesagt werden: Es handelt sich um
eine Ausweitung. Damit wird der Kreis derer, die neben
Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und
anderen Beratung leisten dürfen, ausgeweitet. Das ist ein
guter Ausblick.
Ein Satz noch zu Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte; Sie haben das angesprochen. Hier soll, um Waffengleichheit herzustellen,
Prozesskostenhilfe auch für Dritte möglich werden. Bisher ist das bei Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof nicht zugelassen. In Umgangsverfahren zum
Beispiel sind oft Dritte beteiligt. Der Vater strengt das
Verfahren an, die Mutter und das Kind sind beteiligt.
Demzufolge muss wegen des Prinzips der Waffengleichheit auch die Möglichkeit bestehen, dass die Drittbeteiligten Verfahrenskostenhilfe erhalten. Das geht im europäischen Recht bisher nicht. Dafür ist auch kein Geld da.
Deshalb sagen wir: Das wollen wir im nationalen Recht
verankern. Wer im nationalen Recht die Voraussetzung
für die Gewährung von Prozesskostenhilfe und Verfahrenskostenhilfe erfüllt, dem muss diese Hilfe auch in
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zuteilwerden. Es geht darum, dass Menschen einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung haben, damit sie ihre Rechte vor Gericht wahrnehmen
können, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage sind.
Ich hoffe sehr, dass wir in den Beratungen im Rechtsausschuss und bei der Anhörung das eine oder andere
nachjustieren können und zu einem Ergebnis kommen,
das für das ganze Haus tragbar ist und den Menschen
draußen hilft.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten
heute über mehrere Gesetzentwürfe. Alle beschäftigen
sich mit den Kosten in Rechtsangelegenheiten.
Ich möchte in meiner Rede zunächst auf den Gesetzentwurf eingehen, der sich mit der Beratungshilfe und
der Prozesskostenhilfe beschäftigt. Über die Prozesskostenhilfe kann einkommensschwachen Personen eine finanzielle Unterstützung zur Durchführung von Gerichtsverfahren gewährt werden. Im Leben kann es immer
wieder zu Situationen kommen, in denen man einen Prozess führen muss. Oft ist es so, dass bei einem solchen
Verfahren erhebliche Kosten entstehen. Nicht jeder ist in
der Lage, diese Kosten aus eigenen Mitteln zu tragen,
und nicht alle Bürgerinnen und Bürger haben eine entsprechende Rechtsschutzversicherung. Die Prozesskostenhilfe wurde daher für diejenigen entwickelt - früher
hieß sie übrigens Armenrecht -, die nicht in der Lage
sind, Prozesse aus eigenem Einkommen und Vermögen
zu finanzieren. Sinn der Prozesskostenhilfe ist also zum
einen, dem Gleichheitsgrundsatz gerecht zu werden.
Auch Bürger mit geringem Einkommen oder Vermögen
- das ist schon gesagt worden - sollen einen Rechtsstreit
führen können. Des Weiteren ermöglicht die Prozesskostenhilfe eine gewisse Waffengleichheit. Wenn Juristen
von Waffengleichheit reden, dann meinen sie nicht Pistolen oder Gewehre, sondern die Waffengleichheit vor
Gericht, das heißt, dass der Rechtsuchende sich einen
Anwalt nehmen darf, wenn die Gegenseite auch juristischen Sachverstand zur Seite hat.
Hier setzt unsere erste Kritik an dem Entwurf an; sie
betrifft die Ehescheidungsangelegenheiten. Die Kollegin
von der CDU hat das schon gesagt. Ich hoffe, dass wir
diesbezüglich eine konsensuale Entscheidung finden
werden. Es ist vorgesehen, dass der Antragsgegner zukünftig nur noch dann eine Verfahrenskostenhilfe erhält,
wenn die Beiordnung eines Anwalts wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich erscheint.
Für alle Nichtjuristen unter uns: Was heißt das im Klartext? Wenn sich Herr und Frau Müller scheiden lassen
wollen, dann ist, wenn beide einkommensschwach sind,
ganz entscheidend, wer den ersten Gang zum Anwalt unternimmt; denn nur derjenige, der als Erstes zum Anwalt
geht, wird vom Richter oder der Richterin eine Verfahrenskostenhilfe erhalten. Wenn dann der Ehepartner
ebenfalls einen Anwalt in Anspruch nehmen möchte,
dann kann der Richter sagen: „Wir haben einen einfach
gelagerten Fall“, und deshalb wird die Verfahrenskostenhilfe dem Antragsgegner verweigert. Wir haben vorhin
schon gehört, dass es eigentlich in jedem Ehescheidungsverfahren Probleme gibt, sei es, dass man sich um
das Kaffeeservice streitet, sei es, dass man sich um Unterhalt, Sorgerecht oder Umgangsrecht streitet. Insofern
sollten, denke ich, alle Beteiligten die Möglichkeit einer
anwaltlichen Beratung haben.
({0})
Ich hoffe, dass wir hier eine bessere Regelung finden
werden.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Beratungshilfe,
also die staatliche Hilfe bei der rechtlichen außergerichtlichen Beratung. Zukünftig soll ein Rechtspfleger über
diesen Antrag auf Beratungshilfe vorab entscheiden.
Diese Pflicht zur vorherigen Antragstellung erscheint
uns praxisfern; denn häufig ist ein sofortiges Tätigwerden des Rechtsanwalts notwendig, weil beispielsweise
Fristen abzulaufen drohen. Oft stellt sich auch erst im
Beratungsgespräch selbst heraus, dass der Mandant beratungshilfeberechtigt ist. Der Anwalt muss darauf hinweisen; denn er kann von einem Mandanten, der einkommens- und vermögenslos ist, nicht die Begleichung
einer Rechnung verlangen. Eine rechtzeitige und gute
Beratung führt übrigens oft genug dazu, dass ein aufwendiges und teures Gerichtsverfahren vermieden wird.
Es gibt ein weiteres Problem, das vor allem in Flächenwahlkreisen besteht. Ich nehme ein Beispiel aus
meinem Wahlkreis: Wenn ein Rechtsuchender, der auf
der Insel Hiddensee wohnt, zukünftig einen Beratungshilfeschein beantragen muss, bevor er den Anwalt aufsuchen kann, dann ist er erst einmal einen Tag lang unterwegs, um diesen Beratungshilfeschein beim zuständigen
Amtsgericht zu erwerben. Dann muss er sich am nächsten Tag, wenn er ihn in der Hand hat, einen Anwalt suchen, der ihn in dieser Angelegenheit vertritt. Damit sind
erstens zwei Tage weg, und zweitens ist es gerade bei
einkommensschwachen Personen so, dass sie sich diese
Reisen gar nicht leisten können. Dann wird es so kommen - der Kollege Petermann hat das schon gesagt -,
dass viele einkommensschwache Rechtsuchende am
Ende möglicherweise den Anwalt gar nicht mehr in Anspruch nehmen werden.
({1})
Auch der vorgesehene Vorrang der Selbstvertretung
in Beratungshilfeangelegenheiten ist unserer Meinung
nach abzulehnen. Wenn zukünftig eine Beratungshilfe
nicht mehr erforderlich sein soll, weil der Fall nach Ansicht des Rechtspflegers einfach gelagert oder unbedeutend ist, dann ist das Gebot der Waffengleichheit damit
außer Kraft gesetzt. Denn es geht doch oft genug gerade
in diesen Beratungshilfefällen um Probleme mit dem
Nachbarn, um Probleme mit dem Arbeitgeber oder um
ungeklärte Internetrechnungen, also um Fälle, die finanziell gut oder sehr gut situierte Menschen vielleicht als
Kleinigkeiten bezeichnen, die aber für die Betroffenen
oft von großer Bedeutung sind.
Ich will abschließend noch eine Anmerkung zur Kostenrechtsmodernisierung machen. Uns ist aufgefallen,
dass im Sozialrecht die Terminsgebühr grundsätzlich
wegfallen soll, wenn durch Gerichtsbescheid verhandelt
wird. Das klingt vielleicht im ersten Moment plausibel;
jedoch befürchten wir, dass dadurch die Zahl der Anwälte, die sozialrechtliche Verfahren vertreten, zukünftig
noch weiter zurückgehen wird, weil es einfach nicht lukrativ ist. Damit wäre wiederum eine Bevölkerungsschicht betroffen, der unser besonderer Schutz gilt, nämlich mehrheitlich die Empfänger von Leistungen nach
SGB II und SGB XII und die Erwerbsunfähigen.
Ich hoffe also, dass der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts
im Laufe des Verfahrens noch gründlich überarbeitet
wird. Auch der Entwurf des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts bedarf einiger Änderungen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns liegen außergewöhnlich umfangreiche Gesetzentwürfe vor. Deswegen wollen wir uns ausreichend Zeit
nehmen, sie zu beraten und gegebenenfalls Änderungen
vorzunehmen. Insbesondere der Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts enthält
einige wesentliche Änderungen, beispielsweise die Einführung eines neuen Gerichts- und Notarkostengesetzes
und eines neuen Justizverwaltungskostengesetzes. Er
enthält auch eine Fülle von kleineren Änderungen und
Anpassungen, die im Detail große Auswirkungen haben
können.
Diese große Bedeutung resultiert im Ergebnis daraus,
dass nahezu alle Berufsgruppen in der Justiz mittelbar
oder unmittelbar davon betroffen sein werden und dass
natürlich die vitalen Interessen der Länder berührt sind.
Es sind schließlich die Länder, die im Wesentlichen die
Verantwortung für die Bereitstellung einer funktionsfähigen Justiz tragen.
Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Verbesserungen für die Rechtsanwender, insbesondere deutlich
übersichtlichere Gesetzeswerke.
Natürlich sind auch eine Reihe von Erhöhungen vorgesehen: Dies betrifft die Gerichtsgebühren, die Justizverwaltungsgebühren, die Gerichtsvollziehergebühren,
die Vergütungen für Rechtsanwälte und Notare und auch
die Vergütungssätze für Dolmetscher, Sachverständige
und Übersetzer. Diese im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Veränderungen sollen im Wesentlichen einen Inflationsausgleich ermöglichen. Aber - dies ist schon festgestellt worden - selbst das wird nicht überall erreicht,
sicherlich nicht bei allen Berufsgruppen und auch nicht
bei den Gerichtskosten.
Es darf durchaus darüber diskutiert werden, dass der
Gesetzentwurf hier deutlich hinter den zumindest rechnerisch möglichen Werten zurückbleibt, vor allem wenn
man berücksichtigt, wann zum letzten Mal ein Inflationsausgleich bei den Gerichtskosten vorgenommen
worden ist: Das ist mittlerweile fast 20 Jahre her. Von
daher kann ich die Forderung der Länder durchaus nachvollziehen, die Gerichtsgebühren zusätzlich zu erhöhen.
Denn so, wie es bisher vorgesehen ist, würde sich der
Kostendeckungsgrad wohl nur minimal verbessern.
Wenn es unser Anspruch ist, eine funktionsfähige Justiz zu gewährleisten, dann setzt das natürlich voraus,
dass wir auch die nötigen Mittel bereitstellen. Allerdings
ist das nicht allein eine Sache von GebührentatbestänThomas Silberhorn
den, und die Mittel können auch nicht allein aus dem allgemeinen Steueraufkommen bereitgestellt werden. Auch
in Zukunft müssen die Verursacher der Kosten in zumutbarem Umfang dazu herangezogen werden, die Kosten
zu tragen. Dies steht den Gesichtspunkten der Sozialverträglichkeit und der Bezahlbarkeit zivilrechtlicher
Rechtsstreitigkeiten für Bürger und Unternehmen nicht
grundsätzlich entgegen.
Wir verfügen in Deutschland mit den Möglichkeiten
der Prozess- und Verfahrenskostenhilfe über Instrumente, die den Zugang zur Justiz sicherstellen. Es gilt
aber auch in Zukunft, einen Missbrauch dieser Instrumente zu verhindern. Daher hat aus meiner Sicht das Erfordernis, dass die Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheinen darf, schon seinen Sinn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den vergangenen
Monaten haben uns zahlreiche Berufsgruppen, die von
diesen Gesetzentwürfen unmittelbar betroffen sind, angesprochen und uns ihre Anliegen mit auf den Weg gegeben. Wir werden uns damit sehr ernsthaft auseinandersetzen und sie im Detail beraten.
Die Übersetzer - darauf ist schon hingewiesen worden - machen geltend, dass bei den vorgesehenen Vergütungssätzen die bisherige hohe Qualität der Übersetzungsleistungen künftig nicht mehr sichergestellt
werden könne; die Sachverständigen haben ähnliche
Sorgen vorgetragen. Damit werden wir uns, auch was
die Berechnungen angeht, noch im Detail beschäftigen
müssen.
Ein zweites konkretes Anliegen, das ich ansprechen
möchte, ist die vorgesehene Streichung des § 70 Gerichtskostengesetz. Danach haben die Rechtspfleger
künftig nicht mehr die Möglichkeit, als Rechnungsbeamte tätig zu werden - etwas, was nicht nur von den
Rechtspflegern selbst, sondern auch von den Bundesländern kritisiert wird. Ich würde mir wünschen, Frau Bundesministerin, dass wir auch darüber noch einmal nachdenken; denn in der Praxis gibt es wohl ein Bedürfnis,
dass Rechtspfleger als Rechnungsbeamte tätig werden
können. Schließlich kommt diese Arbeit den Verfahrensbeteiligten und damit den Bürgern zugute, sodass ich mir
schon vorstellen könnte, dass wir hier die nötige Flexibilität für eine unterschiedliche Praxis in den Bundesländern einräumen sollten.
Schließlich haben Rechtsanwälte beispielsweise vorgeschlagen, eine zusätzliche Terminsgebühr für die
Wahrnehmung von Beweisterminen einzuführen; auch
hier werden wir prüfen, inwieweit dies aufgrund eines
spezifischen Mehraufwands in einzelnen Rechtsgebieten
gerechtfertigt ist. Allerdings, meine Damen und Herren,
werden wir einen uns scherzhaft zugetragenen Vorschlag
nicht verwirklichen: Auch künftig werden wir die Vergütung von Rechtsanwälten nicht nach dem Gewicht der
Schriftsätze in Gramm pro Kubikmeter bemessen können.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Vielzahl
der vorgetragenen Einzelanliegen verdeutlicht einerseits
die Komplexität der Materie, andererseits eben aber
auch die Notwendigkeit, genau hinzuschauen und intensiv zu prüfen, welche Auswirkungen die Regelungen auf
einzelne Berufsgruppen haben. Die Messlatte, auf die
wir uns gemeinsam verständigen sollten, muss sein, dass
wir eine funktionsfähige Justiz in unserem Land erhalten
wollen, die hohen Qualitätsstandards gerecht wird und
die für alle Bürgerinnen und Bürger den Zugang zum
Recht gewährleistet.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11471, 17/11472, 17/11211,
17/1216, 17/2164, 17/5313 und 17/12173 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs,
Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sahel-Region stabilisieren - Humanitäre Katastrophe eindämmen
- Drucksachen 17/10792, 17/11431 Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothTom Koenigs
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Marina
Schuster für die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Stabilisierung der Sahelzone ist ein wichtiges Thema.
Ich begrüße ausdrücklich, dass wir gestern hier im Hohen Haus eine Aktuelle Stunde zur Situation in Mali
durchgeführt haben, aber auch, dass wir heute im Rahmen dieser Debatte einen etwas weiteren Blick auf die
Region werfen können.
Ich möchte zunächst einmal feststellen, dass sich verschiedene Ausschüsse des Deutschen Bundestages - der
Menschenrechtsausschuss, auch der Auswärtige Ausschuss - schon eingehend mit diesem Thema beschäftigt
haben. Ich kann von unserer Reise zum UN-Menschenrechtsrat in Genf berichten. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, hat
uns bereits im Frühjahr letzten Jahres auf die humanitäre
Situation in der Sahelregion hingewiesen und uns vor
der Gefahr einer weiteren Eskalation gewarnt. Damit
möchte ich dem Eindruck entgegenwirken, der hier gestern in der Aktuellen Stunde bei einigen Reden entstanden ist: dass sich das Hohe Haus mit dieser Region zum
ersten Mal beschäftige. Das ist sicherlich falsch.
Die Grünen beschreiben in ihrem Antrag sehr richtig
die dramatische Situation der Bevölkerung: 18 Millionen Menschen in neun Ländern sind von Ernährungsunsicherheiten bedroht. - Diese Zahlen und auch die Zahlen zur humanitären Lage zeigen ganz deutlich die
Dimension der Probleme. Das UN-OCHA beziffert den
Bedarf an Mitteln für humanitäre Hilfe auf 1,6 Milliarden US-Dollar. Insofern greifen die Grünen mit ihrem
Antrag ein wichtiges Thema auf.
Sowohl im Feststellungsteil, noch mehr aber im Forderungsteil kommt allerdings zu kurz, was die Bundesregierung bisher schon geleistet hat. Das kann man natürlich so machen; aber ich finde, da fehlt es ein bisschen
an Fakten. Sie erwähnen zum Beispiel nicht, dass das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ein Zehn-Punkte-Programm für ländliche Entwicklung und Ernährungssicherung aufgelegt
hat. Das war eine Forderung aus unserem Koalitionsvertrag. Wir haben nämlich festgestellt, das gerade dieser
Bereich in den letzten Jahren vernachlässigt worden ist.
Ich denke, dem muss man, wenn man einen solchen Antrag verfasst, Rechnung tragen.
Die Bundesregierung hat auf die Nahrungsmittelkrise
schnell reagiert: Seit Ende 2011 sind an humanitärer
Hilfe für die Region über 55 Millionen Euro bereitgestellt worden.
({0})
Die Mittel gingen an das World Food Programme, an
UNHCR, an das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz - das wir mit dem Menschenrechtsausschuss regelmäßig in Genf besuchen -, an NGOs wie Help oder
Care. Ich danke den Hilfsorganisationen für ihren Dienst
ganz herzlich. Sie haben in einem schwierigen Umfeld
beachtliche Leistungen erbracht: Von der Nahrungsmittelkrise sind - das dürfen wir nicht vergessen - 1 Million
Kinder betroffen.
({1})
Ich möchte - das ist ja auch ein Punkt in dem Antrag
der Grünen - noch ganz kurz die Situation in Mali erwähnen. Die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen
für Menschenrechte, Navi Pillay, hat von schwersten
Menschenrechtsverletzungen berichtet: von Hinrichtungen, von Vergewaltigungen, von Folter - und auch von
der Rekrutierung von Kindersoldaten.
Ich glaube, Sie erlauben mir, wenn ich in diesem Zusammenhang kurz von dem Antrag abweiche. Wir haben
heute mit der Kinderkommission zusammen den Red
Hand Day hier im Deutschen Bundestag begangen, um
ein Zeichen zu setzen gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Wir unterstützen diese Aktion sehr, würden uns
aber - ich glaube, da kann ich im Namen aller in diesem
Hohen Haus sprechen - noch mehr freuen, wenn dieser
Aktionstag nicht mehr notwendig wäre, weil keine Kindersoldaten mehr rekrutiert würden.
({2})
Ich wiederhole an dieser Stelle meine Forderung von
gestern: Straflosigkeit darf es nicht geben. Wir unterstützen da die Bemühungen der Vereinten Nationen und des
Internationalen Strafgerichtshofs.
Zum letzten Punkt, der mir auch ganz wichtig ist. Die
Grünen erwähnen in ihrem Antrag zu Recht die Kapazitäten der AU und der ECOWAS. Wir arbeiten seit vielen
Jahren daran, die afrikanischen Kapazitäten - von AU
und ECOWAS - für Ausbildung und Training zu stärken. Die afrikanischen Kapazitäten zu stärken, ist, denke
ich, der richtige Weg; denn es liegt auf der Hand, dass
die Probleme in den Ländern vor Ort gelöst werden müssen. Das wird nicht gelingen, ohne die Länder vor Ort
- gerade die Nachbarländer Algerien und Libyen - stärker einzubinden. Insofern ist es wichtig, diese Länder
ganz besonders in den Blick zu nehmen. Entscheidend
ist auch der politische Prozess. Es gibt jetzt eine Roadmap; aber es wird, denke ich, notwendig bleiben, dass
man sie Schritt für Schritt umsetzt und auch eine regionale Komponente vorsieht. Das eine ist die Situation in
Mali, das andere sind die Probleme, die mit den Nachbarländern nach wie vor bestehen. Da werden wir die
Bundesregierung bei ihren Bemühungen weiter unterstützen; das ist der richtige Weg.
Im Feststellungsteil des Antrags der Grünen steht vieles, was richtig ist. Wir werden dem Antrag trotzdem
nicht zustimmen können.
({3})
Gleichwohl begrüße ich, dass wir diese Debatte hier
noch einmal führen, auch im Anschluss an die Aktuelle
Stunde von gestern.
Vielen Dank.
({4})
Nun hat Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ebenso wie Frau Kollegin Schuster der Meinung, dass es ganz wichtig und erforderlich ist, dass wir uns heute bereits zum zweiten
Male in dieser Woche mit dem Thema Mali und Sahelregion beschäftigen. Es ist gut, dass eine Region in den
Fokus der Öffentlichkeit gerät, die dort ansonsten nur
sehr wenig zu finden ist. Es ist gut, weil die Menschen,
die in dieser Region in einem ständigen Überlebenskampf stehen, unsere Aufmerksamkeit und unsere solidarische Unterstützung verdient haben. Deshalb finde
ich es gut, dass wir uns heute mit diesem Antrag auseinandersetzen.
Auf der anderen Seite aber ist dies auch, wie ich
finde, ein schlechtes, ein alarmierendes Signal; denn das
ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass es um mehr geht
als um die alltäglichen Katastrophen, an die man sich ja
fast schon gewöhnt hat, so zynisch das gegenüber den
Menschen in dieser Region klingt. In der Tat: Die Situation ist dramatischer, als sie es gemeinhin schon ist; sie
hat sich auch verändert, nachdem der Antrag, über den
wir heute reden, auf den Weg gebracht worden ist.
Die militärische Konfrontation in Mali, ausgelöst
durch den Vormarsch islamistischer Milizen aus NordMali nach Süden, aktuell beantwortet durch französische
Interventionstruppen, sowie die Vorbereitung eines UNmandatierten Einsatzes von Truppen der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS beherrschen die
Schlagzeilen und die politischen Debatten.
Deshalb ist es gut, dass wir uns heute mit einem Antrag befassen können, der die Kernprobleme der genannten Sahelzone anspricht, und das sind Probleme, die sich
allein durch eine militärische Intervention nicht nachhaltig werden lösen lassen können.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Angesichts
der sich dramatisch verschlechternden humanitären Bedingungen im Norden Malis, angesichts gravierender
Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch besonders brutale Exekution des Scharia-Rechts durch die
islamistischen Terroristen von AQMI und MUJAO war
eine solche Reaktion, wie es sie jetzt gab, wohl unausweichlich. Wir werden diesen Prozess im Rahmen der
Mandatierung eines unterstützenden Bundeswehrmandats auch konstruktiv begleiten.
Aber damit darf es natürlich kein Bewenden haben.
Ich erinnere mich immer an einige Sätze von Willy
Brandt aus der Zeit, als er der Nord-Süd-Kommission
vorstand. Ich zitiere:
Not ist Konflikt. Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer
kein Frieden. … Wir werden uns entschließen müssen, mit ritualisierten Traditionen zu brechen: Wer
den Krieg ächten will, muss auch den Hunger ächten.
Ich glaube, das ist eine nach wie vor richtige Bemerkung.
({0})
Ich hoffe, dass dieser Konflikt, so bitter er im Moment auch ist, Chancen bietet, die eigentlichen Ursachen
des Konflikts in dieser Region zu erkennen und umfassende politische, soziale, wirtschaftliche und ökologische Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten und umzusetzen. Ich finde, der Antrag der Grünen, über den wir
heute diskutieren, bietet eine Menge an richtigen Ansätzen.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis,
dass eine nachhaltige Entwicklungsperspektive nur unter
Einbeziehung von Vertretern aller Bevölkerungsgruppen
erfolgversprechend ist. Weder die Forderungen der
MNLA nach Selbstbestimmung und einem eigenen Staat
noch die Einführung der Scharia finden bei großen Teilen der Bevölkerung Unterstützung.
Auch Ansar Dine wie deren Abspaltung MIA, die
dem Terror abgeschworen haben, werden überwiegend
mit Skepsis betrachtet. Deshalb ist die vielleicht wichtigste politische Forderung, den anstehenden politischen
Prozess keinesfalls exklusiv mit den aktuellen Konfliktakteuren zu führen. Für eine tragfähige und nachhaltige politische Lösung ist die Einbeziehung von Vertretern gemäßigter Tuareg sowie anderer Volksgruppen von
essenzieller Bedeutung, wie es auch im Antrag gefordert
wird.
({1})
Von zentraler Bedeutung ist auch die entsprechende
Ausbildung des malischen Militärs, Aufklärung und Prävention, im Idealfall zusammen mit den Truppen von
ECOWAS; denn das Schlimmste, was nach einer formalen Stabilisierung durch das malische Militär passieren
könnte, wäre, dass „alte Rechnungen beglichen“ werden
und rassistische Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung
zunehmen, wie wir das in den letzten Wochen und Monaten leider schon haben feststellen müssen.
Hier könnte auch Deutschland eine verantwortungsvolle Rolle übernehmen. Aber all dies wird nur dann erfolgversprechend sein können, wenn vor Ort existierende zivilgesellschaftliche Strukturen genutzt werden.
Es sollten, wie es auch im Antrag steht, malische Menschenrechtsgruppen gezielt gefördert und gestärkt werden. Sie verfügen bereits jetzt über Elemente zur Durchführung eines Monitorings, dessen Ergebnisse national
wie international breit publiziert und diskutiert werden
müssen.
Der Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen
- Frau Schuster hat es gesagt - gestaltet sich nicht erst
seit dem Eingreifen der Franzosen als sehr schwierig.
Vor den Kämpfen sind laut Aussage des UNHCR inzwischen 400 000 Menschen geflohen, davon gut die Hälfte
ins Ausland nach Mauretanien, Niger, Algerien und Burkina Faso.
UNHCR und das World Food Programme veranschlagen einen Bedarf von 153 bzw. 273 Millionen US-Dollar
bis Ende des Jahres allein für das sich täglich ausweitende Flüchtlingsproblem im Inland und in den Nachbarstaaten. Der Bedarf ist aber erst, wie wir gehört haben,
zu 22,7 Prozent gedeckt. In dieser Lage ist es von zentraler Bedeutung, dass Europa und Deutschland auch die
Mittel für humanitäre Hilfe verstetigen und im Zweifel
ausbauen.
Bei all den notwendigen Diskussionen über Truppenstellung, Ausrüstungsunterstützung und finanzielle Mit27172
tel für den Militäreinsatz kommt nach meiner Einschätzung der Blick auf die Ursachen für diese Eskalation zu
kurz. Die Sahelregion ist eines der ärmsten Gebiete der
Welt. In den Ländern dieser Region kommt es durch
Dürren und Misswirtschaft seit Jahren immer wieder zu
Lebensmittelkrisen. Ursache hierfür ist unter anderem
die verantwortungslose Spekulation auf die Verteuerung
von Lebensmitteln. Gerade auch, um hier nachhaltig zu
Lösungen zu kommen, werbe ich nachdrücklich für ein
international koordiniertes wirkungsvolles Verbot solcher ethisch verwerflichen Geschäfte. Daran müssen wir
wirklich arbeiten.
({2})
Von großer Bedeutung ist es auch, die Umsetzung der
umfassenden Sahelstrategie des Generalsekretärs der
Vereinten Nationen personell und finanziell zu unterstützen. Wir brauchen eine effiziente und bedarfsorientierte
humanitäre Nothilfe in enger Absprache mit internationalen Partnern und nationalen Regierungen.
An dieser Stelle muss ich - vielleicht etwas unerwartet - das Auswärtige Amt einmal ausdrücklich für die
Vorlage der Neuausrichtung der Strategie zur humanitären Hilfe loben, die uns gestern im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe präsentiert worden
ist. Ich finde, das ist ein Gebot der Fairness.
({3})
Darin stehen gute Dinge, und ich hoffe, wir werden das
gemeinsam überprüfen und dafür sorgen, dass diese
Strategie auch umgesetzt werden kann.
({4})
Ich glaube, das ist in der Tat eine der Aufgaben, die vor
uns liegen.
Wir brauchen politische Aktivitäten, die daran orientiert sind, die Lebensbedingungen überall dort langfristig
zu verbessern, wo Armut und Hunger dominieren und
wo es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu
einer zumindest die Grundbedürfnisse befriedigenden
Gesundheitsversorgung gibt. Kurz: Wir brauchen die
Verstetigung der humanitären Hilfe mit einem präventiven Ansatz. Wir brauchen verstärkte Anstrengungen,
auch gemeinsam mit den betroffenen Ländern, um
- jetzt kommt der kritische Teil - dafür zu sorgen, dass
Deutschland und die EU ihren Beitrag zur Erreichung
der Millennium Development Goals bis 2015 leisten.
Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verhinderung von solchen Krisen, wie wir sie jetzt beklagen.
Wir finden, dass der Antrag der Grünen ziemlich gut
ist. Wenn wir ihn geschrieben hätten, wäre er noch besser. Er ist aber gut genug, dass wir ihm zustimmen können.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man hätte die Debatte über den Antrag mit
dem Titel „Sahel-Region stabilisieren - Humanitäre Katastrophe eindämmen“ zeitlich fast nicht besser einplanen können und vielleicht auch nicht wollen. Deshalb
danke auch ich, wie Frau Schuster, den Antragstellern.
Wir hätten noch im September, als wir an dieser Stelle
das erste Mal darüber diskutiert haben, nicht zu fürchten
gewagt, was daraus wird.
Seit wir damals darüber debattiert haben, haben sich
die Ereignisse überschlagen. Das ist auch einer der
Gründe dafür, dass inzwischen auf eine Vielzahl der
20 Forderungen reagiert wurde. Vieles von dem, was Sie
gefordert haben, ist inzwischen in die Wege geleitet worden, weil die Lage, insbesondere in Mali - das ist ja ein
Kernpunkt Ihres Antrages -, eskaliert ist. Mali ist so etwas wie das Epizentrum des Erdbebens, das gerade in
der Sahelzone stattfindet. Es hätte auch an einer anderen
Stelle liegen können, aber jetzt ist es dort ausgebrochen.
Frankreich drängt die Islamisten inzwischen zurück.
Deutschland leistet humanitäre und logistische Hilfe.
Ich will kurz auf den Aufschrei einiger NGOs „Ärzte ohne Grenzen“ und „Ärzte der Welt“ - von gestern eingehen, die sagten, dass Herr Westerwelle die humanitären und militärischen Aufgaben miteinander vermischen würde. Diese beiden Organisationen haben
natürlich wichtige Stimmen, die von uns gehört werden
müssen; denn nur Neutralität an dieser Stelle sichert die
Lage dieser Hilfsorganisationen. Dennoch ist das ein immer wiederkehrendes Dilemma in Konflikten dieser Art.
Ein gutes Beispiel dafür wurde uns vorgestern von
UNICEF - einige Kollege waren anwesend - gegeben.
Dort wurde uns geschildert - wir haben heute Morgen ja
über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats abgestimmt -, dass sich 84 Prozent der Frauen in Afghanistan
wünschen, dass das Militär nicht abzieht - natürlich waren die Aussagen differenzierter als nur Ja oder Nein -,
weil das ihre rechtliche und humanitäre Lage verschlimmern würde. Darum ist es wichtig, dass der Auswärtige
Ausschuss, der Verteidigungsausschuss und auch der
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union den Antrag mit beraten und dass die Hilfe für
Mali in Euro- und Dollarbeträgen steigt.
Ich möchte Herrn Westerwelle, der an dieser Stelle
kritisiert wurde, aus seiner Rede von vorgestern zitieren:
Deutschland steht zu seiner Verantwortung. Wir
werden die Aktivitäten zur Befreiung Malis unterstützen: finanziell, logistisch, humanitär sowie mit
Ausrüstung und Know-how zur Ausbildung der
malischen Armee. Mit unserer Hilfe tragen wir
dazu bei, dass der Einsatz nun mehr und mehr ein
afrikanisches Gesicht bekommt. Damit legen wir
die Grundlage dafür, dass die islamistischen Extremisten in Mali besiegt werden können. Bei aller
Richtigkeit des militärischen Einsatzes müssen wir
aber auch weiter mit Nachdruck darauf hinarbeiten,
dass in Mali ein ernsthafter Verhandlungsprozess in
Gang kommt. Denn langfristig kann es nur eine
politische Lösung geben.
({0})
Ich finde, darüber besteht Konsens in diesem Hause. Ich
weiß nicht, welche Stelle daraus zur Begründung der angeblichen Vermengung von Aufgaben herangezogen
werden kann. Es wird deutlich, wo die Priorität liegt.
Hilfe findet nie im luftleeren Raum statt. Deshalb ist dies
auch eine Debatte des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe bzw. des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Deutschland leistet seit Dezember 2011 umfangreiche finanzielle und humanitäre Hilfe an Mali; die Zahlen sind vorhin von der
Kollegin Schuster genannt worden. Die EU beteiligt sich
ebenfalls mit großen Summen.
Die Sahelzone - darauf zielt der Antrag allgemein ab ist weit mehr als Mali, doch möchte ich noch einen Moment bei Mali bleiben. In ungefähr der Hälfte der Begründung geht es auch um Mali. Timbuktu ist - das beschäftigt mich persönlich umso mehr - schon seit 1976
die Partnerstadt meines Wahlkreises Chemnitz.
({1})
Es ist eine Kulturhochburg wegen der Mausoleen der
Sufis und wegen der Schriften. Ich habe selber einige
dieser Schriften in den Händen gehalten - sie gehören
zum Weltkulturerbe -; denn durch die Partnerschaft
hatte die Stadtbibliothek in Chemnitz einige Malier zu
Gast, die diese Schriften mitgebracht haben.
Der Auslöser der Eskalation in Mali erinnert mich an
den ersten Auslöser damals in Afghanistan: Das Erste,
was wirklich geschmerzt hat, war, dass die Buddha-Statuen in Bamiyan, die ebenfalls zum Weltkulturerbe gehören, im März 2001, also vor den Anschlägen und vor
den Begründungen für die Angriffe, zerstört wurden. Sie
waren in den Fels gehauen; eine war 53 Meter hoch.
Die Erkenntnis daraus ist: Humanitäre Hilfe muss
Minderheiten - in diesem Fall die Sufis - und Kultur als
Ausdruck von Humanität und Zivilisation besonders
schützen. Daher brauchen wir neben militärischer, logistischer Unterstützung und humanitärer Hilfe Programme
zum Austausch und zur Zusammenarbeit. Das dürfen
keine Einzelprogramme sein, so gut sie auch seien, sondern diese Programme müssen zusammengefügt werden.
Jetzt zur Sahelregion. Bereits am 1. August letzten
Jahres schilderten Vertreter von „Save the children“ und
„World Vision“ - das war in der Süddeutschen Zeitung
zu lesen -, dass diesen Organisationen zufolge 1 Million
Menschen - wir haben das gerade gehört - akut vom
Hungertod bedroht und 18 Millionen Menschen von Unterernährung betroffen sind. Laut UNICEF waren und
sind wahrscheinlich 1 Million Kinder in der Sahelzone
in akuter Lebensgefahr.
Die Lage hat sich massiv verändert, und zwar durch
die politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen
und Verwerfungen. Aber dazwischen gab es auch eine
bessere Ernte, als man erwartet hat. Das heißt, man kann
jetzt nicht einfach wieder die gleichen Argumente hervorholen. Man muss wirklich differenziert an diese Situation herangehen.
Wie sieht das Leben dieser Menschen konkret aus?
Der grüne Kollege Hoppe und ich waren nach der humanitären Katastrophe am Horn von Afrika und haben dort
die Flüchtlingslager besucht. Wir haben die Situation vor
Ort unter die Lupe genommen, sowohl hinsichtlich der
Organisationen als auch hinsichtlich der Menschen in
den entsprechenden Ländern: die Politik, die Gesichter,
die Geschichten. Für mich ist der Begriff „humanitäre
Katastrophe“ nicht mehr ein Fachbegriff, den ich neutral
nutzen kann. Wir haben Essensausgaben in den Flüchtlingslagern gesehen und Menschen, die nicht mehr wissen, wohin sie gehören. Kenia und Äthiopien verfolgen
unterschiedliche Strategien, was die Resilienz gegen
Hunger angeht, von Somalia ganz zu schweigen.
Nun zu der großen Warnung, die Sie in Ihrem Antrag
aufgreifen. Es gab Early Warning, also eine frühe Warnung. Aber Early Action hat nicht funktioniert. Die Warnung für die Sahelzone gibt es schon lange. Auch hier ist
die Situation im Kontext von Politik und Kriegshandlungen, was Somalia und die Grenze zu Äthiopien angeht,
zu sehen. Man erzählte uns in dem Zeltlager, in dem wir
übernachtet haben, dass nachts Panzer vorbeigefahren
sind. Es gab Wahlen, die bestimmte Dinge unmöglich
machten, und menschenrechtliche Dramen, die teilweise
das genaue Gegenteil der Resilienz darstellten. Äthiopien verfolgt eine gute Strategie, wenn es um Resilienz
geht. Aber gleichzeitig sind die menschenrechtlichen
Bedingungen - darüber möchte ich am liebsten nicht reden, weil mir sonst schlecht wird - furchtbar.
Was ist tatsächlich zu tun? Die Einzelpunkte dürfen
nicht wie bei einem Puzzle zusammengesetzt werden.
Eine bestmögliche Koordinierung der Hilfen ist erforderlich. Dies geschieht auf der Ebene der Vereinten Nationen durch das Amt für die Koordinierung humanitärer
Angelegenheiten der Vereinten Nationen, UN-OCHA - wir
haben uns davon Bericht erstatten lassen -, das VNKinderhilfswerk, UNICEF, und das VN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR. Auf dieser Ebene ist dringend geboten, eine dauerhafte Konferenz zur humanitären Lage in
der Sahelzone zu installieren. Herr Strässer, Sie haben
bereits darauf hingewiesen: Man muss dauerhaft - nicht
nur, wenn unter politischen Gesichtspunkten etwas auffällig ist - an diesem Thema dranbleiben.
({2})
Inzwischen, seit es diesen Antrag gibt, ist eine Roadmap entstanden, die Ziele vorgibt und quasi Slalomstangen setzt. Das kann nun angegangen werden. Neben der
aktuellen Abstimmung der Maßnahmen bedarf es der
Entwicklung eines Frühwarnsystems für SubsaharaAfrika insgesamt. Zu begrüßen ist, dass auf EU-Ebene
bereits im Juni letzten Jahres eine neue Partnerschaft der
Geberländer, die Initiative mit dem Namen AGIR Sahel,
Alliance Globale pour l’Initiative Resilience, ins Leben
gerufen wurde und die Mittel für die humanitäre Hilfe
der EU um 40 Millionen auf 337 Millionen Euro aufgestockt wurden, und zwar zusätzlich zu den 208 Millionen Euro für die Projekte der Ernährungssicherheit. Ver27174
treter der EU-Mitgliedstaaten, der USA, Norwegens,
Brasiliens, der Vereinten Nationen, der Weltbank, der
Afrikanischen Entwicklungsbank und anderer Organisationen sind zu AGIR eingeladen.
Der EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs erklärte zu AGIR - ich zitiere -:
In der heutigen Zeit ist es schwierig, zu akzeptieren,
dass manche Menschen nicht genug zu essen haben. Dies kann verhindert werden, indem mit den
Sahelländern und internationalen Partnern zusammengearbeitet wird, um tragfähige landwirtschaftliche Systeme aufzubauen und somit künftige Krisen
zu vermeiden. Allerdings kann eine solche Widerstandsfähigkeit nicht über Nacht entwickelt werden.
Die Initiative AGIR Sahel wird alle wichtigen Akteure auf diesem Gebiet zusammenbringen und den
Menschen in der Region auf lange Sicht Hoffnung
auf eine stabilere Zukunft geben. Die EU wird ihren
Teil leisten und in den kommenden Jahren die
Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit in den
Mittelpunkt ihrer Unterstützung stellen. Damit wird
eine fundamentale Grundlage geschaffen, um auf
nachhaltiges und breitenwirksames Wachstum hinzuarbeiten.
Das ist genau das, worauf Sie vorhin hingewiesen haben.
Ich kann Herrn Piebalgs nur ausdrücklich zustimmen,
insbesondere nach den Erlebnissen und Begegnungen
am Horn von Afrika, von denen ich gerade erzählt habe.
Natürlich engagiert sich die Bundesregierung in der
Sahelregion. Sie ist drittgrößter bilateraler Geber des
Welternährungsprogramms. Das BMZ und das Auswärtige Amt stehen in ständigem Kontakt mit den Partnern
in Europa. Die Notwendigkeit einer Aufstockung der
Hilfe wird jederzeit im Blick behalten.
In welche Richtung muss die Hilfe nun weisen? Es ist
sicherlich ein ganzes Bündel von Maßnahmen nötig.
Von weitreichenden politischen Initiativen, zu denen
auch militärische Interventionen, wie wir sie jetzt erleben, gehören können, bis hin zu schneller humanitärer
Hilfe muss das Portfolio der Instrumente reichen.
In dem Antrag werden deshalb 20 verschiedene Forderungen an die Bundesregierung gestellt. Ich finde allerdings, man verzettelt sich und schadet dem gutgemeinten Anliegen. Wir sehen, wie schnell die Lage sich
verändert; auf der einen Seite haben wir die gute Ernte,
auf der anderen Seite die politische Instabilität. Deshalb
lehnen wir diesen Antrag ab. Das haben Sie wahrscheinlich nicht anders erwartet.
({3})
Wir unterstützen aber insbesondere das Anliegen einer
koordinierten Gesamtstrategie. Ich bitte an dieser Stelle
um weitere konstruktive Zusammenarbeit, was Mali,
aber auch die Sahelregion insgesamt betrifft.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem
vorliegenden Antrag werden einzelne Forderungen erhoben, die wir durchaus unterstützen, etwa die Erhöhung
der Mittel für entwicklungspolitische Maßnahmen, die
auf eine nachhaltige Ernährungssicherung in der Sahelregion abzielen. Ja, die Bekämpfung dieser humanitären
Katastrophe muss endlich im Zentrum der Arbeit der
Bundesregierung stehen.
({0})
Das Problem ist nur, dass die Grünen erneut die Forderung nach entwicklungspolitischen Maßnahmen mit
der Forderung nach militärischen Maßnahmen verknüpfen. Da befinden sie sich in trauter Einigkeit mit der SPD
und der Bundesregierung. Dieser Ansatz der sogenannten vernetzten Sicherheit ist schon in Afghanistan gescheitert.
({1})
Das Schlimmste aber ist: Er behindert die humanitäre
Hilfe.
In einem offenen Brief haben die Hilfsorganisationen
„Ärzte ohne Grenzen“ und „Ärzte der Welt“ genau das
mit Bezug auf Mali kritisiert. Sie schreiben an Außenminister Westerwelle, er missbrauche - ich zitiere - „das
Ansehen der humanitären Hilfe, um eine militärische Intervention unter Beteiligung der Bundesregierung politisch annehmbarer zu machen“. Der Bundeswehreinsatz
trägt zur Eskalation der Gewalt bei, die zivile Helfer
zum Angriffsziel macht. Das ist ein Grund, warum wir
ihn ablehnen.
({2})
Der Krieg in Mali löst keines der sozialen und politischen Probleme, die zu der humanitären Katastrophe geführt haben. Er löst keines der Probleme, die zur Abspaltung des Nordens geführt haben. Im Gegenteil: Der
Krieg hat schon jetzt zu einer erheblichen Steigerung der
ethnischen Spannungen geführt. Die französische Zeitung Le Monde zitiert einen Bewohner der Stadt Mopti
nach der Rückeroberung durch die malische Armee. Er
sagt: In Mopti wird Jagd auf Menschen gemacht. Die
Armee verfügt über eine Einheit, die Ermittlungen
durchführt. Bestimmte Leute werden verhaftet und erschossen. - Das war abzusehen.
Ein weiteres Thema ist das Anwachsen der Flüchtlingsströme durch den Krieg. Der UNHCR warnt, dass
es in naher Zukunft 300 000 zusätzliche Vertriebene innerhalb von Mali sowie mindestens 400 000 weitere
Flüchtlinge in den Nachbarländern geben könnte. Das
sind doppelt so viele, wie vor der französischen Intervention auf der Flucht waren.
Es ist nicht so, dass es in Mali niemanden gäbe, der
diese Entwicklung stoppen will. Bürgerrechtsgruppen
planen seit Wochen eine Bürgerkarawane für den Frieden zwischen den Städten Segou und Mopti. Ziel dieser
Karawane war es, für einen Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren. Doch die französische
Armee hat die vorgesehene Straße nicht freigegeben.
Man sieht: Krieg behindert nicht nur die Arbeit der humanitären Helfer, sondern auch die von zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich für zivile Lösungen der
Probleme einsetzen.
Frankreich hat in den vergangenen vier Jahrzehnten in
vielen afrikanischen Staaten militärisch eingegriffen.
Nie ging es wirklich um die humanitäre Situation; immer
ging es darum, die Interessen von Firmen wie dem Ölkonzern Total oder dem Atomkonzern Areva zu schützen. Auch im Sand von Mali sucht Total nach Öl. Es
geht auch um die riesigen Vorkommen von Uran in Niger, die größten auf dem afrikanischen Kontinent. Vor
wenigen Tagen haben wir die Nachricht gelesen, dass
Frankreich nun auch die Uranminen im benachbarten
Niger militärisch schützen möchte.
({3})
In Afrika findet ein Wettlauf um Rohstoffe statt.
Deutschland will in diesem Spiel mitspielen. Das lehnen
wir ab.
({4})
Wir unterstützen jede humanitäre und zivile Maßnahme, die zur Verbesserung der Lebenssituation der
Menschen in der Sahelregion führt. Der Ansatz der Grünen allerdings schafft nur ein dürftiges Deckmäntelchen
für die Unterstützung Deutschlands in dem Krieg.
Deswegen lehnen wir diesen Antrag genauso ab, wie
wir die Entsendung von Transall-Maschinen und die Unterstützung der Luftbetankung der französischen Kriegsmaschinen ablehnen. Deshalb sagen wir Nein zu diesem
Antrag.
({5})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegin Katja Keul das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Spätestens Ende 2011 war absehbar, dass Mali
ein Kollateralschaden des Libyen-Einsatzes werden
würde. Mit dem heute vorliegenden Antrag wollten wir
bereits im Februar 2012 auf eine Konfliktprävention hinwirken. Doch während der Erarbeitung überschlugen
sich die Ereignisse. Als wir den Antrag schließlich einbrachten, erfuhr er immerhin eine deutliche Zustimmung
vonseiten der Entwicklungspolitikerinnen und -politiker.
Dennoch wurde er in den Ausschüssen von der Mehrheit
abgelehnt. Da hilft es auch nicht, dass Sie diese Woche
eine Aktuelle Stunde anmelden. Das Thema ist schon
lange aktuell.
({0})
In Mali drohte 2011 wieder einmal eine Hungerkatastrophe. Die Armee dieses zwar demokratischen,
aber bitterarmen Staates war angesichts der schwerbewaffneten Tuareg-Heimkehrer aus Libyen völlig überfordert.
Im Januar 2012 wurden 100 malische Soldaten im
Norden Malis brutal massakriert. Die Armee weigerte
sich letztlich, sich weiter verheizen zu lassen, und zog
schließlich am 21. März nach Bamako, wo sich die Regierung ohne weiteren Widerstand zurückzog. Spätestens jetzt hätte der deutsche Außenminister zivile
Krisenprävention betreiben können. Aber es kam wie
immer: Erst als die militärische Option auf dem Tisch
lag, haben Sie begonnen, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Dabei hätten frühzeitige international koordinierte Verhandlungen eine gute Aussicht auf Erfolg
gehabt, da die islamistischen Gruppen keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben. Selbst die Tuareg, die ursprünglich mit ihrem Unabhängigkeitsbestreben eine Ursache der Eskalation setzten, haben sich größtenteils von
den Islamisten distanziert und sind bereit, sich wieder in
den malischen Staat integrieren zu lassen. Die Situation
im Land ist daher in keiner Weise mit Afghanistan vergleichbar, wo die fundamentale Glaubensausrichtung der
Taliban fest in der paschtunischen Bevölkerung verankert ist.
Trotz dieser positiven Ausgangslage ist weitere Zeit
verloren worden, sodass der Vorstoß der Islamisten nach
Süden eine militärische Intervention notwendig machte.
Ja, ich sage in der Tat „notwendig“ und bezichtige die
Franzosen an dieser Stelle auch nicht der üblichen postkolonialen Interessenverfolgung. Nachdem Mali bereits
zwei Drittel seines Territoriums verloren hat, hätte der
weitere Durchmarsch der Islamisten nach Bamako das
Ende des malischen Staates bedeutet. Der von uns so
dringend geforderte politische Prozess hätte keinen Anknüpfungspunkt mehr gehabt.
Auch der treffende Hinweis darauf, dass die Franzosen schließlich auf das Uran aus der Region angewiesen
sind, um ihre Atomkraftwerke zu betreiben, reicht nicht
aus, um die Motivation der Regierung Hollande an dieser Stelle zu diskreditieren.
({1})
Die neue französische Regierung hat glaubwürdig eine
Abkehr von der bisherigen Politik Sarkozys, von Françafrique, eingeleitet.
({2})
Die Franzosen waren jedoch die Einzigen, die nach
wie vor in der Region militärisch präsent und einsatzbereit waren, als sie das Hilfeersuchen der Malier erreichte.
Dadurch ist ihnen eine Rolle zugekommen, die sie eigentlich nicht mehr spielen wollten. Das ist eine große
Herausforderung für die französische, aber auch für die
europäische Außenpolitik.
Wer den Zustand der Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien kennt, weiß, was es bedeutet, wenn in
der aktuellen Situation selbst die Algerier den Franzosen
Überflugrechte gewähren.
Wichtig ist in der jetzigen Lage vor allem, dass nicht
wieder der Blick auf den politischen Prozess durch die
einseitige Konzentration auf das Militärische verloren
geht.
({3})
Nach der Vertreibung der Terroristen aus den Städten in
Nord-Mali können jetzt endlich die notwendigen Wahlen
so durchgeführt werden, dass alle Malier teilnehmen
können. Das muss jetzt größte Priorität haben.
({4})
Außerdem muss die eingefrorene Entwicklungszusammenarbeit wieder aufgenommen werden; denn ohne
finanzielle Mittel kann die Regierung weder Wahlen
durchführen noch staatliche Strukturen stabilisieren.
Das größte Risiko des Militäreinsatzes sehe ich derzeit darin, dass zivile Opfer und Racheakte am Ende
doch noch zu Allianzen und Solidarisierungen führen,
die Verhandlungen deutlich erschweren könnten. Darauf
zu achten, ist nicht nur die Verantwortung der Franzosen,
sondern der Europäischen Union insgesamt und damit
auch der Bundesregierung. Diese Verantwortung wahrzunehmen, ist letztlich entscheidender als die Bereitstellung von Transall-Flugzeugen und die Unterstützung der
Luftbetankung. Werden Sie dieser Verantwortung endlich gerecht!
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Sahel-Region stabilisieren - Humanitäre Katastrophe eindämmen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11431, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10792 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister ({0})
- Drucksache 17/11267 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 17/12221 Berichterstattung:Abgeordneter Jens Ackermann
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion das
Wort.
({2})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Deutschland verfügt über ein hochentwickeltes Gesundheitssystem, um das uns viele andere
Nationen zu Recht beneiden. Wir haben in den letzten
Jahren und Jahrzehnten grundlegende Verbesserungen
und Fortschritte in der Krebsfrüherkennung und Krebsbehandlung erzielen können. Dennoch - es ist eine traurige Wahrheit -, Krebs ist immer noch die zweithäufigste
Todesursache in Deutschland.
Fest steht: Die Krebsfrüherkennung ist in der Krebsbekämpfung eine unserer wichtigsten Säulen. Gerade die
Früherkennungsangebote werden von den Bürgern aber
leider nur unzureichend genutzt. Deshalb müssen wir
hier besser werden.
({0})
Mit persönlichen Einladungen zur Krebsfrüherkennung werden wir die Menschen künftig besser erreichen.
Das gilt nicht nur, aber gerade auch für Menschen aus
bildungsferneren Schichten. Damit die Bürger diese Einladungen auch annehmen, werden wir die Informationen
über die Krebsfrüherkennung verbessern. Die Menschen
müssen ganz klar über Nutzen, aber auch Grenzen der
Krebsfrüherkennung informiert werden. Tatsache ist: Je
besser die Menschen informiert sind, meine Damen und
Herren, umso verantwortungsbewusster und auch umso
selbstbestimmter gehen sie mit dieser Einladung zur
Krebsfrüherkennung um.
Weiterhin führen wir eine konsequente Qualitätssicherung und Erfolgskontrolle der Früherkennungsprogramme ein. Damit können wir nicht nur Nutzen und
Grenzen der Programme noch besser analysieren, sondern wir sind auch in der Lage, sie noch weiter zu verbessern. Mit dieser Vorgehensweise steigern wir aber
nicht nur die Qualität; wir gewinnen auch das Vertrauen
der Menschen.
Dass Vertrauen an dieser Stelle wichtig ist, zeigen
auch entsprechende Studien, die uns das Ministerium
vorgelegt hat. Danach wollen 90 Prozent der Frauen, die
am Mammografie-Screening teilgenommen haben, einer
neuerlichen Einladung in jedem Fall nachkommen, weil
sie sich über Nutzen und Grenzen des MammografieScreenings ausreichend informiert fühlten. Information
ist an dieser Stelle also ganz besonders wichtig. Daher
sind diese Studien für mich ein eindeutiger Beleg dafür,
dass wir mit unseren Maßnahmen zur Verbesserung der
Krebsfrüherkennung genau richtig liegen, meine Damen
und Herren.
({1})
Die Diagnose Krebs ist für die Betroffenen immer
eine erschütternde Nachricht. Deshalb ist es wichtig,
dass sich die anschließende Behandlung auf einem sehr
hohen Niveau bewegt. Diese Qualität werden wir für die
erkrankten Menschen künftig noch besser gewährleisten
können. Mit der flächendeckenden Einführung von klinischen Krebsregistern werden wir bald in der Lage sein,
die Qualität der onkologischen Versorgung sektorenübergreifend darzustellen, die Qualität zu bewerten und
sie schlussendlich auch zu verbessern.
Damit bin ich beim zweiten Schwerpunkt unseres Gesetzes. Für uns war es wichtig, dass wir ein gemeinsames
Konzept vorlegen können, das zwischen Bund, Ländern
und Deutscher Krebshilfe abgestimmt ist. Das ist uns mit
diesem Gesetz gelungen. Wir haben uns auf eine einheitliche Gestaltung der flächendeckenden onkologischen
Krebsregistrierung geeinigt. Die einheitlichen Maßstäbe
sorgen für eine Qualitätssicherung in der onkologischen
Versorgung mit einem konkreten Nutzen für die Patienten. Wichtig ist aber auch, dass die Deutsche Krebshilfe
circa 90 Prozent der Kosten in Höhe von insgesamt
8 Millionen Euro für den Aufbau des Krebsregisters
übernimmt. Lediglich die restlichen 10 Prozent liegen in
der Verantwortung der Länder. Die Betriebskosten werden überwiegend aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert.
Mit dem Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz
verbessern wir spürbar die Krebsfrüherkennung und die
Qualität der onkologischen Versorgung. Die damit einhergehenden Maßnahmen verbinde ich mit einer Botschaft an die vielen Menschen, die jedes Jahr an Krebs
erkranken: Eine Krebserkrankung bedeutet nicht Hoffnungslosigkeit, sondern eine Herausforderung, der wir
gemeinsam erfolgreich begegnen können.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
noch auf zwei Themen zu sprechen kommen, die in den
letzten Wochen häufig und heftig debattiert wurden.
Erstens: Korruption und Bestechlichkeit bei Ärzten.
Das dürfen wir auf gar keinen Fall durchgehen lassen; da
sind wir uns alle einig. Das muss geahndet werden. Wir
wollen die Ärzteschaft aber auch nicht unter Generalverdacht stellen. Deshalb haben wir mit Augenmaß gehandelt. Die KVen sind jetzt befugt, den notwendigen Datenabgleich mit den Kammern vorzunehmen. Das ist die
Voraussetzung dafür, im Rahmen des Berufsrechtes Korruption zu sanktionieren.
({2})
Zweitens: Chefarztboni. Ich freue mich, dass es uns
gelungen ist, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine
weitere Regelung zur Verbesserung der Qualität der Versorgung auf den Weg zu bringen. Zukünftig wird es im
Einvernehmen mit der Bundesärztekammer Empfehlungen der DKG geben, wie leistungsbezogene Zielvereinbarungen auszusehen haben. Diese Empfehlungen
schließen Zielvereinbarungen aus, die auf finanzielle
Anreize bei einzelnen Leistungen abstellen. Damit soll
und wird die Unabhängigkeit medizinischer Leistungen
gesichert werden.
({3})
Alle Krankenhäuser, die sich nicht an diese Empfehlungen halten, müssen das künftig offenlegen. Damit
schaffen wir die notwendige Transparenz. Der Patient
kann schwarz auf weiß nachlesen, wie das in seinem
Krankenhaus vor Ort gehandhabt wird. Denn für die Patienten ist doch wirklich nur eines wichtig: die fachliche
Unabhängigkeit der medizinischen Entscheidung, auf
deren Grundlage der Patient gegebenenfalls operiert
wird. Dass dies gewährleistet ist, haben wir im Rahmen
des vorgelegten Gesetzentwurfs erreicht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Koalition hat zunächst einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Empfehlungen des Nationalen Krebsplanes und
zur Einführung klinischer Krebsregister vorgelegt. Dann
hat sie zwei sachfremde Änderungsanträge angeschlossen. Diese haben das Ziel, zu verhindern, dass wegen
Chefarztboni unnötige Operationen in Krankenhäusern
durchgeführt werden. Hier sah sich die Koalition in Zugzwang. Denn als wir das Patientenrechtegesetz beraten
haben, haben Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, dieses Thema ausgeklammert. Dabei ist es natürlich zweifellos so, dass es ein ganz wichtiges Patientenrecht ist, dass sich Patienten darauf verlassen können
müssen, dass sie nur dann operiert werden, wenn es auch
nötig ist,
({0})
und nicht, wenn vielleicht in einer Abteilung noch einige
Operationen fehlen, damit dann der Chefarztbonus gezahlt werden kann.
({1})
Ich komme zunächst einmal zurück zum Gesetz mit
dem sperrigen Namen „Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz“. Dieser Name führt auch dazu, dass sich
niemand außerhalb der Fachwelt für dieses Gesetz interessiert - eigentlich zu Unrecht, weil es ein wichtiges
Gesetz ist.
({2})
Dieses Gesetz fußt auf dem Nationalen Krebsplan,
der noch zur Regierungszeit der SPD aufgestellt worden
ist. Ganz wichtig ist, dass Krebs mithilfe von organisierten, qualitätsgesicherten Früherkennungsuntersuchungen frühzeitig erkannt werden soll. Vorbild für diese
Früherkennungsuntersuchungen ist das MammografieScreening-Programm.
Die Länder werden zur Einrichtung klinischer Krebsregister verpflichtet. Klinische Krebsregister erheben die
Daten aller krebskranken Patientinnen und Patienten einer Region, von der Diagnosestellung über die Behandlung bis zum gesamten Verlauf. Diese Daten werden mit
den vorliegenden Daten der epidemiologischen Krebsregister verknüpft, die das Auftreten und das Vorkommen
von Krebserkrankungen in einer Region aufzeigen. Mithilfe dieser beiden Register und ihrer Verknüpfung werden wir zukünftig erstmalig in Deutschland erkennen,
welche Therapie unter welchen Bedingungen die besten
Ergebnisse liefert. Wir werden auch den Nutzen von
Früherkennungsuntersuchungen bewerten können, die
zum Beispiel im Rahmen des Mammografie-Screenings
oder des geplanten Darmkrebs-Screenings durchgeführt
werden. Auch für die Versorgungsforschung sind diese
Daten von großer Bedeutung. Insgesamt muss man sagen,
dass sich die Qualität der Behandlung von Patientinnen
und Patienten mit Krebs dadurch deutlich verbessern
wird.
Die Deutsche Krebshilfe übernimmt die Anschubfinanzierung für den Aufbau der klinischen Krebsregister. Hierfür sei der Deutschen Krebshilfe ausdrücklich
gedankt.
({3})
Das Engagement der Krebshilfe zeigt aber auch auf,
welch hohe Erwartungen sie hinsichtlich einer Verbesserung der Versorgungsqualität durch die Krebsregister
hat.
Seit Wochen wird nun in der Öffentlichkeit darüber
diskutiert, ob in deutschen Krankenhäusern unnötige
Operationen durchgeführt werden, weil es leistungsbezogene finanzielle Zuwendungen insbesondere für Chefärzte gibt. Es ist richtig, dass der Gesetzgeber hier handeln muss. Aber was Sie uns hier vorgelegt haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP,
wird der Problematik in keiner Form gerecht. Wie so oft
erwecken Sie hier den Eindruck des Tätigwerdens, wohl
wissend, dass alles so bleibt, wie es ist.
Sie sagen, Sie wollen keine Bonusverträge im Krankenhausbereich zulassen, die Zielvereinbarungen im
Hinblick auf bestimmte Leistungen enthalten. Aber Sie
machen den Bock zum Gärtner; denn gerade die Deutsche Krankenhausgesellschaft soll sich bis zum 30. April
dieses Jahres mit der Ärztekammer auf Empfehlungen
einigen, wie denn Chefarztverträge aussehen sollen.
({4})
Sie wissen doch selbst, dass die Deutsche Krankenhausgesellschaft mehrfach betont hat, dass sie gar keinen
Handlungsbedarf sehe,
({5})
dass es solche detaillierten Verträge überhaupt nicht
gebe und alles viel subtiler sei.
Was ist denn nun eigentlich, wenn solche Empfehlungen bis zum 30. April nicht zustande kommen? Dann
können Sie nur „Du, du, du!“ sagen; da werden sich die
Krankenhäuser aber fürchten. Sie haben keinerlei Ersatzvornahme vorgesehen. Einmal angenommen, es käme zu
solchen Empfehlungen und die Krankenhäuser hielten
sie nicht ein, was passiert denn dann, was sind die Konsequenzen?
({6})
Es gibt keine Konsequenzen. Sie sagen nur, die Krankenhäuser müssten dann in ihren Qualitätsberichten auf
Bonusverträge hinweisen.
Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich schon einmal näher mit Qualitätsberichten von Krankenhäusern beschäftigt hat. Solch ein Qualitätsbericht ist ungefähr so umfangreich wie ein örtliches Telefonbuch.
({7})
Der Qualitätsbericht der Charité hat ungefähr 1 000 Seiten. Darin sind so viele Zahlen enthalten wie in den Gelben Seiten für Berlin. Diese Berichte sind für Laien nicht
verständlich; sie schaffen keinerlei Transparenz für Patientinnen und Patienten.
({8})
Gerade kam von Ihnen der Zuruf: „Das steht in der
Zeitung!“ Ja, ganz genau; Sie haben im Ausschuss gesagt, was Sie wollen: Sie verlassen sich darauf, dass zum
Beispiel die Medien die Informationen aufbereiten und
in verständlicher Form allen Menschen zur Verfügung
stellen;
({9})
die Patienten würden dann Kliniken ohne solche Verträge den Vorzug geben.
Doch was machen denn zum Beispiel Patienten, die
wegen eines Notfalls aufgenommen werden, oder Patienten, die keine Wahlmöglichkeit haben? Die können
dann höchstens nachträglich zur Kenntnis nehmen, dass
ihr Krankenhaus solche Bonusverträge hat. Vielleicht
nehmen sie es auch zur Kenntnis, wenn sie noch im
Krankenhaus liegen, und sind dann verunsichert. Aber
sie können dann im Grunde genommen nichts tun.
Ich sage Ihnen eines: Ihre Regelung zur Bekämpfung
der Mengenausweitung von Leistungen aufgrund von
Bonusverträgen ist ein Papiertiger. Er jagt niemandem
Angst ein. Er wird in diesem Bereich nichts verändern.
Aufgrund dieser Regelung werden wir dem vorliegenden Gesetz nicht zustimmen. Wir werden uns der
Stimme enthalten, auch wenn wir dem Teil der Krebsregistrierung und der Krebsfrüherkennung zustimmen
würden. Insgesamt enthalten wir uns bei diesem Gesetz
der Stimme.
({10})
Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Volkmer, vielleicht darf
ich zunächst etwas zu der Funktion und der Bedeutung
der von Ihnen angesprochenen Qualitätssicherungsberichte sagen. Ich glaube, Sie lassen völlig außer Acht,
welche Funktion diese Qualitätssicherungsberichte nicht
nur in dem von Ihnen genannten Punkt, sondern auch in
vielen anderen Punkten haben. Wann sind denn diese
Qualitätssicherungsberichte als Pflichtvorgabe für die
Krankenhäuser in dieser Form beschlossen worden? Das
ist 2005 gewesen, da ist die SPD mit in der Regierung
gewesen. Sie haben doch die Regelungen und damit die
Telefonbücher, wie Sie die Berichte jetzt genannt haben,
beschlossen. Diese Regelungen haben Sie ins Gesetz gebracht.
Wenn wir diese Telefonbücher jetzt dazu nutzen, weitere Telefonnummern beizufügen, dann bedeutet das,
dass man damit jemanden adressieren kann.
({0})
Nun kann das natürlich nicht jeder, etwa wenn er kein
Telefon zur Verfügung hat oder nicht wählen kann. Aber
das ist kein Problem; denn diese Qualitätssicherungsberichte werden überall dazu benutzt, Transparenz herzustellen, zum Beispiel durch die gesetzlichen Krankenkassen, durch die ärztlichen Körperschaften und durch
die Öffentlichkeit.
Deswegen, verehrte Frau Kollegin Volkmer, hauen
Sie sich doch selbst ins Gesicht, wenn Sie die von Ihnen
beschlossenen Qualitätssicherungsberichte jetzt in dieser
Weise als einen Beitrag zur Intransparenz oder wie auch
immer werten. Da wäre ich für etwas mehr historische
Genauigkeit tief dankbar. Deswegen, finde ich, ist das
kein Einwand.
({1})
Jetzt zu der zweiten Frage: Was ist denn das Ziel? Ja,
Sie haben natürlich recht: Das Thema Mengenentwicklung kann nicht allein über Boni für Chefärzte und deren
Vergütung im Zusammenhang mit einer Mengenanbindung gelöst werden. Aber unsere Koalition hat schon beschlossen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und
dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen
den Arbeitsauftrag zu erteilen, ein Gutachten in Auftrag
zu geben. Ich höre aus dem Spitzenverband, dass man
jetzt so weit sei, die Ausschreibung für dieses Gutachten
in Gang zu bringen. Daraus soll ja dann eine Gesamtkonzeption werden.
Aber wenn wir das wollen, müssen wir an Stellen, wo
wir handeln können, auch handeln. Ich finde die Formulierung, die wir gestern im Gesundheitsausschuss beschlossen haben, sogar noch ein Stück weit besser als
die, die wir beschlossen hätten, wenn wir uns zu dem
Zeitpunkt verständigt hätten, als über das Patientenrechtegesetz diskutiert wurde. Denn die Formulierung ist
jetzt klarer und eindeutiger. Sie beruht ja auch auf einem
Formulierungsvorschlag der Bundesärztekammer und
nicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
({2})
Deswegen meine ich, dass es nicht in Ordnung ist,
wenn Sie das hier als weiße Salbe apostrophieren.
({3})
Natürlich kann man nicht immer alles in einem einzigen
Gesetz regeln.
Ich glaube, dass wir drittens auch Klarheit darüber haben müssen, dass wir mit diesem Gesetz natürlich nicht
alle Aufgaben, die im Zusammenhang mit der Prävention von Krebserkrankungen von Bedeutung sind, erfüllen können. In meiner Wahrnehmung ist in den Industrieländern die häufigste Ursache für Krebserkrankungen
der Konsum von Tabak. Das ist vermeidbar. Auf Zigaretten zu verzichten und auf seine Gesundheit zu achten, erfordert aber Wissen und vor allem Eigenverantwortung.
Deswegen ist der Aufklärungsansatz in der Primärprävention, immer wieder Handlungserfordernisse zu betonen, richtig.
Gleichwohl ist es auch richtig, in diesem Gesetz die
Früherkennung zu regeln. Ich betone das deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der grünen Fraktion, weil ich an Ihrem Entschließungsantrag vieles aus
Sicht der Opposition verstehe.
({4})
Eines verstehe ich aber überhaupt nicht, und das ist folgender Satz, den Sie in Ihrem Entschließungsantrag
schreiben:
Appelle an die Eigenverantwortung und über Ärztinnen/Ärzte zu vermittelnde Individualprävention
laufen ins Leere und gehören der präventionspolitischen Steinzeit an.
Wenn das so wäre, dann müssen Sie aus einer Zeit
stammen, die vor der Steinzeit liegt; denn gegenüber Ihrer Kenntnislage wäre das ein Fortschritt. Insofern muss
ich sagen: Sie bringen bei der Prävention Etliches durcheinander.
({5})
Gestatten Sie eine Frage?
Ich gestatte.
Bitte schön.
Verehrter Kollege Henke, Sie haben sicherlich schon
davon gehört, dass Prävention im Setting stattfinden
muss, dass man gerade diejenigen erreichen muss, die
nicht hochgebildet und mit gutem Einkommen versehen
sind und wesentlich weniger Möglichkeiten haben, ihre
Verhaltensweisen zu ändern. Sie tun es sicher nicht deswegen, weil der Arzt sagt: Es wäre gut, mit dem Rauchen aufzuhören. - Damit erreicht man gebildete Leute,
die es ohnehin schon wissen. Man muss aber doch die
anderen erreichen. Ist Ihnen das wirklich nicht bekannt?
Selbstverständlich ist mir das bekannt. Es ist auch
richtig, das zu tun. Deswegen ist der Setting-Ansatz,
wenn Sie etwa an die betriebliche Gesundheitsförderung
oder die Gesundheitsförderung in Bildungseinrichtungen, Schulen oder auch Altenheimen denken, eines der
Kernelemente der Bundesregierung für den zurzeit diskutierten Referentenentwurf zum Thema Prävention. Ich
bin sehr neugierig, was Sie tun werden, wenn es um diesen Gesetzentwurf geht und er den Bundesrat passieren
soll.
({0})
Verfolgen Sie dann die Strategie von Frau Ferner, diesen
Gesetzentwurf der Diskontinuität anheimfallen zu lassen, weil Sie sagen: „Wir spielen ein Machtspiel; diese
Ansätze der Prävention wollen wir über den Bundesrat
verhindern“? Ich werde sehr genau darauf achten, ob die
einzige grüne Gesundheitsministerin dieses Spiel der
SPD, das Frau Ferner angekündigt hat, mitmachen wird.
Da können Sie Ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie dann aus der Zeit
vor der Steinzeit in die Moderne finden.
({1})
Der entscheidende Punkt, der mit diesem Gesetz verbunden ist, ist, dass wir die Therapien transparenter bewerten können. Ich glaube, dass wir mit den Krebsregistern eine Möglichkeit schaffen, mehr Transparenz als
bisher darüber herzustellen, wie qualifiziert Behandlungen ablaufen. Das ist ein angemessenes Instrument bei
einer Krankheit, die so sehr in das eigene Leben einschneidet, wie es bei Krebs der Fall ist. Dort die zusätzliche Sicherheit zu schaffen, dass alle erreichbaren und
verfügbaren Daten miteinander verbunden werden und
zum Gegenstand von Versorgungsforschung und zum
Gegenstand der Weiterentwicklung von Therapiestrategien werden, ist der gute Teil an diesen Krebsregistern.
Deswegen bin ich darüber froh, dass wir uns in der
Koalition aufgrund des Vortrags der Sachverständigen
aus dem Bereich der Krebsregister in der Anhörung dazu
entschieden haben, den Betrag für die Krebsregisterpauschale, der in dem ursprünglichen Entwurf vorgesehen
war, zu korrigieren. Wir haben erkannt, dass die Höhe
der Kosten, die Prognos ermittelt hatte, zu gering war;
denn die Register, die von Prognos geprüft wurden,
konnten den Aufgabenstand nicht komplett erfüllen, den
wir im Gesetz normieren. Deswegen ist die Entscheidung, die Pauschale von 94 Euro auf 119 Euro zu erhöhen, eine richtige Entscheidung.
({2})
Gestern im Ausschuss war die wesentliche Kritik an
der Früherkennung die, dass der Gemeinsame Bundesausschuss nicht genügend Flexibilität gegenüber den
Vorgaben aus Richtlinien hat, die von der Europäischen
Kommission publiziert werden. Dazu muss man einfach
einen Blick ins Gesetz werfen. Drei Jahre hat der Gemeinsame Bundesausschuss Zeit, um festzustellen, ob
eine Maßnahme überhaupt von der gesetzlichen Krankenkasse zu bezahlen ist. Drei Jahre hat er Zeit, um festzustellen, in welcher Form sie in Deutschland implementiert werden soll. Wenn dann sachliche Zweifel
bestehen, ist noch einmal ein Zeitraum von fünf Jahren
vorgesehen, in dem dafür gesorgt wird, dass zusätzliche
Erkenntnisse gewonnen werden, die dann auf die Gestaltung der Früherkennungsprogramme Einfluss nehmen.
Ich weiß, dass ein Teil der Beobachter der Meinung
ist, dass dieser Zeitraum eher zu lang ist. Es kann auch
keine Rede davon sein, dass der Gemeinsame Bundesausschuss von den Entscheidungen ausgeschlossen wäre
und gewissermaßen eine Brüsseler Kommandomedizin
zu verfolgen hätte. Er behält alle Freiheiten, das Vorgehen in Deutschland den hier verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen.
Ich will meine Rede wie gestern damit schließen, Sie
sehr zu bitten, keine parteipolitische Konfrontation aufzumachen, die nicht notwendig ist, und in Bezug auf die
Teile, die Sie kritisieren, anzuerkennen, dass auch aus
Ihrer Warte das Glas mindestens halb voll ist. Es ist doch
besser, ein halb volles Glas zu nutzen, als das Glas auszuschütten und anschließend zu sagen: Jetzt ist gar
nichts mehr drin.
Ich bitte Sie herzlich, sich nicht nur, wie gestern im
Ausschuss, zu enthalten, sondern unserem Gesetzentwurf doch noch zuzustimmen. Ich halte das auch für ein
gutes Signal gegenüber dem Bundesrat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Martina Bunge für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
die Linksfraktion möchte ich bekunden: Wir sind froh,
dass der Bundestag heute, fast auf den Tag genau am
60. Gründungstag des DDR-Krebsregisters, endlich ein
Gesetz für ein flächendeckendes Krebsregister in der gesamten Bundesrepublik beschließen will.
({0})
Ich bin froh, dass auch die Finanzierung dafür geregelt
ist und aufgrund von Einwänden sogar noch verbessert
wurde.
Ich kann mich noch allzu gut an die Klimmzüge erinnern, die wir Ende der 90er-Jahre in der Gesundheitsministerkonferenz gemacht haben, um das Gemeinsame
Krebsregister der ostdeutschen Länder als Fortführung
des DDR-Registers zu retten. Ich denke, es ist nicht
schlecht, dass wir das haben.
Nun zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf. Leider sind Sie nicht konsequent genug gewesen. Das Ziel,
alle Tumorarten zu erfassen und die Qualität der Versorgung, aber auch die regionalen Differenzierungen zu erforschen, wird nicht hinreichend zu verwirklichen sein.
Davon sind wir überzeugt. Dass beispielsweise Privatversicherte nicht verpflichtend einbezogen werden,
schwächt die Datenbasis. Hinzu kommt, dass eine zentrale Stelle fehlt, die die Daten sammelt und auswertet,
um optimale Erkenntnisse und Ergebnisse zu erzielen.
Schade ist auch, dass Sie mit dem Gesetzentwurf
nicht der Forderung nach einer vollständigen Kopplung
der Daten der Früherkennung mit den Daten der Krebserkrankungen nachgekommen sind. So werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Nutzen der
Früherkennung nicht voll ermitteln können.
Bei der Krebsfrüherkennung weiten Sie die organisierten Programme aus, beispielsweise die Einladungen
in Zentren. Diese Methode - sie ist umstritten, weil der
Nutzen noch nicht erwiesen ist -, ohne Not gewachsene
Strukturen der Krebsfrüherkennung infrage zu stellen,
bedeutet, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Warum
installieren Sie das Einladungssystem nicht vorerst ergänzend?
({1})
Die wackligen Füße, auf denen das Gesetz in vielen Bereichen steht, machen es uns schwer, Kollege Henke,
ihm einfach zuzustimmen.
({2})
Nun haben Sie zum Gesetzentwurf noch Änderungsanträge gepackt, die auf aktuelle Probleme aufmerksam
machen und bei Missständen Abhilfe schaffen sollen.
Ich nenne als Beispiel die sogenannten Chefarztboni
oder korruptives Verhalten. Aber damit - ich möchte es
zusammenfassen - streuen Sie nur den Medien und der
Bevölkerung Sand in die Augen. Gelöst wird nichts.
Dem ernsthaften Problem, dass aufgrund von Bonuszahlungen für Chefärzte, Oberärztinnen und -ärzte nicht nur
mehr Operationen, sondern leider auch unnötige durchgeführt werden, mit Empfehlungen und Qualitätsberichten begegnen zu wollen, ist abstrus.
({3})
Nach unserer Meinung gehört jeder Anreiz, der Patientenwohl gefährden könnte, abgeschafft.
({4})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Grundgesetz die
Gesundheit der Bevölkerung nicht besser schützt als die
Vertragsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte. Hier käme es
auf die Nagelprobe an.
({5})
Ähnlich ist Ihr Vorgehen bei korruptivem Verhalten
von Ärztinnen und Ärzten. Diesem Interessenkonflikt
nur mit einer besseren Datenübermittlung innerhalb des
Selbstverwaltungssystems begegnen zu wollen, ist wie
eine Filmkulisse: vorne Pappe, hinten nichts.
({6})
Schade, dass Sie mit den Änderungsanträgen den insgesamt guten Ansatz des Gesetzentwurfs so vermurkst
haben; aber das sind wir ja mittlerweile von Ihnen gewohnt. Weil das Ganze aber insgesamt ein gutes Anliegen ist, werden wir uns enthalten.
Ich danke.
({7})
Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um eine
Formulierung von Ihnen, Herr Kollege Henke, aufzunehmen: Das Glas ist bei diesem Gesetzentwurf nur zu
einem Viertel voll, und das reicht uns eben nicht.
({0})
Ja, es gibt positive Punkte. Wir begrüßen die flächendeckende Einführung klinischer Krebsregister, die erhöhten Qualitätsanforderungen für Krebsfrüherkennungsprogramme und auch die bessere Berücksichtigung neuer
medizinischer und epidemiologischer Erkenntnisse
durch Kompetenzübertragung auf den Gemeinsamen
Bundesausschuss. Was wir kritisieren - das ist wichtig,
Herr Kollege Henke -, ist die Fixierung in diesem Gesetzentwurf auf die Früherkennung als angeblich wirksame Maßnahme zur Bekämpfung von Krebserkrankungen. Das leistet die Früherkennung nicht.
An dieser Stelle lohnt sich ein genauerer Blick. In
30 Jahren Mammografie-Screening in den USA kam es
zu insgesamt 1,5 Millionen zusätzlichen Brustkrebsdiagnosen in frühen Stadien. Das hört sich erst einmal gut
an. Andererseits ist die Anzahl der Diagnosen in Spätstadien aber kaum gesunken. Der Harvard-Professor
Gilbert Welch hat daraus abgeleitet, dass es mehr als
1 Million Überdiagnosen gab. Anders formuliert: 1 Million Frauen mit Brustkrebsdiagnose nach dem Screening
wären niemals krank geworden. Nach dem Screening allerdings bekamen die meisten von ihnen eine Operation,
eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung. Solche Er27182
gebnisse sind keinesfalls neu. Viele Studien in den USA
und in Europa haben gezeigt, dass das MammografieScreening nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die
Mortalität, also die Sterblichkeit, hat. Angesichts dieser
Erfahrungen müsste das Einladungswesen zur Früherkennungsuntersuchung eher auf den Prüfstand, als auf
weitere Krebsarten ausgeweitet zu werden.
({1})
Noch dazu soll mit diesem Gesetzentwurf das organisierte Darmkrebs- und Gebärmutterkrebs-Screening
ohne vorherige Prüfung des Nutzen-Schaden-Verhältnisses eingeführt werden. Ein evidenzbasiertes Vorgehen,
wie wir es in der Gesundheitspolitik eigentlich alle wollen, sieht anders aus.
Umso wichtiger ist es, dass die Menschen wahrheitsgemäß informiert werden, dass der Nutzen deutlich geringer ist, als gemeinhin angenommen wird, und der
Schaden von Früherkennungsuntersuchungen deutlich
größer ist, als man bisher gedacht hat. Die aktuellen Einladungsschreiben zum Mammografie-Screening erwecken aber einen ganz anderen Eindruck.
Fatal wäre es, wenn die Menschen für ihre informierte
Entscheidung gegen eine Teilnahme am Screening auch
noch bestraft würden, wie es im Jahr 2007 die Große
Koalition mit der Sanktionsregel des § 62 SGB V gewollt und beschlossen hat. Die Abschaffung dieser
Sanktionsregel ist eine zu begrüßende Klarstellung. Immerhin hatte der Gemeinsame Bundesausschuss schon
dafür gesorgt, dass sie erheblich abgeschwächt wurde.
Wir begrüßen auch, dass Sie jetzt zu der Entscheidung gekommen sind, die Bestrafung von nichttherapiegerechtem Verhalten - auch dies wurde von der Großen
Koalition eingeführt - abzuschaffen. Dies hatte auch
keine Praxisrelevanz, weil alle Ärzte wussten, dass man
auf diese Weise ein Arzt-Patienten-Verhältnis beschädigt.
Ich kann jetzt an die Adresse der schwarz-gelben Koalition nur sagen: Wenn Sie sich in dieser Legislaturperiode noch einen Dienst erweisen wollen, dann sollten
Sie auch die übrigen Sanktionen in § 62 SGB V abschaffen; denn alle Vorsorgeuntersuchungen haben Risiken
und können daher immer nur freiwillig sein, und deren
Nichtinanspruchnahme darf nicht mit Sanktionen belegt
werden.
({2})
Aufgrund dieser Schwächen und Inkonsequenzen
werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Ich will dazu sagen, dass er durch die
Änderungsanträge zum Thema Krankenhaus nicht besser geworden ist. Hier wird nicht konsequent gegen die
Boni vorgegangen. Es hätte eine Lösung geben können,
Herr Henke, wie etwa bei den Boni für die Banker. Da
haben Sie sehr wohl in privatrechtliche Verträge eingegriffen. Hier war das angeblich nicht möglich.
Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit, die Sie
schon deutlich überschritten haben, durch eine Zwischenfrage des Kollegen Henke verlängern?
Ja, gerne.
Ich bekomme hier gerade gesagt, dass mich das Sympathiepunkte kostet. - Liebe Frau Kollegin Bender, Sie
haben ja ausgeführt, dass sich die Koalition dazu entschieden hat, diese Sanktionen für die Nichtteilnahme an
Früherkennungsuntersuchungen zu beseitigen. Wir haben dies im Ausschuss gestern dadurch ergänzt, dass wir
eine ähnlich gerichtete Sanktion im Zusammenhang mit
allen anderen Früherkennungsuntersuchungen beseitigt
haben. Wenn Sie sagen, dass die Teilnahme an der Früherkennungsuntersuchung freiwillig sein muss und aus
der Entscheidung der betreffenden Person resultieren
muss, es also im informierten Einverständnis erfolgt
- dies halte ich für richtig -, dann sind wir doch mit diesem Gesetzentwurf in seiner geänderten Fassung diesem
Ziel näher als vorher. Ich verstehe nicht, warum Sie dem
nicht die Zustimmung erteilen.
Es ist näher als vorher, das ist richtig, aber es ist eben
noch nicht weit genug. - Im Übrigen möchte ich Ihnen
unseren Entschließungsantrag ans Herz legen. Im Entschließungsantrag steht nicht nur der Satz, der Ihnen nicht
gefällt, werter Herr Kollege - dieser Satz ist richtig -, sondern auch vieles, das aufzeigt, wo es bei der Krebsbekämpfung tatsächlich hingehen müsste. Ich kann Sie nur
dazu einladen, dem zuzustimmen.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
diesem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden
wollen, machen wir einen großen Fortschritt in einer Angelegenheit, die für die Menschen in unserem Land sehr
wichtig ist. Es geht um die Bekämpfung einer bedrohlichen und sehr verbreiteten Volkskrankheit, nämlich
Krebs. Wir beseitigen einen Flickenteppich von Krebsregistern, den wir bisher hatten, jedenfalls dort, wo es
überhaupt welche gab. Wir werden bei der Früherkennung von Krebserkrankungen eine bessere Organisation
haben. Wir werden durch die Einführung der flächendeckenden Krebsregister eine bessere Qualitätssicherung
haben. In diesen sollen Daten über das Auftreten der
Krankheit, die Behandlung und den Verlauf im ambulanten und im stationären Bereich landesweit konsequent
erfasst werden. Wir werden durch diese Dokumentation
Rückschlüsse auf die Prozess- und Ergebnisqualität ziehen können. Das ist wichtig. Deswegen war dieses Gesetz überfällig.
Bei einem anderen Thema bewegen wir uns nicht auf
dieser Makroebene, sondern ganz konkret im betriebswirtschaftlichen Bereich. Dies ist - so muss man es nenLothar Riebsamen
nen - ein wunder Punkt. Es geht um die Fehlentwicklung bei der Gestaltung von Verträgen von Chefärzten
und leitenden Ärzten. In den letzten Monaten wurden diverse Studien veröffentlicht, die belegen, dass es Mehrmengen gibt, die nicht durch zusätzliche Morbidität begründet werden können. Es gibt aber auch Studien, die
das genaue Gegenteil besagen.
Ich war im vergangenen Jahr an der Einstellung eines
leitenden Arztes beteiligt, der im Einstellungsgespräch
gesagt hat, er komme deswegen gerne zu uns, weil er es
leid ist, dass sein Einkommen von der Zahl der KnieOPs und Hüft-OPs, die er durchführt, abhängig ist; diese
Erfahrung habe ich als Aufsichtsrat gemacht. Insofern
bin ich überzeugt, dass es hier - völlig unabhängig von
den unterschiedlichen Studienergebnissen - ein ganz
konkretes Problem gibt, das wir mit diesem Gesetz beseitigen werden.
Dabei sage ich aber auch klar, dass ich dem Grunde
nach nichts gegen Zielvereinbarungen habe. Zielvereinbarungen sind ein zeitgemäßes Mittel der Unternehmensführung und des kreativen Managements; das ist
auch im Krankenhaus wichtig - nicht nur das Schielen
auf die Erhöhung des Landesbasisfallwertes im nächsten
Jahr. Wir brauchen Zielvereinbarungen, um dafür zu sorgen, dass im Krankenhaus schonend mit Ressourcen umgegangen wird. Wir brauchen Zielvereinbarungen, um
Hygienestandards und die Qualität zu verbessern und um
sicherzustellen, dass das einzelne Krankenhaus seinen
Versorgungsauftrag erfüllen kann. Dies alles sind unsere
Anliegen.
Aber an einer wesentlichen Stelle unterscheidet sich
die Betriebsführung eines Krankenhauses von der eines
normalen Dienstleistungsbetriebes: Ein normaler Dienstleistungsbetrieb ist darauf ausgelegt, nicht nur Leistungen nachzuahmen, sondern auch neue zu kreieren - ob
sie die Menschheit braucht oder nicht - und sie mit Unterstützung der Werbung zu verkaufen. Genau darum
geht es im Krankenhausbereich eben nicht. Hier geht es
um Eingriffe in die Unversehrtheit des Körpers und um
eine solidarische Finanzierung. Die Leistungen werden
nicht von den Einzelnen, sondern von der Solidargemeinschaft bezahlt.
Allerdings verstehe ich Verwaltungsleiter von Krankenhäusern, dass sie sich - wenn sie in der Situation
sind, dass im Umkreis von 50 Kilometern 100 andere
Krankenhäuser sind, die die gleiche Leistung anbieten
können - etwas einfallen lassen müssen, um am Markt
zu bestehen. Ich verstehe diese Verwaltungsleiter auch
dann, wenn sie sagen: Ich brauche einen hohen Case
Mix, um höhere Entgelte zu erzielen. - Nur: Das ist
nicht die Aufgabe von Krankenhäusern und Verwaltungsleitern. Dafür zu sorgen, dass wir eine geordnete
Krankenhauslandschaft haben, ist Sache der Länder.
Deswegen appelliere ich entschieden an die Länder, ihrer Hauptaufgabe in diesem Bereich, nämlich der Krankenhausbedarfsplanung, endlich wieder nachzukommen
und die Entscheidung, ob es zu viele oder zu wenige
Betten und Krankenhäuser an einem Standort gibt, nicht
dem Markt zu überlassen.
Die Koalition hat bereits an anderer Stelle Maßnahmen getroffen - sie wurden erwähnt -: Von der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind zusammen mit dem
GKV-Spitzenverband Studien in Auftrag zu geben, um
herauszufinden, wie die Mengenregelung in den Griff zu
bekommen ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Maßnahmen, die wir mit diesem Gesetz treffen, ein richtiger
Weg sind. Die Krankenhäuser werden nämlich mehr
oder weniger dazu gezwungen, darzulegen, ob sie die
Vorgaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft und
der Ärztekammer einhalten oder nicht. Jedes Krankenhaus wird sich hüten, als ein Haus, das diese Vorgaben
nicht einhält, identifiziert zu werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Dafür werden die Kassen,
wird die Presse und werden die Patienten sorgen. Insofern führt dieses Gesetz an zwei Stellen zu einem deutlichen Fortschritt: bei der Bekämpfung der Volkskrankheit
Krebs in unserem Land und was die Fehlentwicklungen
bei Chefarztboni in Krankenhäusern angeht.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister. Der Ausschuss
für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12221, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11267 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12223. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Rolle des Sports in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
- Drucksachen 17/9731, 17/11580 Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertMartin GersterDr. Lutz KnopekKatrin KunertViola von Cramon-Taubadel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die SPD stellt in ihrem Antrag fest, dass dem
Sport im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eine unverzichtbare Rolle zukommt, weil er
soziale, sprachliche und kulturelle Barrieren überwindet.
({0})
Meine sehr geehrten Kollegen, vielen Dank für diese Erkenntnisse - nur wissen wir das schon seit einem halben
Jahrhundert.
Wir wissen es nicht nur, wir setzen dies auch in Politik um. Seit 1961 legt die Union in der Auswärtigen
Politik besonderes Augenmerk auf die Sportförderung.
Wir wollen vor allem langfristigen interkulturellen Dialog und Partnerschaften.
Dabei sind wir nicht allein: Wir haben starke Partner
an unserer Seite, darunter - um einige Beispiele zu nennen - den Deutschen Olympischen Sportbund, den Deutschen Behindertensportverband, die Deutsche Sporthochschule Köln und die Universitäten Leipzig und
Mainz. Gemeinsam betreuen wir Projekte, bieten internationale Fortbildungen an und senden Experten in die
ganze Welt, die vor Ort Projekte begleiten und Netzwerke aufbauen. Mehr als 1 400 Projekte haben wir in
den verschiedenen Sportarten durchgeführt.
Was sind diese Projekte? Von der Kooperation zwischen Basketballvereinen aus Deutschland und Namibia
- bei der ganz nebenbei Sportstrukturen in namibischen
Schulen aufgebaut werden - über Wüstenläufe in Ägypten mit Teilnehmern aus aller Welt bis hin zu internationalen Fußballturnieren in Afrika ist alles dabei.
Mit Spaß und fast nebenbei fördern wir dadurch den
Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen und vermitteln den Zugang zur deutschen Sprache, zur deutschen Kultur und unserer Geschichte. Dadurch prägen
wir ein Bild von Deutschland als faires, ambitioniertes,
aber auch tolerantes Land, das sich für andere Länder
engagiert.
Der Sport steht für einen friedlichen Wettkampf, aber
auch für Kooperation und Teamgeist. Für diese Gefühle
müssen die Sportler nicht derselben Religionsgemeinschaft angehören, sie müssen noch nicht einmal dieselbe
Sprache sprechen. Das Motto der Sportförderung des
Auswärtigen Amtes drückt dies wunderbar aus: „Menschen bewegen - Grenzen überwinden“.
Grenzen wurden zum Beispiel mit dem ARABIA Cup
2010 überwunden: Im Nahen Osten wurde ein Fußballturnier nur für junge Frauen ausgerichtet. Die Teilnehmerinnen aus Nordafrika haben diesen Cup gewonnen.
Als Preis bekamen sie die Möglichkeit, nach Deutschland zu reisen. Sie haben unter anderem den Bundestag
besucht, und sie hatten Gelegenheit, die FIFA-Referentinnen und -Expertinnen zu treffen und sich mit ihnen
auszutauschen.
So werden über den Sport hinaus Themen wie das
Recht der Frauen auf Chancengleichheit und auf Selbstverwirklichung transportiert. Nebenbei lernen die Teilnehmerinnen Deutschland als ein weltoffenes Land kennen.
Sie knüpfen Kontakte und nehmen diese Erfahrungen
mit nach Hause. Was noch viel wichtiger ist: Sie teilen
diese Erfahrungen dann mit ihren Familien und mit ihren
Freunden und Bekannten zu Hause. Dadurch multiplizieren sich die Erfolge dieser manchmal wirklich kleinen
Projekte um ein Vielfaches.
Also: Die Sportförderung ist ein wichtiger Bestandteil
unserer Kultur- und Bildungspolitik. Das ist uns auch etwas wert. Wir geben jedes Jahr mehr für Kultur- und Bildungspolitik aus.
({1})
Im Jahr 2004 waren es 560 000 Euro, und letztes Jahr
waren es 785 000 Euro, weil wir wissen, wie wichtig
der internationale Austausch zum Beispiel auch für die
Konfliktprävention und die Konfliktbewältigung ist,
schlicht: weil Menschen, die gute Erfahrungen im Betreiben von Sport gemacht haben, einander weniger bekämpfen.
({2})
- Vielleicht sollten Sie auch mal Sport treiben, dann
würde vielleicht auch Ihr Aggressionspegel ein wenig
sinken.
({3})
Der aktuelle Bericht der Bundesregierung belegt: Wir
fördern den Dialog zwischen den Ländern durch sportliche und kulturelle Begegnungen erfolgreich,
({4})
und unsere Sportförderung wirkt. Wir engagieren uns
besonders in den Entwicklungsländern. Dabei gibt es
tolle Erfolge. Ein Beispiel ist die Geschichte von Pitso
Mosimane. Das ist eine wahre Erfolgsgeschichte. Pitso
Mosimane wuchs in Südafrika in ärmlichsten Verhältnissen auf, ohne Zukunftsperspektive. Im Rahmen eines
Kurzzeitprojektes des Auswärtigen Amts konnte er einen
Trainerschein beim Deutschen Fußball-Bund machen.
Das Ergebnis? Heute ist er Cotrainer der südafrikanischen Fußballnationalmannschaft. Durch dieses Projekt
hat sich nicht nur das Leben von ihm total verändert.
Seine Geschichte zeigt vielmehr das Potenzial, das in
diesen Projekten steckt.
({5})
Es muss nun nicht jeder immer direkt in einem Nationalkader landen oder dahin aufsteigen. Nein, darum geht es
uns bei weitem nicht. Aber alle Teilnehmer an diesen
Projekten wirken als Multiplikatoren. Sie tragen ihre Erfahrungen und ihr Wissen in ihre Heimatländer. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist nachhaltige Auswärtige Kulturpolitik und sinnvolle Sportförderung. Wir helfen vor Ort. Unsere Kultur- und Bildungspolitik ist erfolgreich. Die Projekte der CDU/CSU
und der FDP, die wir anstoßen, können sich international
sehen lassen.
Vielen Dank.
({6})
Liebe Frau Kollegin, ich muss da irgendwas verpasst
haben von wegen Aggressionspegel. Wir sind doch in
diesem Hause durchaus anderes gewöhnt.
({0})
Wenn es mal temperamentvolle Zwischenrufe gibt, dann
ist das noch nicht Aggression. Da gibt es einen feinen
Unterschied.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Freitag für die
SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Präsident, ich danke Ihnen für den
Hinweis. Wir werden später statt „Aggression“ im Protokoll sicher den Vermerk „Heiterkeit bei der SPD“ vorfinden. Also, liebe Frau Kollegin Heil, von Aggression
kann hier keine Rede sein. Dazu müssen Sie wahrscheinlich ein etwas schwereres Geschütz auffahren.
Sie haben hier mit wohlgesetzten Worten Ihre Verdienste um die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik,
hier insbesondere im Bereich Sport, unter Beweis zu
stellen versucht. Wir debattieren heute allerdings nicht
nur, weil wir den Sport loben wollen, sondern weil wir
aufzeigen wollen, dass er unter Schwarz-Gelb massiv an
Bedeutung verloren hat. Das, Frau Kollegin, lassen wir
weder Ihnen noch der Regierung durchgehen.
({0})
Der Sport ist ein vergleichsweise kleiner Bestandteil in
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Aus unserer Sicht hat er aber eine besondere Bedeutung.
Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass
Deutschland seit vielen Jahren ausgesprochen erfolgreiche Projekte, Kurzzeit- wie Langzeitprojekte, in Entwicklungsländern durchführt. An dieser Stelle möchte
ich einen ausdrücklichen Dank meiner Fraktion an unsere Experten im Ausland und an die Vertreterinnen und
Vertreter im Deutschen Olympischen Sportbund aussprechen, die sich mit großer Hingabe und mit großem
Engagement diesen Projekten widmen.
({1})
Dass der Sport Brücken zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster sozialer
Schichten baut, auch dass er Mittler zwischen Menschen
mit und ohne Behinderung sein kann: All das wissen wir.
Gerade im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ist das alles aber umso wichtiger.
Frau Kollegin Heil, ich muss Ihnen sagen: Bislang bin
ich davon ausgegangen, dass die Bedeutung des Sports
im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik über die Fraktionsgrenzen hinaus Konsens ist. Im
Laufe dieser Wahlperiode und gerade einmal mehr
mussten wir aber Folgendes erkennen: Bei Ihnen passen
Worte und Handeln eben nicht zusammen.
({2})
- Herr Kollege, wenn Sie eine Zwischenfrage haben,
dann können Sie sie gerne stellen. Ich würde Ihnen dann
etwas dazu sagen.
({3})
- Er möchte nicht; das ist ja zu schade.
Ich verweise insbesondere auf das Positionspapier der
Bundesregierung zur Konzeption der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik vom September 2011 und
möchte noch einmal betonen: Eine solche Konzeption
legt die zukünftigen Leitlinien der Bundesregierung für
diesen Bereich fest. - Was mussten wir nach der Durchsicht feststellen? Der Sport kam nicht mit einem einzi27186
gen Wort vor. Frau Kollegin, ich fürchte fast, Sie haben
diese Konzeption nie gelesen.
({4})
Erst nach heftigen Protesten nicht nur aus meiner
Fraktion, sondern ausdrücklich auch von den Sportverbänden, die die Partner für die Umsetzung der Projekte
sind, wurde nachgebessert. In dem 14-seitigen Bericht
wurde ein bemerkenswerter Halbsatz eingeführt - ich zitiere -:
Kulturdialogprojekte, Hochschulpartnerschaften, Stipendien, aber auch Kooperationsprojekte im Sportbereich können wichtige Impulse für Stabilisierung,
demokratische Entwicklung … setzen.
Frau Staatsministerin, das kann ich Ihnen nicht ersparen: Das Auswärtige Amt hat dem Kapitel „Internationale Sportförderung“ damit fünf Wörter gewidmet mehr nicht. Das - das muss ich Ihnen auch sagen - wird
der Bedeutung der jahrzehntelangen Tradition der internationalen Sportförderung einfach nicht gerecht.
({5})
Aus unserer Sicht zeigt das eine nicht nachvollziehbare
Gleichgültigkeit gegenüber den Hilfsprojekten für die
Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch eine
Geringschätzung unserer Kooperationspartner, den Verantwortlichen im Deutschen Olympischen Sportbund
und den Sportverbänden.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, erkennen die erfolgreiche Arbeit unserer Auslandsexperten ausdrücklich an und haben diesen Antrag aus diesem Grunde
eben auch ins Parlament eingebracht.
Es gibt aber noch andere Gründe dafür: Leider mussten wir in Ihrer Regierungszeit Entwicklungen feststellen, die die Arbeit dieser Experten erschweren und dazu
führen, dass die bis zu Ihrem Regierungsantritt in der Tat
sehr erfolgreiche internationale Sportförderung aus dem
Tritt gebracht wird; denn die Mittel für die Sportförderung wurden durch Schwarz-Gelb auch für das Jahr 2013
erneut gekürzt.
Bei dieser Gelegenheit darf ich Ihnen noch einmal in
Erinnerung rufen: Es war der damalige Außenminister
Frank-Walter Steinmeier, der der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik zu neuer Stärke und Bedeutung verholfen hat und damit eine Trendwende einleitete.
({6})
Verehrte Frau Staatssekretärin, ich muss Ihnen leider
bescheinigen: Ihr Haus hat die Bedeutung des Sports als
eine wesentliche Säule der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik offenbar nicht verstanden - und das, obwohl allgemein bekannt ist, dass mit diesen vergleichsweise geringen Mitteln sehr viel Gutes für die Menschen
vor Ort erreicht werden kann.
Unsere Experten - ich könnte sie auch „vorbildliche
Botschafter“ nennen - erfreuen sich in den Ländern, in
denen sie unter verdammt schwierigen Bedingungen arbeiten, höchster Wertschätzung. Was für eine fantastische Werbung für unser Land!
({7})
Viele derjenigen aus den Partnerländern, die durch
unsere Projekte ausgebildet wurden - sei es durch die
Trainerausbildung in Leipzig oder Mainz, sei es in den
Ländern selbst -, gehen einen beeindruckenden Weg.
Wir finden diese Menschen heute oftmals in sehr verantwortlichen Positionen in den Sportorganisationen oder
den Regierungen ihrer Länder. Gibt es bessere Belege
für die Sinnhaftigkeit dieser Projekte? Ich denke, nein.
Statt diesen Bereich aber finanziell angemessen zu
berücksichtigen, trickst Ihr Haus. Sie begründen in den
Haushaltsberatungen zum Einzelplan 05 die Kürzungen
Jahr für Jahr wie folgt: Die Verantwortlichen im Sport
schaffen es ja nicht, das Geld auszugeben. - So geht es
nicht, Frau Staatsministerin. Kein Wunder, wenn Ihr
Haus, um nur ein Beispiel aus dem Jahr 2012 zu nennen,
den Verantwortlichen im Sport am 20. November des
Jahres 2012 mitteilt, sie könnten noch 500 000 Euro abrufen, aber nur bis zum 27. November. Ich bitte Sie: Was
ist das für eine Planung? Jeder weiß, dass es völlig unmöglich ist, innerhalb einer Woche ein Projekt in einem
Entwicklungsland auf die Beine zu stellen.
({8})
Wer mit einer solch ausgesprochen fadenscheinigen
Begründung für Mittelkürzungen argumentiert, handelt
auf zweierlei Art und Weise unverantwortlich: gegenüber unseren Partnern im Sport, vor allem aber gegenüber denjenigen, die dringend auf unsere Unterstützung
hoffen.
({9})
Sollten Sie, Frau Staatsministerin, aufgrund der berechtigten massiven Kritik beabsichtigen, zu einer verträglichen Förderung zurückzukehren, würden Sie dafür unsere volle Unterstützung bekommen.
Unser Antrag enthält eine Fülle von Punkten, die einzig dem Ziel dienen, dem Sport in der Kultur- und Bildungspolitik seine frühere Bedeutung zurückzugeben.
Aus diesem Grund werbe ich noch einmal herzlich um
Ihre Unterstützung für unseren Antrag.
Ich bedanke mich.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Freitag. Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Günther. Bitte schön, Kollege Joachim
Günther.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Da wird es einiges zu dem Statement
von Kollegin Freitag zu sagen geben.
({0})
Es ist unumstritten, dass die bestehende Internationale
Sportförderung des Auswärtigen Amtes seit 50 Jahren
ein fester Bestandteil der Kultur- und Bildungspolitik
unseres Landes ist; darüber sind wir uns alle einig. Sie
ist insgesamt ein wichtiger Beitrag zur Friedenspolitik;
denn sie eignet sich dazu, Vorurteile abzubauen, Minderheiten zu integrieren; auch darüber sind wir uns einig.
({1})
Das Ziel Ihres Antrags ist noch verständlich, aber
dann muss man einmal in die Details gehen. Ich kann
beim besten Willen nicht erkennen, wo Schwarz-Gelb
schlechter ist, als es Rot-Grün in diesem Zusammenhang
je gewesen ist. Deshalb möchte ich einige Punkte aufgreifen.
Zahlreiche Projekte - man muss sie einmal beim Namen nennen, damit wir wissen, worüber wir insgesamt
diskutieren - der Internationalen Sportförderung werden
gemeinsam mit dem DOSB durchgeführt. In acht Langzeitprogrammen mit einer Laufzeit von mehr als zwei
Jahren wurden zum Beispiel Sportexperten im Fußball
nach Honduras, Mosambik, Namibia und Südafrika entsandt. In Paraguay und Uganda sind deutsche Experten
für den Bereich Leichtathletik tätig. Vier Langzeitprojekte in Laos, Mali, Tansania und Vietnam wurden
erfolgreich zu Ende geführt. Insgesamt 40 wichtige
Kurzzeitprojekte, von Fußball bis Basketball und Rollstuhlbasketball, setzen wir im Ausland um.
Im Rahmen der Fortbildung und Qualifizierung von
Trainerinnen und Trainern wird an der Universität Leipzig - das wurde genannt -, an der Sportschule Hennef
und an der Auslandstrainerschule in Mainz ausgebildet.
Das betrifft sehr viele Sportarten, nicht bloß den Fußball,
der besonders hervorgehoben wird. Nein, es gibt den Behindertensport, Tischtennis, Volleyball, Kunstturnen, um
nur einmal Sportarten zu nennen, die hier sonst überhaupt nicht zur Diskussion stehen.
Die vom AA geförderten internationalen Trainerkurse
für Teilnehmer aus den Entwicklungsländern sind aus
meiner Sicht inzwischen zu einem Dauerbrenner geworden. Die Internationale Sportförderung ist seit 35 Jahren
aktiv und sehr erfolgreich. Die Absolventen dieser Förderung sind später häufig wichtige Entscheidungsträger
in ihren Ländern. Sie sind dadurch mit Deutschland
positiv verbunden und bringen unsere Beziehungen sehr
stark voran. Sie wirken als Multiplikatoren, und das ist
wichtig. Ergänzt werden diese Maßnahmen durch zahlreiche Sachmittelspenden wie Trikots, Sportgeräte, auch
für Behindertensportarten, für bedürftige Sportvereine,
für engagierte Gruppen in diesen Ländern.
Man muss auch sagen: Es wird nicht nur vom AA gefördert; das wäre zu kurz gesprungen. Vom BMZ wird
zum Beispiel der Aufbau von Bolzplätzen in den Ländern Afrikas und in anderen Entwicklungsländern gefördert.
Als Fußballbegeisterter möchte ich ein Wort zu dieser
Sportart sagen. 2012 unterstützte das AA in Kooperation
mit dem DFB zum dritten Mal das Turnier „Vier Länder
für Frieden“ mit gemischten Mädchen- und Jungenmannschaften aus Uganda, Ruanda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. Dieses Turnier in einem
komplizierten Gebiet in Afrika trägt dazu bei, dass
ehemals verfeindete Parteien im Prinzip spielerisch
Kontakte haben, sich besser kennenlernen oder sogar
Freundschaften schließen. Sie können also kulturelle
und politische Grenzen damit überschreiten. Das ist ein
wichtiger Beitrag unserer auswärtigen Politik zur Friedenspolitik unseres Landes. 2011 übernahm unser Bundesaußenminister die Schirmherrschaft für das Turnier.
Der uns allen bekannte Willi Lemke ist im Auftrag des
Auswärtigen Amtes ständig bei solchen Turnieren dabei.
Es gibt das Projekt „Kicken statt kämpfen - Bolzen
für Toleranz“, das das Auswärtige Amt in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin und anderen
Partnern realisiert. 16 palästinensische Trainerinnen und
Trainer wurden hier unter Berücksichtigung einer besonderen psychosozialen Komponente fortgebildet. In einem Gebiet, in dem viel Gewalt herrscht, ist es wichtig,
Kinder und Jugendliche davon abzuhalten, Frustrationen
sinnlos abzubauen, und den Gedanken von Fairplay voranzubringen. Einen weiteren Höhepunkt - darauf hat
die Kollegin Heil schon hingewiesen - stellt der Aufbau
landesweiter Strukturen im Basketballsport in Namibia
dar.
All das sind Projekte, die dazu beitragen, selbstständige Sportsysteme in den jeweiligen Ländern auf die
Beine zu stellen.
Auch im Behindertensport werden wichtige Akzente
gesetzt. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Rollstuhl-Sportverband wurde mit einem Workshop in
Uganda der Grundstein für den Aufbau eines nationalen
Rollstuhlbasketballprogramms gelegt. Ich finde, das ist
ein guter Ansatz.
Noch zwei, drei Anmerkungen zu dem Antrag der
SPD. Sie fordern die Erhöhung der Mittel für die Internationale Sportförderung auf das Niveau von 2009; so
steht es wörtlich in Ihrem Antrag. Haben Sie einmal
nachgeschaut, wie das früher war? Die Mittel zu Zeiten
der Großen Koalition betrugen 2,6 Millionen Euro. Unter Joschka Fischer war es noch weniger. In unserer Regierungszeit wurden sie auf 4,5 Millionen Euro mit geringfügigen jährlichen Schwankungen heraufgefahren.
({2})
Nur 2012 erfolgte die eben gescholtene verspätete Auszahlung der Mittel. War es eine verspätete Auszahlung
der Mittel? Vonseiten des DOSB waren bis zu diesem
Zeitpunkt keine Umsetzungsmöglichkeiten gemeldet.
Kollege Joachim Günther, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Ulla Schmidt?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie erzählen begeistert,
dass geradezu ausufernde Mittelerhöhungen im Sportbereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auf
den Weg gebracht wurden. Ich habe eine Frage: Der
Haushalt 2012 ist im Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ fraktionsübergreifend abgelehnt worden, weil in bestimmten Bereichen gekürzt
wird. Man kann natürlich mit wenig Geld viel erreichen,
aber auch mit Kürzungen in Höhe von 100 000 Euro vieles beschränken. Der Haushalt 2013 hat im Unterausschuss ebenfalls keine Mehrheit gefunden. Wir haben
darüber fraktionsübergreifend diskutiert und sind der
Auffassung - nicht nur die Opposition -, dass dieser
Haushalt dem, was zum Beispiel zu Zeiten der Großen
Koalition in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auf den Weg gebracht wurde, nicht gerecht wird und
dass Verbesserungen notwendig sind. Manchmal gibt es
Mittelsteigerungen, weil bestimmte Kosten steigen. Dadurch lassen sich aber nicht mehr Projekte fördern und
lässt sich der Austausch nicht intensivieren. Wenn irgendwo 100 000 Euro gekürzt werden, dann muss es bei
irgendwelchen Projekten Einschnitte geben. Kennen Sie
andere, vielleicht bessere Gründe als den der Kürzungen,
warum Ihre Kollegen diesen Haushalt nicht unterstützt
haben?
Nein, verehrte Kollegin, ich kenne keine anderen
Gründe. Ich kann Ihnen das auch nicht erläutern, weil
ich an der betreffenden Ausschusssitzung nicht teilgenommen habe.
({0})
- Ich kann nicht jede Zahl des Haushalts auswendig kennen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich mit den Gesamtmitteln in Höhe von 4,5 Millionen Euro sehr viel im
Ausland bewegen lässt. Es geht nicht allein darum, ob
die Mittel für ein Programm um 100 000 Euro erhöht
oder gekürzt wurden. Insgesamt ist das Niveau dieser
Position in den letzten Jahren deutlich aufgewachsen.
Das ist die Grundvoraussetzung, um hier etwas zu erreichen.
({1})
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
der DOSB bereits jetzt ein Schreiben bekommen hat,
dass er seine Projekte für dieses Jahr schon auf den Weg
bringen kann. Es ist also nicht so, dass die Projekte erst
im Herbst stattfinden. Somit kann das Programm rechtzeitig in diesem Jahr umgesetzt werden.
Wenn man diese Beispiele insgesamt sieht, muss man
zu dem Schluss kommen, dass sich Ihr Antrag im Prinzip erledigt hat. Wir sind heute schon besser, als Sie jemals waren. Das ist auch unser Ziel.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Kollege Joachim Günther. - Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege
Frank Tempel. Bitte schön, Kollege Frank Tempel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Vorurteile abbauen, Minderheiten integrieren, Werte vermitteln - so beschrieb Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle vor einiger Zeit die Ziele der
auswärtigen Sportförderung. Die Bedeutung dieser Ziele
wird, so denke ich, niemand hier infrage stellen. So
dürfte in dieser Debatte schon einmal eine gemeinsame
Ausgangslage vorhanden sein.
Die Frage aber, die wir klären müssen, ist: In welchem Maß und mit welchem Volumen wollen wir für
dieses Ziel mit dem Mittel der auswärtigen Sportförderung arbeiten? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, dann geht es natürlich um Haushaltsmittel, dann
geht es auch um den Umgang mit den Menschen, die in
diesen Projekten arbeiten, und dann geht es auch um Planungssicherheit, um Qualität und um die Vielfalt dieser
geförderten Projekte.
Allgemein wird bei einem hohen Aufwand die Frage
nach dem Nutzen gestellt. Bei der auswärtigen Sportförderung reden wir von Präventionsarbeit. Als Kriminalist
kenne ich dieses Phänomen zum Beispiel aus der Jugendkriminalität. Wenn ich mich um problematische
Kinder frühzeitig kümmere, kann mir niemand sagen,
welches von diesen eventuell später straffällig geworden
wäre. Ich weiß aber ganz genau, dass ich diese Gefahr
erheblich verringern kann. Ganz nebenbei bemerkt: Ausreichend ist auch das bei uns noch nicht gesichert.
Vorurteile, Ausgrenzung und Unwissenheit sind die
Basis von Leid, von schwersten Konflikten und von Krisen, welche ganze Regionen für lange Zeit belasten. Das
Problem der Prävention ist, dass sich ein Erfolg zwar erkennen, aber nicht unmittelbar messen lässt. Das heißt,
keiner wird bei einem nachlassenden Engagement kurzfristig sagen können, wie viel weniger Vorurteile abgebaut oder Werte vermittelt worden sind. Auf keinen Fall
darf das aber zu falscher Sparsamkeit führen. Prävention
wirkt langfristig und ist langfristig angelegt.
({0})
Auswärtige Sportförderung ist aktive Friedenspolitik,
ist Kampf für Menschenrechte. Herr Günther, da sind
wir uns offensichtlich ganz einig. Es wird Menschen
frühzeitig geholfen, und die Gefahr von Konflikten wird
zumindest verringert. Wenn wir die Vielzahl und die
Vielfalt der heutigen Konflikte wie zum Beispiel aktuell
in Mali sehen, muss es doch ein Anliegen aller sein,
diese aufbauende Präventionsarbeit noch mehr zu forcieFrank Tempel
ren und nicht ein bisschen hier und ein bisschen da nachzulassen.
({1})
Auch hier im Hause wird schnell davon gesprochen,
dass es sehr solidarisch sei, wenn man bei internationalen Konflikten Waffen, Militär oder Polizei schickt. Die
Linke ist davon überzeugt, dass es solidarisch ist, zu helfen, dass solche Konflikte gar nicht erst ausbrechen oder
gar eskalieren. Die Linke ist auch davon überzeugt, dass
die Förderung von Sportprojekten ein sehr geeignetes
Mittel in dieser Präventionsarbeit ist. Wenn Kinder
unterschiedlicher ethnischer Gruppen gemeinsam miteinander Fußball spielen, können sie auch lernen,
untereinander Freundschaften zu schließen. Wenn muslimische Mädchen über den Sport Selbstvertrauen und gesellschaftliche Anerkennung finden, wird sich das in ihrem Umfeld auswirken.
Weil das so wichtig ist, unterstützt die Linke den Antrag der SPD, die Mittel für die Internationale Sportförderung, Herr Günther, wieder zu erhöhen.
({2})
Natürlich besteht dann auch die Verpflichtung, die Rahmenbedingungen für diejenigen zu verbessern, die diese
Projekte vor Ort umsetzen. Da geht es um die Ausbildung vor dem Einsatz in solchen Projekten, es geht um
die bessere Beratung während eines solchen Einsatzes,
wie zum Beispiel im Antrag benannt. So sind steuerrechtliche Fragen völlig richtig aufgeführt. Die Linke
hält es auch für erforderlich, den Helfern Perspektiven
für die Zeit nach dieser Art von Auslandseinsätzen zu
bieten.
({3})
Der Dank für das Engagement für solche Einsätze kann
am Ende nicht Hartz IV bedeuten. Das heißt, wir brauchen adäquate Hilfs- und Eingliederungsprogramme, um
die zeitweilige Arbeit in solchen internationalen Sportprojekten nicht zu einem persönlichen Zukunftsrisiko zu
machen.
({4})
Die Linke stimmt diesem SPD-Antrag - das soll nicht
zur Gewohnheit werden - voll und ganz zu. Sehr geehrte
Kollegen der Regierungskoalition, das können auch Sie.
Bitte bauen Sie die auswärtige Sportförderung wieder
aus, und suchen Sie nicht gerade dort Einsparungsmöglichkeiten; denn bei der Prävention zu sparen, kann
Menschen und Gesellschaft später wesentlich teurer
kommen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Kollege Frank Tempel. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Frau Viola von Cramon-Taubadel. Bitte schön,
Frau Kollegin.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Ich möchte jetzt nicht noch einmal auf die
ganze Geschichte der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eingehen, die schon von verschiedenen Seiten vorgetragen wurde.
Gegen den von der SPD vorgelegten Antrag ist aus
unserer Sicht nichts einzuwenden. Ich sage einmal: Er
schadet nicht. Im Gegenteil: Wir werden uns ihm anschließen. Herr Tempel hat dies gerade erwähnt.
Wir hatten vor knapp zwei Jahren die Möglichkeit,
uns gemeinsam mit einem Teil der deutschen Auslandstrainerinnen und Auslandstrainer intensiver auszutauschen. Genau dieser Austausch hat gezeigt, dass es für
diese Gruppe viele ungeklärte Fragen gibt, dass vor allem aber viel Unzufriedenheit bei Versicherung und Bezahlung herrscht. All das versucht die SPD in ihrem Antrag zu beheben. Dabei können und wollen wir sie
unterstützen.
Allerdings sollten wir es dabei nicht bei der oberflächlichen und technischen Betrachtung für die Mittelvergabe belassen. Es lohnt sich aus meiner Sicht,
genauer hinzuschauen, ob und in welcher Form die Bundesregierung ihrem Anspruch gerecht wird, den Sport
als Instrument der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sinnvoll und effektiv einzusetzen. Dabei hilft es
zum Beispiel, finde ich, wenn der NDR in einer ZappKolumne am 9. Februar 2011 von Frau Piepers Engagement für den Frauenfußball berichtet; denn sage und
schreibe 91 558 Euro wurden aus dem Budget für die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik für ein Werbefilmchen für den Frauenfußball eingesetzt. Hier - und
nicht nur hier - kommt der Verdacht auf, dass das Engagement für den Sport im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik vielleicht eher dazu dient, den
Sponsor oder die Sponsorin in Szene zu setzen oder auf
dem Trittbrett der Sportprojekte die eigene Reputation
zu erhöhen, anstatt tatkräftig langjährige Aufbauhilfe
vor Ort zu leisten.
({0})
Herr Günther hat es erwähnt. Dieses Instrument sollte
ein wichtiger Beitrag zur Friedenspolitik sein. Das sehen
wir ganz genauso, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Auch wir wissen, dass sich mit einigen 100 000 Euro
keine Konfliktherde für immer befrieden lassen. Allerdings wäre es wünschenswert, eine langfristige und
nachhaltige Strategie für Krisenprävention, Krisennachbereitung oder möglicherweise sogar Demokratisierung
auch in der Sportförderung als Ziel anzulegen.
Im 16. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik macht der Sport aber genau
eine einzige Seite aus und beschränkt sich lediglich auf
die Auflistung einzelner Projekte, die teilweise doch
sehr willkürlich anmuten. Das heißt, es gibt keinen echten kohärenten Ansatz, wie man mit Projekten aus der
klassischen Entwicklungszusammenarbeit in der Sportförderung umgeht. Ebenso fehlt eine Strategie, wie man
die Sportförderung im Ausland tatsächlich für die Nachbereitung von sportlichen Großereignissen nutzen will.
Auch so etwas ist dem Bericht nicht zu entnehmen.
Einmal abgesehen davon - auch das hat die SPD erwähnt -, dass die Sportförderung des Auswärtigen
Amtes sehr fußballlastig ist, könnte diese Förderung wenigstens dazu dienen, einen Beitrag zur Verstetigung der
Impulse durch sportliche Megaevents zu leisten. Deshalb wäre es umso wichtiger, auch im Nachgang von
Sportgroßveranstaltungen mit lokalen Initiativen und
Organisationen im Austragungsland intensiver zusammenzuarbeiten.
Am Beispiel Südafrika sieht man, dass die Hoffnungen an die Fußball-WM 2010 absolut überhöht waren
und dass der Aspekt der Nachbereitung dieser Weltmeisterschaft von der Bundesregierung in ihrer Förderung
gar nicht aufgegriffen wurde. Unser Antrag mit der
Überschrift „Vergabekriterien für Sportgroßveranstaltungen fortentwickeln - Menschen- und Bürgerrechte
bei Sportgroßveranstaltungen stärker berücksichtigen“
widmet sich gerade diesem Punkt.
Noch immer täuscht der Glanz von Sportereignissen
häufig über die wahren Zustände hinweg. Die Arbeitslosigkeit in Südafrika ist nach wie vor hoch. Der versprochene langfristige Aufschwung hat nicht stattgefunden.
Im Schatten der überdimensionierten Fußballtempel bemühen sich allerdings oft ehrenamtliche Aktivistinnen
und Aktivisten, Netzwerke zu schaffen und durch den
Sport eine nachhaltige Struktur der Kultur- und Bildungsarbeit zu entwickeln.
Ich befürchte, die Debatte um die Rolle des Sports in
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik werden wir
wieder führen, wenn es darum geht, in Brasilien die Folgen der Fußball-WM und der Olympischen Spiele 2016
zu bewältigen.
Wir haben mit verschiedenen Aktivisten aus Brasilien
gesprochen, um zu erfahren, wie es dort im Vorfeld der
WM-Vorbereitungen um Zwangsräumungen, Vertreibungen und polizeiliche Gewaltübergriffe steht. Wenn
der jetzige Trend, Mittel zu kürzen, ohne ausgleichende
strukturelle Veränderungen vorzunehmen, sich fortsetzt,
wird es nicht nur dort zu massiven Engpässen in der Bildungsarbeit kommen. Kulturpartnerschaften, wie sie
über das Thema Sport vergleichsweise leicht zustande
kommen könnten, wären damit nicht mehr möglich. Die
jetzt geplante Kürzung der Mittel kann damit aus meiner
Sicht, aus unserer Sicht kein ernsthafter Ansatz sein,
selbst unter der Prämisse der Haushaltskonsolidierung
nicht.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Eberhard
Gienger. Bitte schön, Kollege Eberhard Gienger.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
wichtiger Baustein der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik der Bundesregierung ist der Sport. Wir haben heute in den Reden der Kolleginnen und Kollegen
schon mehrfach gehört, dass die internationale Sportförderung der Bundesregierung bereits seit 1961 - das sind
über 50 Jahre - ein fester Bestandteil unserer Politik ist,
nicht nur einzelner Parteien, sondern aller Parteien im
Deutschen Bundestag. Dabei werden Werte wie Fairness, Toleranz und Weltoffenheit gelebt und vermittelt.
Damit wird von unserer Seite auch ein großer Beitrag
zur Völkerverständigung geleistet.
Wir haben es gehört: Über 1 400 Lang- und Kurzzeitprojekte wurden in diesen über 50 Jahren im Sportbereich bereits durchgeführt. Man kann ohne Übertreibung
sagen, dass dies von uns allen sehr erfolgreich betrieben
wurde.
Wir führen diese erfolgreichen und partnerschaftlichen Projekte zusammen mit vielen Partnern durch. Der
Deutsche Olympische Sportbund ist erwähnt worden.
Der Deutsche Behindertensportverband wurde erwähnt.
Ebenso zu nennen sind Universitäten wie Leipzig oder
auch Mainz. Die vielen Langzeitprojekte, die durchgeführt wurden, sprechen ihre eigene Sprache. In den letzten zwei Jahren wurden immerhin vier solcher Langzeitprojekte abgeschlossen. 40 Kurzzeitprojekte kommen
hinzu.
Dieses Engagement der Bundesregierung drückt sich
seit 2008 in einer hohen bundespolitischen Förderung
aus. In dem uns vorliegenden Antrag der SPD können
wir lesen, dass die Mittel für die internationale Sportförderung gekürzt wurden, was den sportbezogenen Maßnahmen Schaden zugefügt hat.
({0})
- Das stimmt eben nicht in dem Maße. Wir sollten an
dieser Stelle vielleicht einmal festhalten: Der Ansatz
beim Titel für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik im Bundeshaushalt wurde erhöht
({1})
- wir kommen zum Sport zurück -, nämlich von
714 Millionen Euro auf 787 Millionen Euro. Im Vergleich zu 2013 war der Haushaltsansatz im Jahr 2009 um
41 Millionen Euro geringer.
Wenn wir nun auf den Sport schauen, dann kommen
wir zu der Überzeugung, dass unter Rot-Grün
({2})
die Mittel geringer waren. Das hat Joachim Günther sehr
deutlich gesagt; das ist sehr klar zur Sprache gekommen.
2005 waren es 2,66 Millionen Euro. Im Vergleich dazu
waren es im Jahr 2012 4,6 Millionen Euro. Das ist ein
gewaltiger Unterschied. Das ist keine Kürzung, sondern
eine erhebliche Erhöhung.
({3})
Und Sie machen hier so einen Aufstand wegen
100 000 Euro! Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass
dies in einem nichtolympischen Jahr oder in einem Jahr,
in dem keine Fußballweltmeisterschaft durchgeführt
wird, nicht so ist.
Frau Kollegin Freitag, Sie haben davon gesprochen,
das Auswärtige Amt habe dem Kapitel „Internationale
Sportförderung“ nur fünf Worte gewidmet. Da kann man
doch sagen, dass pro Wort ungefähr 1 Million Euro
durchkommt. Das ist, finde ich, eine recht ordentliche
Summe.
({4})
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik hat bei
uns, bei der CDU/CSU, also einen hohen Stellenwert.
Das werden wir auch in Zukunft so sehen. Wir werden
der Rolle des Sports Unterstützung zuteilwerden lassen.
Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt in Ihrem Antrag zu sprechen kommen. Sie kritisieren, dass
das Auswärtige Amt bereits beschlossene Mittel bis kurz
vor dem jeweiligen Jahresende zurückhalten würde. Das
hört sich ja fast so an, als würde sich das Auswärtige
Amt befleißigen, die vom Bundestag zugesprochenen
Mittel zurückzuhalten und nicht ausgeben zu wollen.
({5})
Die Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aber
eine andere.
({6})
Denn das Auswärtige Amt kann ja nicht nach Gutdünken
eigene Projekte beginnen und Gelder ausgeben. Erst
wenn die Höhe der für ein Jahr zur Verfügung stehenden
Mittel bekannt ist, können von den Zuwendungsempfängern Anträge gestellt werden. Danach entscheidet das
Auswärtige Amt, welche Projekte gefördert werden.
Dieser Prozess bedarf einer sorgfältigen Auswahl, Planung und Durchführung. Ich halte die Praxis des Auswärtigen Amtes hier für durchaus sinnvoll und die pauschale Kritik an diesem Vorgehen für falsch.
Wir haben gerade auch die pauschale Verurteilung gehört, dass hier Fußballlastigkeit vorherrschen soll. Es ist
etwas ganz Normales, dass in bestimmten Ländern Fußball einfach zur sportlichen Kultur gehört. Ich war selber
in Südafrika dabei. Dort können Sie beim besten Willen
keine Skisprungschanze oder Turngeräte hinstellen, sondern da ist es relativ einfach, mit einem Ball, einem guten Trainer und einem Fußballexperten etwas zu tun.
({7})
Deswegen bin ich der Auffassung, dass die CDU/
CSU Ihrem Antrag nicht zustimmen kann und nicht zustimmen wird. Denn die geforderten Maßnahmen sind
nicht so zielführend, wie Sie es für sich in Anspruch
nehmen. Wir sind der Meinung, dass die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen die richtigen sind,
und werden uns auch in Zukunft dafür einsetzen, dass
Sport einen wesentlichen Anteil an der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik hat.
Ich darf mich vielmals für Ihr Interesse bedanken.
({8})
Wir danken Ihnen, Kollege Eberhard Gienger. Sie wa-
ren der letzte Redner in dieser Aussprache, die ich damit
nun schließe.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Die Rolle des Sports in der Auswärtigen Kultur-
und Bildungspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11580, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9731 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Frak-
tion der Sozialdemokraten, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme nun zu
den Tagesordnungspunkten 11 a und 11 b:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern
- Drucksache 17/11048 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12198 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Jörn Wunderlich-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Neuregelung der elterlichen Sorge bei nicht
verheirateten Eltern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Neuregelung des Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Eltern
Vizepräsident Eduard Oswald
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsames elterliches Sorgerecht für
nicht miteinander verheiratete Eltern
- Drucksachen 17/8601, 17/9402, 17/3219,
17/12198 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jan-Marco LuczakBurkhard LischkaStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind alle damit einverstanden? - Dann haben wir das so gemeinsam
beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Stephan Thomae. Bitte schön, Kollege Stephan
Thomae.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Ist es für ein Kind nicht
das Schönste, wenn beide Eltern in gemeinsamer Verantwortung die Sorge für es wahrnehmen? Kindeswohl,
Verantwortung, gemeinsam: Das sind die Stichworte, die
in dieser Beratung eine ganz zentrale Rolle gespielt haben - und das zu Recht. Die Wirklichkeit sieht häufig
leider anders aus. Es gibt nicht immer ein Happy End,
wenn Eltern sich streiten. Die Leidtragenden sind fast
immer die Kinder; sie zahlen den Preis. Nun können wir
als Gesetzgeber, auch wenn wir es gerne wollen, leider
nicht den Feenstab zücken und Glück und Harmonie herbeizaubern, allen Zwist, allen Streit beiseiteräumen.
Ein Drittel aller Kinder in Deutschland wird bereits
nichtehelich geboren. Immerhin wird für ungefähr
50 Prozent dieser Kinder von den Eltern eine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben; sie können sich also
über das Sorgerecht einigen. Für alle anderen Fälle aber
muss der Gesetzgeber ein Verfahren finden. Zwei Entscheidungen, eine des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte aus dem Jahr 2009 und eine des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010, haben uns
den Auftrag erteilt, die elterliche Sorge für nichtehelich
geborene Kinder neu zu regeln. Zugleich wurde eine
Übergangsregelung geschaffen, die uns die Möglichkeit
gegeben hat, ausgiebig und in aller Ruhe über dieses
sehr schwierige und wichtige Thema zu diskutieren.
Nun unkt die Opposition bisweilen, dass die Koalition
sehr lange gebraucht hat, hier eine gesetzliche Regelung
zu finden. Wenn es schneller gegangen wäre, hätte sie
uns vermutlich vorgehalten, wir hätten etwas durch das
Parlament gepeitscht. Wie man es auch macht, macht
man es falsch. Ich persönlich finde es in Ordnung, dass
wir uns Zeit gelassen haben, Erfahrungen gesammelt haben und diesen wichtigen Gesetzentwurf in aller Ruhe,
ohne allzu großen Druck, beraten haben.
({0})
In den Beratungen ging es den einen um die Mütterrechte, den anderen um die Väterrechte, wieder anderen
um das richtige Familienbild. Man darf aber eines nicht
vergessen: Es geht hier darum, die beste Lösung für die
Kinder zu finden.
({1})
Die einen sagen: Das Jugendamt muss immer einbezogen werden, und das Gericht muss ein volles Verfahren
durchführen, um jede Kindeswohlgefährdung auszuschließen. Unser Ansatz ist, zu sagen: Zuerst einmal sind
doch die Eltern in der Verantwortung. Auch in der Ehe
schaffen sie es in aller Regel, die beste Lösung für ihre
Kinder zu finden.
Man muss sich vor Augen halten, dass es beim Sorgerecht nicht um die tägliche Erziehung geht, nicht um das
Recht der Kinder auf Umgang mit dem Elternteil, bei
dem sie nicht leben, sondern um wenige, aber wichtige
Schlüsselentscheidungen im Leben eines Kindes, beispielsweise um die Schulwahl oder um wichtige medizinische Eingriffe. Da ist es doch gut, wenn sich der Vater
in der Verantwortung sieht, wenn er bei der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung mitwirken will. Das
ist doch genau das, was wir eigentlich wollen sollten. Es
sollte normal sein, dass Väter mitentscheiden wollen.
({2})
Deswegen hätte ich ganz gut ohne eine obligatorische
gerichtliche Beteiligung, ohne ein obligatorisches gerichtliches Antragsverfahren auskommen können. Das
hätte die Justiz entlastet. Aber man muss eben sehen,
dass es hier unterschiedliche Annäherungsweisen gibt.
Deswegen gab es eine intensive Diskussion über die
Rolle der Gerichte in diesem Verfahren.
Das Ergebnis, das wir heute beschließen werden, ist:
Wenn die Eltern nicht ohnehin eine gemeinsame elterliche Sorgeerklärung abgeben, kann der Vater bei Gericht
einen Antrag auf Erteilung der gemeinsamen elterlichen
Sorge stellen. Wenn die Mutter innerhalb einer Frist, die
frühestens sechs Wochen nach der Geburt des Kindes
endet, keine kindeswohlrelevanten Einwände gegen die
gemeinsame elterliche Sorge vorträgt, dann soll das Gericht die gemeinsame elterliche Sorge in einem vereinfachten und beschleunigten Verfahren erteilen. Wenn
aber das Gericht Hinweise darauf erhält, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl widersprechen könnte, dann soll ein normales Verfahren durchgeStephan Thomae
führt werden. Das halte ich für eine sachgerechte
Lösung.
Die Quintessenz ist, dass die Schwelle für die Väter
nicht allzu hoch sein soll, wenn es darum geht, zu einer
gemeinsamen elterlichen Sorge zu gelangen, andererseits aber für die Mütter keine unnötig hohen Hürden errichtet werden sollen, wenn es darum geht, in ein normales Gerichtsverfahren einzutreten. Das ist doch eine
ausbalancierte Lösung, die den berechtigten Anliegen
beider Seiten, der Mütter und der Väter, Rechnung trägt.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion
um das Sorgerecht ist teilweise von ganz erbitterten Auseinandersetzungen geprägt. Beim Streit um das Kind
bleibt leider oft viel Verbitterung zurück. Jeder von uns
kennt tragische Fälle. Oft ist es schwierig, diese Gefühle
zu überwinden und auf eine sachliche Diskussionsebene
zu kommen. Das ist uns aber, wie ich meine, in den parlamentarischen Beratungen gelungen. Deswegen möchte
ich ausdrücklich allen Kolleginnen und Kollegen Mitberichterstatterinnen und -erstattern, dem Haus sowie dem
Justizministerium, der Ministerin und dem Staatssekretär, meinen Dank aussprechen. Wir haben ungefähr drei
Jahre lang sehr intensiv an diesem schwierigen, emotionalen Thema gearbeitet. In unsere Lösung sind viele Anregungen eingeflossen. Ich würde mir wünschen, dass
das Gesetz unaufgeregt angewandt wird und die Chance
zur Bewährung erhält, dass das Kindeswohl in den Mittelpunkt rückt und Befindlichkeiten der Eltern dahinter
zurückstehen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Vielen Dank, Kollege Stephan Thomae. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Burkhard Lischka. Bitte schön, Kollege
Lischka.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fassen
wir einmal nach dieser dreijährigen Diskussion über das
Sorgerecht nicht verheirateter Eltern kurz zusammen,
was gut und was schlecht ist an dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung:
({0})
Erstens. Gut ist, dass künftig nicht mehr ein Wink der
Mutter ausreicht, um den Vater des gemeinsamen Kindes
von Wickelkommode und Schulhof zu verbannen. Ein
bloßes Nein der Mutter wird nicht mehr ausreichen, um
ein gemeinsames Sorgerecht zu verhindern. Das ist gut,
das ist ein echter Fortschritt. Darüber sind wir uns alle
einig. Denn jedes Kind hat ein Recht auf Papa und
Mama, auch das nichteheliche. Aber dieser Fortschritt,
lieber Kollege Thomae, ist nicht unbedingt ein Verdienst
dieser Bundesregierung, sondern aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Deshalb sehen
Sie es mir nach, dass ich Ihnen dafür heute keine Lorbeerkränze binde.
({1})
Zweitens. Gut ist, dass zwei Drittel der nicht verheirateten Eltern dieses Gesetz gar nicht brauchen. Diese geben nämlich schon heute eine gemeinsame Sorgeerklärung ab, häufig unmittelbar nach der Geburt. Diesen
Eltern möchte ich heute an dieser Stelle ganz einfach
Danke sagen; denn ihre Kinder brauchen beide Elternteile - bei verlorenen Kuscheltieren ganz genauso wie
bei überstrengen Grundschullehrern oder beim ersten
Liebeskummer.
Damit komme ich drittens zu der Minderheit der nicht
verheirateten Eltern, die sich nicht dazu durchringen
können, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben
und ihre Verantwortung für das gemeinsame Kind zu teilen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe, und jeder Fall ist anders.
Aber eines haben alle diese Fälle gemeinsam: Es geht
um das Sorgerecht, und beim Sorgerecht geht es um das
Kindeswohl. Das Kindeswohl ist aber keine Nebensache, über die man in einem Verfahren nach Aktenlage
entscheiden kann.
({2})
Das ist auch der Grund, warum die gerichtliche Praxis
diese Sorgerechtsreform ganz einhellig missbilligt - ich
sage, zu Recht. Denn über das Kindeswohl entscheidet
man nicht in einem Hopplahopp-Verfahren. Sie missbrauchen hier den Familienrichter als eine Art Verwaltungsbehörde. Er liest den schriftlichen Antrag des Vaters, er liest die schriftliche Antwort der Mutter, und
dann soll er den Daumen heben oder senken, ohne jemals mit den Betroffenen ein Wort gewechselt zu haben.
Wer so mit dem Kindeswohl in unserem Land umgeht,
der stellt hier falsche Weichen. Deshalb lehnen wir Sozialdemokraten diesen Gesetzentwurf ab.
({3})
Wichtig ist doch, wie es den betroffenen Kindern am
Ende des Verfahrens geht. In dieser Hinsicht löst dieses
beschleunigte Verfahren überhaupt nichts. Wenn sich die
Eltern beispielsweise in Feindschaft verbissen haben,
dann sollte man sie an einen Tisch holen, mit ihnen sprechen und mit ihnen überlegen, was die beste Lösung für
das gemeinsame Kind ist. Denn eines ist dem Kindeswohl ganz sicher nicht förderlich: sich streitende Eltern.
Aber diese gemeinsame Suche nach guten Lösungen
sieht Ihr Gesetzentwurf gerade nicht vor. Sie favorisieren im Regelfall ein beschleunigtes Verfahren, in dem
über die Köpfe der betroffenen Eltern und Kinder hinweg entschieden wird.
({4})
Das ist praxisfern, das ist schlecht. Dieser Gesetzentwurf
ist ein lauer Kompromiss. Er ist vielleicht gut gedacht,
aber nicht gut gemacht. Insofern hat diese Bundesregie27194
rung auch im Bereich des Sorgerechts mal wieder eine
Chance vertan.
Recht herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Ute Granold. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein wichtiger Tag. Wir entscheiden nach langer
Beratung über ein ganz wichtiges Thema: die gemeinsame Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern. Es
liegen einige Anträge der Fraktionen vor. Wir haben dieses Thema in diesem Haus lange debattiert. Das zeigt,
wie wichtig es uns allen ist. Deshalb wären wir froh,
wenn wir heute zu einem Ergebnis kämen, das von allen
getragen wird. Darum haben wir uns in der langen Zeit
der Beratungen bemüht.
Kollege Thomae hat bereits ausgeführt, dass etwa
55 bis 60 Prozent der nicht verheirateten Eltern schon
heute eine gemeinsame Sorgeerklärung beim Jugendamt
abgeben. Wir haben jetzt eine Regelung für diejenigen
zu treffen, die das nicht machen. Eine Erhebung hat ergeben, dass in der Regel sachfremde Erwägungen vorgetragen wurden, warum die gemeinsame Sorge nicht erklärt wurde.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und
das Bundesverfassungsgericht haben entschieden, dass
es dem Vater ermöglicht werden muss, eine gerichtliche
Entscheidung herbeizuführen, wenn die Mutter einer gemeinsamen Sorge entgegensteht. Wir hätten es bei der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts belassen
können; denn ab diesem Zeitpunkt bestand die Möglichkeit, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Wir
hätten keine gesetzliche Regelung vornehmen müssen;
aber wir haben es getan. Im Laufe der Zeit wurde nämlich quer durch die Republik recht unterschiedlich von
den Familiengerichten entschieden, aber auch in zweiter
Instanz. Deshalb haben wir eine Regelung angestrebt.
Es gab drei Möglichkeiten, die wir debattiert haben,
immer mit Blick auf das Kindeswohl. Bei Feststellung
oder Anerkennung der Vaterschaft gilt per Gesetz die gemeinsame elterliche Sorge. In diesem Fall besteht das
Problem, dass der Vater zu einem Sorgerecht genötigt
werden kann. Es gibt Fälle, wo der Vater das aber gar
nicht möchte. Er möchte vielleicht den Umgang, aber
kein Sorgerecht. Deshalb soll das nicht der Regelfall
sein. Wir sagen: Die Antragslösung ist der Mittelweg.
Der Vater stellt bei Gericht den Antrag auf Erteilung des
Rechts auf Mitsorge, Alleinsorge oder Teilsorge. All das
ist möglich, wenn es dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das ist ein ganz schneller und niederschwelliger
Weg für eine gemeinsame elterliche Sorge. Dies muss
immer vor dem Hintergrund gesehen werden, dass es
nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes möglich gewesen wäre, per Gesetz eine elterliche Sorge festzulegen. Insofern verstehe ich die Einwände nicht, dass
im beschleunigten bzw. vereinfachten Verfahren über die
Köpfe der Eltern hinweg entschieden wird. So ist es
nicht.
({0})
Lassen Sie mich noch etwas zum Verfahren sagen. Es
wurde auch eine dritte Möglichkeit diskutiert. Danach
sollte der Vater einen Antrag auf gemeinsame Sorge stellen, und wenn die Mutter nicht binnen einer bestimmten
Frist widerspricht, gilt die gemeinsame Sorge. Für uns
ist das keine Lösung. Es wäre auch ein systemfremder
Verfahrensweg; wir kennen so etwas im Familienrecht
nicht. Wir meinen, dass die Antragslösung ein guter Mittelweg ist. Wir haben das in der Fraktion und in der Koalition lange diskutiert. Der Kollege Thomae sagte gerade, er könne auch mit einer gesetzlichen Regelung ab
Geburt leben. Verschiedene in unserer Fraktion waren
ebenfalls dieser Meinung. Auch die SPD-Fraktion hat
sich lange damit auseinandergesetzt. Aber dann wurde
dieser Kompromiss geschlossen.
Wir wollen eine niederschwellige, das heißt negative
Kindeswohlprüfung. Ein Kind braucht Mutter und Vater
für eine gedeihliche Entwicklung. Warum soll der Vater
ausgeschlossen sein oder vortragen, dass er ein guter Vater ist? Wir sind der Auffassung, dass das dem Kindeswohl entspricht, dass ein Kind Mutter und Vater braucht.
Die Mutter müsste im Verfahren vortragen, dass es
Gründe gibt, die einer gemeinsamen Sorge widersprechen. Das müssen keine Schriftsätze, keine Rechtsausführungen sein. Sie kann in einfachen Worten sagen: „Ich
habe Probleme mit einer gemeinsamen Sorge, weil …“.
Dann geht man automatisch von dem vereinfachten
schriftlichen Verfahren in das beschleunigte Verfahren.
Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot ist die Neuerung, die wir damals im FamFG festgelegt haben. Dieses
Verfahren soll binnen vier Wochen terminiert werden.
Das ist zumutbar.
Zu den Fristen: Im Gespräch war zum einen die Frist
per Gesetz, also sofort, ab Geburt, zum anderen eine
Frist von 16 Wochen. Das ist eine lange Zeit. Wir bleiben bei den sechs Wochen; wir halten das für angemessen. Die Mutter hat sechs Wochen Zeit, sich Gedanken
zu machen und sich zu äußern. Ich muss dazusagen - ich
habe es in diesem Haus schon einmal gesagt -: Die
Schwangerschaft fällt ja nicht vom Himmel. Die Frau ist
neun Monate schwanger und weiß, dass sie nicht verheiratet ist und das Thema der gemeinsamen Sorge ansteht.
Ich meine, dass die Mutter nicht unter Druck gesetzt
wird, wenn sie nach sechs Wochen eine Entscheidung
treffen soll und das Gericht dann entscheidet.
In der Anhörung wurde ein breites Spektrum an Möglichkeiten für eine Regelung aufgezeigt, die die Verbände bis heute Nachmittag nochmals vorgetragen haben. Auch die Sachverständigen waren unterschiedlicher
Meinung, was das Verfahren angeht. Das Gericht soll im
schriftlichen vereinfachten Verfahren auf Antrag des Vaters über die gemeinsame elterliche Sorge entscheiden.
Dieses Verfahren soll schnell erfolgen. Es beinhaltet eine
Regelung, die jederzeit in das beschleunigte Verfahren
übergehen kann.
Zuerst hatten wir eine Mussvorschrift vorgesehen.
Das heißt, es war vorgesehen, dass im schriftlichen vereinfachten Verfahren entschieden werden muss. Das haben wir nach der Anhörung geändert. Nun soll im
schriftlichen Verfahren entschieden werden. Dadurch
besteht für das Gericht in besonderen Fällen die Möglichkeit, in anderer Weise, nämlich im Vorrang- und Beschleunigungsverfahren, zu entscheiden.
Nach wie vor besteht die Möglichkeit, dass schon mit
der Geburt per einstweiliger Anordnung eine Entscheidung herbeigeführt wird, also auch innerhalb der sogenannten Karenzzeit von sechs Wochen. Wir denken dabei an den Fall der Beschneidung am achten Tag. Wir
denken dabei an einen Streit über eine Operation, über
die Namensgebung, über die Religionszugehörigkeit.
Für den Vater muss die Möglichkeit bestehen, bei wichtigen Fragen per einstweiliger Anordnung eine Entscheidung herbeizuführen.
Nach wie vor besteht auch die Möglichkeit, dass man
die gemeinsame Sorgeerklärung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens beim Jugendamt abgibt. Das ist uns
natürlich am liebsten; denn es ist immer besser, wenn es
gar nicht erst zu einem gerichtlichen Verfahren kommt.
Wenn es aber doch dazu kommt, soll es für den Vater
niederschwellig möglich sein, die gemeinsame elterliche
Sorge zu erlangen, weil das Kind sowohl Mutter als auch
Vater braucht. Wir sind der Meinung, dass diese Lösung
dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Es ist eine gute
Lösung. Sie stellt einen Mittelweg dar. Wir werben dafür, dass Sie diesen Weg mit uns gehen.
Wir werden natürlich im Laufe der Zeit überprüfen,
ob die getroffenen Regelungen fruchten, ob sie einen guten Weg darstellen oder ob man in dem einen oder anderen Fall, beispielsweise was Fristen oder Verfahren angeht, Korrekturen vornehmen muss. Zunächst sind wir
der Auffassung, mit der Niedrigschwelligkeit im materiellen Recht und der Beschleunigung im Verfahrensrecht eine tragbare Lösung gefunden zu haben.
Ich freue mich, dass nach den Berichterstattergesprächen, aber auch den informellen Gesprächen, Bündnis 90/Die Grünen bereit sind, zuzustimmen und diesen
Weg mitzugehen. Dafür bedanke ich mich.
Wir werden heute über eine gute Regelung abstimmen. Dafür bedanke ich mich. Dies ist im Interesse der
Kinder, der Eltern und insbesondere der Väter, um die es
heute im Wesentlichen geht.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Jörn Wunderlich.
Bitte schön, Kollege Jörn Wunderlich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Art. 6 Abs. 2 GG heißt es wörtlich:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Die Rede ist von Eltern; von verheirateten Eltern steht
hier nichts. Das war vielleicht auch mit der Grund, warum der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
vor über drei Jahren entschieden hat, dass hier in
Deutschland das Sorgerecht von nicht verheirateten Eltern zu regeln ist und nicht, wie der Kollege Lischka
schon gesagt hat, mit einem einfachen Nein der Mutter
die Sorge des Vaters verhindert werden kann.
Heute wird dies endlich neu geregelt; lange genug hat
es gedauert. Es ist intensiv beraten worden. In der ersten
Lesung zum vorliegenden Gesetzentwurf bzw. zu der
Problematik als solcher ist bereits darauf hingewiesen
worden, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, das
Sorgerecht neu zu regeln: die Antragslösung, die Widerspruchslösung, die sogenannte große Lösung, also elterliche Sorge kraft Gesetz.
Man muss sich fragen: Was ist für Kinder das Beste?
Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die gemeinsame
Sorge der Eltern per se nicht das Schlechteste ist. Vier
von den acht Sachverständigen in der Anhörung haben
sich für die große Lösung ausgesprochen, also die elterliche Sorge beider Elternteile kraft Gesetz. Nun ist es so:
Keiner der Anträge verfolgt im Ergebnis die große Lösung, obschon es etliche Abgeordnete, ohne Ansehen der
Fraktion, gibt, die diese Lösung präferieren. Im Antrag
meiner Fraktion, der Linken, heißt es unter anderem:
Eltern erhalten, unabhängig von ihrem eherechtlichen Status, mit der Anerkennung der Vaterschaft
ein gemeinsames Sorgerecht, sofern der Vater die
Übernahme der gemeinsamen Sorge erklärt.
Es handelt sich also um eine elterliche Sorge kraft Gesetz, verbunden mit einer Erklärung des Vaters, dass er
die Sorge auch übernehmen will. Insoweit wurde im
Rahmen der Anhörung der Antrag der Linken von einigen Sachverständigen als leicht abgewandelter Automatismus ausdrücklich als der weitestgehende und geeignetste Vorschlag angesehen. Konkrete Gründe, die gegen
unseren Antrag sprechen, sind mir bis heute nicht genannt worden. Ich denke, letztlich würde nur dieser Automatismus - frei von anachronistischen Rollenbildern
und Klischees - einer modernen, gleichberechtigten Gesellschaft entsprechen.
({0})
Nach wie vor lautet die Frage - die Frage bleibt einfach -: Warum muss ein Vater, wenn er seiner grundrechtlich auferlegten Pflicht, sich um sein Kind zu kümmern, für sein Kind zu sorgen, nachkommen will, erst
einen Antrag bei Gericht stellen? Oder: Warum müssen
Eltern, die die faktische Sorge ausüben, möglicherweise
einen Antrag bei Gericht stellen? Nun gut, es gab verschiedene Möglichkeiten. Wir haben verschiedene Anträge aus allen Fraktionen vorliegen. Der Gesetzentwurf
setzt letztlich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts um - jetzt ist aber die Uhr gesprungen -;
Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe eine eigene
Uhr. Es geht alles in Ordnung. Ich habe es fest im Griff.
- die Umsetzung aber ist minimalistisch und halbherzig, nicht zukunftsweisend.
Immerhin ist ein Kritikpunkt, der in der Anhörung zur
Sprache kam - das ist hier schon angesprochen
worden -, leicht verbessert worden: das Schnellverfahren ohne Anhörung der Beteiligten, nach Aktenlage. Es
geht hier um das Sorgerecht. Es geht um Kinder. Es geht
um wirklich richtungsweisende Entscheidungen. Aus
der sogenannten Istvorschrift ist eine Sollvorschrift geworden. Das ist eine minimale Verbesserung. Nun kann
man natürlich sagen: Mein Gott, warum regt sich die
Linke darüber auf, dass man nach Aktenlage entscheidet,
wenn gleichzeitig der Automatismus im Sorgerecht präferiert wird?
({0})
Darin besteht aber kein Widerspruch. Wenn die gemeinsame elterliche Sorge besteht, kraft Gesetz, möglicherweise durch die Zusatzerklärung des Vaters, kann jeder
Elternteil, wenn sich die Eltern trennen oder über das
Sorgerecht streiten, nach § 1671 BGB, wie Eheleute
auch, die elterliche Sorge für sich allein oder Teile der
elterlichen Sorge beantragen. Das geht eben nicht ausschließlich in einem Schnellverfahren. Sobald die Gerichte damit befasst sind - am besten wäre es, sie müssten sich gar nicht damit befassen; das sollten die Eltern
eigentlich schiedlich-friedlich miteinander klären -, darf
nicht nach Aktenlage im Schnellverfahren entschieden
werden.
Zu dem Antrag der Grünen muss man sagen: Er ist
nicht falsch, er ist aber der bürokratischste. Der Antrag
von der SPD ist auch nicht falsch, unser ist aber weiter
gehend. Zu dem Entschließungsantrag der Grünen, der
jetzt noch vorgelegt wurde, nach dem evaluiert werden
soll, sage ich: Das muss man mal sehen.
({1})
Ich sage es einmal so: Da wurden mal schnell drei
Punkte formuliert; das reicht nicht aus. Man kann sich
aber bei allen Anträgen positiv enthalten.
Herr Kollege, jetzt ist die Uhr gesprungen.
Okay. - Letzter Satz: Die Zukunft wird zeigen, wie
sich das Sorgerecht zum Wohle der betroffenen Kinder
weiterentwickelt; denn diese müssen im Zentrum all unserer Überlegungen stehen. Wir sind noch nicht am Ende
der Überlegungen. Oder, um es mit Oscar Wilde zu sagen: Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut
wird, ist es noch nicht das Ende.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin
Katja Dörner. Bitte schön, Frau Kollegin Katja Dörner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist Ihnen aus den Beratungen in den
Ausschüssen schon bekannt: Wir werden dem Gesetzentwurf heute Abend zustimmen.
({0})
Wir tun das, weil wir der Ansicht sind, dass die darin
getroffenen Regelungen ein vernünftiger Kompromiss
sind. Aus unserer Sicht werden die Interessen und die
Rechte der Kinder, der Mütter und der Väter in einen tatsächlich gut ausgewogenen Ausgleich zueinander gebracht. Ich bin auch der Meinung, dass sich dieses
Thema nicht für irgendwelche parteipolitischen Profilierungen eignet. Man sollte auch nicht versuchen, das berühmte Haar in der Suppe zu finden, zumal wir alle, die
wir hier sitzen und darüber diskutieren - ich glaube, das
ist auch in der Debatte heute Abend deutlich geworden -,
wissen, dass in allen Fraktionen die gleichen Argumente
vorgebracht wurden und sie vor dem Hintergrund unterschiedlicher Perspektiven abgewogen wurden.
Es fällt uns natürlich auch deshalb leicht, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, weil sich der Vorschlag der Bundesregierung weitgehend mit den Eckpunkten der Grünen deckt, die wir schon im Herbst 2010 vorgelegt
haben. Ich bleibe dabei, wenn auch mit einem kleinen
Augenzwinkern, dass ein dezenter Hinweis auf unser
Copyright bei den Regelungen im Gesetzentwurf an der
einen oder anderen Stelle durchaus angemessen gewesen
wäre.
({1})
Es ist allerdings nicht nachvollziehbar - das muss ich
sagen; das ist aus meiner Sicht auch keine Unkerei -,
dass es so lange gedauert hat, bis Schwarz-Gelb überhaupt einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts wäre es
angemessen und sicherlich auch möglich gewesen, einen
Gesetzentwurf schneller auf den Weg zu bringen. Ich erinnere mich auch an die Aussagen der Justizministerin,
die ursprünglich einen Gesetzentwurf für den Herbst
2010 angekündigt hatte. Jetzt ist es 2013. Im Sinne der
Kinder und der betroffenen Eltern wäre aus unserer Sicht
sicherlich ein schnelleres Verfahren wünschenswert gewesen. Aber ich sage an dieser Stelle: Schwamm drüber.
Es geht uns ja gemeinsam um die Sache, nämlich darum,
dass unverheiratete Väter zukünftig auf einem einfachen
Weg, in einem wirklich niedrigschwelligen Verfahren
das Sorgerecht für ihre Kinder bekommen können. Das
wird mit den nun vorgeschlagenen Regelungen möglich.
Wir begrüßen das.
({2})
Die Anhörung im Rechtsausschuss hat aber auch gezeigt, dass bei einigen Aspekten im Gesetzentwurf ein
Fragezeichen durchaus angebracht wäre. Deshalb haben
wir heute Abend unseren Entschließungsantrag vorgelegt. In diesem fordern wir die Bundesregierung auf, bei
der sowieso geplanten Evaluierung des Gesetzentwurfs
auf bestimmte Aspekte ein besonderes Augenmerk zu
richten. Dabei handelt es sich aus unserer Sicht vorrangig um die Frage, ob das Familiengericht tatsächlich der
richtige Ort ist, an dem der Vater den Antrag auf Sorgerecht stellt, oder ob das nicht doch eine etwas zu hohe
Hürde ist und das Jugendamt nicht eher geeignet wäre.
Der zweite aus unserer Sicht wichtige Punkt ist die Frage
der Frist für einen möglichen Widerspruch der Mutter.
Der dritte für uns sehr wichtige Punkt ist die Frage, ob
die Beratungs- und Mediationsangebote tatsächlich bereitgestellt und genutzt werden bzw. was man in diesem
Zusammenhang im Sinne einer frühzeitigen Konfliktvermeidung oder Konfliktlösung zwischen den Elternteilen
noch tun könnte.
Wir würden uns über Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag sehr freuen. Es ist sicherlich sachgerecht, bei einem derart neuen Verfahren beim Sorgerecht
nicht miteinander verheirateter Eltern ganz genau auf die
Konsequenzen zu achten, zumal wir alle wissen, dass
wir es zum Teil mit höchst konfliktträchtigen Konstellationen zu tun haben.
Alles in allem machen wir heute im Sinne der Kinder
und auch im Sinne der Eltern einen echten Schritt nach
vorne. Darüber freuen wir uns als Grüne. Wir stimmen
- dies ist eine eher untypische Konstellation - diesem
Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege Norbert
Geis.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ohne Zweifel ist es eine der vordringlichsten
und wichtigsten Aufgaben beider Elternteile, die Kinder
zu erziehen, für sie Sorge zu tragen und für die Kinder
da zu sein. Durch die liebende Zuwendung, durch die
sorgende Zuwendung der Eltern entstehen in den Kindern Geborgenheit und Vertrauen, das Urvertrauen, das,
wie uns die Sachverständigen sagen, für die Erlernung
der Daseinskompetenz in jüngsten Jahren unbedingt erforderlich ist.
Es besteht auch kein Zweifel - das möchte ich hier
betonen -, dass diese Voraussetzungen am ehesten in der
Familie geschaffen werden können. Wenn Vater und
Mutter in der Ehe zusammenleben und die Familie bilden, ist am ehesten die Voraussetzung gegeben, dass
diese Daseinskompetenz entsteht. Deswegen geht unsere
Rechtsordnung auch davon aus, dass Vater und Mutter
unmittelbar bei Geburt, wenn sie in Ehe vereint sind,
wenn sie verheiratet sind, das Sorgerecht bekommen.
Das ist nicht so, wenn Vater und Mutter getrennt leben, wenn sie zumindest nicht eine Ehe eingegangen
sind, wenn sie vielleicht sogar im Streit miteinander
sind. Für solch einen Fall haben wir in diesem Gesetzentwurf vorgesehen - das war auch schon bei der großen
Kindschaftsrechtsreform Ende der 90er-Jahre so -, dass
dann zunächst die Mutter das Sorgerecht hat. Das hat
seinen Grund in der ganz natürlichen Gegebenheit, dass
die Mutter zuerst das engste Verhältnis mit dem Kind
hat. Die Erziehung beginnt ja schon in der Schwangerschaft. Viele Psychologen und Sachverständige haben
dargelegt, dass Mütter schon in der Schwangerschaft mit
ihrem Kind sprechen und durch dieses Sprechen eine
Verbindung zum Kind entsteht. Das ist, glaube ich, eine
wichtige Feststellung.
Bei der großen Kindschaftsrechtsreform Ende der
90er-Jahre wurde entschieden, dass zunächst die Mutter
das alleinige Sorgerecht haben soll. Mittlerweile wurde
auch entschieden, dass die Mutter das alleinige Sorgerecht behalten soll, wenn sie dem Antrag bzw. dem Willen des Vaters, auch das Sorgerecht zu erhalten, widerspricht. Wenn sie das tut, hat der Vater keine Chance
mehr. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat erklärt, dass diese Regelung gegen die Menschenrechte verstößt. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahre 2010 erklärt, dass
diese Regelung verfassungswidrig ist, weil sie gegen
Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes verstößt. Insofern sind
wir veranlasst, eine Regelung zu finden.
Dazu sind wir aber nicht nur deswegen aufgefordert,
weil diese Regelung verfassungswidrig ist, sondern auch
- das will ich dazusagen -, weil die Zahl der Kinder, die
nicht in einer Ehe geboren werden, im Laufe der Zeit immer mehr zugenommen hat. Heutzutage kommen schon
ein Drittel aller Kinder nicht unter den Rahmenbedingungen, die ich vorhin genannt habe, zur Welt.
({0})
Das hat die Politik zu berücksichtigen. An diesem Faktum kann und darf die Politik nicht vorbeigehen. All
denjenigen, die diesen Gesetzentwurf kritisieren, weil
sie meinen, er gehe zu weit, möchte ich sagen: Wir sind
dazu da, Regelungen zu finden, die vom Volk insgesamt
akzeptiert werden können.
Ich meine, dass dieser Gesetzentwurf dieses Ziel erreicht. Sicherlich kann man darüber streiten, wie das
funktionieren soll, wenn ein Vater einen entsprechenden
Antrag stellt und die Mutter widerspricht. In diesem Fall
wird es eine streitige Auseinandersetzung geben. Dann
kann der Richter einschreiten. Er kann Vater und Mutter
anhören - er kann meinetwegen auch das Jugendamt anhören -, und er kann vielleicht sogar dazu beitragen,
dass das herauskommt, was Herr Lischka erwähnt hat:
dass die Eltern, wie in zwei Drittel aller Fälle, das gemeinsame Sorgerecht haben, auch wenn sie nicht in einer Ehe zusammenleben.
Wenn das aber nicht der Fall ist, wenn es also zu einer
heftigen Auseinandersetzung kommt, dann muss der
Richter entscheiden. Entscheidend ist dabei allein das
Kindeswohl. Allerdings kann man darüber nachdenken,
ob die negative Feststellung des Kindeswohls ausreicht.
Man könnte, wenn es einem wirklich um das Kindeswohl geht, überlegen, ob es, wenn Vater und Mutter verbissen gegeneinander vorgehen, nicht besser wäre, eine
positive Feststellung vorzunehmen: dass das Sorgerecht
des Vaters dem Wohl des Kindes nicht entgegensteht,
sondern dass das Sorgerecht des Vaters für das Wohl des
Kindes förderlich ist. Eine solche Regelung ist in diesem
Gesetzentwurf aber nicht enthalten. Dennoch meine ich,
dass die gefundene Regelung auch so hinnehmbar ist.
Des Weiteren möchte ich sagen: Darüber, ob die
Sechswochenfrist, über die wir ja lange gestritten haben,
ausreicht, muss die Praxis entscheiden. Die Praxis muss
auch darüber entscheiden, ob es richtig ist, dass der
Richter ganz automatisch, nur weil eine gesetzliche Vermutung dafürspricht, entscheiden muss, dass der Vater
das Sorgerecht bekommt, wenn sich die Mutter bis zum
Ablauf der Sechswochenfrist nicht dagegen gewehrt hat.
Ob das so ganz richtig ist, ist die Frage. Darüber muss,
wie gesagt, die Praxis entscheiden. Gegen diese Regelung gibt es Bedenken. Diese Bedenken kann man teilen,
Herr Lischka und Herr Wunderlich. Aber ich glaube, wir
sollten es versuchen. Warten wir ab, wie die Praxis entscheidet und ob sich die getroffene Regelung in der Praxis bewährt. Ich glaube, dass wir dann durchaus eine
Korrektur vornehmen könnten.
Weil dieser Gesetzentwurf wichtig ist, schließe ich
mich der Bitte von Frau Granold an: Versuchen wir
doch, hier eine gemeinsame Entscheidung zu treffen! Ich
jedenfalls bin sehr für diesen Gesetzentwurf.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. - Für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Sonja
Steffen. Bitte schön, Frau Kollegin Sonja Steffen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Fast könnte man meinen,
die klassische Familie mit einem verheirateten Elternpaar sei ein Auslaufmodell; denn immer mehr Kinder in
Deutschland wachsen bei Alleinerziehenden oder bei
Paaren ohne Trauschein auf. Im Osten der Republik sind
übrigens nicht ein Drittel der Eltern, sondern fast die
Hälfte der Eltern nicht verheiratet. In den neuen Bundesländern leben also nur in circa jeder zweiten Familie die
Eltern mit Trauschein zusammen.
Die Rechtsprechung hat - das wissen wir alle - mit
diesem neuen Familienbild viel zu tun, insbesondere was
das Sorgerecht angeht. Nach den Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des
Bundesverfassungsgerichts musste eine angemessene
Regelung der elterlichen Sorge für ein Kind nicht miteinander verheirateter Eltern gefunden werden. Das ist zugegebenermaßen keine leichte Entscheidung, zumal die
gesellschaftliche Bedeutung, wie gesagt, sehr groß ist.
Die Palette der Beziehungen der Eltern zueinander reicht
von einer flüchtigen Bekanntschaft - möglicherweise
nur einer Nacht - bis hin zu einer langjährigen eheähnlichen Beziehung.
Entgegen ersten Ankündigungen einer raschen Umsetzung der gerichtlichen Entscheidungen - wir haben
schon gehört, dass das Gesetz ursprünglich schon im
Herbst 2010 angedacht war - hat sich die Regierungskoalition für die Reform des Sorgerechts ungewöhnlich
viel Zeit gelassen.
({0})
Dies lag wohl zu einem großen Teil an den unterschiedlichen Familienbildern, die die Mitglieder der Koalition
schlecht unter einen Hut bringen konnten.
({1})
Was dabei herausgekommen ist, überzeugt die Fraktion der SPD nicht, auch nicht nach der Debatte. Ich sage
Ihnen auch, warum dies so ist: Sie wollen für Sorgerechtsanträge der Väter ein Schnellverfahren einführen
- mein Kollege Lischka hat es, glaube ich, HopplahoppVerfahren genannt -: Wenn die Mutter das gemeinsame
Sorgerecht nicht will, dann kann der Vater wählen, ob er
zunächst über das Jugendamt eine Einigung mit der Mutter anstrebt oder ob er sich direkt an das Familiengericht
wendet. Ist die Begründung der Mutter in diesem familiengerichtlichen Verfahren nicht überzeugend oder verpasst sie die Sechswochenfrist, dann kann das Gericht
nach Aktenlage über ein gemeinsames Sorgerecht entscheiden. Diese Sechswochenfrist endet für die Mutter
übrigens frühestens sechs Wochen nach der Geburt.
Ich habe schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes gesagt: Ich halte diese Frist für viel zu kurz.
({2})
Der Kollege Geiß hatte vorhin auch schon seine Zweifel.
Erinnern wir uns daran - gerade die von uns, die Mütter
sind, aber auch die, die Väter sind -, wie aufregend die
Zeit nach der Geburt ist! Eine Frist von sechs Wochen
- und das, wenn die Mutter alleinerziehend ist, der Vater
ihr nicht zur Seite steht, man im Streit ist - halte ich geSonja Steffen
rade in dieser Zeit nach der Geburt für erheblich zu kurz,
um sich mit Sorgerechtsdingen zu beschäftigen, sich einen Anwalt zu suchen und dafür zu sorgen, dass ein vernünftiger Schriftsatz aufgesetzt wird.
({3})
In dem Fall, dass die Mutter die Frist verpasst oder die
Begründung dem Gericht nicht ausreicht, kann der Richter zukünftig tatsächlich wie eine Art Verwaltungsbehörde ohne persönliche Anhörung der Eltern - ohne sie
jemals zu Gesicht bekommen zu haben - und ohne Anhörung des Jugendamtes nach Aktenlage entscheiden.
({4})
Konfliktbelasteten Beziehungen, um die es bei diesen
Entscheidungen eigentlich immer geht, wird diese Regelung nicht gerecht. Wenn das Gericht entscheidet, ohne
die Eltern gesehen zu haben, wird der Streit unter den
Parteien vielleicht eher noch heftiger werden.
Im Gerichtssaal der Familiengerichte - das wissen
alle Familienrechtler unter uns - wird versucht, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Da sitzen die Parteien
nebeneinander, da ist das Jugendamt vertreten, da ist inzwischen auch ein Verfahrensbeistand zugegen, und man
sucht gemeinsam nach einer Lösung, überlegt vielleicht,
ob man die Eltern zu einer Elternberatung schickt, um zu
erreichen, dass das Sorgerecht gemeinsam ausgeübt
wird. Wir halten diese Lösung für notwendig. Deshalb
ist eine echte Einzelfallprüfung unbedingt erforderlich.
({5})
Auch in der öffentlichen Anhörung - das wissen Sie haben viele Sachverständige starke Kritik an dem ursprünglichen Gesetzentwurf geäußert. In dem betreffenden Paragrafen soll nun das Wort „hat“ durch „soll“ ersetzt werden. Ich meine, dass wir damit nichts erreichen;
denn „soll“ heißt in der Regel doch „muss“. In unserem
Fall bedeutet das, dass das Gericht regelmäßig nach Aktenlage entscheiden kann.
Wir können diesem Gesetz also - bei allem Verständnis für die oft schwierige Situation der Eltern - nicht zustimmen. Wir wollen einzig und allein das Kindeswohl
in den Vordergrund stellen. Sie haben nun die Wahl,
meine Damen und Herren: Bitte entscheiden Sie sich für
das Kindeswohl und damit für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich schließe nun die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Reform der elterlichen Sorge nicht
miteinander verheirateter Eltern. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12198, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/11048 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt
dagegen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltun-
gen? - Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Fraktion Sozialdemokraten. Enthal-
tungen? - Fraktion Die Linke. Abstimmungsergebnis
wie vorhin. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12224. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Koali-
tionsfraktionen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
schusses auf Drucksache 17/12198 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8601 mit dem Titel „Neuregelung der
elterlichen Sorge bei nicht verheirateten Eltern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten. Enthaltun-
gen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/9402 mit dem Titel „Neuregelung des Sorge-
rechts für nicht miteinander verheiratete Eltern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koalitions-
fraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokra-
ten. Gegenprobe! - Fraktion Die Linke. Enthaltungen? -
Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/3219 mit dem Titel „Gemeinsames elterliches
Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Ge-
genprobe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? -
Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen mir
noch zwei persönliche Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung von Frau Kollegin Sylvia Canel und
vom Kollegen Thomas Jarzombek vor. Diese werden zu
Protokoll genommen.1)
1) Anlage 7
Vizepräsident Eduard Oswald
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Roth
({1}), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Soziale Sicherung als Motor solidarischer und
nachhaltiger Entwicklungspolitik
- Drucksachen 17/7358, 17/11429 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({3})Karin Roth ({4})-
Harald Leibrecht-
Niema Movassat-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag
zur weltweiten sozialen Wende
- Drucksachen 17/11665, 17/11960 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({6})Karin Roth ({7})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind
alle damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin für
die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Frau Helga
Daub. Bitte schön, Frau Kollegin Helga Daub.
({8})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Den Aufbau sozialer Sicherungssysteme
unterstützen: Wer wollte das nicht? Das gilt gerade für
uns hier in Deutschland und in Europa, die wir eine
breite soziale Sicherung haben, und das soll natürlich
auch in den Entwicklungsländern erreicht werden.
Was unsere Vorstellungen von den Anträgen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen unterscheidet, ist der Weg,
auf dem dieses Ziel erreicht werden soll. Hinzu kommt,
dass wir es natürlich mit völlig unterschiedlichen Entwicklungsstadien in diesen Staaten zu tun haben, was
Sie ja auch in Ihren Anträgen ausführen. Es geht vom
Schwellenland bis hin zum fragilen Staat. Das wird von
Ihnen ja auch richtig bemerkt, und Sie sagen völlig zu
Recht, dass es bei der sozialen Sicherung nicht um Almosen geht. Vielmehr müssen wir die Menschen in den
Entwicklungspartnerländern ihrerseits in die Lage versetzen, Finanzierungssysteme aufzubauen.
Ich weiß, das klingt jetzt sehr theoretisch und sehr abgehoben, und wir alle wissen, dass das nicht von selbst
kommen kann.
Zur nachhaltigen Finanzierung bedarf es eines transparenten Steuersystems und einer Mischung aus nationalem Beitragsaufkommen und der Unterstützung der
Geberländer. Wie aber ist das nationale Beitragsaufkommen zu erreichen? Vor allem die Regierungen der sehr
armen Partnerländer werden kaum in der Lage sein, ihrerseits eine soziale Grundsicherung zu gewährleisten.
Was man seitens der Geberländer sehr wohl tun kann,
ist, auch Hilfe beim Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft zu leisten. Warum? Diese schafft Arbeitsplätze,
Arbeitsplätze bedeuten Lohn, und wer Lohn erhält, kann
auch Steuern zahlen und zumindest im kleinen Umfang
Kosten zum Erhalt der eigenen Gesundheit tragen. Hier
ist aber auch die WHO gefordert. Wir alle wissen natürlich, dass sich die WHO in einem Prozess der Umorganisation befindet. Herr Kekeritz, aus dem Ausschuss habe
ich aber zumindest mitgenommen, dass wir die WHO
bei diesem Vorhaben fraktionsübergreifend unterstützen.
Die in Ihrem Antrag geforderte globale Gesundheitsstrategie ist bereits Teil der Politik der Bundesregierung.
Wie eingangs schon erwähnt: Die soziale Sicherung ist
keine Sache von Almosen, zumindest nicht, wenn wir
eine nachhaltige Sicherung erreichen wollen. Deshalb
unterstützt und ermutigt die Bundesregierung die Wirtschaft, sich in Entwicklungsländern zu engagieren und
sich dort noch stärker zu engagieren, wo sie dies bereits
tut, selbstverständlich unter Beachtung der ILO-Normen.
In Ihren Anträgen wird aber natürlich ein weiteres
Mal die Budgethilfe als Mittel des Heils angesehen.
Gute Regierungsführung und Bekämpfung von Korruption erreicht man sicher nicht mit Budgethilfe. Die Bundesregierung lehnt sie übrigens überhaupt nicht generell
ab. Es gibt sie konditioniert, in Tranchen ausgezahlt
- wir haben heute ja auch über Ruanda gesprochen -,
und es gibt auch die sektorale Budgethilfe, die im Gesundheitswesen sicherlich durchaus wirkungsvoll sein
kann. Generell setzt sie aber vor allen Dingen gute Regierungsführung voraus, und wir wissen, dass das leider
oft genug nicht die Realität ist.
Hier als Geberland mit der allgemeinen Budgethilfe
einspringen zu wollen, hieße, den sozialen Standard der
Herrschenden und ihrer Großfamilien üppig zu sichern.
Wir haben leider Gottes oft genug traurige Beispiele erlebt.
Meine Damen und Herren von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, in Ihren Anträgen schreiben Sie, es fehle
ein Haushaltstitel „Soziale Sicherung“. Warum? Weil
diese Bundesregierung der Meinung ist, dass jedes Politikfeld und jedes Engagement der sozialen Sicherung zu
dienen hat, vor allem die Bereiche Bildung und Ausbildung. Aber das ist ja fast selbstredend und selbsterklärend. Betrachten wir zum Beispiel die Einnahmen aus
dem Rohstoffhandel. Gerade Rohstoffe sind vor allen
Dingen in den Entwicklungsländern häufig zu finden.
Wenn die Gewinne daraus in mehr Bildung, in Soziales
und in die Umwelt investiert werden, dann dient das sehr
wohl auch der sozialen Sicherung. Lassen Sie mich aber
auch noch ein ganz anderes Beispiel nennen: Der Haushaltstitel „Ländliche Entwicklung“ dient selbstverständlich auch der sozialen Sicherung.
({0})
Die Mittel hierfür sind wieder aufgestockt worden, nachdem sie unter der Vorgängerin von Minister Niebel zurückgefahren wurden.
Selbstverständlich ist die Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen ein wichtiger Pfeiler bei dieser Sicherung. An dieser Stelle erwähne ich die Organisation
Plan, eines der großen Kinderhilfswerke, die sich vor allen Dingen in der Geburtenregistrierung sehr stark engagiert; denn ohne diese Registrierung gibt es keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen.
Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil, wie gesagt, die
Budgethilfe ein weiteres Mal das Allheilmittel sein soll.
Wir wollen auch keinen gesonderten Haushaltstitel „Soziale Sicherung“, weil dann eben die Gefahr besteht,
dass viele Projekte ineffektiv nebeneinander herlaufen.
Wir wollen Effektivität in der Entwicklungspolitik.
Danke.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin für
die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin
Frau Karin Roth. Bitte schön, Frau Kollegin Karin Roth.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Sie, Frau Daub, so hört, hat man fast den
Eindruck, man könnte sich an vielen Stellen einigen.
Aber leider ist das offensichtlich doch nicht möglich.
({0})
80 Prozent der Weltbevölkerung - das sind rund
5,7 Milliarden Menschen - leben ohne jeglichen Versicherungsschutz vor Risiken wie Krankheit und Arbeitslosigkeit. Auch im Alter haben sie die Risiken zu
tragen. 100 Millionen Menschen verarmen jährlich weltweit nur deswegen, weil sie die Kosten für den Arztbesuch oder Medikamente aus eigener Tasche bezahlen
müssen.
Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation müssen 215 Millionen Kinder Tag für Tag arbeiten, um das Überleben der eigenen Familie zu sichern,
über 100 Millionen von ihnen unter gefährlichen und
ausbeuterischen Bedingungen. Um es konkret zu sagen:
Diese Kinder arbeiten in Steinbrüchen, als Drogenschmuggler, als Prostituierte und als Kindersoldaten; das
wissen wir alle. Die Hälfte dieser Kinder ist jünger als
14 Jahre.
Das muss sich ändern. Die Ursache für diese erschreckenden Zahlen ist die Armut in diesen Ländern. Alles,
was dazu dient, die wirtschaftliche Lage und die soziale
Sicherung zu verbessern, müssen wir tun. Es gibt in diesem Zusammenhang, Frau Daub, überhaupt keinen Meinungsunterschied zwischen uns. Wir beide sind der
Meinung: Je mehr reguläre Arbeitsplätze in den Entwicklungsländern vorhanden sind, desto eher ist soziale
Sicherung möglich.
({1})
Aber um das zu erreichen, müssen wir die Arbeitsbedingungen im informellen Sektor - dieser umfasst in den
Entwicklungsländern 90 Prozent der erwerbstätigen
Menschen - ins Blickfeld unserer Überlegungen nehmen. Für diese 90 Prozent Selbstständigen, die ohne eine
Sicherung des Existenzminimums leben, müssen wir Regelungen finden, nicht nur für den formellen Sektor. Das
scheint mir jetzt wirklich wichtig zu sein.
({2})
Diese Bereiche kann man nicht auseinanderdividieren. Vielmehr muss man sich die Frage stellen: Was können die Entwicklungsländer tun, um die Situation zu verbessern? Diese Frage ist richtig. Die andere Frage ist:
Was können wir tun, um diese Situation zu verbessern?
Die wichtigsten internationalen Organisationen, wie die
Vereinten Nationen, allen voran die Internationale Arbeitsorganisation, die WHO, G 20 und G 8 und die Europäische Union, haben erkannt, dass dieses Konzept eines
sozialen Basisschutzes genau die richtige Antwort ist.
Jetzt frage ich mich: Warum kann man das nicht unterstützen? Was hindert die Bundesregierung daran,
diese international vereinbarten Konzepte, die auf einem
gemeinsamen Konsens beruhen - das ist nicht allein eine
sozialdemokratische Idee -, umzusetzen? Ich habe den
Eindruck, dass man hier wirklich vorangehen kann.
Vor kurzem hat der EU-Entwicklungskommissar
Andris Piebalgs einen Vorschlag vorgelegt, in dem deutlich gemacht wird, dass zur Armutsbekämpfung Einkommenssicherung, Bildung, Gesundheitsvorsorge und
wirtschaftliche Entwicklung im Mittelpunkt stehen und
deshalb auch das Thema soziale Sicherung eine wichtige
Rolle spielt. Er hat auf einer Fachveranstaltung der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Brüssel gesagt - ich darf zitieren -:
Soziale Sicherung stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Und: Soziale Sicherung trägt zur Stabilität
der Partnerländer bei und ist die Voraussetzung für
deren weitere Entwicklung. Deshalb sollten wir damit weitermachen, bei unseren Partnern für ein Modell zu werben, das das Kernstück des europäischen
Sozialmodells ist und uns in Europa stark gemacht
hat.
Das heißt, es ist nicht umstritten in Europa. Aber von
der schwarz-gelben Bundesregierung kommt leider
Karin Roth ({3})
nichts. Wir in Deutschland wissen, wie notwendig und
hilfreich bei uns die Einführung des Kindergeldes war;
auch das ist unumstritten. Das hat für Chancengleichheit
gesorgt. Ebenfalls klar ist, dass die Wiedereinführung
der Sozialhilfe 1962 wichtig war, um das Existenzminimum zu gewährleisten. Im Übrigen haben wir das zuerst
in der Weimarer Republik eingeführt.
({4})
- Das war die Antwort auf die Frage, wann die Sozialhilfe eingeführt wurde. Das geschah zuerst in der Weimarer Republik. Wiedereingeführt wurde sie 1962. Es ist
doch in Ordnung, das erst einmal festzustellen.
({5})
Das Konzept eines Social Protection Floor, also eines
sozialen Basisschutzes, stellt meiner Meinung nach eine
gute Basis dar. In Lateinamerika, Asien und Afrika gibt
es zahlreiche positive Beispiele dafür, dass Länder erfolgreich einen solchen Basisschutz oder zumindest einige Elemente davon eingeführt haben. Es geht also voran. Ich will an dieser Stelle Brasilien, Mosambik,
Vietnam, El Salvador und - aktuell - Indonesien und
China nennen. Die sogenannten Schwellenländer zeigen
eindrucksvoll, wie soziale Sicherung, wenn sie systematisch und vor allen Dingen staatlich organisiert wird,
funktionieren kann.
Ein ausgezeichnetes Beispiel ist Brasilien.
({6})
Das dortige Sozialprogramm Bolsa Familia bietet rund
16 Millionen armen Haushalten mit schätzungsweise
72 Millionen Personen, darunter 29 Millionen erwerbstätige Erwachsene und Jugendliche, ein Sicherheitsnetz
über Sozialtransfers. Das ist die richtige Richtung.
({7})
Die anspruchsberechtigten Familien erhalten eine Unterstützung zu ihrem Familieneinkommen und müssen dafür bestimmte Bedingungen - Frau Daub, das ist gar
kein Thema - einhalten. Beispielsweise verpflichten sie
sich, ihre Kinder zur Schule zu schicken und Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge durchführen zu lassen.
Bolsa Familia konnte damit einen großen Beitrag zur
Verbesserung der Bildung und der Gesundheit leisten
und damit auch - man höre und staune! - die Dynamik
des wirtschaftlichen Wachstums erhöhen. Alles geht in
der Praxis Hand in Hand.
Soziale Sicherung setzt ökonomische Potenziale frei,
die dazu dienen, den Hunger zu bekämpfen. Wir sollten
versuchen, zusammen mit den Partnern in den Entwicklungsländern den Weg zu gehen. Natürlich liegt die
Hauptverantwortung für die längerfristige Finanzierung
des sozialen Sicherungssystems bei den Partnerländern
selbst. Dafür sind zusätzliche Steuereinnahmen zu erzielen. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn Gelder aus dem Rohstoffhandel in diesen Bereich fließen.
Auch die Länder selber müssen etwas tun. Darüber
herrscht bei uns Konsens, wie unser Antrag zeigt.
({8})
Natürlich ist es wichtig, die Länder, die es können,
dazu zu veranlassen, soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Aber die Länder, die es nicht können, weil ihnen
die entsprechenden Mittel fehlen, müssen unterstützt
werden, beispielsweise durch Budgethilfe. Voraussetzung ist natürlich, dass die Kriterien der guten Regierungsführung eingehalten werden; denn sonst funktioniert das ganze System gar nicht. Die Budgethilfe ist ein
wichtiges Mittel, um kurz- oder mittelfristig zu helfen,
solche Systeme einzuführen und damit eine tragfähige
Basis zu schaffen.
({9})
Es stimmt nicht, wie Sie suggerieren, dass die Budgethilfe ohne Auflagen gewährt werden soll. Das wäre Unsinn. Sie wissen aufgrund der Debatten im AwZ ganz genau, dass ich immer betone, dass die Strukturpolitik
unterstützt werden muss, dass aber die Budgethilfe nur
dann ausgezahlt werden darf, wenn es entsprechende Sicherungen gibt.
({10})
Ich verwahre mich dagegen, dass hier so getan wird,
als ob das eine Erfindung der SPD und der Grünen wäre.
Der EU-Entwicklungsministerrat hat im Oktober letzten
Jahres zu Recht festgestellt, dass fehlende Sozialschutzsysteme eine Ursache für weltweite Armut sind und die
Europäische Union den Aufbau solcher Systeme unterstützen will. Allerdings hält sich das Entwicklungsministerium nicht an die Beschlüsse, die es selbst mitgetragen hat. Das heißt, es verfährt nach dem Motto: Brüssel
ist weit weg, es wird schon keiner merken. - Das kann
nicht sein, das ist nicht fair. Es ist auch nicht gegenüber
den Ländern fair, wenn wir so tun, als würden wir im
Ministerrat das, was sogar Teil der EU-Strategie ist, in
Brüssel unterstützen, im deutschen Parlament aber gegen die Budgethilfe und dieses Konzept gewettert wird
nach dem Motto: In Brüssel ist es in Ordnung, aber in
Berlin findet das nicht statt. Ich halte das für eine falsche
Strategie.
Im Übrigen muss ich, an die CDU/CSU gerichtet,
sagen: In der Großen Koalition haben Sie damals mit uns
gemeinsam im Zusammenhang mit einer eigenständigen
sozialen Sicherung eine Zielgröße für neue Projekte
beschlossen. Ich habe mich sehr gewundert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dass Sie an
diesem Punkt nicht mehr gebohrt haben und sich nicht
gegen Herrn Niebel durchgesetzt haben.
({11})
Das wäre in unserem Sinne gewesen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende, oder wollen
Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?
Gerne.
Sie gestatten die Zwischenfrage. Das ist wunderbar.
({0})
Aber auch ich muss zustimmen, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen.
Bitte schön, Frau Kollegin Pfeiffer.
Ich möchte Sie, werte Frau Kollegin, nur darauf hinweisen, dass tatsächlich dieser Antrag während der
Großen Koalition gestellt wurde, und zwar unter Federführung unseres allseits geschätzten Kollegen Walter
Riester. Ich glaube, er wurde sogar von den Grünen unterstützt. Die Einzige, die diesen Antrag völlig ignorierte
- sehr zum Leidwesen und Ärger des lieben Kollegen
Walter Riester -, war die damalige Ministerin. Ich kenne
diese Diskussion, die drei Jahre dauerte. Ich weiß, dass
sie lautstark zwischen Walter Riester und der Ministerin
geführt worden ist. Das wollte ich nur zur Erläuterung
sagen. Also: Gut gebrüllt, Löwe, aber zum falschen
Zeitpunkt.
Frau Kollegin Pfeiffer, Sie wissen ganz genau, dass
der Antrag von dem Kollegen Walter Riester gestellt
wurde und er von den Grünen und auch der CDU/CSU
unterstützt wurde, von der SPD natürlich auch. Die
Projekte wurden gefördert, und es gab im Haushalt eine
eigenständige Zielgröße „Soziale Sicherung“, die von
Herrn Niebel und der FDP abgeschafft wurde. So viel
zum Thema Brüllen.
({0})
Jetzt darf ich Sie bitten, gleich zum Ende zu kommen.
Ja, Herr Präsident. - Es ist klar, dass wir eine Chance
haben, die Armut zu bekämpfen. Es ist auch klar, dass
die Bundesregierung diese Chance zurzeit wirklich
vertut.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unsere Kollegin Frau Sabine Weiss. Bitte schön, Frau
Kollegin Sabine Weiss.
({0})
Schönen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Ich glaube - das zur Einleitung -, zwischen uns
allen hier, unter allen Entwicklungspolitikern herrscht
Einigkeit, dass der Aufbau sozialer Sicherungssysteme
ein zentraler Punkt der Armutsbekämpfung ist. Daher
werde ich jetzt nicht noch einmal ausführen, welche Bedeutung eine funktionierende soziale Sicherung für das
Leben der einzelnen Menschen, aber auch für ganze
Volkswirtschaften hat.
Ich bin froh, liebe Kollegin Roth, dass soziale Sicherheit eben doch als entscheidendes Instrument und Querschnittsthema im BMZ fest verankert ist. Derzeit fördert
das BMZ soziale Sicherungssysteme in rund 20 Ländern
und zusätzlich noch in regionalen und globalen Vorhaben. Mit geförderten Projekten in Höhe von 150 Millionen Euro ist das Engagement unseres Ministeriums
damit so hoch wie nie zuvor. Ziel unserer Politik ist es,
die Absicherung aller Bevölkerungsschichten, insbesondere der armen und benachteiligten Gruppen, sicherzustellen. Daher lassen wir uns nicht vorwerfen, dass wir
das Thema „Soziale Sicherung“ vernachlässigen; denn
das ist schlicht und einfach falsch.
Es ist seit langer Zeit bekannt, wie wichtig der Aufbau sozialer Sicherungssysteme für die Armutsbekämpfung und die nachhaltige Entwicklung ist. Allein mit den
vorhandenen Studien von unterschiedlichster Seite zur
Bedeutung der sozialen Sicherung kann man mittlerweile ganze Bibliotheken füllen. Es ist also ein altes
Thema und ein wichtiges Thema. Sie, verehrte Damen
und Herren von der Opposition, haben die Bedeutung
von sozialen Sicherungssystemen durch Ihre Anträge
also nicht erfunden - das haben Sie ja zugegeben, Frau
Kollegin Roth -, auch wenn man beim Lesen Ihrer Anträge manchmal zu einem anderen Schluss kommen
könnte.
({0})
Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente, wie soziale Sicherung in Entwicklungsländern erfolgreich sein kann. Ich finde - da spreche ich
auch im Namen meiner Fraktion -, dass die Maßnahmen
und Projekte des BMZ in den Bereichen Absicherung im
Krankheitsfall, Grundsicherung, Alterssicherung, Mikroversicherung und auch systemische Beratung ein guter
und erfolgversprechender Weg sind.
Was die Forderungen in Ihrem Antrag angeht, verehrte Frau Kollegin Roth, so gibt es sicherlich eine
Menge Punkte, denen ich inhaltlich zustimme, aber eben
auch, weil sie bereits Regierungshandeln sind. So sind
Frauen, Kinder, alte Menschen und Menschen mit
Behinderungen bereits Hauptzielgruppe des deutschen
Engagements, um nur ein Beispiel zu nennen.
Bei der Budgethilfe, deren Ausweitung Sie fordern,
sind wir nun einmal anderer Meinung. Aber das muss
ich jetzt nicht zum wiederholten Male ausführen.
({1})
Sabine Weiss ({2})
Mein grundsätzliches Problem mit dem Antrag ist,
dass, wie ich finde, hier einfach an vielen Stellen das
Pferd von hinten aufgezäumt wird. Da wird in zig Forderungen mehr oder weniger postuliert, dass die Bundesregierung für die Einführung sozialer Sicherungssysteme
in allen Entwicklungsländern sorgen soll.
({3})
Deutschland allein soll also die Welt retten. So einfach,
wie sich das in Ihren Anträgen liest, fragt man sich
manchmal ernsthaft, warum vorher noch keiner auf die
Idee gekommen ist. Dabei handelt es sich doch tatsächlich um Jahrhundert- und Mammutprojekte, die wir als
Deutschland gar nicht alleine stemmen können.
({4})
Die Machbarkeit dieser Jahrhundert- und Mammutprojekte wird anhand von ILO-Studien belegt. Diese
Studien besagen, sozialer Basisschutz für alle Bevölkerungsgruppen sei finanzierbar.
({5})
Dazu braucht man aber ein transparentes Steuersystem,
Beitragsaufkommen, nationale Steuermittel und internationale Geberunterstützung.
({6})
Ich füge jetzt noch hinzu: Dafür bedarf es allerdings
auch: Geburtenregister, funktionierendes Ausweissystem, Korruptionsbekämpfung, leistungsfähige Bürokratie, und zwar bis in das entlegenste Dorf hinein.
({7})
Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition,
ich weiß nicht, in welchen Entwicklungsländern Sie sich
vor Ort einen Blick verschafft haben. Ich gestehe - ich
denke, auch da spreche ich für die Kolleginnen und
Kollegen -, dass ich bisher kaum oder vielleicht sogar
gar kein Entwicklungsland kennengelernt habe, das
diese Grundkriterien, Grundvoraussetzungen alle erfüllt.
Wir dürfen also nicht den zweiten Schritt
({8})
- ich habe von Entwicklungsländern gesprochen - vor
dem ersten machen.
({9})
Ohne funktionierende Bürokratie, Geburtenregister und
ein transparentes, faires Steuersystem wird die Einführung von, wie Sie fordern, flächendeckenden sozialen
Sicherungssystem keinen Erfolg haben. Soziale Sicherungssysteme haben nur dann eine Chance, wenn die Bevölkerung auch Vertrauen in das Versicherungsprinzip
hat. Sonst wird sie nämlich gar nicht bereit sein, Zahlungen in eine unsichere Zukunft hinein zu leisten.
({10})
Bevor wir den flächendeckenden, teilweise beitragsfinanzierten Aufbau von sozialen Sicherungssystemen für
alle Bevölkerungsgruppen mit Solidarausgleich in Angriff nehmen, müssen wir also zuerst die Rahmenbedingungen dafür schaffen, und das tun wir in vielen Dingen.
Schon das ist in vielen Ländern, wie wir alle wissen,
eine Herkulesaufgabe, die nur mit gewaltiger Kraftanstrengung der Regierungen vor Ort zu lösen ist. Ein
transparentes Steuersystem, ein funktionierendes Geburtenregister, eine Verwaltung - so etwas stampft man in
den meisten Entwicklungsländern nicht mal so eben aus
dem Boden.
Auch sollten Sie ehrlich sein: All das, was Sie da fordern, wird zig Milliarden kosten und Jahrzehnte dauern.
Sie fordern hier mal eben 100 Millionen Euro pro Jahr,
um all das Wirklichkeit werden zu lassen. Heruntergerechnet ist das 1 Euro für jeden - Sie haben es gerade erwähnt, Frau Roth -, der aufgrund von medizinischen Behandlungskosten jedes Jahr neu in Armut fällt. Ich frage
Sie: Wem wollen Sie das denn allen Ernstes verkaufen?
Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme ist zentraler
Bestandteil unserer Politik, den wir auch konsequent
weiterverfolgen werden. Wir machen aber - im Gegensatz zu Ihnen - nicht den zweiten Schritt vor dem ersten,
({11})
und wir tun auch nicht so, als wäre diese Mammutaufgabe einfach mal so zu bewältigen.
({12})
Ihre Anträge lehnen wir daher ab.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Niema Movassat.
Bitte schön, Kollege Niema Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute das Thema der sozialen Sicherung in Entwicklungsländern. Um es klar zu sagen: Soziale Sicherung, soziale Gerechtigkeit wird es ohne eine gerechte
Verteilung des weltweiten Wohlstandes nicht geben.
({0})
10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen 85 Prozent
des weltweiten Vermögens. 50 Prozent der Menschheit
besitzen zusammengenommen gerade mal 1 Prozent des
Weltvermögens. Übertragen wir die Struktur der weltweiten Vermögensverteilung auf eine Gruppe von zehn
Menschen, die sich einen Kuchen teilen, dann müssen
wir uns einen Herrn vorstellen, der nahezu den gesamten
Kuchen alleine aufisst, während sich die übrigen neun
Menschen die Krümel teilen dürfen, und das ist asozial.
({1})
Etwa 1,4 Milliarden Menschen leben weltweit in Armut. Sie können sich keinen Arzt leisten, ihre Kinder
nicht zur Schule schicken und müssen oftmals hungern.
Statt wie die Bundesregierung auf die Wohltätigkeit von
Bill Gates zu setzen, würde ich lieber 75 Prozent Steuern
auf sein Vermögen erheben. Danach wäre er immer noch
stinkreich, aber viele Menschen könnten dauerhaft aus
der Armut befreit werden. Das wäre der bessere Weg,
besser, als sich auf das Wohlwollen eines einzelnen
Menschen zu verlassen.
({2})
Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat errechnet,
dass sich mit 60 Milliarden Dollar die Armut in der Welt
besiegen ließe. Die 100 reichsten Menschen haben im
letzten Jahr insgesamt etwa 240 Milliarden Dollar
verdient. Würden wir ihre Einkünfte nur mit 25 Prozent
besteuern, könnten wir zumindest aus rein finanzieller
Sicht die weltweite Armut jetzt beenden.
({3})
Wir brauchen also eine deutliche Umverteilung von
oben nach unten.
Dennoch: Soziale Sicherungssysteme wie Sozialhilfe,
Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sind
ein notwendiger und wichtiger Schritt zur Verbesserung
der Lebensumstände von Milliarden von Menschen.
Heute haben etwa 80 Prozent der Menschen auf der Erde
diesen Schutz nicht. Und in Europa und Deutschland
werden die sozialen Sicherungssysteme immer weiter
eingeschränkt. Rot-Grün hat seinerzeit mit der Agenda
2010 den Startschuss gegeben.
({4})
Heute sind alle - von der FDP über die Union, die
Grünen bis hin zur SPD - mitverantwortlich für die Zerstörung der Sozialsysteme im Süden Europas.
Auch in Deutschland nimmt die soziale Sicherheit
immer weiter ab. Seit 1997 ist die Mittelschicht um
5,5 Millionen Menschen geschrumpft. Immer mehr
Menschen leben hierzulande in Armut. Das macht die
Anträge von SPD und Grünen wenig authentisch.
({5})
Die Grünen stellen immerhin richtig fest, dass die
soziale Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen
Ländern der Erde zusehends größer wird. Eine weltweite
soziale Wende fordern die Grünen. Das klingt fast nach
unserem Parteiprogramm, und das unterstützen wir
selbstverständlich.
({6})
Und auch der Ansatz, den Aufbau sozialer Sicherungssysteme zum Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit zu machen, ist richtig. Genauso richtig ist es, die
Zusammenarbeit der Länder des Südens zu fördern, wie
es die Linke seit Jahren fordert und was sich im Antrag
der Grünen wiederfindet.
Doch bevor jetzt zu viel Harmonie aufkommt:
({7})
In der entscheidenden Frage, warum wir soziale Sicherungssysteme fördern wollen, unterscheiden wir uns
gravierend von den Antragstellern.
({8})
Denn der Linken geht es nicht darum, durch ein bisschen
soziale Sicherung Verteilungskonflikte abzumildern, wie
die Grünen schreiben. Wir sind der Ansicht, dass soziale
Kämpfe um eine gerechte Vermögensverteilung berechtigt sind.
({9})
Wer immer weiter von unten nach oben umverteilt, darf
sich nicht wundern, wenn die immer größer werdende
Masse von verarmten Menschen sich dagegen wehrt. In
der Menschheitsgeschichte mussten soziale Rechte stets
in harten Auseinandersetzungen erkämpft werden. Das
wird auch dann so bleiben, wenn sich die Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft verstärkt auf den Aufbau sozialer Sicherungssysteme konzentriert. Trotzdem wäre
eine solche Konzentration natürlich wünschenswert.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. - Nächster
Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Uwe Kekeritz. Bitte schön, Kollege Kekeritz.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt mache ich einen Fehler. Ich weiche nämlich von
meinem Manuskript ab und gehe einmal kurz auf die
Kollegin Weiss ein.
({0})
Was mich total irritiert hat, ist, dass Sie, Frau Weiss,
die Forderung aufstellen, dass erst einmal das Startsystem richtig funktionieren muss, bevor wir ein soziales
System etablieren können. Sie müssen doch einfach einmal an die europäische Geschichte und insbesondere an
die deutsche Geschichte zurückdenken. Das ist parallel
erfolgt. Ich kann Ihnen sagen: Eine wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, damals
Deutsches Reich, hätte es nie gegeben, wenn nicht um
1880 die Grundlagen für die sozialen Sicherungssysteme
gelegt worden wären.
({1})
Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Entwicklung
müssen parallel laufen, sonst funktioniert beides nicht.
({2})
Wir verfolgen seit Jahren die explosive Situation in
der MENA-Region, die viele Ursachen hat, aber immer
zentral mit den kollabierenden Sozialsystemen dieser
Länder zusammenhängt. Der Umsturz in Tunesien, in
Libyen, Mubaraks Sturz und die gefährliche Instabilität
vieler Länder stehen in einem direkten Zusammenhang
mit maroden oder nicht vorhandenen Sozialsystemen.
Fehlende soziale Sicherheit ist die Basis für Failed States
und der Baustein, der einigen wenigen unendlichen
Reichtum beschert und gleichzeitig die Massen in Armut
zurücklässt.
Soziale Sicherheit ist inzwischen weltweit für Familien und Individuen zur entscheidenden Größe geworden. Sie ist aber auch die volkswirtschaftliche Basis für
inklusive Entwicklung und eine zentrale Voraussetzung
für die Identifikation der Menschen mit ihrem Staat. Daran wird deutlich, wie weitsichtig die UN 1966 war, als
sie den Sozialpakt verabschiedet hat, und wie kurzsichtig heute Minister Niebel agiert.
({3})
Er schaffte - das ist schon angesprochen worden - die
2008 eingeführte selbstständige Zielgröße „Soziale Sicherung“ ab. In diesem Punkt unterscheiden wir uns im
Aufbau gedanklich sehr stark von den sozialen Sicherungssystemen. Niebel hätschelt lieber die privaten Versicherungskonzerne, die in den Entwicklungsländern
und Schwellenländern immer mehr das lukrative Feld
der sozialen Sicherheit abgrasen.
Und auch, weil der Aufbau sozialer Sicherungssysteme immer mehr zur Frage von Staatsstabilität wird,
können wir nicht mehr länger warten. Wir Grüne haben
deshalb einen konkreten Aktionsplan mit klaren Vorschlägen vorgelegt, die unmittelbar umsetzbar sind. Wir
wollen öffentliche, solidarische Sicherungssysteme. Wie
schaut dagegen ein zweigeteilter Versicherungsmarkt à
la FDP aus? Die privaten Versicherer greifen vom Mittelstand nach oben den sozialen Markt ab, und der Staat
soll sich um die Massen der Mittellosen kümmern. So
kann Sicherung selbstverständlich nicht funktionieren.
Soziale Sicherung ist entweder solidarisch oder sie ist
keine Sicherung.
({4})
Uns ist auch, werte Kollegin Daub, bilaterale Zusammenarbeit stets wichtig. Im Bereich der sozialen Sicherung wollen wir aber vor allem eine explizit europäische
und globale Perspektive. Alleine schaffen wir das selbstverständlich nicht. Die BMZ-Führung setzt aber in diesem Bereich nach wie vor auf einen vollkommen überflüssigen und falschen Bilateralismus.
({5})
Wir wollen gemeinsame Programme der EU-Mitgliedsländer bündeln, die durch die EU ergänzt werden. Nur so
kann Intransparenz vermieden und europäische Kohärenz hergestellt werden.
Zur globalen Ebene. Wir diskutieren derzeit intensiv
über die Nach-MDG-Zeit. Das Thema „Soziale Sicherung“ muss innerhalb der neuen Development Goals ein
starker Ast werden. Unser Ansatz beschreibt dabei gleichzeitig ein breites, neues Gesellschafts- und Entwicklungskonzept und enthält ganz konkrete Handlungsanweisungen, um Entwicklung voranzubringen.
Soziale Sicherungssysteme sind ein wichtiger Baustein, um die globale soziale Wende voranzutreiben.
Aber wir brauchen mehr: Die soziale Spaltung lässt sich
nur überwinden, indem wir zum Beispiel die internationale Unternehmensverantwortung ernst nehmen. Es geht
nicht an, dass internationale Konzerne von Hungerlöhnen und Sozialdumping in Entwicklungsländern profitieren. Wir müssen gegen Steuerhinterziehung und -vermeidung hier in Deutschland und in Europa vorgehen,
damit sich Despoten und Konzerne nicht weiter aus der
sozialen Verantwortung stehlen, während die Massen in
bitterer Armut bleiben. Nur so gehen wir die globalen
sozialen Probleme tatsächlich an.
Da Union und FDP keine eigenen Vorschläge, geschweige denn Visionen haben, ist mein Angebot an Sie:
Bedienen Sie sich doch in unserem Antrag und reduzieren Sie so die Zahl weiterer Fehlentscheidungen in der
Entwicklungspolitik. Das wäre zwar etwas völlig Neues,
aber man könnte es doch mal probieren.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner für die
Fraktion der CDU/CSU: unser Kollege Helmut
Heiderich. Bitte schön, Kollege Helmut Heiderich.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich begrüße auch die Gäste, die einzeln begrüßt werden
könnten.
Im Internet und vor den Bildschirmen schauen viel
mehr zu.
({0})
Danke für den Hinweis. - „SPD scheitert mit Initiative zur sozialen Grundsicherung in Entwicklungsländern“, hieß es Ende Oktober 2012 im Informationsdienst
des Deutschen Bundestages. Ähnlich hieß es im Dezember: „Grüne scheitern mit Initiative zum Aufbau sozialer
Grundsicherung in Entwicklungsländern“.
({0})
Der flüchtige Leser könnte meinen, diese Regierungskoalition sei ein Gegner sozialer Grundsicherung in den
Entwicklungsländern.
({1})
Aber vielleicht ist das ja auch genau das, was SPD und
Grüne mit ihren Anträgen bewirken wollten.
({2})
Denn Ihre Initiative, verehrte Frau Kollegin Roth, ist ja
nun weder neu noch besonders konkret. So will ich
gerne das Angebot von Herrn Kekeritz annehmen und
mich etwas näher mit Ihren Anträgen beschäftigen.
({3})
Ein Beispiel aus dem SPD-Antrag - ich zitiere -: Es
… muss insbesondere der Auf- und Ausbau diskriminierungsfreier, effizienter, ganzheitlicher und solidarischer, also durch Steuern wie auch Beiträge finanzierter, Gesundheitssysteme vorangetrieben
werden.
Etwas verständlicher gefasst, heißt es an anderer Stelle,
die Bundesregierung werde aufgefordert,
… den Aufbau von Good-Governance-Strukturen
in den Partnerländern zu fördern und diese bei der
Bekämpfung der Korruption zu unterstützen;
({4})
bzw.
… die Partnerländer beim Aufbau transparenter, effizienter und nachhaltiger Verwaltungs- und Steuersysteme … zu unterstützen;
oder sich
… auf europäischer Ebene
- das spielte eben schon eine Rolle für eine bessere Kohärenz und Koordinierung der
Entwicklungszusammenarbeit … einzusetzen …
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, was ist daran eigentlich neu? Daran arbeitet
die Regierung doch seit Jahren.
({6})
Ich hoffe, dass wir mit Ihrer Unterstützung genau das erreichen, was ich eben vorgetragen habe.
Lassen Sie mich nun auch ein wenig aus dem Antrag
der Grünen zitieren. Demnach soll
… neben der Förderung von bedarfsgeprüften und
konditionierten Sozialtransfersystemen in Entwicklungs- und Schwellenländern auch die Förderung
von Modellprojekten zu bedingungslosen und universellen Sozialtransfers …
geprüft werden. Ich hoffe, so weit ist alles klar. Dabei sei
… primär die Überwindung der Fragmentierung der
Sicherungssysteme, die Ausweitung des Leistungskataloges und die Erhöhung des Deckungsgrades
mit dem Ziel universeller Absicherung zu unterstützen …
({7})
Ich nehme an, alle Gäste wissen jetzt genau, worum es
geht.
({8})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch
wenn das alles sehr bedeutend klingt, gilt doch: Wir in
der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP, vertreten durch die Bundesregierung und das BMZ, haben
seit langem Maßnahmen zur sozialen Sicherung in Entwicklungsländern im Blickfeld, nicht nur als Spezialziel,
sondern als übergreifendes Ziel unserer gesamten Arbeit.
({9})
Unser Handeln in vielen Partnerländern sorgt bereits in
breitem Umfang dafür, dass diese Unterstützung Frauen
und Benachteiligten, armen und armutsgefährdeten Sozialgruppen besonders zugutekommt.
Diese Initiativen zum Aufbau von sozialen Sicherungssystemen müssen aber - darin unterscheiden wir
uns, glaube ich - immer von dem jeweiligen Partnerland
getragen oder mitgetragen werden. Wir haben nicht das
Ziel, europäische Modelle der sozialen Sicherung auf
Entwicklungsländer zu übertragen oder dorthin zu exportieren.
({10})
Wir wollen auch nicht - das ist auch ein wesentlicher
Grund für die Ablehnung Ihrer Anträge - einfach nur
Finanzmittel in Form von Budgethilfe an dortige Regierungen geben. Vielmehr wollen wir Partner der Entwicklung sein und bleiben. Dabei kommt es uns ganz besonders darauf an, dass die Empfängerregierungen die
Menschenrechte beachten, dass sie eine transparente Regierungsführung zeigen und dass ihre Leistungen insbesondere den Ärmsten zugutekommen. Das ist unser Ansatz für Sozialpolitik in der Entwicklungspolitik.
({11})
Zur Verdeutlichung möchte ich jetzt aus dem Programm der Bundesregierung zitieren. Darin heißt es
wörtlich:
Armut verhindern, Existenzminimum sichern: Soziale Sicherung bewirkt Entwicklung.
Das steht nicht erst seit heute, sondern seit Jahren im
Sektorkonzept des BMZ. Sie sehen, wir sind längst ein
Stück weiter als das, was Sie mit Ihren Anträgen bewerkstelligen wollen. Wir gehen längst konkreter und
gezielter vor, als wie es von Ihnen gefordert wird.
Deswegen - mein letzter Satz - muss die Quintessenz
der heutigen Debatte richtigerweise lauten: Diese Koalition fördert den Aufbau sozialer Grundsicherung bereits
in vielen Entwicklungsländern. Das werden wir gemeinsam gezielt, transparent und erfolgreich fortsetzen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Soziale Sicherung als Motor solidarischer und
nachhaltiger Entwicklungspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11429, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7358 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag zur weltweiten
sozialen Wende“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11960, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11665 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts
- Drucksache 17/11127 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/12101 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/12188 vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Alle sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12101, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11127 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12188. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe? Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Reisen für alle - Für einen sozialen Tourismus
- Drucksache 17/11588 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({1})Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) Alle sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11588 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Alle sind damit einverstanden? - Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in
Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege
- Drucksache 17/12057 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({3})
- Drucksache 17/12217 -
1) Anlage 8 2) Anlage 9
Vizepräsident Eduard Oswald
Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg ({4})Caren MarksMiriam GrußJörn WunderlichKatja Dörner
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/12218 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas MattfeldtRolf Schwanitz Dr. Florian ToncarRoland ClausPriska Hinz ({6})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Alle sind damit einverstanden, sodass wir gleich zur Abstimmung kommen können.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12217, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/12057
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ein Handzeichen. - Das sind die
Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
({7})
Enthaltungen? - Jetzt ist die Fraktion Die Linke auch dabei: Sie hat sich enthalten. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? - Es erhebt sich niemand. Enthaltungen? - Die Linksfraktion
erhebt sich. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Markus Kurth, Volker Beck ({8}), Wolfgang
Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention im Wahlrecht
- Drucksache 17/12068 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({9})Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Niemand
widerspricht. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“ So klar und deutlich steht es in Art. 38 des
Grundgesetzes. Das aktive und passive Wahlrecht steht
also grundsätzlich jeder Bürgerin und jedem Bürger zu.
({0})
Jedoch: Die Bundeswahlordnung und die Europawahlordnung setzen diese Bestimmung des Grundgesetzes nicht um. Sie schließen bestimmte Personengruppen
im Zusammenhang mit ihrer Behinderung vom Wahlrecht aus. Dies sind vor allem Menschen, für die eine
Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet wurde.
Ich möchte etwas konkreter erklären, was das bedeutet. Im Prozess der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfes
wurde mir berichtet, dass sich vor jeder Wahl Eltern behinderter Kinder wundern, warum ihr Kind - obwohl
mittlerweile volljährig - keine Wahlbenachrichtigung erhalten hat. Wenn sie dann erfahren, dass ihr Kind nicht
wählen darf, da eine Betreuung in allen Angelegenheiten
angeordnet ist, sind sie meist erstaunt und verärgert. Das
finde ich verständlich. Im gesamten Verfahren zur Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten wird
nämlich die Frage der Wahlfähigkeit weder geprüft noch
erwähnt. An dieser Stelle wundert man sich über die
Antwort des Bundesinnenministers Friedrich auf einen
Brief, den die Kollegin Ulla Schmidt geschrieben hat.
Dort heißt es - ich zitiere aus dem Schreiben -:
Deshalb ist ein Ausschluss vom Wahlrecht immer
dann geboten, wenn eine Person aufgrund ihres gegenwärtigen individuellen körperlichen oder geistigen Zustandes unzweifelhaft keinerlei Einsichtsfähigkeit oder Verständnis dafür hat, worum es bei
einer Wahl geht.
Das offenbart zweierlei. Zum einen haben Sie nicht verstanden, dass das prüfungsabhängig ist. Die Prüfung findet aber gar nicht statt.
({1})
- Reden Sie nicht dazwischen! Hören Sie zu!
Zum Zweiten zeigt es, dass Sie offensichtlich davon
ausgehen, dass jemand, für den eine Betreuung in allen
Angelegenheiten bestellt ist, keinerlei Einsichtsfähig-
keit oder Politikverständnis hat. Das finde ich allerdings
ziemlich übel. Setzen Sie sich doch einmal mit solchen
Personen auseinander! Die können das nämlich bewer-
ten.1) Anlage 10
({2})
Das ist eine Frage der Kommunikation und der Zeit, die
man für die politische Meinungsbildung von Personen
mit sogenannter geistiger Behinderung aufbringen muss.
Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert eine inklusive, partizipative und nichtdiskriminierende Ausgestaltung des Rechts auf politische Teilhabe. Der pauschale Wahlrechtsausschluss, den ich eben beschrieben
habe, steht dazu in klarem Widerspruch.
({3})
Bereits im Sommer letzten Jahres habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Ingrid Hönlinger in einem offenen Brief an alle parlamentarischen Geschäftsführer
dazu aufgefordert, den Wahlrechtsausschluss im Zusammenhang mit einer Behinderung im interfraktionellen
Dialog abzuschaffen. Wir haben bereits damals auf die
widersinnigen Ergebnisse hingewiesen, die nach geltendem Recht möglich sind. So kann es nämlich sein, dass
Menschen, die zur Entscheidung für eine politische Partei durchaus in der Lage sind, von der Wahl ausgeschlossen werden. Gleichzeitig bleibt für Personen etwa im
fortgeschrittenen Stadium einer Demenz, wenn diese zuvor eine Vorsorgevollmacht erteilt haben und kein Betreuer bestellt ist, das Wahlrecht erhalten. In diesem Vergleich wird der diskriminierende Aspekt des pauschalen
Wahlrechtsausschlusses überdeutlich.
({4})
Leider ist im parlamentarischen Prozess, auch bei der
Erarbeitung des neuen Wahlrechts, nach unserem Brief
nicht viel passiert. Wir möchten nun mit unserem Gesetzentwurf die Debatte weiter vorantreiben. Wir verstehen unseren Entwurf explizit als Vorschlag, an dem wir
gerne gemeinsam mit Ihnen, den anderen Fraktionen, arbeiten wollen.
Ich weiß, dass es in allen Fraktionen Kolleginnen und
Kollegen gibt, die den Wahlrechtsausschluss im Zusammenhang mit einer Behinderung für nicht gerechtfertigt
halten. Darum freue ich mich auf die parlamentarische
Auseinandersetzung, in der wir hoffentlich noch bestehende Vorbehalte ausräumen und das Wahlrecht den
Standards anpassen können, wie sie das internationale
Recht der Behindertenrechtskonvention, die die Bundesrepublik ja ratifiziert hat, fordert.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Reinhard Grindel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben im Kreis der Berichterstatter zum Wahlrecht zwischen allen Fraktionen verabredet, das sehr sensible
Thema des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen
nicht mehr in dieser Legislaturperiode anzupacken, weil
wir zunächst Studien im Rahmen des Nationalen Aktionsplans abwarten wollten, gerade auch unter Berücksichtigung des Betreuungsrechts. Wir wollen die Ergebnisse auch im internationalen Rahmen betrachten. 2014
wird diese Studie vorliegen.
Es ist sehr bezeichnend, Herr Kurth, dass der Berichterstatter der grünen Bundestagsfraktion für das Wahlrecht, nämlich der Kollege Wieland, heute nicht einmal
anwesend ist. Das ist sehr bezeichnend; denn ich glaube,
dass er Ihren Vorstoß genauso klar beurteilt wie unsere
Fraktion.
({0})
Entgegen unserer Verabredung haben die Grünen im
Alleingang einen Gesetzentwurf zur Änderung des
Wahlrechts eingebracht. Ich finde es wichtig - das war
bisher immer Konsens -, dass wir in Wahlrechtsangelegenheiten versuchen, eine gemeinsame Linie aller Fraktionen zu finden.
({1})
Was mich allerdings noch wesentlich mehr stört, ist
die Art und Weise, wie Sie heute Abend hier vorgetragen
haben. Bei der Diskussion über die Stellung von Menschen mit Behinderungen im Wahlrecht tun Sie von den
Grünen so, als ob die Menschen kein ausreichendes
Wahlrecht hätten, weil sie behindert sind.
({2})
Das ist falsch. Es ist sehr naheliegend, dass Sie mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf aus rein wahlkampftaktischen Gründen vorpreschen, um bei sozialen Organisationen, bei Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen zu punkten. Das ist stillos, unkollegial und
angesichts der Ernsthaftigkeit des Themas im Grunde
unerträglich, Herr Kollege.
({3})
- Betroffene Hunde bellen umso lauter.
({4})
Der Kollege Wieland war bei unseren Besprechungen
dabei; die anderen Kollegen werden das bestätigen. Wir
haben gesagt, dass es gerade im Lichte des Bundestagswahlkampfes wenig Sinn macht, dieses sensible Thema
in der Weise zu behandeln, wie Sie das gemacht haben.
Sie werden dem Anliegen nicht gerecht. Ich wiederhole:
Sie brechen die Verabredung, die wir im Kreise der Berichterstatter getroffen haben; um das ganz klar festzuhalten.
({5})
Die Wahrheit ist: Menschen mit Behinderungen haben natürlich das aktive und passive Wahlrecht, wie jeder andere Bundesbürger auch.
({6})
Der Gesetzgeber diskriminiert sie nicht. Es geht im Bundeswahlgesetz nicht darum, Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht auszuschließen, sondern darum,
klare Rahmenbedingungen zu schaffen und festzulegen,
wer gar nicht wählen kann. Eigentlich müssten wir uns
doch wohl auf einen Grundsatz verständigen können:
Die selbstbestimmte Wahrnehmung des Wahlrechts setzt
voraus, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorgan in hinreichendem Maße besteht. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb gerade in ständiger Rechtsprechung
betont, dass es das nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz unantastbare demokratische Prinzip im Kern verletzen
würde, wenn das Wahlrecht Personen zustünde, die an
diesem Kommunikationsprozess nicht teilnehmen können.
({7})
- Frau Schmidt, wir haben uns ja gerade in einem anderen Kreis unterhalten. Das Wahlrecht ist kein Mittel der
Inklusion.
({8})
Ich finde Ihre Arbeit bei der Lebenshilfe und alle Maßnahmen zum Thema Inklusion sehr wichtig. Aber die
Frage, ob das Wahlrecht an dieser Stelle ein geeignetes
Instrument ist, müssten wir im Lichte der von mir angesprochenen wissenschaftlichen Studie intensiv diskutieren.
({9})
Der Gesetzentwurf der Grünen eignet sich nicht als
Grundlage, auf der wir hier über dieses Thema diskutieren könnten.
({10})
Ein Ausschluss vom Wahlrecht ist nicht nur zulässig,
sondern nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer dann geradezu geboten, wenn eine
Person aufgrund ihres gegenwärtigen individuellen körperlichen oder geistigen Zustands unzweifelhaft keinerlei Einsichtsfähigkeit oder Verständnis dafür hat, worum
es bei einer Wahl geht. Das ist der Maßstab.
({11})
Insofern ist das, was der Bundesinnenminister Ihnen,
Frau Schmidt, geschrieben hat, gar nicht seine persönliche Meinung, sondern gefestigte Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, an der doch gerade der Verfassungsminister nicht vorbei kann. Deshalb besagt § 13
Abs. 2 des Bundeswahlgesetzes, dass Menschen, für die
auf Dauer ein Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt
ist, und solche, die sich infolge einer richterlichen Anordnung in einer psychiatrischen Klinik aufhalten müssen, weil sie eine Straftat begangen haben und von ihnen
aufgrund ihrer Krankheit weitere rechtswidrige Taten zu
erwarten sind, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.
({12})
Dies betrifft übrigens nur eine überschaubare Zahl von
Betroffenen.
Die Grünen wissen natürlich auch, dass das Prinzip
der Demokratie im Kern verletzt wäre, wenn wir hier zu
einer anderen wesentlichen Entscheidung kämen. Ihre
Motive sind in meinen Augen durchschaubar und wenig
ehrenhaft;
({13})
denn die Wahrheit ist, dass die große Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen - das muss man den Betroffenen und ihren Angehörigen sagen - natürlich das Wahlrecht hat. Das Betreuungsrecht ist gerade darauf
ausgerichtet, die Selbstbestimmung Betroffener so weit
wie möglich zu erhalten. Demzufolge wird den Menschen mit teilweiser Betreuung das Wahlrecht gewährt.
Jemand, dem anderweitig ein Betreuer zugeordnet ist,
weil er aus psychischen oder körperlichen Gründen seine
Angelegenheiten nicht allein besorgen kann, ist davon
nicht betroffen. Selbst wenn sich die Betreuung auf alle
Lebensbereiche erstreckt, aber nicht auf Dauer besteht,
sondern auf einer einstweiligen Anordnung beruht, gibt
es keinen Ausschluss von der Wahl. Das heißt, selbst
Komapatienten, bei denen keine Anordnung einer Betreuung auf Dauer vorliegt, zum Beispiel aufgrund von
Heilungschancen, sind nach unserem Recht wahlberechtigt. Zudem behalten Menschen, für die nur für bestimmte Aufgabenkreise ein Betreuer bestellt worden ist,
ihr uneingeschränktes Wahlrecht. Schließlich kann nicht
ausgeschlossen werden, dass sie dieses auch selbstbestimmt wahrnehmen können. Das haben Sie, Herr Kurth,
zu Recht erwähnt.
Somit nimmt das geltende Recht sogar in Kauf, dass
Menschen, die im Grunde zu einer Wahlentscheidung
nicht mehr in der Lage sind, dennoch wahlberechtigt
bleiben. Es gilt der Grundsatz: Lieber jemanden, der
nicht wählen kann, als Wahlberechtigten zulassen, als jemandem, der trotz Beeinträchtigung durchaus noch eine
Wahlentscheidung treffen kann, diese zu verwehren. Die
Regelungen sind entgegen dem Eindruck, den Sie hier
gerade vermittelt haben, sehr großzügig zugunsten der
Selbstbestimmung der Bürger. Eine weitere Einschränkung wird es auch mit der Union nicht geben.
({14})
Das Betreuungsrecht ist darauf ausgerichtet, dass die
Selbstbestimmung der Betroffenen so weit wie möglich
erhalten bleibt. Es geht nicht um Entmündigung, sondern
- im Gegenteil - um Hilfe zur Wahrnehmung der Mündigkeit.
Die geltende Regelung des Bundeswahlgesetzes hält
den Kreis der Betroffenen ohne Wahlrecht bewusst sehr
klein und erhält das Wahlrecht von Menschen mit psychischer Krankheit oder körperlicher oder geistiger Behinderung so lange wie nur möglich. Ein Wahlrechtsausschluss erfolgt bewusst nicht aufgrund generalisierender
Anhaltspunkte; stattdessen gibt es ein rechtsstaatliches
Verfahren mit einer gültigen richterlichen Entscheidung,
die auf den individuellen Fall des Betroffenen fußt. Diskriminierung sähe ganz anders aus, Herr Kurth.
Weil Sie die Bundeswahlordnung angesprochen
haben, will ich darauf hinweisen, dass dort viele Möglichkeiten verankert sind, wie Menschen mit Beeinträchtigungen ihr Wahlrecht tatsächlich wahrnehmen können.
Man kann eine Hilfsperson benennen, um bei dem praktischen Vorgang der Wahl - Lesen und Kennzeichnen
des Wahlzettels und Einwurf in die Urne - zu assistieren.
Sehbehinderte Wähler können eine Schablone benutzen,
um das Kreuz zu machen. Ebenso gelten solche Hilfsbestimmungen für die Briefwahl. Wahllokale sollen möglichst barrierefrei sein. Die Wahlberechtigten werden im
Voraus darüber informiert, wo es keine Mobilitätseinschränkungen gibt. Das Bundesinnenministerium hat zugesichert, auf diese Regelungen der Bundeswahlordnung
einen aufmerksamen Blick zu haben und zu schauen, ob
sich noch weitere Verbesserungen hinzufügen lassen
können.
Deswegen sage ich Ihnen vor dem Hintergrund Ihres
Vortrages hier: Hören Sie endlich auf, der Bundesregierung gegenüber Menschen mit Behinderungen eine
feindselige Einstellung zu unterstellen! Das ist abwegig.
Die Menschen im Land wissen, dass es nicht so ist, und
sehen, dass die Bundesregierung alles tut, Menschen mit
Behinderungen vor Diskriminierung zu schützen und ihnen eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen. Herr Kurth,
Sie sollten die Bürger hier nicht für dumm verkaufen.
({15})
Ebenso ist es falsch, zu unterstellen - das haben Sie
getan -, dass unsere christlich-liberale Koalition sich
weigert, die UN-Behindertenrechtskonvention voll umzusetzen. In Art. 29 der UN-Konvention wird Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen am politischen Leben
verlangt. Die Vertragsstaaten sind dabei sehr wohl berechtigt, objektive und angemessene Wahlausschlussgründe durch Gesetz festzulegen. Das bezieht sich auch
auf Gründe bei geistiger oder psychischer Behinderung,
die eine politische Willensbildung und -äußerung
unmöglich machen. Dies war auch bei der Verabschiedung der Konvention unter den Vertragsstaaten allgemeiner Konsens und ist bis heute völkerrechtlich anerkannt.
Aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts geht
hervor, dass das Wahlrecht nicht nur den reinen Wahlakt
in der Wahlkabine umfasst, sondern eben auch eine aktive Teilnahme am politischen Kommunikationsprozess
voraussetzt. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention
spricht im maßgeblichen Art. 29 von der freien Willensäußerung der Menschen mit Behinderungen.
Wo die Willensbildung und -äußerung allein durch
die Krankheit oder die Behinderung unmöglich gemacht
werden, kann das staatliche Recht diese nicht einfach
voraussetzen. Politische Willensbildung ist eine Grundvoraussetzung für eine demokratische Wahl. Daran kommen wir auch als Deutscher Bundestag nicht vorbei.
Insofern sage ich Ihnen zum Schluss: Ich bin zutiefst
der Auffassung, dass unsere jetzige Regelung in der
Bundeswahlordnung und im Bundeswahlgesetz im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention steht.
Sie schließt niemanden aufgrund von Behinderungen
von der Wahl aus.
({16})
Vielmehr geht es um die Frage der durch das Demokratieprinzip geforderten Teilhabe am Kommunikationsprozess. Das ist das Entscheidende.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist weder sinnvoll noch hilfreich, wenn es um die
Belange von Menschen mit Behinderungen in unserem
Land geht. Er ist im Kern demokratiewidrig. Daher werden wir ihn ablehnen.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Markus Kurth.
Herr Grindel, Sie haben mir unkollegiales Verhalten
und den Bruch von Absprachen vorgeworfen. Ich finde
es im Gegenteil eher unkollegial, dass Sie mir jetzt vorwerfen, interne Absprachen, die Sie angeblich mit dem
Kollegen Wieland getroffen haben, gebrochen zu haben,
indem dieser Gesetzentwurf eingebracht wird. Ich habe
mit Ihnen keine einzige Absprache getroffen.
({0})
Der Kollege Wolfgang Wieland steht auf diesem Gesetzentwurf bei der Liste der ihn einbringenden Personen an
dritter Stelle.
Es war vielmehr so, dass im Zuge der Neuordnung
des Wahlrechts - hier ging es um Regelungen für Überhangmandate und Ausgleichsmandate - gesagt wurde,
dass dies nicht mit der Frage des uneingeschränkten
Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen und für
solche, die unter Betreuung in allen Angelegenheiten
stehen, vermengt werden sollte.
({1})
Aber das heißt doch nicht im Gegenzug, dass man vollständig auf die Behandlung dieses Themas und der Frage
der Nichtdiskriminierung beim Wahlrecht verzichtet. Ich
habe gerade ganz in Ruhe in meinem Wortbeitrag erklärt, dass die Kollegin Hönlinger und ich bereits vor gut
einem Jahr an alle Parlamentarischen Geschäftsführer
geschrieben haben. Daher finde ich es unkollegial, dass
Sie mir den Bruch von Absprachen unterstellen.
Zweitens finde ich es auch nicht in Ordnung, dass Sie
in Ihrer Argumentation behaupten, ich würde unlautere
Absichten verfolgen und mein Süppchen sozusagen auf
Kosten der Menschen mit Behinderungen kochen. - Da
nicken Sie auch noch. - Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass dieser Gesetzentwurf sorgfältig ausgearbeitet wurde. Er enthält eine mehrseitige Begründung,
über die wir uns wirklich Gedanken gemacht haben. Ich
finde Ihren Vorwurf daher unkollegial und nicht in Ordnung; so etwas muss man nach 21 Uhr nicht mehr machen. Wir haben ja sonst nicht so viele Berührungspunkte. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mich beim
Thema Behindertenpolitik in den letzten zehn Jahren engagiert habe, würden Sie einsehen: Es ist einfach nicht in
Ordnung, mir so etwas zu unterstellen.
({2})
Der letzte Punkt. Sie verweisen immer auf die Studie.
In dieser Studie - das hat Ole Schröder in Beantwortung
einer Frage von mir gesagt - wollen Sie die aktive und
passive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen
an Wahlen untersuchen. Ja, aber wie wollen Sie das denn
machen, wenn für eine bestimmte Gruppe von vornherein ein Wahlrechtsausschluss besteht? Das ist aus meiner Sicht widersinnig. Das ist weiße Salbe bzw. ein Placebo, das dazu dienen soll, das Ganze hinauszuzögern,
um nichts unternehmen zu müssen.
({3})
Kollege Grindel.
Herr Kollege Kurth, Sie haben gesagt, dass wir in der
Vergangenheit wenige Berührungspunkte hatten. Das ist
richtig; denn ich bin Innenpolitiker, und Sie sind Sozialpolitiker. Ich muss Ihnen leider sagen: Das Wahlrecht
ressortiert bei den Innenpolitikern. Wir Innenpolitiker
haben uns nicht nur über die Frage der Überhang- und
Ausgleichsmandate unterhalten, sondern wir haben uns
auch über das Wahlrecht für Auslandsdeutsche unterhalten. Außerdem hatten wir das Europawahlrecht und das
Wahlstatistikgesetz auf der Tagesordnung. Im Rahmen
vielfältiger Berichterstattergespräche, bei denen in der
Tat nicht Sozialpolitiker, die nicht zuständig sind, sondern Innenpolitiker, die zuständig sind, vertreten waren,
({0})
haben wir mit Herrn Wieland und anderen Mitgliedern
der grünen Fraktion auch über dieses Thema gesprochen.
Vorhin haben Sie in Ihrem Vortrag gesagt, das Problem bei der Anordnung sei insbesondere, dass eine
mögliche teilweise Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug
auf das Wahlrecht gar nicht überprüft werde. Aber das ist
ja gerade Gegenstand der Studie. Im Rahmen der Studie
soll geprüft werden, ob bei der Anordnung einer vollständigen Betreuung der Aspekt, ob eine - ich nenne es
einmal so - Teilkommunikationsfähigkeit im Hinblick
auf das Wahlrecht möglich ist, nicht doch mit einbezogen werden kann bzw. ob man sich das vorstellen kann.
({1})
Gerade das ist ja der Sinn der Studie. Es soll genau das
überprüft werden, was Sie hier eingefordert haben.
Ich bleibe dabei: In dieser Studie soll überprüft werden, liebe Frau Schmidt, ob die von Ihnen erwähnten
11 000 Personen nicht möglicherweise doch ein Wahlrecht bekommen. Allerdings liegt diese Studie, weil ihre
Ergebnisse genau und gründlich ausgewertet werden,
erst 2014 vor.
({2})
Wie gesagt - ich wiederhole das -, der hier nicht anwesende Kollege Wieland, der zuständig ist, hat sich mit
dem vereinbarten Vorgehen einverstanden erklärt. Wenn
Sie hier vorsprechen, dann mag das Ausdruck eines besonderen behindertenrechtlichen Engagements sein.
Aber ich bleibe dabei: Ich glaube, dass der Hintergrund
dieses Engagements eher der Versuch ist, sich bei dieser
Community einen weißen Fuß zu machen, um vor der
Bundestagswahl auch bei den entsprechenden Podiumsdiskussionen sprachfähig zu sein.
({3})
Das ist unredlich und nicht in Ordnung. Ich bleibe dabei,
dass ich das kritisiere.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Alleingänge beim Wahlrecht haben selten Erfolg. Das
haben Sie von der Regierungskoalition bei Ihrer Neufassung des Bundeswahlgesetzes im letzten Jahr erlebt.
Auch Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kolle27214
gen von den Grünen, ist in der jetzt vorliegenden Fassung nicht mehrheitsfähig.
Das Wahlrecht ist die Legitimation jedes einzelnen
Abgeordneten hier im Haus. Es ist Grundlage der Demokratie und ein Grundrecht aller Bürgerinnen und Bürger.
Deshalb ist es sinnvoll und zielführend, Wahlrechtsänderungen unter Beteiligung aller Fraktionen zu verhandeln
und mit breiter Mehrheit zu beschließen.
({0})
Das Ganze ist uns sowohl bei der Neuregelung der
Sitzzuteilung als auch bei der Neuregelung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche gelungen. Ein Ausschluss
vom Wahlrecht - also die Aberkennung eines Grundrechts - bedarf einer besonders fundierten Begründung.
Der § 13 des Bundeswahlgesetzes genügt diesem Anspruch nicht. In § 13 Bundeswahlgesetz ist geregelt, dass
Menschen mit Behinderungen, für die eine Betreuung
zur Besorgung aller Angelegenheiten bestellt wird oder
die aufgrund einer Anordnung nach dem Strafgesetzbuch in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, vom Wahlrecht bei Bundes- und Europawahlen ausgeschlossen sind. Dies bedarf dringend einer
politischen Neubewertung.
Nach den geltenden Menschenrechtsstandards sind
diese Ausschlusstatbestände nicht zu rechtfertigen, sie
widersprechen der UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen.
Nach geltendem Recht werden Menschen in vergleichbarer Situation oder mit ähnlich schwerer Behinderung unterschiedlich behandelt: Derjenige, für den
eine Betreuung zur Besorgung aller Angelegenheiten bestellt wird, verliert automatisch das Wahlrecht - wer dagegen selbst per Vorsorgevollmacht entscheidet, wer
seine Angelegenheiten in Zukunft regeln soll, behält das
Wahlrecht. Ähnliches gilt für Menschen, die in einer
Psychiatrie untergebracht sind: Straftäter, die während
der Begehung der Tat schuldunfähig waren, bekommen
das Wahlrecht entzogen - Menschen mit einem ähnlichen Krankheitsbild, die ebenfalls in einer Psychiatrie
untergebracht sind, aber keine Straftat begangen haben,
verlieren ihr Wahlrecht nicht.
Unserer Ansicht nach besteht dringender Handlungsbedarf. Leider ist die Regierung Merkel untätig. Im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Bundesregierung erklärt, sie
wolle eine Studie zur tatsächlichen Situation behinderter
Menschen bei der Ausübung des aktiven und passiven
Wahlrechts in Auftrag geben. Als Laufzeit war dafür das
Jahr 2012 vorgesehen.
Auf eine schriftliche Frage von mir zu dieser Studie
erhielt ich die Antwort: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erarbeitet zurzeit in Zusammenarbeit
mit dem Bundesministerium des Innern eine Leistungsbeschreibung für die Ausschreibung der Studie. Erste
Ergebnisse werden wahrscheinlich 2014 vorliegen. Diese Antwort zeigt, dass die Regierung Merkel es nicht
wirklich ernst nimmt, ein diskriminierungsfreies, inklusives Wahlrecht zu schaffen.
({1})
Deshalb werden wir als SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit
dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die im
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossene Studie zur aktiven
und passiven Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Wahlen unverzüglich zum Abschluss zu bringen und die von ihr angekündigten Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Partizipation vorzulegen.
Wir schließen uns damit einer Initiative des Bundeslandes Rheinland-Pfalz an, das einen entsprechenden
Antrag in den Bundesrat eingebracht hat.
Eine Gruppe von Menschen haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht berücksichtigt, nämlich Menschen mit
Lese-Rechtschreib-Schwäche. In Deutschland leben
etwa 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter,
die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind.
Davon können 2 Millionen nur einzelne Wörter lesen
und schreiben - eine erschreckend hohe Zahl. Diese
Menschen haben zwar das Wahlrecht, können es aber
ohne fremde Hilfe nicht eigenständig ausüben. Ihnen das
Wählen zu erleichtern, gehört auch zu einem inklusiven
Wahlrecht und zur Umsetzung der UN-Konvention.
({2})
Das Thema Analphabetismus ist in unserer Gesellschaft immer noch mit Angst und Scham besetzt. Die
Betroffenen haben sich deshalb Strategien zur Tarnung
angeeignet. Diese Strategien führen dazu, dass die Betroffenen aus Angst, „entdeckt“ zu werden, ein Leben
am Rande der Gesellschaft, ein Leben mit geringer Teilhabe führen.
Es müssen Angebote geschaffen werden, um den Zugang zu Wahlen und Wahlinformationen auch für diesen
Personenkreis zu vereinfachen. Untersuchungen des
Deutschen Volkshochschul-Verbandes zeigen, dass viele
Analphabetinnen und Analphabeten auf dem Stimmzettel zum ersten Mal mit dem komplett ausgeschriebenen
Namen der Parteien konfrontiert werden. Ohne weitere
Visualisierung ist es für viele schwierig, den Wahlzettel
in kurzer Zeit zu verstehen. Deshalb wollen wir, dass
Wahlinformationen in Zukunft in einfacher Sprache gehalten werden. Zudem sollen die Wahlzettel durch ein
Foto der Kandidatin oder des Kandidaten und durch Parteisymbole ergänzt werden. Nur so können wir es
Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche
ermöglichen, gleichberechtigt an Bundestags- und Europawahlen teilzunehmen.
Wir wollen im Wahlrecht die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung verwirklichen, aber
wir wollen auch ein geordnetes Verfahren mit Berichterstattergesprächen, Sachverständigenanhörung und
schließlich einen mehrheitsfähigen Gesetzentwurf. Meine
Fraktion und ich sind jederzeit zu Gesprächen bereit.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst zur Sache sprechen.
Die heute vor uns liegende Materie ist in der Tat nicht
ganz einfach. Es gibt Fachstimmen, die sagen, wir sollten die ganze Materie im Betreuungsrecht regeln. Das
überzeugt, offen gesagt, in weiten Teilen auch mich.
Bei den Menschen, die in allen Angelegenheiten unter
Betreuung stehen, ist es allerdings meiner Meinung nach
eine Idee, zu sagen: Wir fordern in der richterlichen Entscheidung darüber, ob wir in allen Angelegenheiten die
Betreuung zulassen, eine explizite Feststellung, dass diesen Menschen auch das Wahlrecht aberkannt wird; denn
nur weil jemand beim Umgang mit seinem eigenen Geld
oder bei anderen Angelegenheiten nicht in der Lage ist,
adäquat zu handeln, ist es nicht selbstverständlich, dass
man ihm auch das Wahlrecht abspricht. Deswegen
glaube ich, es ist sehr sinnvoll und richtig, darüber nachzudenken, wie man das regelt. Meine Präferenz geht dahin, das im Betreuungsrecht zu tun.
({0})
Gegen eine Regelung im Betreuungsrecht spricht
aber, dass es viele Menschen gibt, die nicht in allen Angelegenheiten unter Betreuung stehen, etwa weil ihre Eltern sich um sie kümmern, die aber gegebenenfalls in der
gleichen Situation sind wie Menschen, die in allen Angelegenheiten unter Betreuung stehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Schmidt?
Gerne.
Herr Kollege, habe ich Sie gerade richtig verstanden,
dass Sie in unsere Rechtsordnung einen neuen Tatbestand einfügen wollen, nämlich eine Wahlfähigkeitsprüfung? Bisher haben wir so etwas nicht. Wir haben in
Deutschland ein allgemeines Wahlrecht für alle. Wir haben auch keine Wahlpflicht, von der jemand, der an einer
Wahl nicht mehr teilnehmen kann, durch ein Gericht entbunden werden könnte. Das könnte nur in Ländern erfolgen, in denen es eine Wahlpflicht gibt. Nun wollen Sie
im Betreuungsrecht eine Wahlfähigkeitsprüfung einführen, mit der darüber entschieden wird, ob jemand noch in
der Lage ist, verantwortlich zu wählen, oder nicht. Habe
ich das richtig verstanden, dass die FDP darüber nachdenkt?
Nein. Ich habe den auch von Ihren Landesregierungen
unterstützten Vorschlag übernommen, zu sagen: Es
reicht nicht, zu entscheiden, dass jemand in allen Angelegenheiten unter Betreuung gestellt wird, sondern man
kann positiv davon abweichen, indem festgelegt wird:
Jemand wird zwar unter Betreuung gestellt; es ist aber
durchaus im Einzelfall möglich, ihm das Wahlrecht zuzuerkennen, wie es übrigens viele Fachleute, die dieses
Thema diskutieren, fordern.
({0})
Ich glaube, wir reden in der Sache gar nicht aneinander vorbei. Es geht mir nur darum: Wenn jemand in allen
Angelegenheiten unter Betreuung gestellt wird, finde ich
den Automatismus, dass er damit ausdrücklich automatisch auch sein Wahlrecht verliert, nicht unbedingt angemessen, sondern man könnte auch zu der Entscheidung
kommen, dass er sein Wahlrecht trotz einer Betreuung in
allen drei Angelegenheiten behält. Das ist ja auch das
Anliegen des Grünen-Antrags, wenn auch aus einer anderen Systematik heraus.
({1})
Ich glaube also, in dieser Sache sind wir nicht weit auseinander.
Jetzt kann man überlegen, ob diese Regelungstechnik
allein im Betreuungsrecht richtig ist oder ob wir nicht im
Wahlrecht bleiben müssten. Auch dafür gibt es viele gute
Argumente. Man könnte auch zu einer anderen Regelung kommen und etwa den § 13 des Bundeswahlgesetzes neu fassen, um zu einer inklusiveren und mehr
Partizipation und politische Teilhabe ermöglichenden
Wahlordnung zu kommen. Auch dafür sind wir ausdrücklich offen.
Nun komme ich zu dem, was mich ärgert. Ich bin jetzt
schon einige Jahre hier, und ich glaube von mir sagen zu
können, dass ich nicht zu den Scharfmachern oder zu
denjenigen gehöre, die immer den parteipolitischen
Streit um seiner selbst willen suchen.
({2})
Aber ich habe in der Vergangenheit schon an vielen Sitzungen zum Wahlrecht teilgenommen. Wir haben Vorschläge gemacht. Unter anderem habe ich für meine
Fraktion schon zweimal eine Regelung im Betreuungsrecht vorgeschlagen, habe in Sitzungen, die Herr Grindel
geleitet hat, darum gebeten, das auf die Tagesordnung
zu nehmen. Die Kollegin Wawzyniak, der Kollege
Wiefelspütz und der Kollege Wieland haben sich dem
gegenüber skeptisch gezeigt,
({3})
nicht - ich will die Kollegen jetzt gar nicht frontal angreifen - weil sie das nicht wollten, sondern weil leider
in relativ kurzer Zeit eine Fülle von Regelungen zu treffen waren. Wir mussten uns um das allgemeine Wahlrecht und um die Frage kümmern, wie im Ausland lebende Deutsche wählen dürfen. Deshalb wurde gesagt:
Wir warten die Studie ab; bis dahin wollen wir erst einmal keine Regelung treffen.
Ich habe Herrn Grindel dann erneut gebeten, das
Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Es kam zu einem Gespräch in der Sache, in dem von Ihren Fraktionen
auch zu den inhaltlichen Punkten erhebliche Skepsis geäußert worden ist,
({4})
die ich in Teilen durchaus nachvollziehen kann. Sie
sagten, das liege Ihnen in der Sache doch nicht so nahe,
weil Sie die Differenzierung zwischen denjenigen, die
ihr Wahlrecht vielleicht gerade noch selbst ausüben können, und denjenigen, für die das nicht gilt - gerade wegen der Frage, ob man wirklich eine Art Wahltauglichkeitsprüfung einführen soll -, im Einzelfall sehr
schwierig finden.
Man kann also aus guten Gründen zu einer sachgerechten Lösung mit einer stärkeren Nuancierung im Sinne des
geltenden Rechts kommen. Meine Kollegin Molitor und
ich sind jedoch eher zu der Auffassung gekommen, dass
wir im Betreuungsrecht zu einer gewissen Modifikation
kommen müssen. Dafür stehen wir auch ein.
In den vergangenen drei Jahren habe ich es allerdings
noch nicht erlebt, dass laufende Gespräche, obwohl die
eigene Fraktion skeptisch ist, torpediert werden - völlig
unabgesprochen -, weil man hier einen Gesetzentwurf
vorlegt. Ich glaube, hier ist die Anregung von Herrn
Grindel richtig: Sie müssen sich fragen lassen, ob Sie für
die Menschen in der Sache etwas erreichen wollten, ob
Sie eine graduelle Verbesserung dieser Situation erreichen wollten oder ob Sie in der bevorstehenden Auseinandersetzung vor der Bundestagswahl schlicht den
Organisationen auf ihre auch mich vielfach erreichenden
Briefe eine parteipolitisch in Ihrem Sinne befriedigende
Antwort geben wollten.
Ich glaube, mit der heutigen Initiative haben Sie dem
Betreuungsrecht sowie den Menschen mit Behinderung
und ihrer politischen Teilhabe keinen Gefallen getan. Ich
hoffe trotzdem, dass wir dieses Thema weiter auf der Tagesordnung behalten, weil wir glauben, hier etwas ändern zu müssen.
Eine so billige parteipolitische Münze, wie Sie sie
heute gespielt haben,
({5})
ist meiner Meinung nach in der Sache überhaupt nicht
angemessen.
({6})
- Herr Kurth, ich verstehe, dass Menschen, die meinen,
von einer höheren moralischen Warte gegenüber einem
liberalen Verständnis zu argumentieren, immer den Eindruck haben, sie seien moralisch überlegen.
({7})
Das kennzeichnet viele Ihrer parteipolitischen Äußerungen - nicht Ihrer persönlichen, aber von Ihrer Partei.
Ich glaube, Sie haben den Menschen mit Behinderung
heute keinen Gefallen getan, weil Sie uns von einer
sachgerechten Lösung dieses Problems eher entfernt als
uns ihr näher gebracht haben. Sie können sich ja vielleicht einmal mit Ihren Kollegen darüber unterhalten,
wie sie sich uns gegenüber in den Gremiensitzungen
geäußert haben. Ich glaube, es gibt genügend Zeugen
- auch hier im Raum -,
({8})
die meine Position bestätigen können.
Vielen Dank.
({9})
Kollege Ilja Seifert hat seine Rede zu Protokoll ge-
geben.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12068 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags
- Drucksache 17/12058 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12222 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleJohannes KahrsOtto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({1})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) -
Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
1) Anlage 12
2) Anlage 11
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Drucksache 17/12222, den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/12058
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen von
SPD und Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften ({2})
- Drucksache 17/10489 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 17/12192 Berichterstattung:Abgeordnete Helmut BrandtGabriele FograscherManuel HöferlinUlla JelpkeDr. Konstantin von Notz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Stefanie
Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und
Herren! Es ist 21.40 Uhr, und wir beraten ein Gesetz mit
dem Namen „Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften ({0})“. Das hört sich zunächst einmal sehr technisch und
sehr bürokratisch an. Es hört sich an, als ob es im täglichen Leben und auch in den Moral- und Wertvorstellungen von einzelnen Bürgern nur am Rande etwas zu
suchen hätte.
Seit 1937 gibt es das Personenstandsgesetz. 1957 ist
es reformiert worden. Im Jahre 2007 hat die Große Koalition dieses Gesetz den Erfordernissen der neuen Welt,
der technischen Entwicklung und den elektronischen
Neuheiten angepasst. Jetzt, sechs Jahre später, gehen wir
mit diesem Personenstandsrechts-Änderungsgesetz an
die Punkte heran, bei denen man an der einen oder anderen Stelle nachjustieren, etwas verbessern und einzelne
Lücken schließen muss. Im Großen und Ganzen passt
dieser Gesetzentwurf - wir haben ihn im Innenausschuss
beraten - das Personenstandsrecht, wie es seit 2007 gilt,
in Einzelheiten den Erfordernissen an. Aber dieser Gesetzentwurf enthält noch viel mehr.
Ich bin dem Kollegen Brandt und dem Kollegen Uhl
vom Innenausschuss äußerst dankbar, dass sie mich
heute Abend zu diesem Tagesordnungspunkt reden lassen. Ausgangspunkt für die Debatte war für mich eine
Petition, die von einem engagierten Ehepaar, das oben
auf der Tribüne Platz genommen hat, eingebracht worden ist. Dieses Ehepaar hat viele Tausend Unterschriften
gesammelt und in den Deutschen Bundestag eine Petition
des Inhalts eingereicht, dass in Zukunft juristisch diejenigen, die mit einem Gewicht von unter 500 Gramm leider tot zur Welt kommen, als Menschen, als Personen
behandelt werden und nicht mehr als Sache oder gar als
Klinikmüll.
({1})
Wir haben uns in den Ministerien als Abgeordnete
über die Parteigrenzen hinweg mit Bürokratismus auseinandergesetzt. Wir haben diese Petition immer wieder zu
den Beamten in die entsprechenden Häuser geschickt
und gesagt: Nein, eure ablehnende Stellungnahme können wir nicht akzeptieren.
Es geht hier nicht nur um bürokratische Vorschriften,
sondern es geht darum, Leben als Leben zu bezeichnen
und den Menschen, die ein Kind verloren haben, sei es
auch noch so klein und winzig, die Möglichkeit zu geben, dass dieses Kind offiziell zu ihrer Familie gehört,
dass sie offiziell um dieses Kind trauern dürfen, dass sie
dieses Kind bestatten dürfen, dass es im Kreißsaal des
Krankenhauses als Kind behandelt wird, dass die Krankenhäuser mit diesem menschlichen Leben würdevoll
umgehen. Ich glaube, dass diese Regelung sehr wichtig
ist, auch wenn sie in der Debatte über das Personenstandsrechts-Änderungsgesetz um 21.40 Uhr nur versteckt als kleines statistisches Detail auftaucht.
Ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen sich der
Petition angeschlossen haben. Ich finde es erstaunlich,
dass jetzt - diese Information habe ich gerade bekommen - über den Livestream des Bundestages etliche
Hundert, vielleicht sogar über tausend Menschen diese
Debatte verfolgen. Sie und auch die Menschen an den
Fernsehgeräten warten darauf, dass wir das, was in diesem Entwurf steht, zum Gesetz machen. Dann können
sie in Zukunft zu den Standesämtern gehen, um eine Bescheinigung zu bekommen, mit der - das ist der parlamentarischen Beratung über den Gesetzentwurf der
Regierung zu verdanken - das Leben eines Kindes festgestellt wird, auch wenn es gestorben ist, eine Bescheinigung, in der nicht mehr von einer Fehlgeburt oder von
Leibesfrucht die Rede ist. Es geht auch darum, dem Kind
einen Namen zu geben und ein Gefühl der Zugehörigkeit
zur Familie entstehen zu lassen.
Ich bin denjenigen, die die Petition eingereicht haben,
ausgesprochen dankbar, genauso wie denjenigen - namentlich Frau Fischbach und Ministerin Schröder -, die
diese Petition unterstützt haben. Ich freue mich darüber,
dass wir über diesen Gesetzentwurf noch im Detail
debattieren können. Ich freue mich vor allen Dingen da27218
rauf, wenn dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt und wir
dann sagen können: Wir haben etwas Gutes getan und
für menschliche Wärme gesorgt.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es geht bei diesem Gesetzentwurf, über den wir nun abschließend beraten, um technische und redaktionelle Änderungen aufgrund der Evaluierung des 2007 in Kraft
getretenen Gesetzes. Diese Änderungen sind notwendig
und sinnvoll. Deshalb tragen wir als SPD-Fraktion sie
mit.
Neben diesen formalen und bürokratischen Änderungen hat die heutige Novellierung des Personenstandsrechts konkrete Auswirkungen auf das Leben von Bürgerinnen und Bürgern. Ich will drei Änderungen
gesondert hervorheben. Diese betreffen die weißen Karteikarten, die Sternenkinder - von denen hat Frau
Vogelsang gerade gesprochen - und intersexuelle Menschen.
Der Umgang mit den weißen Karteikarten ist nach
langen Verhandlungen nun endlich geregelt. Auf diesen
Karteikarten sind Informationen über nichteheliche und
adoptierte Kinder der Geburtsjahrgänge 1970 bis 2009
gesammelt. Wichtig ist, dass die Nachlassgerichte von
nichtehelichen und einzeladoptierten Kindern eines Verstorbenen Kenntnis erhalten. Die Länder hatten vorgeschlagen, diese Karten an die Bundesnotarkammer zu
überführen. Diese sollte dann eine entsprechende Datei
einrichten und die Nachlassgerichte unterrichten. Diesen
Vorschlag hat die Bundesregierung abgelehnt, obwohl
die Gefahr bestand, dass aufgrund fehlender Informationen falsche Erbscheine ausgestellt würden. Auch auf
unsere Kleine Anfrage haben wir nur hinhaltende Antworten erhalten. Umso erfreulicher ist es, dass die Bundesregierung sich nun mit den Bundesländern geeinigt
hat. Nun sollen die weißen Karteikarten an die Bundesnotarkammer übermittelt und dort verwaltet werden. Die
dafür anfallenden Kosten haben die Länder zu tragen.
Die laufenden Betriebskosten übernimmt der Bund.
Wir hätten uns zwar auch eine personenstandsrechtliche Lösung vorstellen können. Aber das Entscheidende
für uns ist, dass diese Informationen nicht verloren gehen und Schutz im Erbrecht garantiert wird. Ich freue
mich, dass die Bundesregierung sich hier im Interesse
der Betroffenen bewegt hat.
({0})
Die Eintragung von sogenannten Sternenkindern war
ein großes Anliegen vieler Eltern. Deshalb wurde damit
auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages
befasst. Der Eingabe lagen 8 428 Mitzeichnungen, mehrere sachgleiche Petitionen, über 11 000 eingereichte
Unterschriften sowie 19 484 Onlineunterschriften zugrunde, eine beachtliche Zahl an Menschen, die dieses
Thema bewegt.
({1})
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die sogenannten
Sternenkinder, also Kinder, die mit einem Gewicht von
weniger als 500 Gramm tot zur Welt kommen, nun endlich personenstandsrechtlich registriert werden können.
Es ist auch gut, dass auf der Bescheinigung für die Eltern
von Sternenkindern nicht mehr solche Worte wie „Leibesfrucht“ oder „Fehlgeburt“ auftauchen. Für die betroffenen Eltern war es nämlich keine Leibesfrucht, sondern
ihr Kind. Deshalb ist es richtig, dass nun in der Bescheinigung „Kind“ steht.
({2})
Für uns als SPD-Bundestagsfraktion ist es wichtig,
dass die Eintragung von Sternenkindern nicht erst ab Inkrafttreten des Gesetzes möglich ist, sondern auch rückwirkend gilt.
({3})
Uns wurde vom Bundesinnenministerium versichert,
dass geprüft wurde, dass die nun vorgesehene rechtliche
Regelung eine rückwirkende Eintragung ermöglicht. Wir
hoffen, dass das Bundesinnenministerium diese Ansicht
auch gegenüber den Behörden vertritt.
Die Gesetzesänderung zeigt, dass Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern erfolgreich sein können. Ich
danke allen, die ihr Anliegen auf diesem Weg an uns herangetragen haben.
({4})
Im ursprünglichen Entwurf zum Personenstandsrecht
war kein Wort zu der Situation intersexueller Menschen
zu finden, und das, obwohl der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme eine Lösung angemahnt hat. Außer
Verzögerungen durch Hinweise auf die Komplexität des
Problems und auf das fortgeschrittene Gesetzgebungsverfahren war weder bei der Bundesregierung noch bei
den Koalitionsfraktionen eine Bereitschaft zu erkennen,
sich bei diesem Thema zu bewegen. Umso mehr freut es
meine Fraktion und mich, dass die Koalitionsfraktionen
offenbar meine Ausführungen in der ersten Lesung aufmerksam gelesen, sie sich zu Herzen genommen und
sich mit dem Thema befasst haben. Wir begrüßen es deshalb ausdrücklich, dass die Koalitionsfraktionen nun einen Änderungsantrag vorgelegt haben, in dem es heißt:
({5}) Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem
männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist
der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in
das Geburtenregister einzutragen.
Diese Regelung hatte die Direktorin des Deutschen
Instituts für Menschenrechte in einem Fachgespräch des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
im Oktober letzten Jahres als Minimallösung bezeichnet.
Es ist trotzdem gut und richtig, dass es hier nun eine
neue Regelung gibt. Ich hoffe, dass wir diese Lösung für
Intersexuelle zum Anlass nehmen, endlich auch etwas
für Transsexuelle zu tun.
({6})
Es liegen zahlreiche Urteile des Bundesverfassungsgerichts vor, die das Transsexuellengesetz von 1980 in
weiten Teilen als verfassungswidrig einstufen. Dieses
Gesetz entspricht auch nicht mehr dem heutigen Stand
der Wissenschaft. Auch hier bestünde akuter Handlungsbedarf.
({7})
Alles in allem halten wir dieses Gesetz für richtig, vor
allem durch die Ergänzungen aufgrund des Änderungsantrags, der im Innenausschuss vorgelegt wurde. Wir
werden dem Gesetzentwurf in der veränderten Form zustimmen.
Danke sehr.
({8})
Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Personenstandsrecht ist sonst eher eine
trockene Materie. Heute ändern wir einige ganz wesentliche Punkte im Gesetz. Lassen Sie mich kurz einige
vorstellen.
Ein zentraler Punkt - das ist schon gesagt worden;
deswegen fasse ich mich, obwohl das sehr wichtig ist, etwas kürzer - ist der Umgang mit den Sternenkindern. Es
kommt immer wieder vor, dass Kinder geboren werden,
die noch nicht 500 Gramm wiegen. Das ist eine große
Tragödie für Eltern und Geschwister, die zum Teil schon
eine persönliche Bindung zu dem ungeborenen Kind
aufgebaut und ihm einen Namen gegeben haben. Das ist
auch ein Problem im aktuellen Personenstandsrecht.
Denn bisher wurden die Kinder nicht erfasst; für den
Staat haben diese Kinder rechtlich quasi nicht existiert.
In der Vergangenheit war die Konsequenz daraus
manchmal, dass diesen Kindern eine Bestattung verweigert wurde. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen - da
sind wir uns alle einig -, ist nicht hinnehmbar.
({0})
Eltern müssen ein Recht auf Anerkennung ihrer
Elternschaft haben. Sie müssen das Recht bekommen,
angemessen um ihr Kind zu trauern. Sie müssen die
Möglichkeit haben, seiner anständig gedenken zu können. Die Petition einer Familie aus Hessen - sie sitzt auf
der Besuchertribüne - hat viel bewegt. Ich bin froh darüber, dass wir jetzt die Möglichkeit schaffen, dass sich
künftig Eltern unabhängig vom Gewicht ihres Kindes
ihre Elternschaft anerkennen lassen können.
({1})
Es gibt auch noch andere Änderungen im Personenstandsrecht. Wir haben zum Beispiel gesetzlich geregelt,
dass, wenn bei der Geburt eines Kindes das Geschlecht
nicht eindeutig festgestellt werden kann, künftig der Eintrag im Personenstandsregister offengelassen werden
kann, ohne Frist. In Deutschland kommen Menschen zur
Welt, die biologisch nicht eindeutig einem Geschlecht
zugeordnet werden können. Die Festlegung auf ein Geschlecht ist für die Betroffenen oftmals unpassend und
sehr problematisch; denn wenn sich dieses später als das
„falsche“ Geschlecht für sie herausstellt, ist das in der
Folge ein großes Problem. Das hat auch der Deutsche
Ethikrat in seiner Stellungnahme erkannt.
Liebe Frau Fograscher, glauben Sie mir: Wir haben
das schon vor der ersten Lesung auf dem Schirm gehabt
und auch bereits besprochen. Aber ich glaube, es ist richtig, dass man Dinge, auf die man sich noch nicht geeinigt hat, hier noch nicht groß diskutiert. Die FDP hat
sich eingebracht, weil wir wollten, dass das im Gesetz
steht. Ich glaube, es ist für die Intersexuellen eine Verbesserung, wenn der Eintrag offenbleibt. Das ist sachgerecht und praxisnah. Damit wird das Leben für die Intersexuellen ein Stück leichter.
({2})
Die Koalition hat noch weitere Verbesserungen in das
Gesetz eingebracht. Dazu gehört die Möglichkeit,
Todesfälle im Ausland von den Auslandsvertretungen
beurkunden zu lassen. Viele Deutsche halten sich im
Ausland auf. Sie gehen als Entwicklungshelfer, als Katastrophenschützer, als Freiwillige im Entwicklungsdienst
ins Ausland. Sie dienen als Bundeswehrsoldaten oder als
Polizisten. Sie berichten als Korrespondenten aus Krisengebieten, oder sie machen schlicht Urlaub. Dabei
kommt es leider immer wieder zu tragischen Todesfällen durch einen Sprengsatz, einen bewaffneten Raubüberfall, einen Verkehrs- oder einen Badeunfall.
Die Hinterbliebenen stehen vor großen Problemen.
Sie haben nicht nur einen schmerzhaften persönlichen
Verlust erlitten, sondern sie müssen sich zusätzlich noch
darum kümmern, dass ihre Angehörigen nach Deutschland zurückkommen. Zudem entsteht für sie derzeit noch
der Aufwand, dass sie bei ihrem örtlichen Standesamt
die Sterbeurkunde des Angehörigen ausfertigen lassen
müssen. Dass Menschen in einer solch schwierigen Situation auch noch mit bürokratischem Ärger behelligt
werden oder Probleme bekommen, weil wichtige Dokumente fehlen, kann nicht länger hingenommen werden.
Daher passen wir im neuen Personenstandsgesetz auch
in diesem Fall die Verwaltungsarbeit an die Realität an.
Zukünftig können Auslandsbehörden die Ausstellung
der Sterbeurkunde in Auftrag geben und die Angehöri27220
gen so entlasten. Ich glaube, das ist eine klare Verbesserung der Rechtslage.
({3})
Eine weitere Änderung im Gesetz sorgt dafür, dass
zukünftig die zusätzliche Angabe des Geschlechts in
personenstandsrechtlichen Urkunden, wie beispielsweise Eheurkunden, erforderlich wird. Dies, sehr geehrte Frau Kollegin Fograscher, ist sehr wohl auch für
Transsexuelle hilfreich; denn wenn ihr rechtliches Geschlecht erfasst wird, ist das unter Umständen für sie ein
Vorteil. Gleichzeitig stärken wir den Offenbarungsschutz
für Transsexuelle, indem ihr früheres Geschlecht nicht
offenbart wird.
Ich gebe zu: Das ist lediglich ein erster Schritt, aber
für die Transsexuellen ist es ein wichtiger Schritt. Wir
wünschen uns, dass da noch mehr folgt.
Darüber hinaus werden wir noch eine Reihe technischer Anpassungen im Gesetz vornehmen, um das Personenstandswesen zeitgemäßer, moderner zu machen
und es an die Lebensrealitäten der Bürgerinnen und Bürger anzupassen.
Insgesamt kann man sagen: Das Gesetz ist ein gutes
Gesetz für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Wir stärken die Rechtspositionen, die Entscheidungsfreiheit und den Schutz ihrer Privatsphäre. Ich freue mich
ausgesprochen über die breite - nicht ganz uneingeschränkte - Zustimmung
({4})
zum Personenstandsrechts-Änderungsgesetz. Aber ich
gebe die Hoffnung noch nicht auf, dass auch der Rest
des Hauses dem Gesetzentwurf am Ende zustimmen
wird.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke
wird diesem Gesetzentwurf zustimmen,
({0})
auch wenn ich ein paar Kritikpunkte habe, Herr Kollege
Höferlin.
Der vorliegende Gesetzentwurf hat sich zur Aufgabe
gemacht, Schlussfolgerungen aus den praktischen Erfahrungen zu ziehen. In letzter Minute hat der Innenausschuss noch eine Änderung am ursprünglichen Gesetzentwurf der Regierung vorgenommen. Darauf gehe ich
gleich ein.
Auch die Linke hat sich dafür eingesetzt, dass die
Möglichkeit besteht, dass Eltern von totgeborenen Kindern bzw. Sternenkindern diese im Personenstandsregister eintragen lassen können. Das ist für uns seit langem
eine Selbstverständlichkeit.
({1})
Nachdem die Koalitionsfraktionen noch einen Änderungsantrag eingebracht haben, wonach ein neugeborenes Kind ohne eindeutige Geschlechtszugehörigkeit nun
auch ohne Geschlechtsangabe in das Geburtenregister
eingetragen werden kann, meinen wir, dass das in der Tat
den Druck von den Eltern nimmt, schon bald nach der
Geburt geschlechtsangleichende Operationen an ihrem
Kind vornehmen zu lassen. Wir wissen, dass das Kind
dies in der Regel nur selbst entscheiden kann, wenn es
erwachsen ist. Wir wissen, dass gerade solche Kinder
sehr depressiv sind. Es gibt überdurchschnittlich viele
Selbstmorde und Ähnliches.
Ich will hier etwas ganz deutlich sagen; das ist nämlich nicht ganz richtig wiedergegeben worden. Der Deutsche Ethikrat hat vor einem Jahr eine Stellungnahme
zum Thema Intersexualität abgegeben, auf die sich nun
die Koalition mit ihrem Vorschlag beruft. Allerdings hat
der Ethikrat sehr viel weiter gehende Forderungen aufgestellt, die sich im vorliegenden Gesetzentwurf leider
nicht wiederfinden.
({2})
Die Möglichkeit, in der Kategorie „Geschlecht“ neben „männlich“ oder „weiblich“ eine neue Kategorie,
nämlich „anderes“, einzuführen, die es übrigens in einigen Ländern gibt - Australien, Belgien usw. -, ist leider
nicht aufgegriffen worden.
({3})
- Das geht meines Erachtens sehr wohl. Das Entscheidende ist, Herr Kollege: Im Grunde genommen ist die
jetzige Lösung halbherzig; denn die Eltern und die Betroffenen werden durch eine Nichteintragung immer
wieder in Erklärungsnöte gebracht. Wenn sie auf irgendeiner Behörde sind, werden sie gefragt: Warum steht da
nicht „männlich“ oder „weiblich“? Was sind Sie eigentlich?
Meine Kollegin Gabriele Fograscher hat hier bereits
erwähnt, dass für transsexuelle Menschen im vorliegenden Gesetz keine Lösungen gefunden wurden. Es gibt
sehr hohe Hürden, insbesondere im Transsexuellengesetz. Wir finden es sehr problematisch, dass Betroffene beispielsweise ihre Vornamen immer noch nicht eigenständig verändern können; sie können da nicht
einfach zur Behörde gehen. Sie müssen immer noch
zwingend psychiatrische Begutachtungen über sich ergehen lassen, die übrigens - das nur ganz nebenbei - teuer
sind, wenn sie eine Änderung ihres Vornamens vornehmen wollen. Deswegen fordern wir hier ganz klar unbürokratische Herangehensweisen, sodass diejenigen, die
ihren Vornamen ändern wollen, ihn auch ändern können,
wenn sie sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen.
Insofern stimmen wir zwar zu, aber melden noch einigen Nachbesserungsbedarf an; Nachbesserungen werden
wir weiterhin fordern.
Danke schön.
({4})
Nun hat Konstantin von Notz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir
freuen uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, nach der kontroversen Debatte, die dieser
Debatte vorausgegangen ist, zur Abwechslung auch einmal gemeinsam mit Ihnen ein Gesetz verabschieden zu
können.
Dieser Gesetzentwurf, den wir hier heute diskutieren,
umfasst vor allem klarstellende und redaktionelle Änderungen, die wir allesamt mittragen. Besonders hervorzuheben ist die neu geschaffene Möglichkeit der Anzeige
jeder Fehlgeburt gegenüber dem Standesamt und die Erlangung einer amtlichen Bescheinigung hierüber; viele
haben es hier schon angesprochen. Das ist ein richtiger
und wichtiger Schritt; das hat auch die erfolgreiche Petition zu diesem Thema gezeigt. Auch ich danke Ihnen im
Namen meiner Fraktion für Ihr Engagement in dieser
Sache, liebe Vertreterinnen und Vertreter des Sternenkinder e. V.
({0})
Die wesentliche Reform des Personenstandswesens
erfolgte in der letzten Legislaturperiode. Die schwarzrote Koalition war in der glücklichen Lage, im Wesentlichen auf die gute Vorarbeit der rot-grünen Koalition zu
diesem komplexen Thema zurückgreifen zu können.
({1})
Im Ergebnis wurden insbesondere die Beurkundung
in elektronischen Personenstandsregistern und der standardisierte elektronische Informationsaustausch zwischen den Standesämtern gesetzlich geregelt. Bei der
Umsetzung wurden eine fünfjährige Übergangsperiode
und die Evaluierung der Erfahrungen durch eine BundLänder-Arbeitsgruppe vereinbart. Die Ergebnisse dieser
Evaluierung liegen im Wesentlichen der vorgelegten Initiative zugrunde.
Bedauerlich war - das kann man an dieser Stelle ruhig noch einmal sagen -, dass die Bundesregierung im
Rahmen dieser Reform ursprünglich keine Bereitschaft
zeigte, auf die auch vom Bundesrat unter Bezugnahme
auf die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates angeratene Berücksichtigung von Intersexuellen einzugehen.
Meine Fraktion und ich haben dazu in einem eigenen
Antrag und in Übereinstimmung mit dem Ethikrat eine
eigene Berücksichtigung Intersexueller im Personenstandsrecht eingefordert bzw. eine Überprüfung der Notwendigkeit der Eintragung bzw. Ausdifferenzierung des
Geschlechts. Umso mehr freut es uns heute, dass jetzt im
nochmals überarbeiteten Antrag der Koalitionsfraktionen eine Änderung des § 22 Personenstandsgesetz vorgeschlagen wird, wonach bei Geburt eines intersexuellen
Kindes der Personenstandsfall ohne Angabe zum Geschlecht in das Geburtenregister einzutragen ist.
({2})
Damit setzt die Koalition auch unsere Forderung um, das
Personenstandsrecht so zu ändern, dass ein Eintrag des
Geschlechts in der Geburtsurkunde auch der Existenz
von intersexuellen Menschen angemessen Rechnung
trägt.
Ebenfalls begrüßenswert ist - der Kollege Höferlin
hat es angesprochen - die nunmehr veranlasste Änderung bezüglich transsexueller Menschen. Die Koalition
hat endlich eingesehen, dass nach der Ermöglichung
gleichgeschlechtlicher Ehen im Rahmen des Transsexuellenrechts von 2009 das Geschlecht der Ehegatten bzw.
Lebenspartnerinnen und Lebenspartner nicht selbstverständlich ist und im Ehe- bzw. Lebenspartnerschaftsregister deshalb gesondert ausgewiesen werden sollte.
Gleichzeitig wird mit der beabsichtigten Regelung der
bisher nur für Geburtsurkunden bestehende Offenbarungsschutz auch auf die Erteilung von Ehe- und
Lebenspartnerschaftsurkunden erweitert.
({3})
Das Personenstandswesen wird in dem Maße im Umbruch bleiben, wie der gesellschaftliche Wandel Veränderungen von Ehe, Familie oder auch individuellen
Identitäten nach sich zieht. Gerade bei der von uns maßgeblich erstrittenen Lebenspartnerschaft werden wir
weiter darauf hinwirken, dass die Gleichbehandlung
auch im Rahmen des Personenstandsrechts umgesetzt
wird und gewahrt bleibt. Gleichzeitig werden wir im
Sinne des Datenschutzes aufmerksam darauf achten,
dass im Personenstandsrecht die Einhaltung des Erforderlichkeitsgrundsatzes und die Beschränkung der Erfassung von personenbezogenen Daten auf das zur
Zweckerreichung unbedingt Erforderliche von ganz zentraler Bedeutung bleibt.
Ganz herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner in der Debatte ist Peter Tauber für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn ein Fraktionskollege mich dankenswerterweise darauf hingewiesen hat, dass ich als letzter Redner
rechtlich nicht verpflichtet bin, meine Redezeit voll auszuschöpfen,
({0})
möchte ich doch zu zwei oder drei Dingen etwas sagen.
Zunächst möchte ich sagen, dass ich mich sehr freue.
Ich freue mich, dass wir heute das Gesetz zur Änderung
personenstandsrechtlicher Vorschriften verabschieden.
Der Name des Gesetzes lässt auf eine sehr technische
Änderung schließen. An vielen Stellen dieses Gesetzes
ist das auch so. Mit dem Gesetzentwurf wird das am
1. Januar 2009 in Kraft getretene neue Personenstandsrecht punktuell verbessert, mit klarstellenden Änderungen versehen und an die Anforderungen eines modernen
Beurkundungswesens angepasst. Das ist ein Grund, sich
richtig zu freuen. - Na ja, vielleicht nicht so ganz.
Ich freue mich zunächst einmal, dass wir dieses Gesetz heute offensichtlich einstimmig beschließen werden.
({1})
Darüber kann man sich gemeinsam freuen. Ich freue
mich auch - man soll sich nicht selber loben; aber es
spricht ja nichts dagegen, dass ich einmal alle anderen
Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgearbeitet
haben, lobe -, dass an ganz vielen Stellen - ich bin Mitglied im Familienausschuss - mit ganz viel Engagement
und auch fraktionsübergreifend an zwei, drei Stellen
gearbeitet wurde. Die Kollegin Vogelsang, die vor mir
gesprochen hat, kann man an dieser Stelle, glaube ich,
ganz besonders erwähnen, weil sie sich sehr engagiert
hat, bei dem Thema Sternenkinder sogar so sehr, dass
sich die österreichischen Kolleginnen und Kollegen das
inzwischen zum Vorbild genommen haben und jetzt
überlegen, ein ähnliches Gesetz auf den Weg zu bringen.
({2})
Ich persönlich freue mich über einen anderen Punkt
ein bisschen intensiver. Ich habe für meine Fraktion im
November 2011 hier zum allerersten Male in einer Debatte sprechen dürfen, die sich mit dem Thema Intersexualität beschäftigt hat. Das war das allererste Mal, dass
der Deutsche Bundestag überhaupt über dieses Thema
diskutiert hat. Ganz ehrlich: Wenn man mit Besuchergruppen aus dem Wahlkreis, vielleicht auch mit dem einen oder anderen Kollegen darüber gesprochen hat, dann
hat man zumindest in fragende Augen geschaut: Intersexualität, was ist das? Wir haben damals den Ethikrat
beauftragt, uns eine Stellungnahme an die Hand zu geben, die uns helfen soll, uns den Herausforderungen und
Problemen, denen intersexuelle Menschen in unserer
Gesellschaft gegenüberstehen, zu nähern und sie zu verstehen. Wie sehr wir an diesem Thema noch arbeiten
müssen, erkennt man auch an der Ungenauigkeit der
Zahlen - ich habe es schon in meiner letzten Rede erwähnt -: Jedes Jahr werden zwischen 150 und 340 Kinder geboren, die in die Kategorie „intersexuell“ fallen. In
einem Land, in dem wir die Statistik perfektioniert haben, ist eine solche Bandbreite, wie ich finde, atemberaubend. Das zeigt eben, dass wir über dieses Thema
noch nicht wirklich viel wissen, dass wir uns dem
Thema auch hier im Parlament erst nähern.
Es mag deswegen richtig sein, dass wir nicht alles,
was uns der Ethikrat vorschlägt, heute beschließen; das
können wir auch gar nicht, weil die Vorschläge ganz
viele Politikfelder betreffen, nicht nur das Personenstandsrecht. Die Kollegen im Gesundheitsausschuss sind
aufgerufen, sich damit zu befassen. Die Kollegen im Familienausschuss werden über das Thema reden müssen.
Wir müssen schauen, ob wir uns mit dem Geld, das wir
in den Haushalt eingestellt haben, noch einmal fachlich
und wissenschaftlich beraten lassen können, um zu sehen, was da in den nächsten Jahren noch getan werden
kann.
Das Thema ist nicht nur zum ersten Mal im Deutschen Bundestag diskutiert worden; wir haben nun auch
- das ist das Schöne; ich freue mich darüber - ein Ergebnis:
({3})
Künftig wird es nicht mehr notwendig sein, dass sich die
Eltern von intersexuellen Kindern gegenüber dem Standesamt auf ein Geschlecht festlegen. Vielmehr kann
diese Kategorie offenbleiben, bis eine Entscheidung
getroffen werden kann: Entweder entscheidet sich ein
betroffener Mensch für das eine bzw. das andere Geschlecht - das tun viele intersexuelle Menschen -, oder
er entscheidet sich für den Lebensentwurf, zu sagen:
Nein, ich bin nun einmal intersexuell. - Auch das bildet
das neue Personenstandsrecht ab. Mein Dank gilt hier
dem Staatssekretär im Innenministerium, dem Kollegen
Schröder, der sich ebenfalls dafür eingesetzt hat.
({4})
Von denjenigen, die dieser Debatte, ob aus Schlaflosigkeit oder aus großem Interesse, zu später Stunde
folgen, wird sich der eine oder andere immer noch die
Frage stellen: Was sind denn intersexuelle Menschen?
Intersexuelle Menschen sind Menschen, die nicht in das
medizinische und rechtliche Konstrukt zweier abgrenzbarer Geschlechter passen, die also weder klar männlich
noch klar weiblich sind. Gerade weil diese Menschen
unseren gängigen Normen und Geschlechterkategorien
nicht entsprechen und wir sie ihnen auch nicht zuordnen
können, kann sich jeder vorstellen, welchen Herausforderungen sich diese Menschen und vor allem auch die
Eltern von intersexuellen Kindern gegenübersehen.
Ich glaube, wir tun gut daran, heute einen wichtigen
Schritt zu gehen und diesen Menschen, auch wenn sie
eine ganz kleine Gruppe bilden, zu signalisieren: Wir haben verstanden, dass wir uns um sie kümmern müssen.
Wir müssen ihnen aber auch sagen: Wir werden uns jetzt
nicht zurücklehnen; das Thema ist damit nicht erledigt.
Es gibt ganz viele Stellen, an denen wir das Thema in
den unterschiedlichen Fachausschüssen weiter begleiten
werden. Ich freue mich darauf, dass wir das im Familienausschuss tun, und ich freue mich über das Gesetz, das
wir heute verabschieden.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12192, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10489 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({0})
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dr. Sascha Raabe, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Transparenz in den Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien
- Drucksache 17/11876 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Hier liegt uns ein grundsätzlich gut gemeinter Antrag der SPD-Fraktion vor. Ich befürchte nur, gut gemeint ist nicht gut gemacht. Das Bemühen um mehr
Transparenz und die Sanktionierung von Konfliktmineralien sind prinzipiell zu begrüßen. Aber setzen wir dabei auf die richtigen und verhältnismäßigen Instrumente? Oder sind Forderungen aus dem vorliegenden
Antrag bereits erfüllt?
So setzt sich die Bundesregierung bereits im Rahmen der G 8 und G 20 für eine breite internationale
Unterstützung für EITI ein und ermuntert Unternehmen, sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen.
Diese Schwerpunkte sind auch bereits in der Rohstoffstrategie der Bundesregierung vom Herbst 2010
festgelegt.
Der Antrag nennt die Entwicklungen in den USA,
insbesondere einige Aspekte des Dodd-Frank Act, als
positives Beispiel für Bemühungen um mehr Transparenz. Allerdings ist die Situation in den USA nicht so
eindeutig, wie im Antrag aufgeführt. Die Ausführungsbestimmungen der US-Börsenaufsicht ESC für Jahresabschlüsse im Sinne des Dodd-Frank Act werden
gerade juristisch angefochten; der entsprechende
Rechtsstreit dauert noch an. Außerdem ist in den Ausführungsbestimmungen der US-Börsenaufsicht, entgegen der Darstellung im Antrag, nicht festgelegt, wie
ein Projekt definiert wird. Da gibt es unterschiedliche
Ansichten. Sie hat vielmehr verschiedene Projektdefinitionen dargestellt und manche ausgeschlossen. Vor
einer Eins-zu-eins-Übernahme sollten wir eine Evaluation des Dodd-Frank Act abwarten. Dazu sind Studien in Arbeit.
Möglicherweise meiden Bergbauunternehmen künftig Konfliktregionen aus Sorge vor möglichen Sanktionen oder Rechtsunsicherheit generell. Dies könnte den
existierenden, legalen Bergbau gefährden und kriminellen Marktakteuren Vorteile verschaffen sowie für
weitere politische Instabilität sorgen. Weiterhin sind
Wettbewerbsnachteile und zusätzliche Bürokratiekosten für deutsche und europäische Unternehmen zu befürchten. Nachteile, die andere internationale Akteure
nicht haben und die unsere Unternehmen in Entwicklungsländern verdrängen.
Leider geht der Antrag nicht auf das Instrument der
Rohstoffpartnerschaften ein. Rohstoffpartnerschaften
sind ein zentrales Instrument der deutschen Rohstoffpolitik. Sie dienen einerseits der Rohstoffversorgung
der deutschen Wirtschaft, aber andererseits auch des
Technologie- und Know-how-Transfers in die Partnerländer. Dies betrifft auch die Etablierung von Umweltund Sozialstandards sowie die Implementierung von
Transparenz- und Antikorruptionsregeln. Deutschland
fördert bereits, auch im Rahmen der wirtschaftlichen
Entwicklungszusammenarbeit, die Etablierung von
Good-Governance-Standards.
Beispielhaft für das Engagement Deutschlands im
Bereich der Rohstoffpartnerschaft ist die Zusammenarbeit mit der Mongolei. Dort kooperieren im Rahmen
der Integrated Mineral Ressource Initiative, IMRI,
deutsche Durchführungsorganisationen eng mit der internationalen, deutschen und lokalen Privatwirtschaft.
Mit diesen Partnerschaften ist sicher mehr für Transparenz und gute Regierungsförderung zu erreichen als
mit Schaufensteranträgen oder der Denunziation der
Rohstoffpartnerschaften als neokoloniale Ausbeutungsregime.
Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, führt bereits ein G-8-Pilotprojekt zur Zertifizierung von Handelsketten für mineralische Rohstoffe in Ruanda und der Demokratischen Republik
Kongo, DRC, durch. Weiterhin wurde ein belastbares,
standardisiertes Verfahren für den Herkunftsnachweis
von Coltan und ein Konzept für dessen umfassende internationale Verankerung entwickelt. Beide Verfahren
tragen nun zum Aufbau eines Zertifizierungssystems in
der Region der Großen Seen in Afrika bei. Deutschland unterstützt diese Maßnahmen im Rahmen der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Deutschland setzt sich also bereits aktiv für mehr
Transparenz auf den internationalen Rohstoffmärkten
ein. Mit der Rohstoffpartnerschaft haben wir bereits
ein positives Model für Entwicklungsländer entwickelt,
welches Unterstützung verdient. Weiterer Anträge zu
diesem Thema bedarf es nicht.
Sowohl in Bezug auf Zahlungsströme als auch auf
die Anforderungen zur Nutzung von Mineralien aus
Konfliktregionen unterstütze ich international abgestimmte Forderungen nach Transparenz im Rohstoffbereich. Viele weltweit tätige deutsche Unternehmen
orientieren sich seit geraumer Zeit mit Erfolg an den
OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen,
mit denen Standards für unternehmerisches Handeln
unter anderem im Hinblick auf Menschenrechte, Umwelt und Korruptionsbekämpfung gesetzt wurden.
Auch die freiwilligen Verhaltensleitlinien des Global
Compact der Vereinten Nationen stoßen bei der heimischen Industrie auf großen Anklang. Wieso ist das der
Fall?
Wir haben einerseits das Angebot, das sich im Rohstoffsektor bisher nicht immer auf eindeutige Herkunftskonturen zurückführen ließ. Auf der anderen
Seite besteht eine große Nachfrage nach Rohstoffen
aus ordnungsgemäßer Herkunft, sowohl unter Menschenrechts-, Umwelt- als auch Korruptionsgesichtspunkten. Insofern erhöht sich auch der Druck auf Zwischenhändler, die nun bemüht sind, eben solche
nachhaltigen Produkte zu liefern. Ein Angebotsüberschuss an Konfliktmineralien ist demnach schlecht für
den Verkauf; ein Nachfrageüberschuss an nachhaltigen Produkten ist schlecht für den Anbieter.
Aufgrund dieser simplen Ökonomie bin ich der Meinung, dass hier marktwirtschaftliche Gesetze positiv
wirken und die richtigen Leitplanken gesetzt werden
können. Anders als im vorliegenden SPD-Antrag argumentationslos beschrieben, denke ich, dass freiwillige
Maßnahmen ausreichen können. Was macht mich da
so sicher?
In Ihrem Antrag, sehr geehrte Damen und Herren
der SPD, erwähnen Sie Art. 1502 des geplanten amerikanischen Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act, kurz Dodd-Frank Act. Demnach
sollen Unternehmen erstmalig 2014 für das vorangegangene Kalenderjahr dokumentieren, ob in ihren
Produkten Rohstoffe enthalten sind, die aus der Demokratischen Republik Kongo und angrenzenden Gebieten gewonnen wurden, und Auskunft über ihre
Herkunft geben. Als Rohstoffe werden hier die sogenannten 3TG geführt, die in diversen Projekten gefördert werden: Tantal, Wolfram - englisch Tungsten -,
Zinn - englisch Tin - und Gold. Bereits jetzt wirkt sich
das Gesetz auch auf deutsche Unternehmen aus, die
mit Tochterunternehmen an der US-Börse gelistet sind
oder die an der US-Börse gelistete Unternehmen beliefern: Die Anforderung eines Herkunftsnachweises
wird an die Zulieferer weitergegeben. Mischschmelzund Veredelungsprozesse können jedoch dazu führen,
dass sich eine Herkunft nicht mehr eindeutig nachweisen lässt. Das so umgegossene oder veredelte Endprodukt aus einem unbedenklichen Drittland, das möglicherweise Konfliktrohstoffe beinhalten kann, entzieht
sich den geforderten Ausfuhrbestimmungen. Ein eindeutiger Herkunftsnachweis ist somit kaum zu realisieren.
Da Unternehmer und Zulieferer nun Klage gegen
die US-Börsenaufsicht SEC eingereicht haben - begründet durch die bürokratische Mehrbelastung sowie
wettbewerbsverzerrende Auflagen für einen Handel
auf dem Weltmarkt durch den Dodd-Frank Act -, bleibt
die tatsächliche Umsetzung dieses staatlichen Zwangs
fraglich. Man baut nicht auf eine nachhaltige, unternehmerische Einsicht - auch wenn sie in manchen Fällen nur profitorientiert sein mag - seitens Anbieter und
Nachfrager für soziale, ökologische und transparente
Rohstoffe und Zahlungsströme, sondern verabreicht
offenbar, wie dem vollständigen Namen dieser Gesetzesinitiative - Wall Street Reform and Consumer Protection Act - schon zu entnehmen ist, eine Beruhigungspille für weltweite Finanzmärkte und nationale
Investoren, die vom Reformwillen nach der weltweiten
Finanzkrise überzeugt werden wollen.
Die Europäische Union sieht das anscheinend ähnlich: So ist das Europäische Parlament aufgrund eines
Kommissionsvorschlages von seinen sehr weitreichenden Forderungen vom September 2012 bereits teilweise
abgerückt. Der vorliegende Entschließungsantrag der
SPD gibt daher nicht den aktuellsten Sachstand wieder.
Bedauerlich finde ich, dass in dieser internationalen Diskussion der Erfolg des Kimberley-Prozesses
von Anfang 2003 vergessen wird: Dieser Selbstregulierungsmechanismus beinhaltet die Einigung von Diamantenindustrie sowie Diamanten importierenden und
exportierenden Ländern auf staatliche Herkunftszertifikate, mit dem Ziel, den Schmuggel sogenannter Blutdiamanten zu verhindern. Die Konfliktdiamanten dienten hauptsächlich der Finanzierung regionaler, meist
äußerst brutaler Bürgerkriege. Kurz zuvor entschied
sich die Europäische Union dazu, diesen Selbstregulierungsprozess mit der Verordnung ({0}) Nr. 2368/
2002 des Rates vom 20. Dezember 2002 zur Umsetzung des Zertifikationssystems des Kimberley-Prozesses für den internationalen Handel mit Rohdiamanten
zu unterstützen. Als Folge davon sehen Sie heutzutage
nur noch Entsetzen im Gesicht eines Juweliers, wenn
Sie sich nach Blutdiamanten erkundigen. Sogleich
werden Ihnen Zertifikate vorgelegt, die einen konfliktfreien Abbau bestätigen.
Zugegebenermaßen kann man Zertifikate fälschen
und eine Herkunft verschleiern. Genau das ist das aktuelle Problem der deutschen, aber auch internationalen rohstoffverarbeitenden Industrie: Wie eingangs beZu Protokoll gegebene Reden
schrieben, lässt sich nach dem Schmelzprozess nicht
mehr eindeutig nachweisen, woher die einzelnen Rohstoffbestandteile stammen, wenn das veredelte Endprodukt auf dem Weltmarkt angeboten wird. Um hier
die bürokratischen Belastungen so gering wie möglich
zu halten, befürworte ich die Pilotprojekte der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, zur
Zertifizierung von Handelsketten für mineralische
Rohstoffe in Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo, DRC. Meines Erachtens ist das der bessere Weg zu mehr Transparenz. Ein standardisiertes
Verfahren für den Herkunftsnachweis von Coltan und
ein Konzept für dessen breite internationale Verankerung wurden von der BGR entwickelt. Beide Instrumente haben Eingang gefunden in den Aufbau eines
Zertifizierungssystems in der DRC sowie in der Region
der Großen Seen Afrikas. Diese Projekte will die Bundesregierung auch weiterhin unterstützen.
Problematisch sehe ich aber die sich bereits abzeichnenden Folgen der bestehenden Regulierungsund Zertifizierungsideen: Das Ziel, den Vertrieb von
Konfliktmineralen aus dem Ostkongo, deren Abbau in
der Hand bewaffneter Gruppen ist, zu verhindern oder
zumindest zu erschweren, klingt zunächst plausibel
und moralisch richtig. Doch leider bewirkt es den
Rückzug der dort aktiven Unternehmen aus der gesamten Region, weil der Herkunftsnachweis zu aufwendig
und die Unsicherheit über die genauen Ausführungsbestimmungen noch zu groß ist. Wie die Bloggerin
Claire Grauer eindrucksvoll berichtet, kommt es so
schlussendlich zu einem selbst auferlegten Handelsverbot, dessen großer Verlierer die arme Bevölkerung
ist. Die einzige Erwerbs- und Existenzgrundlage, die
Tätigkeit in den Bergbaubetrieben, bricht weg und fördert so die Rekrutierung dieser Menschen durch Rebellengruppen. Ebenso beschreibt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Laura Seay in einem
Arbeitspapier des Center for Global Development
„What’s wrong with Dott-Frank 1502?“, dass die bisherigen De-facto-Handelsverbote keineswegs zu Frieden und Menschenrechten im Kongo geführt haben.
Bis zu 2 Millionen Menschen haben nun keinerlei Arbeit in den Minen mehr. Die Arbeitsbedingungen in
den Minen waren und sind ohne Zweifel bedauerlich;
allerdings sind es regional oft die einzigen Einkommensmöglichkeiten für die Menschen. Neben der fehlenden Kaufkraft für die lokale Mikrowirtschaft, so
Seay, fehlt es nun Familien an Geld für die Schule der
Kinder oder Medikamente. Zeitgleich verstärkt sich
der Schmuggel in die für einen Herkunftsnachweis vermeintlich unbedenklichen Nachbarstaaten.
Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir zusätzlich zu Zertifizierungsmaßnahmen weitere Instrumente ins Spiel bringen: Wichtig ist es, auch auf die
Regierungen derjenigen Rohstoffländer einzuwirken,
die sich noch nicht an freiwilligen Transparenzinitiativen beteiligen. Der Offenlegung der Zahlungen durch
Unternehmen sollte die Offenlegung der Einnahmen
durch die Regierungen der Rohstoffländer gegenüberstehen. Es muss uns weiterhin ein dringliches Anliegen
sein, Entwicklungsländer dabei zu unterstützen, Einnahmen aus dem Rohstoffsektor gezielt für die soziale,
ökologische und ökonomische Entwicklung dieser
Länder zu nutzen. Dieses Mehr an Transparenz und
Good Governance kann zu einer nachhaltigen Rohstoffgewinnung beitragen. Beides unterstütze ich, und
beides ist fester Bestandteil der Rohstoffstrategie von
2010, die diese christlich-liberale Regierung verabschiedet hat.
Da die Probleme von der Industrie erkannt und
sogar durch Selbstverpflichtungen bekämpft werden,
zudem bisherige Zertifizierungsvorhaben wie die der
BGR durch die Bundesregierung bereits aktiv unterstützt werden und geplante, internationale Maßnahmen meines Erachtens gänzlich über das Ziel hinausschießen oder sogar zur Konfliktverschärfung
beitragen können, lehne ich den vorliegenden Antrag
der SPD ab.
Uns alle, die wir uns in der Entwicklungspolitik
engagieren, eint ein gemeinsames Ziel: Wir wollen
Hunger und Armut bekämpfen. Wir wollen gerade den
jungen Menschen in den Entwicklungsländern Perspektiven eröffnen, sie darin unterstützen, dass sie sich
ein besseres Leben aufbauen können. In vielen Ländern, mit denen wir uns hier beschäftigten, wäre das
auch möglich. Es wäre möglich, wenn die arme Bevölkerung am Reichtum ihres Landes teilhaben könnte.
Und uns alle eint wohl ebenso der Ärger darüber,
dass das nicht funktioniert. Korrupte Regierungen und
Eliten und multinationale Konzerne füllen sich skrupellos die Taschen, während die einfache Bevölkerung
weiterhin in bitterer Armut lebt. Menschen leiden Hunger, obwohl der Außenhandel ihres Landes boomt;
denn Einnahmen, die aus Rohstoffgewinnung und
Bodenschätzen stammen, versickern allzu oft in dunklen Kanälen, als dass sie etwa in ein funktionierendes
Gesundheits- und Bildungssystem gesteckt werden.
Noch schlimmer: Nicht nur, dass die Bevölkerung am
Reichtum nicht teilhaben kann, zum Teil - etwa im Falle
der sogenannten Konfliktmineralien - dienen die Einnahmen sogar dazu, Krieg und Gewalt zu finanzieren.
Schlechtestes Beispiel hierfür ist die Demokratische
Republik Kongo. Hier kurbelt der illegale Handel mit
Rohstoffen die Kriegsökonomie kräftig an. Zig Millionen Dollar haben Rebellen und Armee durch die Kontrolle von Minen und Handelsrouten eingenommen.
Ohne dieses Geld wäre es kaum möglich gewesen, die
kriegerischen Auseinandersetzungen so lange fortzuführen. Hier ist der Rohstoffreichtum mehr Fluch als
Segen, und man muss es in dieser Deutlichkeit sagen:
Wer in diesem Handel mitmischt, der hat Blut an den
Händen.
Wir wollen das nicht länger hinnehmen. Wir wollen
den Menschen die Möglichkeit geben, sich gegen diese
Ungerechtigkeit zu wehren. Grundvoraussetzung dafür
ist die Transparenz von Zahlungsflüssen im weltweiten
Zu Protokoll gegebene Reden
Rohstoffhandel. Nur wenn die Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft in den betroffenen Ländern nachvollziehen kann, wer was an wen und wofür gezahlt hat, kann
sich für eine gerechtere Verteilung der Einnahmen einsetzen. Das System der Verschleierung, das Korruption, halbseidene Geschäfte und eben auch Gewalt fördert, muss endlich aufgebrochen werden.
Es ist bedauerlich, aber an diesem Punkt hört die
Einigkeit hier im Hause leider auf. Über den Weg, wie
wir mehr Transparenz erreichen können, haben wir ja
schon mehrfach gestritten. Die Bundesregierung steht
in dieser Frage auf der Bremse und will weiterhin auf
die freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft
setzen. Wir wollen verbindliche Regelungen; denn wir
sagen: Wer allein auf guten Willen und Einsicht setzt,
der unterschätzt den Glanz des Goldes und wird dem
Problem in keiner Weise gerecht. Das zeigt die Erfahrung. Mit unserem Antrag legen wir nun konkrete Vorschläge vor, wie solche verbindlichen Regelungen ausgestaltet werden sollten. An dieser Stelle möchte ich
ausdrücklich meinem Kollegen Rolf Hempelmann für
die gute Zusammenarbeit danken, der diesen Antrag
mit auf den Weg gebracht hat.
Was also wollen wir? Zunächst geht es uns um eine
größtmögliche Offenlegung der Zahlungsströme. Umfassende Transparenz in diesem Sinne muss dabei die
Offenlegung sowohl auf Länderebene, das Countryby-Country-Reporting, als auch auf Projektebene, also
Project-by-Project, beinhalten. Außerdem muss eine
eindeutige Projektdefinition festgelegt werden, die sich
auf den Vertrag bezieht, aus dem sich die Zahlungsverpflichtungen ergeben. Und es muss klar sein, dass es
keine Ausnahmeregelungen geben kann. Das sogenannte Tyrannenveto als Schlupfloch muss ausgeschlossen sein. Ansonsten wäre jede Regelungsnorm
nichts als heiße Luft. Wir konkretisieren unsere
Vorschläge sogar so weit, dass wir eine Offenlegungsuntergrenze festschreiben. Wir wollen hier eine Untergrenze von 80 000 Euro einziehen.
Das alles sind keine neuen Ideen, und wir wollen
uns hier auch gar nicht mit fremdem Lorbeer schmücken. Wir beziehen uns lediglich auf Initiativen, die es
bereits gibt, sowohl auf europäischer Ebene als auch
in den USA. Ich möchte es an dieser Stelle schon noch
einmal betonen: Die USA waren es, die uns mit dem
Dodd-Frank Act in der Frage der Transparenz gezeigt
haben, wie es gehen kann. Sie haben dankenswerterweise den ersten Schritt gemacht, die EU-Kommission
ist inzwischen nachgezogen, und auch wir in Deutschland sollten diesen Weg mitgehen. Wer dazu nicht bereit ist, dem muss man vorwerfen, der Korruption mit
all ihren Folgen Tür und Tor zu öffnen. Deutschland
war seinerzeit die treibende Kraft, als es darum ging,
die Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft
EITI zu starten. Wir dürfen jetzt beim nächsten Schritt
nicht der Bremser in Europa sein. Wenn es die Bundesregierung wirklich ernst meint mit ihren Appellen zu
Good Governance in den Entwicklungsländern, dann
darf sie die Bemühungen um mehr Transparenz nicht
blockieren.
Die Offenlegung von Zahlungsflüssen ist das eine,
der Handel mit den oben erwähnten Konfliktmineralien das andere. Wir wollen die beteiligten Unternehmen dazu verpflichten, einen möglichst lückenlosen
Herkunftsnachweis liefern zu müssen, wenn sie etwa
mit Rohstoffen aus der Region der afrikanischen
Großen Seen Handel treiben. Insbesondere sind hier
wohl Zinn, Tantal, Wolfram und Gold zu nennen. Das
Ziel ist klar: Es gilt, den Konflikten in der Demokratischen Republik Kongo und den angrenzenden Staaten
die finanzielle Grundlage zu entziehen, damit das Sterben dort endlich ein Ende hat. Auch hier dient wieder
der Dodd-Frank Act als Vorbild.
Dabei ist uns durchaus bewusst, dass ein solcher
Nachweis oft schwer zu führen ist und Unternehmen
abschrecken könnte, überhaupt noch in den Problemländern aktiv zu werden. Es wird daher darauf ankommen ein sinnvolles Zertifizierungssystem für Rohstoffe
von der Mine an zu entwickeln, das international akzeptierte Transparenzregelungen beinhaltet und die
Überprüfung der Einhaltung ökologischer, menschenrechtlicher und sozialer Mindeststandards wie der
ILO-Kernarbeitsnormen ermöglicht.
Die Bestrebungen der EU, den Handel mit Konfliktmineralien zu unterbinden und strenge Herkunftsnachweise einzufordern, stoßen bereits auf großen Widerstand in der Wirtschaft. Ich habe erst letzte Woche ein
entsprechendes Schreiben des BDI erhalten. Dem
möchte ich entgegenhalten, dass sogar der UN-Sicherheitsrat in den letzten Jahren die Regierungen der
Mitgliedstaaten mehrfach dazu aufgefordert hat, sicherzustellen, dass Unternehmen keine illegalen Rohstoffe aus Konfliktregionen verarbeiten. Dieser Aufforderung wollen wir nachkommen.
Am Ende werden einheitliche Regelungen, wie wir
sie hier vorschlagen, im Übrigen auch im Sinne der
deutschen Wirtschaft sein. Denn schon jetzt müssen
sich deutsche Unternehmen, die in die USA liefern,
den Vorgaben des Dodd-Frank Act unterwerfen. Deutsche Zulieferer werden bei Geschäften in den USA
künftig gefragt werden, woher sie ihre Rohstoffe beziehen. Ist ein Nachweis nicht möglich, gibt es keinen
Abschluss. Es macht also absolut Sinn, jetzt zügig für
einheitliche Transparenzstandards zu sorgen. Man
mag sich kaum ausmalen, welches Chaos im internationalen und insbesondere im transatlantischen
Handel entstehen wird, wenn wir damit noch länger
warten.
Wie Sie sehen, nützt unser Antrag also nicht nur den
Menschen in den rohstofffördernden Entwicklungsländern, sondern ebenso unserer Wirtschaft, die von
klaren Regeln profitieren wird. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. Sorgen Sie dafür, dass die
Bundesregierung endlich den Fuß von der Bremse nehmen muss und Vollgas gibt für mehr Transparenz.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die SPD greift in dem vorliegenden Antrag auf ihre
zwei Lieblingsvokabeln „Regulierung“ und „Zertifizierung“ zurück, dieses Mal in Verbindung mit dem
Import von Steinkohle. Dabei verfolgen die Genossen
mit ihrem Antrag eigentlich ganz andere Ziele: Sie
wollen durch zusätzliche Bürokratie den Import von
Steinkohle erschweren. Damit wollen sie erstens die
2018 auslaufende Steinkohleförderung, so wie sie die
schwarz-gelbe Bundesregierung beschlossen hat, hinauszögern. Zum Zweiten wollen sie damit die Verstromung von Braunkohle als letztem verbleibenden heimischen Energieträger zementieren. Das ist rote Klientelpolitik.
Wir Liberale haben nichts gegen die Braunkohle, im
Gegenteil: Wenn sie sich auf dem Markt gegen die zu
importierende Steinkohle oder das zu importierende
Erdgas durchsetzt, ist ihr Einsatz geboten. Den bekannten Argumenten der Neinsager von der Linken
und den Grünen halte ich folgendes entgegen: Die Renaturierung der Abbaugebiete wird durch die Energieversorger bzw. Abbaugesellschaften finanziert. Den
externen Effekten, wie der Emission von CO2, wird
durch den Emissionshandel Rechnung getragen. Mit
dem Einsatz der CCS-Technologie, die in Deutschland
trotz Verbot in den Ländern durch Rot und Grün von
deutschen Ingenieuren weiterentwickelt wird, behält
die Braunkohle für uns auch weiter ihre Bedeutung.
Was den Kern des Antrages angeht, so ist es für
mich nur schwer nachvollziehbar, wie die SPD es sich
vorstellt, fungiblen Commodities, deren globaler Handel über organisierte Warenterminbörsen abgewickelt
wird, einen Fußabdruck anzuheften. Das ist schlichtweg nicht möglich und auch nicht nötig.
Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Finanzierung rohstofffördernder Unternehmen berichten. Die
milliardenschweren Unternehmen aus dem Bereich
der Rohstoffförderung sind schon durch ihre Eigentümerstrukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten
Standards einzuhalten. Kapitalsammelstellen, wie zum
Beispiel das California Public Employees’ Retirement
System, CalPERS, bekennen sich zu strengen sozialen
und ökologischen Selbstverpflichtungen. Gemäß derer
entscheiden sie über Veräußerung oder Akquise von
Beteiligungen in Milliardenhöhe. Nachhaltigkeit ist
damit für Unternehmen nicht nur eine schöne Worthülse für den CRS-Bericht. Nachhaltigkeit führt über
sozialen Frieden und einen wachsenden Wohlstand in
den Förderregionen zu einer besseren Verlässlichkeit
von Lieferungen, und die ist im Interesse aller.
Dabei kann die Rolle des Staates allenfalls eine
flankierende sein: Es gibt weltweit eine Vielzahl von
Initiativen und Abkommen, die der Verbesserung der
Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstandards
dienen. Deutschland ist in vielen Fällen als aktiver
Partner eingebunden. Deutschland unterstützt die Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie, EITI, politisch und finanziell. Sie ist
derzeit sogar Mitglied im internationalen Aufsichtsgremium. Zahlreiche Staaten habe die formulierten
Standards anerkannt, ebenso eine Vielzahl von Unternehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWE und
die KfW dazu - eigeninitiativ, ohne gesetzlichen
Zwang.
Die im Antrag genannten Lieferländer sind Mitgliedstaaten der International Labour Organization,
ILO. Sie haben die ILO-Konvention 169 bereits ratifiziert. Die Überwachung der Einhaltung obliegt den
Kontrollorganen der ILO. Die betreffenden Länder
sind verpflichtet, regelmäßig Berichte über die Umsetzung des Abkommens zu veröffentlichen. Verstößt ein
Unterzeichnerstaat gegen Vorgaben der Konvention,
können Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen
Klagen und Beschwerden einreichen. Damit sind die
im Antrag erhobenen Forderungen entweder unnötig
oder bereits erfüllt. Die Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung besteht nicht. Tatsächlich aber können
einzelne Länder bei der Umsetzung von Richtlinien
und Konventionen abweichende Auffassungen vertreten. Ohne Zweifel kann auch die zeitliche Abfolge differieren.
Die Bundesregierung unterstützt die betreffenden
Länder mit ihrer Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Sie wirkt damit schon heute auf die Anerkennung und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards hin. Über die nationale Souveränität einzelner
Staaten können wir uns aber nicht hinwegsetzen. Die
von Ihnen gern bemühte Kavallerie werden wir nicht
zur Sicherung sozialer und ökologischer Standards ins
Ausland entsenden.
Die Verseuchung von Landstrichen, Zwangsumsiedlungen für neue Minenprojekte, Kinderarbeit oder gewaltsames Vorgehen gegen Gewerkschaften: Viele
deutsche Rohstoffimporteure, aber auch Stahl- und
Automobilfirmen wissen um die Situation in vielen
Bergwerken und Tagebauen im Süden, aber sie tun
nichts. Sie übernehmen keine Mitverantwortung für
die Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten
sowie Umweltstandards entlang der Produktions- und
Lieferkette. Was zählt, ist der Rohstoffpreis und der
freie Marktzugang. Hierzu lesen wir jeden Tag die
Forderungen der Unternehmensverbände an die Bundesregierung.
Während Konsumenten von Kaffee oder Textilien
auf Zertifizierungen zurückgreifen können und so mit
ihrem Kaufverhalten Menschenrechtsverletzungen und
Umweltschäden etwas entgegensetzen können, sind
wir beim Kauf von Heizöl, Autos oder Baumaterialien
noch weit von gekennzeichneten sozialen Mindeststandards oder ökologischen Zertifikaten entfernt.
Die Linke begrüßt deshalb den Ansatz des amerikanischen Dodd-Frank Act, schon am Beginn der
Lieferkette anzusetzen und negative Auswirkungen des
Abbaus mineralischer und fossiler Rohstoffe zu mindern, indem Unternehmen zukünftig Zahlungen an die
Zu Protokoll gegebene Reden
Regierungen für jede Mine und jedes andere Projekt
offenlegen müssen. Das soll es den Bürgerinnen und
Bürgern vor Ort ermöglichen, Rechenschaft von ihren
Regierungen über die Höhe sowie insbesondere über
die Verwendung der Einnahmen einzufordern.
Diese Regelungen für US-börsennotierte Unternehmen sollen jetzt zumindest für Öl-, Gas-, Bergbau- und
Forstunternehmen in EU-Recht übernommen werden.
Die Richtlinienentwürfe zu Transparenz- und Offenlegungspflichten für Rohstoffunternehmen wären
- wenn sie denn den Konflikt mit den Unternehmen
suchen würden - ein erster und großer Schritt, um
weltweit die Abhängigkeit von Rohstoffexporterlösen
zu reduzieren, Korruption zu bekämpfen und die
Abhängigkeit von Entwicklungshilfe zu reduzieren.
Aber wie zu erwarten, blockiert die Bundesregierung,
unterstützt von den Brüsseler Lobbyabteilungen der
Öl- und Bergbaumultis.
In den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten und
dem Ministerrat sind wesentliche Forderungen des
Europäischen Parlaments - so weit wir im Bundestag
das nachvollziehen können - bereits verwässert
worden, und zwar mit expliziter Unterstützung der
Bundesregierung.
Das Europäische Parlament hatte gefordert, die
Offenlegungspflichten auch auf Banken, den Telekommunikationssektor und den Infrastrukturbereich anzuwenden, um der wachsenden Bedeutung dieser Sektoren für Entwicklungsländer gerecht zu werden. Das
wurde von den Mitgliedstaaten in eine Revisionsklausel verbannt. Eine Ausweitung auf Agrobusinesskonzerne wurde nur von NGOs gefordert.
Ein großes Schlupfloch wurde geöffnet, da keine
Angaben zu Subunternehmen gemacht werden müssen.
Drittens wurde die sogenannte Wesentlichkeitsschwelle auf Zahlungen in Höhe von 100 000 Euro
festgesetzt. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt
gegenüber der skandalösen Forderung des Ministerrates, erst Zahlungen ab einer halben Million Euro angeben zu müssen. Diese hohe Schwelle widerspricht
aber immer noch eindeutig dem Ziel und auch dem
Namen der Transparenzrichtlinie.
Offengelegte und vergleichbare Zahlungen an Regierungen sollen der Zivilgesellschaft vor Ort Einblick
in die Geschäftspraktiken der Rohstoffunternehmen
geben. Entwicklungsorganisationen hatten aufgrund
ihrer Erfahrungen darauf hingewiesen, dass auch
kleine Zahlungen von Bedeutung für lokale Gemeinschaften sind, die von der Ressourcenausbeutung betroffen sind, und hatten eine Schwelle von höchstens
15 000 Euro vorgeschlagen.
Die Bundesregierung lehnt es viertens weiter ab,
bezahlte Strafen für Verletzungen von Umwelt- bzw.
Altlastensanierungsgesetzen in die Offenlegungspflicht einzubeziehen, und beschränkt die Richtlinie
auch darauf, nur die Anzahl der vor Ort Beschäftigten
veröffentlichungspflichtig zu machen.
Damit sind wir bei den Grenzen eines Ansatzes, der
die Probleme der Rohstoffausbeutung alleine über die
Offenlegung von Zahlungen an Regierungsstellen angehen will. Bleibt man bei dieser Forderung stehen,
wird die Verantwortung von den Konzernen weg auf
die staatlichen Stellen vor Ort verlagert, die oft an einem schwachen Hebel sitzen. Die Zivilgesellschaft und
NGOs vor Ort werden überfordert.
Notwendige Spielräume bei der sozial-ökologischen
Regulierung in den Entwicklungsländern werden
häufig durch multilaterale und bilaterale Verträge eingeschränkt. Deshalb müssen zukünftig Menschenrechte, Arbeitsrechte und Umweltschutz Vorrang bei
allen Handels-, Investitions- und Rohstoffabkommen
bekommen. Wenn wir aber mit dem Ressourcenfluch
und mit der umweltzerstörenden und oft sozial verheerenden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss machen
wollen, müssen wir hier in den Industrieländern beginnen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas,
Kohle und Metallen zu entkoppeln. Ein fundamentaler
Politikwechsel hin zu einer zukunftsfähigen Rohstoffpolitik muss deshalb in sehr viel stärkerem Umfang als
bisher auf eine absolute Senkung des Rohstoffverbrauchs abzielen.
Die Situation im Nigerdelta ist unerträglich: Die
Region leidet unter einer der schlimmsten Umweltkatastrophen weltweit. Im drittgrößten Feuchtgebiet
der Welt hat die rücksichtslose Ölförderung die Umwelt massiv geschädigt, die Menschen vor Ort sind gezwungen, mit vergiftetem Grundwasser, verseuchten
Fischgründen und starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu leben. Gestern wurde Shell Nigeria
in den Niederlanden zu Schadenersatz für die massiven Umweltschäden im nigerianischen Ogoniland verurteilt. Damit ist ein Teilerfolg errungen. Bäuerinnen
und Bauern, Fischerinnen und Fischer aus dem Nigerdelta sowie eine niederländische Umwelt-NGO hatten
Shell verklagt. Das eigentliche Ziel und der damit erhoffte internationale Präzedenzfall blieb jedoch leider
aus: Das Gericht hat geurteilt, dass nicht der Mutterkonzern Royal Dutch Shell, sondern die Tochter Shell
Nigeria verantwortlich sei. Dennoch zwingt zum ersten Mal ein Gericht Shell dazu, Schadenersatz zu leisten für verursachte Schäden. Die Klägerinnen und
Kläger der abgewiesenen vier Klagen werden jetzt in
Berufung gehen und Verantwortung von Shell einfordern. Auf diesem Weg müssen wir sie unterstützen,
parlamentarisch und medial. Es braucht ein Bewusstsein für die Straftaten, die von transnationalen Konzernen begangen werden.
Genau darum geht es: Wir müssen Rohstoffunternehmen dazu bringen, Rechenschaft abzulegen, und
sie müssen zur Verantwortung gezogen werden können. Dafür ist Transparenz eine entscheidende Voraussetzung. Nur wenn wir mehr Licht in die Rohstoffgeschäfte bringen, kann überprüft werden, ob Standards
eingehalten werden oder nicht, ob Gewinne ins AusZu Protokoll gegebene Reden
land abgezogen werden oder nicht, ob die Bevölkerung
angemessen an den Rohstoffeinnahmen beteiligt wird
oder nicht und wie es um die Einhaltung der Menschenrechte sowie von Umwelt- und Sozialstandards
bestellt ist.
Deshalb sind die Transparenzregelungen, die aktuell auf EU-Ebene verhandelt werden, so wichtig:
Bereits vor über einem Jahr haben wir Grüne die Bundesregierung mit unserem Antrag zu Rohstofftransparenz, Bundestagsdrucksache 17/8354, nachdrücklich
dazu aufgefordert, sich für substanzielle Offenlegungspflichten im Rohstoffsektor einzusetzen. Insofern
begrüßen wir die erneute Aufforderung durch den vorliegenden Antrag der SPD. Denn wir wissen aus
Brüssel, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung trotz
aller Beteuerungen umfassende Transparenzverpflichtungen blockiert, wo sie nur kann.
Ich möchte Sie daran erinnern, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP: Bevor die
US-amerikanische Börsenaufsicht im Sommer ihre
Regelungen für die Ausgestaltung von Dodd-Frank
Sektion 1504, also die projektbasierte Offenlegung,
vorgelegt hat, haben Sie im Ausschuss darauf beharrt,
dass es keine divergierenden Standards zwischen der
EU und den USA geben dürfe. Folgen Sie also Ihrer
Argumentation und setzten Sie sich für eine umfassende Regelung ein. Wir haben auf EU-Ebene jetzt die
große Chance, mehr Transparenz im Rohstoffsektor zu
verankern. Die dürfen wir nicht verspielen.
Heute erfahren wir von einer neu eingerichteten
BMZ-Task-Force, die die Themen nachhaltige Rohstoffwirtschaft, transparente Finanzströme sowie soziale und ökologische Mindeststandards bündeln soll.
Ich weiß, das BMZ hat im Rohstoffsektor gute Konzepte und engagiert sich an vielen Stellen. Aber das
bleibt für mich nichts als ein Feigenblatt, solange Sie
die Entwicklungsinteressen nicht mit Verve in die
Rohstoffpolitik der Bundesregierung einbringen - und
das tun sie nicht. Schwarz-gelbe Rohstoffpolitik ist und
bleibt kurzsichtig und nationalbezogen. Die Rohstoffsicherung für die deutsche Wirtschaft ist bei Ihnen das
Maß aller Dinge. Alles Weitere, insbesondere die entwicklungspolitischen Interessen, wird zur Nebensache.
Aktuellstes Beispiel ist die am Wochenende auf dem
EU-Lateinamerika-Gipfel vereinbarte Rohstoffpartnerschaft mit Chile. In der gemeinsamen deutschchilenischen Absichtserklärung zur Zusammenarbeit
beim Bergbau und bei mineralischen Rohstoffen können laut Text Wirtschaftsverbände und Unternehmen
„gezielt eingeladen werden“. Die Zivilgesellschaft
bleibt hier in guter schwarz-gelber Tradition außen
vor. Eine entwicklungsförderliche Rohstoffpolitik sieht
anders aus.
Noch ein paar Worte zur Zertifizierung und zu Konfliktmineralien, auf die Sie, Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, in Ihrem Antrag auch eingehen: Wir
müssen uns hier intensiv mit den Bedingungen für eine
erfolgreiche Zertifizierung auseinandersetzen. Zertifizierung im Rohstoffsektor wird aus meiner Sicht nur
dann ein erfolgreiches Steuerungsinstrument, wenn
wir die komplexen Zusammenhänge berücksichtigen
und mit angehen. Ganz abgesehen von den technischen
Voraussetzungen: Ich sehe nicht, wie Zertifizierung
zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo
nachhaltig funktionieren kann, ohne gleichzeitig auch
die Entmilitarisierung der Minenregionen und Reformen im Sicherheits- und Justizsektor anzugehen. Wenn
das Ziel ein einheitliches und übergreifendes Zertifizierungssystem ist, dann müssen wir auch die großen
Abnehmer, die Technologiekonzerne, dazu bringen,
sich zu beteiligen. Umwelt- und Sozialstandards müssen mit einbezogen werden. Vor allem ist eine erfolgreiche Zertifizierung nicht möglich, ohne eine umfassende Einbindung der lokalen Zivilgesellschaft. Die
Menschen vor Ort können kontrollieren, ob bewaffnete
Gruppen mitmischen oder nicht. Gleichzeitig müssen
Kleinschürferinnen und Kleinschürfer und kleine
Kooperativen vor Ausbeutung geschützt werden. Hier
müssen wir ansetzen.
Wir Grüne fordern verbindliche Maßnahmen für
eine entwicklungsförderliche und faire internationale
Rohstoffpolitik. Dazu gehört, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, nicht nur der Hinweis, dass
Deutschland abhängig von Rohstoffimporten ist. Denn
genau hier beginnt unsere Verantwortung: Wir müssen
unsere Art, zu wirtschaften, radikal vom Rohstoffverbrauch entkoppeln.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11876 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur
Neuregelung der Bestandsdatenauskunft
- Drucksache 17/12034 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Ermittler können in Deutschland sogenannte
Bestandsdaten bei Telekommunikationsanbietern abfragen, wenn sie diese zur Verfolgung von Straftaten,
Ordnungswidrigkeiten oder zur Gefahrenabwehr benötigen. Unter dem eher trockenen Begriff „Bestandsdaten“ verstehen wir Kundendaten wie Telefonnummern und die dazugehörigen Namen und Adressen,
E-Mail-Adressen oder andere sogenannte Anschluss27230
Armin Schuster ({0})
erkennungen. Beispiel: In einer Mordermittlung stellt
die Polizei fest, dass beim Opfer zuletzt Anrufe mit drei
verschiedenen Telefonnummern eingegangen sind. Die
Anrufer könnten wichtige Zeugen, aber auch Verdächtige sein. In jedem Fall müssen die Ermittler diesen
Spuren nachgehen. Die zur Nummer zugehörigen
Namen erfahren sie vom Telefonanbieter. Der ist schon
heute dazu verpflichtet, diese Kundendaten an bestimmte Bundes- und Landesbehörden herauszugeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 24. Januar 2012 diese Auskunftspflicht grundsätzlich als unbedenklich beurteilt. Allerdings wurden die
bisherigen Regelungen im Telekommunikationsgesetz,
insbesondere in § 113, von den Karlsruher Richtern
kassiert, dürfen aber noch übergangsweise bis Ende
Juni 2013 angewandt werden. Damit haben die
Richter ganz überwiegend die Bedeutung der Bestandsdatenauskunft für die Arbeit von Behörden
bestätigt. Moniert hat das Gericht drei Punkte: Erstens
kann § 113 TKG nicht für die Abfrage von Inhabern
dynamischer IP-Adressen herangezogen werden.
Zweitens. Für die Auskunft über Zugangsdaten zu
mobilen Endgeräten, also PINS, PUKs und Passwörter, müssen die rechtlichen Voraussetzungen konkretisiert werden. Drittens. Letztlich fordert das Gericht ein
sogenanntes Doppeltürprinzip: Es bedürfe sowohl
einer Norm zur Datenübermittlung als auch einer
Abrufnorm. Heute bringt die Bundesregierung einen
Gesetzentwurf ein, der diese Vorgaben des Verfassungsgerichts umsetzt. Eine darüber hinaus gehende
Neuerung ist die elektronische Schnittstelle, die für
große Provider verpflichtend vorgesehen ist.
Das geforderte Doppeltürprinzip ist umgesetzt, indem sich im Telekommunikationsgesetz die Regelungen zur Datenübermittlung finden; das ist die erste
Tür. In den Fachgesetzen wird die Abrufnorm verankert; das ist die zweite Tür. Das TKG beschreibt laut
Entwurf die Speicherpflichten der Anbieter und die
datenschutzrechtlichen Voraussetzungen zur Übermittlung von Daten. Alle weiteren Regelungen, insbesondere was die Bedingungen der Abfrage von Bestandsdaten betrifft, finden sich in den Fachgesetzen, also
beispielsweise in der Strafprozessordnung, im BKAGesetz, im Bundespolizeigesetz. Die Länder werden
vergleichbare Normen auch in ihren Fachgesetzen zu
verankern haben.
Damit Ermittler auch in Zukunft noch die Inhaber
dynamischer IP-Adressen zu einem bestimmten Zeitpunkt abfragen können, ist die entsprechende Norm in
den Fachgesetzen vorgesehen. Karlsruhe hatte ja nicht
grundsätzlich Bedenken gegenüber der Zuordnung,
sondern hat lediglich betont, dass der alte § 113 diese
Abfrage nicht abdecke. Mit der Verankerung in den
Fachgesetzen wäre dieser Einwand hinfällig. Insbesondere für die Behörden der Strafverfolgung und
für die Nachrichtendienste brauchen wir diese Befugnis. Gerade bei Straftaten im Internet, die in den
letzten Jahren immens zugenommen haben, ist die Zuordnung von IP-Adressen meist der einzige erfolgversprechende Ansatz.
Passwörter, PINs und PUKs für mobile Endgeräte
dürfen in Zukunft nur noch dann abgefragt werden,
wenn auch die rechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass auf die Daten der Endgeräte zugegriffen werden darf. Diese rechtliche Klarstellung hatte
der erste Senat gefordert. Gemeint ist: Erlangt man die
Zugangsdaten zum Beispiel zu einem Mobiltelefon, so
hat man, insbesondere bei Smartphones, Zugriff auf
eine Reihe sensibler Daten. Zu Recht fordert das Gericht hier, dass die Abfrage nur dann erlaubt ist, wenn
die Voraussetzungen für den Zugriff auf diese Daten
gegeben sind.
Das Gericht hat uns einige wenige Änderungen und
Konkretisierungen auferlegt: Es hat aber nicht grundsätzlich die Bestandsdatenauskunft als verfassungswidrig abgelehnt. Wir begrüßen diese Entscheidung,
weil wir ein großes Interesse daran haben, dass Ermittler bei Bund und Ländern Bestandsdatenabfragen
vornehmen können und so auch weiterhin erfolgreich
polizeiliche Gefahrenabwehr und Aufklärungsarbeit
leisten können. Deshalb hat das BMI jetzt diesen
Entwurf vorgelegt, den wir nun parlamentarisch beraten können. Auf diesen Diskurs bin ich gespannt. Ich
möchte Sie aber davor warnen, einseitig über angebliche Sammel- und Kontrollwut zu klagen. Wir haben
hier ein immens wichtiges, unverzichtbares Instrument
der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, das es zu
erhalten gilt.
Auf den letzten Metern befassen wir uns nun endlich
mit einem weiteren Sicherheitsgesetz: Bis Juni dieses
Jahres bleibt uns noch Zeit, um unser Telekommunikationsgesetz verfassungsfest zu machen. Diese Aufgabe
wurde uns vom Bundesverfassungsgericht bereits im
Januar 2012 gestellt. Erst jetzt liegt uns bei einem
komplizierten, weit und tief in die Bürgerrechte
eingreifenden Paragrafenwerk ein Gesetzentwurf der
Bundesregierung vor.
Es droht der Koalition also erneut eine Peinlichkeit,
vergleichbar dem Streit um das Wahlrecht 2011. Hier
wie dort blockierten sich die Koalitionspartner, anstatt
Lösungen vorzulegen. Hier wie dort versuchen sie auf
den letzten Drücker, ein Gesetzgebungswerk anzustoßen.
Eine aufmerksame und kritische Öffentlichkeit wird
sich des Themas - völlig zu Recht - bemächtigen. Eine
qualifizierte und seriöse Anhörung wird nötig sein; die
Auswertung dieser wird folgen müssen - und schließlich: Auch dieses Mal wird die Koalition wie bei jedem
Sicherheitsgesetz streiten und streiten und streiten.
Dabei läuft der Sand weiter durch die Uhr.
Die SPD-Fraktion weiß um die Erforderlichkeit
eines Gesetzes zur Regelung der Eingriffe in die
Telekommunikationsbeziehungen. Deshalb sagen wir
Zu Protokoll gegebene Reden
Michael Hartmann ({0})
nicht grundsätzlich und von vorneherein Nein zu einer
Neuregelung.
Allerdings verlangen wir solide Beratungen. Und
nicht nur das: Was heute Vorlage ist, wird keinesfalls
unsere Zustimmung erhalten. Denn so sehr, wie das
Bundesverfassungsgericht - übrigens vergleichbar mit
dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung - grundsätzlich Maßnahmen zur Bestandsdatenauskunft bejaht, so
sehr verlangt es saubere und klare Vorschriften. Angesichts der Eingriffstiefe der Maßnahmen ist dies auch
nur zu gut zu verstehen.
Wir wollen weder aufgeregte ideologische Debatten
um den Staat als indiskrete Datenkrake, noch Sicherheitslücken für unsere Bevölkerung. Gemessen an
dieser Vorgabe ist der Entwurf unzureichend. Denn
weder ist die Anzahl der abfragenden Stellen überschaubar, noch wird der Zugriff auf sogenannte
Bestandsdaten, PIN-Nummern und Passwörter sowie
dynamische IP-Adressen auf befriedigende Weise gelöst. Wir werden jedenfalls keiner Regelung zustimmen, die Maßnahmen ohne Richtervorbehalt vorsieht,
keine Benachrichtigungspflichten definiert und die
einschlägigen Delikte nicht begrenzt.
All das sieht der Regierungsentwurf aber vor. Wie
kann das sein? Wo ist da die Stimme von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger? War ihr Haus nicht beteiligt? Oder sind die sonst ach so großen Sorgen und
Bedenken um die Bürgerrechte hier nicht vorhanden?
Fragen über Fragen. Niemand wird sie so recht beantworten können. Bei der inneren Sicherheit ist diese
Regierung ein noch größeres Rätsel als in allen anderen Bereichen. Regierungskunst oder handwerkliche
Gründlichkeit erwartet da ohnehin niemand mehr.
Jedoch haben die Sicherheitsbehörden ebenso wie die
kritische Öffentlichkeit den Anspruch darauf, wenigstens nicht veralbert zu werden.
Wir werden auch bei diesem Gesetz auf Seriosität
und Solidität achten, wie beim Wahlrecht und der Einrichtung einer Datei gegen Rechtsextremisten.
Die Änderung des Telekommunikationsgesetzes und
verschiedener Sicherheitsgesetze des Bundes wie auch
die noch zusätzlich erforderlichen Änderungen, die die
Länder in ihren Sicherheitsgesetzen werden vornehmen müssen, ist notwendig, weil die von Rot-Grün beschlossene Regelung verfassungswidrig war und vom
Bundesverfassungsgericht daher für nichtig erklärt
wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30. Juni 2013 eingeräumt, bis
zu der das alte - verfassungswidrige - Gesetz noch angewandt werden darf.
Nun hat die Bundesregierung einen Entwurf vorgelegt, von dem ich für die FDP-Fraktion schon heute
sagen kann, dass dieser in den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen noch verändert werden
muss. Richtig hat die Bundesregierung erkannt, dass
es nach dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich
verfassungswidrig ist, im Telekommunikationsgesetz,
also einem Gesetz des Bundes, die prozessualen oder
polizeirechtlichen Vorgaben zu verankern, die die
Rechtmäßigkeit des Auskunftverlangens absichern sollen, weil damit gegen das Föderalismusprinzip verstoßen wird. Unter welchen rechtsstaatlichen Voraussetzungen - also beispielsweise Richtervorbehalte - die
Landespolizei auf Bestandsdaten zugreifen darf, muss
im Land geregelt werden.
Für den Bund gilt das aber genauso. Auch hier muss
in den jeweiligen Sicherheitsgesetzen - also im BKAGesetz, im Bundespolizeigesetz, in den Gesetzen der
Nachrichtendienste des Bundes - geregelt werden, ob
und wann auf Bestandsdaten zugegriffen werden darf.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich vorgegeben, dass sich die Abfrage von Bestandsdaten
nicht schlicht auf die polizeilichen Generalklauseln
stützen dürfe.
Hier hat die Bundesregierung Vorschläge unterbreitet, die noch intensiver und gründlicher Prüfung bedürfen, ob und inwieweit hier die verfassungsrechtlichen Vorgaben erfüllt sind. Denn wir sprechen bei der
Bestandsdatenabfrage ja nicht nur von einfachen Bestandsdatenauskünften, wie sie in jedem Telefonbuch
zu finden sind, sondern wir reden auch über grundrechtsintensive Eingriffe wie die Abfrage von Zugangssicherungscodes, sprich PINs, PUKs oder Passwörtern, und nicht zuletzt von der Zuordnung
dynamischer IPs zu einer Person, also einem Eingriff
in den Schutzbereich von Art. 10 Grundgesetz.
Es geht - um das an dieser Stelle einmal deutlich zu
machen - aber nicht, wie verschiedentlich behauptet,
um Telekommunikationsverkehrsdaten oder um Telekommunikationsverbindungsdaten. Es geht um Bestandsdaten, also zum Beispiel: Wer ist Inhaber einer
Telefonnummer? Was derjenige mit der Telefonnummer gemacht hat, also ob er darüber telefoniert hat
oder mit wem oder wie lange, das ist kein Bestandsdatum - und darum auch nicht von dem Gesetz erfasst.
Dennoch reden wir nicht über eine Lappalie. Man
muss das eigentlich nicht noch gesondert sagen, aber
um hier gleich Missverständnissen vorzubeugen: Bestandsdaten genießen selbstverständlich Schutz aufgrund des Grundgesetzes: einmal aufgrund des mit ihrer Erhebung verbundenen Eingriffs in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung oder im Falle der
Erhebung einer Zuordnung einer dynamischen IP des
mit ihrer Erhebung verbundenen Eingriffs in Art. 10
Grundgesetz.
Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist in
allen zu ändernden Sicherheitsgesetzen vorgesehen,
dass die Abfrage von Zugangssicherungscodes nur
dann möglich sein soll, wenn auch deren Nutzung
durch die jeweilige Sicherheitsbehörde rechtmäßig
wäre. Unabhängig davon, dass in aller Regel solche
Daten wie PINs, PUKs oder Passwörter gar nicht abgefragt werden können, weil schon der faktische Zugriff des Providers nicht gegeben ist, muss für alle
Zu Protokoll gegebene Reden
Fälle, in denen ein Zugriff doch faktisch möglich wäre,
also von der Sicherheitsbehörde, die die Daten haben
will, geprüft werden, ob die Voraussetzungen - materiell wie prozessual - erfüllt sind, um diese auch nutzen zu dürfen.
Bräuchte also zum Beispiel das BKA einen Zugangssicherungscode, um eine Telekommunikationsüberwachung durchzuführen, müsste die geplante Telekommunikationsüberwachung rechtmäßig sein. Hier
müsste also zum Beispiel im strafprozessualen Bereich
zuerst einmal eine Straftat aus dem Straftatenkatalog
von § 100 a StPO vorliegen und zudem eine richterliche Genehmigung für die Telekommunikationsüberwachung. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind,
dürfte nach der neu einzufügenden Norm im BKA-Gesetz eine Abfrage beim Provider stattfinden.
In diesem Beispielsfall sind mithin die rechtsstaatlichen Hürden bereits ausgestaltet. Doch die von der
Bundesregierung vorgeschlagene Norm begrenzt die
Abfragebefugnis nicht auf solche Nutzungstatbestände, die mit hohen rechtsstaatlichen Hürden ausgestattet sind. Hier muss also nachgearbeitet werden, um
sicherzustellen, dass für jeden Zugriff auf Zugangssicherungscodes entsprechende rechtsstaatliche Sicherungen vorgesehen sind.
Bei die Abfrage der Zuordnung dynamischer IPAdressen besteht ebenfalls Verbesserungsbedarf. Hier
sprechen wir über einen Eingriff in Art. 10 Grundgesetz, sodass hier Benachrichtigungspflichten das Mindeste sind, was erforderlich ist, um rechtsstaatlichen
Vorgaben zu genügen. Zudem ist ein Eingriff in das Telekommunikationsgrundrecht ohne Richtervorbehalt
ausgesprochen weitgehend und unter dem Gesichtspunkt der rechtsstaatlichen Sicherungen fragwürdig.
Diese Punkte werden im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren zu beraten sein. Die FDPFraktion freut sich auf konstruktive Gespräche mit den
anderen Fraktionen. Es muss dem Bundestag ein Anliegen sein, hier mit der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils in den Sicherheitsgesetzen des
Bundes ein gutes Beispiel zu setzen. Es wäre wünschenswert, wenn diesem dann auch die Länder folgen
könnten; denn die weit überwiegende Zahl der Bestandsdatenabfragen wird von den Landesbehörden
vorgenommen - und diese richten sich nach Landesrecht, welches ja nun auch noch von den Landtagen
anzupassen sein wird.
Wir reden hier heute über die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderungen am Telekommunikationsgesetz, genauer über die Bestandsdatenauskunft. Die Bundesregierung hat diesen Entwurf
vorgelegt, weil sie mal wieder vom Verfassungsgericht
zu einer Korrektur gezwungen worden ist. Das ist ja
mittlerweile zu einer schlechten Tradition der letzten
Bundesregierungen geworden, mit in die Bürgerrechte
eingreifenden Gesetzen bis über die Grenzen des verfassungsmäßig Erlaubten zu gehen, um sich dann vom
Verfassungsgericht in die Schranken weisen zu lassen.
Das sagt dann, was eigentlich verfassungsmäßig
machbar ist und was nicht. So auch in diesem Fall.
Diese Entwicklung halte ich für demokratisch nicht
hinnehmbar, und sie ist ein Missbrauch dieser Institution. Das Bundesverfassungsgericht ist keine ausgelagerte Rechtsabteilung der Bundesregierung, und das
sollte auch respektiert werden.
Klar ist: Eine an den Bürgerrechten orientierte
Politik bräuchte das Bundesverfassungsgericht als
Korrektiv nicht. Nicht alles, was verfassungsrechtlich
erlaubt ist, wenn es wie hier um Überwachungs- und
Kontrollbefugnisse geht, muss man machen. Das
scheinen Union und FDP mal wieder vergessen zu
haben.
Mit dem heute vorliegenden Entwurf will SchwarzGelb die Abfrage von Kundendaten der Telekommunikationsdienstleister durch Sicherheitsbehörden und
Geheimdienste sichern. Es geht zum einen um die Namen und Adressen von Kommunikationsteilnehmern,
zum anderen um Handy-PINs und E-Mail-Passwörter,
oder darum, welche Internetnutzer zu welcher Zeit
eine bestimmte dynamische IP genutzt haben.
Die Verfassungsrichterinnen und -richter haben zu
Recht festgestellt, dass die Behörden nur solche Daten
abfragen sollten, die sie auch verwenden dürfen. Das
ist bei Ihnen in der Bundesregierung offenbar vorher
niemandem aufgefallen. Diese und andere Kritikpunkte haben Sie nun in einem Entwurf auszuräumen
versucht, der so schwammig und intransparent ist, das
es einem nur so graust.
Ein Beispiel: Aus der nun geschaffenen neuen Ermächtigungsgrundlage in § 100 j Strafprozessordnung
geht nicht eindeutig hervor, unter welchen materiellen
Voraussetzungen die Strafverfolgungsbehörden auf
Zugangscodes, wie PIN und PUK bei Handys, zugreifen dürfen. In Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift findet man
nur die Formulierung, dass die Auskunft nur verlangt
werden darf, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen
für die Nutzung der Daten vorliegen. Sehr interessant.
Nachvollziehbar wäre es jetzt gewesen, diese Vorschriften dann auch zu zitieren, wie beispielsweise den
§ 98 Strafprozessordnung beim Code zum Auslesen eines beschlagnahmten Mobiltelefons oder den § 100 a
und b Strafprozessordnung bei Nutzung eines Zugangscodes für eine Onlinedurchsuchung oder zur Überwachung eines noch nicht abgeschlossenen Telekommunikationsvorgangs.
So herrscht weder für den Normanwender und erst
recht nicht für den Normbetroffenen Klarheit. Das
birgt ein enormes Fehler- und Missbrauchspotenzial.
Dasselbe gilt übrigens für die von Schwarz-Gelb hier
vorgeschlagenen Änderungen der Sicherheitsgesetze
und den Gesetzen der Nachrichtendienste: Im neuen
§ 8 d Bundesverfassungsschutzgesetz wird die vom
Bundesverfassungsgericht geforderte konkrete Gefahr
als Voraussetzung für eine Datenabfrage bei den TeleZu Protokoll gegebene Reden
kommunikationsanbietern überhaupt nicht aufgeführt.
Dies ist bei den sensiblen Daten und den intensiven
Grundrechtseingriffen, um die es hier geht, nicht
akzeptabel, schon gar nicht bei einer völlig aus dem
Ruder laufenden Institution wie dem Verfassungsschutz.
Dass die Bundesregierung hier jede Menge Verwirrung stiftet, ist ihr offenbar selber aufgefallen. In § 113
Abs. 5 des Telekommunikationsgesetzes wird geregelt,
dass eine Fachkraft des Telekommunikationsanbieters
die Voraussetzungen für die Herausgabe von Daten
prüfen muss. Also nicht an Gewinnspielanbieter, Privatpersonen oder irgendwen - wir reden hier von
staatlichen Sicherheitsbehörden, die diese Daten haben wollen, die von privaten Unternehmen kontrolliert
werden sollen, ob sie denn das Richtige tun. Als Kunde
finde ich das gut, kein Zweifel, wenn mein Telefonanbieter erst einmal guckt, ob ein Auskunftsersuchen
rechtmäßig ist. Aber für Sie als Bundesregierung ist
das ein Armutszeugnis, weil Sie eingestehen: Ihre Gesetze sind so grenzwertig, so schlecht formuliert und so
wenig nachvollziehbar, dass Sie den eigenen Behörden
nicht zutrauen, danach handeln zu können. Wenn Sie
Fehler und Missbrauch auf so einem sensiblen Gebiet
riskieren - wir sprechen hier immerhin von Eingriffen
in Grundrechte nach Art. 2 und 10 unseres Grundgesetzes -, dann ist das schlichtweg fahrlässig.
Ich komme noch einmal auf die Voraussetzungen
zum Abruf von Bestandsdaten und den Respekt vor den
Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger zurück.
Statt auf die diversen Rechtsgrundlagen von abrufberechtigten Behörden zu verweisen, hätte die Bundesregierung hier auch die Chance gehabt, hohe Hürden
für die Bestandsdatenauskunft zu formulieren. Das
wäre nicht nur transparenter und nachvollziehbarer
gewesen, sondern hätte zum Beispiel verhindert, dass
Sicherheitsbehörden bei geringstem Anlass fleißig
Daten sammeln. Das wäre im Sinne der Bürgerrechte
gewesen. Stattdessen will die Union wieder einmal das
Maximum des verfassungsmäßig Erlaubten herausholen, mit freundlicher Unterstützung der FDP, die
dann eine vom Verfassungsgericht erzwungene
Korrektur als Gewinn für Rechtstaat und Demokratie
zu verkaufen versucht. Das nimmt ihr zum Glück
niemand mehr ab.
Denk ich an das Fernmeldegeheimnis in der Nacht,
so bin ich nicht nur um den Schlaf gebracht, sondern
regelmäßig befällt mich helles Entsetzen angesichts
dieser innen- wie gesellschaftspolitischen Groß-
baustelle. Hier geht es um die Grundlagen unserer
Demokratie. Eines der Merkmale, das demokratische
Systeme von autoritären und totalitären Systemen un-
terscheidet, ist der effektive Schutz verfassungsrecht-
lich garantierter Bürger- und Freiheitsrechte. Hierzu
zählt auch die Verlässlichkeit der Vertraulichkeit der
Kommunikation, die sich heute so stark wie niemals
zuvor über die neuen Medien vollzieht.
Der Schutz der Kommunikation vor willkürlicher
Erfassung durch den Staat, zum Beispiel durch eine
anlasslose Vorratsdatenspeicherung oder einen ver-
fassungsrechtlich höchst fragwürdigen Einsatz der
Onlinedurchsuchung, aber eben auch durch eine weit-
gehende Erfassung vertraulicher Kommunikation
durch privatwirtschaftliche Unternehmen, ist und
bleibt aus bürgerrechtlicher Sicht eine unserer ele-
mentarsten Aufgaben. Das haben auch die insbeson-
dere im Bundesland Sachsen, aber auch andernorts
um sich greifenden massenhaften, ja millionenfachen
Funkzellenüberwachungen, also das Erfassen von
Handystandortdaten in Ermittlungsfällen von allen-
falls mittlerer Kriminalität, einmal mehr gezeigt.
Aber auch angesichts der durch diese Bundesregie-
rung weitgehend verschleppten und bis heute nicht
möglichen Aufklärung des Trojanerskandals, der ein
erschreckendes Ausmaß an Naivität und hemdsärmeli-
ger Gleichgültigkeit aufseiten der Sicherheitsbehörden
im staatlichen Umgang mit hochkomplexer Schad-
software zur Quellentelekommunikationsüberwachung
und Onlinedurchsuchung offenbart hat, stellen sich
weiterhin zahlreiche drängende Fragen: Was können
die von Sicherheitsbehörden eingesetzten Programme
tatsächlich? Wurden die sogenannten Nachladefunkti-
onen tatsächlich nur genutzt, um auf Softwareupdates
auf Zielcomputern reagieren zu können? Warum hat
man entsprechende Programme eingesetzt, ohne einen
Einblick in den Quellcode zu nehmen, wodurch die
Überprüfung der Einhaltung äußerst enger gerichtli-
cher und verfassungsrechtlicher Vorgaben gar nicht
möglich war und bis heute nicht möglich ist? Woran
liegt es wohl, dass sich das Bundeskriminalamt bis
heute nicht in der Lage sieht, entsprechende
Programme selbst zu bauen? Wie kann es sein, dass
stattdessen Programme von Anbietern gekauft werden,
von denen wir zweifelsfrei Wissen, dass sie die - wohl-
gemerkt, mit öffentlichen Mitteln entwickelten - Pro-
gramme ohne Hemmungen weiter in alle Welt verkau-
fen und dabei auch nicht eine Zusammenarbeit mit
Despoten scheuen?
Dass sich einerseits Bundeskanzlerin Merkel und
Außenminister Westerwelle öffentlich hinstellen und
die demokratisierende Wirkung der neuen Medien als
ihren Verdienst verkaufen, andererseits aber zusehen,
wie entsprechende Programme in autoritären Staaten
dazu genutzt werden, oppositionellen und demokrati-
schen Protest zu unterbinden und Menschen zu verfol-
gen, zu inhaftieren und zu unterdrücken, spricht schon
für sich. Dass diese Bundesregierung wiederholt eine
bessere Kontrolle der Ausfuhr entsprechender
Programme mit Hinweis auf bürokratische Hürden zu
verhindern versucht hat, ebenso. Dass nun aber, wo
man aufgrund höchster verfassungsrechtlicher Hürden
selbst an der Programmierung solcher grundsätzlich
fragwürdigen Programme scheitert, erneut und weiter-
hin ohne Kenntnis des Quellcodes auf die Programme
Zu Protokoll gegebene Reden
ebendieser Hersteller zurückgreifen will, um die ei-
gene Bevölkerung zu überwachen, setzt dem ganzen
die Krone auf.
Schließlich möchte ich in diesem Zusammenhang
auch die Vorratsdatenspeicherung nicht unerwähnt
lassen. Sie hängt weiter wie ein Damoklesschwert über
den Kommunikationsfreiheiten der Bürgerinnen und
Bürger. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, Sie
lassen ja weiter keine Gelegenheit aus, um populis-
tisch die sofortige Wiedereinführung dieses höchst um-
strittenen Instruments zu fordern. Sie tun dies trotz der
Tatsache, dass längst nachgewiesen ist, dass der Effekt
für die Strafverfolgung hart gegen null geht, es sich
nach höchster bundesdeutscher Rechtsprechung
gleichzeitig aber um einen „besonders schweren Ein-
griff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung
bisher nicht kennt“, handelt und die bloße Existenz
einer Vorratsdatenspeicherung bereits ein „diffus
bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorru-
fen“ und eine „unbefangene Wahrnehmung der Grund-
rechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ kann.
Auch die EU-Kommission verhedderte sich an die-
sem Thema leider in höchst peinliche Widersprüche
beim Versuch, die vermeintlichen Erfolge dieser Maß-
nahme nachzuweisen. Jetzt hat man das Problem ver-
tagt, und wir müssen auf ein kluges Urteil des EuGH
zu diesem Instrument der Totalerfassung warten. Die
Chance, für die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger und gegen eine Neuauflage der Vorratsdaten-
speicherung in Brüssel zu streiten, haben Sie, obwohl
wir Sie hierzu in einem Antrag explizit aufgefordert
haben, vertan.
Mit Vorratsdatenspeicherung, Funkzellenüberwa-
chung und Onlinedurchsuchung habe ich gleichsam
nur die Oberfläche, also das vom tagespolitischen mit-
erfasste Geschehen im Drama um den anhaltenden
Grundrechteabbau beim Telekommunikationsgeheim-
nis, beschrieben. Dabei beschäftigt uns die Gesamt-
frage doch bereits seit Jahren: Wie können wir es im
Digitalzeitalter angesichts einer proliferierenden Viel-
falt von Kommunikationsmöglichkeiten wie E-Mail,
Chat, sozialen Netzwerken usw., aber auch angesichts
neuer Erhebungsformen sowie mittelbarer Aus-
tauschmöglichkeiten via Cloud Computing, Internet
usw. sicherstellen, dass ein zeitgemäßer und wirksa-
mer Grundrechtsschutz rund um die Nutzung all dieser
neuen Formen erhalten bleibt? Es wäre Ihre Aufgabe,
sich endlich dieser Frage mit aller Entschlossenheit
zuzuwenden. Sie tun es nicht. Stattdessen hintertreiben
Sie die dringend benötigte EU-Datenschutzreform und
helfen denen, die den Grundrechtsschutz der Bürgerin-
nen und Bürger - statt gestärkt - lieber weiter abge-
baut sehen würden.
Wir Grünen sind fest davon überzeugt, dass wir die
Freiheit der Kommunikation nur durch ein ganzes
Bündel von Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen
werden erhalten können. Man wird deshalb um eine
Erweiterung des Grundgesetzes nicht herumkommen.
Dabei sollte an einer Fortentwicklung des Fernmelde-
geheimnisses hin zu einem übergreifenden Telekommu-
nikations- und Mediennutzungsgeheimnis gearbeitet
werden. Wir werden auch nicht umhin können, die ins-
besondere im zurückliegenden Jahrzehnt - ja, leider
zum Teil auch schon unter Rot-Grün - durchgeführten
Ausweitungen der Aufgaben und Befugnisse von
Sicherheitbehörden ernsthaft auf den Prüfstand zu
stellen. Bis heute fehlen die in den einschlägigen Ge-
setzen festgehaltenen Evaluationen. Darauf hat auch
gerade der Bundebeauftragte für den Datenschutz,
Peter Schaar, noch einmal nachdrücklich hingewiesen.
Weitere offenkundige Baustellen, wie etwa die nach
wie vor offene Frage eines wirksamen Kernbereichs-
schutzes bei Telekommunikationsüberwachungen,
oder die nach gesetzgeberischer Klarstellung rufende
Abgrenzung der Reichweite von Art. 10 GG im
Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG im Falle der E-Mail-
Überwachung, ließen sich aufzählen, und die Reihe
ließe sich mühelos fortsetzen. Was, frage ich mich, hat
die ehemalige Bürgerrechtspartei FDP und ihre Vor-
zeigeministerin im Justizministerium angesichts dieser
Entwicklung in den letzten Jahren getan?
Dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Neurege-
lung des Bestandsdatenzugriffes merkt man die
beschriebenen Umbrüche und den fundamentalen
Wandel jedenfalls nicht an. Im Gegenteil: Die Bundes-
regierung liefert eine wachsweiche, ja nahezu ignorant
indifferente Umsetzung der Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichtsurteils vom Januar vergangen Jahres
zur Bestandsdatenerfassung. Zum Teil mag das dem
Urteil des Gerichts selbst zuzuschreiben sein. Denn es
hat sich teilweise wenig klar ausgedrückt und insge-
samt weniger Leidenschaft für die Grundrechte zum
Ausdruck gebracht, als es die dahinterliegenden Fra-
gen wohl erforderlich gemacht oder wir es uns zumin-
dest erhofft hätten.
So erweckt der Gesetzentwurf der Bundesregierung
den Eindruck, dass es sich beim Schutz von Bestands-
daten um eine Art „kleiner Münze“ des Verfassungs-
rechts handelte. Diesen Eindruck mag vielleicht ge-
winnen, wer allein die klassische Trias von
Inhaltsdaten, Verkehrsdaten und Bestandsdaten vor
Augen hat. Lediglich die Inhaltsdaten und Verkehrsda-
ten genießen nach der Rechtsprechung die hohen
Schutzschwellen des Fernmeldegeheimnisses, wäh-
rend die Bestandsdaten „nur“ dem Schutz durch das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung unterfal-
len. Diese seien von geringer Aussagekraft und des-
halb weniger schützenswert, weil zumeist bloße
Adressdaten.
Doch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu
den Bestandsdaten zeigt selbst auf, dass diese „heile
Welt“ der drei Schutzstufen heute kaum mehr trägt.
Das Gericht verdeutlicht selbst, dass auch Bestands-
daten dann dem Schutz von Art. 10 GG unterfallen
können, wenn für deren Ermittlung zwingend zuerst
auf dynamische IP-Adressdaten zurückgegriffen
werden muss, und zum anderen betont es die Veränder-
lichkeit seiner Gesamtbewertung für die Zukunft ange-
Zu Protokoll gegebene Reden
sichts der Entwicklung des neuen Adressvergabestan-
dards Ipv6. Denn in dem Maße, wie statische
Adressvergaben üblich werden, wird mit dem Zugriff
auf das vermeintliche Bestandsdatum auch der ge-
samte Verkehrdsdatenkontext einer Person erschließ-
bar. Wann aber ist rein faktisch quantitativ die
Schwelle überschritten, bei der der Gesetzgeber schüt-
zend einschreiten soll?
Einen dritten problematischen Fall benennt das
Gericht mit den Zugangssicherungscodes wie Pass-
wörtern, PINs oder PUKs. Hier kommt das Gericht
ebenfalls zum Ergebnis, dass zusätzlicher Schutz vor
behördlichen Zugriffen angezeigt ist. Eine Beauskunf-
tung auf Vorrat scheidet aus, konkrete Voraussetzun-
gen für einen jeweiligen Zugriff müssen vorliegen.
Der Koalitionsentwurf bleibt auf diese grundrecht-
lichen Probleme bedauerlicherweise alle Antworten
schuldig. Insbesondere fehlt es an einer differenzieren-
den Regelung zwischen reinen Bestandsdatenzugriffen
und solchen, bei denen auf nach Art. 10 GG geschützte
Daten zugegriffen werden muss. Das Mindeste wären
engere Zugriffsvoraussetzungen und die Benachrichti-
gungspflicht gegenüber den Betroffenen. Der Zugriff
nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz auf diese Da-
ten dürfte unverhältnismäßig und deshalb auszuschlie-
ßen sein.
Ebenfalls untragbar erscheint die Regelung für Zu-
griffe auf Zugangssicherungscodes, weil hier gegen
die gleichwohl etwas schräg formulierten Anforderun-
gen des Bundesverfassungsgerichts geregelt wurde.
Angesichts der sich eröffnenden umfassenden Zugriffs-
möglichkeit durch Kenntnis dieser Daten braucht es
eine normenklare und hinreichend bestimmte Formu-
lierung, die fachgesetzlich eine Rückbindung an einen
konkreten Tatverdacht oder eine konkrete Gefahr zum
Zeitpunkt der Anfrage sicherstellt. Hier sollte auch
über den Richtervorbehalt nachgedacht werden. Auch
an einer Benachrichtigungspflicht darf es dann nicht
fehlen. Generell sollte eine Beauskunftung nach § 113
Abs. 1 Satz 1 TKG nur für den Einzelfall zugelassen
werden, um den entsprechenden konkreten Maßgaben
des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil ange-
messen Rechnung zu tragen.
Aus Anlass einer Bestandsdatenzugriffsregelung
sollten bereits jetzt die Empfehlungen des deutschen
Ipv6-Rates sowie die Entschließungen nationaler wie
auch internationaler Datenschutzkonferenzen beachtet
werden. Ziel muss es unter anderem sein, die Endnut-
zer über die Möglichkeiten von Ipv6 aufzuklären und
ihnen die Wahl zu belassen, ob sie statisch oder dyna-
misch unterwegs sein wollen. Gerätehersteller sollten
die Privacy Extensions bei Endkundengeräten stan-
dardmäßig aktivieren und dazu gesetzlich verpflichtet
werden.
Ebenfalls anlässlich dieser Regelung sollte erneut
geprüft werden, auf welche Weise der Gesetzgeber si-
cherstellen kann, dass die Speicherdauer von IP-Daten
zu den unterschiedlichen bislang anerkannten unter-
nehmerischen Zwecken auf das absolut Erforderliche
beschränkt werden kann. Wie stets sollte in diesem
grundrechtssensiblen Bereich per Statistik die Abfra-
gerealität der Behörden differenziert erfasst und eine
Evaluation der Neuregelung angestrebt werden.
Lassen Sie mich noch sagen, dass ich es außeror-
dentlich bedauere, dass einzelne Innenministerien aus
Anlass dieses Entwurfes über den Bundesrat versu-
chen, eine Verschärfung dahin gehend zu bewirken,
dass durch die Hintertür eine Identifizierungspflicht
für Prepaid-Kunden geschaffen werden soll. Dieser
Streit begleitet uns nun seit gut 20 Jahren, und Neues
wurde auch diesmal nicht vorgetragen. Es ist meine
Grundüberzeugung, dass sich weder damit noch mit
einem allgemeinen Namenszwang die realen Risiken
als auch fantasierten Risiken der TK-Nutzung bekämp-
fen lassen. Vielmehr würde ein Stück selbstverständli-
che Freiheit, wie sie uns aus dem analogen Leben so
geläufig ist, für immer verloren gehen, nämlich die un-
befangene Nutzung des Kommunikationsraums TK und
des Internets.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle doch abschließend
bei aller notwendigen Kritik auch ein kleines Lob an
die Bundesregierung im Detail. Zutreffenderweise
sieht Ihr Entwurf in § 113 Abs. 5 eine formelle Prüf-
pflicht der Provider im Hinblick auf Anfragen vor. Im
Aufsichtsbereich sowie im Schrifttum wird dies bereits
länger vertreten, um die teilweise erschreckende
Realität unzulänglicher behördlicher Anfragen - oft
per E-Mail, ohne Unterschrift etc. - eindämmen zu
können. Meine Fraktion und ich freuen uns auf die
weiteren intensiven Beratungen dieser Initiative in den
Fachausschüssen und die Plenardebatte zur zweiten
und dritten Lesung, der Sie angesichts der Bedeutung
des Themas sicherlich einen prominenten Platz auf der
Tagesordnung einräumen werden.
Mit dem Gesetzentwurf zur Bestandsdatenauskunft
setzen wir die Anforderungen um, die das Bundes-
verfassungsgericht im letzten Jahr für die manuelle
Bestandsdatenauskunft nach § 113 TKG angemahnt
hatte.
Am Anfang von Ermittlungen steht oftmals nur eine
Telefonnummer oder E-Mail-Adresse eines Verdächti-
gen, eines Zeugen oder einer hilfsbedürftigen Person.
Ist aufgrund eines Hinweises oder einer Anzeige eine
sogenannte Anschlusskennung bekannt, so darf die
Polizei erfragen, wem dieser Anschluss gehört. Dabei
geht es um sehr unterschiedliche Fälle, zum Beispiel
um eine Bombendrohung zurückzuverfolgen oder,
weitaus häufiger, einen angekündigten Suizid zu ver-
hindern.
Die entsprechende Befugnis ist bisher im TKG in
den §§ 112 und 113 geregelt. Das Bundesverfassungs-
gericht hat diese Regelung im Grundsatz für verfas-
sungsrechtlich unbedenklich befunden. Gleichwohl hat
das Gericht drei Änderungen der sogenannten manu-
Zu Protokoll gegebene Reden
ellen Bestandsdatenauskunft nach § 113 TKG ange-
mahnt, die eher formelle Aspekte betreffen und die mit
dem heute zu beratenden Gesetzentwurf neu geregelt
werden sollen.
Erstens. Nach dem vom BVerfG entwickelten Dop-
peltürenmodell kann im TKG nur die Befugnis bzw.
Verpflichtung der Provider, die Auskunft zu erteilen,
geregelt werden. Die Befugnis für die Behörden, die
Auskunft auch zu verlangen, muss in allen Fachgeset-
zen ausdrücklich geregelt werden. Dies hat das BVerfG
besonders hervorgehoben. Denn der Bundesgesetz-
geber hat keine Kompetenz, im TKG auch die Befugnis
für Landesbehörden vorzusehen, über Bestandsdaten
Auskunft zu verlangen.
Dabei genügen die allgemeinen Datenerhebungs-
vorschriften nach dem Beschluss des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht; vielmehr muss sich die Befugnis
ausdrücklich auf die Erhebung von Bestandsdaten im
Sinne des § 113 TKG beziehen.
Zweitens. Anders als Telefonnummern werden IP-
Adressen in den meisten Fällen nicht fest einem Kun-
den zugeordnet, sondern bei jeder Einwahl neu verge-
ben; wir sprechen von sogenannten dynamischen IP-
Adressen. Die Bestandsdaten, also Name und An-
schrift des Inhabers solch einer dynamisch vergebenen
IP-Adresse, kann ein Provider daher nur beauskunf-
ten, wenn er die bei ihm anfallenden Verkehrsdaten
einsieht. Das Gesetz wird daher klarer als bislang re-
geln, dass und unter welchen Umständen ein Provider
dies darf. Da die Verkehrsdaten dem Schutz des Tele-
kommunikationsgeheimnisses aus Art. 10 GG unterfal-
len, muss auch das grundgesetzliche Zitiergebot be-
achtet werden - auch wenn die staatliche Stelle selbst
keine Verkehrsdaten erhält.
Drittens. Auf Zugangssicherungscodes wie Pass-
wörter und PINs darf nach dem Beschluss des Bundes-
verfassungsgerichts nur dann zugegriffen werden,
wenn auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Be-
schlagnahme der durch sie geschützten Daten vorlie-
gen. Wenn die Behörde auf die geschützten Daten oh-
nehin nicht zugreifen dürfte, benötigt sie natürlich
auch nicht die entsprechende PIN. Wenn durch einen
Zugangssicherungscode auch der Zugriff auf sensiblere
Daten geschützt wird, müssen auch die entsprechend
höheren Zugriffsvoraussetzungen für diese Daten er-
füllt werden.
Zugangssicherungscodes wie Passwörter und PINs
gehören dabei nur dann zu den Bestandsdaten, wenn
der Provider auch tatsächlich über diese verfügt. In
der Praxis ist dies in erster Linie bei PIN und PUK der
Handy-SIM-Karte der Fall. Andere Passwörter, die
der Kunde selbst festlegen kann, werden nicht vom
Provider vorgehalten und sind daher von der Regelung
auch nicht umfasst.
Diese drei Punkte sollen nach dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung einerseits in § 113 TKG, ande-
rerseits in den jeweiligen Fachgesetzen geregelt wer-
den. § 113 TKG schafft dabei die Befugnis der Provider,
die entsprechende Auskunft zu erteilen. Zudem enthält
§ 113 TKG die verfahrensrechtlichen Rahmenbedin-
gungen für die Auskunftserteilung: Die Auskunft ist
aufgrund einer Anfrage in Textform unverzüglich,
richtig und vollständig zu erteilen.
Für die Befugnisse der zuständigen Behörden, eine
solche Auskunft zu verlangen, dient die Vorschrift des
neu eingeführten § 100 j StPO als „Muster“, das in den
jeweiligen Fachgesetzen der Polizei- und Sicherheits-
behörden des Bundes nachgebildet wird. § 100 j StPO
normiert entsprechend dem vom Bundesverfassungs-
gericht vorgegebenen Dreiklang die „normale“ Be-
standsdatenauskunft, die Bestandsdatenauskunft zu
IP-Adressen und die Beauskunftung von Zugangs-
sicherungscodes für Zwecke der Strafverfolgung.
Mit diesem Gesetzentwurf werden weder neue Be-
fugnisse für Strafverfolgungs- oder Sicherheitsbehör-
den geschaffen noch der Kreis der zugriffsberechtigten
Behörden erweitert. Wir beschränken uns vielmehr auf
die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungs-
gerichts. Das kann der Bund allerdings nicht allein.
Wir können nur die Vorschriften regeln, für die der
Bund die Gesetzgebungskompetenz hat.
Damit die Bestandsdatenauskunft auch für die nach
dem bisherigen § 113 TKG befugten Landesbehörden,
die keine Strafverfolgungsbehörden sind, Bestand hat,
müssen die entsprechenden Landesgesetze, insbeson-
dere die Polizeigesetze der Länder, auch angepasst
werden, sofern sie nicht schon ausdrücklich auf Be-
standsdaten bezogene und den Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts genügende Befugnisnormen ent-
halten.
Ich möchte daher mit einem Appell schließen, bei
dieser zwar eher kleinen, aber dennoch für die öffent-
liche Sicherheit in Deutschland äußerst wichtigen An-
gelegenheit zügig zu einem Ergebnis zu kommen. Denn
die bisher geltenden Regelungen sind nach dem Be-
schluss des Bundesverfassungsgerichts nur noch bis
zum 30. Juni 2013 anwendbar. Bis dahin müssen so-
wohl diese Novelle als auch die vermutlich in den Lan-
desgesetzen erforderlich werdenden Änderungen in
Kraft treten.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12034 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Förderung des ökologischen Landbaus Wachstumspotentiale in Deutschland für deutsche Produzenten erschließen
- Drucksache 17/10862 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft stärken
- Drucksachen 17/7186, 17/8954 Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Georg von der MarwitzHeinz PaulaDr. Christel Happach-KasanAlexander SüßmairCornelia Behm
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll genommen.
Ökologischer Landbau ist zweifelsohne eine nachhaltige und umweltschonende Form der Landwirtschaft. Die Opposition zitiert in ihrem Antrag den Indikatorenbericht 2012 des Statistischen Bundesamtes
zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland: „Ökologischer Landbau ist besonders auf Nachhaltigkeit
ausgelegt. Er erhält und schont die natürlichen Ressourcen in besonderem Maße, hat vielfältige positive
Auswirkungen auf Natur und Umwelt …“ Richtige
Punkte, die ich genauso sehe, allerdings verschweigen
Sie das Ende des Absatzes: „Ökonomisch betrachtet
werden die geringeren Produktionsmengen je Flächeneinheit teilweise durch höhere Preise für Ökoprodukte und durch Agrarumweltzahlungen aufgefangen.“
Der Anteil ökologisch bewirtschafteter Fläche ist
von 1994 bis 2010 von 1,6 Prozent auf 5,9 Prozent gestiegen. Das Ziel, 20 Prozent der landwirtschaftlichen
Nutzfläche auf Ökolandbau umzustellen, so wie es in
der Nachhaltigkeitsstrategie formuliert wurde, liegt in
weiter Ferne. Es ist unrealistisch, den Ökoanteil in den
verbleibenden sieben Jahren zu verdreifachen.
Aus der Nachhaltigkeitsstrategie ziehe ich andere
Schlüsse und Handlungsalternativen als die Oppositionsparteien. Ist es nötig und sinnvoll, eine dynamisch
verlaufende Entwicklung im Ökolandbau so zu intensivieren, dass das Ziel im Jahr 2020 erreicht wird? Wir
müssen uns bewusst sein, dass solche Zielvorgaben
nur durch ein Mehr an staatlicher Subventionierung
machbar wären und diese vor allem wettbewerbsverzerrend wirken. Subventionierung entkräftet die
marktwirtschaftlichen Mechanismen auf dem europäischen- und auf dem Weltmarkt. Der grenzübergreifende Handel ermöglicht es uns, Ökoprodukte kostengünstiger aus anderen Ländern zu importieren und
heimischen Verbrauchern die Produkte zu günstigeren
Preisen anzubieten. Eine fortlaufende Subventionierung schafft keine nachhaltige Selbstständigkeit, auch
nicht in der Ökobranche. Ganz im Gegenteil, es werden Abhängigkeiten geschaffen, die zu ineffizienter
und subventionsoptimierter Wirtschaftsweise führen.
Vor zwei Wochen war ich mir mit manch einem aus
den Reihen der Opposition einig, dass pauschale Direktzahlungen in der ersten Säule nicht das Mittel der
Wahl für eine zukunftsorientierte EU-Agrarpolitik sein
können. Der aktuelle Antrag der SPD fordert „eine
Verstetigung und die Attraktivität der Umstellungsprämien von konventioneller zu ökologischer Landwirtschaft sicherzustellen“. Mit ihrem Antrag wird zum einen der Abbau von Subventionen konterkariert; zum
anderen gibt sich die SPD der populistischen Positionierung der Grünen hin, Ökoproduktion sei die einzig
zukunftsfähige Form der Landwirtschaft. Eine solche
Stigmatisierung des konventionellen Landbaus ist
nicht hinnehmbar, insbesondere vor dem Hintergrund
der hohen Produktionsstandards in Deutschland.
Auch wenn die Verbraucher zunehmend ökologische
Produkte nachfragen: Die bescheidenen Zahlen sprechen für sich. Der Anteil von Ökoprodukten am deutschen Lebensmittelmarkt lag 2011 laut der Statistik des
Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft, BÖLW,
bei lediglich 3,7 Prozent.
Das subventionsinduzierte Wachstum ist in Brandenburg bereits an seine Grenzen gestoßen. In Brandenburg werden über 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche ökologisch bewirtschaftet. Es ist damit
das Bundesland mit dem größten Anteil an Ökoflächen
in Deutschland. Dennoch hat Brandenburg die Umstellungsförderung gestoppt. Es konnte die Kofinanzierung nicht mehr aufbringen. Die fallenden Preise für
Ökorohware haben die Ertragskraft vieler Betriebe
nachhaltig geschwächt.
Viel wichtiger als die Förderung des ökologischen
Landbaus wäre es, regionale Veredelungs- und Vermarktungsstrukturen aufzubauen, um die heimisch
produzierten Produkte auch für den Verbraucher, zum
Beispiel in Berlin, nutzbar zu machen. Der Faktor
„Regionalität der Agrarprodukte“ ist in Bezug auf
Umwelt- und Verbraucherinteressen gewichtiger als
die Frage nach ökologischer oder konventioneller
Produktion. Viele Produkte sind lediglich für den Export bestimmt, eine Veredlung vor Ort findet selten
statt und der Bedarf im Ballungsraum Berlin wird
durch Produzenten von außerhalb bedient. Die großen
Ökostrukturen Brandenburgs gleichen sich den Handels- und Vermarktungswegen der konventionellen
Landwirtschaft an. Am Ende muss man sich fragen, ob
eine bedingungslose Ökoförderung wirklich nachhaltige und lokale Strukturen begünstigt.
Im Rahmen der zweiten Säule der EU-Agrarpolitik
halte ich eine Umstellungsförderung zugunsten des
Ökolandbaus als Anreizsystem für gerechtfertigt. Des
Weiteren sollten die Vorzüge des Ökolandbaus an
sensiblen Umweltstandorten honoriert werden. Die
wissenschaftsbasierte Forschung in der ökologischen
Produktion ist zu unterstützen, um die Effizienz und
Produktivität zu erhöhen. Insoweit teile ich die Meinung der SPD. Eine bevorzugte Dauerförderung allerdings lehne ich ab.
Der Ökolandbau ist eine wichtige Säule der Agrarwirtschaft, aber nicht die einzige. Deshalb versuche
ich, einen Weg der Gemeinsamkeiten zu suchen, und
vermeide, die eine Form der Bewirtschaftung gegen
die andere auszuspielen. Fehlentwicklungen gilt es allerdings zu erkennen und zu benennen. Bioprodukte
müssen sich über kurz oder lang am Markt behaupten.
Dabei gilt es, solche Strukturen zu fördern, die den
Ökolandbau aus eigenem Antrieb als rentable Wirtschaftsform für sich entdecken. Die Diskussion um die
GAP-Reform bietet eine Plattform, den neuen Förderzeitraum von 2014 bis 2020 zu nutzen, um die Landwirtschaftsbetriebe zu fördern und zu fordern, die den
größtmöglichen volkswirtschaftlichen Nutzen garantieren. Meiner Meinung nach sind das die regionalen
Landwirte, die in ihrer Heimat verwurzelt sind, die, ob
ökologisch oder konventionell wirtschaftend, verantwortungsbewusst im Stall und auf dem Feld ihre Höfe
generationsübergreifend führen. Diese Betriebe müssen wir im nächsten Förderzeitraum im Fokus haben.
Allerdings muss die Zeit genutzt werden, um Betriebe vom Subventionstropf der ersten Säule unabhängig zu machen. Die zweite Säule wird auch weiterhin für die strukturschwachen und benachteiligten
Regionen unseres Landes gebraucht werden. Von diesen Förderungen können gerade die Betriebe auf
Grenzstandorten profitieren, die ihre Erträge durch
zusätzliche Leistungen für die Gesellschaft sichern. Da
sehe auch ich eine Möglichkeit, den Ökolandbau regional zu fördern.
Manche Zeitenwende kann man spüren. Vor wenigen Wochen gingen über 25 000 Menschen in Berlin
auf die Straßen. Unter dem Motto „Wir haben Agrarindustrie satt!“ sprechen sie aus, was viele in unserem
Land denken: Wir brauchen ökologische und soziale
Reformen in der Landwirtschaft.
Wir reden dabei nicht über ein gesellschaftliches
Randphänomen vermeintlich naiver Großstädter, die
noch nie einen Stall von innen gesehen haben, wie es
so oft vonseiten der Union und der FDP spöttisch
dargestellt wird. Es geht vielmehr um die Mitte der Gesellschaft. Bürger, Familien, Anwohner, Landwirte,
Kommunalvertreter, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen - sie haben erkannt: So kann es nicht weitergehen.
Die derzeitige Form der landwirtschaftlichen Intensivtierhaltung geht auf Kosten ökologischer, sozialer
und ethischer Aspekte. Sie führt zu immensen Problemen vom Tier- und Artenschutz, über Antibiotikamissbrauch bis hin zum Klimawandel. Insbesondere in den
Zentren der intensiven Tierhaltung befürchten die
Menschen gesundheitliche Schäden und negative Auswirkungen auf den Boden und das Grundwasser. Millionen von Tieren werden weiterhin gequält, auf viel zu
engem Raum gehalten, tagelang durch Deutschland
gekarrt. Es werden weiterhin millionenfach Schnäbel
gekürzt, Hörner geschliffen und Ferkel betäubungslos
kastriert. In deutschen Schlachthöfen herrschen weiterhin verheerende Zustände für Mensch und Tier.
Deutschland verkommt zum Billigland für Schlachtungen und Fleischproduktion. Der bäuerliche Mittelstand
und über Jahrhunderte gewachsene landwirtschaftliche Strukturen werden verdrängt. Auch in Bayern und
gerade in den ländlichen Regionen betrifft uns das unmittelbar. Man kann wie die Regierungskoalition die
Augen davor schließen und sie als reines Akzeptanzproblem abtun, oder aber man tut etwas dagegen.
Denn so kann es nicht weitergehen.
Der ökologische Landbau ist Teil der erwähnten
Wende der Ernährungswirtschaft, die unser Land erfasst. Er kann einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die genannten Probleme zu lösen. Das sehen nicht
nur die SPD-Bundestagsfraktion, sondern auch die
Autoren des Weltagrarberichts so. Ökologische Landwirtschaft nimmt eine bedeutende Rolle ein, die drängenden Herausforderungen in der Landwirtschafts-,
Umwelt- und Ernährungspolitik zu meistern. Sie ist
seit mehr als 20 Jahren ein Erfolgsmodell und hat sich
gerade in dieser Zeit als krisenfeste betriebswirtschaftliche Alternative zur konventionellen Landwirtschaft entwickelt. Sie schützt und bewahrt gesellschaftlich bedeutsame Güter, leistet einen wichtigen Beitrag
zum Klima- und Artenschutz und trägt insbesondere
zur Erhaltung der Boden- und Wasserqualität bei.
Auch vom Arbeitsmarkt sind die ökologische Landwirtschaft und die ökologische Lebensmittelwirtschaft
nicht mehr wegzudenken. Insgesamt sind in der deutschen Biobranche knapp 180 000 Menschen vor allem
in den ländlichen Regionen beschäftigt. Das alles
müssen auch vonseiten der Politik endlich alle anerkennen. Die Potenziale müssen endlich weiter ausgeschöpft und die Leistungen der Biolandwirte verlässlich honoriert werden. Wir müssen den Ökolandbau
stützen und fördern.
Bisher hat sich Deutschland mit seiner nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie nur hehre Ziele gesetzt. So
legt der Nachhaltigkeitsindikator für ökologische
Landwirtschaft fest, dass 20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche in den nächsten Jahren
ökologisch bewirtschaftet werden sollen. Auch wenn
diese Maßgabe auf den ersten Blick sehr bodenständig
wirkt, zumal noch nicht einmal ein Zieldatum definiert
ist, sind wir immer noch weit von ihrer Verwirklichung
entfernt. Denn trotz der jährlichen Zuwächse für den
ökologischen Landbau wurden im Jahr 2011 nur magere 6,1 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche tatsächlich ökologisch genutzt.
Doch statt nun zu sagen: „Dann muss eben mehr für
den Biolandbau getan werden“, greift man tief in die
Zu Protokoll gegebene Reden
statistische Trickkiste. So verzögert die schwarz-gelbe
Bundesregierung den Ausbau weiter, indem sie ohne
Grund das Bundesprogramm Ökologischer Landbau
auf andere Formen Landwirtschaft erweitert und damit die ursprüngliche Zweckbestimmung konterkariert.
Gerade hier wird deutlich: Dieser Bundesregierung
fehlt eine einheitliche und auf Dauer angelegte systematische Zielförderung der ökologischen Landwirtschaft. Bisher gibt es ein unkoordiniertes Nebeneinander von Direktzahlungen aus Brüssel und freiwillige
Agrarumweltmaßnahmen auf Länderebene. Obwohl
viele punktuelle Initiativen zeigen, wie sich Landwirtschaft mit Klima-, Natur-, Arten- und vor allem
Tierschutz unter wirtschaftlichen Maßgaben zusammenbringen lässt, vermisst man bei dieser Bundesregierung jede Strategie, damit mehr Landwirte auf
ökologische Produktionsweisen umstellen.
Nicht erst seit 2010 zeichnet sich stets dasselbe
Schema ab: Bundesministerin Aigner verkündet treuherzig Verbesserungen, kürzt hinterrücks dann aber
die Mittel. Ich möchte daran erinnern, dass die jetzige
Bundesregierung noch 2010 rigoros Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 3,3 Millionen Euro für den
Ökolandbau gestrichen hat. Statt in langfristige, notwendige Projekte floss das Geld in die Exportförderung für die Überproduktion in der Intensivlandwirtschaft.
Es reicht auch nicht, wenn Bundesministerin Aigner
noch vor wenigen Wochen Investitionsförderung für
Stallbauten mit besonders artgerechter Tierhaltung
ankündigt, dann aber bei den entsprechenden Verhandlungen zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ kein Wort
dazu verliert und die Finanzmittel bis zur Unkenntlichkeit kürzt. Es reicht ebenso nicht, dass hier und da
neue Regionallabels oder Onlineportale eingeführt
werden.
Um wirklich etwas zu bewegen, könnte beispielsweise ganz konkret in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie das Ziel zur Umstellung auf Ökolandbau auf
20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche bis
zum Jahr 2020 festlegt werden. Ebenso ließe sich das
öffentliche Beschaffungsprogramm zur Förderung
ökologischer Landwirtschaft nutzen. Wir müssen auch
endlich die sozialen Aspekte der Landwirtschaft erkennen und dementsprechend handeln: Lassen Sie uns einen flächendeckenden Mindestlohn festlegen.
Wir brauchen ein Umsteuern, um gesunde Ernährung, Bodenschutz und artgerechte Tierhaltung zu ermöglichen. Hier sind wir aufgefordert, die nationalen,
internationalen und besonders europäischen Rahmenbedingungen zu verbessern. Wir brauchen weiterhin
die Unterstützung der Europäischen Union für die
Landwirtschaft, zugleich dürfen die europäischen
Agrarmittel nicht an historischen Ansprüchen, sondern müssen am Erstellen öffentlicher Güter orientiert
werden. Die Zahlungen müssen für die Zukunftsfähigkeit einer bäuerlichen, für Umwelt, Tier, Natur und
Landschaft verträglichen Landwirtschaft eingesetzt
werden.
Ökolandbau weist einen deutlich kleineren ökologischen Fußabdruck auf, ist weniger abhängig von künftig knappen Ressourcen, integriert ethische Anliegen
wie das Tierwohl und erhöht die Wertschöpfung in
ländlichen Räumen. Er baut dabei stark auf bäuerliches Wissen, muss aber auch darüber hinaus weiter erforscht werden. In unseren Haushaltsentwurf für 2013
hat die SPD-Bundestagsfraktion daher zusätzliche Mittel für Forschung, Technologieentwicklung und -transfer gefordert, zum Beispiel für eine Effizienzsteigerung
der ressourcenschonenden ökologischen Anbausysteme.
Seit Jahren verzeichnet der deutsche Biomarkt ein
stetiges Umsatzwachstum. Trotzdem übersteigt die
Nachfrage nach heimischen, ökologischen Lebensmitteln das derzeitige Angebot. Diese Schere wird immer
noch durch Importe gedeckt. Doch ohne Förderung
fehlt unseren Landwirten der Ausgleich für die Kosten
der Umstellung und für die zusätzlichen gesellschaftlichen Leistungen, die sie erbringen.
Es brodelt in der Gesellschaft. Die Menschen gehen
auf die Straße und wollen Veränderungen sehen. Wir
brauchen eine Ernährungswende, die ökologische und
ethische Aspekte praktikabel umsetzt. Stellen Sie die
Landwirtschaft endlich auf die Zukunft ein. Dazu gehört insbesondere die Unterstützung der ökologischen
Landwirtschaft bei uns in Deutschland.
Die beiden Anträge sind ein bisschen in die Jahre
gekommen und in ihren rückwärtsgerichteten Forderungen völlig überholt. Der Ökolandbau muss, wie
andere Formen der Landwirtschaft, auf die Zukunft
ausgerichtet werden und darf nicht in alten Denkschablonen verharren. Dafür bieten die beiden Anträge
keine Ansätze. Alte Bewirtschaftungsmethoden sind
nicht per se gut, nur weil sie alt sind. Bei Autos weiß
das bei uns jeder; bei der Landwirtschaft dagegen gibt
es noch immer eine Rückwärtsorientierung.
Im Jahr 2013 den sogenannten Weltagrarbericht
aus dem Jahr 2008 zu unterzeichnen heißt, die Entwicklungen der letzten fünf Jahre auszublenden. Der
Bericht der britischen Regierung „The Future of Food
and Farming“ aus dem Jahr 2011 ist deutlich aktueller. Seine Vorstellungen von effizienter Landwirtschaft
sind besser geeignet, die Herausforderungen zu bewältigen, die eine wachsende Weltbevölkerung und der
Klimawandel an die Landwirtschaft stellen.
Es ist reine Klientelpolitik, eine höhere Förderung
für Biobetriebe zu fordern. Schon jetzt werden Ökobetriebe zusätzlich zu den Direktzahlungen der EU von
den Bundesländern mit zwischen 150 und 204 Euro
pro Hektar Ackerland, 255 bis 360 Euro pro Hektar
Gemüse und in der Größenordnung von 700 Euro pro
Hektar Dauerkulturen gefördert. In die gleiche RichZu Protokoll gegebene Reden
tung geht die Forderung, die Öffnung des Förderprogramms Ökologischer Landbau zurückzudrehen. Das
hieße, Neulandbetriebe auszuschließen, also Betriebe,
die sich einer besonders tierschonenden Tierhaltung
verpflichtet haben, oder ebenfalls die von der DLG als
besonders nachhaltig wirtschaftend anerkannten Betriebe auszugrenzen. Das ist keine Zukunftsstrategie.
Die Forderung berücksichtigt nicht, dass Ökobauern für ihre Produkte bereits jetzt über den Markt
höhere Preise erwirtschaften als konventionell wirtschaftende Betriebe. Die deutlich geringeren Erträge
der Biobauern werden ausgeglichen durch höhere Erlöse für ihre Produkte. Für das Wirtschaftsjahr 2010/11
zeigten die Auswertungen der Bundesregierung, dass
im Durchschnitt die Gewinne dieser Betriebe gegenüber dem Vorjahr um knapp 30 Prozent auf
60 736 Euro zugenommen haben. Damit waren ihre
Gewinne größer als im Durchschnitt der konventionell
wirtschaftenden Haupterwerbsbetriebe mit 54 730 Euro.
Wer vor diesem Hintergrund eine noch höhere Förderung des Ökolandbaus aus Haushaltsmitteln fordert,
handelt unverantwortlich.
Es ist doch vielmehr an der Zeit, dass die unterschiedlichen Formen der Landbewirtschaftung voneinander lernen, ohne ihr eigenes Profil aufzugeben, und
sich von ihren Dogmen trennen. Das wäre zu beiderseitigem Nutzen und würde die Nachhaltigkeit der
Nahrungsmittelproduktion, die Effizienz der Flächennutzung, die Schonung der Böden und den Erhalt der
Biodiversität unterstützen.
Wir wissen, dass die Herausforderungen immens
sind, die global an die Landwirtschaft aufgrund von
Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Mehrung
des Wohlstands in den Schwellenländern gestellt werden. Um diesen Ansprüchen gerecht werden zu können,
benötigen wir eine nachhaltige Intensivierung der
Landwirtschaft, um zu einer Effizienzsteigerung zu
gelangen. Dafür muss die Landwirtschaft insgesamt
besser werden: Die moderne Landwirtschaft muss
beispielsweise die Nitratausträge mindern, der Ökolandbau seine Erträge wesentlich steigern. Wir können
nicht damit zufrieden sein, dass seine Erträge im Vergleich zur modernen Landwirtschaft teilweise nur bei
50 Prozent liegen. Der Ökolandbau ist in der Pflicht,
seine Produktionssysteme den modernen Anforderungen entsprechend weiterzuentwickeln. Forschung kann
dabei nur helfen, wenn die Anbaurichtlinien der Verbände für moderne Methoden geöffnet werden.
Aus Sicht der FDP sollte der Ökolandbau auch
seine Haltung zu gentechnisch veränderten Pflanzen
überprüfen, die gegenüber Schadorganismen resistent
sind. Das Gleiche gilt für Hybridpflanzensorten, die
durch den Heterosiseffekt höhere Erträge ermöglichen. Nur weil zu Zeiten von Steiner diese Methoden
noch nicht bekannt waren, sollten sie nicht fundamentalistisch abgelehnt werden.
Wir brauchen eine nüchterne und wissenschaftlich
fundierte Betrachtung des Ökolandbaus, die den Ressourceneinsatz in Bezug auf die erzeugte Menge des
landwirtschaftlichen Produkts misst. Denn Landwirtschaft dient der Erzeugung von Weizen, Fleisch oder
Eiern. Die Produktmenge muss zum Vergleich verschiedener Produktionssysteme herangezogen werden;
die Fläche ist die falsche Bezugsgröße.
Die Biobetriebe haben sich sehr erfolgreich ein eigenes Marktsegment erschlossen. Die unternehmerische moderne Landwirtschaft hat von Ökobetrieben
gelernt. Zusätzliche Dienstleistungen wie Selbstvermarktung, Bildungsangebote für Schulen, Erlebnisgastronomie oder Urlaub auf dem Bauernhof bieten
moderne landwirtschaftliche Betriebe genauso wie
Ökobetriebe. Es wäre gut, dies bliebe keine Einbahnstraße; denn moderne Betriebe wirtschaften zumeist
effizienter als Ökobetriebe.
Zum Anspruch, gesunde Lebensmittel bei geringer
Beeinträchtigung der Natur zu produzieren, gehört
auch die Vermeidung des Einsatzes von Kupfer im
Weinbau und in der Obst- und Hopfenerzeugung. Böden mit Schwermetallen zu belasten ist keine echte
ökologische Alternative zur Nutzung moderner Fungizide. Das UBA hat wissenschaftlich nachgewiesen,
dass es chemische Fungizide gibt, die die Natur weniger beeinträchtigen als der Kupfereinsatz. Es ist daher
überfällig, dass das Dogma der Ablehnung synthetischer Pflanzenschutzmittel fällt.
In der modernen wie der ökologischen Landwirtschaft besteht noch viel Potenzial für Verbesserungen.
Es wäre an der Zeit, dass beide Seiten voneinander lernen: die Ökolandwirte von den modern wirtschaftenden Landwirten und umgekehrt die modernen Landwirte von den Ökolandwirten. Es ist an der Zeit, dass
Gesellschaft und Politik dafür Impulse setzen.
Wir debattieren heute zwei Anträge der SPD zur
Förderung des ökologischen Landbaus.
Lebensmittel aus ökologischer Produktion erfreuen
sich stetig steigender Beliebtheit in Deutschland. Inzwischen werden über 1 Million Hektar in Deutschland ökologisch bewirtschaftet. Das sind rund 6 Prozent der Agrarfläche in Deutschland. Ziel des
Ökolandbaus ist nachhaltiges Wirtschaften, das den
Boden sowie natürliche Ressourcen schont, umweltfreundlich und tiergerecht ist.
Dazu werden geschlossene Betriebskreisläufe angestrebt, bei denen die notwendigen Futtermittel und
Nährstoffe für den Anbau von Pflanzen und zur Tierhaltung möglichst aus dem eigenen Betrieb stammen.
Zugekaufte Betriebsmittel müssen grundsätzlich auch
aus ökologischem Anbau stammen.
Deutschland strebt in seiner Nachhaltigkeitsstrategie an, dass 20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche ökologisch bewirtschaftet werden. Allerdings gibt es kein Zieldatum dafür.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor wenigen Tagen hat der Bund für ökologische
Lebensmittelwirtschaft, BÖLW, ein Thesenpapier verabschiedet. Darin fordert der BÖLW unter anderem
Folgendes:
Nachhaltige Ernährung: Die Fächer Ernährungslehre, Kochen, Hauswirtschaft müssen in allen allgemeinbildenden Schulen eingeführt werden, ausgerichtet an einem nachhaltigen Ernährungsstil. Öffentliche
Kantinen sollen auf eine ökologische Kost umgestellt
werden.
Artgerechte Tierhaltung: Staatliche Investitionszuschüsse für Stallneu- und -umbauten dürfen in allen
Bundesländern nur noch für artgerechte Tierhaltungssysteme gewährt werden, die über dem gesetzlichen
Mindeststandard liegen. Eine Strategie muss kommen,
mit der alle Betriebe in einer bestimmten Übergangsfrist auf artgerechte Tierhaltung umstellen müssen.
Kreislaufwirtschaft: Durch die Produktion bedingte
Umwelt- und sonstige gesellschaftliche Kosten müssen
den Verursachern zugeordnet werden.
Eine ökosoziale Marktwirtschaft. Das heißt, die
Wirtschaftsleistung ist mittelfristig mit dem Nationalen
Wohlfahrtsindex, NWI, anstelle des Bruttosozialprodukts zu messen.
Diese Forderungen unterstützen auch wir von der
Linken.
Nun, wenden wir uns den Anträgen der SPD zu. Sie
wollen den ökologischen Landbau stärken. Welche
Maßnahmen schlagen sie vor, damit dieses Ziel erreicht werden kann? Der erste Antrag ist vom September 2011. Diesen beraten wir heute abschießend. Im
Ausschuss Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz haben wir darüber bereits beraten. Was
fordert die SPD darin? Hier vier Beispiele:
Erstens. Ökolandbau soll in der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik eine wichtigere Rolle spielen.
Zweitens. Die Forschung zur ökologischen Landwirtschaft soll verstärkt werden. Drittens. Die Öffnung des
Bundesprogramms Ökolandbau für konventionelle
Produktionsverfahren soll ohne finanzielle Kürzungen
rückgängig gemacht werden. Viertens. Die Bundesregierung soll endlich den Weltagrarbericht von 2008
unterzeichnen.
Alles nicht falsch - alles nicht neu. Aber leider auch
nicht sehr konkret. Deshalb enthält sich die Linke zu
diesem Antrag. Meine Damen und Herren von der
SPD, das ist einfach zu wenig.
Interessanter ist da schon der zweite, umfassendere
Antrag vom September 2012. Darin fordert die SPD:
einen flächendeckenden Mindestlohn, auch in der
Landwirtschaft; ein Weiterbildungsprogramm für die
ökologische Landwirtschaft bei der Bundesagentur für
Arbeit; eine Ökologisierung der gesamten landwirtschaftlichen Forschung, Lehre und Ausbildung; das
öffentliche Beschaffungswesen zur Verbreitung ökologisch erzeugter Lebensmittel zu nutzen. Kantinen können hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Die bundesweite Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung,
die vom Bundesinnenministerium ins Leben gerufen
wurde, muss mit Leben erfüllt werden. Bundesweit
müssen auch ökologische Kriterien bei der Vergabe
und Beschaffung berücksichtigt werden. Denn nur
ökologisch nachhaltige Angebote sind auch wirtschaftlich. Nicht zuletzt: die Ökologisierung der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz,
GAK. Diese Forderungen können wir unterstützen,
und sie finden sich zum Teil auch so in Anträgen, die
die Linke bereits in den Bundestag eingebracht hat.
Klar ist: Kreislaufwirtschaft, Wachstumskritik,
nachhaltige Ernährung, Recht auf Nahrung und artgerechte Tierhaltung gehören zusammen! Welthandelspolitik, Tierschutzpolitik, Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik sind Facetten derselben Medaille. Das
hat sogar unsere Bundeslandwirtschaftsministerin
beim Charta-Prozess begriffen. Nur CDU/CSU und
FDP pflegen weiter ihre Träume vom Weltmarkt auf
Kosten von Mensch, Tier und Umwelt. Alle anderen
haben das satt! Ich hoffe, dass wir diesen Antrag konstruktiv im Ausschuss beraten werden.
Der Ökolandbau ist nun einmal die nachhaltigste
Form der Landbewirtschaftung. Er schont Boden,
Wasser und Luft sowie Flora und Fauna nicht nur dadurch, dass er auf Mineraldünger und chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel verzichtet. Den Nutztieren
wird ein weitestgehend artgerechtes Leben ermöglicht.
Der Ökolandbau stellt hinsichtlich der Landnutzung
ein völlig anderes System dar als der aktuell praktizierte sogenannte konventionelle Landbau. Die Nachfrage nach Produkten aus dem Ökolandbau steigt seit
Jahren, während sie aus heimischer Produktion immer
weniger gedeckt werden kann. Nicht etwa, weil Ökobetriebe weniger produzieren als vergleichbare konventionelle Betriebe auf der gleichen Fläche, sondern weil
immer weniger Betriebe umstellen. Soweit die unumstößlichen Fakten.
Aus diesen Gründen sollte das Ziel einer gleichermaßen ökologisch wie ökonomisch ausgerichteten
Agrarpolitik eigentlich den Ökolandbau zum Leitbild
der Agrarproduktion machen, das heißt schrittweise
Ökologisierung der Landnutzung bis zu 100 Prozent
Ökolandbau. Doch die Regierungskoalition konnte
sich aus parteiideologischen Gründen nicht einmal
dazu überwinden, das 20-Prozent-Ziel in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie mit einem zeitlichen Ziel
zu versehen. Die entsprechende Empfehlung des Nachhaltigkeitsrates wurde schlichtweg ignoriert. Durch die
Öffnung des Bundesprogramms Ökologischer Landbau
für sogenannte andere Formen nachhaltiger Landwirtschaft verzögert die schwarz-gelbe Bundesregierung
den Umbau weiter. Schlimmer noch: Selbst das europäische Minimalziel, 7 Prozent der Anbauflächen als
ökologische Vorrangflächen auszuweisen, wird zur
Chefinsache erklärt und mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Diese Fehler werden wir nach einem
Regierungswechsel korrigieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Denn dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
einen Wechsel in der Agrarpolitik hin zu mehr Nachhaltigkeit und Tierschutz wollen, wurde nicht nur auf
der „Wir haben es satt!“-Demo am 19. Januar von
25 000 Menschen auf den Straßen des Regierungsviertels deutlich artikuliert. In Niedersachsen wurde an
den Wahlurnen ganz eindeutig für eine andere Haltung
abgestimmt.
Wir Grüne wollen dem Ökolandbau wieder mehr
Schub geben. Wir wollen seine ökologischen und gesellschaftlichen Leistungen angemessen honorieren.
Denn die konventionelle, zunehmend industrialisierte
Landwirtschaft produziert nur scheinbar „billige“ Lebensmittel. Die externen Kosten, die beispielsweise
durch die Belastung von Böden und Gewässern oder
die Flächeninanspruchnahme in Drittländern für das
Mastfutter auf Basis von importiertem Soja entstehen,
werden nicht im Produkt abgebildet. Viel zu oft gehen
billige tierische Produkte auf Kosten der Nutztiere, die
ihr kurzes Leben ohne Licht, Luft und Sonne in engen
Ställen fristen müssen. Um dies zu ändern, muss die
Höhe von Umstellungs- und Ökoprämien im Rahmen
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ angepasst werden.
Ökolandbau ist keine Spielwiese für naturverliebte
Träumer, sondern volkswirtschaftlich sinnvoll: Die Regionen profitieren durch eine höhere Wertschöpfung
von der ökologischen Landbewirtschaftung, da sie im
Vergleich der Systeme bis zu 30 Prozent mehr Arbeitsplätze bietet und oftmals auch eine größere betriebliche
Gewinnmarge zu verzeichnen hat. Der Ökolandbau
geht Hand in Hand mit zwei großen gesellschaftlichen
Trends, die für die Entwicklung ländlicher Räume sehr
große Potenziale bieten: mit dem naturnahen Tourismus und mit der Regionalität von Lebensmitteln. Wir
können es uns angesichts der Herausforderungen für
die ländlichen Räume nicht leisten, diese Potenziale zu
verspielen. Wir brauchen eine finanziell starke zweite
Säule sowie höhere EU-Kofinanzierungssätze für die
Unterstützung des ökologischen Landbaus.
Die exportorientierte intensive Produktion, die in
der vergangenen Woche auf der Internationalen Grünen
Woche gefeiert wurde, hilft weder dem ländlichen
Raum, wo immer mehr Mastställe aus dem Boden
schießen, noch den Verbraucherinnen und Verbrauchern, die keine Gentechnik auf dem Teller haben
möchten, noch den Menschen in ärmeren Teilen der
Welt, deren lokalen Wertschöpfungsketten durch industrielle Massenware zerstört werden. Deutschland
wurde viel zu lange in eine agrarpolitische Sackgasse
manövriert. Aus der kommen wir nur mit einer Kehrtwende heraus. Deshalb stimmen wir den Anträgen der
SPD-Fraktion zu, selbst wenn sie uns im Detail nicht
immer ausreichen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10862 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 21 b. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner
Empfehlung auf Drucksache 17/8954, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7186 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 24:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung versicherungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/11469 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12199 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzIngo Egloff Judith Skudelny Halina Wawzyniak Ingrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen worden.
Mit der grundlegenden Novellierung des rund
100 Jahre alten Versicherungsvertragsgesetzes haben
wir in der letzten Legislaturperiode einen zeitgemäßen
gerechteren Interessenausgleich zwischen Versicherten und Versicherern geschaffen.
In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute ein
Änderungsgesetz, mit dem wir die getroffenen Regelungen an erforderlichen Stellen nachjustieren.
Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist die nachhaltige
Stärkung der Rechte von Versicherten in der privaten
Krankenversicherung und in der Kfz-Haftpflichtversicherung. Hierzu haben wir für die Verfahren bei der
Übernahme und für die Regulierung von Versicherungsfällen die Transparenz erhöht. Die christlichliberale Bundesregierung ergänzt damit das in dieser
Wahlperiode bereits geschnürte umfassende Verbraucherschutzpaket.
Bereits heute hat ein privat Krankenversicherter
nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gegenüber seiner Versicherung den Anspruch, zu erfahren,
ob der abgeschlossene Versicherungsvertrag die
Übernahme der wahrscheinlichen Kosten einer Behandlung vorsieht bzw. ob die beabsichtigte Heilbehandlung eine notwendige Heilbehandlung im Sinne
des § 192 Abs. 1 VVG ist. Dieser Auskunftsanspruch
wird nun klarstellend gesetzlich normiert. Er besteht,
sofern die Heilbehandlung voraussichtlich mehr als
2 000 Euro kosten wird. Die Auskunft hat in dringenMarco Wanderwitz
den Fällen unverzüglich zu erfolgen, also spätestens
nach zwei Wochen, ansonsten nach vier Wochen. Positiv für den Versicherten: Unterbleibt die Antwort des
Versicherers innerhalb der Frist, wird bis zum Beweis
des Gegenteils durch den Versicherer vermutet, dass
die beabsichtigte medizinische Heilbehandlung notwendig ist.
Wir stärken zudem die Informationsmöglichkeiten
der Versicherten. So können diese künftig ohne Anwalt
die Einsicht in die zur Prüfung der Leistungspflicht
und der Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung durch den Versicherer herangezogenen Unterlagen höchstpersönlich verlangen.
Im Bereich der Kündigungsfristen einer privaten
Krankenversicherung wegen einer Erhöhung der
Beiträge schaffen wir einen großen Puffer, der beiden
Seiten insbesondere beim Abschluss eines neuen Vertrages zugutekommt. Künftig hat der Versicherungsnehmer nun zwei Monate statt wie bisher nur einen
Monat Zeit. Diese Änderung ist insofern wichtig, als
eine Kündigung nur möglich ist, wenn der Versicherte
einen neuen Vertrag abschließt. Innerhalb der bisherigen recht kurzen Kündigungsfrist nach § 205 Abs. 4
VVG war der vom neuen Versicherer regelmäßig geforderte umfassende Gesundheitstest häufig nicht
durchzuführen, woran ein kurzfristiger Wechsel scheiterte. Hiermit erhöhen wir die Planbarkeit für alle
Seiten.
Stichwort „Selbstbehalt“: Versicherungsnehmer
können auch im Basistarif bei einer Mindestlaufzeit
von drei Jahren einen Selbstbehalt vereinbaren. Die
Praxis hat gezeigt, dass bei hohen Beiträgen im Basistarif, teilweise sogar bei Höchstbeträgen, dieser
Selbstbehalt nicht immer zu einer Beitragsermäßigung
führt, sondern sich oberhalb des Höchstbetrages
vollzieht. Ein hiervon betroffener Versicherter kann
den Selbstbehalt nun jederzeit kündigen, indem eine
Umstellung des Vertrages in den Basistarif ohne
Selbstbehalt verlangt werden kann.
Zudem werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
die Widerrufsregelungen der Fernabsatz-Richtlinie,
Richtlinie 2002/65/EG, auch im Bereich des Versicherungswesens umgesetzt. Künftig ist der Versicherte im
Falle der Kündigung seines Versicherungsvertrages
nicht mehr an einen mit diesem zusammenhängenden
Vertrag gebunden. Ein solcher zusammenhängender
Vertrag liegt vor, wenn er einen Bezug zu dem widerrufenen Vertrag aufweist und eine Dienstleistung des
Versicherers oder eines Dritten auf der Grundlage
einer Vereinbarung zwischen dem Dritten und dem
Versicherer betrifft. Da die in Umsetzung der Richtlinie ins Bürgerliche Gesetzbuch übernommenen
Regelungen des § 312 b Abs. 3 Nr. 3 BGB nicht für
Versicherungsverträge gelten, wird hierzu nun das
VVG erweitert. Die Besonderheit: Die Regelungen im
Versicherungsbereich sind nicht auf den Fernabsatz
beschränkt. Einen besonderen verbraucherschützenden Charakter erhält die Regelung dadurch, dass der
Schutz dem Versicherten nicht aufgezwungen wird,
sondern optional ist. Er kann den zusammenhängenden Vertrag auch weiterlaufen lassen, sofern dieser
ohne den widerrufenen Vertrag eigenständig fortgeführt werden kann.
Im Rahmen der Kfz-Haftpflicht wird der Versichertenschutz im Falle der Insolvenz des Versicherers gestärkt. Während in einem solchen Ausnahmefall
grundsätzlich die Verkehrsopferhilfe für entstandene
Schäden eintritt, kann es unter Umständen auch den
Versicherten selber treffen, der den Verkehrsunfall
verursacht hat. Da es für einen ordnungsgemäß Versicherten unbillig wäre, ihn mit den Kosten alleinzulassen, wird seine Haftung auf 2 500 Euro beschränkt.
Wir beraten heute eine Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes, die die Rechte der Versicherten
stärken und für Rechtsklarheit sorgen soll. Beides ist
positiv und wird von der SPD-Bundestagsfraktion unterstützt.
Die Verbesserung der Einsichtsrechte für die Kranken in die Unterlagen, die sie selbst betreffen, ohne einen Anwalt oder Arzt bemühen zu müssen, ist zeitgerecht und richtig. In Zeiten, in denen Transparenz in
vielen Bereichen gefordert und beschlossen wird bis
hin zu Verwaltungsverfahren, die bisher der Öffentlichkeit entzogen waren, ist es recht und billig, Auskunft zu
erhalten in Sachen, die den höchsten persönlichen Bereich betreffen, die Gesundheit und körperliche Integrität. Gerechtfertigt sind hier auch die Einschränkungen, wenn klar eine enge Grenze definiert ist.
Auch die Tatsache, dass die Vereinbarung eines
Selbstbehaltes in jedem Falle zu einer Beitragsreduzierung führen muss, ist im Interesse des Versicherten
zu begrüßen. Dies gilt auch für die Verlängerung der
Kündigungsfrist bei Tarifwechsel von einem Monat auf
zwei Monate. Der Versicherungsnehmer erhält damit
mehr Zeit, den Markt zu prüfen, zu sondieren und diese
eventuell weitreichende Entscheidung zu treffen. Denn
der Versichererwechsel ist ja gegebenenfalls mit veränderten Leistungen und Prämien verbunden, die sich
für den Laien nicht unbedingt auf den ersten Blick erschließen. Insofern ist eine verlängerte Frist, die es ermöglicht, entsprechende Angebote einzuholen, zu begrüßen.
Wichtig ist der Punkt, dass der Versicherte bei Behandlungen, deren Kosten voraussichtlich 2 000 Euro
überschreiten, schriftlich Auskunft über den Versicherungsschutz erhalten kann, dass hierfür eine Frist gesetzt ist und bei Überschreiten und Nichtreaktion des
Versicherers die gesetzliche Fiktion eintritt, die Behandlung sei genehmigt.
Die Möglichkeit für den Versicherer, nach Ablauf
der Frist das Gegenteil zu beweisen, dürfte in normalen
Fällen eher theoretischer Natur sein, es sei denn, es
lag aufseiten des Versicherungsnehmers eine betrügerische Handlung vor. Aber dann ist meines Erachtens
auch die gesetzliche Regelung gerechtfertigt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Normalfall wird sich der Versicherer, wenn der
Patient sich im Vertrauen auf den Fristablauf behandeln ließ, gegen diesen Vertrauenstatbestand, den er
geschaffen hat, kaum auf diese Regelung berufen können. Denn dann würde die ganze Regelung, die ja
Rechtssicherheit geben soll, ad absurdum geführt werden. Dies würde, da bin ich mir aufgrund meiner beruflichen Kenntnis über die versicherungsrechtliche
Rechtsprechung sicher, kein Gericht überzeugen, zumal die Tendenz der Rechtsprechung in den letzten
Jahren zunehmend im Interesse der Versicherungsnehmer liegt.
Zum Schluss: Dass die Umsetzung des Urteils des
Europäischen Gerichtshofes über Unisex-Tarife zu erfolgen hat, ist völlig klar.
Mein Fazit: Ein vernünftiger Entwurf, den die SPDFraktion unterstützt.
Wir sind uns ja alle einig, dass mit dem Gesetz zur
Änderung versicherungsrechtlicher Vorschriften die
Rechte von Versicherten in der privaten Krankenversicherung und in der Kfz-Haftpflichtversicherung
deutlich gestärkt werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können privat
Krankenversicherte künftig von ihrer Versicherung im
Vorfeld eine Auskunft darüber verlangen, ob diese die
Kosten einer Behandlung übernimmt. Wie Ihnen bekannt ist, müssen privat Versicherte für die Kosten einer Behandlung zunächst in Vorleistung treten und
wissen in vielen Fällen nicht, ob sie diese Kosten von
ihrer Versicherung auch erstattet bekommen. Gerade
bei kostenintensiven größeren Behandlungen ist diese
Auskunft für die Versicherten eine entscheidende
Verbesserung; denn dadurch erhalten sie frühzeitig
Gewissheit und können sich auf die Situation einstellen. Im Gesetzentwurf ist ausdrücklich geregelt, dass
diese Auskunft in dringenden Fällen unverzüglich
- spätestens nach zwei Wochen - und in nicht dringenden Fällen nach vier Wochen zu erfolgen hat.
Wir erinnern uns, dass diese Änderung durch eine
Petition aus dem Deutschen Bundestag angeregt
wurde. Daran zeigt sich, dass die Betroffenen selbst
ein starkes Interesse daran haben, dass in diesem
Bereich verbindliche Regelungen geschaffen werden.
An dem heutigen Gesetzentwurf zeigt sich aber auch,
dass die Bundesregierung eine Politik des Gehörtwerdens betreibt und die Anregungen der Bürgerinnen und
Bürger ernst nimmt und umsetzt. Wir sind als Regierungsfraktionen diesem Wunsch nachgekommen und
stärken mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Rechte der Versicherten, indem wir im Bereich der
Übernahme und Regulierung von Versicherungsfällen
Klarheit und Rechtssicherheit schaffen.
Schön finde ich, dass dieser Gesetzentwurf von fast
allen Fraktionen getragen wird. Einzig die Grünen
konnten sich gestern im Ausschuss nicht zu einer Zustimmung durchringen. Dabei konnten mich die vorgetragenen Bedenken wenig überzeugen. Die Grünen
fordern, das Wort „verbindlich“ in dem Gesetzentwurf
zu verankern. Dabei verkennen sie die Tatsache, dass
die Deckungszusage einer Versicherung, der alle wichtigen Tatsachen vorliegen, bereits verbindlich ist.
Nimmt man dieses Wort jedoch mit in den Gesetzentwurf auf, verlängert man die Prüfung der Versicherungen, mit dem Ergebnis, dass diese rechtlich nicht
mehr dazu gezwungen werden könnten, eine schnelle
Antwort zu geben.
Aus diesem Grund kann die Streichung des Wortes
„verbindlich“ wohl kaum zu einer Schlechterstellung
der Versicherten führen. Sie haben es selber in der
Hand, durch die vollständige Vorlage aller Unterlagen
eine verbindliche Auskunft zu erhalten. Wenn sie keine
oder unvollständige Unterlagen vorlegen, kann daraus
auch keine verbindliche Auskunft folgen - ein fairer
Ausgleich zwischen den berechtigten Anliegen der
Versicherungen und den Interessen der Patienten.
Wie bei jedem Gesetz müssen sich auch hier Kosten
und Nutzen die Waage halten. Aus diesem Grund
haben wir einen Schwellenwert für die Kosten der
Behandlung von 2 000 Euro eingeführt. Dadurch lässt
sich der bürokratische Mehraufwand für die Versicherungen auf besonders kostenintensive Fälle begrenzen,
bei denen das Interesse des Versicherten an einer Auskunft besonders hoch ist. Zudem wird dadurch Rechtssicherheit geschaffen, da anhand des Schwellenwertes
nun klar ersichtlich ist, ob es sich um eine größere
Heilbehandlung handelt oder nicht.
Auch im Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung
wird nun Klarheit geschaffen. Für die Fälle, in denen
der Versicherer insolvent wird und die nicht von der
Verkehrsopferhilfe übernommen werden, wird die
Haftung auf 2 500 Euro beschränkt. Das schafft
Rechtssicherheit für die betroffenen Bürger.
Mit der Entfristung durch Art. 5 des Gesetzentwurfs
wird deutlich, dass sich die bisherigen Regelungen bewährt haben und nicht mehr befristest werden müssen.
Abschließend möchte ich sagen, dass ich mich sehr
freue, dass die gelb-schwarze Koalition mal wieder
einen Gesetzentwurf vorlegen konnte, dem sich die
überwältigende Mehrheit des Hauses angeschlossen
hat. Vielen Dank an alle Mitwirkenden.
Vorweg: Dieser Gesetzentwurf enthält eine ganze
Reihe von größeren und kleineren Regelungen, von denen viele positiv sind. Deswegen werden wir in der
Summe auch zustimmen, wenngleich es auch Regelungen gibt, die wir als problematisch ansehen, dazu später. Ich will daher mit dem Positiven beginnen:
Eine Änderung begrüßen wir besonders. Das ist
eine Regelung, die auf den unermüdlichen Bürger
Horst Glanzer zurückzuführen ist, der auch in meinem
Büro schon viele Arbeitsstunden für sein Anliegen in
Anspruch genommen hat. Aber der Mann hat völlig
recht. Wenn ein privat Krankenversicherter eine ernste
Zu Protokoll gegebene Reden
Krankheit hat und deshalb bei seiner Krankenversicherung nachfragt, ob sie die Kosten übernimmt, dann
hatte diese bisher die Möglichkeit, ihn an der langen
Hand verhungern zu lassen. Sie hat einfach nicht geantwortet. In Folge haben der Arzt oder das Krankenhaus nicht behandelt, weil die Finanzierung nicht gesichert war. Offenbar gab es Versicherungen, die darauf
spekuliert haben, dass sich diese schwere Krankheit
und die damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen aus biologischen Gründen lösen werden. Deshalb
ist es völlig richtig, dass nun klargestellt wird, dass die
Versicherung in dringenden Fällen unverzüglich, spätestens nach zwei Wochen, sonst spätestens innerhalb
vier Wochen zu entscheiden hat. Reagiert sie nicht,
dann gilt das als Zustimmung.
Schlecht an dieser Änderung ist, dass es eine sogenannte Bagatellgrenze von 2 000 Euro gibt. Denn für
viele Menschen, auch für viele privat Krankenversicherte, sind 1 950 Euro keine Bagatelle. Besser wäre
es gewesen, hätten Union, SPD, FDP und Grüne unserem Änderungsantrag zum GKV-Änderungsgesetz im
Juni 2010 zugestimmt, den wir damals schon auf Horst
Glanzers Initiative hin vorgelegt haben. Dann hätten
wir schon seit über zwei Jahren eine bessere Regelung
als die, die wir jetzt bekommen, die auch ohne Bagatellgrenze auskommt. Aber im Großen und Ganzen ist
es gut, dass die Bundesregierung unser Anliegen nun
aufgegriffen hat.
Mit diesem Gesetzentwurf zurrt die Bundesregierung aber auch die Unisex-Tarife bei Versicherungen
fest. Und hier beginnt das Schlechte. Die Art und
Weise, wie die europäischen Vorgaben, dass keiner
aufgrund seines Geschlechts bei Versicherungen benachteiligt werden darf, umgesetzt werden, finde ich
empörend.
Erstens hat die Bundesregierung mit dieser Regelung gewartet bis zur letzten Sekunde. Eigentlich gelten diese Regelungen, die auf eine zehn Jahre alte EUInitiative zurückgehen, schon seit 2007. Die Bundesregierung wollte jedoch weiterhin Frauen in der Krankenversicherung und Männer in der Lebensversicherung benachteiligen. Sie hat uns noch vor zweieinhalb
Jahren in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage erklärt, dass sie an dieser Diskriminierung festhalten
will, sich nicht um Grundsätze der Gleichstellung der
Geschlechter schert und europäische Richtlinien, die
das fordern, ihr letztlich egal sind. Ein Dreivierteljahr
später, im März 2011, hat der Europäische Gerichtshof
der Bundesregierung die Leviten gelesen und eine Einführung bis spätestens 21. Dezember 2012 gefordert.
Keinen Tag früher wurde diese Regelung in Deutschland umgesetzt.
Zweitens - und das ist noch schlimmer - hat die
Bundesregierung eine Minimalumsetzung betrieben.
Sie hat die Unisex-Tarife nur für Neukunden durchgesetzt. Das ist besonders desaströs in der privaten
Krankenversicherung. Denn die Bundesregierung hat
damit die Rahmenbedingungen für die Krankenversicherungskonzerne so gesetzt, dass die Frauen, die
schon versichert sind, weiterhin zu viel bezahlen müssen. Nun könnte man denken, dass die Frauen nun von
ihrem gesetzlichen Wechselrecht Gebrauch machen
können und in Neutarife wechseln. Radio Eriwan lässt
grüßen: Im Prinzip können sie schon wechseln, aber
dann wird’s noch teurer. Das hat ein Analysehaus gerade vor wenigen Tagen festgestellt: Die neuen Tarife
für Frauen sind rund 3 Prozent teurer als die alten.
Woran liegt das? Es gibt nun zwei Versicherungswelten, die alte ohne, die neue mit Unisex. Die Männer
wollen bei der Krankenversicherung in die alte Welt
- das verbietet nun dieses Gesetz -, und die Frauen
wollen aus der alten in die neue Welt - dazu haben sie
das gesetzliche Recht. Wenn nun aber viele Frauen von
dem Wechselrecht Gebrauch machen würden, gäbe es
überdurchschnittlich viele Frauen in der neuen Welt.
Dann müssten die Versicherer die Tarife mit den teureren Frauen entsprechend teurer kalkulieren und Sicherheitsmargen einfügen. Denn im Nachhinein dürfen
sie richtigerweise aufgrund falscher Kalkulation zu
niedrig berechnete Beiträge nicht mehr erhöhen. Die
Versicherer wissen aber nicht, wie viele Frauen tatsächlich wechseln würden, und wie groß dieser Effekt
ist, und damit können sie ihre Tarife nicht sauber kalkulieren. Also greifen sie in die Trickkiste, und senken
den Rechnungszins nur für Neuverträge, was dort das
gesamte Beitragsniveau derart erhöht, dass es sich
selbst für Frauen der alten Welt nicht mehr lohnt, zu
wechseln.
Wechselrecht ausgehöhlt, keine Probleme mehr mit
einem Frauenüberhang, Kalkulation geht einfacher,
Kunden zahlen drauf: Dieses denkbar schlechteste
Szenario für die Einführung der Unisex-Tarife ist jetzt
aber Realität.
Die Bundesregierung hätte Unisex auch für Bestandskunden einführen müssen. Das wäre gerechter
und günstiger gewesen. Dann hätten in allen Tarifen
Männer und Frauen gleich viel zu zahlen, und für
Neuversicherte wäre es nicht teurer geworden. Nun
aber haben sich die Neutarife für Männer um 17 bis
150 Euro im Monat, durchschnittlich um 70 Euro, verteuert. Und sogar Frauen, die eigentlich profitieren
sollten, legen nun durchschnittlich acht Euro drauf.
Für die Linke ist klar: Auch bei Versicherungen
muss Geschlechtergerechtigkeit herrschen, und die
Bundesregierung sollte beginnen, Politik für die Versicherten und nicht für die Versicherungskonzerne zu
machen.
Wir debattieren heute über einen ganzen Strauß von
neuen Vorschriften im Bereich des Versicherungsrechts. Diese Neuregelungen sollen den Versicherten
mehr Rechte verleihen. Das begrüßen wir Grünen.
Wenn eine Kfz-Haftpflichtversicherung sich in der
Insolvenz befindet, sollen Versicherungsnehmerinnen
und Versicherungsnehmer besser vor existenzbedrohenden Schadensersatzansprüchen nach einem Unfall
Zu Protokoll gegebene Reden
geschützt werden. Krankenversicherte sollen selbst
- und nicht nur über den Rechtsanwalt oder die Ärztin bei ihrer privaten Krankenkasse Einsicht in Gutachten
oder Stellungnahmen nehmen können, wenn die
Notwendigkeit einer Heilbehandlung geprüft wird. Zusätzlich haben privat Versicherte mehr Zeit, ihre
Krankenversicherung zu kündigen, wenn die Beiträge
erhöht werden.
Versicherungen tragen dazu bei, finanzielle Lebensrisiken für den Einzelnen und die Einzelne abzusichern. Das ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.
Besonders gut ist das Verhältnis zwischen Versicherung und Versicherten dann, wenn es ausgewogen ist.
Deshalb ist es wichtig, dass beide Seiten starke Rechtspositionen haben und diese Rechte auch effektiv durchsetzen können.
Hier weist der Regierungsentwurf eine empfindliche
Schwäche auf: Die Bundesregierung will einen
Auskunftsanspruch der privat Versicherten gegenüber
ihren Krankenversicherungen einführen. Privat
Versicherte sollen bei größeren Heilbehandlungen von
ihrer Versicherung im Vorhinein Auskunft darüber verlangen dürfen, ob diese die Kosten der Behandlung
übernimmt. In dringenden Fällen hat die Versicherung
unverzüglich die Auskunft zu erteilen.
Die Regelung dieses Auskunftsanspruchs ist erforderlich, weil es immer wieder Fälle gibt, in denen
Versicherungsnehmer so lange auf die Antwort ihrer
Versicherung warten müssen, dass die Behandlung
schon fast zu spät erfolgt. Im schlimmsten Fall tragen
die Betroffenen dann irreparable Schäden davon.
Der Haken am neuen Auskunftsanspruch ist aber,
dass der Gesetzentwurf der Regierung keine verbindliche Auskunft der Versicherung vorsieht. Das heißt, der
Versicherte bekommt eine Auskunft des Versicherungsunternehmens über die Kostenübernahme, kann sich
aber nicht darauf verlassen, dass die Versicherung die
Kosten anschließend tatsächlich übernimmt. Und das
ist nicht nur meine Einschätzung. Diese Interpretation
teilt auch der Bundesrat.
Die Bundesregierung gibt zwar an, dass die Zusage
der Versicherung verbindlich sei, wenn diese eine
abschließende Bewertung anhand aller Unterlagen
vorgenommen habe. Aber das schreibt sie nicht ins
Gesetz. Der Vorgängerentwurf, der Referentenentwurf,
hatte die Verbindlichkeit noch ausdrücklich beinhaltet.
Und auch in der Gesetzesbegründung steht nicht, dass
eine Zusage verbindlich ist. Ich zitiere Seite 13 des
Gesetzentwurfs: „Legt der Versicherungsnehmer Unterlagen vor, muss der Versicherer in seiner Antwort
im Sinne einer gesteigerten Darlegungslast auf die
Unterlagen eingehen; die Antwort erlangt einen höheren Grad an Verbindlichkeit.“
Da frage ich mich: Was ist ein höherer oder niedrigerer Grad an Verbindlichkeit? Hier gibt es nur ein
Entweder-oder: Entweder ist eine Auskunft verbindlich, oder sie ist es nicht.
Und es kommt noch schlimmer: Bleibt der Gesetzestext so, wie er jetzt ist, wäre es letztendlich für den
Versicherten besser, er erhielte gar keine Antwort von
seiner Versicherung. In diesem Fall greift nämlich
nach Ablauf der Frist zur Antwort die gesetzliche Vermutung ein. Das bedeutet, es wird vermutet, dass die
beabsichtigte Heilbehandlung notwendig ist und damit
die Krankenversicherung die Kosten übernehmen
muss. Um diese Vermutung zu widerlegen, muss dann
die Versicherung beweisen, dass die Behandlung nicht
notwendig war.
Im Klartext heißt das: Der Versicherte, der von seiner Versicherung keine Auskunft erhalten hat, hat im
Prozess eine stärkere Position als der Versicherte, der
eine unverbindliche Auskunft bekommen hat. Bei der
unverbindlichen Auskunft trägt nämlich der Versicherte die Beweislast dafür, dass seine Versicherung
zur Zahlung der Behandlungskosten verpflichtet ist.
Rechtsstreitigkeiten über die Verbindlichkeit einer
Auskunft der Krankenversicherung sind damit vorprogrammiert. Das aber muss eine solide Rechtspolitik
vermeiden. Ihr Anspruch muss sein, Rechtsstreitigkeiten vorzubeugen, nicht aber, sie erst zu verursachen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12199, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/11469 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Stimmenthaltung der Grünen und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Uranmunition ächten
- Drucksache 17/11898 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({0})Verteidigungsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen worden.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die Bundeswehr
verfügt über keine Munition mit abgereichertem Uran
und plant auch nicht, diese in Zukunft zu beschaffen.
Im Mittelpunkt des Antrages der Fraktion Die Linke
steht deshalb auch nicht der bundeswehrinterne
Umgang mit DU-Munition - Depleted-Uranium-Munition -, sondern der weltweite Stopp des Einsatzes
dieser Munition. Zwar macht die Bundeswehr keinen
Gebrauch von DU-Munition, aber andere Nationen
nutzen sie. Hierzu gehören beispielsweise auch die
USA, Frankreich oder Großbritannien.
Ich wundere mich, ehrlich gesagt, wieso gerade
jetzt ein derartiger Antrag der Fraktion Die Linke
kommt. Die Haltung des Bundesverteidigungsministeriums zum Einsatz von DU-Munition, die wir als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion teilen, hat sich nicht geändert. Zum letzten Mal ausführlich dargestellt wurde sie
in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im
November 2010.
Die Forderung verschiedenster Organisationen
nach einem Verbot von Munition mit abgereichertem
Uran ist nach heutigem Stand der wissenschaftlichen
Untersuchungen nicht abgesichert. Die Studien, die
unter anderem durch NATO, IAEA, WHO oder durch
die Europäische Kommission durchgeführt wurden,
haben keine Hinweise auf eine relevante Gefährdung
von Mensch und Umwelt durch DU-Munition ergeben.
Insbesondere konnte kein wissenschaftlich nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Munition und den
mit ihr in Verbindung gebrachten Krankheiten festgestellt werden. Dies ging schon aus der bereits erwähnten Antwort der Bundesregierung hervor. Ohne
eine fundierte wissenschaftliche Begründung für die
Risiken von DU-Munition ist ein Moratorium oder ein
Verbot des Einsatzes nicht durchsetzbar.
Zuständig für medizinische Fragen hinsichtlich
ionisierender Strahlung ist das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr. Zu dessen Aufgaben gehört es,
die wissenschaftliche Fachliteratur zur Wirkung von
DU-Munition fortwährend auszuwerten. Auf meine
Nachfrage hin hat das Bundesverteidigungsministerium mir mitgeteilt, dass auch in den vergangenen
zwei Jahren keine seriöse Untersuchung zu einem anderen Ergebnis gekommen sei. Am Sachstand hat sich
demnach nichts geändert.
Ich halte die Entscheidung der Bundeswehr, selbst
keine Munition mit abgereichertem Uran einzusetzen,
für richtig. Ein völkerrechtliches Verbot von Munition,
die abgereichertes Uran enthält, gibt es jedoch nicht.
Unsere Verbündeten und ihre Streitkräfte entscheiden
eigenmächtig und eigenverantwortlich darüber, ob sie
DU-Munition einsetzen oder nicht. Dies trifft übrigens
auch im Rahmen multilateraler Einsätze zu. Unser
Fokus im Parlament und im Speziellen im Verteidigungsausschuss sollte der Bundeswehr gelten, für die
sich in diesem Fall jedoch keine primären Verpflichtungen ableiten lassen. Den Antrag der Fraktion Die
Linke lehne ich deshalb ab.
Wir beraten heute über einen Antrag der Fraktion
Die Linke, Uranmunition zu ächten. Um eins vorweg
klar zu sagen: Uranmunition spielt innerhalb unserer
Bundeswehr keine Rolle. Grundsätzlich möchte ich
aber auch feststellen, dass Uranmunition nicht in einer
Reihe mit Streumunition oder etwa bestimmten Formen von Minen zu sehen ist.
Ein einseitiger Entschluss Deutschlands, Uranmunition zu ächten, würde diese auf keinen Fall von dieser Welt verschwinden lassen. Das müsste eigentlich
auch der Linken einleuchten. Sie, die Linke, weisen in
Ihrem Antrag selbst darauf hin, welche und wie viele
Länder weltweit Uranmunition vorhalten bzw. in Konflikten einsetzen. Wenn also an dieser Situation etwas
geändert werden soll, wenn Uranmunition weltweit
abgeschafft werden soll, ist es wenig hilfreich, wenn
sich ein Land wie Deutschland, welches nicht einmal
über Uranmunition verfügt, einseitig dagegen erklärt.
Ich schlage Ihnen vor, wenn Sie es für so wichtig erachten, andere Länder, vor allem solche, die über
Uranmunition verfügen, von Ihrem Anliegen zu überzeugen.
Deutschland hat sich richtigerweise dafür entschieden, gegen den Einsatz von Streumunition vorzugehen.
Seit dem 1. August 2010 gilt das Übereinkommen
über Streumunition, welchem 111 Staaten beigetreten
sind. Deutschland wird die Vorgaben aus diesem Übereinkommen eher erreichen als vorgesehen. Bis 2015
werden alle Bestände der Bundeswehr an Streumunition vernichtet, und damit drei Jahre früher als im
Übereinkommen festgelegt. Um dieses Ziel zu erreichen, werden bzw. wurden von der Bundesregierung
für den Zeitraum 2000 bis 2015 59 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt. Auch wenn bis zur weltweiten Ächtung von Streumunition noch ein weiter Weg zu gehen
ist, so war dieses Vorgehen für Deutschland ein folgerichtiger und wesentlicher Schritt.
Was aber das Thema Uranmunition betrifft, so
möchte ich Ihnen zwei Dinge zu bedenken geben. Gegenwärtig gibt es keine valide Untersuchung, die einen
wissenschaftlich nachweisbaren Zusammenhang zwischen Uranmunition und den damit in Verbindung gebrachten Krankheiten herstellt. Sogar das Internationale Rote Kreuz, IKRK, sieht aufgrund der
unbestätigten Fakten keinen Anlass, die Forderung
nach einem Moratorium für DU-Munition aufzumachen.
Da vertraue ich auch auf unsere Fachärzte in der
Bundeswehr. Das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr zum Beispiel wertet regelmäßig neue und neueste Fachliteratur und Studien zum Thema abgereicherte Uranmunition aus. Sollten sich da neue
belastbare Erkenntnisse ergeben, können Sie darauf
vertrauen, dass gehandelt wird.
Des Weiteren existieren keine Anhaltspunkte, dass
der Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran gegen das Völkerrecht verstößt. Ein solcher Einsatz ist,
Zu Protokoll gegebene Reden
wie im Übrigen der Einsatz anderer konventioneller
Waffen auch, den allgemeinen Bedingungen des humanitären Völkerrechts unterworfen. Und diese haben ja
- wie sie wissen sollten - den Zweck, die Bevölkerung
zu schützen.
Die von der Linken gewählte Methode, über Anträge Entscheidungen zu erzwingen, ist hier kontraproduktiv. Betroffene Staaten könnten sich von einem
einseitigen Entschluss vor den Kopf gestoßen fühlen,
worunter eine eventuelle Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft leiden könnte. Aus diesem Grund ist
der Antrag der Linken abzulehnen.
Mir erscheint es sowieso, als ob die Linken dieses
Thema nur aufgrund des politischen Rampenlichts gewählt haben. Um in diesem zu erscheinen, nehmen sie
selbst einen Misserfolg in der Sache in Kauf.
Dabei zeigt sich überdeutlich, dass wir uns bereits
im Wahljahr befinden. Aufgrund der guten und erfolgreichen Regierungsarbeit scheinen Teilen der Opposition die Themen auszugehen, und sie klammern sich an
jeden sich bietenden Strohhalm, um Aufmerksamkeit
zu erlangen. Das hilft nicht in der Sache und ist
schlussendlich leicht zu durchschauen.
Am 6. April 2011 hat sich der Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ mit
dem Thema Uranmunition befasst, nicht zum ersten
Mal.
DU, Depleted Uranium Ammunition, also Munition
mit abgereichertem Uran, wurde 1991 im Golfkrieg,
2003 im Irakkrieg und im Jugoslawienkrieg eingesetzt.
Abgereichertes Uran ist ein Abfallprodukt der Urananreicherung zur Herstellung von Brennelementen. Es
ist besonders hart und wird zur Herstellung von panzerbrechender Munition benutzt.
Im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg gab
es schon 1999 in Deutschland eine Diskussion über
Gesundheitsgefährdung durch DU-Munition. Die Diskussion tobt bis heute. In der letzten Expertenanhörung im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ waren wir mit zwei
divergierenden Meinungen konfrontiert. Diese Kontroverse gibt es seit Jahren.
Die kontroverse Diskussion fand einen ersten Höhepunkt im Jahr 2000/2001. So warnten 2001 die USA
ihre Soldaten in Deutschland auf einer Internetseite
vor Strahlengefahren durch DU-Munition; SZ vom
11. Januar 2001. Im Golfkrieg, so hieß es dort, hätten
DU-Geschosse zahlreiche Soldaten verletzt und sie einer gefährlichen Strahlung ausgesetzt. Die Soldaten
sollten daher Schutzmasken tragen und ihre Haut abdecken, wenn sie sich in der Nähe von Fahrzeugen aufhielten, die mit DU beschossen wurden.
Schon am 1. Juli 1999 veröffentlichten die Joint
Chiefs of Staff der US-Armee eine Warnung vor den Risiken von DU-Munition. Alle verbündeten Soldaten
sollten besondere Vorsicht walten lassen beim Betreten
von Gebieten im Kosovo, die mit DU-Munition beschossen worden waren. Die Menschen sollten die
Reste der Munition nicht berühren und Schutzmaßnahmen einhalten. Deutschland, Frankreich und andere
Länder gaben die Warnungen an ihre Soldaten weiter.
Am 11. Januar 2001 berichtete die „Frankfurter
Rundschau“ über einen internen Bericht des britischen Verteidigungsministeriums von 1997, der vor
Gesundheitsgefahren beim Umgang mit diesen Geschossen warnt. Der Bericht warnt davor, dass das
Einatmen von Uranstaub langfristige Risiken mit sich
bringt. Der Staub erhöhe die Wahrscheinlichkeit der
Entwicklung von Lungen-, Lymphknoten- oder Gehirnkrebs. Obwohl der chemische Giftgehalt gering sei,
könnten Strahlenschäden in der Lunge auftreten, die zu
Krebs führen können. Auch das Golfkriegssyndrom bei
US-Soldaten wurde auf Exposition von DU-Munition
zurückgeführt.
Tatsache ist, dass bei der Verwendung der DU-Munition die selbstentzündlichen Uranmetalle verbrennen und DU-Partikel als Aerosole bilden, die über die
Atemwege in den Körper gelangen. Der Staub kontaminiert auch die getroffenen Panzer, ebenso Luft und
Boden der Umgebung.
Es liegt mittlerweile eine Reihe von Studien über die
Gesundheitsgefährdung durch DU-Munition vor. Im
Jahr 2001 wertete der Wissenschaftliche Dienst sechs
Studien aus, die alle auf potenzielle Risiken hinwiesen,
aber im Endeffekt eine gesundheitliche Schädigung für
eher unwahrscheinlich halten. Für uns ist dies ein
Dilemma, weil diese Studien immer für die Unbedenklichkeit der Munition herangezogen werden. Andere
Untersuchungen werden übergangen, diffamiert oder
als unprofessionell abgetan.
Wissenschaftliche Belege zeigen allerdings die
schädliche Wirkung von DU-Waffen auf die menschliche Gesundheit. Anzuführen wären die Ergebnisse von
Tier- und Zellexperimenten, das hohe Vorkommen von
Chromosomenaberrationen durch erhöhte Strahlenbelastung in Blutproben von Golfkriegsveteranen,
ebenso vermehrte Krankheitsfälle in dieser Gruppe. In
Basra im Südirak führen Ärzte viele Krankheitsfälle
auf DU-Munition zurück.
Die Generalversammlung der UNO befasste sich
wiederholt mit dem Thema der Auswirkung von DU. In
den Jahren 2007 und 2008 wurden die Staaten aufgefordert, dem Generalsekretär Berichte über ihre
Erfahrungen und Erkenntnisse vorzulegen, der Generalsekretär sollte darüber einen Bericht an die Generalversammlung vorlegen.
Im Jahre 2011 wurde die Resolution 65/55 beschlossen, in der die Aufforderung an die Staaten erneuert
wurde, ihre Berichte abzuliefern. Die Resolution stellte
fest, dass bisherige Studien zur Wirkung von DU, wie
die der IAEA, der UNO-Umweltorganisation UNDEP
und Weltgesundheitsorganisation WHO, keine hinreichend detaillierten Erkenntnisse zu Wirkung und mögZu Protokoll gegebene Reden
lichen Langzeiteffekten auf Mensch und Umwelt erbracht hätten. Die Resolution fordert neue Studien und
Forschungen ein. Deutschland hat dieser Resolution
zugestimmt.
Der neue Bericht des Generalsekretärs liegt vor.
Darin referiert der Generalsekretär die eingegangenen Berichte der Staaten. Die Niederlande fordern zusätzliche Forschungen ein. Die Niederlande wenden
keine DU-Munition an, sind aber besorgt um die
Sicherheit ihrer Soldaten in internationalen Einsätzen.
Besonders interessant ist der Bericht Serbiens.
Vranje, Bujanovac und Presevo waren betroffene Orte.
Serbien geht davon aus, dass es radioaktive Kontamination gegeben hat, die menschliches Leben, Fauna
und Flora bedroht - nicht nur unmittelbar am Ort des
Beschusses, sondern auch weiter entfernt. Wie in anderen Untersuchungen auch werden die entstehenden
Aerosole als besonders gefährlich betrachtet. Abgereichertes Uran wurde noch bei der Dekontaminierung
des betroffenen Bodens in der Luft gemessen. In Serbien gehen die Langzeitstudien weiter.
Die Häufung bösartiger Erkrankungen, besonders
in Südserbien, wird auf DU zurückgeführt. Ein steiles
Ansteigen von angeborenen Missbildungen nach den
Luftangriffen wird berichtet und eine eklatante Häufung angeborener Bluterkrankungen. Der Bericht beklagt, dass manche Untersuchungen mangels adäquater medizinischer Ausrüstung nicht möglich gewesen
seien.
Ein irakischer Bericht von 2003 beschreibt ein dramatisches Ansteigen von Krebs bei Kindern, Leukämie
und Missbildungen. Diese Missbildungen seien in Gegenden aufgetreten, wo DU-Beschuss vorgekommen
ist.
Es ist zu befürchten, dass viele der Bedenken gegen
DU-Munition, die es auch in den USA gegeben hat, unterdrückt werden. Die Aussagen von Dough Rokke,
früherer Direktor des Depleted Uranium Project der
US-Armee sind interessant. Er betreute 100 US-Soldaten, die irakische Tanks, die mit DU-Munition beschossen worden waren, aufräumten und untersuchten.
Rokke sagte, dass „zu viele“ dieser Soldaten gestorben seien, aber er schrecke davor zurück, genaue Zahlen zu nennen, weil der Zusammenhang mit DU-Munition schwer zu beweisen sei.
Aus all dem folgt für mich: Es muss ein sofortiges
Moratorium für jeglichen Einsatz dieser Munition geben. Das hat die SPD im Übrigen schon 2001 im Bundestag gefordert. DU-Munition wird in Deutschland
weder hergestellt, noch ist sie in den Beständen der
Bundeswehr enthalten. Es gibt auch den Entwurf einer
Verbotskonvention für Uranmunition. Die bisher aufgezeigten Verdachtsmomente sollten genügen, Initiativen zum Verbot dieser Munition weiterzuverfolgen. Es
gibt Alternativen zu DU, zum Beispiel mit Wolfram
oder Tungsten gehärtete Munition. Diese ist teurer.
Sollte das Grund zum Ignorieren der Risiken durch
Uranmunition sein?
Das Thema DU-Munition beschäftigt den Bundestag seit mindestens 15 Jahren. Vor allem nach dem
Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan gab es heftige
Debatten über mögliche Gesundheitsgefährdungen
von Soldaten und der Zivilbevölkerung durch den Einsatz von Geschossen aus abgereichertem Uran. Der
damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping erklärte seinerzeit die Munition für unbedenklich und
stützte sich dabei auf eine Untersuchung der Gesellschaft für Strahlenforschung. Wegen der verbleibenden Unsicherheiten gab es in der Folge eine Reihe
weiterer Studien im internationalen Maßstab, um dem
Verdacht der Gesundheitsgefährdung wissenschaftlich
nachzugehen.
Zwei dieser Untersuchungen werden auch im vorliegenden Antrag der Linken erwähnt: die der Weltgesundheitsorganisation, WHO, und die des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, UNEP. Allerdings
werden die Ergebnisse sehr einseitig dargestellt.
Gleiches gilt für den Bezug auf die VN-Resolution zu
DU-Munition, die für sich genommen natürlich kein
Beweis und auch kein Indiz für die gesundheitliche Bedenklichkeit von abgereichertem Uran ist. Einen solchen Beweis gibt es auch nicht. Belegen können die
Gegner von DU-Munition deren vermeintliche Schädlichkeit für Mensch oder Umwelt nämlich nicht. Aus
dieser Erkenntnis heraus haben sie eine einfache Forderung entwickelt: Die Beweislast soll umgekehrt werden. Wer DU-Munition einsetzen will, soll nachweisen,
dass diese für Mensch und Umwelt ungefährlich ist.
Bis dahin soll gelten: Sie ist gefährlich. Nur so ist auch
der Verweis auf die vermeintliche Völkerrechtswidrigkeit der Munition zu verstehen.
Nicht jeder kann sich dieser Logik anschließen. So
konnte zum Beispiel das Internationale Komitee des
Roten Kreuzes bisher keinen Verstoß gegen das Völkerrecht erkennen und sah wegen der unbestätigten
Faktenlage auch keinen Anlass, ein Verbot der Munition zu fordern.
Dafür spricht auch das, was die Linke bei dem Verweis auf die Untersuchungen von WHO und UNEP
nicht erwähnt. Beide Studien wecken Zweifel an einer
Gesundheitsgefährdung durch abgereichertes Uran.
Laut WHO ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Zivilbevölkerung und die Soldaten einer unnatürlich hohen
Strahlung ausgesetzt werden. SCHER, ein wissenschaftlicher Ausschuss der Europäischen Kommission,
kam zu den gleichen Ergebnissen. Einen wissenschaftlich nachweisbaren ursächlichen Zusammenhang zwischen DU-Munition und den verschiedentlich damit in
Verbindung gebrachten Krankheiten gibt es also nicht.
Im besten Fall lässt sich also den Gegnern von DUMunition zugutehalten, dass weder das eine noch das
andere lückenlos zu belegen ist. Da die Bundesrepublik selbst aber keine DU-Munition besitzt und wohl
auch nie vorsätzlich zum Einsatz gebracht hat, besteht
für Deutschland auf nationaler Ebene kein unmittelbarer Handlungsbedarf. In den letzten zehn Jahren hat es
Zu Protokoll gegebene Reden
auch international keinen bestätigten Einsatz von abgereichertem Uran mehr gegeben. Zudem lässt sich
derzeit innerhalb der VN noch nicht einmal ein Konsens zu der bereits erwähnten Resolution herstellen,
und das, obwohl hier sehr viel weniger als ein Verbot
oder ein Moratorium von DU gefordert wird. Maximalforderungen bringen daher niemanden weiter.
Man sollte das Thema auch nicht emotional aufladen und DU-Munition in die Nähe von Atomwaffen rücken. Stattdessen empfiehlt sich, das zu tun, was dem
Stand unseres Wissens entspricht: Transparenz, Aufklärung und Vorsichtsmaßnahmen.
Krieg verursacht nicht nur unzähliges menschliches
Leid. Krieg führt auch immer wieder zu verheerender
Umweltzerstörung. Beides kommt zum Beispiel dann
vor, wenn Waffen mit abgereichertem Uran eingesetzt
werden. Viele wissenschaftliche Arbeiten lassen keinen
Zweifel an den schweren gesundheitlichen Schäden
durch Uranmunition. Sie treffen sowohl die beteiligten
Soldatinnen und Soldaten als auch die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten. Dennoch behauptet
die Bundesregierung hartnäckig, dass eine Gefährdung durch abgereichertes Uran nur spekulativ sei. Sie
setzt sich deshalb nicht eindeutig für eine weltweite
Ächtung dieser Waffen ein. Hier ist ein Umdenken
angesagt. Die Linke unterstützt die Anti-UranwaffenKampagne, die die deutsche Sektion der International
Coalition to Ban Uranium Weapons, ICBUW, gemeinsam mit der IPPNW - Internationale Ärzte für die
Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung - initiiert hat.
Ein erster Schritt in die richtige Richtung war im
Dezember die Zustimmung der Bundesregierung zum
indonesischen Resolutionsentwurf in der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Die Resolution
macht sich für das Vorsorgeprinzip stark: Staaten, die
Uranmunition einsetzen, müssten nach diesem Prinzip
beweisen, dass dadurch keine nachhaltigen Schäden
für Zivilbevölkerung und Umwelt entstehen. Dies zu
beweisen, dürfte ziemlich schwierig werden.
Leider sind Beschlüsse der UN-Vollversammlung
nicht völkerrechtlich bindend. Deshalb ist es notwendig, dass die Bundesregierung sich nun auch für eine
internationale Konvention zur Ächtung von Uranwaffen einsetzt. Sie hätte dabei Zivilgerichte in Schottland
und Italien auf ihrer Seite. Mitte Oktober wurde erneut
Uranmunition als Todesursache für einen im Jahr
2000 an Leukämie verstorbenen italienischen Soldaten
anerkannt.
Ungeachtet der bekannten Risiken halten eine Reihe
von Staaten an der Verwendung von abgereichertem
Uran in ihrer Munition fest, zum Beispiel die USA,
Großbritannien, Russland, China, Türkei, Israel, Pakistan, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Kuwait. Gerüchte über einen Uraneinsatz der USA 2011 in Libyen konnten bislang nicht
entkräftet werden. Zudem gibt es den Vorwurf an die
französische Regierung, sie setze derzeit im MaliKrieg Uranmunition ein. Dafür gibt es momentan
keine Beweise; meistens kann der Uraneinsatz erst
Jahre später zweifelsfrei festgestellt werden. Ein Uranmunitionseinsatz Frankreichs in Mali wäre besonders
zynisch, weil der billige Zugang zu den Uranvorkommen in der Sahelzone einer der Hauptgründe für den
französischen Militäreinsatz ist. Man würde also abgereichertes Uran einsetzen, um weiterhin Uran abbauen
zu können, was man dann wieder abgereichert im
nächsten Krieg einsetzen kann. Ein Teufelskreis, der
schnell unterbrochen werden muss!
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für
den sofortigen Stopp des Einsatzes von Uranmunition
einzusetzen, gestützt auf das Vorsorgeprinzip, Precautionary Approach. Herstellung, Besitz, Einsatz, Verkauf und Lieferung von Waffen, die abgereichertes
Uran enthalten, müssen in Deutschland untersagt werden. Auch auf die in Deutschland stationierten Streitkräfte der NATO-Verbündeten ist einzuwirken, keine
Munition mit abgereichertem Uran in Deutschland
einzusetzen, zu lagern oder über Deutschland weiter
zu transportieren. Die Münchener Sicherheitskonferenz wäre die nächste Gelegenheit, den Abzug aller
Uranwaffen zu fordern. Das wäre eine sinnvollere
Beschäftigung für Minister Westerwelle als in München, wie jedes Jahr, weitere Kriegseinsätze zu besprechen. Allerdings reicht es nicht, auf einen Beschluss
der NATO zu hoffen. Deutschland kann auch von sich
aus Druck gegen den Einsatz dieser furchtbaren
Waffen machen. Was wir für Streumunition fordern,
gilt auch für Waffen mit abgereichertem Uran. Die finanzielle Unterstützung von Herstellern dieser Waffen
durch deutsche Banken oder Investitionsfonds gehört
verboten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich im
Rahmen der Vereinten Nationen für die weltweite Ächtung von Uranmunition einzusetzen. Eine internationale Konvention ist notwendig. Außerdem halten wir
die Einsetzung eines UN-Sonderbeauftragten mit ausreichenden Kompetenzen für sinnvoll.
Die Gebiete, in denen Uranmunition eingesetzt worden ist, müssen ausgewiesen und die Bevölkerung
muss über die Risiken informiert werden. Medizinische
und finanzielle Unterstützung für die Opfer muss
bereitgestellt und Projekte zur Dekontaminierung
müssen initiiert werden. Die Finanzierung kann durch
die Gründung einer entsprechenden Stiftung sichergestellt werden.
Deutschland setzt seit einigen Jahren keine Uranmunition mehr ein. Ich bin allerdings auch nicht blind
gegenüber der Tatsache, dass die Bundeswehr in
Afghanistan und anderswo Wolfram zum Panzerbrechen benutzt. Auch das Schwermetall Wolfram kann
schlimme Schäden für die Umwelt und die
Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten anrichten.
Deswegen ist für die Linke die Ächtung von UranmuniZu Protokoll gegebene Reden
tion nur der erste Schritt hin zur Ächtung aller Kriegswaffen.
Die langfristigen Risiken und gesundheitsgefährdenden Folgen des Einsatzes von Munition aus abgereichertem Uran sind seit langem Gegenstand abrüstungspolitischer Diskussionen. Auch wenn die
Bundeswehr selbst keine Uranmunition einsetzt, dürfen wir die mit dem Einsatz solcher Munition verbundenen gesundheitlichen Risiken und Schäden für die
Umwelt nicht ignorieren. Einer möglichen Gefährdung
sind sowohl die Zivilbevölkerung als auch viele Entwicklungshelferinnen und -helfer, die sich in den betroffenen Gebieten gerade nach dem Ende der Kampfhandlungen aufhalten, ausgesetzt. Das gilt aber auch
für Angehörige der Bundeswehr, wenn sie sich im Einsatz mit Verbündeten, die Uranmunition einsetzen, befinden oder in Gebieten stationiert sind, in denen
Uranmunition benutzt wurde. Immerhin erhalten die
deutschen Soldatinnen und Soldaten ja auch im Einsatz vorsorglich genaue Anweisungen zum Schutz vor
Überresten von Uranmunition, und das aus gutem
Grund; denn das Gesundheitsrisiko kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Die angebliche Unkenntnis der Bundesregierung
darüber, ob, wann und wo unsere Verbündeten Uranmunition verwenden oder verwendet haben, macht jedoch eine gewissenhafte Vorsorge unmöglich. Trotzdem hält sie es nicht für nötig, Informationen darüber
einzuholen, in welchen Gebieten Verbündete Uranmunition eingesetzt haben. Ich zitiere dazu eine Antwort
aus unserer Kleinen Anfrage vom November 2010:
„Die Bundeswehr ermittelt keine Informationen über
die Verwendung von DU-Munition durch Verbündete.
Ferner werden keine Listen über Staaten, die DU-Munition produzieren, besitzen oder einsetzen, geführt.“
Das ist fahrlässig und ignorant, geht es doch um Menschen, deren Einsatz der Deutsche Bundestag und die
Bundesregierung verantworten. Diese Unsicherheit
muss endlich aufhören. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die für ein umfassendes Gefahrenbild
nötigen Informationen von unseren Partnern in der
Europäischen Union und in der NATO über den Einsatz von Uranmunition zur Verfügung stehen.
Wir brauchen außerdem weitere Untersuchungen zu
den mittel- und langfristigen Folgen und Gefahren für
Mensch und Umwelt. Die bisher veröffentlichten Studien und Gutachten, beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation, des Umweltprogramms der Vereinten Nationen sowie der Internationalen AtomenergieOrganisation, weisen in unterschiedliche, teils gegensätzliche Richtungen. Manche verweisen ausdrücklich
auf schwerwiegende toxische Schädigungen und ein
erhöhtes Leukämie- und Krebsrisiko, während andere
einen kausalen Zusammenhang verneinen. Eine Forderung nach einem Verbot schießt angesichts der wissenschaftlichen Unklarheit über das Ziel hinaus. Aber
soll man den Einsatz solange hinnehmen, bis gesundheitliche Schädigungen bei einer wissenschaftlich hinreichend großen Anzahl von Menschen eindeutig und
zweifelsfrei nachgewiesen worden sind? Das kann niemand verantworten.
Wir Grüne fordern deshalb ein Moratorium für den
Einsatz von Uranmunition, bis Gewissheit über das
gesundheitsgefährdende Potenzial dieser Munitionsart
herrscht. Wir brauchen eine verlässliche Langzeitforschung auf internationaler Ebene, die stichhaltige Aussagen über den Zusammenhang von gesundheitlichen
Beeinträchtigungen und dem Einsatz von Uranmunition liefert. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung im Rahmen der Vereinten Nationen für
die Anwendung des Vorsorgeprinzips in Bezug auf
Uranmunition gestimmt hat. Jetzt geht es darum, diese
Entscheidung auch konsequent umzusetzen.
Dazu gehört vor allem auch eine umfassende Bestandsaufnahme, wo genau weltweit Uranmunition zur
Anwendung kam, damit die mit Rückständen verseuchten Gebiete dekontaminiert werden können. Ich fordere
die Bundesregierung deshalb auf, sich mit Nachdruck
für die allgemeine Beachtung des Vorsorgeansatzes
einzusetzen und vor diesem Hintergrund auf ein effektives internationales Moratorium für Uranmunition
hinzuwirken.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11898 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
soll jedoch abweichend von der Tagesordnung beim
Auswärtigen Ausschuss liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Schutz des Erbrechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder im Nachlassverfahren
- Drucksache 17/9427 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/12212 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jan-Marco LuczakSonja Steffen Stephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen worden.
Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf zum Schutz des Erbrechts und der Verfahrensbe27252
teiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter
Kinder im Nachlassverfahren.
Mit dem Gesetz möchten wir die Überführung der
von 1970 bis 2009 bei den Standesämtern geführten
sogenannten weißen Karteikarten in das Zentrale Testamentsregister der Bundesnotarkammer sicherstellen.
Wir möchten dadurch die erbrechtlichen Ansprüche
nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder schützen,
die seit 2010 bestehende Gesetzeslücke schließen und
die Erteilung unrichtiger Erbscheine verhindern.
Hintergrund ist, dass nichtehelichen und einzeladoptierten Kindern ebenso wie ehelichen Kindern
seit 1998 ein gesetzliches Erbrecht zusteht. Dennoch
wurde beim Standesamt bis Ende 2008 bei der Eintragung der Geburt eines Kindes zwischen ehelichen und
nichtehelichen Kindern unterschieden. Im Gegensatz
zu ehelichen Kindern, die in das Familienbuch der Eltern eingetragen wurden, wurden für nichteheliche
oder einzeladoptierte Kinder sogenannte weiße
Karteikarten angelegt, die anschließend mit dem Geburtseintrag der Eltern verknüpft wurden. Folglich
ordneten die Geburtsstandesämter mit den weißen
Karteikarten nichteheliche und einzeladoptierte Kinder ihren Eltern zu und sicherten im Erbfall ihre Beteiligung, indem sie nach dem Tod eines Elternteils von
Amts wegen das Nachlassgericht informierten.
Das Verfahren zur Benachrichtigung wurde durch
die Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundes zum
Personenstandsgesetz geregelt. Es handelt sich dabei
um eine Dienstanweisung für die Standesbeamten und
ihre Aufsichtsbehörden vom 27. Juli 2000, die sicherstellte, dass im Falle des Todes eines Elternteils das
zuständige Nachlassgericht vom Vorhandensein eines
nichtehelichen Kindes informiert wird. Für die Mitteilung an den Geburtseintrag der Eltern wurden die weißen Karteikarten in die bereits bei den Standesämtern
bestehende Testamentskartei integriert, die zuvor nur
Mitteilungen über das Vorliegen von Verwahrungsnachrichten, sogenannte gelbe Karteikarten, enthielt.
Mit dieser Vorgehensweise wurde sichergestellt,
dass das zuständige Nachlassgericht nach dem Tod eines Elternteils automatisch von der Existenz eines
nichtehelichen oder einzeladoptierten Kindes erfuhr,
und es wurde gleichzeitig gewährleistet, dass die Betroffenen die Möglichkeit hatten, ihre Rechte effektiv
wahrzunehmen.
Durch das am 1. Januar 2009 in Kraft getretene
neue Personenstandsgesetz, PStG, wurde unter anderem das standesamtliche Mitteilungsverfahren bei Geburt eines Kindes geändert. Seitdem wird die Geburt
jedes Kindes beim Geburtseintrag jedes Elternteils
vermerkt, unabhängig davon, ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder nicht. Seitdem werden also
keine neuen weißen Karteikarten mehr angelegt.
Im Rahmen dieser gesetzlichen Neuregelung wurde
durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz, PStG-VwV, die zuvor erwähnte
Dienstanweisung aufgehoben. Eine vergleichbare Regelung konnte in die neue Verwaltungsvorschrift nicht
aufgenommen werden, da das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit nur Regelungen zum Mitteilungswesen für Verwahrungsnachrichten - die sogenannten gelben Karteikarten - enthält. Folglich fehlt
seit 2010 eine gesetzliche Grundlage für die Benachrichtigung in Bezug auf die noch existierenden weißen
Karteikarten. Es besteht daher ein dringender gesetzlicher Handlungsbedarf; denn schon heute droht mangels Informationsweitergabe die Erteilung unrichtiger
Erbscheine.
Um diese Lücke zu schließen, ist vorgesehen, die
weißen Karteikarten in das von der Bundesnotarkammer geführte Zentrale Testamentsregister für Deutschland, das seit dem 1. Januar 2012 in Betrieb ist, zu
überführen. Mit Einführung des Zentralen Testamentsregisters wurde das Benachrichtigungswesen für amtlich verwahrte Testamente und Erbverträge modernisiert. Es enthält die Verwahrangaben zu sämtlichen
erbfolgerelevanten Urkunden, die vom Notar errichtet
werden oder in gerichtliche Verwahrung gelangen.
Das Register wird in jedem Sterbefall von Amts wegen
auf vorhandene Testamente und andere erbfolgerelevante Urkunden geprüft. Die Bundesnotarkammer informiert daraufhin das zuständige Nachlassgericht, ob
und welche Verfügungen von Todes wegen zu beachten
sind. Dadurch wird der letzte Wille des Erblassers gesichert, und Nachlassverfahren können schneller und
effizienter durchgeführt werden.
Bereits im Sommer 2012 hat die Bundesnotarkammer mit der Überführung der Verwahrungsnachrichten - gelbe Karteikarten - in das Zentrale Testamentsregister begonnen. Da die weißen Karteikarten und
Verwahrungsnachrichten, die denselben Erblasser betreffen, durch Heftung miteinander verbunden sind, ist
es zweckmäßig und ökonomisch sinnvoll, in einem Arbeitsgang auch die weißen Karteikarten in das Zentrale Testamentsregister zu überführen, dort elektronisch zu erfassen und weiter zu bearbeiten. Wenn dann
künftig ein Elternteil eines Kindes stirbt, erfolgt eine
Benachrichtigung der Registerbehörde an das zuständige Nachlassgericht. Dadurch kann die funktionierende Verknüpfung zwischen gelben und weißen Karteikarten wiederhergestellt werden.
Schließlich vertrauen betroffene Kinder und Elternteile darauf, dass die auf den weißen Karteikarten gesammelten Informationen auch künftig ihrem Zweck
entsprechend von Amts wegen erhalten bleiben. Denn
im Unterschied zu ehelichen Kindern kann man bei
nichtehelichen Kindern nicht ohne Weiteres davon
ausgehen, dass sie Kontakt mit beiden Elternteilen haben, vom Tod der Eltern erfahren und sich von sich aus
beim Nachlassgericht melden. Dies ist empirisch belegt. Deshalb muss gewährleistet sein, dass nichteheliche Kinder auch künftig von Amts wegen informiert
werden. Die Teilung der Kosten für die Überführung
der weißen Karteikarten in das Zentrale Testamentsregister entspricht der Vorgabe des Art. 104 a Abs. 1
Zu Protokoll gegebene Reden
Grundgesetz, nach der Bund und Länder gesondert die
Ausgaben aus der Wahrnehmung ihrer Tätigkeit tragen.
Abschließend möchte ich noch einmal die zentralen
Gründe, die für eine Übertragung der weißen Karteikarten sprechen, zusammenfassen:
Schon beim bisherigen Benachrichtigungswesen in
Nachlassverfahren waren die Verwahrungsnachrichten mit den weißen Karteikarten verknüpft.
Die körperliche Trennung der zusammengehefteten
erblasserbezogenen Verwahrungsnachrichten und
weißen Karteikarten durch die Standesämter kann entfallen.
Die Weiterführung der weißen Karteikarten in Papierform ist nicht zeitgemäß.
Benachrichtigungswege, die zum Betrieb des Zentralen Testamentsregisters ohnehin eingerichtet werden müssen, und technische Einrichtungen, die benötigt werden, können genutzt werden.
Bei einer Überführung der Daten auf den weißen
Karteikarten in das Zentrale Testamentsregister wird
künftig die Registerbehörde die Benachrichtigung der
zuständigen Gerichte übernehmen, wodurch die Standesämter entlastet würden.
Bei gleichzeitiger Überführung und Integration der
Daten können die Kosten für die Erfassung der weißen
Karteikarten gering gehalten werden. Eine dauerhafte
manuelle Weiterbearbeitung durch die Standesämter
wäre teurer.
Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten,
dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen
guten und vor allem auch kostengünstigen Weg gefunden haben, die erbrechtlichen Ansprüche von nichtehelichen und einzeladoptierten Kindern zu sichern.
Ich hoffe daher heute auf eine breite Zustimmung.
Durch das Anfang 2011 verabschiedete Gesetz zur
erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder
sind wir einen großen Schritt vorangekommen, um das
Erbrecht der betroffenen Kinder zu schützen.
Jedoch nützt dies unter Umständen wenig, wenn die
Kinder über den Tod des Elternteils nicht informiert
und die Nachlassgerichte über die Existenz weiterer
Erben nicht unterrichtet sind. Das kann zur Ausstellung falscher Erbscheine führen.
Die Datenerfassung ist bei nichtehelichen und
einzeladoptierten Kindern sehr unterschiedlich erfolgt. Erst seit dem 1. Januar 2009 wird einheitlich am
Geburtseintrag beider Eltern ein Hinweis auf alle
Kinder mit den Kindesdaten angebracht, ob ehelich
oder nichtehelich. Zuvor wurden seit 1970 - bzw. 1990
in den neuen Bundesländern - die Kindsdaten auf sogenannten weißen Karteikarten in der Testamentskartei der Eltern notiert. Im Personenstandsregister der
Eltern wurde lediglich ein Hinweis auf die Testamentskartei angebracht.
Nun werden die Testamentsverzeichnisse jedoch seit
2012 zentral geführt und nicht mehr, wie bisher, bei
den Standesämtern. Die Dienstanweisung, die für eine
Information der Nachlassgerichte über die weißen
Karteikarten sorgte, wurde aufgehoben. Seitdem gibt
es keine rechtliche Grundlage mehr für die Benachrichtigung.
Ich denke, es sind mehrere Möglichkeiten denkbar,
wie sichergestellt werden kann, dass die auf den
weißen Karteikarten gespeicherten Informationen erhalten und den Nachlassgerichten zugänglich bleiben.
Wichtig ist nur, dass endlich ein Weg gegangen wird,
um weitere fehlerhafte Erbscheine zu vermeiden und
die Rechtsunsicherheit zu beenden.
Es besteht jetzt die Gefahr, dass Informationen verloren gehen. Die Karteikarten können von den Standesämtern auch vernichtet werden. Dies hat uns die
Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage hin bestätigt und hat dabei - reichlich spät - angekündigt, sich
um diese Problematik zu kümmern.
Im Gegensatz zur Bundesregierung hat der Bundesrat gehandelt und im vorliegenden Entwurf vorgeschlagen, die Informationen der weißen Karteikarten
an die Bundesnotarkammer zu übermitteln, die dann
für eine Information der Nachlassgerichte sorgt. Die
mit den weißen Karteikarten in der Testamentskartei
verbundenen gelben Karteikarten, die auf Testamente,
Erbverträge oder ähnliche Schriftstücke hinweisen,
werden ohnehin an das Zentrale Testamentsverzeichnis der Bundesnotarkammer übermittelt und dort digital erfasst.
Die Bundesregierung hat den Entwurf des Bundesrates zunächst abgelehnt. In der vergangenen Woche
haben sich Bundesrat und Bundesregierung nun doch,
mit einigen Änderungen vor allem bezüglich der
Kostenübernahme und der Konkretisierung des Vorgehens, auf die vom Bundesrat vorgeschlagene Variante
geeinigt.
Ich bin sehr froh, dass endlich ein Kompromiss gefunden wurde. Die gefundene Lösung scheint vor allem
auch kurzfristig machbar und kostengünstig zu sein.
Es ist wichtig, hier schnell zu handeln, um den Verlust
der Informationen über die nichtehelichen und einzeladoptierten Kinder zu vermeiden.
In Deutschland haben alle Kinder ein gleichwertiges Erbrecht, unabhängig davon, ob sie aus einer Ehe
hervorgegangen, adoptiert sind oder unehelich geboren wurden. Allerdings wurde dieser - aus heutiger
Sicht - selbstverständliche Zustand erst vor nicht allzu
langer Zeit erreicht. Erst seit 1998 sind nichteheliche
Kinder mit Blick auf die Erbfolge nach ihrem Vater mit
ehelichen Kindern gleichgestellt. Für nichteheliche
Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden, gilt
dies sogar erst seit dem Jahr 2011.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es war ein wichtiger Schritt, dass für alle Nachkommen grundsätzlich gleiche Erbrechte geschaffen wurden, unabhängig von der Frage, welchen Familienverhältnissen die Kinder entstammen. Allerdings ist
dieses Recht nur dann von Nutzen, wenn die Betroffenen auch die notwendigen Informationen und Kenntnisse über ihnen zustehende Ansprüche haben. Dies ist
in der Praxis jedoch nicht automatisch gewährleistet.
Die von der Justizministerkonferenz eingesetzte Arbeitsgruppe „Zentrales Testamentsregister“ hat im
Zuge des Gesetzgebungsprozesses zum Entwurf eines
Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer,
Bundestagsdrucksache 17/2583, hierzu eine Umfrage
durchgeführt. An dieser haben über 100 Nachlassgerichte teilgenommen. Aus der Umfrage geht hervor,
dass nichteheliche Kinder oft nicht zu beiden Elternteilen Kontakt haben; zum Teil ist dem Kind sein Vater
nicht einmal bekannt.
Hinzu kommt, dass bis Ende 2008 in Standesämtern
bei der Geburt eines Kindes zwischen ehelichen und
nichtehelichen Kindern unterschieden wurde. Ehelich
geborene Kinder wurden in das Familienbuch der Eltern eingetragen, das zur Eheschließung angelegt
wurde. Für nichteheliche oder einzeladoptierte Kinder
wurden hingegen lediglich sogenannte weiße Karteikarten angelegt, die mit dem Geburtsregistereintrag
der Eltern verknüpft waren. Damit nun die vor 2009
nichtehelich geborenen Kinder ihre erbrechtlichen Ansprüche wahrnehmen konnten, informierte das Geburtsstandesamt nach dem Tod eines Elternteils von
Amts wegen das Nachlassgericht über die Existenz des
Kindes, wenn eine weiße Karteikarte vorhanden war.
Der Bund hatte zu diesem Zweck eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift erlassen. Diese Dienstanweisung
wurde im März 2010 aufgehoben, ohne dass bislang
eine entsprechende Neuregelung erfolgt ist. Dem bislang funktionierenden geschilderten Benachrichtigungswesen fehlt somit die Rechtsgrundlage. Dadurch
ist es denkbar, dass Erbberechtigte nicht erfahren,
dass der Erblasser verstorben und dadurch der erbrechtliche Anspruch entstanden ist. Diese Entwicklung
ist jedoch in der Bevölkerung weitestgehend unbekannt. Vielmehr vertrauen nichtehelich geborene und
einzeladoptierte Kinder sowie deren Eltern weiter darauf, dass die auf den weißen Karteikarten vorhandenen Informationen auch künftig an die Nachlassgerichte weitergeleitet werden. Dieses Vertrauen muss
geschützt werden. Folglich besteht hier Handlungsbedarf.
Die Inhalte der weißen Karteikarten sollen in das
bei der Bundesnotarkammer eingerichtete Zentrale
Testamentsregister überführt werden. Die Überführung soll im Zuge eines anderen, bereits eingeleiteten
Prozesses erfolgen. Der Deutsche Bundestag hat am
2. Dezember 2010 den Gesetzentwurf zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen
durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters
bei der Bundesnotarkammer, Bundestagsdrucksache
17/2583, verabschiedet. Darin ist geregelt, dass erbfolgerelevante Urkunden in ein zentrales Testamentsregister übertragen werden sollen, das bei der Bundesnotarkammer eingerichtet wird. Hierdurch soll der
Informationsfluss in Erbschaftssachen optimiert werden. Die Übertragung dieser Daten wird von der Bundesnotarkammer durchgeführt. Im Zuge dieses Prozesses soll die Bundesnotarkammer nun auch die auf den
weißen Karteikarten gespeicherten Daten zusammentragen und in das Zentrale Testamentsregister übernehmen. Dadurch wird gewährleistet, dass die zuständigen Nachlassgerichte auch in Zukunft von der
Existenz unehelicher und einzeladoptierter Kinder erfahren. Gleichzeitig können die Kosten des erforderlichen Datentransfers gesenkt werden, wenn die weißen
Karteikarten und erbfolgerelevante Unterlagen in einer gebündelten Aktion durch die Bundesnotarkammer
in das Zentrale Testamentsregister übertragen werden.
Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 des neuen Testamentsverzeichnis-Überführungsgesetzes ist es grundsätzlich die
Aufgabe der Länder, der Registerbehörde die erforderlichen Daten zur Verfügung zu stellen. Allerdings sieht
§ 9 Abs. 1 Satz 3 TVÜG-E vor, dass die Länder die
Bundesnotarkammer damit betrauen können, die Daten zu erfassen und der Registerbehörde zur Verfügung
zu stellen. Nehmen die Länder diese Möglichkeit war,
müssen sie die dadurch entstehenden Kosten tragen,
§ 9 Abs. 1 Satz 4 TVÜG-E.
Der FDP-Bundestagsfraktion ist es ein wesentliches
Anliegen, dass Nachkommen nicht nur im Erbrecht
grundsätzlich gleichbehandelt werden, unabhängig
von den Familienverhältnissen, denen sie entstammen.
Gleichzeitig müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass
die entsprechenden Rechte in der Praxis angewendet
werden können. Dafür wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gesorgt. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung für dieses Anliegen.
Bis 1998 waren nichteheliche Kinder erbrechtlich
ehelichen Kindern nicht gleichgestellt. Sie hatten kein
Erbrecht im Hinblick auf das Erbe des Vaters; es gab
eine Krückenkonstruktion über einen Erbersatzanspruch. Erst mit dem Erbrechtsgleichstellungsgesetz
vom 1. April 1998 wurden nichteheliche Kinder ehelichen Kindern gleichgestellt.
Natürlich hat eine derartige gesetzliche Regelung
- und überhaupt die frühere Differenzierung zwischen
nichtehelichen und ehelichen Kindern - auch erheblichen Einfluss auf die Verwaltungspraxis. Und so
kommt es, dass die Standesämter verschiedene Register geführt haben: Nichteheliche und adoptierte Kinder landeten in einem speziellen Register - weiße Karteikarten -, während eheliche Kinder im Familienbuch
mit den Eltern verewigt wurden. Die weißen Karten wurden lediglich mit Referenzen zu den Registereinträgen
der Eltern verknüpft. Über allgemeine Verwaltungsanweisungen wurde sichergestellt, dass Nachlassgerichte
Zu Protokoll gegebene Reden
bei Tod eines Elternteils auch über Kinder in weißen
Karten informiert wurden.
Diese Verwaltungsanweisung ist nun weggefallen,
sodass die Nachlassgerichte - bei ehelichen Kindern
reicht ja der Blick ins Familienbuch - keine entsprechenden Informationen mehr über nichteheliche Erben
erhalten.
Seit 1. Januar 2012 gibt es - geführt durch die Bundesnotarkammer - das Zentrale Testamentsregister,
das sämtliche erbfolgerelevanten Informationen digital abrufbar verwahrt.
Die Bundesländer schlagen nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vor, sämtliche weiße Karteikarten
in das Zentrale Testamentsregister zu überführen und
somit die Benachrichtigung der Nachlassgerichte über
erbfolgerelevante Tatsachen sicherzustellen. Dazu
werden die entsprechenden Vorschriften in der Bundesnotarordnung und dem TestamentsverzeichnisÜberführungsgesetz erweitert.
Treffend führt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu diesem - einstimmig - im Bundesrat beschlossenen Vorschlag zunächst aus, dass es eine gute
Regelung sei und grundsätzlich alles zu unterstützen
ist, was die Gleichbehandlung von ehelichen und
nichtehelichen Kindern sicherstellt. Bedenken gab es
aber hinsichtlich der Kosten, da die Überführung der
Karten etwa 1,5 Millionen Euro Kosten verursachen,
welche vom Bund zu tragen wären, da das Zentrale
Testamentsregister durch die Bundesnotarkammer in
bundeseigener Verwaltung geführt werde. Da aber die
Länder verantwortlich für die Ausführung des Benachrichtigungswesens im Personenstandswesen und Nachlasswesen sind, müssten sie eigentlich die Kosten tragen.
Eine Überführung ins Zentrale Testamentsregister
ist nicht zwingend erforderlich. Es würde genügen, die
weggefallene Verwaltungsanweisung erneut zu erlassen und damit Aufbewahrung und Benachrichtigung
wiederherzustellen. Die Notwendigkeit für eine Überführung ins Testamentsregister an sich ist nicht zwingend in dem Gesetz dargetan.
Dennoch kann die Linke das Anliegen unterstützen.
So heißt es zutreffend auf der Seite des Zentralen Testamentsregisters - ich zitiere -: „Das Zentrale Testamentsregister der Bundesnotarkammer steht im Mittelpunkt des deutschen Benachrichtigungswesens in
Nachlasssachen für Testamente, Erbverträge und
sonstige erbfolgerelevante Urkunden. Es flankiert die
verfassungsrechtliche Gewährleistung des Erbrechts
und der Testierfreiheit ({0}) in verfahrensrechtlicher Hinsicht.“
Damit ist der auch verfassungsrechtliche Auftrag
klar definiert, und nur eine Überführung ins Testamentsregister kann letztlich die Wahrung der Rechte
nichtehelicher Kinder wirklich sicherstellen. Wenn
man weiterhin bedenkt, dass der Bund, der die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis zum Erbrecht hat,
die Lage letztlich selbst herbeigeführt hat, ist es nur
angemessen, wenn er sich am Ausbaden der Situation
gegebenenfalls auch finanziell beteiligt. Das Kostenargument hat die Koalition durch ihren Änderungsantrag entkräftet.
Die Länder müssen die Daten nun dem Register zur
Verfügung stellen, die Kosten der Erfassung tragen
und für die Aufbewahrung in den Standesämtern so
lange weiter Sorge tragen, bis der Vorgang der Erfassung abgeschlossen ist. Sie können dies allein oder unter Inanspruchnahme der Bundesnotarkammer tun.
Nun bleibt noch abzuwarten, ob die Länder im Bundesrat sich jetzt immer noch stark für die Gleichstellung der nichtehelichen und ehelichen Kinder einsetzen, wenn sie für eigene Versäumnisse zahlen müssen,
wobei die Kosten jedoch überschaubar sein dürften.
Die Linke jedenfalls stimmt diesem Gesetzentwurf
zu.
Der Gesetzentwurf zum Schutz des Erbrechts und
der Verfahrensbeteiligungsrechte nichtehelicher und
einzeladoptierter Kinder im Nachlassverfahren, über
den wir heute beraten, liest sich in Teilen wie ein Stück
deutscher Geschichte. Lange Zeit über wurden nicht-
eheliche Kinder wie Kinder zweiter Klasse behandelt.
Glücklicherweise sind nichteheliche Kinder, die nach
dem 1. Juli 1949 geboren sind, seit 2011 den ehelichen
Kindern auch im Erbrecht gleichgestellt.
Bis hierhin war es ein weiter Weg. Der Gesetzent-
wurf, den wir heute beraten, trägt nun dazu bei, dass
nichteheliche und adoptierte Kinder ihre Erbansprü-
che auch durchsetzen können.
Warum ist das notwendig? Aufgrund einer Gesetzes-
lücke ist derzeit nicht sichergestellt, dass die Nachlass-
gerichte von den nichtehelichen Kindern eines Erb-
lassers erfahren. Es droht die Ausstellung unrichtiger
Erbscheine.
Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Ehe-
liche Kinder werden in das Familienbuch ihrer ver-
heirateten Eltern eingetragen. Für nichteheliche und
auch adoptierte Kinder wurden bisher sogenannte
weiße Karteikarten erstellt. Im Falle des Todes einer
Person, deren Erbe das nichteheliche oder adoptierte
Kind war, wurden die weißen Karteikarten an das zu-
ständige Nachlassgericht weitergegeben. Grundlage
war Verwaltungsvorschrift. Die ist im Jahr 2010 weg-
gefallen. Seitdem fehlt es an einer Rechtsgrundlage
dafür, dass das Geburtsstandesamt eines Kindes das
Nachlassgericht automatisch über die Existenz eines
nichtehelichen oder adoptierten Kindes unterrichtet.
Diese Lücke im Verfahren müssen wir schnellstmög-
lich schließen. Jeder Erbin und jedem Erben soll ihr
bzw. sein Erbrecht gewährleistet werden.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
schlägt folgenden Weg vor: 2010 wurde die Einfüh-
rung eines Zentralen Testamentsregisters bei der Bun-
Zu Protokoll gegebene Reden
desnotarkammer beschlossen. Die Bundesnotarkammer
überführt nun Verwahrungsnachrichten aus den Stan-
desämtern in das Zentrale Testamentsregister und er-
fasst sie elektronisch.
Dieser Überführungsprozess soll nun auch für die
Überführung der Daten genutzt werden, die auf den
sogenannten weißen Karteikarten niedergelegt sind.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Daten von den
weißen Karteikarten aus den Standesämtern in das
Zentrale Testamentsregister der Bundesnotarkammer
überführt werden. Stirbt ein Elternteil eines dort regis-
trierten Kindes, soll die Registerbehörde dann das zu-
ständige Nachlassgericht benachrichtigen.
Dieses vom Bundesrat vorgeschlagene Verfahren
halten auch wir Grünen für geboten und angemessen.
Mit den Änderungen, die im Änderungsantrag der Koali-
tion vorgesehen sind, wird der Ansatz des Bundesrates
konsequent weiterentwickelt: Durch einen Verweis auf
die Testamentsregister-Verordnung wird bestimmt,
welche Daten zu überführen sind und der untechnische
Begriff der weißen Karteikarten vermieden. Außerdem
wird klargestellt, dass die Übergabe der Daten grund-
sätzlich in landeseigener Verwaltung zu erfolgen hat.
Die Bundesnotarkammer kann aber von den Ländern
und auf deren Kosten im Wege der Organleihe mit die-
ser Aufgabe betraut werden.
Wir dürfen hier nicht noch mehr Zeit verstreichen
lassen. Schon seit 2010 kann es vorkommen, dass Kin-
der eines Erblassers unberücksichtigt bleiben. Nicht in
allen Fällen haben Kinder Kontakt zum Erblasser und
melden sich dann im Falle dessen Todes beim zustän-
digen Nachlassgericht. Die genauen Abläufe zwischen
Standesamt und Nachlassgericht und die Verfahrens-
änderungen sind in der Bevölkerung so gut wie unbe-
kannt. Dennoch verlassen sich alle Kinder, Väter und
Mütter darauf, dass im Erbfall die Behörden unter-
einander vernetzt sind und die relevanten Informatio-
nen an das Nachlassgericht weitergeben. Dies gilt für
alle Familien, unabhängig davon, ob die Erben ehe-
lich oder nichtehelich geboren oder adoptiert sind.
Die im Gesetzentwurf und im Änderungsantrag vor-
geschlagene Lösung halten wir Grünen für sinnvoll.
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12212, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 17/9427 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef
Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der
bergrechtlichen Förderabgabe
- Drucksache 17/9390 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/10182 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Manfred Todtenhausen
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Doris Barnett, Klaus Barthel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Anpassung des deutschen Bergrechts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Novelle des Bundesberggesetzes und anderer Vorschriften zur bergbaulichen Vorhabengenehmigung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Stephan Kühn, Undine Kurth ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein neues Bergrecht für das 21. Jahrhundert
- Drucksachen 17/9560, 17/9034, 17/8133,
17/10182 Berichterstattung:Abgeordneter Manfred Todtenhausen
Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen.
Im vergangenen Jahr haben wir sehr intensiv über
die Themen Rohstoffversorgung und Bergrecht diskutiert. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dazu
Kongresse und Fachgespräche organisiert. Aber auch
hier im Plenum und im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie gab es zahlreiche Anlässe zu Diskussionen.
Leider verkennen die Initiativen der Opposition
beim Bergrecht den Kontext der Rohstoffpolitik.
Erstens. Deutschland ist umfassend von Rohstoffimporten abhängig, verfügt aber auch über vielfältige
eigene Rohstoffvorkommen. Die christlich-liberale
Koalition hat daher in dieser Legislaturperiode eine
umfassende Rohstoffstrategie vorgelegt. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Rohstoffstrategie ist die Diversifizierung der Rohstoffbezugsquellen. So werden Abhängigkeiten vermieden oder reduziert und die
Versorgungssicherheit kann erhöht werden.
Zweitens. Zur Diversifizierung zählt auch die Nutzung heimischer Rohstoffe. Damit kann Deutschland
Rohstoffimporte vermeiden, Vermögens- und Kaufkrafttransfers ins Ausland verhindern und Wertschöpfungsketten im Land erhalten.
Drittens. Neben diesem ökonomischen Aspekt sind
auch ökologische und soziale Aspekte zu beachten. Wir
haben in Deutschland bereits hohe Standards an Umweltauflagen für den Bergbau. Dies gilt auch für den
Arbeitsschutz. Fände Bergbau nicht mehr in Deutschland statt, müsste der Bedarf ausschließlich durch den
Abbau in anderen Weltregionen gedeckt werden. Wir
alle wissen, dass die ökologischen und sozialen Standards in den meisten Ländern viel niedriger sind als
bei uns. Eine Verlagerung des Bergbaus aus Deutschland steigert die Nachfrage nach importierten
Rohstoffen, die unter niedrigeren bis nicht vorhandenen ökologischen und sozialen Standards abgebaut
wurden.
Viertens. Das Motto „Kein Bergbau bei uns - kein
Problem“ ist kurzsichtig und verantwortungslos. Das
sollten Sie auch gegenüber Ihren Anhängern erklären.
Fünftens. Der zweite grundlegende Punkt betrifft
die Energiepolitik. Fast alle Mitglieder des Deutschen
Bundestages haben im Sommer 2011 die Energiewende beschlossen. Wir haben also gemeinsam acht
grundlastfähige Kernkraftwerke vom Netz genommen
und wollen schrittweise bis zum Jahr 2022 komplett
auf die Kernenergie verzichten. Bis der erforderliche
Ausbau der erneuerbaren Energien und insbesondere
die begleitende Infrastruktur realisiert ist - ich gebe
nur „Netze“ und „Speicher“ als Stichworte -, werden
wir in Deutschland verstärkt fossile Energieträger nutzen müssen. Dazu gehören neben überwiegend importiertem Erdgas und Erdöl auch die heimischen Energieträger Stein- und Braunkohle. Folglich müssen wir
in der Lage sein, die erforderlichen Rohstoffe auch in
Deutschland abzubauen.
Die Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie am 23. Mai 2012 bestätigte dann auch die
Kritik an den vorliegenden Anträgen, die ich bereits in
den zahlreichen Debatten des letzen Jahres geäußert
hatte. Das Bergrecht wurde seit seinem Inkrafttreten
1982 ständig an umweltrechtliche Vorgaben, insbesondere denen des EU-Rechts, angepasst. Auch in der
ständigen Rechtsprechung der Gerichte wurden keine
Differenzen zwischen dem Bergrecht und bestehenden
umwelt- oder verfahrensrechtlichen Regelungen angemahnt.
Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck,
die Rohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies geschieht natürlich unter Abwägung mit den Interessen
Dritter, primär der ansässigen Bevölkerung und der
Natur. So ist seit 1990 für größere Vorhaben die
Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens inklusive Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung obligatorisch. Speziell für den
Braunkohlenbergbau ist noch das raumordnerische
Braunkohlenplanverfahren vorgesehen, welches mehrere Jahre in Anspruch nimmt und unter Durchführung
von Umweltprüfungen, Öffentlichkeitsbeteiligung und
auf Basis von zahlreichen Gutachten die gesamtheitliche Abwägung der Braunkohlengewinnung im Tagebau mit allen anderen berührten Belangen vollzieht.
Die Wiedernutzbarmachung der Erdoberfläche nach
erfolgtem Abbau in Deutschland ist ein weltweit einmaliger Bestandteil eines Bergrechts. Das geltende
Bergrecht erfüllt seinen Zweck: Es schafft bereits Ausgleich zwischen den Interessen der Menschen, der Natur und der Rohstoffgewinnung. Viele der Forderungen
sind daher überflüssig. 98 Prozent aller Umsiedlungsfälle werden gütlich geregelt, und Grundabtretungsverfahren werden vermieden.
Die Forderungen nach befristeten Rahmenbetriebsplänen auf 10 bis 15 Jahre bieten weder den Bergbaubetroffenen Rechtssicherheit, noch erlauben sie einen
betriebswirtschaftlichen Bergbaubetrieb. Bergwerke
sind kapitalintensive Vorhaben, die Planungs- und Investitionssicherheit benötigen. Die Abschaffung der
bergfreien Bodenschätze würde eine effiziente Nutzung
von Lagerstätten verhindern sowie Planungs- und Investitionssicherheit gefährden. Das ist also ein klassischer Bergbauverhinderungsvorschlag.
Ich will auch noch zum Punkt Förderabgabe kommen. In der Anhörung hat keiner der von der Opposition benannten Sachverständigen die juristischen Einwände gegen die Vereinheitlichung der Förderabgabe
diskutiert, vielmehr wurde sehr knapp und allgemein
die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der Förderabgabe betont. Die Anhörung thematisierte aber anschaulich die verfassungsrechtlichen Probleme einer
Förderabgabe als Eingriff in die Freiheit des Eigentums und die damit verbundenen Voraussetzungen für
eine Gesetzesänderung, die von Ihrer Gesetzesbegründung nicht aufgegriffen werden. Gleiches gilt für die
Rechtslage bei den Bergbaurechten in Ostdeutschland.
Wichtig ist auch der betriebswirtschaftliche Aspekt
einer solchen Förderabgabe. Die Abgabe bezieht sich
auf den Marktwert des Rohstoffes, nicht auf den Gewinn des Unternehmens. Eine Förderabgabe auf alte
Rechte würde also die Kosten bestehender Bergbauprojekte immens erhöhen und Kalkulationen durcheinanderbringen. Jeder, der einmal ein Bergbauprojekt
besichtigt hat, weiß, mit welch großem Kapital- und
Personaleinsatz da gearbeitet wird. Diese Investitionen erfordern Planungs- und Rechtssicherheit. Deswegen zweifle ich an den edlen Motiven des Gesetzentwurfs und vermute einen weiteren Angriff auf die
Zu Protokoll gegebene Reden
Möglichkeit, überhaupt noch Bergbau in Deutschland
betreiben zu können.
Auch beim kontroversen Thema Fracking war die
Ansicht der Sachverständigen klar: In Trinkwasserschutzgebieten ist es bereits verboten, und auch in
anderen Bereichen ist für die Zulassung das Einvernehmen mit der zuständigen Wasserschutzbehörde notwendig. Wir brauchen Bergbau zur Gewährleistung
der Rohstoffversorgung und zur Sicherung des Knowhow in Deutschland. Das geltende Bergrecht berücksichtigt dabei auch die Interessen anderer Beteiligter.
Jeder, der seinen Arbeitsplatz im Bergbau oder dessen
Umfeld hat, sollte also wissen, wo er bei der Wahl zum
Deutschen Bundestag im Herbst sein Kreuz machen
sollte.
Erneut empfehle ich Ihnen Urlaub in Sachsen. Dort
können Sie in der Lausitz beobachten, wie aus alten
Braunkohletagebauen touristische Destinationen entstehen und sich die Natur vom Raubbau der Planwirtschaft erholt. Oder fahren Sie ins Erzgebirge und lassen Sie sich zeigen, wie die Menschen vor Ort mit Stolz
die Tradition des Bergbaus pflegen und die Folgen der
Zerstörung einer Landschaft wegen eines fehlenden
Bergrechts fast nicht mehr zu finden sind.
Ich empfehle daher die Ablehnung des Gesetzentwurfs und die Annahme der Beschlussempfehlung des
Ausschusses.
Deutschland ist ein Industrieland und für die deutsche Industrie ist die Versorgung mit Rohstoffen von
großer Bedeutung. Und: Deutschland gehört zu den
größten Rohstoffverbrauchern der Welt. Entgegen der
landläufigen Meinung ist Deutschland jedoch nicht
rohstoffarm. Jährlich werden große Mengen von
Sanden, Erden, Tonen oder Kohle in unserem Land abgebaut. Während wir bei den Energierohstoffen und
bei den metallischen Primärrohstoffen von Importen
abhängig sind, decken wir bei den nichtmetallischen
Rohstoffen, wie zum Beispiel Steine, Erden, Kali- und
Steinsalz, den größten Teil unseres Bedarfs aus heimischer Produktion. Die heimische Rohstoffgewinnung
macht uns insgesamt unabhängiger von Importen.
Die Aufsuchung, die Erschließung, die Gewinnung
und die Aufbereitung von Rohstoffen, aber auch die
Rekultivierung der ausgebeuteten Tagebaue sind im
Bundesberggesetz geregelt. Die historische Bedeutung
des deutschen Bergrechts für die enorme Beschäftigungsentwicklung, für den Aufschwung der Bergbauregionen und für den schnellen Wiederaufbau nach
dem Zweiten Weltkrieg habe ich zur ersten Lesung
schon betont. In der Anhörung des Wirtschaftsausschusses wurde deutlich, dass in Deutschland nicht
nur die Bergbaugroßindustrie - Kohle, Gas, Kali und
Salze - tätig ist, sondern dass eine Vielzahl von mittelständischen Unternehmen in Deutschland Bergbau betreiben. Circa 200 000 Arbeitsplätze gibt es allein in
der unmittelbar fördernden Industrie. Mit der Zulieferindustrie erhöht sich der Anteil um ein Vielfaches. Es
geht also bei der Diskussion um den Bergbau auch um
Beschäftigung.
Durch Bergbau unter und über Tage wird in die Umwelt eingegriffen. Durch das Bundesberggesetz und
die entsprechenden Verordnungen wird ein Ausgleich
der zum Teil entgegenstehenden Interessen angestrebt:
Die Rohstoffbranche hat großes Interesse an Vertragsund Investitionssicherheit; denn die Erschließung und
die Ausbeutung der ortsgebundenen Lagerstätten sind
zeitaufwendig und kostenintensiv. Die betroffenen Bürgerinnen und Bürger in den Abbauregionen möchten,
dass hohe Umweltschutzstandards eingehalten werden
und dass in ihre Wohn- und Lebensumgebung geringstmöglich eingegriffen wird. Der Staat hat ein Interesse
an angemessenen Steuern und Abgaben aus dem Bergbau sowie an Rechtsfrieden in den Abbauregionen.
Das historisch gewachsene Bergrecht genügt trotz
mancher Anpassungen nicht mehr den neuen Anforderungen einer modernen, aufgeklärten und an Teilhabe
interessierten Gesellschaft. Außerdem reicht der ursprüngliche Interessenausgleich nicht mehr aus. Die
SPD-Bundestagsfraktion sieht einigen Bedarf an einer
Weiterentwicklung des Bergrechts, ohne es abschaffen
zu wollen. In unserem Antrag plädieren wir für eine
Überprüfung und Anpassung des Bergrechts. Insbesondere möchten wir das Bundesberggesetz und die
Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung
bergbaulicher Vorhaben, UVP-V Bergbau, derart
reformieren, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit,
von Gemeinden, von Umwelt- und Wasserbehörden sowie die Transparenz im gesamten Verfahren deutlich
erhöht werden. Wichtig ist uns dabei eine frühzeitig
beginnende Bürgerbeteiligung. Aus unserer Sicht wird
dadurch die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und
Bürgern verbessert.
Die Regelungen des Bundesberggesetzes finden
unter anderem auch Anwendung auf das Einbringen
von Bergversatz, die Geothermie oder die Errichtung
unterirdischer Speicher. Die unterschiedlichen
Nutzungen des Bodens und des Untergrundes können
untereinander in Konkurrenz stehen. Weitere Nutzungskonkurrenzen für die heimische Rohstoffindustrie und die vorgenannten Nutzungen ergeben sich außerdem aus dem Natur- und Bodenschutz. Weder die
Bundesraumordnungsplanung noch die Landes- oder
Regionalplanung berücksichtigen diese Nutzungskonkurrenzen und setzen sie in einen bundesweiten Kontext. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine
unterirdische Raumordnung in Abstimmung mit den
Ländern ein, um diese Nutzungskonkurrenzen aufzulösen, indem die verschiedenen Nutzungen bewertet, priorisiert und aufeinander abstimmt werden. Dieser
Vorschlag wurde von den Sachverständigen in den Anhörungen positiv bewertet. Leider verschlafen Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen
die notwendige Modernisierung der Rechtslage und
versuchen, sich die nächsten acht Monate bis zu Wahl
zu retten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht Handlungsbedarf beim Bergrecht. Das gesamte Verfahren muss
transparenter und nachvollziehbarer für die Bürgerinnen und Bürger gestaltet werden, denn nur das erzeugt
Akzeptanz. Für die SPD ist in der gesamten Diskussion
auch klar: Es muss und wird weiter Bergbau in
Deutschland geben.
Ich brauche wohl nicht erneut zu betonen, dass die
deutsche Wirtschaft auf die Nutzung heimischer Rohstoffe und Bodenschätze angewiesen ist. Wachstum
und Wohlstand entstehen durch industrielle Wertschöpfung. Aber dieser Zusammenhang ist leider nicht
jedem bewusst, oder er verträgt sich offensichtlich
nicht mit bestimmten politischen Zielsetzungen und
ideologischen Konzepten.
Die Opposition, insbesondere die Grünen, blenden
offenbar die Notwendigkeit der heimischen Rohstoffgewinnung weitestgehend aus und damit die dadurch
initiierten positiven Effekte: eine Erhöhung der Versorgungssicherheit, die Sicherung von Arbeitsplätzen
und die Impulse zur Entwicklung strukturschwacher
Regionen. Dabei ist gerade die verstärkte Nutzung heimischer Ressourcen zur ortsnahen Versorgung ein
nachhaltiger Ansatz der Rohstoffpolitik - ein Grundsatz, den die Grünen für unsere Obstteller doch ständig fordern.
Klassische Bergbauprojekte verlaufen immer in
Etappen, beginnend mit der Erkundung, gefolgt von einer wirtschaftlichen Bewertung und erst anschließend
einer möglichen Gewinnungsplanung. Hierfür bedarf
es eines flexiblen Konzessionssystems, wie es im Bergrecht verankert ist. Zwangsläufig greifen Bergbauvorhaben auch in die Umwelt ein. Die Bedürfnisse der
Menschen, Tiere und Pflanzen sowie der Wasser-, Boden-, Luft- und Lärmschutz sind jedoch bereits ebenso
in das Bergrecht integriert wie das allgemeine Umweltrecht. In der Regel gelten die gleichen Standards
und Anforderungen wie für andere industrielle Großprojekte. In den letzten Jahren wurde kein größeres
Vorhaben ohne vorhergehende Durchführung eines
Planfeststellungsverfahrens mit Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt. In einigen Fällen sind zudem
weitere individuelle Landesvorgaben zu beachten wie
etwa das raumordnerische Braunkohlenplanverfahren
in Brandenburg.
Insgesamt gilt somit für die heimische Gewinnung
von Rohstoffen ein deutlich höheres Umweltschutzniveau, als es in vielen anderen Regionen der Welt der
Fall ist. Die im Abschlussbetriebsplan vorgeschriebene Wiedernutzbarmachung der beanspruchten Flächen führt nicht selten sogar zu einer Verbesserung der
regionalen Biodiversität. Auch diese Aspekte sind abzuwägen. Eine reine Verhinderungspolitik nach dem
Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht
nass!“ wird auch der Verantwortung für unsere Umwelt nicht gerecht.
Obwohl die Rohstoffgewinnung in Deutschland auf
Basis des Bundesberggesetzes sachgerecht und im Einklang mit allen anderen relevanten Rechtsgrundlagen
genehmigt und vollzogen wird, schlagen die Antragsteller umfassende und weitreichende Anpassungen
des Rechtsrahmens vor. Zusätzliche Belastungen und
politisch induzierte Kosten werden aber weder den
Interessen der Mehrheit der Bürger unseres Landes
noch der erforderlichen Planungs-, Investitions- und
Rechtssicherheit der Bergbaubetreibenden gerecht.
Würde man die eingebrachten Forderungen aufgreifen, ergäben sich daraus bei neuen Bergbauprojekten und technischen Entwicklungen hohe Unsicherheiten für Investoren. Dies stünde einer Entscheidung für
den Standort Deutschland entgegen. Daher ist es auch
nicht zielführend, wenn neben den zwingenden umweltrechtlichen Versagensgründen weiter gehende
Blockadespielräume in das Bergrecht eingefügt würden - außer man verfolgt eben diese Blockade als Ziel,
und hierum geht es wohl eigentlich.
Auch wenn ich mich an dieser Stelle wiederhole:
Eine Aufgabe der Politik ist es, durch zweckmäßige
und verantwortungsvolle Rahmenbedingungen den
Zugang zu Rohstoffen zu gewährleisten und stetig zu
verbessern. Selbstverständlich bedingt dies auch eine
regelmäßige Weiterentwicklung des Rechtsrahmens.
Forderungen, die tendenziell Bergbauaktivitäten unterbinden sollen, lehnen wir jedoch auch in Zukunft
entschieden ab.
Erstmalig seit Jahrzehnten wurde im Wirtschaftsausschuss des Bundestages ausführlich und öffentlich
über die Defizite des deutschen Bergrechts diskutiert.
Anlass waren die Anträge von Linken und Grünen sowie - wenn auch etwas zaghaft - der SPD zur Novellierung des Bundesberggesetzes und anderer bergrechtlicher Vorschriften.
Nun, die Mehrheit in diesem Haus wird alle Anträge
abschmettern, die man unter http://www.bundestag.de/
bundestag/ausschuesse17/a09/anhoerungen/Archiv_der_Anhoerungen/12_Oeffentliche_Anhoerung/index.html
findet. Ich meine jedoch, allein die Anhörung, die man
sich übrigens unter der Adresse http://dbtg.tv/cvid/
1713867 im Internet ansehen kann, war die ganze Arbeit wert. Denn sie machte die irrwitzigen Defizite des
geltenden Bergrechts deutlich. Und sie machte Alternativen öffentlich.
Sicher, das Sächsische Oberbergamt oder die Bergbaugewerkschaft IG BCE haben das geltende Recht
erwartungsgemäß kritiklos verteidigt. Rechtsanwälte
dagegen, die unter anderem Bergbaubetroffene, Kommunen und Umweltverbände in bergrechtlichen Konflikten vertreten, werteten das Regelwerk als völlig
überholt. Es sei nicht geeignet für Konfliktlösungen,
die auch die Rechte von Anwohnern und Umwelt adäquat berücksichtigten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Anträge von den Linken und Grünen unterscheiden sich deutlich voneinander; sie haben jeweils
eine etwas andere Philosophie. Ich meine, unserer ist
konsequenter, aber darüber können wir sicherlich
streiten. Gemeinsam ist beiden jedoch die Kernforderung, den automatischen Vorrang des Abbaus von
Rohstoffen vor allen anderen Interessen zu beenden.
Dafür soll unter anderem künftig ein Planfeststellungsverfahren mit UVP anstelle der bisherigen Verfahren treten.
Zudem soll das vorgelagerte Bergwerkseigentum
abgeschafft werden. Abbaurechte sollen erst dann an
Unternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau in einem demokratischen Verfahren beschlossen wurde,
und zwar unter Abwägung aller Interessen und nach
einer sorgfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung - und
keinen Tag vorher.
Ebenfalls gemeinsam ist den Anträgen die Forderung nach mehr Transparenz und mehr Beteiligungsund Klagemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger
sowie für Verbände und Kommunen. Beide Anträge
wollen auch, dass in Haftungs- und Entschädigungsfragen künftig die Position der Anwohnerinnen und
Anwohner deutlich gestärkt wird.
Im Unterschied zu den Grünen will die Linke jedoch, dass künftig sämtliche Bodenschätze dem
BBergG unterliegen, also nicht nur Kohle, Gas, Erze
oder Salz, sondern auch Kiese, Sande und Natursteine.
Alle Bodenschätze würden dann als bergfrei definiert.
Dies hätte zwei Folgen: Zum einen würden alle Bodenschätze Gemeineigentum sein. Das halten wir für angemessen, denn für den Rohstoff unter seinem Hintern
hat ein Grundstückseigentümer nichts getan. Zum anderen hätte dies die Folge, den Abbau jeglicher Bodenschätze einem Planfeststellungsverfahren mit UVP zu
unterwerfen.
Intelligent und zeitgemäß finden wir auch die Forderung, die nur im Antrag der Linken steht, Genehmigungsvoraussetzung für einen Abbau unter besiedeltem
Gebiet an streng nachzuweisende Ausnahmetatbestände zu knüpfen. Der Vorhabenträger müsste dann
nachweisen, dass ein unabweisbarer volkswirtschaftlicher Bedarf für den Rohstoff besteht und der Abbau
alternativlos ist. Dieser Nachweis dürfte beispielsweise für viele Braunkohlevorhaben, die gegenwärtig
diskutiert werden - und die bis weit nach Mitte des
Jahrhunderts laufen würden -, kaum zu erbringen
sein. Denn glücklicherweise wachsen die erneuerbaren Energien rasant. Darum braucht diese
klimaschädliche Kohle spätestens ab 2040 - wahrscheinlich schon weit früher - niemand mehr.
Mit den Anträgen von den Linken und Grünen hätten die Bürgerinnen und Bürger zudem erstmals realistische Chancen, Abbauvorhaben gerichtlich überprüfen zu lassen. Wir setzen uns auch dafür ein, dass
Gemeinden, Interessenvertretungen von betroffenen
Anwohnern und Umweltverbänden der Klageweg offensteht, und zwar auch dann, wenn es um die Fragen
der Bedarfsfeststellung oder der Umweltauswirkungen
insgesamt geht. Anerkannte Umweltorganisationen
beispielsweise sollten sich also im Verfahren nicht nur
um den reinen Naturschutz streiten können, sondern
auch um den Wasserhaushalt oder den Klimaschutz.
Das alles und noch mehr war unser Plan. Er wird
heute mit den Stimmen von Union und FDP vorerst beerdigt. Damit ist er aber längst nicht aus der Welt.
Neue Bundesregierungen werden sich mit dem Thema
beschäftigen müssen; denn der Widerstand vor Ort gegen neue Abbauvorhaben wächst. Er wächst mit jedem
Quadratmeter zusätzlich zerstörter Natur und Heimat.
Und er wächst mit jeder Kilowattstunde Ökostrom, die
mehr durch unsere Netze fließt, womit die Kohleverstromung zunehmend überflüssiger wird.
Ich hoffe und erwarte, dass die Abbauunternehmen
nicht mehr lange Wildwest spielen können. Der Widerstand gegen die CCS-Technologie war nur ein Vorgeschmack auf künftige bergbauliche Konflikte. Darum
ist jede neue Regierung gut beraten, sich des Themas
der Reform des Bergrechts ernsthaft anzunehmen. Nur
dann können Konflikte so gelöst werden, dass nicht
nur die Interessen der Wirtschaft Berücksichtigung finden, sondern genauso stark die der ansässiges Bevölkerung und der Umwelt.
Das deutsche Bergrecht ist antiquiert und nicht
mehr zeitgemäß. Es ist geprägt von einem starren
Über- und Unterordnungssystem. Das heißt, dem Interesse des Bergbaus wird weitgehend Vorrang vor
anderen Belangen, Interessen und Rechten, insbesondere denen Privater, eingeräumt. Eine gleichwertige
Interessenabwägung in der Planungs- und Genehmigungsphase findet faktisch nicht statt. Die Anforderungen an das deutsche Bergrecht werden weiter zunehmen, je stärker auch heimische Bodenschätze durch
steigende Weltmarktpreise wieder in den Fokus der
bergbautreibenden Unternehmen rücken. Darüber hinaus werden immer mehr Anforderungen durch neue
Technologien wie das Fracking, die Nutzung der
Geothermie oder die Errichtung großer Erdgasspeicher an den Untergrund gestellt werden. Dafür ist das
Gesetz in seiner derzeit gültigen Fassung jedoch überhaupt nicht ausgelegt. Nach unserer Auffassung steht
das deutsche Bergrecht daher zurzeit von mehreren
Seiten unter Druck, und eine Anpassung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts erscheint dringend
erforderlich.
Unser Antrag macht dazu konkrete Vorschläge und
benennt die Defizite ganz klar. Dieser Reformbedarf
wurde in der öffentlichen Anhörung am 23. Mai 2012
von den anwesenden Experten auch klar bestätigt.
Doch Schwarz-Gelb stellt sich auf beiden Augen blind.
In den zahlreichen Debatten, welche wir in den vergangenen Monaten und Jahren über das Bundesberggesetz allgemein oder auch über das Thema Fracking
geführt haben, hieß es von der Koalition: Es ist alles in
Ordnung, und alles soll so bleiben, wie es ist. Bergbau
Zu Protokoll gegebene Reden
ist gut, und darum sollen die Unternehmen ohne Rücksicht auf Verluste alles aus der Erde holen, was der
Bagger irgendwie zu fassen kriegt. Das ist keine
zeitgemäße Politik; das ist Raubbau auf Kosten von
Mensch und Natur und muss dringend geändert
werden.
Ich weise deutlich darauf hin, dass dies auch in
vielen Landtagsfraktionen der Union so gesehen wird.
So fordert die Landtagsfraktion in NRW explizit die
Beweislastumkehr beim Tagebau. Aber hier im Bund
wollen die Fraktionen der Koalition von alldem nicht
wissen und wollen so weitermachen wie bisher.
Ich betone: Unsere Forderungen bedeuten nicht,
dass Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland keinen
Bergbau mehr haben wollen: In Deutschland gibt es
eine lange Bergbautradition. Ohne den Bergbau wäre
in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten
die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands so nicht
möglich gewesen. Auch wenn der Bergbau heute nicht
mehr die wirtschaftliche Rolle spielt, wird der Abbau
von Bodenschätzen auch in Zukunft in Deutschland ein
wesentlicher Bestandteil der Ökonomie sein und sein
müssen. Doch die dafür geltende Rechtsgrundlage ist
nicht mehr zeitgemäß. Sie ist in Teilen regelrecht aus
der Zeit gefallen. Moderne Bürgerbeteiligung, Transparenz, Interessenabwägung sind beinahe Fremdworte
bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben und deren
Umsetzung.
Speziell möchte ich an dieser Stelle noch einmal das
Thema Förderabgabe hervorheben, zu dem ein konkreter Gesetzentwurf vorliegt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass in Deutschland nur Unternehmen eine
Förderabgabe entrichten müssen, die ihre Lizenz nach
dem Jahr 1982 erworben haben. Dies ist eine Ungleichbehandlung, welche unbedingt behoben werden
muss. Allein dem Land NRW gehen dadurch Einnahmen von circa 150 Millionen Euro jährlich verloren; in
der Lausitz wären es knapp 80 Millionen Euro pro
Jahr. Es ist den Bürgerinnen und Bürger nicht zu vermitteln, warum Bergbauunternehmen ganze Landschaften abbaggern können und mit der gewonnenen
Braunkohle Milliardengewinne machen, aber keinen
Cent dafür an den Staat zahlen müssen. Die massiven
Belastungen des Abbaus etwa durch Lärm, Staub,
Umsiedlungen ganzer Dörfer und zerstörte Landschaften sowie von größtenteils unkalkulierbaren Altlasten
und Ewigkeitskosten lassen eine Förderabgabe ebenfalls als notwendig und richtig erscheinen. Gerade in
diesen Tagen erleben wir mit der großflächigen Verunreinigung der Spree durch Eisen und Sulfat, was für
Langzeitauswirkungen der Tagebau für Mensch und
Natur haben kann.
Zu den vorliegenden Anträgen von SPD und Linken
möchte ich noch Folgendes sagen: Wir stimmen dem
Antrag der Linken zu, weil wir bis auf einige Detailfragen viele Übereinstimmungen mit unserer Position
sehen. Die Linke konnte uns im Laufe der Beratungen
allerdings nicht erklären, warum sie hier die Umsiedlung von Menschen im Rahmen bergbaulicher Vorhaben nahezu komplett verbieten möchte, während ihre
Parteigenossen in Brandenburg eifrig daran arbeiten,
neue Tagebaue für den Braunkohleabbau zu genehmigen, und dabei auch mit Umsiedlungen offenbar
keinerlei Probleme haben.
Wir enthalten uns zum Antrag der SPD, weil wir
zwar auch hier Übereinstimmungen sehen, aber auch
Differenzen. So beschränkt sich die SPD bei der Beweislastumkehr auf einen Prüfauftrag und ist offenbar
auch nicht bereit, den Bestand der „Alten Rechte“
zeitlich zu begrenzen.
Abschließend möchte ich Sie nochmals um Zustimmung zu unseren Initiativen bitten; denn nur mit diesen
Maßnahmen lassen sich die massiven Konflikte im
Bergbau befrieden und es wird endlich Waffengleichheit zwischen den Interessen der Bergbauunternehmen
einerseits und denen Privater und des Naturschutzes
andererseits hergestellt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10182, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9390 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 27 b. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/10182.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9560 mit dem Titel
„Anpassung des deutschen Bergrechts“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9034 mit dem
Titel „Novelle des Bundesberggesetzes und anderer Vorschriften zur bergbaulichen Vorhabengenehmigung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck27262
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
sache 17/8133 mit dem Titel „Ein neues Bergrecht für
das 21. Jahrhundert“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 28:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters
- Drucksache 17/12163 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute in erster Lesung über das Gesetz
zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters.
Nach der derzeitigen Rechtslage steht dem leiblichen Vater eines Kindes, der mit der Mutter nicht verheiratet ist und auch die Vaterschaft nicht anerkannt
hat, nur dann ein Umgangsrecht zu, wenn er eine enge
Bezugsperson des Kindes ist, für das Kind tatsächlich
Verantwortung trägt oder getragen hat und der Umgang dem Kindeswohl dient. Wenn dem leiblichen Vater zum Beispiel die rechtlichen Eltern den Kontakt mit
dem Kind verweigern und er trotz Interesse dadurch
keine Möglichkeit hat, eine Beziehung zu seinem Kind
aufzubauen, bleibt ihm bislang der Kontakt verwehrt,
ohne dass er rechtlich dagegen vorgehen könnte.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2010 und
2011 festgestellt, dass es nicht mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist, den
leiblichen - biologischen - Vater, der keine Bezugsperson des Kindes ist, vom Umgang mit seinem Kind und
vom Recht auf Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse auszuschließen. Mit dem jetzt vorgelegten
Gesetzentwurf sollen in konventionskonformer Weise
die Rechte des biologischen Vaters, der einen Umgang
mit seinen Kindern wünscht, gestärkt werden, indem
die Möglichkeit, Umgang mit dem Kind zu erhalten,
erweitert wird. Dabei geht es nicht um „Besitzrechte“
des Vaters, sondern um das Wohl des Kindes.
Der Entwurf stärkt die Rechte des biologischen Vaters in zweierlei Hinsicht:
Zum einen soll es für das Umgangsrecht künftig
nicht mehr darauf ankommen, ob bereits eine enge Beziehung zwischen dem Kind und seinem leiblichen Vater besteht, sondern vielmehr, ob dieser ein nachhaltiges Interesse an seinem Kind gezeigt hat und ob der
Umgang dem Kindeswohl dient. Eine konkrete Aufzählung, was alles unter einem nachhaltigen Interesse zu
verstehen ist, ist nicht angezeigt. Es gibt unterschiedliche Situationen, wie zum Beispiel die räumliche Nähe
zum Kind, ob die Kontaktaufnahme überhaupt versucht wurde etc., durch die sich das nachhaltige Interesse manifestieren kann. Durch die gewählte „offene“
Formulierung soll den Gerichten ermöglicht werden,
im Einzelfall genau zu prüfen, ob ein nachhaltiges Interesse gegeben ist oder nicht.
Im Weiteren wird dem leiblichen Vater die Möglichkeit eingeräumt, Auskunft über die persönlichen
Verhältnisse und die Entwicklung seines Kindes zu erhalten. Voraussetzung ist auch hier, dass er ein nachhaltiges Interesse an seinem Kind gezeigt hat und dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Aktuell steht der
Auskunftsanspruch nach § 1686 BGB nur den Eltern
im rechtlichen Sinne zu.
Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung soll - auch
um zu verdeutlichen, dass für den biologischen Vater
Sonderregeln gelten - durch die Einführung eines
neuen § 1686 a in das Bürgerliche Gesetzbuch erfolgen. In diesem wird künftig das Umgangs- und Auskunftsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters geregelt sein. Von dieser Vorschrift sollen aber nur die
Fälle erfasst werden, in denen das Kind bereits einen
rechtlichen Vater hat. In allen anderen Fällen ist der
biologische Vater auf die Erlangung der rechtlichen
Vaterstellung zu verweisen, wodurch er die Rechte gemäß §§ 1684 und 1686 BGB erlangt, aber auch die
entsprechenden Pflichten eines rechtlichen Vaters.
Weiterhin wird das Umgangs- und Auskunftsrecht
des vermeintlichen biologischen Vaters an die Bedingung geknüpft, dass der Antragsteller auch wirklich
der biologische Vater ist. Dies bedeutet zugleich, dass
er die Möglichkeit haben muss, seine biologische Vaterschaft klären zu lassen, ohne dass die Mutter dies
vereiteln kann. Der Gesetzentwurf sieht daher die inzidente Klärung der Vaterschaft im Rahmen des Umgangs- und Auskunftsverfahrens vor.
Alternativen zu der vorgelegten gesetzlichen Neuregelung sehen wir nicht: Die Möglichkeit, auch den biologischen Vater in den Kreis der nach § 1598 a BGB
klärungsberechtigten Personen aufzunehmen, ist keine
für die soziale Familie schonendere Option. Denn dadurch bestünde die Gefahr, dass auch biologische Väter, denen es nur um die Klärung der Abstammung geht
und die kein Interesse an Umgang oder Auskunft haben, ein gerichtliches Verfahren anstrengen. Das Verfahren könnte sogar dazu missbraucht werden, lediglich Unfrieden in die soziale Familie zu tragen. Dass
dies nicht dem Kindeswohl dient, liegt auf der Hand.
Die Einführung einer Anfechtungsmöglichkeit für
den biologischen Vater trotz sozial-familiärer Beziehung des Kindes zu seinem rechtlichen Vater ist ebenfalls abzulehnen. Denn dies hätte zur Folge, dass der
vermeintlich biologische Vater nach Klärung der Abstammung durch Anfechtung die Stellung des rechtlichen Vaters einnehmen könnte. In diesem Fall stünde
ihm dann auch ein Umgangsrecht nach § 1684 BGB
zu. Diese Lösung wäre zu weitgehend und ebenfalls
nachteilig für das Kind.
Aus den vorgenannten Gründen haben wir uns für
eine eigenständige gesetzliche Regelung in Bezug auf
das Umgangs- und Auskunftsrecht des leiblichen
Vaters entschieden. Diese wird von entsprechenden
flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen unterstützt. Konkret ist im Verfahrensrecht als Zulässigkeitsvoraussetzung zur Erlangung eines Umgangsund Auskunftsrechts in dem neu einzufügenden § 167 a
Familienverfahrensgesetz die eidesstattliche Versicherung der Beiwohnung vorgesehen. Dies soll Mutter,
Kind und rechtlichen Vater - nach dem Vorbild des
§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB - vor willkürlichen, voreiligen oder unüberlegten Umgangs- und Auskunftsverfahren schützen. Dadurch wird auch verhindert, dass
ein Mann, der durch künstliche Befruchtung mittels
heterologer Samenspende biologischer Vater geworden ist, ein Umgangs- oder Auskunftsrecht herleiten
kann. Darüber hinaus regelt die Vorschrift, unter welchen Voraussetzungen Untersuchungen zur Klärung
der leiblichen Vaterschaft zu dulden sind.
Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten,
dass wir mit dem Gesetzentwurf einen guten Weg gefunden haben, das berechtigte Interesse des leiblichen
Vaters an einem Umgangs- und Auskunftsrecht in einen angemessenen Ausgleich mit den Interessen der
sozialen Familie an einem ungestörten Familienleben
zu bringen. Das Kindeswohl steht dabei immer an erster Stelle. Darüber hinaus wird der Gesetzentwurf
auch den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte gerecht.
Dreiecksbeziehungen sind nie einfach. Besonders
schwierig werden sie, wenn aus ihnen ein Kind hervorgeht, ob durch den einmaligen Ausrutscher, die später
doch noch überstandene Ehekrise oder den bis dahin
nicht erfüllten Wunsch nach einem eigenen Kind.
Schätzungen gehen davon aus, dass bei 5 bis 10 Prozent aller Kinder der in der Geburtsurkunde eingetragene Vater nicht der biologische ist. In solchen Fällen
die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten unter
einen Hut zu bekommen und dabei das von den Eltern
oftmals sehr subjektiv ausgelegte Wohl des Kindes im
Blick zu behalten, ist schwierig.
Unser Familienrecht geht grundsätzlich davon aus,
dass der Ehemann der Mutter auch der Vater des Kindes ist. Dies kann dazu führen, dass der Ehemann zwar
automatisch rechtlicher Vater wird, gleichzeitig aber
nicht biologischer Vater des Kindes ist.
Bisher hat die Gruppe der leiblichen, aber nicht
rechtlichen Väter in Fällen, in denen der rechtliche Vater in einer sozial-familiären Beziehung zu dem Kind
steht und sie selbst keine enge Bezugsperson sind, keinerlei Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten oder
ein Umgangs- oder Auskunftsrecht einzufordern.
Abgesehen davon, dass meiner Meinung nach jedes
Kind ein Recht auf Kenntnis seiner eigenen Herkunft
und Abstammung hat, entspricht ein Kontaktverbot
zwischen dem biologischem Vater und dem Kind nicht
in jedem Fall dem Kindeswohl. Dies hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, in
zwei Urteilen kritisiert und eine Verletzung von Art. 8
EMRK, dem Recht des biologischen Vaters auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, festgestellt.
Im Gegensatz zur derzeitigen gerichtlichen Praxis in
Deutschland fordert der EGMR, dass geprüft werden
müsse, ob der Umgang mit dem biologischen Vater im
Einzelfall dem Wohl des Kindes dient.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht zur Stärkung
der Rechte der leiblichen Väter die Einführung eines
Umgangs- und eines Auskunftsrechts ohne eine Ausweitung der Anfechtungsmöglichkeiten vor. Voraussetzung für das Umgangsrecht sind ein nachhaltiges Interesse des Vaters und dass der Kontakt dem Kindeswohl
dient. Das Auskunftsrecht über die persönlichen Verhältnisse des Kindes dürfen dem Kindeswohl nicht widersprechen. Im Rahmen des Umgangs- und Auskunftsverfahrens wird die Möglichkeit zur inzidenten
Klärung der Vaterschaft geschaffen.
Die Reaktionen von Vereinen und Verbänden auf
den Gesetzentwurf sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von „Die eingeräumten Rechte gehen viel zu
weit“ bis hin zu „Gesetzentwurf geht definitiv nicht
weit genug“.
Unsere Aufgabe wird es sein, im parlamentarischen
Verfahren den Gesetzentwurf auf seine Praktikabilität
hin zu überprüfen und einige Detailfragen zu klären.
Dabei muss zwischen den Interessen einer sozial intakten Familie und den Rechten des leiblichen Vaters abgewogen werden.
Als erste Frage wird oft aufgeworfen, ob die Stärkung der Rechte des biologischen Vaters ohne die
Übertragung von Pflichten vorgenommen werden
sollte. In diesem Zusammenhang muss zum Beispiel
geprüft werden, ob die Möglichkeit, über den neuen
§ 1686 a BGB ein Umgangs- und Auskunftsrecht zu erhalten, auch sinnvoll ist, wenn ein Recht auf Anfechtung der Vaterschaft nach § 1600 BGB besteht und dieses bisher nicht ausgeschöpft wurde.
Nicht ganz unproblematisch ist die Voraussetzung,
dass der biologische Vater ein „nachhaltiges Interesse
an dem Kind gezeigt haben muss“, um für sich ein Umgangs- und Auskunftsrecht in Anspruch zu nehmen.
Dies stellt den biologischen Vater oft vor eine unlösbare Aufgabe, insbesondere wenn jeglicher Kontakt
seitens der Kindesmutter verweigert wird.
Wichtig ist uns in diesem Gesetzgebungsverfahren
vor allem, dass die Interessen des Kindes im Vordergrund stehen und die notwendigen Änderungen nicht
allein durch die Sicht der Eltern geprägt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Umgangsrecht, strikt zu trennen vom Sorgerecht, ist in den §§ 1684 ff. BGB geregelt. Nach § 1684
BGB haben Kinder ein Recht auf Umgang mit ihren Eltern und umgekehrt. Gemeint sind damit jedoch die
rechtlichen Eltern, nicht die biologischen Eltern. Jedoch muss ein biologischer Elternteil nicht unbedingt
der rechtliche Elternteil sein, wobei dies im Regelfall
den Vater trifft.
Nach geltendem Recht kann der biologische Vater
gegebenenfalls nur sonstige Bezugsperson im Sinne
des § 1685 BGB sein. Für ein Umgangsrecht muss
dann aber eine sozial-familiäre Beziehung bestehen,
welche der Vater möglicherweise bis zur Geltendmachung des Umgangsanspruchs nicht herstellen konnte,
weil die rechtlichen Eltern dies zu verhindern wussten.
Der Gesetzentwurf geht auf ein Urteil des EGMR
vom 21. Dezember 2010 zurück, welcher in seiner Entscheidung gerade diese fehlende sozial-familiäre Beziehung nennt, gleichzeitig jedoch feststellt, dass nicht
die Konstellation bedacht ist, in welcher dem biologischen Vater verwehrt war, eine solche herzustellen, er
gleichwohl im Einzelfall ein berechtigtes Interesse am
Umgang mit seinem Kind habe. Nun stellt sich die
Frage, wie das „nachhaltige Interesse“ des Vaters
nachgewiesen werden soll, und offen bleibt ebenso,
wie festzustellen sein soll, dass es dem Kindeswohl
dient. Sofern Einvernehmen zwischen den unterschiedlichen Eltern besteht, bedarf es keiner Regelung. Es
sind folglich nur streitige Verfahren bei dieser Frage
in Betracht zu ziehen.
Kann es dem Kindeswohl dienen, wenn der leibliche
Vater in das Familienleben des Kindes, welches möglicherweise schon seit Jahren besteht, hineingrätscht?
Bei Kleinstkindern mag dies möglicherweise noch relativ unproblematisch sein. Wie verhält es sich aber bei
größeren Kindern, bei denen auf einmal der leibliche
Vater neben dem Papa auftaucht und großes Interesse
zeigt. Psychologische Schwierigkeiten, eine Störung
des bis dato intakten Familienlebens können auftreten,
die mit der Erkenntnis verbunden sind, nicht das leibliche Kind des rechtlichen Vaters zu sein. Andererseits
besteht natürlich auch das Recht des Kindes auf Wissen seiner Herkunft. Dies darf nicht vergessen werden.
Diese Gesamtproblematik ist vielfach im Zusammenhang mit Adoptivkindern thematisiert worden. Es
ist in jedem Fall höchst problematisch. Der EGMR erwartet eine Regelung seit 2010. Aber der Entwurf der
Bundesregierung lässt gegenwärtig immer noch zu
viele Fragen offen. Insoweit hoffe ich, dass im Rahmen
des erweiterten Berichterstattergesprächs unter Einbeziehung von Sachverständigen eine Regelung gefunden werden kann, welche konkret genug ist, den Anforderungen des EGMR zu entsprechen und keine Fragen
offen lässt.
Noch immer ist das deutsche Familienrecht auf das
traditionelle klassisch-konservative Familienbild ausgerichtet. Aber nach und nach, angestoßen auch durch
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte in Straßburg, setzt sich, auch bei der
Regierung, die Erkenntnis durch, dass es nicht nur ein
einziges Familienbild gibt.
Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte sind zwei
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte aus den Jahren 2010 und 2011. Konkret geht es um Väter, die ihr Kind zwar gezeugt haben,
aber nicht über die rechtliche Vaterstellung verfügen.
Grund hierfür kann sein, dass die Vaterschaft des biologischen Vaters rechtlich nicht festgestellt ist. Grund
hierfür kann auch sein, dass das Kind in eine Ehe hineingeboren wurde, in der die Mutter des Kindes mit
einem anderen Mann lebt und dieser rechtlich als Vater des Kindes gilt.
Nach jetzigem deutschen Recht ist der biologische
Vater, der keine enge Bezugsperson seines Kindes ist,
kategorisch und ohne Prüfung des Kindeswohls vom
Umgang mit seinem Kind ausgeschlossen. Das gilt
auch dann, wenn ihm der Umstand, dass eine sozialfamiliäre Beziehung zwischen Vater und Kind bisher
nicht aufgebaut wurde, nicht zuzurechnen ist.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat festgestellt, dass die Bundesrepublik mit dieser Gesetzeslage gegen Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. In seinen Entscheidungen
hat der Gerichtshof einerseits die Rechte des biologischen Vaters gestärkt, andererseits aber auch festgestellt, dass die sozial-familiären Beziehungen, in denen
das Kind lebt, schützenswert sein können. Es müsse
immer genau geprüft werden, in welchem Verhältnis
das Auskunfts- und Umgangsrecht des Vaters und das
Wohl seines Kindes zueinander stehen.
Mit seiner Rechtsprechung hat uns der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte eine nicht ganz einfache Aufgabe aufgetragen: Das deutsche Recht muss
gewährleisten, dass leibliche Väter, die nicht gleichzeitig auch rechtliche Väter sind, eine Beziehung zu ihren Kindern aufbauen können. Dennoch soll dabei
kein Automatismus etabliert werden, sondern die Betrachtung des Einzelfalls im Vordergrund stehen.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
will die Rechtsstellung des biologischen Vaters stärken. Dem Vater werden unter bestimmten Umständen
ein Umgangsrecht und ein Auskunftsrecht über die
persönlichen Verhältnisse seines Kindes eingeräumt.
Zusätzlich wird für diese Fälle ein Vaterschaftsfeststellungsverfahren eröffnet.
Damit ist die Bundesregierung auf dem richtigen
Weg. Unter Berücksichtigung des Kindeswohles muss
das deutsche Recht gewährleisten, dass auch außenstehende biologische Väter eine Beziehung zu ihren
Kindern aufbauen können. Im Vordergrund muss in allen Fällen das Kindeswohl stehen.
Ob und inwiefern die Regelungen des Gesetzentwurfs angemessen sind, werden wir im weiteren GesetzZu Protokoll gegebene Reden
gebungsverfahren, an dem wir uns konstruktiv beteiligen werden, zu beurteilen haben. Nach derzeitigem
Stand stellen sich noch viele Fragen zu den Einzelheiten. Die unbestimmten Formulierungen im Gesetzentwurf sollen zwar der Berücksichtigung des Einzelfalles
dienen; sie können aber auch zu Rechtsunsicherheit
führen. Auch bin ich mir nicht sicher, ob die Neuregelungen sich in das Gesamtgefüge der familienrechtlichen Regelungen einfügen, ohne neue Widersprüche
aufzuwerfen.
Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung
freuen wir Grünen uns aber noch aus einem anderen
Grund auf die Diskussion über den Gesetzentwurf: Die
Formen familiären Zusammenlebens haben sich in den
letzten Jahrzehnten stark verändert. Mehrelternkonstellationen gibt es nicht nur in den Fällen, in denen es
einen biologischen und einen rechtlichen Vater gibt. In
einer kontinuierlich wachsenden Anzahl von Familien
wachsen Kinder mit mehreren Eltern auf. In Patchwork- oder Regenbogenfamilien mit biologischen und
sozialen Elternteilen haben Kinder regelmäßig mehr
als zwei Elternteile. Einen ausreichenden rechtlichen
Rahmen gibt es für diese Familienbeziehungen bisher
nicht. Dies stellt viele Familien vor ganz praktische
Probleme.
Heute haben wir hier im Bundestag die Reform des
Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Eltern
beschlossen. Väter, die nicht mit der Mutter ihres Kindes verheiratet sind, können jetzt niedrigschwellig einen Antrag auf Mitübertragung der elterlichen Sorge
stellen. Das ist eine Reform, die längst überfällig war.
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters machen wir den nächsten Schritt hin zu einem moderneren Familienrecht.
Damit passen wir das Recht ein kleines Stück mehr an
die gesellschaftlichen Realitäten an. Weitere Schritte
müssen folgen.
Für Kinder ist es wichtig, dass ihnen die Familie ein
stabiles, sicheres Umfeld bietet. Aus Sicht des Kindes
bedeutet die soziale Familie, in der es lebt, vor allem
das Gefühl der Zugehörigkeit, das Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Mutter und Vater, das sind diejenigen Menschen, die tatsächlich die Verantwortung tragen.
Für ein Kind kann es eine Bereicherung sein, denjenigen zu kennen, von dem es biologisch abstammt.
Gibt es neben dem rechtlichen Vater einen weiteren
Mann, der leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater des
Kindes ist, so kann es für das Kind gut und wichtig
sein, auch mit diesem Kontakt zu haben.
Dieser Aspekt - so hat es der EGMR in zwei Urteilen entschieden - kommt in unserem Recht zu kurz. Der
leibliche Vater kann nach geltendem Recht nur dann
ein Recht auf Umgang mit seinem Kind haben, wenn er
eine sogenannte enge Bezugsperson des Kindes ist,
wenn er also für das Kind bereits tatsächliche Verantwortung trägt, § 1685 Abs. 2 BGB. Ist dies nicht der
Fall, so ist ein Umgang kategorisch ausgeschlossen ohne Rücksicht darauf, ob der leibliche Vater überhaupt eine Chance hatte, Verantwortung für das Kind
zu tragen, und ohne Rücksicht darauf, was für das
Kind am besten wäre.
Diese Rechtslage wird weder dem Interesse des
leiblichen Vaters noch dem Interesse des Kindes gerecht. Häufig möchte ein leiblicher Vater, der zum Beispiel mit einer verheirateten Frau ein Kind gezeugt
hat, Kontakt zu seinem Kind aufnehmen, sich kümmern
und Verantwortung übernehmen, auch wenn das Kind
nicht ihm, sondern dem Ehemann der Frau rechtlich
zugeordnet ist. Wenn aber die rechtlichen Eltern sich
weigern, den Kontakt zwischen leiblichem Vater und
Kind zuzulassen, hat der leibliche Vater hierzu bisher
keine Chance. Es hängt zunächst einmal vom Verhalten der rechtlichen Eltern ab, ob eine Beziehung zwischen dem Kind und dem leiblichen Vater zustande
kommen kann. Diese Rechtslage, so auch der EGMR,
verletzt den leiblichen Vater in seinem Recht auf Achtung seines Privatlebens.
Auch den Interessen des Kindes wird dabei nicht in
ausreichendem Maße Rechnung getragen. Nicht immer ist die Weigerung der rechtlichen Eltern, den leiblichen Vater ins Leben des Kindes zu lassen, auch zum
Besten des Kindes. Wir wissen heute, dass es für Kinder zwar einerseits sehr wichtig ist, ein stabiles familiäres Bezugssystem zu haben, dass aber andererseits
die Suche nach der eigenen biologischen Herkunft für
Kinder eine große Bedeutung haben kann und gerade
vor diesem Hintergrund auch dem Umgang mit dem
leiblichen Vater besonderer Stellenwert zukommen
kann. Es ist daher wichtig, dass diese Frage - die
Frage, ob ein Umgang mit dem leiblichen Vater dem
Kindeswohl dient - in jedem Einzelfall konkret gestellt
und geklärt wird.
An dieser Stelle setzt der heute diskutierte Gesetzentwurf an, und zwar - das halte ich für sehr entscheidend - in einer vorsichtigen und zurückhaltenden
Weise: Wenn es dem Kindeswohl dient, soll künftig ein
Umgang zwischen Kind und leiblichem Vater möglich
sein. Im Zentrum steht mithin die Frage, ob der Umgang dem Kindeswohl dient. Damit das Kind und die
rechtlich-soziale Familie nicht unnötig verunsichert
werden, sind weitere Hürden eingebaut: Der leibliche
Vater muss an Eides statt versichern, der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, und er
muss ein echtes, nachhaltiges Interesse an dem Kind
gezeigt haben.
Dadurch, dass ein Umgangsrecht nur für solche
leibliche Väter in Betracht kommt, die ein nachhaltiges Interesse am Kind gezeigt haben, wird ganz klargestellt: Hinter dem Antrag auf Umgang muss ein echtes,
ein nicht nur vorübergehendes, sondern nachhaltiges
Interesse am Kind stecken. Es dürfen nicht andere Motive des leiblichen Vaters ausschlaggebend für seinen
Antrag sein - zum Beispiel der Wunsch, sich an der
Zu Protokoll gegebene Reden
Mutter zu rächen, oder die bloße Neugier darauf, das
Kind kurz einmal kennenzulernen.
Bei der Frage, ob der leibliche Vater ein nachhaltiges Interesse am Kind gezeigt hat, wird es ganz entscheidend auf die konkreten Umstände des Einzelfalls
ankommen. Wenn die rechtlichen Eltern dem leiblichen
Vater jede Kontaktaufnahme verbieten und bei Zuwiderhandlung Konsequenzen androhen, wird man vom
leiblichen Vater nicht verlangen können, dass er täglich anruft. Wenn ein leiblicher Vater aber jahrelang
überhaupt keinen Kontakt sucht, oder wenn sein Interesse am Kind bereits nach sehr kurzer Zeit wieder
verloren geht, so wird zweifelhaft sein, ob diese Voraussetzung für ein Umgangsrecht tatsächlich erfüllt
ist. Die Gerichte haben wegen des bewusst offen gewählten Tatbestandsmerkmals die Möglichkeit, die
Umstände des Einzelfalls angemessen zu berücksichtigen.
Im Mittelpunkt aller Überlegungen steht das Kindeswohl; ein Umgangsrecht wird nur dann gewährt,
wenn es dem Wohl des Kindes dient. Auch ein Auskunftsrecht des leiblichen Vaters kommt nur in Betracht, wenn das Kindeswohl dadurch nicht gefährdet
wird.
Der Entwurf nimmt das Bedürfnis des Kindes, mit
seinen rechtlichen Eltern in einem stabilen Umfeld
aufwachsen zu können, sehr ernst. Er will verhindern,
dass ein Kind in seinem - für sich so wichtigen - Zugehörigkeitsgefühl zur rechtlichen Familie unnötig verunsichert wird. Als seinerzeit der Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Untersuchung zur Klärung
der leiblichen Abstammung, § 1598 a BGB, eingeführt
wurde, wurde der biologische Vater bewusst nicht in
den Kreis der Klärungsberechtigten einbezogen. Entsprechend hat sich auch der heute zu beratende Entwurf - ganz bewusst - dagegen entschieden, dem leiblichen Vater die Klärungsmöglichkeit nach § 1598 a
BGB zu geben. Denn dann würde auch derjenige mutmaßliche leibliche Vater Rechte anmelden, der gar keinen Umgang mit dem Kind will, sondern lediglich
Klarheit über die Frage erlangen möchte, ob das Kind
biologisch von ihm abstammt. Ziel des Klärungsverfahrens soll es jedoch nicht sein, unabhängig vom Bestehen einer rechtlichen Verbindung das bloße Interesse an der biologischen Abstammung zu befriedigen.
Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung für den Entwurf in der Ihnen heute vorliegenden Fassung: Er behält die bestehende Systematik bei und justiert - unter
größtmöglichem Schutz für die rechtlich-soziale Familie - da nach, wo es mit Blick auf das Kindeswohl und
die berechtigten Interessen leiblicher Väter nötig ist.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12163 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge. - Dann haben wir die
Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 9:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({0}), Dr. Edgar Franke,
Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Überlebenshilfe in der Drogenpolitik - Situation der Substitution von Opiatabhängigen
verbessern und Substitutionsbehandlung im
Strafvollzug gewährleisten
- Drucksache 17/12181 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({1})-
Rechtsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sie sind damit einverstanden.
Ebenso interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 17/12181 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie
sind einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 29:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/12013 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({2})Ausschuss für Kultur und Medien
Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.
Leistungsschutzrechte sind dieser Tage in aller
Munde. Und es ist verwunderlich, wie teilweise hoch-
emotional dieses Thema - insbesondere in Verbindung
mit der geplanten Einführung eines Leistungsschutz-
rechtes für Presseverleger - in der Diskussion vor-
kommt. Auch in dem vorliegenden von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Achten Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, den wir
heute in erster Lesung beraten, geht es - neben der
Harmonisierung der Schutzdauer von Musikkomposi-
tionen mit Text - im Wesentlichen um Leistungsschutz-
rechte, und zwar im Bereich Musik.
Leistungsschutzrechte gibt es nicht erst seit dem Ko-
alitionsvertrag der christlich-liberalen Bundesregie-
rung. Sie bestehen bereits länger als unser heutiges
Urheberrecht. Leistungsschutzrechte sind als soge-
nannte verwandte Schutzrechte im Urheberrechtsge-
setz ab § 70 geregelt und beinhalten die technisch-or-
ganisatorische Komponente der Urheberleistung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Richt-
linie 2011/77/EU des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 27. September 2011 über die Schutz-
1) Anlage 14
dauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter
Schutzrechte umgesetzt werden. Diese Richtlinie ergänzt die Richtlinie 2006/77/EU und soll ein Schutzniveau für ausübende Künstler schaffen, das ihrer kreativen Arbeit gerecht wird. Schließlich sollen die
Urheber während ihres gesamten Lebens auf Einnahmen aus den ausschließlichen Rechten ihrer Werke zurückgreifen können.
Der Entwurf des neuen Gesetzes und damit die Umsetzung der Richtlinie enthält zwei wesentliche
Punkte: Zum einen wird die Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text innerhalb der EU harmonisiert. Zum anderen soll die Schutzdauer von Rechten
ausübender Künstler und Tonträgerhersteller von 50
auf 70 Jahre verlängert werden. Das deutsche Recht
muss dahin gehend angepasst werden, dass es bisher
keine Regelungen zu dieser geänderten Schutzdauer
enthält: Dies betrifft ein Kündigungsrecht sowie Ansprüche auf zusätzliche Vergütung für ausübende
Künstler.
Die Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text
knüpft an eine vergleichbare Bestimmung zu Film- und
audiovisuellen Werken an. Die EU-Richtlinie legt die
Schutzdauer auf 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers,
also des Textverfassers oder des Komponisten, fest. Sie
verlängert zudem die Schutzdauer für Rechte von ausübenden Künstlern und von Tonträgerherstellern. Bisher erloschen die Rechte des ausübenden Künstlers
50 Jahre nach Erscheinen des Tonträgers bzw. seiner
ersten öffentlichen Wiedergabe. Nun wird diese Frist
auch hier auf 70 Jahre verlängert. Mit der Umsetzung
der Richtlinie, die bis zum 1. November 2013 erfolgt
sein muss, leisten wir also einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung von im Musikbereich tätigen Künstlern und
Urhebern.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine große
Diskussion über das damals eingeführte Leistungsschutzrecht für Tonträgerhersteller mit der Begründung, Konzert- und Theatersäle könnten dadurch leer
bleiben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts können wir
wohl heute sagen, dass sich diese Befürchtung nicht
bewahrheitet hat. Das sollten wir uns vielleicht vor
Augen halten, wenn wir bei der Diskussion um das
Leistungsschutzrecht für Presseverlage an so mancher
Stelle ebenfalls erleben, dass die maximale Orchestrierung gewählt wird, um Widerstand gegen die Einräumung eines solchen Rechts zu erzeugen.
An den tatsächlichen Wirkungen von Schutzrechten
wird dabei leider oftmals vorbeiargumentiert. Denn
die EU-Richtlinie für eine verlängerte Schutzdauer für
Musikleistungsschutzrechte, die wir nun in deutsches
Recht umsetzen, zeigt, dass es um eine sinnvolle Ergänzung bestehender verwandter Schutzrechte im Urheberrecht geht, um das Schutzniveau für die Urheber
entsprechend ihrer Leistungen auszugestalten.
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Schutzdauer für die Rechte an
Musikaufnahmen von 50 auf 70 Jahre verlängern soll.
Der Entwurf setzt eine EU-Richtlinie um.
Dabei geht es um die sogenannten verwandten
Schutzrechte der Tonträgerhersteller, also der Plattenfirmen, und die der ausübenden Künstlerinnen und
Künstler, die nicht gleichzeitig als Texter oder Komponist Miturheber des Musikwerkes sind, das heißt um
die an der Aufnahme beteiligten Studiomusiker. Es
geht also nicht um eine Verlängerung urheberrechtlicher Schutzfristen insgesamt.
Grundsätzlich dienen Schutzfristen im Urheberrecht der sozialen Absicherung der Kreativen - und
haben damit prinzipiell ihre Berechtigung. Das Ziel,
die soziale Situation ausübender Künstlerinnen und
Künstler zu verbessern, verfolgte auch die Europäische Kommission, als sie im Juli 2008 einen Richtlinienvorschlag vorlegte, mit dem die Schutzfrist für die
Rechte an Musikaufnahmen von bislang 50 Jahren auf
95 Jahre verlängert werden sollte. Die ursprünglich
geplante - realitätsferne - Verlängerung um 45 Jahre
wurde zu Recht einmütig kritisiert, vom Europäischen
Parlament ebenso wie vonseiten des Bundestages, der
2009 eine maximale Verlängerung auf 70 Jahre angemahnt hatte.
Für die SPD-Bundestagsfraktion stellt sich im Kern
eine Frage: Können die Künstlerinnen und Künstler
nun auf eine Verbesserung ihrer Einkommenssituation
im Alter hoffen, oder werden hauptsächlich andere von
der Verlängerung der Schutzdauer profitieren? Viele
Urheberrechtsexperten bezweifeln, dass die längeren
Fristen den Künstlerinnen und Künstlern helfen werden. Viele glauben, dass sich die Einnahmen für ausübende Künstler durch die Schutzfristverlängerung
nicht nennenswert erhöhen werden. Wahrscheinlicher
sei, dass die Musikindustrie, vor allem die großen
Plattenlabels, davon am meisten profitieren werde.
Warum? Bisher erloschen die Rechte an Aufzeichnungen und Darbietungen ausübender Künstlerinnen und
Künstler 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Dieser
Schutz verlängert sich jetzt um 20 Jahre. An den
Zusatzeinnahmen, die die Plattenfirmen in dieser Zeit
erzielen, sollen die Künstlerinnen und Künstler zu
einem Fünftel beteiligt werden - allerdings erst an
Einnahmen, die 50 Jahre nach Erscheinen des Tonträgers erzielt wurden.
Wir wissen jedoch, dass die meisten Künstlerinnen
und Künstler ihre Rechte umfassend an ihre Plattenfirmen abtreten und dafür in der Regel lediglich eine
einmalige Pauschale erhalten. Die Gründe sind uns
bekannt: Aufgrund des wirtschaftlichen Ungleichgewichts von Künstlern auf der einen und Plattenfirmen
auf der anderen Seite finden Vertragsverhandlungen
selten auf Augenhöhe statt. Vor allem Studiomusiker
können wegen ihrer schwachen Verhandlungsposition
so gut wie nie eine wiederkehrende Vergütung vereinbaren. Das Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum hat deshalb in einer Stellungnahme zum Richtlinienentwurf kritisiert, dass die Verlängerung der
Schutzfrist den Künstlern nichts bringe und die „UnzuZu Protokoll gegebene Reden
länglichkeiten des heutigen Systems“ unberührt lasse.
Beschnitten werden auch die Rechte der Allgemeinheit, indem der Zugang zu Tonaufnahmen von Musik,
vor allem aus den 50er- und 60er-Jahren, die bereits
gemeinfrei ist, weiter beschränkt bleibt.
Ob Schutzfristverlängerungen ein geeignetes Mittel
sind, um die soziale Situation von Künstlerinnen und
Künstlern zu verbessern, kann daher zumindest bezweifelt werden. Dieser Frage werden wir uns in den
anstehenden Beratungen im Rechtsausschuss genauer
widmen müssen.
Sie hatten sich ja in Sachen Urheberrecht eine
Menge vorgenommen, einen ganzen „Dritten Korb“
von Gesetzesreformen. Aber aus einem Zweitveröffentlichungsrecht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist ebenso wenig geworden wie aus einer allgemeinen Wissenschaftsschranke, einer gesetzlichen
Regelung für Mashups, einer Erlaubnis für den privaten
Weiterverkauf von heruntergeladenen Musikdateien
oder auch nur einer Eindämmung des Abmahnwahns.
Sie haben viele große Töne gespuckt und am Ende
nichts getan. Nichts - das meine ich wörtlich. Aber
damit die Bilanz Ihrer Legislaturperiode in Sachen
Urheberrecht nicht ganz so düster aussieht, wollen Sie
jetzt kurz vor Ihrer Abwahl noch die Verlängerung der
Schutzfristen für Tonträgerhersteller durchdrücken.
Na toll! Sie kommen mit einem „Körbchen“ um die
Ecke, in das Sie ein faules Ei gelegt haben.
Worum geht es? Darum, dass Musikaufnahmen zukünftig nicht mehr nur 50, sondern 70 Jahre lang geschützt sein sollen, wobei wir nicht vom Urheberrecht
reden, also nicht von den Rechten der Komponisten
und Textschreiberinnen, sondern von den Leistungsschutzrechten. Geht es also um die Interessen der ausübenden Künstler, wie Sie behaupten? Keineswegs.
Es geht einzig und allein um die Partikularinteressen der drei großen Major Labels. Warum? Weil nur
sehr wenige Werke 50 Jahre nach Erscheinen überhaupt noch kommerziell verwertet werden, nämlich die
großen Hits. Die meisten anderen werfen schon nach
einem Jahr keine nennenswerten Einnahmen mehr ab,
erst recht jedoch nicht nach 50 oder gar 70 Jahren.
Die angeblichen Mehreinnahmen werden einigen wenigen Stars und ihren Plattenfirmen zugutekommen.
Und dafür nehmen Sie achselzuckend in Kauf, dass
auch der ganze Rest fortan 20 Jahre länger hinter
Schloss und Riegel bleibt.
Wenn es Ihnen tatsächlich um Mehreinnahmen für
die Künstler gegangen wäre, hätten Sie in Europa, als
die EU über diese Richtlinie beraten hat, vorschlagen
können, dass die Rechte an den Aufnahmen nach
spätestens 50 Jahren an die Künstler zurückgegeben
werden sollen. Stattdessen steht drin, dass bereits bestehende Verträge sich automatisch auf die neue
Schutzdauer von 70 Jahren verlängern. Wer also als
Künstler seine Rechte abgetreten hat, ist sie jetzt automatisch für weitere 20 Jahre los, und er hat lediglich
einen Anspruch darauf, in Höhe von 20 Prozent an den
potenziellen Einnahmen beteiligt zu werden.
Anders gesagt: Sie verlängern der Künstler und
Künstlerinnen Rechte um 20 Jahre, um sie ihnen sogleich wieder zu entziehen, um sie den Major Labels
zuzuschustern. Die Künstlerinnen und Künstler aber
werden mit einer Beteiligung von 20 Prozent abgespeist, die dann erstmals nach 50 Jahren gezahlt werden muss.
Sie sind wirklich tolle Kämpfer für die Rechte der
Kreativen! Um von den Rechten der Nutzerinnen und
Nutzer gar nicht erst zu reden, die jetzt 20 weitere
Jahre lang keine Samples aus älteren Musikstücken für
kreative Remixes verwenden dürfen.
Zahlreiche Experten haben sich auf europäischer
Ebene gegen diese Richtlinie ausgesprochen. Zugegeben, Sie haben in Deutschland jetzt keine Wahl, die
Richtlinie muss in nationales Recht umgesetzt werden.
Aber es ist auffällig, dass Sie es besonders eilig damit
haben.
Sie haben keine einzige Urheberrechtsreform umgesetzt, wollen aber schnell noch dieses Gesetz durchdrücken, bevor Sie abgewählt werden. Nach dem
Motto „Lieber noch schnell eine schlechte Reform als
gar nichts auf die Reihe bekommen“. Warten wir ab,
ob die Wählerinnen und Wähler das auch so sehen.
Auf den ersten Blick bringt der vorliegende Gesetzentwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes wenig Aufregendes. Die Vorgaben
der Europäischen Richtlinie 2011/77/EU vom 27. September 2011 ändern lediglich die SchutzfristenRichtlinie 2006/116/EG und fordern von den Mitgliedstaaten eine entsprechende Anpassung nationalen
Urheberrechts. Europarechtlich ist dies ein gewollter
und aus den Europäischen Verträgen resultierender
Vorgang der fortschreitenden Vereinheitlichung der
Europäischen Union.
Wenden wir uns aber den Inhalten und den Änderungen im Urheberrecht zu, wird die Sache ungleich
komplizierter.
Die Schutznormen des Urheberrechts schützen das
Persönlichkeitsrecht und das Verwertungsrecht der
Kreativen, die Rechte der geistig schaffenden
Menschen an den von ihnen geschaffenen geistigen
Werken. Insoweit ist das Urheberrecht dem Eigentumsrecht am Sach- und Rechtseigentum ähnlich und steht
wie dieses in seinem Kern unter der Grundrechtsgarantie von Art. 14 GG. Dabei geht es um nicht weniger als um die soziale Frage, ob Kreative das Recht
haben sollen, von ihrer Arbeit zu leben, auch indem sie
bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen ihre
Werke gehört, gesehen oder gelesen werden. Auch internationale Verträge, denen Deutschland schon vor
Jahrzehnten beigetreten ist, und auch das Europäische
Recht schützen das Urheberrecht der Urheberinnen
und Urheber.
Zu Protokoll gegebene Reden
Geistige Werke der Literatur und der Musik gehören
aber auch und mit gleichem Anspruch auf Achtung
zum geistigen Erbe von Kultur- und Sprachgemeinschaften, ohne dass einzelne Rechteinhaber dies reglementieren oder lizensieren dürften. Die Welt der
Kultur sähe arm aus, wenn Werke von Goethe oder
Mozart nicht der Allgemeinheit gehören würden, wenn
sie nicht gemeinfrei wären.
Im Grundsatz weiß das Urheberrecht mit diesem
Widerspruch umzugehen, indem es den Urheberrechtsschutz zeitlich beschränkt. Politisch strittig sind
deshalb weniger diese Schutzfristen als solche als vielmehr ihre genaue Dauer. Hierbei gilt es, zu beachten,
dass verschiedene Schutzfristen durchaus unterschiedlich lange gelten und dass sie sich im Laufe der Zeit
auch immer wieder erheblich geändert - meistens
verlängert - haben.
Ein Urheberrecht, das den Urheberinnen und
Urhebern wie den ausübenden Künstlern zu ihren Lebzeiten fortlaufende Einnahmen aus der Verwertung
ihrer Werke sichert, findet unsere volle Zustimmung.
Da jedoch in den meisten Fällen die Verwertung nicht
von den Urhebern selbst vorgenommen, sondern an
professionelle Verwerter übertragen wird, ist die Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen zwischen
Urhebern und Verwertern von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob die Schutzfristen wirklich den
Urhebern oder vielmehr und ausschließlich nur den
Verwertern nutzen.
Schutzfristen über den Tod hinaus werden viel kritischer gesehen. Sie haben einerseits eine soziale Absicherungsfunktion gegenüber den Familienmitgliedern
der Urheber und bilden oft den Hauptinhalt des Erbes,
welches zweifelsohne unter gesetzlichem Schutz steht.
Andererseits schwindet nach dem Tod der personale
Bezug zwischen dem Urheber und seinem Werk, weshalb besonders Fristverlängerungen post mortem
problematisch sind.
Bei alledem darf nicht übersehen werden, dass alle
Schutzfristverlängerungen der Gemeinfreiheit neue
Grenzen setzen, diese aber in Wissensgesellschaften
von integraler Bedeutung ist. Schließlich wird die
Durchsetzung der Urheberrechte in der Zeit einer fortschreitenden Digitalisierung und Globalisierung immer schwieriger und kollidiert mit datenschutzrechtlichen sowie bürgerrechtlichen Vorgaben. Deshalb
sollte sich die parlamentarische Debatte des vorliegenden Gesetzentwurfs nicht auf den Umsetzungsaspekt europäischer Vorgaben beschränken. Wir sind der
Gesetzgeber und müssen die von uns zu erlassenden
Gesetze verantworten. Ich will nur zu bedenken geben,
dass die Änderungen der Schutzfristenrichtlinie - worüber wir heute reden - auf Initiativen derjenigen
zurückgehen, die die Rechte an den Beatles-Liedern
halten. Deshalb habe ich beim vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung vermisst, dass keine Ausführungen zu der Frage gemacht werden, wem konkret
und in welchem Umfang die vorzunehmenden gesetzlichen Änderungen nutzen und welche möglichen
Schäden dem gegenüberstehen.
Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die
Dauer der Rechte an Musikkompositionen mit Text, die
Dauer der Rechte ausübender Künstler an ihren auf
Tonträger aufgenommenen Darbietungen und die
Dauer der Verwertungsrechte der Hersteller von
Tonträgern.
Zum ersten Punkt. Bisher erloschen die Rechte der
Musiker und Texter unabhängig voneinander 70 Jahre
nach dem Tod. Nunmehr wird die Regelung derjenigen
für Miturheber und bei Filmwerken angeglichen; die
Rechte erlöschen 70 Jahre nach dem Tod des Längstlebenden.
Zum zweiten Punkt. Bisher erloschen die Rechte
ausübender Künstler auf Aufnahme, Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentliche Wiedergabe ihrer Werke
50 Jahre nach dem ersten Erscheinen. Diese Frist wird
um 20 Jahre verlängert; allerdings nur für Ton- und
nicht für Bildaufnahmen. Einen Umsetzungsspielraum
sehe ich insoweit nicht. Ob die unterschiedliche Behandlung von Ton- und Bildaufnahmen sinnvoll ist,
müssen wir in den Beratungen noch diskutieren.
Zum dritten und brisantesten Punkt. Das geltende
Recht sichert den Herstellern von Tonträgern ein eigenständiges Leistungsschutzrecht zur Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Zugänglichmachung der Tonträger zu. Dieses Recht erlischt nach
50 Jahren; nun soll es um 20 Jahre verlängert werden.
Ich will nicht verhehlen, dass mir diese Änderung richtig gegen den Strich geht und dass mich die neuen
Regeln zur Partizipation der Urheber an den Gewinnen der Tonträgerhersteller aus dieser Verlängerung
nur schwer mit einem solchen Geschenk an die Tonträgerindustrie zu versöhnen vermögen. Positiv ist
sicherlich, dass den Urhebern ein neues Kündigungsrecht zugestanden wird, auf welches die Urheber auch
nicht verzichten können. Urheber brauchen solche unabdingbaren Schutznormen, weil sie in Verhandlungen
meist in der wirtschaftlich schwächeren Position sind.
Ich will zum Schluss auf einen möglicherweise problematischen Punkt hinweisen. Bei Aufzeichnungen
von Darbietungen mehrerer ausübender Künstler, also
bei Orchester-, Chor- oder Bandeinspielungen, bestimmt sich die Kündigung nach nationalem Recht. Wir
werden prüfen müssen, ob dieses sich für Kündigungen
eignet, die 50 Jahre nach der Einspielung auszusprechen ist. Eventuell werden wir hier noch Änderungsvorschläge zur Abstimmung vorlegen.
Das Urheberrecht ist in aller Munde. Es wird gewöhnlich breit in der Öffentlichkeit diskutiert - und
das meistens sehr kontrovers. Denn in den Debatten
werden in der Regel sehr unterschiedliche Positionen
vertreten, und die Aufgabe der Rechtspolitik ist, die
unterschiedlichen Interessenlagen auszuloten und die
Zu Protokoll gegebene Reden
Interessenskonflikte in Ausgleich zu bringen. Die Debatte im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf, den
wir heute zu beraten haben, gab bisher wenig Anlass
zu solch kontroversen Diskussionen.
Denn mit dem vorliegenden Entwurf eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes hat
die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt,
mit dem die Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 27. September 2011 über die
Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte in deutsches Recht umgesetzt
werden soll. Die Umsetzung der Richtlinie durch den
deutschen Gesetzgeber ist zwingend. Die gesetzgeberischen Spielräume sind dabei marginal. Der Regierungsentwurf beschränkt sich auf diejenigen gesetzlichen Regelungen, die zur Umsetzung der Richtlinie
zwingend erforderlich sind.
Im Wesentlichen verlängert der Gesetzentwurf die
Schutzdauer von Rechten der ausübenden Künstler
und der Tonträgerhersteller. Ausübende Künstler und
Hersteller von Tonträgern sollen aus folgenden Gründen einen längeren Schutz für ihre Leistungen erhalten: Ausübende Künstler beginnen ihre Laufbahn im
Allgemeinen relativ jung, sodass ihre Darbietungen
bei der derzeitigen Schutzdauer von 50 Jahren für Aufzeichnungen von Darbietungen gegen Ende ihres Lebens häufig nicht mehr geschützt sind. Gerade dann
sind sie aber darauf angewiesen, noch Einkünfte aus
der Verwertung ihrer Leistungen zu erzielen. Zukünftig
wird sich die Schutzdauer daher an dem Schutz für Urheber orientieren. Entsprechend den Richtlinienvorgaben wird die Schutzdauer künftig 70 statt wie bisher
50 Jahre betragen.
Die Richtlinie und ihr folgend der Regierungsentwurf beschränken sich jedoch nicht auf eine bloße Verlängerung der Schutzdauer. Denn mit der verlängerten
Schutzdauer für Tonträger ist es den Tonträgerherstellern länger als bisher möglich, die Tonträger kommerziell zu verwerten. Sie können also zusätzliche
Einnahmen generieren. Die Richtlinie und der Regierungsentwurf stellen sicher, dass die ausübenden
Künstler an diesen zusätzlichen Einnahmen partizipieren, die Tonträgerhersteller wegen der verlängerten
Schutzdauer zukünftig erwirtschaften werden.
Dazu räumt der Regierungsentwurf dem ausübenden Künstler, der seine Rechte gegen eine Pauschalvergütung dem Tonträgerhersteller eingeräumt oder
übertragen hat, für den Zeitraum der verlängerten
Schutzdauer, das heißt für die Jahre 51 bis 70, einen
zusätzlichen Vergütungsanspruch in Höhe von 20 Prozent der Einnahmen des Tonträgerherstellers ein. Dieser Vergütungsanspruch ist im Interesse des ausübenden Künstlers unverzichtbar und kann nur über eine
Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden.
Auch für den Fall, dass ein Übertragungsvertrag
eine laufende Beteiligung des ausübenden Künstlers
vorsieht, stellt der Regierungsentwurf die Teilhabe an
den generierten Mehreinnahmen des Tonträgerherstellers sicher: Für den Zeitraum der verlängerten
Schutzdauer - das heißt für die Jahre 51 bis 70 - dürfen dann keine Abzüge von der Vergütung des ausübenden Künstlers vorgenommen werden. Der ausübende
Künstler wird dadurch geschützt, dass der Regierungsentwurf ihm ein Kündigungsrecht einräumt für den
Fall, dass der Tonträgerhersteller die Aufzeichnung
seiner Darbietung während der verlängerten Schutzdauer nicht verwertet. Die Rechte fallen dann an den
ausübenden Künstler zurück, und er kann diese anderen Verwertern anbieten oder selbst verwerten.
Mit der Verlängerung der Schutzdauer leistet der Regierungsentwurf so einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Absicherung ausübender Künstlerinnen
und Künstler. Künftig stehen ihnen die Einnahmen aus
ihrer Arbeit für insgesamt 70 Jahre zur Verfügung. Ein
weiterer wesentlicher Gegenstand der Umsetzung betrifft die Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text.
Die Richtlinie setzt für diese eine europaweit einheitliche Schutzdauer von 70 Jahren fest. Dies setzt der
Regierungsentwurf ebenfalls um.
Die Richtlinie muss bis zum 1. November 2013 umgesetzt werden. Das parlamentarische Verfahren muss
also noch vor der Sommerpause 2013 abgeschlossen
werden, weil sonst Schadensersatzansprüche drohen.
Der Bundesrat hat keinerlei Einwendungen gegen den
Regierungsentwurf erhoben. Dies bestätigt für mich,
dass die Bundesregierung einen rundum gelungenen
Entwurf vorgelegt hat. Ich würde mich freuen, wenn
dies von Ihnen genauso gesehen würde.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/12013 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge. Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 30:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus- und
Weiterbildung in der Altenpflege
- Drucksache 17/12179 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})HaushaltsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.
Die Lebenserwartung der Menschen in unserem
Lande verlängert sich stetig und hat einen historischen
Höchststand erreicht. Diese erfreuliche Entwicklung
wird aber auch dazu führen, dass immer mehr Menschen im hohen Alter auf Pflege angewiesen sind.
Heute sind es circa 2,4 Millionen, im Jahr 2030 werDorothee Bär
den es über 3,3 Millionen Menschen sein, die professionelle Pflege benötigen. Daher ist es eine der gesellschaftspolitisch wichtigsten Aufgaben der nächsten
Jahre, dafür zu sorgen, dass ausreichend motivierte
Fachkräfte für die Altenpflege gewonnen werden.
Schon heute gehört die Altenpflege nach den Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit zu den Berufen mit dem
größten Mangel an Fachkräften: Derzeit bewerben
sich auf 100 offene Stellen nur noch 35 als Arbeit suchend gemeldete Altenpflegerinnen und Altenpfleger.
Hier müssen wir entschieden gegensteuern und allen
an der Altenpflegeausbildung Interessierten deutlich
machen, dass die Altenpflege ein stark wachsender
Dienstleistungssektor mit hervorragenden beruflichen
Perspektiven ist.
Zu diesem Zweck haben sich rund 30 Partner aus
Bund, Ländern und Verbänden zusammengefunden
und die „Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive
Altenpflege“ auf den Weg gebracht. Zu den Partnern
gehören neben der Bundesregierung die Länder und
Kommunen, die Wohlfahrtsverbände, die Fach- und
Berufsverbände der Altenpflege, die Bundesagentur
für Arbeit, die Kostenträger und die Gewerkschaften.
Ziel der Initiative ist es, die Ausbildungszahlen in der
Altenpflege stufenweise bis zum Jahr 2015 um mehr
als 30 Prozent zu steigern. Ziel ist es aber auch, Altenpflegefachkräfte im Beruf zu halten und die Attraktivität dieses Berufs zu steigern durch Verbesserung der
beruflichen Rahmenbedingungen der Pflegekräfte in
stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen.
Zu den in der Initiative vereinbarten Maßnahmen
gehören unter anderem die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Altenpflege,
attraktivere Arbeitsbedingungen - wozu auch die
Zahlung einer angemessenen Ausbildungsvergütung
gehört -, die Förderung der gesellschaftlichen Bedeutung des Berufsfeldes durch Öffentlichkeitsarbeit sowie die bessere Nutzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
in der Europäischen Union. Umgesetzt wurden bereits
zwei Maßnahmen: Das beim Bundesamt für Familie
und zivilgesellschaftliche Aufgaben eingerichtete Beratungsteam Altenpflegeausbildung hat seine Arbeit
aufgenommen und berät vor Ort in allen Regionen
Deutschlands Pflegeeinrichtungen, Altenpflegeschulen sowie alle an der Altenpflegeausbildung Interessierten. Darüber hinaus organisiert es Ausbildungsverbünde und Netzwerke. Das Informationsportal
www.altenpflegeausbildung.net informiert Interessierte über die Altenpflege.
Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf bringen
wir zwei weitere Maßnahmen auf den Weg: Wir stärken
erstens die bereits bestehenden Möglichkeiten zur Ausbildungsverkürzung und führen zweitens die Vollfinanzierung von nicht verkürzbaren Weiterbildungen zur
Altenpflegekraft für eine befristete Zeit wieder ein.
Zu 1: Bereits nach der geltenden gesetzlichen Regelung in § 7 Abs. 1 und 2 Altenpflegegesetz kann bei
Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Ausbildungsdauer für den Beruf der Altenpflegerin oder des
Altenpflegers verkürzt werden. Mit der nun vorgelegten Neuregelung wird bei Maßnahmen der beruflichen
Weiterbildung die Möglichkeit einer positiven Verkürzungsentscheidung gestärkt für im Berufsfeld
erfahrene Personen, wie zum Beispiel Altenpflegehelferinnen und Altenpflegehelfer sowie Krankenpflegehelferinnen und Krankenpflegehelfer. Die Verkürzung
ist nur unter bestimmten Voraussetzungen - Gutachten
durch den berufspsychologischen Service der Bundesagentur für Arbeit - möglich und erfolgt nur dann,
wenn „die Durchführung der Ausbildung und die Erreichung des Ausbildungsziels“ nicht gefährdet wird.
Zu 2: Umschulungen zur Altenpflegerin oder zum
Altenpfleger sind eine wichtige Säule der Fachkräftesicherung in der Altenpflege. So können auch ältere
und lebenserfahrene Menschen aus anderen Berufen
für einen Beruf in der Altenpflege gewonnen werden.
Viele Frauen, die sich nach der Familienphase neu
orientieren, können sich eine Beschäftigung in der
Pflege vorstellen. Daher ist es erfolgversprechend,
verstärkt Menschen für die Altenpflege zu gewinnen,
die sich wegen Arbeitslosigkeit oder aus anderen
Gründen beruflich neu orientieren müssen und Interesse an diesem Berufsbild mitbringen. Mit den vorgelegten Änderungen im SGB II und SGB III werden die
Bundesagentur für Arbeit oder das Jobcenter Umschulungen zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger, die
zwischen dem 1. April 2013 und den 31. März 2016 beginnen, wieder für drei Jahre finanzieren: Neben den
Weiterbildungskosten werden BA und Jobcenter auch
das Arbeitslosengeld bzw. die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Bereich der Grundsicherung tragen.
Nachdem am 13. Dezember 2012 mit der Unterzeichnung der „Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege“ der erste bundesweite Ausbildungspakt für den Bereich der Altenpflege gestartet
wurde, leisten wir mit der Einbringung des vorliegenden Gesetzentwurfs einen weiteren wesentlichen
Beitrag zur Fachkräftesicherung in der Altenpflege.
Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werden wir den
Fehlbedarf an Pflegekräften deutlich reduzieren. Die
Koalitionsfraktionen werden den Gesetzentwurf
schnell verabschieden, damit für an einer Ausbildung
oder Umschulung Interessierte Planungssicherheit geschaffen wird.
Es ist ein Grund zur Freude, dass dank der gestiegenen Lebenserwartung die Chance auf ein langes Leben
heute so hoch wie nie zuvor in der menschlichen Geschichte ist. Dies gilt auch für die Menschen in
Deutschland. In der Folge werden allerdings auch immer mehr von ihnen im Alter auf Pflege angewiesen
sein. Bis 2030 wird die Zahl der pflegebedürftigen
Menschen in Deutschland voraussichtlich um 40 Prozent auf dann 3,4 Millionen anwachsen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bereits heute fehlen in den Pflegeberufen Fachkräfte. Auf 100 offene Stellen im Pflegebereich kamen
zuletzt nur 37 Fachkräfte, die eine entsprechende Tätigkeit suchten. Die Bundesagentur für Arbeit hat soeben neue Zahlen zum Fachkräftemangel in den Gesundheits- und Pflegeberufen vorgelegt. Danach hat
sich die Lage vor allem in der Altenpflege in den vergangenen Monaten sogar verschlechtert: Freie Stellen
bleiben danach im Bundesdurchschnitt 124 Tage unbesetzt, und auf 100 gemeldete Stellen kommen nur noch
rund 35 Arbeitslose. Betroffen von dieser Entwicklung
sind alle Bundesländer.
Dieser gefährlichen Tendenz tritt die Bundesregierung jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur
Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in
der Altenpflege wirksam entgegen. Sie setzt damit eine
wesentliche Maßnahme im Rahmen der „Ausbildungsund Qualifizierungsoffensive“ um, auf die sich im Dezember vier Bundesministerien, die Bundesländer sowie die Bundesagentur für Arbeit und zahlreiche Verbände und Organisationen verständigt haben. Ein
besonderes Verdienst beim Zustandekommen dieser
Initiative zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in der
Altenpflege kommt der hierbei federführend zuständigen Frau Bundesministerin Schröder zu, der ich namens meiner Fraktion für ihre geduldigen und beharrlichen Bemühungen ausdrücklich danken möchte.
Ich denke, wir alle hier in diesem Hause sind uns einig, wenn ich feststelle: Wir brauchen mehr Altenpflegerinnen und Altenpfleger! Und: Unser Ziel sind gut
ausgebildete und motivierte Fachkräfte!
Mit dem Startschuss für die „Ausbildungs- und
Qualifizierungsoffensive Altenpflege“ und dem vorliegenden Gesetzentwurf unternehmen wir einen entscheidenden Schritt, um dem wachsenden Bedarf an
guten Fachkräften in den kommenden Jahren gerecht
zu werden:
Wir wollen bis 2015 die Ausbildungszahlen stufenweise um jährlich 10 Prozent steigern und bis zu
4 000 Pflegehelferinnen und Pflegehelfer nachqualifizieren.
Die dreijährige Umschulungsförderung durch die
Bundesagentur für Arbeit wird befristet wieder eingeführt. Bei entsprechenden Vorkenntnissen ist auch eine
verkürzte Ausbildungszeit möglich, das heißt, bereits
erworbene Qualifikationen oder Berufserfahrungen
können auf eine Aus- und Weiterbildung angerechnet
werden. Mit dem Start der neuen Offensive geht eine
intensive Information und Beratung vor Ort in Pflegeeinrichtungen und Altenpflegeschulen in allen Regionen Deutschlands einher. Parallel dazu wurde bereits
das neue Informationsportal www.altenpflegeausbildung.net freigeschaltet. Der Gesetzentwurf soll zügig
umgesetzt werden, damit die Regelungen noch vor dem
neuen Ausbildungsjahr in Kraft treten können.
Zu den notwendigen Maßnahmen gehören auch die
verbesserte Anerkennung im Ausland erworbener
Qualifikationen im Pflegebereich und die Wahrnehmung der Chancen, die sich aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU bieten. Ich füge ausdrücklich hinzu: Die hohen Qualitätsanforderungen an die
Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf bleiben
selbstverständlich auch künftig gewahrt. Ganz wichtig
für den Erfolg des gesamten Vorhabens ist natürlich,
dass die Bundesländer künftig ausreichend Schulungsplätze zur Verfügung stellen.
Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften wird angesichts der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung weiter zunehmen. Das bedeutet andererseits
aber auch, dass die Altenpflege ein stark wachsender
Dienstleistungssektor ist, der hervorragende und sichere berufliche Perspektiven bietet.
Das breite Bündnis für eine bundesweite Offensive
im Bereich der Altenpflege macht nun den Weg frei für
Zehntausende von neuen Auszubildenden und Umschülern. Das gibt uns die Zuversicht, dass wir dem
drohenden Mangel an Pflegekräften wirksam werden
begegnen können. Jetzt geht es darum, die vorgesehenen Schritte rasch umzusetzen, aber auch darum, die
Pflege durch gute Bezahlung und gesellschaftliche
Achtung noch attraktiver zu machen.
Das Thema Pflege ist mit Sicherheit eine der größten gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen der kommenden Jahre. Der vorliegende Gesetzentwurf weist deshalb die Richtung. Denn gute Pflege
benötigt vor allem gut ausgebildete und motivierte
Fachkräfte.
Der Anteil der Hochaltrigen in Deutschland wird
größer. Zur Bewältigung der ambulanten und stationären Nachfrage benötigen wir gut ausgebildetes, motiviertes und engagiertes Pflegepersonal. Um den Beruf
des Altenpflegers bzw. der Altenpflegerin generell für
Männer und Frauen attraktiver zu gestalten, sind angemessene Arbeitsbedingungen für eine körperlich
und seelisch kräftezehrende Arbeit absolut notwendig:
Altenpflegerinnen und Altenpfleger sollten flexibler
als bisher zwischen ambulanter und stationärer Beschäftigung wechseln können. Eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine alters- und
alternsgerechte Arbeitsumgebung ist dabei ebenso
überfällig wie die grundsätzliche Finanzierung von
drei Umschulungsjahren durch die Bundesagentur für
Arbeit.
Ich begrüße daher die nun vereinbarte Übernahme
der kompletten Umschulungskosten durch die Bundesagentur für Arbeit. Zur Gewinnung von mehr Fachkräften ist die Finanzierung von drei Umschulungsjahren durch die Bundesagentur für Arbeit ein wichtiger
Baustein. Denn die Menschen brauchen eine verlässliche, nachvollziehbare und zukunftssichere Bezahlung.
Seit Jahren machen wir Sozialdemokraten daher Werbung für eine generelle Finanzierung der Umschulung
durch die BA.
Zu Protokoll gegebene Reden
Umso mehr freuen wir uns über die Bereitschaft der
Bundesregierung, unsere Forderung umzusetzen. In
der nun vereinbarten Befristung dieser dreijährigen
Finanzierung bis Ende 2015 und der Vorgabe, dass
Vorkenntnisse zu einer Verminderung der regulären
Ausbildung auf zwei Jahre führen, sehe ich allerdings
die Gefahr einer Qualitätseinbuße. Hier wird eine gemeinsame Kraftanstrengung weiterhin nötig sein, um
eine solche zu verhindern. Daher stimme ich der Vorwegnahme im Gesetzentwurf zu, die Verkürzung nur
nach einer mindestens zweijährigen Berufserfahrung
im Bereich Pflege und Betreuung und nach einer zusätzlichen Kompetenzprüfung zuzulassen.
Bund, Länder und Gemeinden haben sich zusammengeschlossen, mit der „Ausbildungs- und Qualitätsoffensive Altenpflege“ möglichst schnell einem drohenden Fachkräftemangel entgegenzutreten. Sie
wollen die Zahl der Auszubildenden um 10 Prozent pro
Jahr steigern. Dem kann ich mich nur anschließen; daran arbeiten wir gemeinsam.
Die Zeichen zur Berufsanerkennungsrichtlinie aus
Brüssel sind eindeutig positiv zu werten. Denn einer
Zusammenlegung der Pflegeausbildungen im Bereich
Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege steht nun
deutlich weniger im Wege. Auch künftig - und völlig zu
Recht - sind Abgänger von Haupt- und Realschulen
willkommen als Auszubildende im Pflegesektor. Dennoch blieb die Bundesregierung bislang eine Antwort
schuldig, wie sie eine weitere Abwertung der Altenpflege verhindern will. Der seit vielen Monaten angekündigte Gesetzentwurf zur Zusammenlegung der drei
Pflegeausbildungen in eine neue generalisierte Ausbildung liegt noch nicht vor.
Zusätzlich sollten ausbildende Einrichtungen den
Mehraufwand einer Ausbildung nicht allein tragen
müssen. Nicht ausbildende Einrichtungen sollten an
der Finanzierung der Ausbildung und Ausbildungsvergütung beteiligt werden. Einige Länder haben hier bereits gute Lösungen erarbeitet.
Alle Punkte zusammen unterstützen das Image der
Altenpflege. Das Geld für das dritte Umschulungsjahr
ist gut angelegt. Die BA ist zudem derzeit durch eigene
Überschüsse in der Lage, diesen Bedarf zu decken.
Durch den Anstieg der Zahl Älterer und Hochbetagter und die Zunahme der Zahl Pflegebedürftiger haben
sich auch die Erwartungen und Bedingungen auf dem
Pflegemarkt verändert. Die Altenpflege hat an Bedeutung zugenommen. Der hohe Bedarf an qualifizierten
Altenpflegern und Altenpflegerinnen geht jedoch einher mit einem Mangel an qualifiziertem und motiviertem Personal; denn Altenpflege gilt als ein besonders
belastendes Berufsfeld.
Gute Pflege kann aber nicht ohne eine ausreichende
Zahl qualifizierter und motivierter Pflegekräfte gewährleistet werden. Bis 2030 wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland voraussichtlich
um 40 Prozent ansteigen. In Zahlen ausgedrückt heißt
das, 3,4 Millionen Menschen werden auf Pflege angewiesen sein.
Wir müssen die Herausforderungen des demografischen Wandels annehmen. Deshalb bin ich froh, dass
wir die Offensive als Bund gemeinsam mit den
Ländern, verschiedenen Verbänden und Kostenträgern
gestaltet haben. Dem Gesetzentwurf der Koalition
liegt, wie Sie wissen, eine Vereinbarung zur „Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege“
zugrunde, die von rund 30 Partnern aus Bund, Ländern und Verbänden unterzeichnet wurde.
Dass die Pflege von alten und kranken Menschen
nicht nur körperlich anstrengend ist, sondern auch
psychisch, können wir nicht ändern. Wir können wohl
aber Männer und Frauen, die in der Pflege ihren Beruf
- und vielleicht auch ihre Berufung - sehen, unterstützen. Und darauf zielt der Gesetzentwurf.
Mit der Qualifizierungsoffensive wollen wir die
Ausbildungszahlen im Bereich Altenpflege in den
nächsten drei Jahren um 30 Prozent steigern. Die
Koalition sichert mit den Maßnahmen des Gesetzentwurfs die Aus- und Weiterbildungsförderung in der
Altenpflege - und das auf hohem Niveau.
Unser Ziel ist es, die Ausbildungszeit zu verkürzen
und gleichzeitig die Vollfinanzierung des dritten
Weiterbildungsjahres zur Altenpflegerin oder zum
Altenpfleger durch die Bundesagentur für Arbeit und
die Jobcenter zu sichern.
Dies kommt berufserfahrenen und älteren Menschen zugute, die umschulen möchten, aber auch den
rund 4 000 Altenpflegehelferinnen und -helfern, die
sich zur Fachkraft weiterbilden wollen. Das ist eine
großartige Sache.
Deshalb ist die Offensive für mehr Pflegekräfte
nicht nur eine Verbesserung für die Pflegebedürftigen.
Sie ist auch eine Chance für Frauen und Männer, die
beruflich noch einmal durchstarten wollen.
Die Offensive zur Sicherung der Fachkräfte in der
Altenpflege ist zugleich eine gute Chance, den qualifizierten und motivierten Altenpflegerinnen und Altenpflegern im gesellschaftlichen Ansehen mehr Würdigung ihrer Arbeit zukommen zu lassen. Dies kann der
Staat allerdings nicht per Gesetz verordnen. Hier ist
die Gesellschaft insgesamt gefordert.
Der heute in erster Lesung debattierte Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus- und
Weiterbildung der Altenpflege setzt zwei Punkte der
kürzlich beschlossenen Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege um. Die Linke begrüßt
diese Offensive ausdrücklich, auch wenn sie reichlich
spät auf den Weg gebracht wurde, gemessen an der
Dringlichkeit, welche uns der hausgemachte Fachkräftemangel in der Altenpflege auferlegt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum einen werden mit dem Gesetz die Möglichkeiten der Ausbildungsverkürzung im Rahmen der beruflichen Weiterbildung festgeschrieben. Zum anderen
soll endlich die Finanzierung des dritten Umschulungsjahres in der Altenpflege wieder durch die Bundesagentur für Arbeit übernommen werden. Schnell
wird also klar, dass es sich hierbei nur um den Startschuss der Bundesregierung im Kampf gegen den
Fachkräftemangel in der Altenpflege handeln kann, ja,
handeln darf.
Die Linke hat immer wieder darauf gedrängt, dass
die Finanzierung des dritten Umschulungsjahres erneut von der Bundesagentur finanziert wird, und deshalb sind wir auch froh, dass sich die Bundesregierung
hier endlich bewegt. Doch es bleibt fragwürdig, weshalb die Befristung nur auf magere drei Jahre festgesetzt wird. Das ist zu wenig, auch wenn arbeitsmarktpolitische Aktivitäten kein dauerhaftes Instrument sein
sollten und im Bereich der Altenpflegeausbildung insbesondere auch Aktivitäten der Bundesländer gefragt
sind.
Hat denn die christlich-liberale Koalition keine
Lehren aus der zeitlichen Begrenzung gezogen? Bereits mit dem Konjunkturpaket II wurde, für zwei Jahre
befristet, die Umschulung in der Kranken- und Altenpflege über die gesamte Ausbildungsdauer von drei
Jahren gefördert. Das Ergebnis: Nachdem im Förderzeitraum die Umschulungen im Bereich der Altenpflege einen beachtlichen Umfang angenommen hatten, nahm deren Zahl mit dem Auslaufen der
Finanzierung wieder deutlich ab. Die Erfahrungen der
letzten Jahre zeigen zudem, dass weder eine verlässliche Finanzierung der Altenpflegeausbildung landesweit auf den Weg gebracht wurde, noch die Förderung
des dritten Umschulungsjahres dauerhaft gesichert
werden konnte.
Da also auch in den kommenden drei Jahren nicht
zu erwarten ist, dass die Finanzierung der Altenpflegeausbildung bzw. des dritten Umschulungsjahres auf
ein langfristig tragfähiges Fundament gestellt werden,
muss diese Maßnahme nach Auffassung der Linken so
lange entfristet werden, bis eine vernünftige Finanzierungsgrundlage gefunden ist. Zumindest aber sollte
die Befristung wenigstens deutlich verlängert werden.
In der Gesamtschau zum Thema Pflegeausbildung
ist es ohnehin ein trauriger Befund, dass das von der
schwarz-gelben Regierungskoalition versprochene
neue Pflegeberufegesetz noch immer auf sich warten
lässt. Bereits vor drei Jahren wurde hierfür eine BundLänder-Arbeitsgruppe durch die Bundesregierung ins
Leben gerufen. Diese legte ein Eckpunktepapier Anfang März 2012 vor, und seitdem ruht still der See. Der
Knackpunkt ist auch hier die Finanzierung, und deshalb kann mit einer Umsetzung in dieser Legislatur definitiv nicht mehr gerechnet werden. Mein Befund: Versprechen gebrochen!
Bereits im Sommer 2011 hat die Linke dagegen die
Koordinaten für eine Reform der Pflegeausbildung auf
den Tisch gelegt. Eine gute Pflegeausbildung allein
bringt wenig; denn ohne attraktive Pflegeberufe mit
guten Arbeitsbedingungen und einer attraktiven
Bezahlung wird sich niemand für die beste Pflegeausbildung der Welt interessieren. Für eine gute Pflegeausbildung setzt die Linke auf die Integration der
Pflegeberufe. Wir wollen eine dreijährige duale Berufsausbildung mit einer zweijährigen einheitlichen
Grundausbildung und einer anschließenden einjährigen Schwerpunktsetzung in allgemeiner Pflege, Kinderkrankenpflege oder Altenpflege mit gleichwertigen
Berufsabschlüssen. Die Wechselmöglichkeit während
der Ausbildung muss gegeben sein. Schmalspurpflegeausbildungen erteilt die Linke eine Absage.
Zentraler Bestandteil des linken Pflegeausbildungskonzepts ist es, die Durchlässigkeit im Bildungssystem
zu gewährleisten. Einschlägige Pflegestudiengänge
müssen ohne zusätzliche Hochschulzugangsberechtigung auf der Grundlage der bewährten dreijährigen
Berufsausbildung möglich sein. Für Sicherheit und
Qualität der integrierten Pflegeausbildung sorgt die
Verankerung im Berufsbildungsgesetz.
Darüber hinaus gibt es noch reichlich zu tun, um
den Fachkräftemangel in der Altenpflege zu bewältigen und die pflegerische Versorgung in Zukunft zu
sichern. Hierzu gehört neben einer verlässlichen
Finanzierung der Pflegeausbildung über eine Ausbildungsplatzumlage beispielsweise auch die grundsätzliche Etablierung eines bundeseinheitlichen Personalbemessungsinstruments, welches sich am
tatsächlichen pflegerischen Bedarf orientiert.
Die Linke wird jedenfalls das Engagement der Bundesregierung im Rahmen der Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive und darüber hinaus weiter wachsam und kritisch und über die Bundestagswahl 2013
hinaus begleiten und, wenn nötig, der Bundesregierung gehörig auf die Finger klopfen, damit Pflege in
Deutschland eine sichere Zukunft hat.
Auf diesen Gesetzentwurf haben wir lange warten
müssen, sehr lange. Wir begrüßen es, dass die Bundesagentur für Arbeit ab April nun wenigstens für drei
Jahre wieder die vollständige Finanzierung von nicht
verkürzbaren Weiterbildungen zur Altenpflegefachkraft übernimmt.
Vielleicht verrät uns die Bundesregierung bei dieser
Gelegenheit aber einmal, warum sie für diesen unaufwendigen Gesetzentwurf so lange gebraucht hat? Im
letzten Sommer - und schon das war viel zu spät wurde uns dieses Gesetz versprochen. Jetzt erst legen
Sie es vor. Ab April soll die Regelung gelten. Ein Dreivierteljahr vergeht also vom Versprechen bis zur Umsetzung.
Die schwarz-gelbe Koalition hat aber nicht nur dieses Dreivierteljahr tatenlos verplempert. Das gesamte
Jahr 2011 und das Jahr 2012 sind für die Umschulung
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Altenpflegekraft vollständig verloren gegangen.
Entsprechend ist die Zahl der Weiterbildungsmaßnahmen in dieser Zeit im Schnitt um etwa 40 Prozent zurückgegangen.
Die Bundesregierung sollte sich jetzt also mit allzu
viel Eigenlob zurückhalten. Sie tut gerade das, was nötig ist - nicht mehr. Und sie tut es viel zu spät.
Außerdem sollte Schwarz-Gelb die Kirche im Dorf
lassen. Die Aussage, die wir am Dienstag in einer
Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion lesen durften - „Wir sorgen für genügend Fachkräfte in der Altenpflege“ - ist doch reichlich übertrieben.
In der Pressemitteilung heißt es weiter, die Koalition wolle die Ausbildungszahlen in den nächsten drei
Jahren um 30 Prozent steigern. Zum einen bleibt das
erst einmal abzuwarten. Zum anderen dürfte wohl allen klar sein, dass auch das viel zu wenig ist, um dem
schon bestehenden Fachkräftemangel in der Altenpflege auch nur ansatzweise zu begegnen. Es gibt
Schätzungen, die den Bedarf schon heute auf etwa
30 000 Fachkräfte schätzen. Das Statistische Bundesamt gibt an, dass wir bis zum Jahr 2025 110 000 zusätzliche Vollzeitstellen in der Pflege besetzen müssen.
Angesichts dessen liegt es nahe, dass die Förderung
der Umschulung ein richtiger Schritt, aber sicherlich
nicht die Lösung des gesamten Problems ist.
Nun werden die Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen einwenden, es sei doch aber im
letzten Dezember die gemeinsame „Ausbildungs- und
Qualifizierungsoffensive Altenpflege“ von Bund, Ländern und Verbänden vereinbart worden. Das ist richtig. In der Offensive steht durchaus vieles, was wichtig
wäre. So ist es gut, dass alle Bundesländer die Einrichtung einer Ausbildungsumlage prüfen wollen. Zu prüfen heißt natürlich noch lange nicht, dass es auch gemacht wird. Auch ist es richtig, dass endlich
Modellprojekte zur Übertragung heilkundlicher Aufgaben auf Pflegekräfte gestartet werden sollen. Es
gäbe noch weitere Beispiele.
Nur, bisher existiert diese Offensive erst einmal nur
auf dem Papier. Absichtserklärungen sind noch keine
Taten. Des Weiteren fällt auf, dass die Bundesregierung sich in der gesamten Offensive doch sehr vornehm mit eigenen Aktivitäten zurückhält. Das beschränkt sich vor allem auf Kampagnen und die
Aushändigung von Informationsmaterial.
Ja, Sie legen nun dieses Gesetz vor, in Ordnung.
Doch ansonsten: außer Spesen nichts gewesen.
Fakt ist, diese Bundesregierung erledigt in der Pflegepolitik ihren Job nicht. Sie hat schlicht versagt. Und
dieses Gesetz reißt es bestimmt nicht raus.
Schwarz-Gelb hat vieles angekündigt, so auch einen
neuen Pflegebegriff. Nichts haben Sie dazu auf die
Reihe bekommen. Ein neuer Pflegebegriff ist auch für
die Pflegekräfte wichtig; denn damit wollen wir doch
wegkommen von der sogenannten Minutenpflege, unter der nicht nur die Pflegebedürftigen, sondern auch
die Beschäftigten leiden.
Mit Ihrer kümmerlichen Pflegereform - dem PflegeNeuausrichtungs-Gesetz, kurz: PNG - richten Sie gar
nichts neu aus, sondern nur eine Menge an, auch für
das Pflegepersonal. Schwarz-Gelb redet großspurig
von der Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe. Was
aber haben Sie mit dem PNG gemacht? Sie haben die
Kopplung der Zulassung von Pflegeeinrichtungen an
die „ortsübliche Vergütung“ abgeschafft. Das gefährdet die Lohnstruktur in der Altenpflege und droht zu einem Wettbewerb der Billigheimer nach unten zu führen.
Familienministerin Kristina Schröder hat ihr Familienpflegezeitgesetz auf den Weg gebracht. Ein einziger Reinfall, wie erste Zahlen, die in den Medien gelandet sind, belegen: Keine 200 Personen haben die
Familienpflegezeit bisher in Anspruch genommen.
Ohne Rechtsanspruch für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer kann das auch nicht funktionieren - so
auch nicht für Beschäftigte in der Pflegebranche.
Was die Pflegekräfte bzw. Einrichtungen brauchen,
ist ein Personalbemessungsinstrument, um die Personalsituation in den Einrichtungen objektiv bewertbar
zu machen und auf dieser Basis dann dauerhaft verbessern zu können. Sie müssen von unnötiger, zeitraubender Bürokratie entlastet werden. Die Pflege
braucht insgesamt ein durchlässiges Ausbildungssystem, das allen Karrierechancen eröffnet - von der
Hilfskraft bis hin zur Leitungsperson oder Fachkraft
mit Hochschulausbildung.
Nichts von alledem ist passiert oder auch nur angeschoben worden. Das ist schwarz-gelbe Pflegepolitik.
Von Verbesserungen für die Pflegekräfte - geschweige
denn für die Pflegebedürftigen - nicht der Hauch einer
Spur.
Abschließend noch ein kritisches Wort zum Gesetzesinhalt an sich. Auch für Personen, die eine zweijährige Vollzeitbeschäftigung in einer Pflegeeinrichtung
vorzuweisen, aber keine Ausbildung haben, soll die
Weiterbildung verkürzt werden können. Durch ein
„Kompetenzfeststellungsverfahren“ soll festgestellt
werden, ob diese Vorerfahrungen ausreichen, um die
Ausbildung um bis zu ein Jahr zu verkürzen. Die Bundesländer sollen diese Verfahren ausgestalten.
Immerhin wird dieses Verfahren dazwischengeschaltet. Ansonsten hätte man doch sehr stark den Verdacht hegen müssen, dass hier auf Kosten der Qualität
vor allem Geld gespart werden soll. Dennoch öffnet
sich hier ein Fenster, auch nicht geeignete und/oder
nicht ausreichend vorqualifizierte Personen im Eiltempo durch die Umschulung zu schleusen. Wir können nur hoffen, dass die Länder der Qualität der Ausbildung absolute Priorität einräumen. Es bleibt
allerdings unklar, wie und durch wen genau diese Verfahren ausgestaltet werden und inwieweit dabei auf
pflegefachliche Expertise zurückgegriffen wird. Zum
anderen sollten die Verfahren möglichst zwischen den
Zu Protokoll gegebene Reden
Ländern abgestimmt werden, damit nicht jedes Land
nach anderen Kriterien vorgeht. Wir werden dies sehr
genau beobachten.
Kurzum: Dieses Gesetz ist überfällig. Schwarz-Gelb
sollte sich jedoch nicht allzu viel darauf einbilden. Es
wird bei weitem nicht ausreichen, einige Menschen
mehr von einer Aus- bzw. Weiterbildung zu überzeugen, um die Altenpflege aus ihrer Fachkräftemisere zu
befreien. Der Pflegeberuf muss insgesamt attraktiver
werden. Dafür aber tut Schwarz-Gelb nichts. Das pflegepolitische Versagen dieser Koalition wird durch dieses Gesetz sicherlich nicht ausgewetzt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/12179 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge. Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 31:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze
- Drucksache 17/12036 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) - Sie
sind damit einverstanden.
Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf
Drucksache 17/12036 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es nicht. Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 32:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Michalk, Karl Schiewerling, Paul Lehrieder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor,
Dr. Heinrich L. Kolb, Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben ausschöpfen
- Drucksache 17/12180 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})HaushaltsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben.
Es gibt in unserem Land zunehmend mehr Arbeitge-
ber, die sich mit der Erwartung auseinandersetzen,
Menschen mit Behinderung auf dem regulären Arbeits-
markt einzustellen. Das geschieht vielleicht aus per-
sönlicher Betroffenheit, weil sie die verzweifelte Suche
eines schwerbehinderten Arbeitsuchenden nach einem
Job in der Familie oder im Umfeld erleben. Das
geschieht auch aus sozialer Verantwortung; denn die
gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung ist ein Wert an sich und gehört zu unserer freiheit-
lichen Grundordnung. Das geschieht vielleicht auch
aus der wettbewerbsrechtlichen Notwendigkeit, einfa-
che Arbeiten aus Kostengründen nicht von hoch spezi-
alisierten Fachkräften erledigen zu lassen. Das ge-
schieht vielleicht auch aus der Erkenntnis, dass durch
die Herausforderung des drohenden Fachkräfteman-
gels die bisherige Denkweise abgelegt werden muss.
Es gibt wirklich bereits viele, viele positive Bei-
spiele auf dem Weg zu einer inklusiven Arbeitswelt. Ja,
selbst die Tatsache, dass viele Menschen mit einer
Behinderung ihren eigenen Betrieb gegründet haben,
Arbeitskräfte einstellen und so selbst als Unternehmer
ein Beispiel von uneingeschränkter Qualitätsarbeit,
Termintreue, Flexibilität, Leistungsfähigkeit und Krea-
tivität sind, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung
verborgen.
Was jedoch immer wieder thematisiert wird, ist das
sogenannte Freikaufen der Unternehmen durch Zah-
lung der gesetzlichen Ausgleichsabgabe. Und weil die
angebotenen Arbeitsplätze nicht ausreichend sind
- das beweist die Zahl der arbeitslosen Schwerbehin-
derten -, ist die Forderung nach mehr Sanktionen und
einer höheren Ausgleichsabgabe nicht zu überhören.
Die Frage aber ist doch, ob mit einer stärkeren Sankti-
onierung einer nicht eingetretenen Erwartung die Ein-
stellung und die Grundhaltung der Unternehmen hin-
sichtlich einer stärkeren Einstellungspraxis von
Schwerbehinderten verändert wird. Wir in der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion glauben das eher nicht, son-
dern setzen auf Anreize, auf Gespräche, auch auf In-
klusionsvereinbarungen in den Betrieben, auf mehr ge-
genseitiges Verständnis und auf verantwortungsvolle
Personalentscheidungen durch mehr Sensibilität.
Vertrauen - Zutrauen - Getrauen: So hat ein Unter-
nehmer seine Einstellung zu diesem Thema beschrie-
ben. Ich finde, das ist eine vorbildliche Haltung. Sol-
che positiven Beispiele sollen aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass es noch viel zu tun gibt. Das
Thema ist aufzugreifen. Dazu dient der Antrag der
Koalitionsfraktionen. Wir zeigen darin auf, welche
Unterstützungsmöglichkeiten für eine erfolgreiche
Teilhabe am Arbeitsleben es bereits gibt.
Es sind nicht nur die technischen Hilfen am Arbeits-
platz, die Beratungsleistungen der Integrationsfach-
dienste, die Rehabilitationsmöglichkeiten bzw. Weiter-
bildungsangebote der Bundesagentur für Arbeit, das
Instrument der unterstützten Beschäftigung oder die
sozialpädagogische Begleitung zur Unterstützung 1) Anlage 13
während der Einarbeitungsphase, sondern auch die
modellhafte Erprobung von Maßnahmen, wie das
„Budget für Arbeit“ oder das Modellprojekt „Inklusion“.
Die Zahl schwerbehinderter Menschen wird in den
kommenden Jahren infolge des demografischen Wandels zunehmen. Und nicht zu verkennen ist die Tatsache, dass auch während eines Arbeitslebens durch eine
schicksalhafte Erkrankung oder einen Unfall aus dem
bisherigen Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mitarbeiter wird. Hier gilt es, auch ihm die Arbeitsbedingungen und die Rehabilitation bzw. Wiedereingliederung so zu gestalten, dass Teilhabe am Arbeitsleben
möglich bleibt. Es geht also sowohl um Weiterbeschäftigung eines Mitarbeiters mit einer Behinderung als
auch um Neueinstellungen. Das Bewusstsein dafür
müssen noch viel stärker als bisher die Unternehmen
mit ihren Personalabteilungen, der Einzelunternehmer, aber ebenso auch die Mitarbeiterschaft und die
Kolleginnen und Kollegen des jeweils betroffenen
Menschen mit einer Behinderung entwickeln.
Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert in
Art. 27 eine gleichberechtigte Teilhabe. Der Arbeitsmarkt muss Menschen mit Behinderung offen stehen
und ihnen individuelle Möglichkeiten bieten, ihre beruflichen Ziele selbstbestimmt verfolgen zu können.
Der Arbeitsmarkt ist aber kein anonymes Gebilde,
sondern wird bestimmt von Personen, die sich für die
Sache einsetzen oder auch nicht. Um das Letztere zu
vermeiden, setzen wir uns nicht für einen gesetzgeberischen Aktionismus ein, sondern werben für die Einsicht, auf diesem Feld noch mehr zu tun, ohne sich bedrängt zu fühlen. Wenn es nicht zur Herzenssache
vieler Unternehmungen wird, wird auch eine erhöhte
Ausgleichsabgabe die Einstellung nicht ändern. Trotzdem macht es Sinn, hin und wieder die bestehenden Instrumente auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.
Gleichwohl betonen wir in unserem Antrag auch,
dass es immer Situationen und Einzelschicksale durch
bestimmte Erkrankungen bzw. Mehrfachbehinderungen geben wird, die auch in Zukunft das Vorhalten von
geschützten Räumen zum Arbeiten und Wohnen notwendig machen. Das Wunsch- und Wahlrecht von
Menschen mit Behinderung zwischen einer Werkstatt
für Menschen mit Behinderungen und alternativen
Leistungserbringern ist und bleibt ein zentrales Anliegen. Diese Möglichkeiten, Außenarbeitsplätze in
Betrieben zu schaffen oder Betriebspraktika zu gewähren, um den Sprung aus der Werkstatt auf den ersten
Arbeitsmarkt zu ermöglichen, sind noch nicht ausgeschöpft.
Deshalb macht es Sinn, differenzierte Daten zur
Situation von Menschen mit Behinderung auf dem
Arbeitsmarkt vorzulegen. Es fehlen uns als Beispiel
aussagekräftige Daten zur unterschiedlichen Situation
von Männern und Frauen. Wir möchten, dass viel stärker als bisher bereits in der Phase der Berufsorientierung in den Förderschulen die Möglichkeiten auf dem
ersten Arbeitsplatz zur Sprache kommen und genutzt
werden. Viel konsequenter als bisher muss das Persönliche Budget für die berufliche Bildung genutzt werden. Flexible Sachleistungen für Leistungsempfänger
mit hohem Unterstützungsbedarf sind angesagt; denn
es geht jeweils um eine sehr individuelle konkrete
Situation. Deshalb ist die Einbeziehung der Schwerbehindertenvertrauenspersonen kein Element für Inflexibilität, vielmehr ein Zeichen von Vertrauen und Verständnis füreinander, um die jeweils beste Lösung zu
finden.
Mit guten Beispiel vorangehen, miteinander in Erfahrungsaustausch treten, Vorurteile ablegen und mutig auch mal neue Wege gehen: Das ist die Botschaft,
die von diesem Antrag ausgehen soll. Wir brauchen die
Bereitschaft aller, sich aufeinander einzulassen.
Trotz Euro-Krise ist die Arbeitslosenzahl in
Deutschland im Jahr 2012 auf den niedrigsten Stand
seit der Wiedervereinigung gesunken. Bei der Beschäftigungsquote konnte trotz eines schwierigen wirtschaftlichen Umfelds ein Rekordstand verzeichnet
werden.
Doch bei weitem nicht alle Menschen in unserem
Land konnten von dieser erfreulichen Entwicklung profitieren. Zwar wissen mittlerweile viele Unternehmen,
dass Menschen mit Behinderungen hochmotivierte und
leistungsfähige Arbeitnehmer sind, und profitieren von
ihren Fähigkeiten; aber dennoch finden viele von ihnen ohne zusätzliche Hilfe keine Arbeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt.
Der Ihnen vorliegende Antrag „Leistungspotenziale
von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben ausschöpfen“ ist auf Initiative von Maria Michalk - der
Beauftragten für Menschen mit Behinderungen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion - in enger Abstimmung
mit unserem Koalitionspartner FDP und Hubert
Hüppe - dem Beauftragten der Bundesregierung für
die Belange behinderter Menschen - erarbeitet worden. Er nimmt Menschen mit Behinderungen in den
Blick und möchte ihnen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erleichtern und ermöglichen.
Gerade in Anbetracht des drohenden Fachkräftemangels müssen wir dafür Sorge tragen, die Vorbehalte und Barrieren in den Köpfen der Arbeitgeber abzubauen, um behinderten Menschen eine Chance zu
geben. Qualifizierte Arbeitskraft wird immer mehr zu
einem kostbaren Gut. Trotzdem sind viele der aktuell
arbeitslosen Behinderten in diesem Land trotz ihrer
fachlichen Qualifikation und Fähigkeiten zum Teil
schon lange arbeitslos. Oftmals mangelt es potenziellen Arbeitgebern an Informationen hinsichtlich der
Kompetenzen und Qualifikationen von Arbeitnehmern
mit Behinderung; Fördermöglichkeiten zur beruflichen
Eingliederung sind ihnen meist nicht hinreichend bekannt.
Doch die Zeit arbeitet für die Menschen mit Behinderungen in unserem Land; der Fachkräftemangel ist
Zu Protokoll gegebene Reden
heute schon evident. Ihre Berufschancen steigen, je
mehr Fachkräfte fehlen. Wobei es meines Erachtens
ein Armutszeugnis ist, dass bei vielen Betrieben erst
der Fachkräftemangel dazu führt, sich ernsthaft mit
dem Beschäftigungspotenzial behinderter Arbeitnehmer auseinanderzusetzen. Leider ist es immer noch so,
dass sich häufig sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitskollegen schwertun, sich behinderte Menschen als
Mitarbeiter bzw. Kollegen vorzustellen. Hier brauchen
wir dringend einen Mentalitätswechsel. Dieser notwendige Prozess des Umdenkens ist durchaus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir können und wollen
auf die Qualifikationen von Menschen mit Behinderungen nicht verzichten. Es sollte selbstverständlich werden, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten.
Unternehmen schaffen die Arbeitsplätze; doch für
die Rahmenbedingungen ist die Politik zuständig. Unser Antrag „Leistungspotenziale von Menschen mit
Behinderung im Arbeitsleben ausschöpfen“ macht unmissverständlich klar, dass behinderte Menschen auf
dem ersten Arbeitsmarkt gebraucht werden. Sie haben
einen rechtlichen Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe am Arbeitsleben, angefangen
beim Grundgesetz, das über das sogenannte Gleichstellungsgebot explizit Benachteiligungen für Menschen mit Behinderung verhindern soll, bis hin zu den
Regelungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
über das SGB IX und den Regelungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben im SGB III. Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX - ist bereits vor über elf Jahren,
nämlich am 1. Juli 2001, in Kraft getreten. Es regelt
die selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen
am gesellschaftlichen Leben und hilft dabei, Hindernisse, die der Chancengleichheit entgegenstehen, zu
beseitigen. So enthält es zum Beispiel verpflichtende
Sonderregelungen für Arbeitgeber, schwerbehinderte
Menschen zu beschäftigen.
Erst gestern haben wir im Reichstag im Rahmen des
Kongresses „Die Einstellung zählt: Wie sich die Arbeitswelt für Menschen mit Behinderungen öffnet“ diskutiert, welche Teilhabemöglichkeiten sich heute für
Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt und der
Gesellschaft bieten. Wir alle wissen, dass eine dauerhafte Teilhabe am Arbeitsleben eine der Hauptgrundlagen für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung
und Grundvoraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit ist. Das gilt für behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichermaßen. Arbeit zu haben, bedeutet wirtschaftliche Unabhängigkeit und aktive
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.
Für Menschen mit Behinderung gibt es in vielen Bereichen des ersten Arbeitsmarktes Arbeit. Den Wettbewerb können sie jedoch nur dann bestehen, wenn
sie gut ausgebildet sind. Wirksame Maßnahmen und
Konzepte sind also gefragt, um einerseits behinderte
Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren und andererseits potenzielle Arbeitgeber umfassend zu informieren, um die Beschäftigungsfähigkeit fördern zu können. Ein nahtloser Wechsel in die
betriebliche Ausbildung und auf den ersten Arbeitsmarkt stellt für viele Menschen mit Behinderung noch
die Ausnahme dar. Daher sind für einen erfolgreichen
Übergang von der Schule in die Berufsausbildung und
die betriebliche Übernahme die Rahmenbedingungen
entscheidend.
Unser Ziel ist es, die Rahmenbedingungen in allen
Lebensbezügen so zu gestalten, dass behinderte Menschen ohne Ausgrenzung teilhaben können. Dies setzt
ein Umdenken und gezieltes Handeln der Gesellschaft
voraus. Menschen mit Behinderungen müssen nicht
nur bei der Arbeitssuche immer noch gegen Vorurteile
ankämpfen. Um eine vollständige Teilhabe an allen
Bereichen des Lebens zu ermöglichen, gilt es, diese
hartnäckigen Vorbehalte auf lange Sicht endgültig
auszuräumen. Daran werden wir auch weiterhin arbeiten.
Es ist begrüßenswert, dass die Koalition zum Ende
dieser Legislatur offenbar doch noch erkannt hat, wie
wichtig die Teilhabe von Menschen mit Behinderung
am Arbeitsleben ist.
Der vorliegende Antrag greift die Probleme zum
Teil auf und bietet Lösungen an, wie man das Fachkräftepotenzial heben kann, das bei den aktuell
180 000 arbeitslosen schwerbehinderten Menschen
vorhanden ist.
Leider bedient der Antrag nur einen Ausschnitt des
gesamten vorhandenen Potenzials, kratzt an der Oberfläche und lässt wichtige und für den Arbeitsmarkt
grundlegende Bereiche außen vor. Hier wären unter
anderem inklusive Bildung und Ausbildung, Reform
der Ausgleichsabgabe und der daraus finanzierten
Nachteilsausgleiche, Weiterentwicklung und Struktur
der Werkstätten sowie die Reform der Eingliederungshilfe zu nennen.
Das sind keine Details, die man mit einer einfachen
Forderung abspeisen kann.
So wie Sie es hier formulieren, entsteht einmal mehr
der Eindruck, dass es sich um reine Lippenbekenntnisse handelt. Diese Fragen sind wichtig, wenn man
wirklich etwas für die Beschäftigung behinderter
- nicht nur schwerbehinderter - Menschen tun
möchte, und das müssen wir tun. Denn Menschen mit
Behinderung haben ohne Unterstützung keine Chance
auf unserem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Es ist unsere Aufgabe, Anreize für Beschäftigung zu
schaffen und nicht nur gut auf die Arbeitgeber einzureden. Die wollen wissen, warum sie einen schwerbehinderten Menschen einstellen sollen und ob sich das für
sie rechnet. Da hilft es keinem weiter, wenn man - wie
Sie es tun - der Regierung einen Merkzettel schreibt,
was sie alles noch tun könnte; man muss konkret werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Silvia Schmidt ({0})
Der Antrag ist gut gemeint, zeugt aber leider wie die
gesamte Leistung dieser Regierung und der Koalitionsparteien in der Behindertenpolitik von Rat- und
Mutlosigkeit. Nehmen wir einmal die Beschäftigungszahlen: Sie stellen es so dar, als wenn immer mehr Unternehmen Menschen mit Behinderung beschäftigen
und das ein Fortschritt sei. In Wahrheit hat sich die
Beschäftigungsquote der privaten Wirtschaft zwischen
2003 und 2010 nur um 0,4 Prozent nach oben bewegt.
Die öffentlichen Arbeitgeber machen das wett. Aber
auch hier gibt es noch Potenzial, denn immerhin 5 400
öffentliche Arbeitgeber erfüllten die Fünfprozentquote
im Jahr 2010 nicht. Durch die Flexibilisierung am
Arbeitsmarkt werden heute viele Arbeitsplätze in der
Privatwirtschaft gar nicht mehr mitgezählt. Insofern
ist die eigentliche bereinigte Quote wahrscheinlich sogar noch geringer. Diesem Effekt könnte man mit einer
Reform des Berechnungsmodus der Pflichtquote begegnen, zum Beispiel indem man zukünftig Arbeitsverhältnisse unter 18 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit
grundsätzlich mitzählt.
Die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen hat sich zwischen 2005 und 2010 sogar verringert. Waren 2005 bundesweit noch 142 700 Schwerbehinderte in Arbeit, waren dies 2010 nur noch 138 300.
Gleichzeitig hat sich die Zahl derjenigen, die als sogenannte voll erwerbsgeminderte Menschen die Werkstätten besuchen, fast verdoppelt.
Die Zahl der Firmen, die 2 Prozent und weniger
schwerbehinderte Menschen beschäftigen, hat sich im
selben Zeitraum aber kaum verändert. Das heißt, dass
sich die Bereitschaft zur Einstellung im privaten Sektor kaum verbessert hat und Alternativen zur Werkstatt
offenbar fehlen oder nicht attraktiv genug sind. Ich bin
mir nicht sicher, ob man dieses Gesamtbild als „Fortschritt“ bezeichnen kann, so wie Sie es in Ihrem Antrag tun.
Hier müssen endlich konkrete Vorschläge auf den
Tisch, und das haben wir mit unserem Antrag „Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen“,
Drucksache 17/9931, getan.
Wir fordern eine Wiedererhöhung der Pflichtquote
auf 6 Prozent und die Erhöhung der Ausgleichsabgabebeträge, besonders für die Unternehmen, die anhaltend eine geringe Quote unter 2 Prozent aufweisen,
eine deutliche Erhöhung der Beträge von 290 auf
750 Euro pro nicht besetztem Pflichtarbeitsplatz.
Den Arbeitgebern gut zuzureden, hilft offenbar auch
nicht weiter. Das muss man nach zehn Jahren einfach
mal feststellen und seine Schlüsse daraus ziehen. Deshalb müssen Verstöße gegen die Beschäftigungspflicht
als Ordnungswidrigkeiten konsequent verfolgt und die
Nichterfüllung der Mindestbeschäftigung geahndet
werden.
Als weitere Maßnahme schlagen wir vor, die institutionelle Förderung in Höhe von derzeit circa 40 Millionen Euro jährlich aus Mitteln der Ausgleichsabgabe
zukünftig nicht mehr für Werkstätten und Wohnheime,
sondern für die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu verwenden. Das ist wichtig; denn nur so bekommen wir
eine Trendwende von der Werkstatt zur Beschäftigung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hin.
Die Integrationsunternehmen leiden momentan
nicht darunter, dass es zu wenige tragfähige Geschäftsideen oder zu wenig geeignetes Personal gäbe, sondern vor allem darunter, dass das Aufkommen der Ausgleichsabgabe in einigen Ländern begrenzt ist und
daraus keine neuen Förderungen erfolgen können. Die
Aufteilung des Aufkommens der Ausgleichsabgabe
muss deshalb auch so neu geregelt werden, dass mehr
Mittel für die Förderung von Integrationsunternehmen
bereitstehen.
Auch die Rücklagemittel im Ausgleichsfonds des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - nach unseren Informationen fast 300 Millionen Euro - sind für
eine neue Beschäftigungsinitiative für schwerbehinderte Arbeitslose zu verwenden.
Die „Initiative Inklusion“ ist gut und schön, aber
sie reicht bei weitem nicht aus.
Frau Dr. Arnade von der Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben e. V. hat es in einer Anhörung
hier im Deutschen Bundestag einmal richtig formuliert: „Die ,Initiative Inklusion‘ wird von Mitteln bezahlt, die sowieso schon den Menschen mit Behinderung zustehen.“
Nehmen Sie also endlich richtiges Geld in die Hand
und fördern Sie die Eingliederung aktiv und mit Nachdruck! Schöpfen Sie einmal dieses Potenzial aus!
Dann stimmt auch ihre Feststellung: „Der erste Arbeitsmarkt muss das Beschäftigungsziel von Menschen
mit Behinderung sein. Davon profitieren alle.“
Die Integrationsunternehmen könnten in Jahresfrist
mehrere Tausend neuer sozialversicherungspflichtiger
Jobs auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen.
Wenn Sie diese Chance nicht nutzen, dann bleibt dieser
Antrag wieder nur ein leeres Versprechen.
„Inklusion heißt: Zusammen Pause machen.“ Mit
diesem Slogan wirbt die Aktion Mensch für die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben. Nicht nur in gemeinsamen Pausen, sondern
vor allem in gemeinsamen Arbeitsprozessen erleben
Menschen mit und ohne Behinderung ein selbstverständliches Miteinander. Die Eingliederung von
Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt ist
eine wichtige Voraussetzung, damit Inklusion insgesamt gelingt. Denn Arbeit ist sinnstiftend und gibt das
Gefühl, gebraucht zu werden.
Menschen mit Behinderung und Arbeiten wird oft
gedanklich sofort mit der Werkstatt für Menschen mit
Behinderung verknüpft. Doch das Potenzial von
Menschen mit Behinderung ist viel größer. Wir haben
Zu Protokoll gegebene Reden
es in vielen Branchen schon jetzt mit einem Fachkräftemangel zu tun. Für Menschen mit Behinderung kann
das neue Chancen eröffnen. Das ist auch Ansatz des
gemeinsamen Koalitionsantrages, der die Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderung voll ausschöpfen will. Damit verbunden ist ein verändertes
Verständnis von Menschen mit Behinderung, das von
Wertschätzung und dem Gedanken, ihnen etwas zuzutrauen, geprägt ist.
Noch stellen zu wenig Unternehmen Menschen mit
Behinderung ein. Vorbehalte und Barrieren erschweren die Integration schwerbehinderter Menschen in
den ersten Arbeitsmarkt. Noch sind das Miteinander
und ein gemeinsamer Arbeitsalltag von behinderten
und nichtbehinderten Kollegen nicht selbstverständlich. Damit sich das ändert, setzen wir uns für inklusive Modelle im Arbeitsleben ein. So fordert es auch
Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention, der die
gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben betont.
Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und mit der „Initiative Inklusion“ sind wir auf
einem guten Weg, Teilhabechancen zu erhöhen. Vor allem ältere und junge Menschen mit Behinderung profitieren von der „Initiative Inklusion“. Die Inklusionskompetenzen bei den Kammern zu fördern,
schwerbehinderten Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung zu erleichtern und ältere
Menschen mit Behinderung wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sind genau die Schritte, die notwendig sind. Hierbei sind auch die Länder aufgerufen,
die „Initiative Inklusion“ zu unterstützen und so umzusetzen, dass mehr Menschen einen Arbeitsplatz auf
dem ersten Arbeitsmarkt bekommen. Ferner müssen
wir die „Initiative Inklusion“ regelmäßig auf ihre
Wirksamkeit hin überprüfen.
Bei der Debatte sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nicht allein durch Gesetze gesichert werden kann.
Entscheidend ist ein Wandel in der Gesellschaft. Dabei
nehmen Betriebe, die Menschen mit Behinderungen
schon seit langem erfolgreich beschäftigen, eine Vorbildfunktion ein. Deshalb ist es erfreulich, dass bereits
ein breites Spektrum an Aktionen, Wettbewerben und
Preisen existiert. Der Hamburger Integrationspreis,
der rheinland-pfälzische Landespreis für Firmen, die
schwerbehinderte Menschen beschäftigen oder das
LVR-Prädikat „Behindertenfreundlicher Arbeitgeber“
des Landschaftsverbandes Rheinland sind nur einige
Beispiele.
Und es werden mehr. Der Inklusionspreis „Unternehmen fördern Inklusion“ zeigt, dass die Wirtschaft
inklusive Prozesse auf dem Arbeitsmarkt unterstützt.
Die Initiative geht auf das UnternehmensForum
zurück. Unter dem Motto „Inklusion - so geht’s“ wurden auf einer Fachtagung im letzten Jahr Inklusionskompetenzen vermittelt. Es wird vor dem Hintergrund
des demografischen Wandels sehr deutlich, dass Unternehmen großes Interesse daran haben, Menschen
mit Behinderung in das Wirtschaftsleben zu integrieren. Die Unternehmer in verschiedensten Branchen
haben längst erkannt, dass sie gerade in Zeiten des
Fachkräftemangels auf Menschen mit Behinderung
angewiesen sind. So sagt Olaf Guttzeit, Vorstandsvorsitzender des UnternehmensForums, zu Recht, dass die
Wirtschaft Menschen mit Behinderung braucht.
Modelle wie das Persönliche Budget, die Arbeitsassistenz und die Unterstützte Beschäftigung sind zu fördern und bekannter zu machen. Für uns ist der erste
Arbeitsmarkt das Beschäftigungsziel von Menschen
mit Behinderungen. Doch nicht alle Menschen mit
Behinderung können auf dem ersten Arbeitsmarkt
arbeiten. Oft wird gerade in der Diskussion um Integration auf dem Arbeitsmarkt vergessen, dass manche
Menschen mit Beeinträchtigungen auf dem ersten
Arbeitsmarkt überfordert sind.
Für Menschen mit schweren geistigen Behinderungen oder Mehrfachbehinderungen ist die Werkstatt für
behinderte Menschen, WfbM, die einzige Möglichkeit,
zu arbeiten. Aber auch viele Menschen mit psychischer
Behinderung wie Angststörungen, Depressionen und
Suchterkrankungen brauchen einen geschützten Ort.
Ein wichtiger Punkt ist dabei das Wunsch- und
Wahlrecht zwischen einer WfbM und alternativen
Leistungserbringern. Die Wahlmöglichkeiten müssen
ausgebaut werden, damit sich Menschen mit Behinderungen auch wirklich entscheiden können. Dafür
müssen auch Unterstützungsinstrumente vereinfacht
werden.
Für mich ist auch das Stichwort Durchlässigkeit
sehr wichtig. Die Erwerbsbiografien verlaufen heute
nur noch selten linear. Viele Menschen werden erst im
Laufe ihres Lebens behindert oder chronisch krank.
Daher ist es wichtig, dass der Unterstützungsbedarf
von Menschen mit Behinderung der jeweiligen Situation angepasst wird.
Zum Beispiel kann es für einen Menschen mit
psychischer Behinderung wichtig sein, zwei oder drei
Jahre in einer Werkstatt zu arbeiten. Im Anschluss
daran muss der Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt
offen sein. Ein Rückkehrrecht in die WfbM ermutigt
dazu, den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt zu wagen.
Aber auch Menschen mit geistigen Behinderungen
können in ausgelagerten Werkstattplätzen arbeiten,
wie Best-Practice-Beispiele eindrücklich veranschaulichen. Ein Mann mit Autismus arbeitet erfolgreich in
einer Kölner Jugendherberge. Durch die Unterstützung von Arbeitstrainern des Integrationsunternehmens Füngeling Router ist er zu einem anerkannten
und ehrgeizigen Mitarbeiter geworden.
Inklusion gilt es für alle zu ermöglichen. Deshalb ist
es wichtig, dass Leistungen im Förderbereich nicht
zwangsläufig an eine WfbM gekoppelt sind. Andere
Leistungsanbieter bieten Menschen mit Behinderungen Alternativen. Die soziale Absicherung muss auch
bei ihnen gewährleistet sein.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ziel ist es, den Automatismus von Förderschule und
Werkstatt zu durchbrechen. Denn viele Menschen mit
Behinderung wollen keine Sonderwelten, sondern auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Daher fördern wir den uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und sprechen uns dafür aus, Nachteilsausgleiche auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.
Der FDP ist es ein weiteres grundlegendes Anliegen, auch die Existenzgründung für schwerbehinderte
Menschen zu berücksichtigen. Als Selbstständiger zu
arbeiten, gibt vielen Menschen mit Schwerbehinderung mehr Freiräume im Berufsleben. Von Februar
2004 bis Ende Juni 2012 haben sich in Berlin mehr als
210 Menschen mit Schwerbehinderung selbstständig
gemacht. Unterstützt wurden sie durch spezielle Beratungsangebote für Menschen mit Schwerbehinderung,
„enterability“. Beratungs- und Informationsangebote
für gründungswillige Menschen mit Schwerbehinderung gilt es deshalb auszubauen.
Ein Gedanke ist mir abschließend wichtig. Mit
Druck, Zwang und Sanktionen oder mit der Erhöhung
der Ausgleichsabgabe werden wir Betriebe und Unternehmen nicht ermuntern, mehr Menschen mit Behinderung einzustellen. Deshalb müssen wir genau hinsehen, ob scharfe Sanktionen wirklich zu mehr
inklusiven Arbeitsplätzen führen oder Inklusion eher
erschweren.
Das Unternehmen Füngeling Router hat ein Modell
konzipiert, das zeigt, wie sinnvoll es ist, wenn alle an
einem Strang ziehen. Ausgelagerte Werkstattplätze,
eine individuelle betriebliche Einstiegsqualifizierung
und intensives Jobcoaching sind die Instrumente, die
schwerbehinderten Menschen Arbeit in einem Unternehmen verschaffen.
Das Modell von Füngeling Router ist ein Modell,
das Mut macht und zur Nachahmung anregt. Wenn
Menschen die für sie notwendige Unterstützung und
Assistenz bekommen, und wenn es sich die Gesellschaft zur Aufgabe macht, Bedingungen zu schaffen,
die Menschen mit Behinderung ein gleichberechtigtes
und selbstverständliches Miteinander ermöglichen,
wird Inklusion gelingen.
Dieser Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen
aus der Koalition, kommt sehr spät und greift viel zu
kurz. Seit Jahren stehen wir vor der gleichen Situation:
Menschen mit Behinderung sind überdurchschnittlich
oft arbeitslos. Die Arbeitslosenquote ist mehr als doppelt so hoch wie unter Menschen ohne Behinderung.
Die Schere in allen Arbeitsmarktkennziffern zwischen
Menschen mit und ohne Behinderung klafft immer weiter auseinander. Diese Tatsache liegt seit der Finanzkrise so deutlich auf der Straße, dass sie in den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung hineingehört
hätte. Trotz gewerkschaftlicher Kritik geschah dies
nicht.
18 Monate später nun greift die Koalitionsfraktion
die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung
endlich auf. Die Linke legte jedoch bereits im Mai
2012 Vorschläge im Antrag „Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung“ auf den Tisch, Drucksache
17/9758. Diese entstanden in engem Dialog mit Betroffenen und Wissenschaftlern. Im Juni folgte die SPD
mit einem Antrag zur Ausgleichsabgabe. Die Opposition war sich einig, dazu eine öffentliche Anhörung zu
erwirken. Im Oktober präzisierten Betroffene viele
Ideen während der Veranstaltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“. Inzwischen legten alle Sozialverbände eigene Positionen vor, um
Menschen mit Behinderung entsprechend Art. 27 der
UN-Behindertenrechtskonvention die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.
Als hätte es diese vielfältigen Diskussionen nicht
gegeben, legen Sie nun einen Antrag vor, der nur einen
Bruchteil der bereits öffentlich diskutierten Fragen
aufgreift. Kein Wort über skandalöse Werkstattentgelte, kein Wort über notwendige Gesetzesänderungen,
kein Wort über barrierefreie Arbeitsplätze und ihre
Festschreibung in der Arbeitsstättenverordnung, kein
Wort über größere Rechte von Interessenvertretungen
und kein Wort über Beschäftigungsquote und Ausgleichsabgabe.
Sie schauen zu wenig aus der Perspektive der Betroffenen. Sie schauen wie ein Arbeitgeber, der die
„Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderung
ausschöpfen“ kann. Hier, so suggeriert der Antrag,
liegt ein Potenzial brach, das Gewinn verspricht. Sie,
Herr Unternehmer, sollten es nutzen; denn der demografische Wandel verschärft die Situation, nicht genügend Fachkräfte zu finden. Da ist sie wieder, die
Nützlichkeitstheorie oder das „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Leistung“, dessen Streichung
aus dem Gesetz schon lange im Raum steht. Das sind
keine Menschenrechtskriterien. Das sind reine Profitkriterien.
Welche Motivation hat ein Arbeitgeber, einen Menschen mit Behinderung einzustellen? Auf der CDUVeranstaltung am 30. Januar im Bundestag formulierte ein Unternehmer das so: „Warum sollte ich einfache und Hilfsarbeiten nach Asien auslagern?“ Ergänzt, könnte es heißen: „ … wenn ich die billigen
Arbeitskräfte vor der Tür finde“.
Deshalb ist es gut, dass der Antrag davon spricht,
Menschen mit Behinderung seien „in der Regel gut
ausgebildet und hochmotiviert“. Aber meinen Sie
wirklich, der demografische Wandel sorgt für qualifizierte Beschäftigung? Glauben Sie wirklich, es ginge
ohne gesetzliche Änderungen? Ohne veränderte Beschäftigungspflicht? Ohne die restriktive Förderpolitik
zurückzunehmen? Ohne Weiterentwicklung der gesetzlichen Förder- und Unterstützungsinstrumente? Ohne
Abbau der Bürokratie in der Leistungserbringung?
Ohne die Stärkung der betrieblichen Ausbildung für
Jugendliche mit Behinderung?
Zu Protokoll gegebene Reden
„Das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit
Behinderung zwischen einer WfbM und alternativen
Leistungserbringern ist ein zentrales Anliegen“, heißt
es im Antrag. Ich verstehe das so, dass Betreuungsund Förderangebote auch außerhalb der Werkstatt bestehen sollen. Das unterstützen wir. Doch was bedeutet
„das Eingangsverfahren … für andere Anbieter zu öffnen“? Soll im Eingangsverfahren auch entschieden
werden, ob ein Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt
angenommen werden kann? Wenn ja, zu welchen Konditionen? Bleibt der Betroffene Angehöriger der Werkstatt mit dem entsprechend niedrigen Entgelt? Wie
schon jetzt auf vielen Außenarbeitsplätzen? Die Linke
fordert jedoch Mindestlohn und gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ich frage mich, warum der Antrag zu diesen brisanten sozialen Tatsachen schweigt.
Auch deshalb wird er an der bestehenden Ausgrenzung und ihren Ursachen nichts ändern. Um die „Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderung ausschöpfen“ zu können, muss Mensch seine Potenziale
doch erst einmal einbringen dürfen. Das bleibt das
Hauptproblem. Der Antrag schweigt dazu, wie zu ändern ist, dass von drei Menschen mit Behinderung zwei
arbeitslos sind und dauerhaft bleiben. Dazu bedarf es
Strukturveränderungen in der ganzen Arbeitswelt. Im
Antrag jedoch soll vor allem geprüft, gesprochen, eingeschätzt, „Sorge getragen“, flexibilisiert und vereinfacht werden.
Es ist das Weiter-so, das uns schon in der Denkschrift der Bundesregierung zur Diskussion der UNBehindertenrechtskonvention 2008 begegnete. Es ist
die Selbstgefälligkeit einer Politik, die sich nach der
Anzahl ihrer Einzelprojekte bemisst und nicht nach deren Wirkung für ein besseres Leben der Betroffenen. Es
ist die Arroganz gegenüber anderen europäischen Erfahrungen. Es ist die Verlegenheit einer Regierung, etwas tun zu müssen, weil die Opposition dazu treibt. Es
ist das Interesse der Macht, sich im Wahlkampf sozial
zu präsentieren, ohne sozial zu sein.
Selbst das, was wir unterschreiben könnten, ist zu
wenig. Ohne strukturelle Veränderungen wird es keine
gute Arbeit für Menschen mit Behinderung geben.
Keine Arbeitswelt, in der wirklich „die Möglichkeit“
besteht, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven und zugänglichen
Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt und angenommen wird“. Das besagt Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention. Das ist der Maßstab der
Fraktion Die Linke, und das sollte auch für Sie die
Messlatte sein.
Damit Menschen mit Behinderungen auf dem Ar-
beitsmarkt die gleichen Chancen haben wie nichtbe-
hinderte Menschen, ist noch viel zu tun. Insofern freue
ich mich, dass die Koalitionsfraktionen diesen Antrag
vorgelegt haben. Ganz richtig bemerken sie, dass sich
bereits eine Reihe von Personen seit Jahren sehr dafür
stark macht, echte Teilhabemöglichkeiten für behin-
derte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaf-
fen.
Doch die Möglichkeiten zur individuellen und dau-
erhaften Unterstützung jenseits großer Institutionen
sind nur ungenügend ausgebaut und für viele Men-
schen zu unübersichtlich. Ich möchte hier nur auf drei
Aspekte näher eingehen.
Integrationsfachdienste beraten und unterstützen
schwerbehinderte Menschen und Arbeitgeberinnen
und Arbeitgeber. Sie begleiten Menschen mit Behinde-
rungen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz auf dem
ersten Arbeitsmarkt, bereiten auf die Arbeit dort vor
und stehen auch weiterhin als Ansprechpartner für
Arbeitgeberinnen und Beschäftigte zur Verfügung. Erst
2011 hat ein von der Bundesregierung neu eingeführ-
tes Ausschreibungsverfahren dazu geführt, dass häufig
nicht mehr diejenigen den Zuschlag bekamen, die über
Jahre eine hohe Kompetenz und gute Kontakte aufge-
baut hatten, sondern vollkommen unerfahrene Anbie-
ter. Die Qualität der Integrationsfachdienste besteht
gerade darin, Leistungen aus einer Hand anzubieten.
Von vielen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern habe
ich gehört, wie sehr sie es schätzen, bei einem An-
sprechpartner gut aufgehoben zu sein. Die verfehlte
Politik dieser Regierung hat dazu geführt, dass ein gu-
tes Instrument beschädigt wurde. Vorausschauende
Politik, die Menschen mit Behinderungen mehr Ar-
beitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt bietet, sieht
anders aus.
Zum Zweiten möchte ich eine kleine Unstimmigkeit
hervorheben: Es war und ist eines der zentralen Ziele
der Reform der Eingliederungshilfe, Möglichkeiten für
Arbeitsplätze jenseits der Werkstätten für behinderte
Menschen zu schaffen. Mit Blick auf Stoßrichtung und
Ziele, die hier im Antrag genannt werden, würde man
also annehmen, Union und FDP hätte in dieser Legis-
laturperiode viel daran gelegen, den Reformprozess
zügig und transparent voranzutreiben. Damit hat sich
die Koalition nun wirklich nicht hervorgetan.
Abschließend ein Kommentar zur ersten Forderung
des Antrags: Die Koalitionsfraktionen fordern die
Bundesregierung dazu auf, zeitnah differenzierte Da-
ten zur Situation von Menschen mit Behinderungen am
Arbeitsmarkt vorzulegen. Insbesondere an geschlech-
terdifferenzierten Daten mangele es. Ich kann den Kol-
leginnen und Kollegen nur zustimmen; schon seit Jah-
ren fordere ich, diese Daten zu erheben. Für Ministerin
von der Leyen wäre es ein Leichtes, die Bundesagentur
für Arbeit zu verpflichten, geschlechterdifferenzierte
Daten zur Arbeitsmarktsituation von Menschen mit
Behinderungen zu veröffentlichen. Ein wenig verwun-
derlich, dass sie von ihrer Fraktion offenbar nicht auf
anderem Weg dazu aufgefordert werden kann. Aber ich
freue mich, wenn wir zeitnah mit diesen Daten arbei-
ten können.
Der Antrag enthält einige sinnvolle Vorschläge und
ich würde mich freuen, wenn das positive Effekte für
Arbeit suchende Menschen mit Behinderungen hätte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn ich mir die Politik dieser Koalition in den letzten
Jahren angucke, beschleicht mich allerdings der Ver-
dacht, dass es mit dem Antrag in erster Linie darum
geht, ein paar schöne Absichtserklärungen zu Papier
zu bringen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12180 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einver-
standen. Also geschieht es so.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 10 a und 10 b:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimit-
teln - Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/12183 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln - Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/12184 ({0}) -
Fünf Redner haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1) Nur die Kollegin Kathrin Vogler möchte für die
Fraktion Die Linke das Wort ergreifen. - Bitte schön.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ja, tut mir leid, wir müssen reden.
({0})
- Sie müssen zuhören, das ist ja noch besser.
({1})
Wir sprechen heute über zwei Anträge zum Schutz
von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Medikamentenstudien der EU. Wir sind uns quer durch alle Fraktionen dieses Hauses einig, dass insbesondere Kinder und
nicht einwilligungsfähige Menschen besonderen Schutz
benötigen. Eine Aufweichung der Schutzstandards, wie
sie in der neuen EU-Richtlinie vorgesehen ist, wollen
wir alle nicht.
({2})
Wie gesagt, wir sind uns da vollkommen einig.
Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kolleginnen
und Kollegen des Gesundheitsausschusses und unseren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die konstruktive
Zusammenarbeit bedanken, die es ermöglicht hat, in sehr
kurzer Zeit einen detaillierten und wirklich guten Forderungskatalog zu entwickeln.
({3})
Das hätte heute wirklich eine Sternstunde des Parlaments werden können.
({4})
Dass wir aber dennoch zwei Anträge vorliegen haben,
ist leider dem steinzeitlichen Demokratieverständnis der
Führung der Unionsfraktion geschuldet; denn da hat man
offensichtlich noch nicht so ganz gemerkt, dass der
Kalte Krieg längst zu Ende ist.
({5})
Was da passiert ist, ist ein politisches Narrenstück,
eine Schmierenkomödie in drei Akten.
Erster Akt. Union und FDP legen einen Antragsentwurf vor und laden die Oppositionsfraktionen ein, diesen
gemeinsam einzubringen.
({6})
Zweiter Akt. Die Oppositionsfraktionen schlagen einige Änderungen vor, die weitgehend aufgenommen
werden. Ein gemeinsam abgestimmter Antragstext, dem
alle zustimmen können, wird am Montag dieser Woche
an die vier Fraktionsvorstände weitergeleitet, um am
Dienstag in den Fraktionen beschlossen zu werden.
Dritter Akt. Der Vorstand der CDU/CSU-Fraktion erklärt, dass er den Antrag nur zulässt, wenn meine Fraktion, Die Linke, von der gemeinsamen Einbringung des
Antrags ausgeschlossen wird.
({7})
Dieses Schauspiel ist ein Armutszeugnis für die Demokratie.
({8})1) Anlage 15
Sie grenzen damit fast 12 Prozent aller Wählerinnen und
Wähler dieser Republik bei einem gemeinsamen Anliegen aus.
({9})
Sie erweisen den schutzbedürftigen Studienteilnehmern, für die wir uns gemeinsam starkmachen wollten,
einen Bärendienst. Sie sorgen für Politikverdrossenheit,
weil Sie kleinkarierte Ideologie über die Interessen der
Menschen stellen.
({10})
Ich will noch etwas anderes anmerken. Die Fraktionen SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sind auch
dieses Mal wieder vor der Erpressungsstrategie von
Kauder und Hasselfeldt eingeknickt. Jedes Mal sagen
Sie, dass Sie diese Ausgrenzerei blöd und unpolitisch
finden, dass Sie das eigentlich nicht wollen; aber Sie machen trotzdem jedes Mal wieder mit. Eigentlich müssten
Sie hier mit knallroten Köpfen sitzen, wenn Sie noch einen Funken politischen Anstand hätten.
({11})
Wir haben uns entschieden, den Antrag, den wir alle
gemeinsam erarbeitet haben, wortgleich als Antrag der
Linksfraktion einzubringen. Wir haben zugestimmt, über
beide Anträge heute gemeinsam abstimmen zu lassen.
Damit geben wir Ihnen jetzt die Gelegenheit, unserem
Antrag zuzustimmen, ohne mit Ihren Fraktionsführungen in Konflikt zu geraten. Wir hatten sowieso vor, zu
beiden Anträgen Ja zu sagen; denn wir finden, dass unser gemeinsames Anliegen, der Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wichtig ist.
Frau Kollegin, wollen Sie noch eine Zwischenfrage
zulassen? Das verlängert Ihre Redezeit. Zu dieser Stunde
ist das ein großzügiges Angebot.
Ja, Kollege Ackermann, gerne.
Aber machen Sie es kurz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich
denke, dieses Thema eignet sich nicht, um politische
Schlachten zu schlagen.
Hört! Hört!
({0})
Wir sind uns einig, dass der Schutz der Probanden
ganz oben anzusiedeln ist. Wenn die Kollegen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments
sagen, dass sie klinische Prüfungen auch ohne Einsatz
einer Ethikkommission zulassen wollen, so lehnen das
alle Fraktionen in diesem Hause ab und sagen: Wir können klinische Prüfungen nur zulassen, wenn wir vorher
eine unabhängige Ethikkommission eingesetzt haben.
Ich möchte Sie aber fragen: Wie konnte es die Vorgängerorganisation Ihrer Partei in der ehemaligen DDR
zulassen, dass Pharmaindustrie und Pharmahersteller im
Osten an unbeteiligten Patienten Versuche durchgeführt
haben, ohne dass die Patienten davon wussten? Die SED
hat damit Devisen beschafft. Wie beurteilen Sie das im
Zusammenhang mit dem, was Sie jetzt vor uns hier aufführen?
({0})
Ist es nicht auch unethisch, zu sagen: „Wir wollen klinische Prüfungen ohne Beteiligung der Patienten durchführen“? Ich denke, Sie sollten auch dazu eine Stellungnahme abgeben, weil Sie in der Nachfolge dieser
Staatspartei stehen.
({1})
Herr Ackermann, Sie reden sich um Kopf und Kragen. Wollen Sie es nicht langsam gut sein lassen? - Sehr
geehrter Herr Kollege, ich muss etwas, was ich vorhin
gesagt habe, revidieren. Ich habe die These aufgestellt,
dass lediglich bei der Union der Kalte Krieg noch nicht
beendet ist. Ich muss das erweitern: Offensichtlich ist
auch bei der FDP noch nicht angekommen, dass wir den
Kalten Krieg inzwischen beendet haben.
({0})
Es muss Ihnen doch bewusst sein, dass wir vor
25 Jahren auch in der Bundesrepublik und den westlichen Demokratien längst nicht den Schutz hatten, den
wir heute haben,
({1})
und auch Länder, die durchaus demokratisch sind, nicht
unbedingt die Schutzkriterien und ethischen Kriterien
anlegen, die wir hier gemeinsam anlegen.
({2})
- Ist klar. - Wissen Sie was? Das ist doch wirklich peinlich. Wir haben inhaltlich gut zusammengearbeitet, an
einem Punkt, bei dem es um ethische Fragen geht, bei
dem es um die Gesundheit von Menschen geht. Es geht
um die Frage, wie wir mit Probandinnen und Probanden
umgehen, die sich selbst nicht aktiv für die Teilnahme an
der Studie entscheiden können. Das sind wirklich wichtige ethische Fragen. Bisher war es in diesem Haus gute
Tradition, dass in ethischen Fragen solche parteipolitischen Spielchen, solche Kalter-Krieg-Nummern keine
Rolle spielen.
({3})
Nichtsdestotrotz geben wir Ihnen die Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen, ohne mit Ihren Fraktionsführungen in Konflikt zu geraten. Wir sind weiter zu
konstruktiver Zusammenarbeit bereit, aber ein so absurdes Theater, wie Sie es im Zusammenhang mit diesen
beiden Anträgen aufgeführt haben, werden wir uns von
Ihnen nicht mehr bieten lassen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Kollege Birkwald, weil Sie dazwischengerufen haben, es sei undemokratisch, dass Parteien bzw. Fraktionen sich unterschiedlich verhalten und entscheiden können, ob sie etwas zusammen tun oder nicht, sage ich:
Das ist nicht undemokratisch. Sie mögen das kritisieren;
aber das ist nicht undemokratisch.
({0})
Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass vereinbart
ist, über beide Anträge gemeinsam abzustimmen. Auch
das sollten Sie dabei berücksichtigen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/12183 mit dem Titel
„EU-weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln - Schutz der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen. Hier:
Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“ sowie über den gleichlautenden Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12184 ({1}).
Es ist vereinbart, dass über die gleichlautenden und inhaltsgleichen Anträge der Fraktionen, die ich genannt
habe, gemeinsam abgestimmt werden soll. - Ich sehe,
dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren
wir so. Wir stimmen daher jetzt ab über die Anträge auf
den Drucksachen 17/12183 und 17/12184 ({2}). Wer
stimmt für diese Anträge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Anträge sind damit angenommen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Februar 2013,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
ruhige Nacht.